Vier Theorien, um die Welt zu beherrschen: Und eine fünfte, nur für Damen! [1. Aufl.] 9783662613757, 9783662613764

Wie kommt man gesellschaftlich ganz nach oben? Man kämpft um Macht und Anerkennung und möchte um jeden Preis Aufmerksamk

865 64 8MB

German Pages IX, 424 [418] Year 2020

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Vier Theorien, um die Welt zu beherrschen: Und eine fünfte, nur für Damen! [1. Aufl.]
 9783662613757, 9783662613764

Table of contents :
Front Matter ....Pages i-ix
Von Events, der Macht und dem schönen Schein (Ina Wunn)....Pages 1-13
Front Matter ....Pages 15-15
Die Fortpflanzung oder der Sinn des Lebens (Ina Wunn)....Pages 17-41
Körperliche Vorzüge und andere Aktiva (Ina Wunn)....Pages 43-64
Das Problem mit der Partnerwahl (Ina Wunn)....Pages 65-86
Genegoismus und Aggression (Ina Wunn)....Pages 87-125
Front Matter ....Pages 127-127
Aggression und Ritualisierung (Ina Wunn)....Pages 129-155
Ritual und Gesellschaft (Ina Wunn)....Pages 157-184
Die Anatomie des Rituals (Ina Wunn)....Pages 185-214
Liminalität, Konflikt und Wandel (Ina Wunn)....Pages 215-237
Front Matter ....Pages 239-239
Systeme, Systeme … überall nur Systeme (Ina Wunn)....Pages 241-267
Alles Systeme – oder was? (Ina Wunn)....Pages 269-292
Systemkontrolle, Rituale und Systemevolution (Ina Wunn)....Pages 293-313
Front Matter ....Pages 315-315
Der eine hat’s – der andere nicht (Ina Wunn)....Pages 317-338
Kapital (Ina Wunn)....Pages 339-373
Der Kampf um Macht und Anerkennung (Ina Wunn)....Pages 375-395
Front Matter ....Pages 397-397
Bourdieus vergessenes Kapital oder: Das Kamasutra (Ina Wunn)....Pages 399-413
Back Matter ....Pages 415-424

Citation preview

Ina Wunn

Vier Theorien, um die Welt zu beherrschen

Und eine fünfte, nur für Damen!

Vier Theorien, um die Welt zu beherrschen

Ina Wunn

Vier Theorien, um die Welt zu beherrschen Und eine fünfte, nur für Damen!

Ina Wunn Leibniz Universität Hannover Hannover, Niedersachsen, Deutschland

ISBN 978-3-662-61375-7 ISBN 978-3-662-61376-4  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-61376-4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Coverillustration: © Eva Burckhardt, eva-burckhardt.com Planung/Lektorat: Sarah Koch, Bettina Saglio Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Inhaltsverzeichnis

1

Von Events, der Macht und dem schönen Schein 1 Ein Event 1 Not just for fun 3 Eine Analyse 5 Fragen und Theorien 10

Teil I  Erste Theorie: Das egoistische Gen 2

Die Fortpflanzung oder der Sinn des Lebens 17 Der Event und die Forschungsfrage 17 Nichts in der Biologie macht Sinn außer … 18 Die Sache mit der Liebe 23 Partnerwahl und die Rolle der Gene 28 Da ist es endlich: Das egoistische Gen 34 Ein ganz kurzes Fazit 40 Literatur 40

3

Körperliche Vorzüge und andere Aktiva 43 Die Liebe und die Macht 43 Das Gesäß und der Schlüsselreiz 46 Noch mehr Signale 51 Harter Wettbewerb oder was man sonst noch tun kann 56 Die Sache mit dem Mehrwert 59 Literatur 64 V

VI      Inhaltsverzeichnis

4

Das Problem mit der Partnerwahl 65 Wie eine Überlebensmaschine ihren Partner (m/w) wählt 65 Vom Einzelfall zur Regel 69 Partnerwahl als Strategie 70 Der adaptive Nutzen männlicher Promiskuität 72 Frauen und der Vorteil langfristiger Partnerschaften 75 Weibliches short-term mating 79 Kommune 1 oder der große Betrug an den Frauen 84 Literatur 86

5

Genegoismus und Aggression 87 Gelungene Paarung und die Kehrseite der Medaille 87 Darwin und die Selektion 89 Territorialität 93 Rangordnung – die Hierarchie innerhalb der Gruppe 98 Ranking, eine Anekdote und die Politik 104 Alpha im Angestelltenverhältnis 109 Ranking bei Weibchen 112 Alphaweibchen 119 Alphamännchen, der Sex und böse Fallstricke 121 Literatur 124

Teil II  Zweite Theorie: Das Ritual 6

Aggression und Ritualisierung 129 Sie treten aus dem Haus, und dann … 129 Das Ritual im Tierreich und ein Bürgerschreck 131 Vom ritualisierten Verhalten zum Ritual 136 Das Ritual: Vom Tier zum Menschen 141 Das Ritual und existenzielle Ängste 144 Das Ritual 147 Gesellschaftliche Schmankerln zum Abschluss 150 Literatur 154

7

Ritual und Gesellschaft 157 Gesellschaft und biologisches Erbe 157 Das Ritual 158 Grundsätzliches zum Ritual: Das Initiationsritual der Makonde 159 Das Fest, die Ahnen und der Tod 163

Inhaltsverzeichnis     VII

Ökonomische Aspekte des Rituals 168 Ritual und soziale Ungleichheit 171 Wirkung des Rituals 176 Orden 181 Literatur 184 8

Die Anatomie des Rituals 185 Was das Ritual alles kann … 185 Das Übergangsritual 186 Wie kommt so ein kulturelles Symbol ins Ritual? 198 Die Integrationsphase 201 Die Wucht des Narrativs 203 Literatur 213

9

Liminalität, Konflikt und Wandel 215 AfrikaBurn und andere Festivals 215 Christopher Street Day 221 Zwischen Liminalität und Struktur 226 Aus der Liminalität zur Weltmacht 233 Literatur 237

Teil III  Dritte Theorie: Systemtheorie 10 Systeme, Systeme … überall nur Systeme 241 Ihre Tochter möchte kirchlich getraut werden … 241 Was ist ein System? 247 Soziale Systeme 252 Das Eigenleben des Systems 260 Literatur 266 11 Alles Systeme – oder was? 269 Ökosysteme und Wissenschaftstheorie 269 Wie entsteht Struktur, und wie ist das nun mit der Systemgrenze? 277 Der Islam 283 Zum Beispiel Parteien 290 Literatur 291

VIII      Inhaltsverzeichnis

12 Systemkontrolle, Rituale und Systemevolution 293 Evolution und Differenzierung? 293 Die kontrollierenden Funktionen des Systems 295 Das System Staat und das Recht 301 Luther und der Reichstag zu Worms 304 Systemänderung und Ritual 307 Literatur 313 Teil IV  Vierte Theorie: Habitus- und Kapitaltheorie 13 Der eine hat’s – der andere nicht 317 Meine Urgroßeltern, die Literatur und ich 317 Jugendkreis und Fitnessstudio 322 Kategorisieren und klassifizieren 330 Das Selbstkategorisieren 335 Literatur 338 14 Kapital 339 Mein Kollege, das kulturelle Kapital und ich 339 Die Fake-Dissertation und das sakrale Königtum der Schilluk 346 Symbolisches Kapital, Staat und Macht 352 Und jetzt das Deutsche Reich … 357 Der Besuch bei Tante Anni oder das berühmte Vitamin B 363 Ein Wikipedia-Eintrag, Erfolg und Schimpanse Goblin 367 Literatur 373 15 Der Kampf um Macht und Anerkennung 375 Das egoistische Gen will nach oben 375 Le charme discret de la précarité oder: Der Kampf der Häretiker gegen die Arrivierten 383 Ein Fazit oder: Wie vier Theorien ineinandergreifen und die gesellschaftliche Wirklichkeit erklären 391 Literatur 395

Inhaltsverzeichnis     IX

Teil V  Eine fünfte Theorie – nur für Damen 16 Bourdieus vergessenes Kapital oder: Das Kamasutra 399 Weibliche Überlebensstrategien 399 Weibliche Strategien bei Homo sapiens 403 Secretum finis Indiae 407 Literatur 413 Anhang: Nachwort 415 Literatur 419

1 Von Events, der Macht und dem schönen Schein

Ein Event Ich liebe Events! Ganz gleich, ob ich als Gast in der Loge eines wirtschaftlich schwergewichtigen Fußballfans sitze oder ob ich aus Anlass der Eröffnung kulturell anspruchsvoller Kunstfestspiele den Ausführungen des Oberbürgermeisters lausche: Ich bin in meinem Element! Hier stehe ich mit einem Champagnerglas in der einen Hand, den Häppchen in der anderen, die lästige Handtasche irgendwie unter den Arm geklemmt und parliere begeistert mit den Schönen, den Reichen und den Einflussreichen, die zu dem Ereignis geladen worden sind. Vor allem der Unterhaltungsfaktor ist nicht zu unterschätzen. Man trifft reizende, wohlerzogene Menschen, die man vielleicht lange nicht mehr gesehen hat. Man plaudert auf Augenhöhe mit Medien- oder Popstars, vor deren Garderoben sich sonst die Fans balgen, um dem gefeierten Objekt der öffentlichen Aufmerksamkeit die Hand schütteln zu dürfen! Da sind die Politiker, die man sonst nur im Rahmen kontroverser Debatten aus den Nachrichten oder der Zeitung kennt, und da sind die Vertreter der Kirchen, der Gewerkschaften, der Wirtschaft und der Universitäten. Man kann sie im Übrigen leicht zuordnen: Der Popstar trägt natürlich die hautengen Lederjeans, die man von seinen Bühnenauftritten gewohnt ist, wohingegen die christliche Geistlichkeit in Soutane oder Lutherrock einen würdigen und ein wenig pompösen Eindruck hinterlässt. Auch die Vertreter der nicht christlichen Religionen haben sich dem Anlass entsprechend in Schale geworfen. Der Mufti glänzt in einem weißen, vorn offenen Mantel © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Wunn, Vier Theorien, um die Welt zu beherrschen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61376-4_1

1

2     I. Wunn

über einem grauen, der Soutane nicht unähnlichen Gewand, während ein Rabbiner im schwarzen Anzug und breitkrempigen Hut erschienen ist, den er auch im geschlossenen Raum nicht ablegt. Nur am Rande sei bemerkt, dass es sich hierbei um den Repräsentanten einer erzkonservativen jüdischen Splittergruppe handelt, der allerdings gerade wegen seiner Kleidung als typisch wahrgenommen und eigentlich nur deshalb eingeladen wird. Ebenso leicht wie die geistlichen Würdenträger lassen sich die Damen der Stadtgesellschaft ausmachen: Sogenanntes „neues Geld“ trägt eine teure Variante der letzten Mode und dazu Pumps mit einem ganz kleinen Absatz, während das „alte Geld“ im schmalen Rock und Jacke im Landhausstil erschienen ist – selbstverständlich in flachen Schuhen. Auch eine sehr blonde Dame im recht kurzen Kleidchen auf schwindelerregenden Absätzen ist unter den Gästen. Sie hängt am Arm eines halbwegs erfolgreichen Geschäftsmannes, wird aber von der Gesellschaft nicht zur Kenntnis genommen. Dann fährt ein ehemals hochrangiger, aber inzwischen ausgedienter Politiker vor. Die Leibwächter springen aus dem Wagen und öffnen den Schlag; der einstmals bedeutende Mann steigt aus und wartet auf das Blitzlichtgewitter der Presse. Dies bleibt allerdings aus; lediglich der Boulevard ist noch interessiert. Auch die Personenschützer wirken ein wenig verloren, denn der ältere Herr ist schon lange nicht mehr das Ziel irgendwelcher Animositäten oder gar Aggressionen, schmückt sich aber gern mit den Attributen seiner vergangenen Macht. Dafür stürzt sich die Presse auf den Gastgeber; auch er ein Vertreter der Politik. Sein Ansehen hat in letzter Zeit stark gelitten, denn unter seiner Amtsführung haben sich erhebliche Unregelmäßigkeiten ergeben, und es sieht so aus, als habe dieser so sympathische und liebenswürdige Amtsträger leider keinerlei Führungskompetenz. Eigentlich sind alle erstaunt, dass er sich trotz des mit seinem Namen verbundenen Skandals so lange im Amt halten kann, aber seine Partei stützt ihn eisern. Ähnliches gilt für das Vorstandsmitglied eines großen Finanzinstitutes, das wegen seiner sensationellen Verluste immer mal wieder im Fokus der Öffentlichkeit steht. Den besagten Manager kümmert das nicht sehr, denn er hat gerade noch rechtzeitig einen Vertrag bei einem ähnlichen Unternehmen unterschrieben, das er nun mit mehr Erfolg zu lenken gedenkt. Umso mehr Glanz verbreitet der international gefeierte Medizinprofessor, der ein fachliches wie auch gesellschaftliches Highlight darstellt. Man umschwärmt ihn nicht nur, um am Rande des Festaktes einen kostenlosen Rat in einer belanglosen Gesundheitsfrage einzuholen, sondern vor allem, um mit ihm zusammen gesehen zu werden und möglichst auf demselben Pressefoto zu erscheinen. Die lokale Presse knipst eifrig!

1  Von Events, der Macht und dem schönen Schein     3

Not just for fun Events wie der geschilderte sind einfach fabelhaft, und das nicht nur, weil man sich kennt und sich großartig und leichtfüßig unterhält. Sie sind vielmehr ein Gradmesser der gesellschaftlichen Bedeutung! Daher täuscht auch die angebliche Leichtigkeit, denn was nach purem Vergnügen aussieht, ist bitterer Ernst. Es beginnt bereits mit der Einladungsliste: Wer steht darauf und wer nicht? Es gibt kaum etwas Schlimmeres als die Erkenntnis bei der morgendlichen Zeitungslektüre, dass gestern der wichtige, wenn auch langweilige Jahresempfang des Ministerpräsidenten stattgefunden hat und man zum ersten Mal seit Jahren nicht mehr zu dem Ereignis geladen war. Noch schlimmer ist es, wenn stattdessen eine als belanglos eingeschätzte Person dieses Vergnügens teilhaftig wird. Diese Missachtung, diese angebliche Fehleinschätzung und ungerechtfertigte Zurücksetzung können regelrechte Hassattacken auslösen, wie ich selbst kürzlich erleben konnte: Ein Pressefoto zeigte mich händeschüttelnd mit einem der höchsten religiösen Würdenträger und war irgendwie an das Schwarze Brett meines Institutes gelangt. Nur wenige Tage später prangte ein Banner auf eben jenem Foto (Abb. 1.1): „Affenforscherin mit ihren Alpha-Männchen!“ Offensichtlich hatte das unschuldige Bild eines reifen Herren und einer nicht mehr blutjungen Dame – beide im Übrigen aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr im Fortpflanzungsgeschäft aktiv – bei irgendjemandem starke negative

Abb. 1.1  Mein Konterfei; nicht ganz freundlich bearbeitet. (© Servizio Fotografico Vaticano, mit freundlicher Genehmigung)

4     I. Wunn

Emotionen hervorgerufen, und zwar gerade weil man meinen Platz an der Seite des „Alphamännchens“ für nicht gerechtfertigt hielt! Bei einer wichtigen Einladung geht es also nicht um Vergnügen, sondern schlicht um Ranking im biologischen Sinne. Das heißt also, dass eine solche Einladungsliste deutlich macht, wer innerhalb der Gesellschaft oben ist, d. h. wer in der sozialen Rangfolge die ersten Plätze einnimmt. Nur deshalb sind diese Einladungen begehrt, und nur deshalb geht man hin. Weder die Sonntagsreden, die man schon so oft gehört hat, noch die bereits etwas angetrockneten Häppchen könnten unter normalen Umständen den quirligen Unternehmer von Schreibtisch und Telefon weglocken, und weder die Unternehmergattin noch die erfolgreiche Leiterin einer großen Stiftung haben eigentlich Lust, eine weitere Stunde in ihren inzwischen zu eng gewordenen Schuhen herumzustehen. Aber Anwesenheit ist Pflicht, denn wer nicht dabei ist, ist gesellschaftlich nicht existent! Damit wäre alles ganz einfach: Man müsste nur einen der begehrten Plätze auf den Einladungslisten ergattern, sich in Schale werfen, nicht zu früh (dann sieht einen noch keiner) und nicht zu spät (dann sind die wirklich wichtigen Leute schon wieder gegangen) erscheinen und eine liebenswürdige Miene aufsetzen. Aber leider ist dem nicht so! Wer kennt nicht jene Veranstaltungen, zu denen man mit großen Erwartungen geht, um dann festzustellen, dass die wirklich interessanten Leute gar nicht da sind? Gerade Wissenschaftlern passiert so etwas leicht: Da bekommt man die Einladung zu einem großartigen Symposium, gefördert aus Mitteln der bedeutendsten Stiftungen; das Thema bewegt nicht nur die größten Geister ihres Faches, sondern ist auch genau auf die eigenen Forschungen zugeschnitten. Man sagt also trotz des beleidigend niedrigen Honorars zu, in der Hoffnung auf Kompensation, d. h. fabelhafte Kontakte, kluge Diskussionen und fruchtbaren Austausch mit sehr klugen Menschen. Ist man erst einmal angekommen, stellt man fest, dass der illustre Schirmherr keineswegs erschienen ist, auf dem Podium entgegen den Ankündigungen nur die zweite Garde sitzt und sich im Publikum vorwiegend lustlose Studenten tummeln. Auf die Veröffentlichung des eigenen, so sorgfältig formulierten Beitrags im geplanten Tagungsband verzichtet man dann lieber gleich, denn es ist abzusehen, dass das Ding erst in Jahren fertig sein und dann von keinem Menschen gelesen werden wird. Das Gleiche gilt auch außerhalb des zugegebenermaßen speziellen Kreises der Wissenschaft. Auch in der Welt der Reichen und Einflussreichen sollte man nicht jeder schönen Einladung Folge leisten, denn nicht überall sind sie, jene Alphamännchen und Alphaweibchen, zu denen man sich ja gesellen möchte. So mancher hat hier aufgrund einer bedauerlichen Fehlein-

1  Von Events, der Macht und dem schönen Schein     5

schätzung nicht nur einen langweiligen Abend verbracht, sondern fand sich auf den besagten Pressefotos am nächsten Tag in recht unwillkommener, weil unbedeutender oder gar halbseidener Gesellschaft! Events sind also nicht bloß die netten Treffen mehr oder weniger angenehmer Zeitgenossen. Sie sind mehr: Sie sind ein Gradmesser für gesellschaftliche Bedeutung; sie sind ein Spiegel der aktuellen Machtverhältnisse. Wer dort regelmäßig erscheint, hat es geschafft. Wer aber stets eingeladen wird, aber nur wenige ausgewählte Veranstaltungen besucht, ist ungekrönter König in dieser Gruppe von Erlesenen, die hinter der Fassade großer Liebenswürdigkeit und Weltgewandtheit nach beinharten Regeln spielt.

Eine Analyse Genau diese Machverhältnisse interessieren uns hier! Es sind die Spielregeln, die wir erkennen wollen, um zu verstehen, wie Macht zustande kommt. Wenn wir diese Spielregeln kennen, können wir sie anwenden; entweder um mitzuspielen und einen wesentlichen Teil dieser Welt zu beherrschen oder um die Welt, dieses große Spiel um Macht, zumindest zu durchschauen. An diesem Punkt müssen wir leider die unterhaltsame Schilderung der gesellschaftlichen Ereignisse für eine Weile unterbrechen (ich verspreche, wir kehren dahin zurück!) und uns einer ersten Analyse zuwenden. In wissenschaftlicher Hinsicht, und strenge Wissenschaftlichkeit ist schließlich unser Anspruch, können wir unser bisheriges Vorgehen als das Sammeln von Material oder Daten auffassen. Damit haben wir nichts anderes getan als der Geologe, wenn er an einem schönen Frühsommermorgen mit seinem Hämmerchen loszieht, um in einem sogenannten Aufschluss – das ist die Stelle, an der das blanke Gestein an die Oberfläche tritt – nach den Überresten längst vergangener Landoberflächen oder Meere und ihrer Lebewesen zu forschen. Hat er erst einmal eine nennenswerte Menge an Fossilien gesammelt, geht es an die weitere Bearbeitung und zuletzt an die Auswertung der Funde. Leicht kann der Geologe die größeren Tiergruppen voneinander unterscheiden. Da sind Muscheln und Korallen, da sind Trilobiten und Ammoniten, Seelilien und Armfüßler, und mit sehr viel Glück findet sich sogar der Rest eines fossilen Knorpelfisches. Die Analyse ergibt eine charakteristische Faunenzusammensetzung, die wiederum Rückschlüsse auf das Ablagerungsmilieu und die Umwelt in einem längst vergangenen Erdzeitalter ermöglicht. Die gleiche Methode wenden wir auf unsere Beobachtung des gesellschaftlichen Spiels um Macht an. Auch hier, im Bereich des

6     I. Wunn

­ wischenmenschlichen, gilt es nun, unser Material so zu ordnen, dass es Z einer weiteren und intensiveren Betrachtung zugänglich wird. Das erweist sich allerdings im Bereich des Sozialen als deutlich schwieriger als in der Geologie, denn es geht zunächst einmal darum festzustellen, welche Verhaltensweisen eigentlich relevant sind. Wir versuchen eine erste, vorläufige Klassifizierung: Da ist zunächst einmal die persönliche Erscheinung, die an Äußerlichkeiten wie Alter, Geschlecht, Größe und Körperbau festgemacht werden kann. Hier zeigen sich bei den männlichen Untersuchungsobjekten gewisse, aber nicht einschneidende Unterschiede, denn letztlich haben wir unser Untersuchungsmaterial auf hochkarätigen Empfängen und nicht in einem Fitnessstudio gesammelt. So wichtig das Fitnessstudio auch für manchen sein mag: In Sachen Macht hat diese Institution bisher nur Arnold Schwarzenegger hervorgebracht! In der für unsere Frage nach Macht und Herrschaft relevanten Gruppe bewegt sich das Altersspektrum daher im mittleren bis oberen Bereich. Eine Ausnahme stellt lediglich der Jungunternehmer dar, der mit einer Internetplattform ein ganz neues, millionenschweres Unternehmen aufgezogen hat. Anders bei den Damen: Auch hier sind die älteren Semester vertreten, aber nicht ausschließlich. Junge Frauen lockern das Bild auf. Ähnliches gilt für Kleidung und Auftreten. Während sich die reiferen Herren eher durch das teure Material ihrer Anzüge, das seidene Einstecktuch oder die oben bereits erwähnten Personenschützer in Szene setzen, sind es bei einigen Damen sehr eindeutig die körperlichen Vorzüge, mit denen sie beeindrucken (Abb. 1.2). Rosige Gesichtshaut, pralle Brüste und

Abb. 1.2  Eine typische Konstellation von Vertretern von Kultur, Geld und Politik als Zuschauer bei einem Fußballspiel: Carsten Maschmeyer, Veronica Ferres, Klaus Meine, Wiebke und Philipp Rösler. Man beachte die tiefen Kleiderausschnitte der Damen! (© SCHROEWIG/Eva Oertwig/picture alliance)

1  Von Events, der Macht und dem schönen Schein     7

die hochhackigen Schuhe versprechen zumindest theoretisch eine erfolgreiche Paarung. Hochhackige Schuhe? Jawohl, denn durch das Tragen hoher Absätze wird das Gleichgewicht gestört. Das kann ausgeglichen werden, indem frau ein wenig ins Hohlkreuz geht und den Steiß herausschiebt. Ein prominenter Steiß signalisiert jedoch nichts anderes als Paarungsbereitschaft! So richtig fein ist das allerdings nicht. Damen der etablierten Kreise verzichten daher gern auf dieses eindeutige Signal und wählen den besagten flachen Schuh. Bleiben wir ein wenig bei der Kleidung, die ja, wie wir bereits feststellen konnten, für bestimmte Gruppen so typisch ist, dass sie eine erste Klassifizierung erlaubt – genau wie in unserem Beispiel aus der Geologie eine erste Unterscheidung der Fossilien nach äußeren Merkmalen möglich war. Da sind also die Geistlichen in ihren Amtstrachten oder einer entsprechenden, als ebenso elegant wie angemessen zurückhaltend empfundenen Garderobe. Sie grenzen sich eindeutig als Gruppe von den übrigen Führungspersönlichkeiten ab. Dann sind da die Diplomaten in betont korrekter, aber eleganter Kleidung (Abb. 1.3). Auch die Konsulin eines bedeutenden außereuropäischen Landes hat sich angepasst und trägt ein dunkles Kostüm. Die führenden Damen und Herren aus der Politik sind zwar auch korrekt, aber nicht ganz so elegant gekleidet. Da mögen die finanziellen Möglichkeiten eine Rolle spielen, aber letztlich möchte man sich eben nicht zu stark von der potenziellen Wählerschaft abheben. Das karierte Hemd (Abb. 1.4) signalisiert daher Nähe zur Arbeiterschaft, das Tweedsakko weist auf einen führenden Volksvertreter vom Lande.

Abb. 1.3  Neujahrsempfang für den Konsularischen Korps 2014. (Quelle: Landeshauptstadt Hannover, mit freundlicher Genehmigung)

8     I. Wunn

Abb. 1.4  Sigmar Gabriel, SPD, mit kariertem Hemd und offenem Hemdkragen. (© Holger Hollemann/Eva Oertwig/dpa/picture alliance)

Anders die Künstler: Hier ist Originalität nicht nur gefragt, sondern geradezu ein Muss! Für den Rockmusiker ist schwarzes Leder ebenso Pflicht wie für die Schauspielerin das figurbetonte Kleid mit tiefem Ausschnitt. Die Intellektuellen dagegen machen deutlich, dass sie für Äußerlichkeiten wenig übrighaben, da ihr Geist in höheren Sphären schwebt. Das bedeutet formlose Gewänder in gedeckten Farben für Damen und ausgebeulte Hosen (oft ohne Gürtel getragen) für Herren. Lediglich die Bekleidung des Rektors der örtlichen Universität wirkt etwas unentschlossen. Das strahlende Blau seines Anzugs zeigt, dass er ein wenig verunsichert ist und sich noch nicht so recht einer Gruppe zuordnen kann. Sehr leicht kann diese Liste um weitere charakteristische Gruppen erweitert werden: Um den Jungunternehmer, der in Jeans und Hoodie erschienen ist, denn er möchte sich als Vertreter der Jungen, Wilden, Nichtetablierten präsentieren! Oder um den alten, aufgrund chronischer finanzieller Engpässe auf seinen Landsitz verbannten Adel, der eigentlich immer Reitstiefel oder das leicht abgewetzte Smoking Jacket aus Samt trägt – oder wenigstens so aussieht, als trüge er es! Wir können es jedoch an dieser Stelle bei einer vorläufigen Analyse bewenden lassen, denn eines ist bereits deutlich geworden: Es gibt auch unter den Schönen und Reichen unterschiedliche Gruppen, die sich schon optisch deutlich unterscheiden, und diese Unterschiede haben eine tiefere, nämlich eine soziale Bedeutung. Unsere Beobachtungen haben jedoch auch gezeigt, dass für solche Gruppen ein bestimmtes Verhalten charakteristisch ist. Damit ist nun nicht so etwas wie der gruppenspezifische Benimmcodex gemeint, obwohl der natürlich existiert. Keine noch so elegante Dame wird allen Ernstes von dem Rockstar oder dem Ayatollah und bestimmt nicht vom Vorsitzenden

1  Von Events, der Macht und dem schönen Schein     9

der Eisenbahnergewerkschaft einen Handkuss erwarten, wohingegen besagte Dame gut daran täte, die Hand des liebenswürdigen Barons nicht unbedingt kraftvoll zu ergreifen und energisch auf und nieder zu bewegen! Dies ist jedoch jetzt gerade nicht gemeint, wenn es um die Frage des Verhaltens geht, sondern vielmehr ein bestimmter Umgang von Gruppen oder Organisationen mit ihren eigenen Repräsentanten, Amtsträgern und Würdenträgern in der Öffentlichkeit. Das gemeinte Verhalten könnte vorschnell als Gruppenloyalität (eventuell sogar im Sinne von Gruppenselektion) gedeutet werden, wenn man nicht das Hauen und Stechen hinter den Kulissen genau kennen würde. Diese Form äußerlicher Loyalität fällt besonders auf, wenn es um Institutionen geht. Da stützt die Politik eisern und ausdauernd einen ihrer Volksvertreter, auch wenn schon längst ein Ermittlungsverfahren gegen ihn läuft, da wird ein unfähiger Manager von seinem Aufsichtsrat gedeckt, und da wird ein hochrangiger geistlicher Würdenträger lange im Amt gehalten, auch wenn sein Umgang mit Kirchengeldern schon längst zum öffentlichen Skandal geworden ist und jeder Leser einschlägiger Illustrierter inzwischen die exorbitant teure Badewanne des frommen Mannes bis hin zum Wasserzulauf und Stöpsel kennt. Gruppen oder auch Institutionen gehorchen offensichtlich eigenen, ganz spezifischen Regeln, und die gilt es zu durchschauen, wenn man die Welt beherrschen oder, bescheidener, verstehen will. Die Gesellschaft, bestehend aus besagten Institutionen mit ihren eigenen Regeln, funktioniert also trotz offensichtlicher Mängel. Hierarchien scheinen eine hohe Stabilität zu besitzen und kaum jemals infrage gestellt zu werden. Erst spät ist eine kritische Linie überschritten, der öffentliche Unmut wächst sich zu einem regelrechten Aufstand aus und fegt die alte Ordnung hinweg. Ein solcher Punkt war erreicht, als vor etlichen Jahren – lange vor meiner gesellschaftlich aktiven Zeit – zum ersten Mal die Grünen die etablierte Parteienlandschaft aufmischten. Entstanden aus einer Protestbewegung von meist jugendlichen Umweltaktivisten und Sozialreformern entwickelte sich aus einer politischen Kraft, die absoluten Egalitarismus auf ihre Fahnen geschrieben hatte, eine hierarchisch strukturierte demokratische Partei, die sich heute hinsichtlich ihrer Organisation von ihren politischen Konkurrenten nur durch die Frauenquote unterscheidet. Natürlich sind inzwischen auch die Spitzenfunktionäre dieser Partei Gäste der obigen Events und nutzen trotz ihres weiterhin sozialreformerischen Anspruchs gern die für Honoratioren reservierten kostenlosen Eintrittsgarten für z. B. die oben erwähnten Kunstfestspiele.

10     I. Wunn

Aber auch auf der großen internationalen Bühne lässt sich ein solches Beispiel leicht finden. Die AKP, heute Regierungspartei in der Türkei, startete als religiös-soziale Graswurzelbewegung, die sich als Gegenentwurf zur etablierten und autoritären Politik der Kemalisten verstand. Inzwischen hat diese ehemalige egalitäre Untergrundbewegung zu festen Strukturen gefunden, Hierarchien gebildet, die Wahlen gewonnen und stellt den Präsidenten – mit einer Machtfülle, wie es sie in der Republik Türkei noch nie gegeben hat.

Fragen und Theorien Das Ergebnis unserer Analyse können wir nun leicht in wenigen Sätzen darlegen: Das subtile Spiel der Gesellschaft um Macht und Einfluss kann offensichtlich nur erfasst werden, wenn man es aus verschiedenen Gesichtswinkeln beleuchtet, die wiederum die Anwendung unterschiedlicher Theorien erfordern. Da ist zunächst einmal die Frage nach Eigenschaften, die man gemeinhin als ganz persönlich oder sogar als privat empfindet: Wie bin ich gekleidet, wie trete ich auf? Wie sieht man/frau an meiner Seite aus? Ist er oder sie eher körperlich attraktiv und sexy, oder spielt das gar keine Rolle und dafür stehen die untrüglichen Anzeichen des Reichtums und der Macht oder gar der intellektuellen Überlegenheit im Vordergrund? Dass jeder Mann und jede Frau gar nicht so individuell sind, sondern in Kleidung und Auftreten eher einem ganz bestimmten, für ihre gesellschaftliche Gruppe charakteristischen Typus entsprechen, dürfte nach der Schilderung der Teilnehmer des obigen Events klargeworden sein. Mir selbst wurden diese Zusammenhänge zum ersten Mal richtig deutlich, als ich in einer Vorlesung über Pierre Bourdieus Habitustheorie sprach. Trotz meines angeblich so individuellen Stils sah ich auf einem von mir als Beispiel für professoralen Habitus ausgesuchten Foto einer sehr geschätzten Frankfurter Kollegin zum Verwechseln ähnlich, und das betraf nicht nur Haarfarbe und die etwas zerrupfte Frisur, sondern sogar die Art und Weise des Posierens: Wir beide hatten uns ganz automatisch vor unserer Bücherwand ablichten lassen! Der Sinn der Sache war natürlich das subtile Zurschaustellen unserer Belesenheit! Wer also was ist, welcher Gruppe er sich zuordnet und auf welche Weise er/sie seine/ihre Vorzüge in den Vordergrund stellt, ist das Thema von Pierre Bourdieus Habitustheorie, die uns einige Schritte auf dem Weg zur Macht weiterbringen wird.

1  Von Events, der Macht und dem schönen Schein     11

Nicht jedes Individuum des von uns zum Studienobjekt erklärten erlauchten Kreises verdankt seine einflussreiche Stellung jedoch einem akademischen Titel oder selbst erarbeitetem Vermögen, sondern viele der hier Beschriebenen sind Repräsentanten von Einrichtungen oder Institutionen, an deren Spitze sie sich vorgekämpft haben. Hier schließt sich dann folgerichtig die Frage an, wie man es an diese Spitze schafft – und warum das eigentlich erstrebenswert ist. Es ist ja nicht wirklich wunderschön, sich nur in Begleitung von Bodyguards bewegen zu dürfen, Morddrohungen zu erhalten, jeden häuslichen Zwist in der Zeitung diskutiert zu finden und dafür auch noch recht bescheiden entlohnt zu werden! Eine sehr liebe Freundin von mir musste beispielsweise in der Zeit, in der sie ein öffentliches Ehrenamt bekleidete, heimlich aus einem Fenster klettern, wenn sie mit ihrem Mann einen traulichen Spaziergang machen wollte! Es muss also etwas geben, das für den ganzen Aufwand entschädigt. Immerhin zahlt man/frau für die große Ehre dazuzugehören einen hohen Preis, als da sind der Verlust an Privatsphäre, hohe Arbeitsbelastung, Mangel an Freizeit und eventuell auch Einbußen bei der Gesundheit. Zumindest in unserer patriarchalischen Gesellschaft scheint dieser Mehrwert für Männer erheblich größer zu sein als für Frauen, denn mehr Männer als Frauen drängen in Ämter mit hoher Reputation. Sollten wir uns vorläufig (im Sinne einer Arbeitshypothese) dafür entscheiden, dieses öffentliche Posieren der Männer als eine Art Marketingstrategie zu begreifen, müssen wir ergänzen, dass auch die Damenwelt vergleichbare Strategien kennt: In den sozialen Medien präsentieren sie ungeniert ihre Vorzüge, angefangen vom süßen Schmollmund des Teenagers bis zum sensationellen Riesenpopo des amerikanischen Realitystars. Und wer in Sachen sexy nicht mithalten kann, posiert wenigstens mit seinen Plätzchenrezepten! Für uns resultiert daraus die Frage: Was ist das für ein Mehrwert, den die Herren mit größter beruflicher Anstrengung, viele Damen jedoch immer noch mit dem Vermarkten ihrer körperlichen oder haushälterischen Fähigkeiten erzielen wollen? Zur Beantwortung dieser Frage werden wir die Biologie zurate ziehen, um mithilfe einer biologischen Theorie erhellende Antworten zu erhalten: Es ist Richard Dawkins Theorie vom egoistischen Gen! Hat man den Wettbewerb in Sachen Mehrwert erst einmal geschafft und steht an der Spitze einer gesellschaftlich bedeutenden Organisation, erweist sich das Ganze als ungemein stabil. Zunächst einmal fällt auf, dass man auf dem Weg nach oben zwar das Banner der Institution eifrig schwenkt und je nach Branche, Partei oder NGO (Nichtregierungsorganisation) die

12     I. Wunn

entsprechenden Schlagworte im Munde führt wie z. B. „schadstoffarme Autos“, „Dividende“, „Kundenorientierung“, „gerechte Löhne“, „Frieden und Nächstenliebe“, dass aber intern ganz andere Fragen von Bedeutung sind, als da wären: Wie groß ist mein Büro, und hat es ein eindrucksvolles Vorzimmer mit möglichst mehreren Assistentinnen oder Assistenten? Welcher Dienstwagen plus Fahrer steht mir zu? Kann ich den Firmenjet oder ­ADAC-Hubschrauber nicht doch irgendwie für meine Urlaubsreise oder den schnellen Abstecher nach Hause nutzen? Und jenseits des persönlichen Vorteils: Wie vertusche ich den Sexskandal in meiner Abteilung? Wie komme ich für meine Institution an ein repräsentatives Gebäude in teuerster Lage, obwohl die Finanzlage das keineswegs hergibt? Und zuletzt: Wie komme ich zu Sandra Maischberger in die Talkrunde – oder aber: Wie komme ich an die begehrte Einladung zum Empfang aus Anlass des Besuchs des Königs von Lesotho? Deutlich wird bei dem Gesagten, dass ein Großteil der Energien in den großen Unternehmen und Organisationen keineswegs in das Erreichen der Ziele des Unternehmens oder der fraglichen Institution fließen, sondern irgendwie und aus irgendeinem Grunde um die besagte Institution selbst kreisen. Auch hier ist das Warum unser Thema, und die Antwort liefert die von dem Biologen Ludwig von Bertalanffy formulierte und durch den Soziologen Niklas Luhmann berühmt gewordene Systemtheorie. Ein System ist nämlich ein geordnetes, strukturiertes Ganzes, das zwar aus einzelnen Elementen oder Komponenten besteht, das aber dann ganz eigene Eigenschaften entwickelt, die sich aus den einzelnen Teilen nicht erklären. Das heißt also, dass so ein System ein Eigenleben führt und quasi eigenständig agiert. Im Bereich des Lebendigen bedeutet das, dass ein System zunächst einmal danach trachtet, sich selbst zu erhalten, und das Gleiche gilt offensichtlich auch für gesellschaftliche Systeme. Wird das Eigenleben des besagten Systems, also einer Organisation, Partei oder Kirche, allerdings zu groß und divergieren seine Strategien und der offizielle Zweck zu eindeutig – in systemtheoretischer Sprache hieße das, dass die Kommunikation zwischen System und Umwelt nicht mehr funktioniert –, wackelt das System, und im besten Falle findet ein großes Aufräumen statt. Ein solches Aufräumen wie z. B. bei der FIFA oder dem ADAC nach entsprechenden Skandalen erfolgt wiederum nicht blind, sondern nach bestimmten Regeln, und die hat der Anthropologe Victor Witter Turner in seiner Ritualtheorie formuliert. Damit hätten wir die wichtigsten Fragen thematisiert und das nötige Handwerkszeug, unsere vier Theorien, zu ihrer Beantwortung bereitgestellt: Über den Erfolg in der Gesellschaft, über den Rang, den man dort

1  Von Events, der Macht und dem schönen Schein     13

einnimmt, und die Macht, die man dementsprechend ausüben kann, entscheiden demnach sehr verschiedene Dinge, die beim richtigen Aussehen anfangen und längst nicht bei der Zugehörigkeit zur richtigen gesellschaftlichen Gruppe oder Klasse enden. Es spielen noch andere Dinge eine Rolle, als da sind die Wahl der richtigen Institution bzw. des richtigen, nämlich des einflussreichen Systems oder das richtige Verhalten in Krisensituationen. Eines wurde bereits deutlich: Bei allen Bemühungen ist es den Sozialwissenschaften bisher nur unvollkommen gelungen, das Phänomen Macht und Herrschaft in den Griff zu bekommen. Mit unserer subtilen Analyse und unseren vier berühmten Theorien, die das relevante Wissen aus der Biologie, der Anthropologie und der Soziologie in einem eleganten Grenzgang zusammenbringt, werden wir diese bisherige Lücke schließen! Beginnen wir mit dem Grundlegenden, mit dem, was jeden Menschen, jedes Lebewesen ausmacht. Beginnen wir mit dem Sinn des Lebens – der erfolgreichen Fortpflanzung!

Teil I Erste Theorie: Das egoistische Gen

2 Die Fortpflanzung oder der Sinn des Lebens

Der Event und die Forschungsfrage Die Beschreibung eleganter Empfänge, exklusiver Einladungen in den ­VIP-Bereich des Fußballstadions oder der feierlichen Eröffnung von Festspielen war weder Selbstzweck noch diente sie dazu, der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten. Es ging und geht vielmehr um die Frage, wie unsere Gesellschaft funktioniert – es geht um gesellschaftliches Verhalten. Genau dieses gesellschaftliche Verhalten, die unerfindlichen Wege zu Erfolg und Macht wollen wir erforschen und haben bereits verschiedene Ebenen für geeignete Fragestellungen ausmachen können. An der Basis des gesellschaftlichen Verhaltens steht das Individuum mit seinen Wünschen, seinen Zielen und seinen Entscheidungen. Zwar ist auch dieses hoch individuelle Verhalten stark abhängig vom sozialen Kontext, aber selbst wenn wir dieses Resultat sozialwissenschaftlicher Forschung nicht infrage stellen wollen, gibt es doch unzweifelhaft einen Teil der Persönlichkeit, der Teil unserer biologischen Anlagen ist und der deutlich macht, dass auch wir Menschen trotz unseres hochkomplexen Sozialverhaltens nichts weiter als Säugetiere sind, die aufgrund bestimmter anatomischer Merkmale zusammen mit Affen, Loris und Lemuren die Ordnung der Primaten bilden. Das Verhalten von Primaten und anderen Tierordnungen wird jedoch von der Biologie erforscht, der wir uns konsequenterweise an dieser Stelle zuwenden wollen.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Wunn, Vier Theorien, um die Welt zu beherrschen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61376-4_2

17

18     I. Wunn

Nichts in der Biologie macht Sinn außer … Da allerdings „nichts in der Biologie Sinn macht außer im Lichte der Evolution“ (Dobzhansky 1973), werden wir uns kurz mit der Evolution und der Geschichte der Evolutionstheorie auseinandersetzen müssen, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht. Jenes Jahrhundert, auch als das Zeitalter der Aufklärung bekannt, zeichnete sich durch bahnbrechende Erkenntnisse in den Naturwissenschaften aus. Dieser Aufbruch in ein neues wissenschaftliches Zeitalter hatte viele Ursachen. Einmal waren inzwischen technische Hilfsmittel wie das Mikroskop und sein Gegenstück, das Fernrohr, entdeckt worden und ermöglichten einen Blick auf das ganz Große, den gestirnten Himmel, und das ganz Kleine, die Zellenstruktur von Pflanzen oder winzige, bislang unsichtbare Lebewesen. Am wichtigsten für den großen intellektuellen Aufbruch war aber vermutlich die Entdeckung neuer Kontinente und der auf ihnen lebenden Pflanzen, Tiere und Völker gewesen, deren Vielfalt und Geschichte so gar nicht in das alte Weltbild passen wollte. Dieses alte Weltbild ruhte auf zwei festen Säulen: der Bibel und der Naturphilosophie des Aristoteles. Dieses geistige Fundament hatte die Denker des Abendlandes nicht nur sicher durch das Mittelalter geleitet, sondern bildete auch das feste Theoriegebäude, auf dem die ersten kritischen Forscher der Renaissance aufgebaut hatten. Nun aber waren neue Welten entdeckt worden und machten deutlich, dass die Menschheitsgeschichte mehr war als biblische Geschichte und dass es mehr Phänomene in der Natur gab, als Aristoteles vorhergesehen und in seine einstmals so klare lineare Ordnung gebracht hatte. Das alte Weltbild war ins Wanken geraten, und neues Denken wurde trotz des Widerstands der Kirchen möglich – ja erforderlich, wenn das, was man in der Natur täglich beobachtete, irgendwie zusammenpassen und einen Sinn ergeben sollte. Für die Biologie stellte sich damit als dringendstes Problem die Artenfrage. Gerade erst hatte der große schwedische Arzt und Naturforscher Carl von Linné (1707–1778) nicht nur die Art als feste und damit unwandelbare Einheit zur Grundlage einer neuen Systematik gemacht, sondern auch verschiedene Arten zu anatomisch ähnlichen Gruppen zusammengefasst, die er dann wiederum zu größeren Einheiten ordnete. Mit dieser Systematik, als hierarchisch-enkaptisches System bekannt, hatte er zum ersten Mal die sichere Klassifikation der Tier- und Pflanzenarten ermöglicht. Beobachtungen in der freien Natur zeigten aber nun, dass zwar die neue Systematik allen früheren Ordnungssystemen hoch überlegen war, dass aber Linnés Artkonzept gewisse Probleme bereitete. Linné hatte nämlich gefordert, dass

2  Die Fortpflanzung oder der Sinn des Lebens     19

sich alle Arten identisch reproduzierten, dass also jedes Individuum das naturgetreue Abbild seiner Eltern und letztlich eben auch eines von Gott erschaffenen Urbildes sein sollte. Nun traten in der Natur jedoch Varietäten auf! Darüber hinaus machte die aufblühende geologische Forschung deutlich, dass es in früheren geologischen Zeitaltern ganz andere Tiere gegeben haben musste. Die Arten mussten sich also im Laufe vieler Tier- oder Pflanzengenerationen nach und nach verändert haben! Die immer häufiger diskutierte Hypothese von der Veränderlichkeit der Arten stieß natürlich auf den Widerspruch der Kirche, denn die Bibel hatte ja von einem einmaligen Schöpfungsakt berichtet und Linnés Artkonzept hatte sich perfekt mit dem biblischen Bericht in Übereinstimmung bringen lassen. Unter den Naturforschern gab es allerdings gegen Ende des 18. Jahrhunderts wohl niemanden mehr, der nicht von der Tatsache des Artenwandels überzeugt gewesen wäre. Schließlich war da das von Gottfried Wilhelm Leibniz formulierte Gesetz der Kontinuität, nach dem es in der Natur nur kontinuierliche Veränderungen geben konnte. Weder entsteht etwas aus dem Nichts, noch vollzieht sich ein Wandel sprunghaft. Das konnte für die Natur nur eines bedeuten: Zwischen den von Linné nach Ähnlichkeiten sortierten und klassifizierten Arten, Gattungen und Ordnungen musste es irgendwelche Übergänge geben! Und da die Geologie gezeigt hatte, dass frühere Faunen anders ausgesehen hatten, mussten diese Übergänge kontinuierlich im Laufe der Erdgeschichte stattgefunden haben. Nur über das Wie war man sich noch nicht im Klaren. Einer der Ersten, der hier einen Theorieentwurf wagte, war der französische Naturforscher Jean-Baptiste de Lamarck (1744–1829) (Abb. 2.1). Lamarck war wie andere Biologen seiner Zeit der Ansicht, dass letztlich der Druck von Seiten der Umwelt für die Veränderung im Aussehen der Arten verantwortlich sein müsse. Oft wird Lamarcks Vorstellung heute unter dem Schlagwort von der Giraffe zusammengefasst, die eben deshalb ihren langen Hals bekam, weil sie und ihre Nachkommen sich immer wieder nach ihrer Nahrung, den Blättern der hohen Bäume in der afrikanischen Savanne, strecken musste. Entscheidend und zeittypisch ist jedoch nicht seine Hypothese von der Vererbung erworbener Eigenschaften, sondern die optimistische Vorstellung von einem angeborenen Vervollkommnungsprinzip, das letztlich im Laufe der Generationen zu einer stetigen Höherentwicklung sämtlicher Organismen führen müsse. Vereinfacht ausgedrückt bedeutete dies, dass die Ahnenreihe eines jeden Lebewesens nicht nur mit einem simplen Organismus begonnen haben musste, sondern die Potenz besaß, sich bis hin zu den höchsten Formen entwickeln zu können. Jede Entwicklung, so die Konsequenz von Lamarcks sogenannter

20     I. Wunn

Abb. 2.1  Jean-Baptiste de Lamarck, Biologe und Autor einer ersten Evolutionstheorie. (© ullstein bild/picture alliance)

Transformismushypothese, wäre also notwendigerweise eine aufsteigende. Lamarcks intuitiv so überzeugende Transformismushypothese litt allerdings darunter, dass ihr Verfasser für die Erklärung der physiologischen Vorgänge auf mechanistische Vorstellungen, nämlich die hydraulische Wirkung im Körper vorhandener Fluids, zurückgegriffen hatte, die schon zu seiner Zeit veraltet waren. Wenn die Idee von der Wandelbarkeit der Arten also seit Lamarck nicht nur gesellschaftsfähig geworden war, sondern in der biologischen wie in der geschichtsphilosophischen Forschung einen regelrechten Hype auslöste, blieben die Mechanismen, die zu dieser Evolution führen sollten, dennoch für eine weitere Generation unverstanden. Erst den britischen Naturforschern Charles Darwin (1809–1882) und Alfred Russel Wallace (1823–1913) gelang hier der Durchbruch, als sie in ihrem berühmten Joint Paper von 1858 die Selektion im Sinne von natürlicher Zuchtwahl als den für den Artenwandel entscheidenden Mechanismus erkannten (Darwin und Wallace 1858). Die Selektionshypothese wurde jedoch erst wirklich populär und allgemein bekannt, als Charles Darwin (1859) sie in seinem Buch On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life ausführlich für eine breite Leserschaft erläuterte und hierbei zunächst auf alltägliche Erfahrungen zurückgriff, nämlich die jedem Landwirt vertraute

2  Die Fortpflanzung oder der Sinn des Lebens     21

Viehzucht: Seit Generationen trafen Bauern eine sorgfältige Auswahl unter potenziellen Elterntieren, um in der kommenden Generation besonders leistungsstarke oder widerstandsfähige Jungtiere zu erhalten. Jeder Viehzüchter selektierte also, und das Resultat dieser künstlichen Selektion war ein langsamer Wandel in Richtung auf die vom Züchter gewünschte Form. Auch in der Natur, so postulierte Darwin, fand eine entsprechende Selektion oder Zuchtwahl statt. Nur waren es hier nicht Bauern oder Viehzüchter, die die Auswahl unter geeigneten Elterntieren trafen, sondern die Natur selbst. Wie jeder leicht beobachten konnte und auch heute noch kann, ziehen in freier Wildbahn Elterntiere Jahr für Jahr zahlreiche Jungtiere auf. Die Gesamtzahl dieser Tiere müsste sich also letztlich exponentiell steigern, und Überbevölkerung auch in der Tierwelt wäre die Folge. Genau das ist jedoch nicht der Fall, da immer wieder Jungtiere vor der Geschlechtsreife und natürlich auch Elterntiere sterben. Einmal führt ein zu nasses oder kaltes Frühjahr zum Tod zahlreicher kleiner Hasen und Singvögel, ein andermal gelingt es einem Storchenpaar in einem zu trockenen Sommer nicht, seine Brut mit genügend Nahrung zu versorgen, und im folgenden Jahr rottet eine Krankheit fast eine komplette Seehundpopulation an der Nordseeküste aus. Letztlich bleibt die Anzahl der überlebenden Tiere einer Art immer mehr oder weniger gleich, solange sich die Umweltverhältnisse nicht ändern. Offensichtlich überleben in der freien Natur von zahlreichen Jungtieren nur wenige so lange, bis sie selbst in das fortpflanzungsfähige Alter kommen und ihr Erbgut weitergeben können. Diese wenigen Glücklichen sind solche Individuen, die ein wenig geschickter bei der Nahrungsbeschaffung sind, die ein wenig erfolgreicher Feinden ausweichen können und die von Artgenossen bevorzugt werden, wenn es um die Paarung geht. Die pfiffigste Maus entwischt dem Fuchs oder Bussard, und die Löwin bekommt den stärksten Löwen als Sexualpartner. Nur wenn sie dann noch eine besonders geschickte Jägerin ist, kann sie die Jungen erfolgreich großziehen, die eben jenes starke männliche Tier gezeugt hat. Das, was in der Landwirtschaft eine bewusste Auswahl und demnach Selektion durch den Menschen ist, findet also in der freien Wildbahn durch die Natur selbst statt: Die Umwelt selektiert. Bleiben wir jedoch noch eine Weile bei den Löwen. Für die Löwin entscheidet ihre Tüchtigkeit bei der Nahrungssuche über den Fortpflanzungserfolg, bei den Männchen kommt aber noch ein weiteres Problem ins Spiel: Es benötigt zunächst einmal eine Chance, sich überhaupt fortpflanzen zu können. Männliche Löwen müssen sich nämlich zunächst einmal ein Rudel erkämpfen und dazu den bisherigen Herrn des Löwenrudels besiegen und vertreiben. Ist das gelungen und hat man tatsächlich ein Rudel mit

22     I. Wunn

geschlechtsreifen Löwinnen erworben, muss man diesen Besitz so lange wie möglich verteidigen. Genau die Tatsache, dass sich nicht jedes Individuum einer Art fortpflanzen kann, selbst wenn es das entsprechende Alter erreicht, hatte Darwin erkannt: Neben die natürliche Selektion tritt als weiterer selektiver Faktor die sexuelle Selektion. Darwin stellte demnach fest, dass die natürliche Variabilität der Arten sowie die Begünstigung von solchen Individuen, die gewisse vorteilhafte Abweichungen von der Norm zeigen, zusammen mit dem Wettbewerb um Ressourcen in der Natur zu einer fortlaufenden Selektion führen. Von diesen Ressourcen hatte Darwin genaue Vorstellungen: Da war in erster Linie die nicht unbegrenzt vorhandene Nahrung: Nicht immer können Bussarde genügend Mäuse finden, nicht immer gibt es genügend frisches Gras in den Steppen und Savannen für die Antilopen, und in kalten und schneereichen Wintern können nicht alle Rehe genügend Futter unter der Schneedecke hervorscharren. Hinzu kommt der Wettbewerb durch konkurrierende Arten: Bussarde und Füchse machen beide Jagd auf Mäuse; sowohl Löwen als auch Hyänen und Leoparden ernähren sich von den schnellen Huftieren der Savanne. Werden die Beutetiere knapp, ist der tüchtige Nahrungskonkurrent eine echte Bedrohung! Auch das Klima kann Probleme bereiten: Bei einem unzeitgemäßen Wintereinbruch mit starken Schneefällen bis in den April finden Greifvögel ihre Beute unter der Schneedecke nicht mehr, und möglicherweise bereits geschlüpfte Jungvögel in ihren Nestern können nicht ausreichend gefüttert werden. Letztlich dezimieren natürlich auch Fressfeinde, sogenannte Räuber, die Individuenzahl einer Art immer wieder. Wer kennt nicht die Bilder von den im seichten Wasser lauernden Krokodilen und den Antilopen, die dennoch an das Wasserloch müssen, wenn sie nicht verdursten wollen! Dieser ständige Existenzkampf führt immer wieder zum Tode zahlreicher Individuen. Nur allzu häufig ist es der Zufall oder sind es die besonderen Umstände an einem Ort in einer bestimmten Saison, die über Erfolg oder Misserfolg, über Tod oder Überleben entscheiden. Letztlich jedoch, und das ist das Wesentliche, werden sich diejenigen Varietäten einer Art erfolgreich fortpflanzen, die mit den jeweiligen Umständen am besten zurechtkommen; biologisch ausgedrückt: die ihrer Umgebung am relativ besten angepasst sind. Aber es geht eben nicht nur ums Überleben. Über den langfristigen Erfolg bestimmter Varietäten entscheidet etwas ganz anderes, nämlich die Frage, ob die so erfolgreichen Individuen ihre Eigenschaften auch an die folgende Generation weitergeben können, und das geschieht durch die Fortpflanzung als Ergebnis erfolgreicher Partnerwahl und Paarung. Völlig zu

2  Die Fortpflanzung oder der Sinn des Lebens     23

Recht machte Darwin also zusätzlich zur natürlichen Selektion den Faktor der sexuellen Selektion geltend. Hierbei handelt es sich um den Wettbewerb von Individuen um geeignete Sexualpartner. Nur diejenigen Individuen können sich bekanntermaßen fortpflanzen und ihre Eigenschaften erfolgreich an die nächste Generation weitergeben, denen es gelingt, einen Sexualpartner zu finden. Nicht allen Exemplaren gelingt das. Wir hatten bereits die Löwen erwähnt, bei denen sich geschlechtsreife Männchen ein Rudel erkämpfen müssen. Die unterlegenen Löwenmännchen ziehen sich notgedrungen zurück und fristen fern des Rudels ein einsames Dasein ohne Nachkommen. Ihr Erbgut ist für immer verloren. Gleiches gilt für viele andere Arten, zum Beispiel Büffel. Auch hier müssen sich die geschlechtsreifen Männchen ihre Herde erkämpfen, und wem das nicht gelingt, endet als sogenannter male looser. Aber auch den Weibchen glückt die Fortpflanzung nicht immer. So beschreibt die berühmte Primatenforscherin Jane Goodall (*1934) eine Schimpansin, die durch eine Pilzerkrankung entstellt war und vielleicht deshalb, als unattraktive Sexualpartnerin, nur ein einziges Baby zur Welt brachte, das tragischerweise mörderischen Artgenossinnen zum Opfer fiel (Goodall 1990). Nur die erfolgreichsten unter den Wettbewerbern um Sexualpartner pflanzen sich also fort und geben ihre Eigenschaften an die nächste Generation weiter.

Die Sache mit der Liebe Das Finden eines geeigneten Sexualpartners, das, was wir beim Menschen als Liebe bezeichnen, ist also entscheidend für die Evolution, denn ohne Fortpflanzung gäbe es keine kommenden Generationen, keine stetige Neukombination des Erbgutes von Vater und Mutter und demnach auch keinen Artenwandel. Es ist also letztlich die körperliche Liebe, die den Kreislauf von Werden und Vergehen in Gang hält. Richtet man den biologisch geschärften Blick auf den Alltag in der westlichen Welt, fällt rasch auf, dass auch bei uns Menschen im Alltag die Liebe genau jene wichtige Rolle spielt, die schon Darwin ihr beimaß. Karriere, Urlaub, der Ärger mit dem neuen Auto sind alles Marginalien, die zurückstehen müssen, wenn die Liebe ins Spiel kommt. Bereits beim morgendlichen Einschalten des Radios schmalzt Elvis Presley „Love me Tender“ in das noch kaum aufnahmefähige Ohr, und gleich danach wünscht sich Gitte „’nen Cowboy als Mann“. Tony Orlando beweist mit seinem „Tie a Yellow Ribbon Round the Old Oak Tree“, dass auch für einen ehemaligen Knacki die Paarungsfrage noch positiv gelöst werden kann, während Helene Fischer

24     I. Wunn

auf der Suche nach dem sensationellen Beischlaferlebnis immer noch „atemlos durch die Nacht“ eilt. Sollte der Bildungsbürger (männlich/weiblich/ divers) dieses offensichtliche Balzen als zu banal und die schlichten Tonfolgen als Lärmbelästigung empfinden und daher auf ein Kulturprogramm umschalten, wird er dort vielleicht zuerst Beethovens Klavierstück a-Moll WoO (Werk ohne Opuszahl) 59 hören – das berühmte „Für Elise“, das eigentlich an eine gewisse Therese, eine entzückende junge Dame von neuem Adel, gerichtet war. Leider hatte die Geschichte im wirklichen Leben für den Komponisten kein Happy End. „Deine Nachricht stürzte mich aus den Regionen des höchsten Entzückens wieder tief herab“, schrieb Ludwig van Beethoven (1996–1998) nachdem die Geliebte seinen Heiratsantrag abgelehnt hatte. Ebenso traurig endete die nun allerdings rein dichterische und damit fiktive Liebe für Guglielmo und Fernando, die die Frage nach den passenden Sexualpartnerinnen für sich schon gelöst zu haben glaubten, deren Auserwählte sich dann aber in Mozarts „Cosi fan tutte“ als flatterhaft entpuppten. Noch dramatischer geht Verdi in seinen verschiedenen Werken die Partnerfrage an: Einmal paart sich nur das Männchen ungeniert außerhalb der Legalität, während die Heldin noch vor der Fortpflanzung stirbt („Rigoletto“), ein andermal ist zwar die eigentliche Partnerwahl erfolgreich, aber die abgeschmetterte Nebenbuhlerin verhindert auch hier die erfolgreiche Neukombination des genetischen Materials der potenziellen Eltern („Aida“). Nicht untypisch und aus biologischer Warte höchst interessant ist dagegen die in „Don Carlos“ angesprochene Problematik: Die Dame würde sich gern mit dem jugendlichen Helden paaren, hat aber leider den unter fortpflanzungstechnischen Gesichtspunkten nicht ganz so vielversprechenden (nachlassende Spermienqualität im Alter!) Vater erwischt. Ein tragisches Resultat! Ähnlich in Tschaikowskis „Eugen Onegin“. Hier paart man sich zwar, aber leider aufgrund der übereilten Fehlentscheidung eines der involvierten Männchen mit einem Partner zweiter Wahl, während die eigentliche Leidenschaft ungestillt bleibt. Kurz und gut: Auch im Klassikprogramm geht es um Liebe, also um Fortpflanzung, und im Gegensatz zur seichten Muse werden hier – ganz im brutalen selektionistischen Sinn – die möglichen Hindernisse schonungslos thematisiert, die der erfolgreichen Paarung und Fortpflanzung des Homo sapiens entgegenstehen. Selbst die Welt des Transzendenten und Göttlichen scheint nicht ohne Fortpflanzung auszukommen: Hier wird zwar nicht gebalzt oder geworben – die Gottheiten haben dergleichen Umwege nicht nötig und teilen den infrage kommenden, sorgfältig ausgewählten Partnerinnen ihre

2  Die Fortpflanzung oder der Sinn des Lebens     25

Entscheidung allenfalls im Vorfeld des Aktes mit! Dafür gebären die Auserwählten dann aber auch herausragende Persönlichkeiten mit gottgleichen Eigenschaften wie den griechischen Gott Dionysos, den Welteneroberer Alexander den Großen, den späteren Buddha Siddhartha Gautama oder Jesus, den Christus und Messias! Während der selektive Charakter der Partnerwahl im Rahmen des menschlichen Kulturschaffens also nur künstlerisch oder religiös verbrämt zur Sprache kommt, geht es im Tierreich ganz direkt zur Sache: Die Seeelefanten, ansonsten eher Einzelgänger, sammeln sich zur Paarungszeit in Kolonien. Hier versuchen dann die geschlechtsreifen Bullen, einen Harem von Kühen um sich zu scharen, um den sie bittere Kämpfe mit Rivalen ausfechten (Abb. 2.2). Nicht selten trägt eines der Tiere erhebliche Verletzungen davon, denn man schont den Gegner keineswegs, wie noch Konrad Lorenz (1963) glaubte, als er von den Kommentkämpfen in der Natur sprach und den Menschen zur Vermeidung von Kriegen Wettkampfsport anempfahl! Ähnlich erbitterte Kämpfe finden in der Brunftzeit zwischen Hirschen statt, wenn sie um eine Herde von Hirschkühen kämpfen. Nicht nur ihr Brunftgeschrei, das berühmte Röhren, kann man im Herbst überall in den mitteleuropäischen Wäldern hören, sondern ebenso das laute Krachen, mit dem ihre Geweihe zusammenstoßen, wenn sie versuchen, sich gegenseitig niederzuringen und den Konkurrenten in die Flucht zu schlagen. Ebenso bösartig geht es zwischen unseren kleinen gefiederten Freunden zu. Eben noch hat eine Amsel den romantisch gestimmten Vogelfreund mit

Abb. 2.2  Seeelefanten kämpfen um einen Harem von Kühen. (© Peter Giovannini/ imageBROKER/picture alliance/

26     I. Wunn

ihrem schluchzenden Gesang erfreut, da weicht das melodiöse Lied bereits wütendem Keckern, und ein konkurrierendes Amselmännchen wird mit aggressivem Picken und Flattern in die Flucht geschlagen (Abb. 2.3). Auch in der ureigensten Verwandtschaft des Menschen, bei den Menschenaffen, finden harte Kämpfe um Sexualpartner statt. So schildert Jane Goodall (1990) in ihrem berühmten Buch Through a Window, wie Mike, das bisherige Alphamännchen, durch einen brutalen Angriff entmachtet wird. Der schon ein wenig in die Jahre gekommene Mike wird an einem ganz gewöhnlichen Morgen von einem jungen Konkurrenten wie aus dem Nichts überfallen und übel zugerichtet. Er muss der Gewalt weichen und verlässt die Gruppe. Sein Angreifer wird das neue Alphamännchen und ist daher in sexueller Hinsicht für geschlechtsreife Weibchen der Gruppe besonders attraktiv. Dass natürlich auch andere, vor allem junge und kräftige Männchen zum Zuge kommen, steht auf einem anderen Blatt, ist aber für uns nicht uninteressant und wird an geeigneter Stelle noch einmal thematisiert werden. Nur eines sei hier schon verraten: Ältere Männchen, die zudem noch in der Machthierarchie weiter unten angesiedelt sind, tun sich schwer, eine willige Fortpflanzungspartnerin zu finden. Wer nun meint, der Mensch, dieses Kulturwesen par excellence, habe dergleichen üble Sitten im Laufe seiner Evolution abgelegt, sieht sich deutlich enttäuscht: Die Sultane der Osmanen, glanzvolle Herrscher im nach ihnen benannten Osmanischen Reich und Träger des Kalifentitels, regelten die Frage der Nachfolge auf dem Thron mithilfe nackter Gewalt. So entbrannte nach dem Tode des Eroberers von Konstantinopel, Mehmed (reg. ab 1444), ein Bürgerkrieg zwischen den Prinzen Bayezid (reg. 1482–1512) und Cem

Abb. 2.3 Kämpfende Amselmännchen. (© Roger Tidmann/FLPA/imageBROKER/ picture alliance)

2  Die Fortpflanzung oder der Sinn des Lebens     27

Sultan, aus dem der Erstere als Sieger hervorging. Bayezids II. Nachfolger Selim I. (reg. 1512–1520) ließ bei seinem Regierungsantritt sofort alle möglichen Thronprätendenten ermorden und zog selbst ganz bewusst nur einen einzigen Sohn auf, der als Süleyman der Prächtige in die Geschichte eingehen sollte. Und was hat das nun mit der Paarung zu tun? Sehr viel, denn bekanntenmaßen verfügten die Osmanenherrscher über einen ganzen Harem von Sklavinnen (Abb. 2.4), die ihnen und nur ihnen allein für das Fortpflanzungsgeschäft zur Verfügung standen. Wagen wir bereits an dieser Stelle einen vielleicht ein wenig übergriffigen Vergleich: Auch bei den Osmanen musste sich das Männchen einem mörderischen Kampf auf Leben und Tod stellen, bevor es auf die paarungsbereiten Weibchen zugreifen

Abb. 2.4  Haremsdamen bei sommerlichen Vergnügungen an den Süßen Wassern Europas, in den Palastgärten am Goldenen Horn. (Miniatur aus Hubannâme ve Zenannâme von Fâzıl-i Enderunî, Illustration des späten 18. Jahrhunderts; public domain)

28     I. Wunn

konnte. Die unterlegenen Männchen endeten als male looser: Sie wurden vertrieben wie Cem Sultan oder verloren gar ihr Leben. Bis heute besteht also auch beim Menschen ein Zusammenhang zwischen blutiger Gewalt und Paarung. Das gilt nicht nur, wenn sich leicht alkoholisierte junge Männer um eine begehrte junge Dame (die meistens sämtliche damenhaften Attribute vermissen lässt) prügeln. Gerade in der jüngsten Vergangenheit machten die Kämpfer des sogenannten Islamischen Staates (Daesh) nicht nur durch ihre ungeheure Brutalität von sich reden, sondern auch durch den Raub und die Versklavung von Frauen. Diejenigen Frauen, die nach den willkürlichen Grundsätzen des IS als ungläubig klassifiziert wurden, hatten jegliches Recht auf sexuelle Selbstbestimmung verloren. Die Friedensnobelpreisträgerin des Jahres 2018, die Jesidin Nadia Murad, fiel dieser brutalen Praktik zum Opfer und prangert seit ihrer Befreiung die sexuelle Gewalt im Rahmen von Kriegen an. Für die Männchen wurden dagegen die eroberten und entrechteten Frauen als Belohnung ausgelobt: Dem freiwilligen Kämpfer für Daesh winkten als Lohn eine oder mehrere Frauen! Aber nicht nur im „wilden Orient“1 war und ist erzwungene Paarung an der Tagesordnung. Auch Europas erstes Imperium verdankt seine Existenz letztlich dem erfolgreichen Raub von Fortpflanzungspartnerinnen. Die von Romulus und Remus im Jahre 753 v. Chr. gegründete Stadt Rom hatte mit einem eklatanten Frauenmangel zu kämpfen. Um geeignete Ehepartnerinnen zu finden, überfielen die Römer ihre geladenen Gäste und eigneten sich deren geschlechtsreife Mädchen an. Sicher, die wohlbekannte Geschichte vom Raub der Sabinerinnen ist ein Mythos und nicht etwa Geschichtsschreibung. Dennoch kann der Mythos nur deshalb überzeugen, weil er eben etwas ureigentlich Menschliches transportiert: das Wissen darum, dass die Suche nach geeigneten Sexualpartnern eine der stärksten Triebfedern menschlichen Verhaltens ist. Und durch Charles Darwin wissen wir auch, warum: ohne Paarung keine Weitergabe der eigenen Gene, ohne Sex keine Evolution!

Partnerwahl und die Rolle der Gene Darwin war also das Genie, das erklären konnte, warum die körperliche Liebe im Verhalten von Mensch und Tier eine so entscheidende Rolle spielt: Nur durch die Paarung eines Männchens mit einem Weibchen wird es Nachkommen geben, die ihre ganz speziellen Eigenschaften in 1Eine

schonungslose Analyse des westlichen Blicks auf den Orient bietet Said (1979).

2  Die Fortpflanzung oder der Sinn des Lebens     29

einer einmaligen Kombination an die nächste Generation vererben. Nicht alle Nachkommen werden dieselben Eigenschaften haben, sondern sich in vielen Kleinigkeiten unterscheiden. Diese Unterschiede wiederum spielen im Leben der Nachkommen eine wichtige Rolle, wenn es um die Lösung existenzieller Probleme geht, denn nicht alle Individuen werden unter den herrschenden Bedingungen ihr Leben gleichermaßen meistern. Da aber die verfügbaren Ressourcen begrenzt sind, haben vorwiegend die am besten Angepassten Chancen, sich weiter zu vermehren und ihre Eigenschaften an die nächste Generation weiterzugeben. Soweit Charles Darwin. Was er allerdings nicht erklären konnte, waren drei essenzielle Probleme: die Art und Weise der Vererbung der elterlichen Eigenschaften, die mit der Paarung eng verbundene, so augenscheinlich sinnlose Aggression gegen Angehörige der eigenen Art und die Kriterien, nach denen Tiere und Menschen ihre Sexualpartner aussuchen – und gerade das, die Auswahl des Sexualpartners durch erfolgreichen Wettbewerb oder durch persönliche Wahl, spielt eine entscheidende Rolle! Während Hirschkühe oder Löwinnen im Allgemeinen ihr Fortpflanzungsgeschäft mit dem Chef des Rudels oder der Herde erledigen (der sich diese Stellung jedoch in harten Auseinandersetzungen erkämpfen musste), also aus weiblicher Sicht mit dem Vorlieb nehmen müssen, was ihnen vorgesetzt wird, haben die Weibchen anderer Tierarten, zum Beispiel Webervögel (Abb. 2.5), Wahlmöglichkeiten. In der Paarungszeit beginnen die männlichen Webervögel,

Abb. 2.5 Männchen des Dorfwebers auf seinem Nest. (Digimages.info site. Copyrighted by Alain Fossé, who gracefully lets his images be used freely provided that he is credited)

30     I. Wunn

ihr kompliziertes Nest zu bauen, und die Weibchen sehen interessiert dabei zu. Immer wieder kommen sie und kontrollieren die entstehende Behausung, bis sie sich zuletzt für das Nest eines der Wettbewerber entscheiden – und damit auch für den erfolgreichen kleinen Baumeister als Sexualpartner. Das ausschlaggebende Kriterium für die Partnerwahl ist also hier ganz materialistischer Natur: Nicht der Schönste oder der Stärkste oder der beste Sänger gewinnt die Angebetete, sondern der Eigentümer der besten Behausung, der seiner Partnerin die erfolgversprechendsten Brutmöglichkeiten bieten kann. Denn: Nur ein stabiles, sicheres Nest sichert den Bruterfolg des Weibchens. Ein wichtiges Zwischenfazit: Es geht also bei der Fortpflanzung nicht unbedingt nur darum, überhaupt einen Sexualpartner zu finden, sondern der oder die Auserwählte sollte bestimmte Kriterien erfüllen. Warum ist das so? Woher dieses Wählerische, wenn für die Erhaltung der Art doch jeder beliebige Kandidat geeignet wäre? Hier kommt Richard Dawkins ins Spiel. Bevor wir uns jedoch näher mit seiner Theorie des egoistischen Gens befassen, müssen wir noch einen kurzen Blick auf die Mechanismen der Vererbung werfen – eben auf jene Regeln, die Darwin noch unbekannt waren, als er seine Selektionstheorie formulierte, und die erklären, wie die Eigenschaften der Eltern auf die Kinder vererbt werden. Hier gelang dem österreichischen Mönch Johann Gregor Mendel (1822–1884) noch zu Lebzeiten Darwins der große Wurf. Der Bauernsohn Johann Mendel war bereits während seiner Schulzeit durch seine herausragende Begabung aufgefallen; allerdings tat sich die in ärmlichsten Verhältnissen lebende Familie ungemein schwer damit, dem Jungen eine seinen Begabungen entsprechende Ausbildung zu ermöglichen. Nachdem alle Möglichkeiten ausgeschöpft worden waren, trat Mendel 1843 in das Augustinerstift St. Thomas in Altbrünn ein. Dieses Kloster, das im Ruf größter Gelehrsamkeit und wissenschaftlicher Aufgeschlossenheit stand, ermöglichte dem jungen Mönch (der den Ordensnamen Gregor erhielt) ein naturwissenschaftliches Studium an der Universität Wien, wo er unter anderem bei dem genialen Physiker Christian Doppler studierte. Gerade die Wahl dieses Studienganges sollte sich für den zukünftigen Wegbereiter der Genetik als ideal erweisen, denn hier wurde er mit den strengen physikalischen Forschungsmethoden konfrontiert, die er sofort nach seiner Rückkehr ins Kloster für seine eigenen Forschungen fruchtbar machte. Mendel hatte sich nämlich der landwirtschaftlichen Züchtungsforschung und der Bastardforschung angenommen. Ein solcher Schritt lag nahe, da man im landwirtschaftlich orientierten Mähren an solchen Forschungen interessiert war und sich deshalb auch die Universität Ölmütz für entsprechende Fragen interessierte. Die Universität wiederum unterhielt zum

2  Die Fortpflanzung oder der Sinn des Lebens     31

Kloster mit seinen brillant ausgebildeten und gelehrten Mönchen engen Kontakt, sodass es nahelag, dass sich auch Mendel mit Fragen der Züchtung und Kreuzung von Nutzpflanzen beschäftigte. Nun konnte Mendel auf das zurückgreifen, was er während des Studiums der Physik in Wien gelernt hatte: Er setzte eine wissenschaftliche Frage, nämlich wie bestimmte Eigenschaften von Pflanzen von Generation zu Generation vererbt werden, in eine Arbeitshypothese um, um sie anschließend im Experiment zu überprüfen und zuletzt die Ergebnisse mathematisch auszuwerten. Genauso führte er seine Kreuzungsversuche an der Gartenerbse durch, wobei er sich auf wenige relevante und gut zu beobachtende Merkmale beschränkte. Die Ergebnisse seiner Kreuzungsversuche ließen nur eine Deutung zu: Bei der Fortpflanzung vereinigen sich je eine Keim- und eine Pollenzelle zu einer einzigen Zelle, die nach dieser Vereinigung die gesamte Erbinformation des neuen Individuums enthält. Aus dieser neu gebildeten Zelle entwickelt sich dann durch Stoffaufnahme und Zellteilung ein neuer, eigenständiger Organismus. Mendels Experimente hatten also bestätigt, dass der Vorgang der Vererbung (Abb. 2.6) an eine bestimmte Anzahl voneinander getrennter und unabhängiger materieller Träger gebunden ist, die bei der Fortpflanzung von Generation zu Generation weitergereicht werden. Diese Einheiten, die der dänische Genetiker Wilhelm Johannsen (1857–1929) später als Gene bezeichnete, werden von beiden Eltern in einem festen, zahlenmäßig gleichen Anteil an die nächste Generation weitergegeben. Dort vermischen sie sich und führen zu einem ganz neuen Erscheinungsbild, treten aber in der Enkelgeneration wieder unverfälscht in Erscheinung. Die von Mendel postulierten materiellen Erbträger, die Gene, waren es also, die letztlich sowohl für geplante Züchtungserfolge als auch für die von Darwin postulierten Varietäten in der freien Natur verantwortlich waren. Über die Gene wurden die Erbinformationen der Elterngeneration an die Generation der Kinder weitergegeben, um von dort auf dem gleichen Wege weitergereicht zu werden. Wenn aber die elterliche Erbinformation, die ja an feste Träger gebunden war, im Zeugungsakt zusammengefügt wurde, die neu entstandene Zelle also doppelt so viele Gene haben musste wie die an der Befruchtung beteiligte Zelle, stellte sich die Frage, wie die für die Paarung notwendigen Zellen mit haploidem (dem halbierten) Chromosomensatz zustande kamen und wie und warum dann in der zweiten Filialgeneration, der Enkelgeneration, plötzlich die Eigenschaften der Großeltern wieder auftauchen konnten.

32     I. Wunn

Abb. 2.6  Erbgang nach Mendel. Während aus der Kreuzung (P-Generation) einer weiß blühenden (w) und einer rot blühenden (r) Pflanze in der ersten Generation (F1) rosa Mischformen hervorgehen, treten in der folgenden Generation (F2) neben den Mischformen auch die ursprünglichen Formen wieder auf. (Wikipedia)

Dieser Frage widmete der Begründer des sogenannten Neodarwinismus, der Mediziner und Biologe Friedrich Leopold August Weismann (1834– 1914), sein Lebenswerk. Im Gegensatz zu Mendel wurde Weismann in gut situierte, bürgerliche Verhältnisse geboren, und eine akademische Ausbildung war selbstverständlich. Dennoch spielten auch für Weismann wirtschaftliche Fragen eine große Rolle, als er sich trotz seiner eindeutigen biologischen Neigungen zunächst der Medizin zuwandte – und schon in diesem Fach brillierte. Weismann arbeitet also zunächst erfolgreich als Mediziner, beschäftigte sich aber weiterhin so intensiv mit biologischen Fragen, dass er sich im April 1863 an der Universität Freiburg im Breisgau in diesem Fach habilitieren konnte. Damit

2  Die Fortpflanzung oder der Sinn des Lebens     33

hatte er seinen Traum verwirklicht. Er übersiedelte noch im gleichen Jahr nach Freiburg und begann dort seine Lehrtätigkeit zunächst als Privatdozent, bis er dann einen Lehrstuhl für Zoologie übernehmen konnte. Hier hielt Weismann (1913) seine „Vorträge über die Deszendenztheorie“, die ihn berühmt machen sollten. Er kannte die Arbeiten Darwins bereits aus seiner Zeit als Mediziner und stimmte den Thesen und Schlussfolgerungen dieses damals noch keineswegs allgemein anerkannten Wissenschaftlers ohne Einschränkung zu. Allerdings hielt er es für notwendig, die Erkenntnisse Darwins dem aktuellen Stand der biologischen Detailforschung anzupassen und vor allem die Frage der Vererbung endgültig zu klären. Weismann ging wie Mendel davon aus, dass bei der Vererbung spezifische, materielle Erbanlagen von Generation zu Generation weitergegeben werden. Bei einzelligen Lebewesen ist diese Weitergabe simpel und genau zu beobachten: Die Einzeller teilen sich, und diese einfache Teilung führt zu einer Verdoppelung der Individuenzahl, ohne dass bei dieser Art der Vermehrung ein Zelltod eintritt. Einzellige Organismen sind also potenziell unsterblich. Anders die vielzelligen Organismen, bei denen nur noch die Keimzellen in der Lage sind, neue Individuen hervorzubringen. Die übrigen Zellen, von Weismann Soma genannt, haben verschiedene andere Funktionen übernommen, sind aber nicht mehr zur Reproduktion in der Lage. Nur in den Keimzellen ist demnach die vererbbare Anlagensubstanz eines Lebewesens vorhanden. Diese Erbsubstanz, das inzwischen von dem genialen Zytologen Walter Flemming (1843–1905) entdeckte Chromatin, kann im Zellkern der Keimzelle lokalisiert werden und ist für die Weitergabe der Erbinformation verantwortlich.2 Höhere Tiere und Pflanzen bestehen demnach aus zwei grundsätzlich verschiedenen Bausteinen, den Körperzellen und den Keimzellen. Während die Körperzellen zusammen mit dem Individuum sterben, sind die Keimzellen in der Lage, ein neues Individuum und damit neue Keimzellen hervorbringen. Das Keimplasma enthält also die gesamten Erbanlagen des Organismus, die über die sogenannte Keimbahn von der befruchteten Eizelle in die sich in jedem Individuum neu bildenden Keimzellen gelangen. Da eine Verdoppelung der Chromosomenzahl bei einem Befruchtungsvorgang offensichtlich nicht stattfindet, musste Weismann einen Vorgang

2Der

deutsche Zytologe Walter Flemming hatte durch Färbung den Zellkern für lichtmikroskopische Untersuchungen sichtbar gemacht und diese Substanz Chromatin genannt. Daraufhin entdeckte man sowohl die fadenförmige Anordnung des Chromatins, die sogenannten Chromosomen, sowie deren Teilungsvorgang. Diese später von ihm Mitose genannten Vorgänge stellte er erstmals 1878 der wissenschaftlichen Öffentlichkeit vor (Flemming 1878, S. 23–27).

34     I. Wunn

postulieren, bei dem die Anzahl der Chromosomen bei der Zellteilung um die Hälfte reduziert wird, um anschließend durch die Befruchtung wieder zum kompletten Chromosomensatz zu verschmelzen. Die Bedeutung dieser sogenannten Reifeteilung liegt nicht nur darin, dass sie den Chromosomensatz halbiert, sondern sie bewirkt auch den Umbau der ursprünglichen Chromosomen mit der vollständigen Umverteilung der Erbanlagen. Die Rekombination des elterlichen Erbgutes führt letztlich zu den individuellen Unterschieden zwischen den Organismen und ist der eigentliche Motor der Evolution: „Die Befruchtung […] ist nichts als eine Einrichtung, um die Vermischung zweier verschiedener Vererbungstendenzen möglich zu machen“ (Weismann 1892, S. 304). Die ständige Neukombination von Erbanlagen bewirkt das Auftreten immer neuer Varietäten, deren Summe letztlich den Formenwandel in der Natur erklärt – und das ist Evolution. Genau dieser Vorgang macht die sexuelle Selektion so wesentlich, da es eben die Sexualpartner mit ihren bestimmten Eigenschaften sind, die tatsächlich im Sinne der Darwin’schen Zuchtwahl eine Wahl treffen und damit entscheiden, mit welchem genetischen Material ihr eigenes genetisches Material kombiniert wird. Nicht immer wird in der Natur tatsächlich im Sinne von bewusster Partnerwahl gewählt: Die männlichen Hirsche und Löwen, so haben wir gesehen, erkämpfen untereinander das Recht, eine Herde von Hirschkühen oder ein Rudel von Löwinnen zu besitzen, während die weiblichen Tiere gar keine Wahlmöglichkeiten haben. Sexuelle Selektion bedeutet hier also, dass nicht jedes Individuum in Sachen Fortpflanzung zum Zuge kommt, sondern nur der Stärkste, der Jüngere oder der Durchsetzungsfähigere. Anders bei vielen Vogelarten: Wir haben bereits die Webervögel erwähnt, bei denen das Weibchen den besten Baumeister auswählt. Andere Vögel wie der Pfau prunken mit besonders glänzendem Gefieder. Die deutlich schlichter gefärbten Weibchen haben die Qual der Wahl. Bei vielen Arthropoden ist es umgekehrt. Hier wählt das Männchen die besonders große und damit attraktive Käferdame, das kleine Spinnenmännchen die möglichst dickste Spinne, auch wenn diese es wahrscheinlich direkt nach der Paarung fressen wird. Große Weibchen garantieren nämlich große Eier und damit gute Chancen auch für das eigene genetische Material!

Da ist es endlich: Das egoistische Gen Damit ist ein entscheidendes Stichwort gefallen, nämlich die Frage nach dem persönlichen Nutzen bei der Partnerwahl. Bleiben wir in diesem Zusammenhang noch ein Weilchen bei den Spinnen und den Löwen.

2  Die Fortpflanzung oder der Sinn des Lebens     35

Viele Spinnenarten, so zum Beispiel die Schwarze Witwe, bringen ihre Geschlechtspartner nach der Paarung um und fressen sie, und eben dieses Verhalten hat den Webspinnen aus der Familie der Haubennetzspinnen (Theridiidae) den wenig schmeichelhaften Namen Witwen eingetragen. Für die weiblichen Spinnen ist das kleine Männchen nicht sofort als Sexualpartner zu erkennen, sondern entspricht, was Größe und Verhalten anbelangt, der Beute des Weibchens. Egal, was da im Netz zappelt: Es wird durch einen giftigen Biss gelähmt, eingesponnen und ausgesogen. Wirbt ein Spinnenmännchen um die deutlich größere begehrte Gefährtin, muss es daher zu allerhand Ablenkungsmanövern greifen, und dazu gehört beispielsweise ein Geschenk. Solange sich die Dame der Wahl mit einer sorgfältig verpackten Fliege beschäftigt und sich an ihr gütlich tut, kann sich das Männchen dem Fortpflanzungsgeschäft widmen. Anschließend tut es aber gut daran, das Weite zu suchen, bevor die Dame gesättigt ist und aus dem Liebesrausch erwacht. Dieselbe Spinne, die mit ihrem Gatten so rüde umging, erweist sich jedoch später als aufopferungsvolle Mutter, wenn es um ihre Nachkommen geht. Kaum sind die Kleinen aus den Eiern geschlüpft, bietet sich die Gattenmörderin ihrem Nachwuchs als Nahrung an. Deutlich komplexer, aber nicht weniger brutal ist das Miteinander in einem Löwenrudel. Während seiner Herrschaft als Patriarch ist der Chef des Rudels uneingeschränkter Herr über seinen Harem und begattet alle geschlechtsreifen Weibchen, die nach der entsprechenden Tragezeit seine Jungen zur Welt bringen und aufziehen. In dieser Zeit verteidigt er seine Familie gegen alle konkurrierenden Löwen, die ihm seine Herrschaft streitig machen. Die Löwinnen sorgen dafür, dass er bei Kräften bleibt, denn sie sind zierlicher und schneller als die Männchen und daher die erfolgreicheren Jägerinnen. Haben sie aber erst einmal ihre Beute geschlagen, kommen nur zu oft die Männchen, vertreiben ihrerseits die erfolgreiche Jägerin vom Riss und tun sich erst einmal selbst an der Beute gütlich. Warum lassen sich die Löwinnen ein solches Verhalten gefallen? Nun, sie sind hinsichtlich ihrer Körperkräfte den Männchen unterlegen und würden in einer direkten Auseinandersetzung kaum bestehen. Auch haben sie ein großes Interesse daran, dass der Rudelchef gut genährt ist. Wird er nämlich von einem Konkurrenten besiegt und abgesetzt, wird der Neuankömmling sofort alle Babys seines Vorgängers umbringen. Der Hintergrund seines Verhaltens ist, dass Löwinnen erst nach Beendigung der Säugeperiode wieder paarungsbereit sind. Will ein Löwenmännchen also sein eigenes genetisches Material an die nächste Generation weitergeben, hat es dazu vielleicht zwei oder drei Jahre Zeit. Dann wird ein Neuer, ein Jüngerer sein Rudel übernehmen und seinerseits Nachwuchs zeugen. Das Männchen kann also nicht warten, bis

36     I. Wunn

die Löwinnen ihr vorheriges Aufzuchtgeschäft erfolgreich beendet haben. Die Löwinnen werden demnach alles tun, um den unausweichlichen Kindermord so lange wie möglich herauszuzögern, um ihren momentanen Wurf aus der Gefahrenzone zu bringen. Sollte in dieser Zeit aufgrund der von Darwin beschriebenen, ständig drohenden Ressourcenknappheit irgendwann ein Nahrungsmangel auftreten, sind es die Männchen, die die Kleinen an ihrem Fleischstück fressen lassen. Anders als die Weibchen können sie es sich nicht leisten, einen Wurf verhungern zu lassen und auf bessere Zeiten zu warten. Wer also bei Spinnen nach Gattenliebe, bei Löwen nach Mutterliebe sucht, hat schlechte Karten! Daher ist auch das immer wieder erwähnte und vor allem in meinem eigenen Forschungsfach, der Religionswissenschaft oder Social Anthropology, so beliebte Schlagwort vom Wohle der Art oder einer angeblichen Gruppenselektion, das vor allem der deutsche Verhaltensforscher Konrad Lorenz in Kreisen von Laien populär gemacht hat, nicht so recht überzeugend! Werfen wir noch einen kurzen Blick auf Konrad Lorenz (1903–1989), den nobelpreisgekrönten, aber wegen seiner Liebedienerei bei den Nationalsozialisten mehr als umstrittenen Verhaltensforscher: Im Mittelpunkt von Lorenz‘ Forschungsinteresse stand ohne Zweifel die Aggression – und zwar hinsichtlich ihrer Funktion. Lorenz (1963) konnte sich die augenscheinlich sinnlose Aggression zwischen Artgenossen nur durch ihren angeblichen evolutiven Nutzen innerhalb der Art erklären: Bei der geschlechtlichen Zuchtwahl, so Lorenz, führen Kämpfe zwischen Rivalen dazu, dass sich das stärkere Individuum fortpflanzt, auf diese Weise starken Nachwuchs zeugt und seine Brut erfolgreich gegen Aggressoren verteidigen kann. Kämpfe um ein Revier sichern ausreichende Nahrungsressourcen für den Nachwuchs und führen zu einer gleichmäßigen Verteilung der Artgenossen über ein geeignetes Biotop. Aggression hatte also nach Lorenz einen positiven Sinn in der Natur, sie war nützlich für die Art! Das bedeutete jedoch auch, dass die intraspezifische Aggression in unschädliche Bahnen geleitet werden musste, um den angeblichen Nutzen nicht wieder aufzuheben. Daher sollen sich laut Lorenz im Laufe der Evolution verschiedene Mechanismen entwickelt haben, die das ernsthafte Verletzen und Töten von Artgenossen verhindern. So kann die arterhaltende Leistung der Aggression beibehalten werden, ohne dass die Art durch Verlust eines ihrer Individuen geschwächt wird. So beruhigend Lorenz‘ These von der arterhaltenden Wirkung der natürlichen Aggression auch war – Tiere waren demnach die besseren Menschen, und der Mensch musste sich nur auf seine natürlichen Eigenschaften besinnen, um das Böse in sich zu überwinden –, ließ sie sich dennoch leider

2  Die Fortpflanzung oder der Sinn des Lebens     37

nicht mit den Tatsachen in Übereinstimmung bringen. Weder der Löwe, der die Jungen seines Konkurrenten umbringt, noch der Tiger, der das Gleiche tut, handeln zum Wohle der Art. Im Gegenteil: Tiger sind heute in ihrem normalen Lebensraum so gefährdet, dass es auf jedes einzelne überlebende Tigerbaby ankommt. Kindesmord ist das letzte, was die Spezies der Tiger brauchen kann! Auch Jane Goodalls Beobachtung vom Kindesmord aus kannibalistischen Motiven bei Schimpansen oder der mörderische Überfall auf eine benachbarte Schimpansengruppe ist nicht geeignet, die These vom Handeln zum Wohle der Art zu stützen! Wenn also nicht das Wohl der Art Ziel der Evolution ist – und damit nicht die Art oder die Gruppe die Einheit, an der die Selektion ansetzt –, muss es etwas anderes sein, und hier kommt das Gen ins Spiel! Inzwischen hatte man nämlich entdeckt, dass bereits ein einziges Allel über Erfolg oder Misserfolg einer Population entscheiden kann – so beispielsweise beim Birkenspanner, bei dem genau so ein Allel (das ist die Zustandsform eines Gens an einem bestimmten Genlocus) über die Färbung des Birkenspanners entscheidet und ihn damit für seine Fressfeinde sichtbar oder unsichtbar macht. Hier setzte der britische Evolutionsbiologe Richard Dawkins (*1941) an. Nach Dawkins sind es die Gene und nur die Gene, die ums Überleben kämpfen, denn sie sind die ersten reproduktionsfähigen organischen Substanzen überhaupt, und auf ihnen und ihren Überlebensprinzipien baut das ganze Leben auf dieser Welt auf. Erdgeschichtlich sah das laut Dawkins (1998) so aus: Gene entstanden in einer frühen Phase der Erdgeschichte unter ganz eigenen Milieubedingungen. In einer Ur-Atmosphäre aus Wasserdampf, Ammoniak und Methan konnte mithilfe von Energie eine Anzahl organischer Substanzen entstehen, unter denen auch erste Aminosäuren waren. Diese ersten organischen Substanzen verbanden sich zu längeren Molekülketten, von denen einige wenige durch Zufall die Eigenschaft der Replikation besaßen, also Kopien ihrer selbst herstellen konnten. Fehler im Kopiervorgang (Mutationen) führten zu ersten Abweichungen und damit zum Entstehen verschiedener und unterschiedlich erfolgreicher Replikatoren. Jeder dieser Replikatoren versuchte nun, sich so erfolgreich wie möglich zu vermehren, indem er aus seiner Umwelt, einer Ursuppe, so viele geeignete Substanzen wie möglich auf chemischem Wege an sich band. Dabei verleibte er sich andere, weniger erfolgreiche Replikatoren ein und zerstörte sie auf diese Weise. In diesem Stadium der Entwicklung gelang es einigen dieser Verbindungen, organische Schutzvorrichtungen um sich herum zu bauen, die sie vor Beschädigung schützten und ihnen einen weiteren Wettbewerbsvorteil sicherten. Diese Schutzvorrichtungen, die

38     I. Wunn

zunächst aus kaum mehr als einer Hülle bestanden haben mögen, wurden im Laufe der Evolution immer komplexer – die ersten regelrechten Organismen waren entstanden. Diese Organismen sind also nach Dawkins nichts anderes als die Überlebensmaschinen oder Gepäckträger von Replikatoren bzw. Genen, deren Ziel es wiederum ausschließlich ist, sich so oft wie möglich identisch zu kopieren. Auch die Kombination einer Vielzahl von Genen, wie sie im Chromosom vorliegt, ist das Ergebnis von Optimierungsprozessen und damit einer Überlebensstrategie dieser Gene. Grund ist, dass eine Kombination verschiedener Gene bessere, größere und damit erfolgreichere Überlebensmaschinen hervorbringt, und die Kombination besonders erfolgreicher Gene garantiert die Konstruktion der bestangepassten Überlebensmaschine überhaupt. Wir Menschen sind also nichts weiter als gelungene Überlebensmaschinen. Wenn wir uns eben noch voll elterlicher Liebe und Sorge um die Schulbildung unserer Kinder Gedanken gemacht haben, wissen wir nun, dass wir lediglich die Befehle unserer Gene ausgeführt und damit genegoistisch gehandelt haben. Nur Genegoismus hat uns veranlasst, die Chancen unserer Kinder zu optimieren, und das taten wir in letzter Konsequenz nicht, weil wir uns für unsere Kinder ein erfolgreiches und gutes Leben wünschen. Nein, wir wollten die Chancen unserer Kinder und damit die Chancen unserer eigenen Gene optimieren! Wir sind also auch lediglich die gehorsamen Vehikel unseres genetischen Materials, das sich möglichst erfolgreich identisch replizieren möchte! Wenn man auch Dawkins Theorie vom egoistischen Gen in dieser Form nicht zustimmen will – schließlich hat ein Gen keinen Willen und keinen Charakter, kann also nicht egoistisch oder altruistisch handeln –, erklärt seine Theorie doch das Verhalten einer Vielzahl von Tierarten, das mit dem Konzept der Arterhaltung nicht zu verstehen gewesen war. Kehren wir noch einmal zu den Löwen zurück und betrachten ihr Verhalten unter dem Gesichtspunkt des Genegoismus. Das Löwenmännchen will sein genetisches Material weitergeben, erobert ein Rudel und tötet die Babys seiner Konkurrenten auch gegen den erbitterten Widerstand der Löwinnen. Die verwaisten Löwenmütter sind nun wieder paarungsbereit und können den Nachwuchs des neuen Rudelchefs austragen. Durch ihre erfolgreiche Jagd ernähren sie nicht nur sich, sondern auch den Herrn des Rudels. Je besser sie ihn versorgen, umso kräftiger bleibt er und umso seltener wird ein Wechsel an der Spitze des Rudels mit anschließendem Kindermord stattfinden. Das Löwenmännchen und die Löwin haben alles in ihrer Macht Stehende getan, um die Weitergabe ihrer persönlichen Gene zu ermöglichen.

2  Die Fortpflanzung oder der Sinn des Lebens     39

Die eigenen Gene werden jedoch auch weitergegeben, wenn man/frau das Paarungsgeschäft nicht selbst übernimmt, sondern es zumindest teilweise den Geschwistern überlässt. Das genetische Material von Geschwistern ist bekanntlich zu 50 % identisch. Ein von einem Geschwister gezeugtes Kind hat daher immer noch einen erheblichen Anteil des genetischen Materials mit dem anderen Geschwister gemeinsam. Unter Umständen ist es aus Sicht des egoistischen Gens daher sinnvoller, wenn ein Individuum auf das Zeugen von eigenem Nachwuchs verzichtet und stattdessen seine Geschwister unterstützt. Unter diesem Gesichtspunkt macht auch das Verhalten von Löwenbrüdern Sinn: Manchmal erkämpft sich nämlich kein einzelner Löwe, sondern eine Gruppe von verschwisterten Löwenmännchen ein Rudel, denn gemeinsam haben sie größere Chancen, den bisherigen Rudelchef zu besiegen und abzulösen. Anschließend sorgen sie dann gemeinsam für Nachwuchs. Auch das Verhalten mancher Vogelarten kann so erklärt werden: Bei knappen Ressourcen, z. B. fehlenden Nistmöglichkeiten, verzichten Jungtiere oft auf eine eigene Brut und helfen stattdessen den Eltern, die nächste Generation Jungvögel aufzuziehen. Sie sind die sogenannten Helfer am Nest; aus Sicht des egoistischen Gens ein sinnvolles Verhalten, denn verstärkte Anstrengungen bei der Aufzucht einiger weniger Individuen führt insgesamt zu einer Optimierung der Chancen auch für das eigene genetische Material. Vergleichbares Verhalten kann auch beim Menschen beobachtet werden. Die Engländer, die nicht nur ein riesiges Imperium schufen, sondern im Bewusstsein ihrer kulturellen und ethischen Überlegenheit in diesem Imperium auch ihre Sitten und ihre Religion eifrig zu verbreiten suchten, waren moralisch erschüttert, als sie im damaligen Ceylon auf das schöne Königreich Kandy stießen. Was hatte ihr Entsetzen hervorgerufen? Nun, um einer Zersplitterung des Erbes vorzubeugen, pflegten die Brüder der Herrscherfamilie gemeinsam eine wunderschöne Prinzessin zu heiraten, die dann die Mutter ihrer kollektiv gezeugten Kinder wurde. Die Kolonialoffiziere und Gouverneure, die sich durchaus vorstellen konnten, neben ihren selbstverständlich treuen Gattinnen die eine oder andere Geliebte auszuhalten, waren über dergleichen legale Sauerei entsetzt und verboten diese Praktik auf der Stelle! Aber nicht nur verschwisterte Herrscher handeln genegoistisch, also ressourcenschonend zum Vorteil des eigenen genetischen Materials und damit letztlich altruistisch. Auch der kinderlose Onkel, der von seiner Nichte nie besucht worden ist, vererbt ihr sein nicht unbeträchtliches Vermögen und übergeht die Gefährtin seiner letzten Lebensjahre, die sich

40     I. Wunn

immer aufopfernd um ihn gekümmert und seine Launen standhaft ertragen hat! Chancenoptimierung für die eigenen Gene geht hier vor persönlicher Zuneigung und Dankbarkeit! Und Sultan Selim I. zeugte, wie erwähnt, nur einen einzigen Sohn oder ließ nach anderen Quellen nur diesen Lieblingssohn am Leben, dessen Chancen er damit zu optimieren suchte und letztlich seinen egoistischen Genen überdurchschnittlich gute Reproduktionschancen einräumte. Es bleiben noch die Eltern des homosexuellen jungen Mannes zu erwähnen, für die die sexuelle Neigung ihres einzigen Kindes hochproblematisch war. Seitdem dieser Sohn jedoch mithilfe einer Leihmutter Vater wurde, ist das Familienglück wieder vollkommen hergestellt und der Partner des Sohnes ein geliebtes Schwiegerkind im Hause.

Ein ganz kurzes Fazit Triebfeder allen tierischen und menschlichen Handelns ist also Genegoismus. Es sind die Gene, die sich so erfolgreich wie möglich replizieren wollen und zu diesem Zweck zu den unterschiedlichsten Strategien greifen. Voraussetzung für den Replikationserfolg sind jedoch in erster Linie zwei Dinge: zunächst einmal die erfolgreiche Paarung, also das Finden eines erstens willigen und zweitens geeigneten Sexualpartners. Ist die Reproduktion dann gelungen, geht es darum, dem eigenen genetischen Material möglichst optimale Ressourcen zu verschaffen, damit auch diese Generation wieder in die Lage kommt, das Fortpflanzungsgeschäft weiter fortzusetzen. Für beides bedienen sich die Gene – beziehungsweise deren Überlebensmaschinen – unterschiedlichster Strategien, und die werden wir in den folgenden Kapiteln näher beleuchten!

Literatur Beethoven LV (1996–1998). Briefwechsel. Gesamtausgabe (Hrsg) von SieghardBrandenburg, München 1996–1998, Bd. 2, Nr. 442 Darwin Charles (1859). On the origin of species by means of natural selection, or the preservation of favoured races in the struggle for life. John Murray, London (6. Aufl. 1872: The Origin of Species) Darwin Charles, Wallace Alfred Russel (1858) On the tendency of species to form varieties; and on the perpetuation of varieties and species by natural means of selection. Zoological Journal of the Linnean Society 3:46–50

2  Die Fortpflanzung oder der Sinn des Lebens     41

Dawkins, R (1998) Das egoistische Gen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Original: Dawkins, Richard (1976). The Selfish Gene. 2. Aufl., Oxford University Press, Oxford Dobzhansky T (1973) Nothing in Biology makes sense, except in the light of evolution, Bd. 35. The American Biology Teacher, S. 125–129 Flemming W (1878) Zur Kenntniss der Zelle und ihrer Theilungs-Erscheinungen. Schriften des Naturwissenschaftlichen Vereins für Schleswig-Holstein 3:23–27 Goodall, J (1990) Through a window. My thirty years with the chimpanzees of Gombe. Houghton Mifflin Company, Boston Lorenz, K (1963) Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression. Dr. G. Borotha-Schoeler Verlag, Wien Said Edward (1979) Orientalism. Vintage Books, New York Weismann A (1892) Aufsätze über Vererbung und verwandte Fragen. Jena, Fischer Weismann, A (1913) Vorträge über Deszendenztheorie, gehalten an der Universität zu Freiburg im Breisgau. Bd. 1, Jena

3 Körperliche Vorzüge und andere Aktiva

Die Liebe und die Macht Darwin sah also ganz richtig: Der Motor der Evolution ist das Finden eines geeigneten Sexualpartners, denn der Sinn des Lebens – Leben hier zunächst einmal im biologischen und nicht im philosophischen Sinne verstanden – ist eben tatsächlich nichts anderes als die Fortpflanzung zum Zwecke der Weitergabe der eigenen Gene. Eine solche Aussage mag auch heute noch manchen zart empfindenden Geist stören. Zumindest irritierte es den hinsichtlich seiner persönlichen erotischen Kontakte bestimmt nicht prüden Johann Wolfgang von Goethe, der sich mokierte, dass der von ihm bewunderte Naturforscher Linné ausgerechnet die sexuelle Vermehrung der Pflanzen ebenso humorvoll wie drastisch thematisiert hatte. Linné verdeutlichte nämlich die Geschehnisse bei der Bestäubung der weiblichen Blüte im Bestimmungsschlüssel der Klasse Polyandra durch einen gewagten Vergleich mit menschlichem Verhalten: „20 Männer und mehr im Bett mit einer Frau“ (Jahn 2000, S. 242). Verstimmt über diese angebliche Geschmacklosigkeit bemerkte der Dichterfürst „daß die ewigen Hochzeiten, die man nicht los wird, […] dem reinen Menschensinn völlig unerträglich“ (Jahn und Senglaub 1978, S. 46) seien. Ebenso wenig wie Linné und in seiner Nachfolge die Biologen Wallace, Darwin, Mendel, Weismann und Dawkins (Kap. 2) können auch wir davon absehen, dass es in der Biologie tatsächlich um Fortpflanzung geht. Dabei bedarf es zumindest bei der geschlechtlichen Fortpflanzung eines Partners, und zwar eines Partners, der die in ihn gesetzten Erwartungen hinsichtlich © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Wunn, Vier Theorien, um die Welt zu beherrschen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61376-4_3

43

44     I. Wunn

Fruchtbarkeit erfüllt. Das heißt also, dass bei der Partnerwahl größte Sorgfalt angebracht ist, denn schließlich möchte niemand enden wie Kaiser und Kaiserin in der Richard-Strauss-Oper „Die Frau ohne Schatten“ (das Libretto stammt von dem genialen Analysten zwischenmenschlicher Beziehungen Hugo von Hofmansthal) oder ein Schicksal wie die unglückliche Soraya Esfandiary-Bakhtiary erleiden: Unter der Anteilnahme sämtlicher Leser und Leserinnen der Regenbogenpresse hatte sich Schah Mohammad Reza Pahlavi aus Staatsraison von seiner eigentlich geliebten Frau scheiden lassen, da sie ihm nicht den ersehnten Thronfolger gebären konnte. Paarungserfolg und Macht als Alphaweibchen und Alphamännchen hingen zumindest im genannten Falle zusammen! Noch deutlicher werden entsprechende Zusammenhänge bei einem Blick in die Historie: Die letzte Regentin Chinas Cixi (1835–1908) verdankte ihren kometenhaften Aufstieg von der Nebenfrau zur Kaiserin und damit ihre Macht der Tatsache, dass sie dem Kaiser einen Sohn gebären konnte. Im biologischen Sinne war ihr Engagement allerdings fragwürdig, da dieser Sohn starb, bevor er selbst einen Erben zeugen konnte. Erfolgreicher war in dieser Hinsicht Chaizuran, die schöne Sklavin und spätere Ehefrau des dritten Abbasidenkalifen al-Mahdi (775–785). Sie lenkte nicht nur die Politik ihres Gatten, sondern auch die ihrer Söhne, der Kalifen al-Hadi und Harun ar-Raschid; Letzterer wurde das Idealbild des gerechten Herrschers in der Geschichtensammlung Tausendundeine Nacht. In biologischer und dynastischer Hinsicht erfolgreich war auch die über alles geliebte Ehefrau des Großmoguls Shah Jahan (reg. 1627–1658). Die schöne Ardschumand, für die ihr Gatte ein Grabmal von nie dagewesener Pracht, das Taj Mahal, baute, gebar ihrem Mann 14 Kinder, von denen der drittälteste Sohn, Aurangzeb, seinem Vater auf den Thron folgte. Um dieses ehrgeizige Ziel zu erreichen, setzte Aurangzeb seinen Vater gefangen und ermordete seine Brüder, darunter den vom Vater als Thronerben eingesetzten Dara Shikoh. Wer denkt bei dieser Geschichte nicht unwillkürlich an das Geschick entmachteter Löwenmännchen und sogenannter male looser! Auch in heutigen, modernen Zeiten kann erfolgreiche Partnerwahl zu Macht und zur Bildung regelrechter Dynastien führen. Ein fast prototypisches Beispiel bildet die Kennedy-Familie in den Vereinigten Staaten, deren Abkömmlinge immer wieder nach der Macht griffen; zuletzt durch eines ihrer Schwiegerkinder, den ehemaligen Bodybuilder und Schauspieler Arnold Schwarzenegger, der es bis zum Gouverneur Kaliforniens (2003– 2011) brachte. Eine Generation zuvor hatte Jacqueline Lee Bouvier, gefeierte und viel umworbene Schönheit auf den Partys der amerikanischen Ostküsten-Society, den ehrgeizigen und reichen Jungpolitiker John F. Kennedy

3  Körperliche Vorzüge und andere Aktiva     45

zum Ehemann erwählt, obwohl seine Anziehungskraft auf Frauen ebenso bekannt war wie seine sprichwörtliche Promiskuität. Aber auch die Familie Kim, die seit 1948 Nordkorea diktatorisch beherrscht, macht sich nicht nur die biologische Leistungsfähigkeit ihrer schönen Ehefrauen zunutze, sondern setzt sie auch gezielt zur Imagepflege ein. Die genannten Frauen stolperten keineswegs blind vor Liebe in die Ehefalle, sondern erstrebten ganz bewusst eine einflussreiche Stellung und garantieren ihren Kindern auf diese Weise optimale Startpositionen. Wir werden zu gegebener Zeit darauf zurückkommen (Kap. 14). Weniger erfolgreich war dieselbe Strategie allerdings in biblischen Zeiten für die zahlreichen Ehefrauen Herodes des Großen (73–4 v. Chr.), des mächtigen Klientelkönigs von Judäa, Galiläa und Samaria. Herodes, der immer wieder Verschwörungen gegen sich witterte, ließ nicht nur seine Frauen, sondern auch die meisten seiner Söhne hinrichten. Der historisch allerdings nicht verbriefte Kindermord zu Bethlehem wirft diesbezüglich ein deutliches Licht auf den Charakter dieses Herrschers! Zunächst aber noch einmal zu den erfolgreichen Herrscherinnen, die in ausgesprochen patriarchalischen Gesellschaften in einer Zeit nach der Macht griffen, als Frauen eigentlich keine Macht hatten und daher den Umweg über Männer einschlagen mussten. Was zeichnete diese Frauen aus? Neben die genannten können wir noch weitere wie beispielsweise die Marquise Pompadour (1721–1764) und die Gräfin du Barry (1743–1793), beide mächtige Maitressen König Ludwigs XV., oder Schadschar ad-Durr, Herrscherin in Ägypten im Jahre 1250 und erfolgreiche Militärpolitikerin im Kampf gegen die Kreuzritter des siebten Kreuzzugs unter Führung Ludwigs IX., anführen. Warum wählten ihre Männer gerade diese Frauen zu Gefährtinnen und bahnten ihnen dadurch den Weg zur Macht? Nun, alle diese Frauen waren nicht nur außerordentlich klug und kurzweilig (was ihren langfristigen Erfolg sicherte), sondern zunächst jung und berückend schön! Es sind demnach nicht in erster Linie intellektuelle Fähigkeiten oder ein materieller Hintergrund, die die Partnerwahl bestimmen, sondern eindeutig die körperlichen Vorzüge.1 Ein Blick besorgter Eltern auf ihre gerade eben der Pubertät entwachsenen Sprösslinge bestätigt bedauerlicherweise diese Einschätzung. Da verbringt der halbwüchsige Sohn Stunden im Fitnessstudio, um seinen Bizeps wachsen zu

1Der

Leser wird hier vermutlich große europäische Herrscherinnen wie Queen Elizabeth I. von England, Kaiserin Maria Theresia von Österreich oder Zarin Katharina die Große von Russland vermissen. Diese Herrscherinnen kamen allerdings alle durch gesetzliche Erbfolge zum Zuge und nicht aufgrund ihrer weiblichen Reize, sind also trotz ihrer großen Bedeutung und Leistungen für unsere hiesigen Überlegungen im Moment nicht relevant.

46     I. Wunn

Abb. 3.1  Junge Frauen schießen Fotos, um sich in den sozialen Netzwerken ins rechte Licht zu setzen – also als mating partner anzupreisen

lassen, und weitere Stunden vor dem Spiegel mit dem Gelen seiner Haartolle, anstatt sich um die Lösung von Integralen zu bemühen; da posiert die Tochter mit flatternder Wallemähne, dunkel umrandeten Augen und rot geschminkten Lippen als kleine Lolita auf einem Selfie, das sie dann auch noch in sozialen Netzwerken zur Schau stellt (Abb. 3.1)! Der Sinn dieser Bemühungen ist letztlich nichts anderes, als die Aufmerksamkeit des anderen Geschlechts zu erregen, und im Allgemeinen sind diese Anstrengungen erfolgreich! Das andere Geschlecht hat die Signale richtig interpretiert, interessiert sich tatsächlich und peinigt die besagten besorgten Eltern – in meiner Jugend durch das Blockieren des häuslichen analogen Telefonanschlusses, heute durch ständige Präsenz am Handy. Dass es auch hier um erste Versuche in Sachen Partnerwahl geht, dürfte inzwischen klar sein. Aber wozu die sportlichen und kosmetischen Anstrengungen, und was sind das für Vorzüge, die unsere Sprösslinge an sich betonen? Womit wollen und können sie beim anderen Geschlecht punkten? Oder, anders ausgedrückt: Welche Signale senden sie an den möglichen Geschlechtspartner?

Das Gesäß und der Schlüsselreiz Für den Verhaltensbiologen ist hier alles klar: Es geht um sogenannte Schlüsselreize, also um spezielle Signale, die beim Empfänger automatisch ein ganz bestimmtes Verhalten auslösen. Jede biologische Art, so sagt

3  Körperliche Vorzüge und andere Aktiva     47

die Verhaltensbiologie, soll über ein Repertoire von bestimmten, stereotypen Körperhaltungen, Gesichtsausdrücken und Bewegungen, aber auch Lautäußerungen verfügen, das für diese Art genauso charakteristisch ist wie seine Anatomie. Beispiele für solche stereotypen Verhaltensweisen sind die weit aufgerissenen Schnäbel und das laute Piepsen von hungrigen Jungvögeln, das Geschrei eines Säuglings oder das Lächeln eines Menschen. Alle drei Verhaltensweisen wirken wie ein Signal, das beim Adressaten ganz bestimmte, unbedingt erwünschte Antworten auslöst: In die roten Schlünde der Jungvögel werden die von den Alten herbeigeschafften Insekten gestopft, der schreiende Säugling wird aufgenommen und der lächelnde Mensch nimmt seinem eigentlich übellaunigen Gegenüber den Wind aus den Segeln und beschwichtigt ihn auf diese Weise. Das Wichtige an allen drei Aktionen ist, dass sie quasi automatisch erfolgen, ohne beim Adressaten langes Überlegen und eine bewusste Entscheidung vorauszusetzen. Wir haben hier also ein Stimulus-Antwort-Schema, d. h., bestimmte Signale „triggern“ bestimmte, voraussehbare und vor allem erwünschte Antworten. Diese ererbten oder auch im sozialen Kontext früh erworbenen Verhaltensweisen sind genau wie das äußere Erscheinungsbild im Zuge der Evolution als eine Anpassungsleistung an die Umwelt entstanden und somit genauso relevant für die Selektion wie die körperliche Ausstattung eines Individuums. Wenn ein Individuum, nach Dawkins (1976) nichts weiter als die Überlebensmaschine egoistischer Gene, tatsächlich überleben will, dann tun diese egoistischen Gene gut daran, in ihre Überlebensmaschine eben genau solche Verhaltensweisen einzubauen, die ihr Überleben und damit ihre weitere Reproduktion ermöglichen. Und das „taten“ die Gene offensichtlich mit großem Erfolg. Das Hausrotschwänzchen oder der Teichrohrsänger kann sich nicht willentlich entscheiden, ob es seine Jungen füttern will oder nicht. Das Piepsen und die aufgerissenen Schnäbel setzen das Hausrotschwänzchen oder den Teichrohrsänger regelrecht in Gang; er muss losfliegen und nach Insekten suchen, um die Kleinen zu füttern. Ähnlich ist es bei der Mutter des Säuglings. Wenn er schreit, wird sie instinktiv an sein Bettchen eilen wollen, um ihn hochzunehmen, zu trösten und zu füttern. Fast jede übermüdete Mutter, die sich fest vorgenommen hat, nicht beim kleinsten nächtlichen Babygeräusch aufzuspringen, findet sich dann doch mitten in der Nacht frierend im Kinderzimmer wieder. Von Seiten des Säuglings ist also das Schreien eine ausgesprochen sinnvolle Adaptation, um sein Gedeihen sicherzustellen. Und der halbwüchsige Schimpanse kann durch Lächeln und Demutsgesten ebenso erfolgreich der Attacke eines verärgerten Artgenossen entgehen wie der demütig lächelnde Mitarbeiter dem berechtigten Anranzer seines Chefs!

48     I. Wunn

Schlüsselreize sind also ganz bestimmte Signale, die, sobald sie vom Gegenüber wahrgenommen werden, mit einer vorhersehbaren instinktiven Handlung beantwortet werden beziehungsweise ein bestimmtes Verhalten auslösen.2 Dies gilt nicht nur, wenn der Nachwuchs gefüttert oder umsorgt werden will, sondern auch für so elementares und überlebenswichtiges Verhalten wie das Jagen. Auch hier löst ein Beuteschema beim Räuber eine bestimmte Reaktion aus, wie jeder weiß, der schon einmal beim morgendlichen Joggen den Jagdinstinkt eines eigentlich harmlosen Colliemischlings geweckt hat und sich unversehens einer Bestie gegenübersah! Beim momentanen Stand unserer hiesigen Diskussion ist es daher nicht überraschend festzustellen, dass es solche Auslöser auch in Zusammenhang mit der Fortpflanzung, also beim Sexualverhalten, gibt. Denn nichts ist ja für ein egoistisches Gen wichtiger als die Möglichkeit, sich identisch zu replizieren, und das kann es, wenn es sich nicht gerade um einen Einzeller oder eine Pflanze handelt, bekanntermaßen nur auf dem Wege der Paarung. Das egoistische Gen hat also vorgesorgt, damit die Paarung auch zuverlässig funktioniert. Zum Beispiel signalisiert bei den von Jane Goodall (1990) beobachteten Schimpansen die sogenannte Östroschwellung, also der stark angeschwollene und gerötete Genitalbereich, dass die Weibchen empfängnisbereit sind, dass sich für die Männchen unter Fortpflanzungsaspekten daher eine sexuelle Annäherung lohnt. Mehr noch: Die Weibchen pflegen den geschwollenen Genitalbereich ausdrücklich zu präsentieren, fordern also das Männchen regelrecht zur Paarung auf. Eine solche Aufforderung führt in der Regel zum gewünschten Erfolg; es sei denn, andere Weibchen waren schneller und der Begehrte ist nach so viel Aktivität schon zu ermattet, um noch einmal tätig zu werden. Andererseits nähern sich die Männchen den Weibchen so gut wie nie in Kopulationsabsicht, wenn deren Genitalregion nicht angeschwollen ist. Wir wagen bereits an dieser Stelle einen sehr persönlichen Vergleich; einen Vergleich, der natürlich seine Schwächen hat. Schimpansen sind nun einmal keine Menschen, und das menschliche Verhalten ist zudem nicht mehr vorwiegend durch ererbte Verhaltensmuster bestimmt, sondern durch ein im sozialen Kontext erlerntes Verhalten überformt. Dennoch lassen sich

2Allerdings musste die These vom Schlüsselreiz und den angeborenen Auslösemechanismen im strengen Lorenz’schen Sinn in den letzten Jahren relativiert werden, da sie von den beobachteten Fakten nicht gestützt wurde. Zum Beispiel tragen weibliche Hausmäuse ihre Jungen nicht deshalb zurück ins Nest, weil dieses Verhalten vom verzweifelten Fiepen der Jungtiere automatisch ausgelöst wird, sondern sie tragen auch tote Gegenstände in ihr Nest, wenn man ihnen das Hormon Oxytocin injiziert. Zwar gibt es tatsächlich diese charakteristischen und innerhalb einer Art formkonstanten Verhaltensweisen wie das Reagieren auf sexuelle Signale, und sie haben auch durchaus eine genetische Basis; für ihr Zustandekommen sind jedoch mehrere ineinandergreifende Mechanismen verantwortlich (Zippelius 1992).

3  Körperliche Vorzüge und andere Aktiva     49

Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten feststellen, und dies ist auch nicht weiter verwunderlich. Immerhin haben Menschenaffen und Menschen einen Großteil ihrer Stammesgeschichte gemeinsam, teilen also nicht nur viele physische Merkmale, sondern eben auch bestimmte, im stammesgeschichtlichen Kontext bewährte und ererbte Verhaltensmuster. Auch die Weibchen der Spezies Homo sapiens locken daher mit stammesgeschichtlich bewährten Körperteilen, sprich den einladend vorgewölbten Hinterbacken, die auf unterschiedlichste Weise betont werden. Damit senden sie ein Signal, nämlich das der Paarungsbereitschaft, an alle potenziell paarungswilligen Männchen (Abb. 3.2). (Um Missverständnissen vorzubeugen: Damit ist nicht jedes Männchen aufgefordert, diese Einladung sofort auf sich zu beziehen!).

Abb. 3.2  Ein Reality-Sternchen präsentiert ihren großen Po und signalisiert damit Paarungsbereitschaft. (© Hubert Boesl/picture alliance/dpa)

50     I. Wunn

Die Männchen reagieren wie erwartet: Sie sind an dem paarungsbereiten Weibchen interessiert und beginnen mit typischem Werbeverhalten. Das einladend präsentierte Gesäß stellt also im Sinne der Ethologie (Verhaltensforschung) einen klassischen Schlüsselreiz dar. Es ist ein auffälliges und vollkommen eindeutiges Signal, das als quasi automatischer Auslöser für das Balzverhalten der Männchen dient. Allerdings ist in diesem Falle der Popo selbst der verhaltensauslösende Reiz und nicht etwa die stolze Besitzerin des sensationellen Gesäßes. Nicht sie als Person wird von dem Männchen wahrgenommen, sondern eben leider nur das Signal. Das mag für alle Frauen mit schöner Kehrseite und schöner Seele bedauerlich sein, lässt sich aber – und wir sprechen hier ja von Macht und Herrschaft – wunderbar vermarkten. So hat das Reality-Sternchen – im Übrigen durchaus keine klassische Schönheit – ein ganzes, erfolgreiches Wirtschaftsimperium auf dieser ihrer sexuellen Attraktivität aufbauen können, und auch die Po-präsentierende Bloggerin erhofft sich wirtschaftlichen Erfolg über Werbeverträge. Umgekehrt leben ganze Industrien davon, den Gluteus maximus der Damenwelt und die mit ihm verknüpften Versprechen in das rechte Licht zu rücken: Jeans sollen z. B. bei Damen hauteng sitzen und einen schönen Po machen und damit die Attraktivität ihrer Trägerin unterstreichen (Abb. 3.3).

Abb. 3.3  Po-fokussierende Werbung für Damenjeans. (© epa/ANSA/dpa/picture alliance)

3  Körperliche Vorzüge und andere Aktiva     51

Noch mehr Signale Kein Signal ist in Zusammenhang mit Sex so eindeutig wie das Kopulationsangebot in Form eines einladend vorgestreckten Steißes, und vielleicht ist auch keines so effektiv. Aber auch andere Signale sind bekannt, zeigen die gewünschte Wirkung und werden gern und häufig eingesetzt. Eines davon ist sicherlich das Präsentieren der weiblichen Brust. Zwar diskutieren Verhaltensforscher noch, ob der Ansatzpunkt für die entsprechende Selektion dieses Signals nicht letztlich auch die „Wahrnehmung der Sexualsignale der Gesäßregion“ (Eibl-Eibesfeldt 1997, S. 350) war, die im Laufe der Evolution quasi als Kopie auf die Vorderseite projiziert wurde, als die Vorläufer des heutigen Homo sapiens den aufrechten Gang für sich entdeckten. Tatsache ist jedoch, dass kulturübergreifend eine schöne Brust ausgesprochen reizvoll auf paarungswillige Männchen wirkt. Strittig ist allenfalls, ob die Stärke des Signals von der Größe der Brüste abhängt. Hier haben Untersuchungen gezeigt, dass vorwiegend mit der Flasche aufgezogene männliche Säuglinge eine starke Affinität zu sogenannten Ammenbrüsten zeigen, während Stillkinder die zartere Brust junger Frauen bevorzugen. Es gibt jedoch noch eine andere Interpretationsmöglichkeit für den Reiz übergroßer Brüste: die der Wirksamkeit von Übertreibungen (vgl. auch Kap. 15). Der Kuckuck hat seine gesamte Brutstrategie auf diesem Prinzip aufgebaut. Bekanntermaßen ist der Kuckuck ein Brutparasit, legt also seine Eier in fremde Nester und lässt sie dort ausbrüten. Ist der kleine Kuckuck erst einmal geschlüpft, wirft er nicht nur die gleichzeitig geschlüpften Küken seiner Adoptiveltern aus dem Nest, sondern sorgt auch durch sein Piepsen, das genauso eindringlich klingt wie das entsprechende Geräusch eines ganzen Nestes voller Wirtsküken, dafür, dass er ausreichend gefüttert wird – und ausreichend ist bei einem kleinen Kuckuck erheblich mehr als bei der eigentlichen Brut der Wirtseltern (Abb. 3.4). Nicht nur Vögel reagieren positiv auf Übertreibungen. Auch männliche Guppys (Poecilia reticulata), beliebte Bewohner häuslicher Aquarien, werden von den Weibchen bevorzugt zur Paarung ausgewählt, wenn ihr Körper farbige Flecken zeigt – je kräftiger die Rotfärbung, desto besser! Noch eine weitere Eigentümlichkeit des Verhaltens der Guppys ist interessant: Männchen, die von einem Weibchen als Geschlechtspartner abgelehnt wurden, haben es ab sofort besonders schwer. Auch die anderen weiblichen Guppys zeigen an dem durchgefallenen Kandidaten kein großes Interesse mehr. Dies ist jedoch ein Thema, welches wir im Rahmen unserer vierten Theorie, der Habitustheorie (Kap. 15), erörtern werden!

52     I. Wunn

Abb. 3.4  Ein kleiner Kuckuck lässt sich von seinen Zieheltern, hier einem Teichrohrsänger, füttern. (© Thomas Hinsche/imageBROKER/picture alliance)

Zunächst aber zurück zum Signal: Ein besonders deutliches Signal bis hin zur Karikatur ist anscheinend hilfreich bei der erfolgreichen Partnerwerbung, und Gleiches könnte immerhin auch bei Brüsten gelten. Nur so ist zu erklären, dass Damen bestimmter gesellschaftlicher Schichten – besonders aus der Showbranche, in der man von der Selbstvermarktung lebt – ihre Brüste gern zur Schau stellen (Abb. 3.5), und das gelegentlich in einer Weise, die die These der Verhaltensforscher von der weiblichen Brust als Ersatzpopo durchaus erhärten könnte. Die positive Wirkung einer gekonnt präsentierten weiblichen Brust ist also nicht zu bestreiten; eine Tatsache, die bereits bekannt war, bevor sich die Verhaltensforschung dieses Phänomens annahm (Abb. 3.6). So rät der Leibdiener der Schönheit, ein Benimm-Buch des 18. Jahrhunderts, den jungen Frauen: „Wobei auch dieses noch in acht zunehmen, dass das Frauenzimmer im Sitzen oder Stehen die Brust fein herauswärts strecken muss, worinnen eine sonderliche Zierrat besteht“ (o.V. 1751).

3  Körperliche Vorzüge und andere Aktiva     53

Abb. 3.5  Die US-Schauspielerin Susan Sarandon ließ bei den 69. Festspielen in Cannes 2016 tief blicken. (© Felix Hörhager/dpa/picture alliance)

Abb. 3.6  Einer jungen Frau der 1890er Jahre gelingt es, trotz der bis zur Prüderie gehenden Bekleidungsvorschriften ihre Brust und ihre Gesäßregion im Sinne sexuellen Signalisierens hervorzuheben. (privates Foto)

54     I. Wunn

Neben dem Präsentieren von Po und Brüsten gibt es noch eine ganze Reihe weiterer Signale, die geeignet sind, das Interesse eines männlichen Sexualpartners zu erregen. Dazu gehören große, dunkle Augen; dunkel deshalb, weil sich bei Interesse am Gegenüber unwillkürlich die Pupillen des oder der Interessierten vergrößern (ein Signal, das sich gewiefte Händler zunutze machen, weil sie daran trotz gegenteiliger Aussagen das Kaufinteresse des Kunden erkennen können), die Augen also dunkel werden. Diesen Effekt führten die Damen des Barockzeitalters künstlich herbei, indem sie sich atropinhaltige Augentropfen, das sogenannte Belladonna, in die Augen träufelten. Heute erfüllen Kosmetika den gleichen Effekt: Dunkle Lidschatten und Lidstriche verdunkeln die Augenpartie und signalisieren Interesse am anderen Geschlecht – welches unwillkürlich reagiert! Einen ähnlichen Effekt hat üppiges Haar. Volles, glänzendes Haar zeugt von Gesundheit, denn Mangelernährung oder Krankheiten, aber auch das Alter wirken sich sofort negativ auf die Haarpracht aus: Das Haar wird stumpf, glanzlos und schütter, wie jeder bestätigen kann, der auch nur einmal im Leben die strohigen und kaum pigmentierten Härchen chronisch unterernährter Kinder in Afrika oder Indien gesehen hat (Abb. 3.7). Im Gegensatz dazu sprießt das Haar besonders üppig bei jungen Frauen, bei denen das Sexualhormon Östrogen gerade seine volle Wirkung entfaltet. Damit ist also geklärt, was die gerade erst halbflügge und mit den Schlechtigkeiten der Welt nur unzureichend vertraute Tochter treibt, wenn sie in engen Jeans, nassem Shirt, dunkel umrandeten Augen und flatternden Haaren in sozialen Netzwerken posiert. Sie wirbt, auch wenn das zunächst noch spielerisch gemeint ist, um einen Sexualpartner. Rosige Haut und langes, glänzendes Haar signalisieren Gesundheit bzw. sexuelle Reife, der einladend präsentierte Popo, die unter dem nassen Shirt deutlich sichtbaren Brüste und die dunklen Augen ein Paarungsinteresse, das in den meisten Fällen nur rein theoretisch vorhanden sein dürfte. Zunächst testet man einmal seinen Marktwert, der sich in „Likes“, „Freunden“ oder „Followern“ spiegelt. Erst einige Jahre später wird es ernst, wenn dieselben Signale strapaziert werden, um einen Partner für eine dauerhafte Bindung zu finden. So effektiv die genannten Signale auch sein mögen, bei ihrer Anwendung ist Vorsicht angebracht, denn gelegentlich drückt man mit ihnen unwissentlich Gemütsregungen aus, die man lieber für sich behalten möchte. Dazu Folgendes: Gesten, die zum Koitus einladen, dienen nicht nur der Paarung, sondern möglicherweise auch der Unterwerfung, denn durch was könnte ein wütendes Männchen leichter beschwichtigt und ruhiggestellt werden als durch Sex? Wenn also eine junge Frau während eines Gesprächs stets in ihrem Haar wühlt, es sich aus dem Gesicht streicht, es mit einer Geste zusammenfasst,

3  Körperliche Vorzüge und andere Aktiva     55

Abb. 3.7  Schwach pigmentiertes und schütteres Haar durch extreme Mangelernährung bei einem äthiopischen Kind. (© MENA/dpa/picture alliance)

um es doch gleich wieder ins Gesicht fallen zu lassen, signalisiert sie bei einem verliebten Dinner sexuelles Interesse – bei geschäftlichen Besprechungen jedoch Unsicherheit. Nur eine unsichere Person wird während eines Vorstellungsgesprächs zu sexuellen Argumenten, also dem Signalisieren potenzieller Paarungsbereitschaft, greifen! Gleiches gilt beim Einnehmen von Plätzen im Kino oder Theater. Jeder weiß, dass seltsamerweise die Mittelplätze immer zuletzt aufgesucht werden. Sind deren Inhaber selbstbewusst und wohlerzogen, werden sie den bereits Sitzenden das Gesicht zuwenden (das bedeutet freundliche Kontaktaufnahme!) und sich abwechselnd entschuldigen und bedanken. Der Schüchterne oder durch sein verspätetes Erscheinen peinlich Berührte wird dagegen den Sitzenden sein Gesäß entgegenstrecken und sich damit als Sexualpartner anbieten nach dem Motto „Tu mir nichts, weil ich so spät komme, dafür darfst du mich besteigen!“.

56     I. Wunn

Es liegt auf der Hand, dass man von diesem Angebot im Allgemeinen keinen Gebrauch machen möchte!

Harter Wettbewerb oder was man sonst noch tun kann Mit einem prominenten Gesäß, in enger Hose oder Kleid wirkungsvoll präsentiert, mit tiefem Ausschnitt, betonten Augen und Lippen und schönem Haar kann sich frau also perfekt in Szene setzen und im Wettbewerb um das paarungswillige Männchen mit hervorragendem genetischen Material punkten. Allerdings schläft auch hier die sattsam bekannte Konkurrenz nicht. Viele Weibchen sind auf der Suche nach dem idealen Sexualpartner, heben ihre Vorzüge hervor und senden die bekannten Signale. Frau muss also etwas tun, um auf dem Markt der Paarungswilligen bestehen zu können. Hier ist ein Weg ganz offensichtlich der bereits oben angesprochene der Übertreibung. Was immer auch Ästheten zu überdeutlichen Signalen zu sagen haben, sie funktionieren offensichtlich häufig – über gesellschaftlich bedingte Einschränkungen wird noch zu reden sein (Kap. 13 und 14). Aber es gibt weitere Möglichkeiten, die eigene Attraktivität zu steigern, und hier ist das Motto: auffallen, auffallen, auffallen! Ein Forscherteam hatte Zebrafinken mit einer zusätzlichen Feder ausgestattet, die wie eine absurde Antenne auf dem Kopf der Versuchstiere befestigt wurde. Tatsächlich zeigten weibliche Zebrafinken ein verstärktes Interesse an denjenigen Männchen, die diesen neuartigen und in der Zebrafinken-Verwandtschaft gänzlich unbekannten Kopfschmuck trugen. ­ Die Gründe für dieses Verhalten können nur vermutet werden: Die lächerlichen Federn scheinen bereits existente Vorlieben der Weibchen anzusprechen, die sich in Zusammenhang mit einem ganz anderen Zweck herausgebildet haben und nun unerwarteterweise durch gerade eben diese Feder getriggert werden. Möglicherweise existiert ein ähnliches Muster beim Menschen, denn auch hier sieht man die absonderlichsten Neuerungen, die der Vogelfeder auf dem Kopf des Zebrafinken nicht unähnlich sind. Menschliche Weibchen, die in Sachen Schönheit und prominenten Signalen mit ihren Konkurrentinnen nicht mithalten können, staffieren sich gern mit auffälligem Zierrat aus. Lady Gaga zum Beispiel, eine überdurchschnittlich erfolgreiche, aber höchstens durchschnittlich hübsche junge Musikerin, wählt für öffentliche Auftritte mit Vorliebe auffallende, ja geradezu verrückte Perücken, die gar

3  Körperliche Vorzüge und andere Aktiva     57

nicht den Anspruch erheben, das natürliche Haupthaar zu sein. Man setzt hier gezielt auf den Überraschungseffekt durch das Neue, nie Dagewesene. Gleiches gilt für Mode. Während enge oder kurze Kleider oder tiefe Ausschnitte ganz eindeutig der Verstärkung sexueller Signale dienen, gilt das sicherlich nicht bei überdimensionierten Jacken oder grellfarbigen Mänteln. Hier wird auf den Hinguckereffekt gesetzt. Dies machte sich die ebenfalls nur durchschnittlich hübsche, aber ungemein geschäftstüchtige Sängerin Madonna zunutze, indem sie entweder ausschließlich Unterwäsche, bevorzugt Korsetts, trug oder diese Korsetts über die ebenfalls ausgefallene Tageskleidung drapierte. Diese Attitüde hatte hinsichtlich des Signalisierens gleich einen zweifachen Vorteil: Das Ungewöhnliche der Kleidung garantierte die erwünschte Aufmerksamkeit, die Unterwäsche setzte zusätzlich ein erotisches Signal! Auch Männchen setzen oft auf den Hinguckereffekt. So beschreibt Jane Goodall (1990) die Strategien eines angehenden ­Schimpansen-Alphamännchens, die angestrebte Position zu erreichen. Zu diesem Zweck führte es ein grandioses Display auf, das heißt, es sprang wie seine Konkurrenten in einen Baum, kreischte laut und rappelte wild an den Zweigen! Eine eindrucksvolle Vorstellung, fürwahr! Unschlagbar wurde das Männchen jedoch erst, als es zwei leere Ölcontainer entdeckte, die es aneinanderschlug. Der ohrenbetäubende Lärm war auch von Konkurrenten nicht zu toppen. Der Kandidat konnte also durch noch nie dagewesene Neuerungen einschließlich Überbieten des Gewohnten überzeugen! Auch menschlichen Männchen ist so etwas nicht fremd. Wenn man in Sachen Körperlichkeit alles geboten und ausgereizt hat, als da sind ein breiter Brustkasten, muskulöse Arme und Beine und das Gesundheit signalisierende Haar, müssen künstliche Verstärker ins Spiel gebracht werden. Zunächst einmal sollten natürlich die sexuellen Vorzüge ins rechte Licht gesetzt werden. Dazu dienen enge Hosen, besonders jedoch die Variante Lederhose mit dem bestickten Hosenlatz, wie sie in der Alpenregion gebräuchlich ist. Ein Charivari, also eine Schmuckkette mit allerlei Anhängseln, verleiht der interessanten Körperregion zusätzlichen Glanz. Wenn man dann noch weiß, dass das aus dem Französischen stammende Wort Charivari (Abb. 3.8) so viel wie Lärm, Radau oder Katzenmusik bedeutet, ist die Verbindung zum Auftritt unseres ehrgeizigen Schimpansenmännchens sehr rasch hergestellt. Aber auch wer nicht bestickte Lederhosen mit Charivari tragen möchte, hat Möglichkeiten: Zum Beispiel wäre es möglich, dem Glanz des Haars mit Gel nachzuhelfen. Dessen öliger Schimmer ist nichts anderes als die übertreibende Nachahmung des natürlichen Glanzes. Und fehlt die ganz breite

58     I. Wunn

Abb. 3.8  Ein Charivari über besticktem Hosenlatz betont die Genitalregion seines Trägers. (© Mueller-rech.münchen, licensed under the Creative Commons AttributionShare Alike 3.0 Unported license)

Brust, kann der Mangel durch ein gutes Display – siehe Schimpanse – locker kompensiert werden. Allerdings greift man bei Menschenmännchen nicht zu leeren Speiseölkanistern, sondern in die ganz große Trickkiste. Ein aufgemotztes Kleinkraftrad (Moped) erfüllt unter Jugendlichen den gleichen Zweck; bei Erreichen der Führerscheinreife hat man dann ein eigenes Auto, möglichst tiefer gelegt, mit abgesägten Auspuffrohren und illegaler Hupfanfare. Natürlich sind solche Hinguckersignale immer auch vom sozialen Kontext abhängig. Während meiner Studentinnenzeit musste der angehende Jungakademiker einen Golf GTI fahren, auf dessen Dachgepäckträger ein Surfboard lagerte. Sie, der geneigte Leser, und ich wissen natürlich, dass dieses Surfboard selten bis nie zu Wasser gelassen wurde! Aber verfolgen wir unsere Spur eines wirklich starken Auftritts weiter: Einige Jahre später muss es schon ein schweres Motorrad sein, wenn man auffallen und von der nachlassenden Manneskraft ablenken will, und zuletzt signalisieren Autos im oberen Preissegment, dass es sich bei dem möglichen Bewerber um eine in jeder Hinsicht potente Persönlichkeit, also um ein Alphamännchen, handelt. Sie schütteln den Kopf, meine Herren? Sie fahren den Rolls-Royce oder Porsche gar nicht, um ihre Chancen auf dem Paarungsmarkt zu erhöhen? Sie sind glücklich liiert mit einer jungen und/oder zumindest schönen Frau, die zudem dezent auftritt und keine unerwünschten erotischen Signale an andere, konkurrierende Männchen sendet? Nun, warum haben Sie dann einen solchen teuren Wagen in der Garage, mit dem Sie sowieso niemals einen Parkplatz in der City ergattern werden und mit dem Sie aus Bequemlichkeitsgründen auch keine langen Strecken fahren (denn dann wählen

3  Körperliche Vorzüge und andere Aktiva     59

Sie Zug oder Flieger)? Die Antwort ist klar: Sie legen hier ein Display hin, das Display des Alphamännchens, dem Aufmerksamkeit gebührt und das zumindest theoretisch auf alle sexuell aktiven Weibchen zurückgreifen könnte. (Und ich bestätige hiermit: Die Weibchen greifen sofort zu!) Auch wenn das Alphamännchen mit der Frau seines Herzens zufrieden sein sollte, wird die Dame bestimmte Anforderungen erfüllen müssen: Sie wird sicherlich ausgesprochen attraktiv sein und wahrscheinlich etliche Jahre jünger als besagtes Alphamännchen, denn nur so erfüllt sie die Wünsche hinsichtlich erfolgreicher Weitergabe der eigenen Gene. Und sollte besagtes Alphamännchen bereits Kinder aus einer früheren Ehe haben, also sich nicht unbedingt fortpflanzen wollen, auch um das Erbe und damit die Chancen bereits existierenden Nachwuchses nicht zu schmälern, so dient die Dame an seiner Seite zumindest dem Prestige – sie ist in diesem Falle also nicht unbedingt jung, aber sicherlich attraktiv und hat weitere Qualitäten wie Vermögen, Titel oder ein brillantes Auftreten, die geeignet sind, dem Alphamännchen zusätzlichen Glanz zu verleihen (Kap. 13 und 14).

Die Sache mit dem Mehrwert Wir können also festhalten: Ein großer Teil der Energie von Tier und Mensch wird in die Suche nach einem Fortpflanzungspartner investiert. Damit der Wunsch nach einem Partner auch richtig kommuniziert werden kann und verstanden wird, hat die Evolution auf Signale gesetzt, die einerseits Paarungsbereitschaft signalisieren, andererseits jedoch durch die Ausbildung entsprechender Rezeptoren dafür sorgen, dass diese Signale auch richtig verstanden werden. Signalisiert wird jedoch nicht nur die Paarungsbereitschaft. Wie Darwin richtig feststellte, gibt es einen regelrechten Wettbewerb um Sexualpartner. Bei diesem Wettbewerb kommt es zunächst einmal darauf an, überhaupt einen Partner zu finden, um nicht als male looser oder – zumindest im Tierreich seltener – female looser zu enden. Allerdings ist das noch nicht alles. Wie Dawkins (1976), der Vater unserer ersten Weltbeherrschungstheorie ausführte, sind unsere Gene egoistisch und wollen sich vor allem selbst replizieren. Den auf lange Sicht größten Erfolg haben diese Gene, wenn sie sich im Zuge der Paarung nicht an einen beliebigen haploiden Chromosomensatz eines beliebigen Partners andocken, sondern wenn dieser Partner optimale Gene mitbringt. Dawkins selbst verglich diese Taktik mit der Besetzung eines Wettkampfruderbootes: Als leistungsstarker Rudersportler hole ich mir möglichst die besten Leute in meinen Achter, damit wir gemeinsam die Goldmedaille holen!

60     I. Wunn

Genau das ist der Grund, warum frau/man sich nicht beliebig paart. Wir erinnern uns: Das Spinnenmännchen wählt die größte Spinne, die Schimpansin das Alphamännchen. Auch junge Frauen wählen instinktiv zunächst einmal dasjenige Männchen, welches die besten Nachkommen verspricht. Ein solches Männchen ist jung, groß und muskulös, es ist stark und beweglich. Ein solches Männchen ist dann zum Kummer der hier bereits erwähnten Eltern einer hübschen Tochter zunächst der beste Sportler der Schule oder der Kerl mit dem dicksten Bizeps im Fitnessstudio. Oder aber auch, wie in Wilhelm Hauffs wundervollem Märchen „Das steinerne Herz“ der beste Tänzer, der „Tanzbodenkönig“. Nicht nur zufällig konnte Arnold Schwarzenegger seine Karriere erfolgreich als Mister Universum starten! Gleiches gilt für die paarungsbereiten Männchen. Auch sie suchen nach Frauen mit optimalem genetischem Material, d. h. solche Frauen, die gesund und fruchtbar aussehen. Dazu gehören das Gesundheit und einen hohen Östrogenspiegel signalisierende volle Haar, die rosige, frische Gesichtshaut und vor allem Jugend! Nur eine junge Frau zwischen 14 und 40 Jahren wird überhaupt Kinder gebären können; am fruchtbarsten ist besagte Frau in einem Alter zwischen 18 und 30. Es ist daher wenig verwunderlich, wenn Männer sich bevorzugt um Partnerinnen dieses Altersspektrums bemühen. Nun sind es jedoch nicht nur junge Männer mit dickem Bizeps, die von den ebenfalls jungen Weibchen im Sinne der Genoptimierung gewählt werden, sondern im Gegenteil bekommen hier oft ganz andere Kandidaten den Zuschlag: Weder lässt die äußere Erscheinung von Kim Jong-un (zu dick) oder Wladimir Putin (zu klein und schütteres Haar) positive Rückschlüsse auf die angestrebte perfekte Genkombination zu, noch lässt Donald Trump in Sachen Nachwuchs einen Nobelpreisträger erwarten. Auch unser besagter Geschäftsmann (der mit der allzu blonden Dame am Arm) ist nicht gerade ein genoptimiertes männliches Exemplar, und von der Spermienqualität im fortgeschrittenen Mannesalter wollen wir hier erst gar nicht sprechen! Dennoch hatten und haben alle hier genannten Männchen keinerlei Probleme, paarungswillige Weibchen zu finden. Das lässt nur einen Schluss zu: Der Bizeps ist eben doch nicht alles! Zwar signalisieren die nun schon sattsam bekannten Schlüsselreize Paarungsbereitschaft und die erwähnten körperlichen Vorzüge gutes genetisches Material, aber im Laufe unserer Diskussion wurde deutlich, dass frau/man nicht nur mit den angeborenen körperlichen Vorzügen punkten, sondern dass dem Ganzen auch nachgeholfen werden kann. Da waren zunächst einmal die Übertreibungen, die wir vielleicht hier als Supersignale bezeichnen können. Da war jedoch auch eine generelle Tendenz aufzufallen; das akustisch wie optisch laute „Look at me!“, das sich vom

3  Körperliche Vorzüge und andere Aktiva     61

Abb. 3.9  Ein Mitglied der Band Lordi beim Aufmerksamkeit generierenden Display. (©Igor Vidyashev/ZUMAPRESS.com/picture alliance)

federgeschmückten Finken über die Guppys bis zum Schimpansen und Menschen zieht. Während allerdings der Zebrafink im genannten Versuch seinen Kopfputz nicht freiwillig angelegt hatte und auch die von den Weibchen bevorzugten Guppymännchen ihre lebhafte Färbung einer bestimmten Nahrung und nicht freier Farbwahl zu verdanken hatten, griff unser erfolgreiches Schimpansenmännchen sehr bewusst nach den Ölkanistern, die ihm seinen bravourösen Auftritt verschafften. Genauso agiert der Homo sapiens: Outfit, Instrumentarium und Gesang der finnischen Hard-Rock-Gruppe Lordi (Abb. 3.9) – übrigens Gewinner des European Song Contest von 2006 – erinnern unwillkürlich an unseren cleveren Schimpansen auf dem Weg zur Position des Alphamännchens. Eine gewisse Ähnlichkeit lässt sich vielleicht auch noch bei dem Biker feststellen, der seine körperliche Kraft durch entblößte, schenkeldicke Oberarme demonstriert, der aber noch mehr aufzuweisen hat, nämlich das schwere und vor allem teure Motorrad! Der Biker bietet also ganz eindeutig einen Mehrwert, und diesen Mehrwert wollen wir uns einmal genauer ansehen. Wir beginnen, wie schon so oft, in der Tierwelt. Hier fällt auf, dass einige Säugetierarten, wenn sie einen Fressfeind in einer gewissen Entfernung ausgemacht hatten, ein geradezu wiedersinniges Verhalten zeigen. Anstatt sich nämlich zu ducken, zu verstecken und zu hoffen, dass der Beutegreifer sie eventuell übersähe, springen sie stattdessen senkrecht in die Luft und machen so erst recht auf sich aufmerksam. Bekannt ist dieses stotting (Prellspringen) vor allem für Thomson-Gazellen und weitere Antilopenarten. Schleicht sich ein Leopard oder Löwe an, wenden die Th ­ omson-Gazellen ihre Energiereserven nicht auf, um so rasch wie möglich die Flucht zu ergreifen, sondern

62     I. Wunn

springen stattdessen senkrecht in die Luft und zeigen dabei ihre leuchtend weißen Flanken. Über dieses Verhalten ist viel spekuliert worden. Unter anderem nimmt man an – und dies ist die für unsere Zwecke sinnvollste Erklärung –, dass die Gazellen damit ihrem Fressfeind signalisieren wollen, dass er bereits entdeckt wurde, dass weiteres Anschleichen also sinnlos ist. Stattdessen müsste er sich, wenn er an seinem Ziel festhielte, auf eine kraftraubende und vermutlich erfolglose Hetzjagd einlassen. Dieses Geschäft ist vielleicht immer noch vielversprechend für den leichteren und schnellen Geparden, für den schwereren Leoparden oder gar Löwen sinken die Erfolgsaussichten bei der Jagd aber rapide vom Zeitpunkt seiner Entdeckung an. Das kraftraubende stotting erspart der Gazelle also die anstrengende Flucht, dem Beutegreifer eine ebenso anstrengende und sinnlose Verfolgung. Diese Erklärung hat insofern viel für sich, als tatsächlich viele Beutegreifer aufgeben, sobald die Gazellen ihre Sprünge zeigen. Das kraftraubende Verhalten hat jedoch auch noch eine andere Bedeutung: Es demonstriert eventuell interessierten Weibchen die überragende Fitness der männlichen Gazelle, demonstriert also wieder einmal die Überlegenheit der egoistischen Gene und spielt dementsprechend eine entscheidende Rolle bei der sexuellen Selektion! Fazit: Auch Tiere investieren durchaus riskant, um auf der anderen Seite einen Nutzen zu erzielen, sei es, um einer Bedrohung zu entgehen, sei es, um einen möglichen Sexualpartner zu beeindrucken. Ganz eindeutig um das Beeindrucken des potenziellen Sexualpartners geht es dagegen bei den in Australien und Neuseeland beheimateten Laubenvögeln. Um Weibchen anzulocken, bauen die Männchen komplizierte Lauben (daher der Name Laubenvögel, Ptilonorhynchidae), die sie teilweise hübsch und aufwändig ausschmücken. Die Weibchen haben die Wahl zwischen den unterschiedlichen gefiederten Baumeistern und wählen allein nach der Schönheit und Qualität der Laube und dem Balztanz den geeigneten Partner aus: Leistung wird belohnt! Allerdings sind die erfolgreichen Männchen keineswegs monogam, sondern begatten bis zu 20 oder sogar 30 verschiedene Weibchen. Dies wiederum bedeutet, dass auch in diesem Fall, wie so oft im Tierreich, die weniger erfolgreichen Männchen leer ausgehen. Wenn wir hier eine gewagte Aussage mit einem verstohlenen Blick auf unsere eigene Spezies machen wollen, entscheidet bei den Laubenvögeln also nicht die körperliche Ausstattung über den Erfolg des paarungswilligen Männchens, sondern sein kulturelles Vermögen (Kap. 12 bis 15)! Das hieße also, dass ein egoistisches Gen bzw. eine Schicksalsgemeinschaft egoistischer Gene (wir erinnern an das Bild der Rudermannschaft) gut daran täte, ihre Überlebensmaschine mit dem entsprechenden Verhalten bzw. den intellektuellen Kapazitäten für kulturelle Fertigkeiten auszustatten!

3  Körperliche Vorzüge und andere Aktiva     63

Unabhängig von den unterschiedlichen Schwerpunkten – körperliche Fitness bei den Gazellen, kulturelle Fitness bei den Laubenvögeln – wird deutlich: Es wird Überlegenheit demonstriert. Die Angehörigen beider Tierklassen können es sich erlauben, ihre Energie anders als in das ausschließliche Überleben zu investieren. Die Kandidaten erweisen sich auf ihrem jeweiligen Gebiet als ungemein tüchtig und sind auf diese Weise als Geschlechtspartner attraktiv. Auch Menschen werben mit ihrer Tüchtigkeit. Der Humanethologe Irenäus Eibl-Eibesfeldt (1928–2018) hat zum Beispiel für die Eipo, ein Volk auf Neuguinea, festgestellt, dass sie hübsche Netze anfertigen, um die wichtigen Rohlinge für die Steinbeilherstellung damit zu bezahlen (Eibesfeldt 1997). Der Wert dieser Netze lässt sich steigern, indem man mehr Arbeit in ihre Herstellung investiert, sei es durch Vergrößerung der Netze, Verkleinerung der Maschen oder farbige Bastverzierungen. Besonders schöne und durch Federn zusätzlich geschmückte Netze werden dann von den Männern bei größeren Festen als Schmuck getragen. Bei den verwandten Hin ist die Entwicklung hin zum Schmucknetz so weit fortgeschritten, dass aus dem ursprünglichen Netz ein funktionsloser bandartiger Träger von buntem Federschmuck geworden ist, der nur noch der Verzierung seines Trägers dient. Das Volk der Yali dagegen investiert viel Zeit und Arbeit in die Herstellung von fein polierten und verzierten Steinäxten, die dann nicht mehr ihrem eigentlichen Zweck, sondern als Zahlungsmittel dienen, also Reichtum darstellen. Spannen wir den völkerkundlichen Bogen ruhig noch etwas weiter: Im traditionellen Afrika werden viele der einfachen Lehmhäuser bemalt. Neben dem ästhetischen Effekt zeigt die Mühe, die die Eigentümer in ihre Häuser investieren, dass sie die Kraft und die Ressourcen haben, sich neben der reinen Sicherung ihrer Grundbedürfnisse um Überflüssiges, um Luxus zu kümmern. Unter rein ökonomischen Gesichtspunkten ist so ein Verhalten sinnlos. Wenn sich Netze und Steinbeile letztlich immerhin als eine Art Währung einsetzen lassen und auf Netze geknüpfter Federschmuck seinen Träger verziert, lässt sich mit der schön bemalten Fassade kein Tauschgeschäft abwickeln. Allerdings hat ein solcher Schmuck eine andere Funktion: Man kann damit deutlich machen, dass man stark und kräftig genug ist, um Zeit in eigentlich Überflüssiges oder zumindest nicht Überlebensnotwendiges zu investieren. Die aufwändige Herstellung von eigentlich luxuriösen Gegenständen sagt also etwas über das generelle Vermögen des Künstlers aus und verschafft ihm einen Bonus gegenüber Mitbewerbern. Auch bei den Menschen gilt also: Nicht nur die körperliche Ausstattung entscheidet über den Erfolg des paarungswilligen Männchens, sondern sein kulturelles Vermögen, der Mehrwert, den

64     I. Wunn

zu schaffen es in der Lage ist. Auch kulturelle und ökonomische Fitness ist also Fitness und trägt zum Fortpflanzungserfolg bei. Es nimmt daher nicht Wunder, dass sich genau diese geschilderten Verhältnisse in den Modi der Partnerwahl niederschlagen (vgl. dazu auch unsere vierte Theorie, Kap. 13 bis 15)!

Literatur Dawkins R (1976) The Selfish Gene. Oxford University Press, Oxford Eibl-Eibesfeldt I (1997) Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriss der Humanethologie. Seehamer Verlag, Weyarn Jahn I (2000) (Hrsg) Geschichte der Biologie – Theorien, Methoden, Institutionen, Kurzbiographien. 3., Aufl. Heidelberg Jahn I, Senglaub K (1978) Carl von Linné. Leipzig o.V. (1751) Leibdiener der Schönheit, od. Geheimnisse von d. Schönheit d. Frauenzimmer. H. Jäger, Bremen Zippelius HM (1992) Die vermessene Theorie. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Instinkttheorie von Konrad Lorenz und verhaltenskundlicher Forschungspraxis. Springer, Heidelberg

4 Das Problem mit der Partnerwahl

Wie eine Überlebensmaschine ihren Partner (m/w) wählt Der geduldige und aufmerksame Leser (aus Gründen der GenderKorrektheit füge ich m/w/d hinzu) mag gelegentlich von dem Gedanken beschlichen worden sein, dass in den hiesigen Ausführungen manches doch sehr nach Stereotyp klingt: Die mit Po und Brüsten lockenden Damen, selbstverständlich jung, auf der einen Seite und die um Sexualpartnerinnen buhlenden muskulösen oder bedeutenden Herren auf der anderen. Nun ja, es gibt natürlich erfolgreiche, unabhängige Frauen wie Angela Merkel, Mary Teresa Barra oder Christine Lagarde, die einen Staat, den Konzern General Motors oder die Europäische Zentralbank souverän leiten und die ihre Macht nicht irgendeinem Schlüsselreiz verdanken. Aber es geht in diesem und nur diesem Abschnitt unserer vier Theorien eben im streng naturwissenschaftlichen Sinn um das Generelle, um die biologischen Grundlagen der Macht, und hier wird von der Biologie ein Verhalten generiert, welches, wenn nicht stark kulturell überformt, zu Stereotypen führt. Genau diese Stereotype, das Resultat jenes generalisierten Verhaltens, das unseren vier Theorien zugrunde liegt, ist es ja gerade, was uns in Zusammenhang mit Macht und Herrschaft interessiert. Ohne Stereotyp keine Regel, ohne Regel keine Theorie! Wenden wir uns zunächst einmal einem solchen Stereotyp zu, der Familie Donald Trumps, des nach eigener Auskunft milliardenschweren Präsidenten

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Wunn, Vier Theorien, um die Welt zu beherrschen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61376-4_4

65

66     I. Wunn

der Vereinigten Staaten von Amerika, der das Klischee vom keimdrüsengesteuerten, fortpflanzungsfixierten Alphamännchen perfekt bedient. In seiner Jugend heiratete der damals noch durchaus attraktive Millionenerbe die ebenso attraktive Ivana Marie Zelníčková. Ivana war damals eine blonde Schönheit, intelligent und sportlich; genau die Frau, mit der zahlreiche paarungswillige Männchen ihre egoistischen Gene kombinieren wollten. Ihre erste Wahl fiel während ihrer Studentenzeit in Prag auf einen Skifreund, also einen möglichen Lieferanten hervorragenden genetischen Materials. Aber Ivana wollte mehr, und vor allem wollte sie in den Westen. Also heiratete sie zunächst einen Freund ihres damaligen Lebensgefährten, erhielt dadurch die österreichische Staatsbürgerschaft und wanderte nach Kanada aus, wo sie unter anderem als Model zu arbeiten begann. Bei einem PR-Event in New York lernte sie den damals 30-jährigen Donald Trump kennen, der alle Ansprüche erfüllte, die eine Überlebensmaschine egoistischer Gene an einen Partner stellen kann: Er war groß, schien gesund und stark, verfügte also zumindest auf den ersten Blick über hervorragendes genetisches Material. Außerdem war er reich und entstammte einer bedeutenden New Yorker Familie, garantierte also damit auch beste Möglichkeiten zur Aufzucht des gemeinsamen Nachwuchses. Dieser stellte sich dann auch programmgemäß ein: Donald und Ivana wurden die Eltern von zwei Söhnen und einer Tochter, denen sie einen optimalen Start ins Leben ermöglichten. Vor allem der Tochter Ivanka ist es dank ihrer Herkunft und etlichen schönheitschirurgischen Eingriffen gelungen, selbst die Stelle eines Alphaweibchens in der Wirtschaft, der Politik und auf dem Paarungsmarkt zu besetzen. Anders sah die Situation für die Mutter aus. Nach Beendigung einer Lebensphase, die für die erfolgreiche Fortpflanzung ideal ist, ließ sich Donald Trump scheiden, um sich als die Überlebensmaschine seiner egoistischen Gene nun verschiedenen jüngeren paarungsbereiten Frauen zuzuwenden. Als eine dieser Affären Folgen zeigte, heiratete er die junge Mutter, um auch diesem Nachwuchs wieder optimale Entwicklungschancen zu geben. Es folgte eine dritte Ehe, wiederum mit einer jungen Frau, deren schöner, kräftiger Wuchs und dichtes Haar gesundes genetisches Material erwarten ließen, während ein rundes Hinterteil und die (allerdings künstlich) üppigen Brüste Paarungsbereitschaft signalisierten. Für den gemeinsamen Sohn konnte eben jene Partnerin, die heutige Präsidentengattin Melania Trump, immerhin noch hervorragende Bedingungen für eine gelingende Aufzucht herausschlagen; ein Vorteil, der die nachlassende Spermienqualität des alternden Vaters aufwog. Jedenfalls wissen wir nun, warum sich der heutige Präsident der Vereinigten Staaten angeblich zunächst einer schmerzhaften Haartransplantation unterzog

4  Das Problem mit der Partnerwahl     67

und heute sein Haar färbt: Auch als Mann muss man ja schließlich nicht unbedingt auf seinen Altersmalus aufmerksam machen! Wem das Paarungsverhalten der Familie Trump zu plakativ und vor allem zu wenig fein erscheint, möchte seinen Blick vielleicht auf eines der europäischen Herrscherhäuser lenken: Während der Olympischen Spiele in München 1972 lernte der damalige schwedische Thronfolger Carl Gustaf die deutsche Olympiahostess Silvia Sommerlath kennen, die er vier Jahre später heiratete und zur Königin von Schweden machte. Die junge Hostess war bezaubernd, hatte vorbildliche Manieren, war weltgewandt und sprach fließend mehrere europäische Sprachen – kurz, sie war, abgesehen von ihrer bürgerlichen Herkunft, die ideale Partnerin für einen zukünftigen König. Für die durchaus zielstrebige Silvia, die zum Zeitpunkt ihres Treffens mit dem Thronfolger eigentlich bereits anderweitig vorteilhaft verlobt war, stellte sich die Partnerwahl als nicht ganz so alternativlos dar. Immerhin war die Lese-Rechtschreibschwäche des Bewerbers bekannt, und auch sein bisheriger Lebensstil – er hatte sich vorwiegend einen Namen als Playboy und Lebemann gemacht – ließ ihn nicht als optimalen Vater gemeinsamer Kinder erscheinen. Dennoch entschied sie sich für den zumindest sportlichen und jungen Schweden und sicherte ihrem eigenen genetischen Material damit hinsichtlich der Aufzucht und des Rankings der Kinder eine optimale Position. Wir wollen an dieser Stelle noch ein historisches Beispiel anfügen, auch wenn hier biologische Bezüge weniger deutlich zum Tragen kommen. Denn für die betroffenen Damen bestand kaum jemals eine Wahlmöglichkeit, und wenn besagte Damen dennoch wählten oder als Gebärerin versagten, kostete sie das zumindest ihre Stellung, wenn nicht sogar das Leben. Letzteres galt z. B. für die zweite Frau des englischen Königs Henry VIII., Anne Boleyn (1501 oder 1507–1536). Nicht ganz so hart traf es Kurprinzessin Sophie Dorothea von Braunschweig-Lüneburg (1666–1726), die aufgrund von Absprachen gegen ihren Willen mit Kurprinz Georg Ludwig von Hannover verheiratet wurde. Obwohl die Ehe zunächst zumindest nicht unglücklich verlief und aus ihr zwei Kinder hervorgingen, wandten sich die Eheleute schließlich anderen Partnern zu. Während Georg Ludwig, der spätere Georg I. von England (reg. 1714–1727), eine dauerhafte Beziehung zu der ausgesprochen unschönen, aber skrupellos ehrgeizigen Ehrengard Melusine von der Schulenburg (1667–1743) einging und mit ihr weitere Kinder zeugte, wählten Sophie Dorotheas egoistische Gene den schönen und jungen Grafen Philipp Christoph von Königsmarck (1665–1694) zum vertrauten Gefährten – hinsichtlich des genetischen Materials sicherlich die bessere Wahl! Hofintrigen und die geplante Flucht der Liebenden führten dann

68     I. Wunn

nicht nur zur Entdeckung des Verhältnisses, sondern zu einer regelrechten Staatsaffäre, in deren Verlauf der erfolgreiche Konkurrent und Liebhaber auf immer verschwand und die Prinzessin bis an ihr Lebensende nach Schloss Ahlden, einen schlichten Landsitz bei Hannover, verbannt wurde. Aus Sicht der egoistischen Gene scheiterte auf diese Weise die erfolgreiche Paarung von Sophie Dorothea und Philipp Christoph und damit die gemeinsame Optimierung egoistischer Gene, aber immerhin hatte die Prinzessin zuvor ihr genetisches Material in halbwegs erfolgversprechender Kombination an ihre beiden legitimen Kinder, den späteren König Georg II. von England sowie die spätere Königin von Preußen und Mutter Friedrichs des Großen, Sophie Dorothea (1687–1757), weitergeben können und schrieb damit Geschichte. Dass ein Partner oder bestimmte Gene ganz bewusst und zielstrebig gewählt werden, um die eigenen Nachkommen optimal zu positionieren, steht bereits in der Bibel (1. Mose 38). Hier griff bekanntlich Tamar, Schwiegertochter Judas (Sohn Jakobs und Empfänger seines Segens), zu ungewöhnlichen Mitteln, um zur Stammmutter des nach Juda benannten Stammes zu werden. Nachdem nämlich weder ihr Ehemann noch der ihr in Leviratsehe verbundene zweite Sohn, Onan, für Nachwuchs sorgen konnte oder wollte und Juda seiner Schwiegertochter den dritten Sohn zur Leviratsehe verweigerte, ließ sich Tamar, als Dirne verkleidet, von ihrem Schwiegervater begatten und wurde Mutter der männlichen Zwillinge Serach und Perez, Letzterer der Stammvater des mythischen Königs David und damit letztlich auch von Jesus, dem Messias der Christen. Auch die ernste Literatur hat sich dieses vielversprechenden Themas angenommen. In Anna Karenina (erschienen 1877/78) schildert Leo Tolstoi Liebe, Moralvorstellungen und Ehe im Russland des 19. Jahrhunderts am Beispiel der miteinander verknüpften Schicksale dreier adliger Familien. Wir greifen hier eine Episode heraus: Fürst Stepan Oblonski, der Bruder der Titelheldin, ist verheiratet mit Darja, mit der er gemeinsame Kinder hat. Im Laufe der Ehejahre übt seine Frau in erotischer Hinsicht keinen Reiz mehr auf ihn aus – immerhin, so sagt der Dichter, beginnt ihr Haar schon dünn zu werden (Zeichen des Alters und damit nachlassender Fruchtbarkeit). Er wendet sich daher jüngeren Frauen, darunter peinlicherweise auch dem Kindermädchen zu und ist eigentlich eher überrascht, dass er mit diesem Fehltritt eine Ehekrise auslöst. Zwar kann das Eingreifen der Titelheldin die Scheidung verhindern, nicht aber die Promiskuität Oblonskis. Darja Oblonskaja lässt sich jedoch besänftigen, akzeptiert die Seitensprünge ihres Mannes und findet ihr Glück in der Aufzucht ihrer Kinder.

4  Das Problem mit der Partnerwahl     69

Vom Einzelfall zur Regel Eine nüchterne und sicherlich literaturwissenschaftlich nicht korrekte Analyse dieses kurzen Ausschnittes aus dem Inhalt des bedeutenden Romans ist von erstaunlicher Aussagekraft: Offensichtlich verfolgen Stepan Oblonski und Darja Oblonskaja unterschiedliche Paarungsstrategien. Darjas Partnerwahl ist langfristig ausgelegt. Sie heiratet den Fürsten nicht nur für die Zeit der Fortpflanzung, sondern ist an einer langfristigen Bindung interessiert, um ihren Kindern, also den Trägern ihrer Gene, optimale Langzeitüberlebenschancen einzuräumen. Stepan dagegen verfolgt eine Doppelstrategie: Neben der Zeugung von legitimem Nachwuchs, in dessen Aufzucht er zumindest ökonomisch und sozial langfristig investiert, paart er sich mit weiteren Weibchen, um sein genetisches Material zusätzlich so weit wie möglich zu streuen. Natürlich würden wir, wenn wir Oblonski hinsichtlich seiner Motive befragen könnten, nicht diese biologische Antwort erhalten. Er würde vielmehr erwidern, dass ihn seine Frau erotisch nicht mehr reize, dass er als Mann eben starke sexuelle Bedürfnisse habe, dass er den schönen jungen Frauen nicht widerstehen könne und Ähnliches mehr. Letztlich jedoch ist es einfach so, dass seine egoistischen Gene ihn mit einem starken Trieb ausgestattet haben, der zu weiteren Paarungen im Rahmen flüchtiger Beziehungen führt. Genau dieses differenzierte Paarungsverhalten ist charakteristisch für die Spezies Homo sapiens, wie Wissenschaftler herausgefunden haben. Zunächst einmal paaren sich alle Menschen im fortpflanzungsfähigen Alter, wenn sie nur irgendeine Gelegenheit dazu haben (Kap. 2). Das Paarungsverlangen, der Motor der egoistischen Gene, ist so stark, dass es auch dann funktioniert, wenn bei den sexuell aktiven Individuen kein bewusster Fortpflanzungswunsch im Vordergrund steht. Ein Beispiel: Homosexuelle Paare können erst in jüngster Zeit mithilfe einer Leihmutter Eltern werden. Homosexuelle und selbst autosexuelle Betätigung hat es jedoch immer schon gegeben. Sexualität hat also viele Gesichter, und das gilt auch und vor allem im Hinblick auf die Länge von Beziehungen. Manche Kontakte, z. B. zu Prostituierten, dauern nur wenige Minuten, andere ein paar Stunden (der berühmte One-Night-Stand), Tage oder Monate. Wiederum andere sexuelle Kontakte führen zu langfristigen, oft sogar lebenslangen Bindungen, der Ehe oder eheähnlichen Beziehungen. Auch wenn Letzteres, die Ehe, in den meisten Kulturen als die erstrebenswerte Form und manchmal sogar als die einzig erlaubte gilt, ist strikte Monogamie die Ausnahme. Da sind einmal Kulturen, in denen bevorzugte Männchen mehrere Weibchen zu

70     I. Wunn

Ehefrauen oder Mätressen mit dem Ergebnis nehmen, dass andere Männchen leer ausgehen. Dies ist der Fall in etlichen muslimischen Ländern, in denen die Scharen junger unverheirateter Männer ohne Chancen auf Sexualpartnerinnen ein nicht zu unterschätzendes Unruhepotenzial darstellen. In vielen christlichen Gesellschaften, die demgegenüber die Einehe propagieren, sind Scheidungen weit verbreitet, sodass aus der postulierten Einehe de facto eine Serie von temporären Ehen wird. Zudem bedeutet in der Praxis die Ehe keineswegs immer den Verzicht auf weitere, außereheliche Sexualkontakte. In den Vereinigten Staaten von Amerika gehen mindestens 26 % der Verheirateten fremd; einige Schätzungen gehen sogar von über 70 % aus (Buss und Schmitt 1993). Das heißt also, dass entgegen dem Ideal die lebenslange sexuelle Bindung an einen einzigen Partner die Ausnahme bleibt und dass sich im Gegenteil Frauen wie Männer sowohl langfristig als auch kurzfristig sexuell engagieren. Gerade diese Verschiedenheit sexuell motivierter Beziehungen hat die Aufmerksamkeit der Wissenschaftler geweckt, denn getreu einem Grundsatz der Verhaltensforschung entwickeln Tiere und damit auch der zu den Primaten zählende Mensch solche Verhaltensweisen, die ihnen nützen, und mit „nützen“ ist hier der Vorteil im Sinne der optimalen Weitergabe des eigenen genetischen Materials gemeint.

Partnerwahl als Strategie Wir kennen unsere egoistischen Gene inzwischen bereits gut genug um zu wissen, dass die unterschiedlichen Strategien der Partnerwahl keineswegs das Ergebnis einer freien Entscheidung des Individuums sind (welch herrliche Ausrede für notorische Fremdgänger!), sondern im Gegenteil auf ein Ziel zusteuern. Strategien der Partnerwahl haben sich nämlich im Laufe der Evolution herausgebildet, als unsere Vorfahren durch entsprechende Adaptation des Verhaltens auf den Selektionsdruck reagieren mussten, und hier haben sich für Männchen und Weibchen unterschiedliche Probleme gestellt, denen die Geschlechter mit verschiedenen Taktiken begegnen mussten. Sie finden das ungerecht, meine Damen? Nun, die Natur fragt nicht nach Gerechtigkeit. Denken Sie an die Löwinnen, die ihre Männchen durchfüttern müssen und dann trotzdem Gefahr laufen, dass ihr Nachwuchs ermordet wird! Aber ganz so schlimm ist es ja bei uns Menschen zum Glück nicht! Trotzdem bleibt festzuhalten: Eltern investieren je nach Geschlecht unterschiedlich in ihren Nachwuchs (vgl. auch Kap. 16). Das

4  Das Problem mit der Partnerwahl     71

weibliche Geschlecht ist bei den meisten Säugetierarten schon deshalb deutlich benachteiligt, da es während der Dauer der Schwangerschaft für weitere erfolgreiche Paarungen ausfällt. Anders ausgedrückt: Wenn ein Weibchen erst einmal schwanger bzw. trächtig ist, spielt es keine Rolle, wie viele Sexualkontakte dieses Weibchen dann noch hat – die Zahl der Kinder lässt sich dadurch nicht steigern. Wir haben in diesem Zusammenhang bereits auf besonders fruchtbare Mütter wie die schöne Ardschumand hingewiesen, aber selbst ihr wäre es nicht möglich gewesen, durch noch so viele zusätzliche Paarungen oder eben auch durch zahlreiche Liebhaber die Anzahl ihrer Kinder und damit den Erfolg ihrer egoistischen Gene zu steigern. Anders sieht die Situation für den Mann aus. Für Männer ist die Erstinvestition in die Fortpflanzung mit dem Paarungsakt erledigt, d. h., beim Mann hängt die Zahl der Nachkommen direkt von der Anzahl der Sexualkontakte ab. Männer investieren daher gern einen Teil ihrer sexuellen Energie in kurzfristige Partnerschaften oder auch nur sexuelle Begegnungen, also in sogenanntes short-term mating. Gerade diese biologischen Unterschiede führen bei menschlichen Männchen und Weibchen zu unterschiedlichen Strategien hinsichtlich der Partnerwahl. Auf den ersten Blick sieht es daher danach aus, als seien Männer grundsätzlich promiskuitiv, während Frauen aufgrund ihres höheren zeitlichen und körperlichen Investments in die Fortpflanzung natürlicherweise monogam oder zumindest annähernd monogam sein sollen. So einfach ist es allerdings nicht. Eine deprimierend nüchterne Aufzählung kommt zu gravierenden Problemen bei der Partnerwahl, denen sich das paarungswillige Männchen gegenübersieht, wenn es die short-term mating-Strategie verfolgt: Gibt es genügend Weibchen, sind diese Weibchen für die Paarung verfügbar, sind sie fruchtbar, und wie kommt man ohne größere Investitionen an diese Weibchen heran? Für den Fürsten Orlowski waren diese Probleme lösbar. In seinem großen Haushalt gab es genügend Weibchen passenden Alters, die damit vermutlich auch fruchtbar waren, für ihn als Fürsten und Hausherrn waren diese Weibchen verfügbar, und die finanziellen Investitionen hielten sich für einen Mann seines Vermögens im Rahmen. Emotionale oder soziale Investitionen waren mit seinen außerehelichen Paarungen nicht verbunden. Für ein Männchen in weniger bevorzugter Stellung sind die gleichen Probleme in Sachen short-term mating weniger leicht bis gar nicht zu lösen! Nur wenige bis gar keine fruchtbaren Weibchen waren und sind bereit, mit einem unbedeutenden Männchen von niedrigem Ranking eine kurze Beziehung zwecks Paarung einzugehen.

72     I. Wunn

Aber auch wenn menschliche Männchen eine längerfristige Bindung eingehen wollen, wenn sie also die long-term mating-Strategie verfolgen, haben sie mit Problemen zu kämpfen: Da ist zunächst die Wahl der richtigen Partnerin. Welche Weibchen sind diesbezüglich erstrebenswert? Und hat man ein solches Weibchen für eine langfristige Beziehung erobern können, wie stellt man dann sicher, dass man auch der Erzeuger des von ihr geborenen Kindes ist? Und ist das Kind erst einmal da, sollte die Frau auch in der Lage sein, das Kind erfolgreich aufzuziehen, also alle Eigenschaften einer guten Mutter haben. Und zuletzt: Welche Frau ist überhaupt willens, mit einem Mann eine solche langfristige Bindung einzugehen? Wir sehen also, es ist für den Mann gar nicht so leicht, eine entsprechende Partnerin zu finden, aber auch für die Frauen ist die erfolgreiche Partnersuche nicht unproblematisch. Frauen ziehen, wie bereits gezeigt, keinen unmittelbaren Vorteil aus einer möglichst hohen Anzahl von Sexualkontakten, wenn es um die Weitergabe ihres genetischen Materials geht, haben zunächst also einmal – wir werden dies später relativieren – kein Interesse an short-term mating. Für eine erfolgreiche längerfristige Verbindung müssen sie also zunächst einmal erkennen, welcher Mann überhaupt über die genetischen und materiellen Ressourcen verfügt, die Frau und den gemeinsamen Nachwuchs zu versorgen. Sind die Ressourcen vorhanden, wäre zu klären, ob der Mann bereit ist, diese Ressourcen in die Frau und die gemeinsamen Kinder zu investieren. Wichtig ist gleichfalls, ob besagter Mann auch die Eigenschaften eines guten Vaters hat, und zuletzt, wenn ein solcher Mann gefunden ist, ob er überhaupt willens ist, diese positiven Eigenschaften in eine längerfristige Bindung zu investieren. Nicht ganz unwichtig war und ist darüber hinaus die Bereitschaft dieses Mannes, die Frau und die Kinder gegen die Aggressionen möglicher Artgenossen zu verteidigen.

Der adaptive Nutzen männlicher Promiskuität Werfen wir zunächst einmal einen näheren Blick auf das männliche Paarungsverhalten. Im Gegensatz zum Weibchen, welches schon aus zeitlicher Perspektive die Hauptlast der Fortpflanzung zu tragen hat, ist der Fortpflanzungserfolg eines Männchens direkt abhängig von der Anzahl fruchtbarer Weibchen, die es begatten kann.

4  Das Problem mit der Partnerwahl     73

Im Tierreich ergeben sich bereits hier die ersten Hürden, wie wir gesehen haben. Der männliche Löwe, der Hirsch oder der Büffel muss sich seine Herde zunächst einmal erobern, muss sich also in einem Kampf gegen starke Konkurrenten durchsetzen, um auf die Löwinnen, Hirschkühe oder weiblichen Büffel zugreifen zu können. Der Wettbewerb ist knallhart; nur der aktuell Stärkste kommt zum Zuge, und die unterlegenen Konkurrenten enden in der Regel als male looser. Anders ist die Situation bei unseren Verwandten, den Schimpansen. Zwar ist hier das Alphamännchen der bevorzugte Geschlechtspartner, aber auch anderen starken oder dreisten Männchen gelingt es, eine fruchtbare Schimpansin beiseite zu drängen und zu begatten. Die Wünsche der Schimpansinnen werden hier nur in gewissen Grenzen berücksichtigt. Zwar bieten sich die fruchtbaren Damen dem wünschenswerten männlichen Partner durchaus an, aber auch nicht ausdrücklich erwählte Männchen kommen zum Zuge, sei es durch Anwendung roher Gewalt, sei es auf dem Umweg über Geschenke: Forscher fanden nämlich heraus, dass Schimpansenmännchen sich mithilfe eines Fleischgeschenks – Fleisch ist ein ebenso seltener wie begehrter Bestandteil der Nahrung von Schimpansen – den Sex mit fruchtbaren Weibchen regelrecht erkaufen (Gomes und Boesch 2011). Honi soit qui mal y pense!1 Es wundert demnach nicht, dass auch beim Menschen der auf Kurzfristigkeit angelegte sexuelle Zugang zu fruchtbaren Weibchen nicht ganz so einfach ist. Einige Weibchen stehen für short-term mating einfach nicht zur Verfügung! Hier mögen moralische Gründe eine Rolle spielen, oder die jungen Frauen sind sexuell noch zu unerfahren oder generell sexuell desinteressiert, um Gefallen an einem sporadischen Sexualkontakt zu finden. Ein ganz entscheidendes Hindernis ist jedoch oft auch die schlichte Tatsache, dass die paarungswilligen Männchen für die entsprechenden Weibchen einfach nicht attraktiv genug sind – nicht hübsch genug, nicht kräftig genug, gesundheitlich beeinträchtigt oder einfach in sozialer Hinsicht unpassend oder unsympathisch. Merke: Auch bei Menschenmännchen gibt es male looser! Es wäre also unklug von einem Mann, dem es um die Maximierung der Anzahl der Sexualkontakte geht, unter den schwierig zu erreichenden Frauen nach einer Partnerin für kurze sexuelle Beziehungen Ausschau zu halten. Stattdessen wird sich der paarungsfreudige Mann unter den leichter erreichbaren potenziellen Partnerinnen umschauen, und das sind eben solche Frauen, deren Verhalten auf eine gewisse Promiskuität schließen lässt. In der durch bürgerliche Moralvorstellungen geprägten 1Übersetzung:

„Ein Schelm, wer Böses dabei denkt!“.

74     I. Wunn

europäischen Gesellschaft des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts waren es Prostituierte (teilweise ausgesprochen erfolgreiche Prostituierte, wie sie Emile Zola in seinem berühmten Roman Nana porträtiert hat) oder junge Frauen in sozial niedriger Stellung, die die Annäherung von Männern duldeten oder dulden mussten, wie der Protagonist des ewig Menschlichen, Wilhelm Busch (1872), mit den wunderbaren Worten „Doch jeder Jüngling hat wohl mal’n Hang zum Küchenpersonal“ auf den Punkt bringt. Und wie erkennt das Männchen nun in der Praxis, welche Weibchen aktuell paarungswillig sind? Nun, wir haben das bereits ausführlich erörtert (Kap. 3): durch deren Präsentieren von Po und Brüsten, durch dunkel umrandete und weit aufgerissene Augen und durch das Spielen in einer üppig wallenden Mähne! Das nächste Problem, dem sich der Mann gegenübersieht, ist die Wahl einer tatsächlich fruchtbaren Partnerin. Zu junge oder zu alte Kandidatinnen scheiden hier direkt aus, da Frauen nur in der Mitte ihres Lebens tatsächlich reproduktionsfähig sind. Schwierig dagegen wird es, wenn man(n) sich zwischen einer 14-Jährigen und einer 24-Jährigen entscheiden muss. Die 14-Jährige kann im Laufe ihres Lebens sicherlich mehr Kinder gebären als die 24-Jährige, die bereits zehn für die Reproduktion geeignete Lebensjahre hinter sich hat. Andererseits ist die aktuelle Fruchtbarkeit der 24-Jährigen deutlich höher, sodass ein Mann, der gerade die short-term mating-Strategie verfolgt, eher auf die etwas ältere der beiden Kandidatinnen zurückgreifen würde. Damit ist jedoch für unser Männchen noch nicht eindeutig geklärt, ob das entsprechende Weibchen tatsächlich in puncto Fruchtbarkeit hält, was sein Alter verspricht, ob es also tatsächlich fruchtbar ist. Hier ist unser Männchen auf Indizien angewiesen, als da sind: ein schöner kräftiger Wuchs, das Gesundheit signalisierende Haar, glatte, rosige Haut, gesunde Zähne, klare Augen und ein munteres, Jugendlichkeit signalisierendes Wesen. Während diese Merkmale noch bis vor wenigen Jahrzehnten untrüglich über die Eignung der Erwählten als Sexualpartnerin Auskunft gaben, ermöglichen heute ästhetische Chirurgie und Kosmetikindustrie den paarungswilligen Weibchen, ihr Alter und damit ihre Reproduktionsfähigkeit zu verschleiern, und tatsächlich sind heute Weibchen im Paarungsgeschäft aktiv, die sich vor etlichen Jahren mit der Großmutterrolle zufriedengegeben hätten (Abb. 4.1).

4  Das Problem mit der Partnerwahl     75

Abb. 4.1  Jungbrunnen-Fresco Castello di Manta. Das Bild thematisiert die Sehnsucht alter Frauen, durch ein Bad in einem Jungbrunnen wieder glatte Haut, leuchtendes Haar, einen straffen Po und ebenso straffe Brüste zu erlangen und auf diese Weise wieder für den Paarungsmarkt attraktiv zu sein. (Saluzzo, Piemont, Castello di Manta, Jungbrunnen-Fresco in der Sala Baronale. © Markus Kirchgessner/DUMONT Bildarchiv/picture alliance)

Frauen und der Vorteil langfristiger Partnerschaften Wenn es also auf den ersten Blick so aussah, als sei es für menschliche Männchen aus genegoistischer Sicht sinnvoll, hauptsächlich in s­hort-term mating zu investieren, also möglichst viele unverbindliche Sexualkontakte zu suchen, sieht die Sache bei näherer Betrachtung nicht mehr ganz so eindeutig aus. Ein großes Problem, auf diese Weise zum Zuge zu kommen und die Wünsche der auf Reproduktion dringenden egoistischen Gene zu befriedigen, ist die fehlende Bereitschaft fruchtbarer Frauen, auf dieses Ansinnen einzugehen. Frauen verfolgen nämlich naturgemäß eine ganz andere Strategie. Da sie zumindest für die Dauer der Schwangerschaft, oft aber auch während der darauffolgenden Brutpflegeperiode keine in reproduktiver Sicht erfolgreichen Partnerschaften eingehen können, ist es für sie essenziell, höchste Maßstäbe an den Sexualpartner anzulegen. Dieser sollte also überhaupt zur Verfügung stehen (was in Kriegs- und Nachkriegszeiten nicht selbstverständlich ist), er sollte paarungswillig sein (ein sexuell desinteressiertes oder schwächelndes Männchen ist nutzlos; Männchen wissen das und greifen notfalls zu unterstützenden Medikamenten oder Hilfsmitteln!) und hervorragendes genetisches Material mitbringen. Darüber hinaus sollte ein Männchen auch über die notwendigen materiellen

76     I. Wunn

Ressourcen verfügen, um dem Weibchen die erfolgreiche Aufzucht der so aufwändig ausgetragenen und geborenen Jungen zu ermöglichen. Wir erinnern uns an das Beispiel aus dem Tierreich (Kap. 2). Der männliche Webervogel punktete nicht etwa mit glänzendem Gefieder oder brillantem Gesang, sondern konnte ein Weibchen durch sein sorgfältig gebautes Nest überzeugen. Die Qualität des Nestes würde nämlich darüber entscheiden, ob der weibliche Webervogel seine Jungen in einem sicheren Heim aufziehen konnte oder ob Nest und Jungvögel zu Boden stürzen und dort die Beute von Fressfeinden würden. Ähnliches gilt für den Menschen: Auch hier gilt für die erfolgreiche Reproduktion des eigenen genetischen Materials, dass sich frau nicht nur mit dem klügsten, schönsten, stärksten und gesundesten aller Männer paart, sondern dass eben jenes Männchen auch in der Lage ist, dazu beizutragen, seinen Nachwuchs erfolgreich aufzuziehen. Dies führt dazu, dass Frauen bei der Partnerwahl mehr Wert darauf legen, dass die infrage kommenden Männchen die für die Aufzucht notwendigen Ressourcen bereitstellen können. Frauen wählen also tendenziell eher materialistisch, d. h. also ressourcenorientiert, und damit kommen auch solche Männchen zum Zuge, die beim direkten Vergleich der körperlichen Vorzüge vielleicht nicht als Sieger aus dem Wettbewerb um das attraktivste Weibchen hervorgegangen wären. Letztlich zählen für Frauen folgende männliche Eigenschaften bei der Wahl eines Mannes für eine auf Dauer angelegte Partnerschaft: Alter, Körperbau, Gesundheit, Intelligenz, Fehlen einer konkurrierenden Bindung, materieller Besitz, Einkommen, sozialer Status, die Fähigkeit, eine Familie beschützen zu können, das Verfügen über ein Territorium und möglicherweise Schmuck und Körperzierrat zur Dokumentation der Fähigkeit des Erschaffens von Mehrwert. Diese Liste – das natürliche Resultat des weiblichen Genegoismus – erklärt nun leicht die Partnerwahl in den oben angeführten Beispielen: Donald Trump erfüllte zum Zeitpunkt seiner ersten Eheschließung fast alle Anforderungen, die ein Weibchen der Spezies Homo sapiens sich für eine langfristige sexuelle Bindung wünschen konnte: Der Kandidat war ledig, jung, gesund, anderweitig nicht langfristig gebunden, reich und hatte einen hohen sozialen Status. Kürzlich erfolgte erfolgreiche Investitionen ließen zumindest auf eine gewisse ökonomische Intelligenz schließen; die augenscheinliche Aggressivität stellte sicher, dass er seine Nachkommen vor möglichen Feinden beschützen würde. Auch für Trump ging das Paarungsgeschäft auf. Er musste sich in sexueller Hinsicht zwar langfristig binden, seine short-term matings also auf ein sozial verträgliches Maß reduzieren, gewann aber eines jener schwer zu erobernden jungen, gesunden und fruchtbaren Weibchen, das in

4  Das Problem mit der Partnerwahl     77

der Lage sein würde, seinem genetischen Material einen sehr guten haploiden Chromosomensatz hinzuzufügen und das Ergebnis, die Kinder, erfolgreich über die gefährlichen frühen Jahre zu bringen. Für Trumps weitere long-term matings waren dann die Voraussetzungen nicht mehr ganz so optimal. Der potenzielle Vater war älter, also als Sexualpartner nicht mehr ganz so gut geeignet, und er hatte in finanzieller Hinsicht bereits andere Verpflichtungen. Immerhin schienen den folgenden Ehefrauen die verbleibenden Vorteile, als da sind Vermögen und soziale Stellung, noch so überzeugend, dass sie bereit waren, die offensichtlichen Nachteile für ihre Nachkommen in Kauf zu nehmen. Besser hat es in dieser Hinsicht die Königin von Schweden getroffen. Der von ihr gewählte Partner war zum Zeitpunkt der Eheschließung ebenfalls jung, gesund, relativ reich, ledig und von kaum zu toppender sozialer Stellung (Kap. 13). Im Gegensatz zu den Ehefrauen des momentanen Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika (Stichtag 20.11.2019) kann Königin Silvia auch davon ausgehen, dass der von ihr gewählte Sexualpartner sich zwar möglicherweise hin und wieder dem short-term mating widmen wird (und vermutlich auch bereits gewidmet hat), aber bestimmt keine weitere Langzeitpartnerschaft zum Zweck des Zeugens weiteren Nachwuchses eingehen wird. Und unsere Romanheldinnen? Darja Oblonskajas Wahl war nur begrenzt optimal. Zwar war ihr Mann jung, reich, angesehen und von herausragender sozialer Stellung. Gerade aber sein Umgang mit Vermögenswerten ließ für die Versorgung des Nachwuchses nichts Gutes erwarten. Dies stellte sich für die jeweiligen short-term-Partnerschaften des Fürsten anders dar. Als Personen in untergeordneter Stellung bedeuteten für sie und ihren möglichen Nachwuchs die Wahl des bereits anderweitig gebundenen Fürsten und die Aussicht auf eine mögliche spätere finanzielle Abfindung doch noch einen relativen Vorteil im Vergleich zu einer Partnerschaft mit einem Mann aus ihrem eigenen sozialen Milieu. Anna Karenina jedoch, die Titelheldin des Romans, hatte ganz konventionell einen Mann gewählt, der sie und ihre Nachkommen in materieller und sozialer Hinsicht vollkommen absicherte, im Hinblick auf hervorragendes genetisches Material aber manchen Wunsch offenließ. Also tauschte Anna Karenina den genetisch suboptimalen Gatten gegen den strahlenden Wronski ein und wurde Mutter seines Kindes. Tolstois dichterische Fantasie und ein Gefühl für dramatische Entwicklungen führten zu dem bekannten tragischen Ausgang der Geschichte. In biologischer Hinsicht und mit dem Fokus auf unserem egoistischen Gen ist allerdings zu bemerken, dass Annas Kalkül vollkommen aufging, denn der

78     I. Wunn

Abb. 4.2  Kronprinzessin Mette Marit von Norwegen gelingt es, ihren Sohn aus einer vorehelichen Beziehung mit einem Partner von sozial niedrigem Ranking in der norwegischen Königsfamilie aufziehen zu lassen und ihm damit optimale Chancen für sein zukünftiges Ranking und damit die Platzierung seiner (und ihrer) egoistischen Gene angedeihen zu lassen. (© R0131/NTB scanpix/picture alliance)

großherzige legitime Gatte war es dann letztlich, der den Spross aus ihrer und Wronskis Liaison aufzog. Für denjenigen Leser, der es immer noch nicht verstanden hat: Ein menschliches Weibchen wird sich wenn immer möglich mit einem solchen Männchen paaren, welches optimales genetisches Material verspricht. Die Aufzucht ihres Nachwuchses vertraut dasselbe Weibchen dann allerdings lieber einem Männchen an, welches ihr materielle Sicherheit und einen hohen sozialen Status garantiert, um auf diese Weise die Chancen des genoptimierten Nachwuchses zu erhöhen. Es wundert daher nicht, dass in westlichen Familien bis zu vier von 100 Kindern mit ihrem Vater nicht genetisch verwandt sind, und selbst im sittenstrengen Kurdistan mit der dort üblichen restriktiven Sexualmoral handelt es sich bei 1,6 % aller Kinder um die Folgen nicht legitimer sexueller Kontakte. Fassen wir also zusammen: Männer und Frauen verfolgen letztlich dasselbe Paarungsinteresse: Ihre egoistischen Gene wollen sich so oft wie möglich replizieren, und das können sie nur mithilfe eines Geschlechtspartners. Da die dann aneinandergekoppelten Gene der beiden Partner „alle in einem Boot sitzen“, d. h., weil sich das aus dem Zeugungsakt entstandene neue Individuum im Kampf ums Dasein behaupten muss, strebt jedes erfolgreiche Team egoistischer Gene danach, nur ebenso erfolgreiche Gene in sein Boot zu holen. Es zählen aber nicht nur die Gene selbst, sondern auch die Chancen für die resultierenden Überlebensmaschinen,

4  Das Problem mit der Partnerwahl     79

und die sind umso größer, je vorteilhafter die Möglichkeiten erfolgreicher Aufzucht sind. Besonders kluge Weibchen der Spezies Mensch berücksichtigen diese Tatsache. So ist es der norwegischen Kronprinzessin Mette Marit beispielsweise gelungen, ihren Sohn aus einer früheren Beziehung in der norwegischen Königsfamilie zu etablieren, um für ihn auf diese Weise optimale Startbedingungen zu schaffen (Abb. 4.2). Gleiches gilt für die Immer-mal-wieder-Gattin des short-term-Bundespräsidenten Christian Wulff: Als die spätere Bettina Wulff den damaligen CDU-Spitzenkandidaten für das Ministerpräsidentenamt in Niedersachsen kennenlernte, war sie bereits Mutter eines Sohnes aus einer früheren, in sozialer Hinsicht wenig vielversprechenden Verbindung.

Weibliches short-term mating Die oben genannten Beispiele von paarungswilligen Männchen, die bereitwillig fremden egoistischen Genen eine Plattform bieten, nur um in den langfristigen Besitz paarungswilliger Weibchen zu kommen, machen auf das Risiko aufmerksam, das zwar nicht die genannten Männchen eingingen – immerhin war ihnen die Tatsache bekannt, dass der Nachwuchs der Begehrten nicht von ihnen selbst gezeugt wurde –, aber nicht immer wird bekanntermaßen auf dem Paarungsmarkt mit so offenem Visier gekämpft. Für ein paarungswilliges Männchen, welches bereit ist, nicht nur sein genetisches Material, sondern darüber hinaus seine materiellen und sozialen Ressourcen in eine long-term-Partnerschaft zu investieren, ist es existenziell zu wissen, ob das erwählte Weibchen tatsächlich hält, was es verspricht. Kurz gesagt: Das Weibchen sollte nicht nur jung, gesund und fruchtbar sein, sondern möglichst auch treu. Diese Treue ist natürlich am leichtesten durch Restriktionen zu erreichen, wenn immer die gesellschaftlichen Verhältnisse dies zulassen. In Theodor Fontanes ergreifendem Roman Effi Briest (1894–1895) wird die Romanheldin Effi zur gesellschaftlich Ausgestoßenen nicht etwa wegen tatsächlicher Untreue, sondern wegen einer kurzen Periode romantischer, aber folgenloser Verliebtheit in den jungen, attraktiven Major Crampas. (Wir wundern uns nicht, denn der Major hatte interessanteres genetisches Material zu bieten als der deutlich ältere Ehemann.) Noch rigoroser geht man in islamischen Ländern mit fruchtbaren Weibchen um. Sie verbringen ihr Dasein in der vor fremden Männern abgeschirmten Welt des Harems und gehen nur in Begleitung aus; dies dann tief verschleiert, sodass die bekannten Schlüsselreize Po, Brust und Haar zum Signalisieren einfach nicht zur Verfügung stehen. Das ist schon wieder ungerecht, meine

80     I. Wunn

Abb. 4.3  Eine enge Hose zeigt die körperlichen Vorzüge, das Kopftuch verweist auf züchtiges Betragen – eine perfekte Signalkombination auf dem Paarungsmarkt. (© Hervé Champollion/akg images/picture alliance)

Damen? Mitnichten! Die Herrenwelt hat auf diese Weise nämlich keinerlei Vergleichsmöglichkeiten. Cellulite an den Oberschenkeln? Haare nicht gewaschen? Unerfreuliche Jahresringe am einstmals so glatten Hals? Und der Po ist auch nicht mehr ganz so straff? Das ist alles völlig egal, denn der Gatte sieht ja nichts anderes, da auch die Konkurrenz unter dem Schleier steckt! Der lästige und nervenaufreibende Wettbewerb um den mating-Partner entfällt. (Wie sagt Aladin im Märchen „Aladin und die Wunderlampe“ so schön: „Mutter, ich dachte, alle Frauen seien wie Du!“). Der Schleier bedeutet demnach, dass das Weibchen keine Paarungsbereitschaft signalisieren kann, dass es also auf weitere Paarungen verzichten wird und somit garantiert, dass das zu erwartende Kind auch von demjenigen Partner ist, der die Mühen des long-term mating auf sich genommen hat.

4  Das Problem mit der Partnerwahl     81

Diese subtile Botschaft setzen junge muslimische Frauen auch in der westlichen Welt gern ein, um paarungswillige Herren vom Vorteil einer Dauerbeziehung mit ihnen zu überzeugen. Die kopftuchtragende junge Muslimin mit Migrationshintergrund oder die ernste Konvertitin im Hijab signalisiert mit ihrer Kopfbedeckung also keineswegs eine politische Gesinnung oder gar große Frömmigkeit, sondern sie hat ein Plus für sich auf dem Paarungsmarkt entdeckt, vergleichbar jener antennenartigen Feder auf dem Kopf der Zebrafinken, die diese Vogelmännchen als mating-Partner so überaus interessant machte. Es versteht sich nun von selbst, dass die Kombination knallenger Jeans um ein pralles Hinterteil plus hübsch gewickeltem Kopftuch (Abb. 4.3) ein idealer Schachzug im Wettbewerb um den optimalen Genspender ist: Der Mann kann gar nicht anders, als einerseits die Aufforderung zur Paarung und andererseits das Treueversprechen wahrzunehmen, und wird bereitwillig in diese long-term-Paarung investieren (Abb. 4.4). Wirkliche Sicherheit bieten diese Maßnahmen allerdings nicht. Wie in den Märchen aus Tausendundeiner Nacht beschrieben, gelingt es selbst der Geliebten eines mächtigen Ifriten (Geistwesen), ihren Gebieter mehr als 300-mal zu hintergehen. Als Beleg für ihre weibliche Überlegenheit lässt sie sich von ihren Liebhabern nach dem Liebesakt den Siegelring aushändigen, von denen sie eine beeindruckende Sammlung besitzt. Die Praxis, Frauen in ihrer sexuellen Selbstbestimmung zu beschränken, ist daher offensichtlich nur teilweise von Erfolg gekrönt, denn wo die egoistischen Gene die Illusion leidenschaftlicher Liebe nähren, hat sich noch immer ein Weg zu erfolgreicher Paarung gefunden. Das Fortsperren von fruchtbaren Frauen bzw. das Bewirtschaften ihrer Fruchtbarkeit hat jedoch weitere gravierende Nachteile für die Männer: Junge, fertile Weibchen – ein begehrtes Gut im Reich der Tiere und Menschen – werden durch das Wegsperren zu einer regelrechten Mangelware, und wie im Wirtschaftsleben regelt der Markt den Preis (Kap. 16). Es ist daher kein Wunder, dass im Orient für eine junge, gebärfähige Frau ein erheblicher Brautpreis zu entrichten ist. Dem mit dem islamischen Familienrecht nicht vertrauten Leser sei hier mitgeteilt, dass dieser Brautpreis der Frau als Entgelt für die sexuellen Dienste zusteht, die sie ihrem Mann leistet. Nach Scharia-Recht darf sie über diesen Brautpreis selbst verfügen und muss davon auch nichts zum gemeinsamen Unterhalt beisteuern. Bedauerlicherweise ist allerdings vielen Musliminnen dieser Passus nicht bekannt, sodass sich nicht selten Brautväter widerrechtlich in den Besitz des Brautgeldes setzen. Dies ist

82     I. Wunn

Abb. 4.4  Um das Risiko außerehelichen short-term mating zu minimieren, werden die Schlüsselreize von Frauen versteckt, um so das Signalisieren von Paarungsbereitschaft zu erschweren

hier jedoch nicht Thema2. Thema ist vielmehr, dass der Islam, eine ausgesprochen nüchterne und realitätsnahe Religion, den Wert der Frauen genau erkennt und benennt, und zwar geht das so weit, dass eine Ehe nur gültig ist, wenn ein solcher Brautpreis entrichtet wurde. Dieser Preis richtet sich nach dem Wert der Frau auf dem Paarungsmarkt: Die junge, jungfräuliche, schöne, gesunde und gebildete Frau wird für sich einen höheren Preis erzielen als eine ältere, ungebildete. Genau diese Tatsache machen sich junge Frauen, z. B. in Iran, zunutze. Sie fordern vor der Eheschließung für sich einen so hohen Brautpreis, dass die hoffnungsvollen zukünftigen Ehemänner wirtschaftlich fast in die Knie gehen. Die gesamte Familie muss zusammenlegen, damit der Paarungsdeal zustande kommt. 2Vgl.

dazu aus feministischer Perspektive Wunn und Selçuk (2013). Dort findet sich weitere Literatur.

4  Das Problem mit der Partnerwahl     83

Anders geht man im östlichen Afrika mit der Frage des mating um. Grundlage der sexuellen Partnerschaft ist hier die uns nun bekannte Tatsache, dass die egoistischen Gene eines fertilen Weibchens aus häufigen Kopulationen keinen Vorteil ziehen. Im Gegenteil: Ein sexuell allzu aktives Männchen könnte lästig werden und die Aufmerksamkeit des Weibchens übermäßig binden. Dies gilt insbesondere, weil in Gegenden, in denen eiweißreiche Nahrung Mangelware ist, die Säuglinge so lange wie möglich gestillt werden sollten, um ihr Überleben zu sichern. Aus dieser Tatsache resultiert eine gesamte Gesellschaftsordnung. Bei den Makonde gehören die Felder und deren Erträge traditionell den Frauen, die überdies zeitlebens im mütterlichen Haushalt bleiben. Kommt ein paarungswilliges Männchen, muss es sich bewähren, d. h. fleißig auf den Feldern mitarbeiten. Entspricht der Mann den Vorstellungen der Familie der Braut, wird er ihr Gatte. Er bleibt nun mindestens so lange im Hause, bis sich Nachwuchs eingestellt hat. Danach ist die Frau für ihn sexuell tabu, bis die Stillperiode vorbei ist. Er kann also zu einer anderen Ehefrau weiterziehen und dort möglichen ehelichen Pflichten nachkommen. Im Übrigen: Nur wenn er das tut, hat er Anspruch auf Versorgung mit Nahrung. Die Rechnung ist einfach: keine eheliche Gemeinschaft, kein Essen! Und Vollversorgung mit Wäschewaschen, Knopfannähen, Bettenmachen usw. gibt es hier für den Herrn der Schöpfung sowieso nicht! Mutter und Kind bleiben weiterhin im Hause der Großmutter bzw. Großeltern, zu deren Familie der Sprössling rechtlich zählt. In einer solchen matrifokalen (frauenzentrierten) Gesellschaft sind naturgemäß die Kriterien weiblicher Gattenwahl anders als in einer patriarchalen: Hier ist der Schöne, der Starke mit den guten Genen gefragt, der Mann, der als guter Jäger seine Familie auf Zeit mit Fleisch versorgt und das Dorf zusammen mit den anderen Männern vor feindlichen Überfällen schützt. Ich selbst hatte während eines mehrjährigen Afrikaaufenthaltes einen guten Freund in einem dieser Dörfer. Dieser Freund, Ali Tom, hatte zwei Ehefrauen; die eine war jung, die andere etwas älter. Ali Tom war zunächst ganz verliebt in seine neue, junge Frau, die sich abends mit ihm im Bett nicht über häusliche Probleme unterhalten, sondern ihren egoistischen Genen einen Platz im Leben verschaffen wollte – mit aller Lebhaftigkeit, Beweglichkeit und Fantasie, die junge Frauen spielend aufbringen. Er vernachlässigte jedoch auch die ältere, erste Frau keineswegs. Nach den Gründen gefragt, antwortete er: „Sie ist reich! Sie hat Kokospalmen!“ Fazit: Auch menschlichen Männchen ist die Gattenwahl auf materieller Basis nicht fremd, wenn die Gesellschaftsordnung ein entsprechendes Verhalten begünstigt!

84     I. Wunn

Manchen Frauen mag die Lösung der Paarungsfrage nach afrikanischem Muster ideal erscheinen. Die Frauen haben die Produktionsmittel und die Männer haben kaum eine weitere Aufgabe als die Drohnen im Insektenreich – sie sollen die Weibchen begatten. Leider hat diese Sozialordnung auch manchen Nachteil; im konkreten Fall die mangelnde Bindung an die Familie des gezeugten Kindes. Ein Mann, der in der Familie seiner Frau nur zeitweilig zuhause ist, trennt sich leicht, wenn sich die sozialen Normen verändern und die gewohnte Gesellschaftsordnung zusammenbricht. Dies geschah in Afrika, wo vor allem Missionare die Rolle der Männer – die Feldarbeit war trotz der präkoitalen männlichen Mithilfe in erster Linie Frauensache – missverstanden, die Männer auf die Felder zwangen und den Frauen damit das Kapital entzogen. Im Zuge einer Globalisierung mit den Spielregeln des Patriarchats verließen und verlassen die Männer nun ihre Heimatdörfer, in denen die Frauen mit den Kindern ressourcenlos zurückbleiben. Diese Frauen haben kaum Möglichkeiten, unter den veränderten Bedingungen ihre vorhandenen Kinder durchzubringen, es sei denn, sie verfolgen short-term mating-Strategien. Männchen werden hier mit der Aussicht auf Paarung angelockt und finden sich bereit, als Entgelt für sexuelle Kontakte zumindest für eine gewisse Zeit für eine fremde Familie zu sorgen.

Kommune 1 oder der große Betrug an den Frauen Wir sehen also, gesunde und fruchtbare junge Frauen sind die Beerenauslese bzw. der lupenreine Diamant auf dem Paarungsmarkt. Eine junge, paarungsbereite Frau kann jederzeit jeden Mann für ein short-term mating gewinnen; sie kann jedoch ebenso gut ihre Interessen langfristig verfolgen und ein long-term mating durchsetzen. Bei beiden Strategien dürfte es ihr möglich sein, einen materiellen Gewinn für sich und ihre egoistischen Gene zu erwirtschaften. Im Allgemeinen leistet ihr die gesellschaftliche Ordnung inklusive der Moralvorstellungen dabei Hilfe: Das hohe Gut „junge Frau“ wird von der Gesellschaft eigentlich immer bewirtschaftet, um eine möglichst sinnvolle oder gerechte Teilung dieses Gutes und damit den sozialen Frieden zu gewährleisten. Daraus resultieren dann entsprechende Regularien und Gesetze, die vom Gebot der Einehe über Sanktionen bei gebrochenen Eheversprechen oder der Verweigerung ehelichen Sexualkontaktes bis zur Versorgung der Ehepartner und Kinder im Falle einer Scheidung reichen. Das hieß in patriarchalischen Gesellschaften fast immer, dass ein Mann,

4  Das Problem mit der Partnerwahl     85

Abb. 4.5  Der Rückenakt der Mitglieder der Kommune 1. (© Thomas Hesterberg; Süddeutsche Zeitung Photo)

wollte er sich in den Besitz eines solchen Weibchens bringen, großen Aufwand treiben musste. Dies konnte, wie in der muslimischen Welt, das Aufbringen eines hohen Brautpreises bedeuten. Aber selbst ohne diesen Brautpreis muss sich das paarungswillige Männchen einer Hochzeit unterziehen, einen Haushalt finanzieren, auf einen Teil seiner Selbstbestimmung einschließlich außerehelicher Sexualkontakte verzichten und zuletzt noch weiterer finanzieller Belastungen bei einer möglichen Scheidung gegenwärtig sein. Das paarungswillige Weibchen dagegen hatte aus genegoistischer Sicht (und nur aus dieser!) nichts weiter mitzubringen als Jugend, Fruchtbarkeit und das Versprechen ehelicher Treue (vgl. auch Kap. 16). Natürlich gibt es eine andere, nicht genspezifische Perspektive, aus der die geschilderten Verhältnisse ganz anders aussehen. Nach heutiger westlicher Sichtweise waren junge Frauen über Jahrhunderte zu einem fremdbestimmten Leben, zu „Kinder, Küche, Kirche“ verdammt, und aus diesem fremdbestimmten Leben begannen sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts auszubrechen. Hier geht es nicht um die Geschichte der Frauenbewegung und schon gar nicht um das Infragestellen ihrer Berechtigung, sondern eben nur um das böse, böse egoistische Gen. Und unter diesem und nur dem genegoistischen Gesichtspunkt ist zumindest der erotisch-liberale Teil der Frauenbewegung höchst kritisch zu sehen. Bereits der aus meiner Sicht deutlich überschätzte Schriftsteller Berthold Brecht konnte den Frauen in seiner

86     I. Wunn

Umgebung weismachen, dass es ihren Genen zum Besten gereiche, wenn sie sich an seinen haploiden Chromosomensatz andocken könnten. Ob es allerdings den Müttern mit ihren außerehelichen und schlecht versorgten Kindern zum Besten gereichte, blieb zumindest fraglich. Die sexuelle Befreiung der Frau strebte zunächst im Zuge der wilden 1968er Jahre einem Höhepunkt entgegen, und Berichte aus und von der Kommune 1 (Abb. 4.5) schockierten den braven deutschen Bürger (m/w/d). Was war passiert? Nun, die jungen Revolutionäre hatten die Ehe als Unterdrückungsinstrument einer verderbten Bourgeoisie entlarvt und propagierten nun die freie Liebe. Letztlich lief die Sache darauf hinaus, dass ein paar wilde junge Kerle mit Alphamännchen-Attitüde trotz Hühnerbrust eine zugkräftige Ideologie entwickelt hatten, die ihnen den jederzeitigen Zugriff auf die attraktivsten jungen Frauen ihrer Zeit gestattete. Und was hatten die jungen Frauen davon? „Einen ständig leergefressenen Kühlschrank“, so eine der Kommunardinnen in einem persönlichen Gespräch mit der Verfasserin! Unter dem Gesichtspunkt des männlichen und weiblichen Paarungsinteresses hatten also die Weibchen hier ihr Kapital verschleudert!

Literatur Busch W (1872). Die fromme Helene. Bassermann Verlag, Heidelberg Buss DM, Schmitt DP (1993) Sexual strategies theory: an evolutionary perspective on human mating. Psychol Rev 100(2):204–232 Fontane T (1894–1895) Effi Briest. Roman. [Vorabdruck] In: Deutsche Rundschau. Band 81, Oktober bis Dezember, S. 1–32, 161–191, 321–354, Band 82, Januar bis März S. 1–35, 161–196, 321–359 Gomes Christina M, Boesch Christophe (2011) Reciprocity and trades in wild West African chimpanzees. Behav Ecol Sociobiol 65:2183–2196 Wunn Ina, Selçuk Mualla (Hrsg) (2013) Islam, Frauen und Europa. Islamischer Feminismus und Gender Jihad – neue Wege für Musliminnen in Europa?. Kohlhammer, Stuttgart

5 Genegoismus und Aggression

Gelungene Paarung und die Kehrseite der Medaille Unsere Männchen und Weibchen beziehungsweise Männer und Frauen konnten sich zuletzt, nachdem wir uns durch vier Kapitel gekämpft haben, glücklicherweise erfolgreich paaren, und wir kamen zu der erfreulichen Erkenntnis, dass weder die Menschen noch die diversen Tierarten (mit Ausnahme vielleicht des großen Pandas, der für seine Lustlosigkeit berüchtigt ist) letztlich nur aus dem Grunde aussterben werden, weil es ihnen an sexueller Energie mangelt. Das egoistische Gen hat nämlich vorgesorgt und die diversen erfolgreichen Überlebensmaschinen mit ausreichend Liebessehnsucht und sexuellem Verlangen ausgestattet. Ja, es geht eben auch um die Liebe und nicht nur um knallharten Sex. Immerhin muss das egoistische Gen seine Überlebensmaschine ja auch für die Strapazen belohnen, denen sie sich unterzieht, um einen Sexualpartner zu finden (Abb. 5.1). Eine solche Belohnung ist bei einigen Tierarten und beim Menschen der Orgasmus, denn welcher Mann bzw. welches Männchen würde die anstrengende Rolle eines Alphamännchens anstreben (Schimpanse, Mensch) oder monatelang hinter einer spröden Schönen herlaufen und ihre anstrengende Familie ertragen (Mensch), wenn nicht als Belohnung der Orgasmus winkte …? Ich wiederhole in diesem Zusammenhang nur: „Atemlos durch die Nacht …“! Aber nicht nur der kurze, flüchtige Rausch lockt. Da ist mehr, da ist Größeres, da ist die Liebe! Es sind eben, subjektiv empfunden, die starken © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Wunn, Vier Theorien, um die Welt zu beherrschen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61376-4_5

87

88     I. Wunn

Abb. 5.1  Ein eingebautes Belohnungssystem stellt sicher, dass sich die möglichen Sexualpartner sexuell attraktiv finden und paaren. (© Yohan Castel, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=34815027)

Emotionen, die großen Gefühle, die dafür sorgen, dass ein Mann sein Paarungsziel überhaupt mit so viel Energie und Einsatz verfolgt. Die gleichen großen Gefühle sorgen anschließend dafür, dass die einmal eingegangene Bindung von Dauer ist, dass die long-term-Paarungsstrategien von Mann und Frau aufgehen. Es geht also hier um den Eros, die sinnlich-erotische Liebe, die sich dem Objekt der Begierde mit Leidenschaft zuwendet. Zu gern würden wir (in der Rolle als Geisteswissenschaftler) ins Philosophische abschweifen und uns dem berühmten platonischen Dialog zwischen Sokrates und der intellektuellen Hetäre Diotima zuwenden; alternativ böte sich ein Abstecher in die Welt der religiösen Mystik mit ihrer ekstatischen Gottesliebe an, aber leider legt uns unsere Weltbeherrschungstheorie vom egoistischen Gen nahe, unser Augenmerk eher auf neuroendokrine Prozesse zu legen. Für die ist in letzter Konsequenz wieder unsere Physis und damit das egoistische Gen verantwortlich! Danach ist die Liebe mit ihrem rauschähnlichen Beginn, der Verliebtheit, ein Resultat der neuroendokrinen Steuerung unseres Zwischenhirns. Der Botenstoff Dopamin ist für die mit dem Verliebtsein verbundene Euphorie verantwortlich, Glücksgefühle werden von Endorphin hervorgerufen, Cortisol verursacht Herzklopfen, und Testosteron sorgt dafür, dass die Bemühungen unseres endokrinen Systems nicht ins Leere gehen – es steigert die sexuelle Lust. Ist das geliebte Objekt abwesend, steigt der Adrenalinspiegel (Stress!), der Dopaminspiegel dagegen sinkt und löst damit depressionsartige Verstimmung aus. Damit haben unsere egoistischen Gene perfekt vorgesorgt

5  Genegoismus und Aggression     89

und ihre Überlebensmaschinen zu willenlosen, botenstoffgesteuerten Werkzeugen im Kopulationsgeschäft gemacht. Alles das wäre harmlos oder, aus der Warte der Verliebten betrachtet, wunderschön, wäre die Liebe nicht mit anderen, weniger freundlichen Regungen verknüpft. Da ist zunächst einmal die Eifersucht, jene emotionale Kraft, die aus der Warte des egoistischen Gens beim Menschen dafür sorgt, dass sich der gewählte Sexualpartner nicht mit einem anderen Mann oder einer anderen Frau paart und damit die Chancen der eigenen Gene auf erfolgreiche Replikation schmälert. Entsprechend den unterschiedlichen Paarungsstrategien von Männern und Frauen ist der Schwerpunkt ihrer Empfindung von Eifersucht verschieden: Frauen mit ihrer Bevorzugung von long-term mating-Strategien reagieren vor allem bei emotionaler Untreue empfindlich, können also Liebesverlust schlecht ertragen, wohingegen sie bereit sind, einen Seitensprung im Rahmen von short-term mating zu verzeihen (siehe z. B. die fiktive Darja Oblonskaja oder die sehr realen, wenn auch zum Teil inzwischen verstorbenen betrogenen Ehefrauen Jaqueline Kennedy, Ruth Brand, Juliana, Königin der Niederlande, die heutige Präsidentengattin Melania Trump und, und, und). Männer dagegen fürchten vor allem den von einem Konkurrenten vollzogenen Geschlechtsakt und die damit verbundene Deprivation ihrer Gene und reagieren deshalb heftig und unkontrolliert auf einen tatsächlichen oder eingebildeten Seitensprung (König Georg I., Heinrich VIII.). Wie bei der Liebe, so haben auch die mit der Eifersucht verbundenen Empfindungen physiologische Auslöser. Im Gehirn sind hier vor allem der cinguläre Cortex und das laterale Septum aktiv. Testosteron und Cortisol werden vermehrt ausgeschüttet und machen aus dem sanften Ehemann eine wütende Kampfmaschine – und damit wären wir beim Thema.

Darwin und die Selektion An dieser Stelle müssen wir uns noch einmal Charles Darwin (1859) und seinem Werk „On the Origin of Species by Means of Natural Selection“ zuwenden. Wie Darwin richtig feststellte, geht es in der Natur um das Überleben des am besten Angepassten (survival of the fittest). Bei der Paarung in der Elterngeneration entstehen zahlreiche Individuen, die sich in Kleinigkeiten unterscheiden und folgerichtig mit den Bedingungen ihrer Lebenswelt unterschiedlich gut zurechtkommen. Nur den am besten geeigneten unter ihnen wird es gelingen, sich selbst wiederum erfolgreich

90     I. Wunn

fortzupflanzen (Kap. 2). Aus dieser Tatsache resultiert, dass es unter den Individuen einer Art einen ständigen Wettbewerb um begrenzte Ressourcen gibt. Diese Ressourcen sind zunächst die vorhandene Nahrung, dann Brutoder Nistmöglichkeiten und zuletzt mögliche Sexualpartner. Der letzte Punkt, das Thema sexual selection, wurde von uns bereits ausführlich behandelt. Allerdings haben wir bisher einen Faktor ausgelassen: den Mitbewerber. Man(n) kann noch so gut trainiert und materiell noch so gut ausgestattet sein – immer wird sich jemand finden, der Gleiches oder Besseres zu bieten hat. So wählte Heidi Klum, erfolgreiches Unterwäschemodell und Entertainerin, in rascher Folge die unterschiedlichsten Partner aus der Welt des oberflächlichen Glamours: Da genügte zunächst, als der Name Heidi Klum noch nicht in aller Munde war, der Starfriseur Ric Pipino, der allerdings bald dem höherrangigen Konkurrenten Flavio Briatore  weichen musste. Vermutlich wegen des besseren genetischen Materials wurde der italienische Formel-1-Manager von dem muskulösen und gut gebauten Schmusesänger Seal abgelöst. Es folgte Vito Schnabel, der junge Galerist mit dem intellektuellen Anstrich, und aktuell ist es der Sänger einer ehemaligen Boy-Group, Tom Kaulitz, den die inzwischen berühmte, reiche und unabhängige Frau an ihrer Seite haben will. Aus Sicht der paarungswilligen Männchen ist das ein harter Wettbewerb, den nur jeweils eines (und zwar immer ein junges mit vermutlich guter Spermienqualität) gewinnen kann. Weniger gazettentauglich, aber ebenso aufreibend ist ein solcher Wettbewerb für die Eltern einer Schönen, wenn die jugendlichen männlichen Bewerber in Rudeln um das Haus streichen, um bei der Angebeteten zu punkten. Nach einer Zeit des Testens und Abwägens wird nur einer das Rennen machen, und die Abgewiesenen werden ihrem Liebeskummer, d. h. dem niedrigen Dopaminspiegel plus den bekannten Stresshormonen, überlassen, bis sich ein neues Liebesobjekt findet. Wir müssen nicht unbedingt, können uns aber an dieser Stelle noch einmal auf das Feld der Oper begeben, um die Angelegenheit weiter zu beleuchten: In Verdis „Troubadour“ kämpfen zwei Brüder, die allerdings von ihrer Verwandtschaft und damit den gemeinsamen Genen nichts wissen, um eine schöne Frau, Leonora. Die Geschichte endet natürlich opernspezifisch, d. h. unglücklich mit einem Mord: Da Graf Luna die Liebe Leonoras im freien Wettbewerb nicht erringen kann, lässt er den Nebenbuhler hinrichten. Im Alltag spielen sich dergleichen Dramen kaum bei Orchesterklängen ab, sind aber nicht weniger bedrohlich und enden, ganz operesk, oft tödlich:

5  Genegoismus und Aggression     91

„Nach einer Bluttat aus Eifersucht stehen zwei Syrer seit Dienstag wegen gemeinschaftlichen Mordes vor dem Aachener Landgericht. Hauptangeklagter ist ein 33-Jähriger Mann, der den neuen Freund seiner früherer Partnerin erstochen haben soll. Zuvor soll er bereits eine handfeste Auseinandersetzung mit dem Nebenbuhler gehabt haben. Daraufhin habe der 33-Jährige mit einem 21 Jahre alten Komplizen ein Mordkomplott gegen einen Landsmann geschmiedet. Der 33-Jährige habe seine frühere Freundin wiedergewinnen wollen. Nachdem ihn Bewohner in das Mehrfamilienhaus gelassen hätten, habe der Angeklagte seinem Nebenbuhler aufgelauert und den Mann beim Nachhausekommen niedergestochen.“ (dpa 2018)

Auf solche und ähnliche Nachrichten wird der geneigte Leser bei ausreichendem Interesse an blutrünstigen Geschichten beinahe täglich in den Medien stoßen. Nicht nur Kurfürst Georg Ludwig, der spätere Georg I., schaffte seinen unliebsamen Nebenbuhler durch Mord aus dem Wege, sondern auch ein Mann ohne Titel und Vermögen kann höchst aggressiv reagieren, wenn ihm sein Weibchen ausgespannt wird. Darwins Wettbewerb um Sexualpartner, die sexuelle Selektion also, ist beim Menschen für die konkurrierenden Männchen kaum weniger gefährlich als beim Löwen und wird nur durch drohende Sanktionen in gesellschaftlich akzeptablen Grenzen gehalten. Wie bemerkte bereits der große englische Philosoph der Aufklärung, Thomas Hobbes (1651), in seinem Leviathan ganz richtig? Ohne die ordnende Hand des Staates befände sich die Menschheit in einem ständigen Krieg aller gegen alle („warre of every one against every one“ (Kap. 14) bzw. „a warre […] of every man against every man“ (Kap. 13 und 14)). Die Ursache für diesen Kampf aller gegen alle ist der Wettbewerb um die begehrten Weibchen, und hier geht es um alles; in letzter Konsequenz auch um Leben oder Tod. Der überlegene Löwe zum Beispiel wird den unterlegenen Gegner nur deshalb nicht totbeißen, weil dieser rechtzeitig aufgibt und das durch entsprechende Demutsgesten signalisiert. Hier entpuppt sich der überlegene Löwe als ein cleverer Kosten-Nutzen-Rechner. Warum sollte er weitere Kräfte in einem Kampf verschwenden, der bereits entschieden ist, und damit seine eigenen Kraftreserven vermindern, die er vielleicht in einer weiteren Auseinandersetzung nötig braucht? Mitleid mit dem Unterlegenen hat der Sieger nicht. Konrad Lorenz’ (1963) angebliche Kommentkämpfe (Kap. 2) sind also letztlich nichts anderes als das Ergebnis kühler Risikoabwägung. Dies bedeutet jedoch, dass ein Männchen, z. B. der Löwe, einen Gegner gnadenlos töten würde, wenn dies ohne Restrisiko bzw. ohne Kosten für ihn selbst möglich wäre.

92     I. Wunn

Es wundert daher nicht, wenn auch das Säugetier Mensch entsprechend brutale Verhaltensweisen zeigt. Der Welfen-Kurfürst Georg Ludwig hatte als Herrscher keinerlei Verfolgung durch eine unabhängige Justiz zu befürchten, als er seinen Nebenbuhler ermorden und beiseiteschaffen ließ – also tat er es! Auch Großmogul Aurangzeb, devoter, ja fast fanatischer Muslim, ließ trotz seiner Religiosität seine Brüder ermorden und seinen Vater einkerkern, auch wenn er einen erheblichen Anteil der Gene mit Brüdern und Vater teilte. Hier lockte nicht nur die Macht, sondern darüber hinaus der Zugriff auf einen großen Harem! Kämpfer des IS machten Frauen aus der Religionsgemeinschaft der Jesiden zu ihren Sexsklavinnen und ermordeten zuvor nicht nur die tatsächlichen oder potenziellen Ehemänner, sondern alle Angehörigen dieser Religionsgemeinschaft, die nicht zur Sklavin taugten. Auch Menschen sind also in letzter Konsequenz nichts weiter als Kosten-NutzenRechner: Wenn immer es einem Menschenmännchen möglich ist, ohne Risiko für sich selbst einen Nebenbuhler und/oder Konkurrenten aus dem Wege zu schaffen, wird er das tun! Dass der Mensch als Überlebensmaschine seiner egoistischen Gene jederzeit bereit ist, Mitmenschen durch Mord aus dem Wege zu schaffen, wenn er keine Sanktionen zu fürchten hat, zeigt das Thema Völkermord (Goldhagen 2009): Im Osmanischen Reich wurden in den Jahren 1915 und 1916 die Armenier Opfer eines systematischen Genozids mit bis zu 1,5 Mio. geschätzten Opfern. In Ruanda entledigten sich 1994 die Hutu der konkurrierenden Tutsi mithilfe brutaler Mordattacken; auch hier verloren mindestens 800.000 Menschen ihr Leben. Zuletzt löste 1995 das Massaker von Srebrenica im Zuge des Bosnienkrieges weltweites Entsetzen aus, als 8000 männliche Bosnier von Serben regelrecht hingerichtet wurden. Gerade hier wurde die Rolle des egoistischen Gens in furchtbarer Weise deutlich: Männer ermordeten andere, geschlechtsreife Männer, also die Konkurrenten um weibliche Sexualpartner. Diese griff man sich dann auch sogleich: Die Frauen wurden vergewaltigt und auf diese Weise, genau wie in unserem biologischen Beispiel die Löwinnen, unfreiwillig Mütter von Kindern, die die Mörder ihrer Ehemänner, Brüder und Väter gezeugt hatten! Und das Volk der Denker und Dichter? Die Deutschen ermordeten zwischen 1933 und 1945 sechs Millionen potenzieller Konkurrenten um Ressourcen mit widerwärtigsten Mitteln, und weder in Deutschland selbst noch in der internationalen Völkergemeinschaft kam es zu großen Protesten. Denn was kümmert es ein egoistisches Gen, wenn die Nachbarsfamilie plötzlich abtransportiert und in ein Lager geschafft wird? In der Shoa konnte das egoistische Gen die allzu dünne Schicht von Ethik und Kultur mühelos sprengen, und es ging tatsächlich um einen Kampf um Ressourcen, denn die

5  Genegoismus und Aggression     93

„arischen“ Deutschen bereicherten sich hemmungslos an Eigentum und Vermögen der Ermordeten oder Vertriebenen.

Territorialität Nicht nur der direkte Mord am Nebenbuhler ist für das egoistische Gen die Methode der Wahl, um Konkurrenz auszuschalten. Viele Genozide hatten und haben mit Säuberungsaktionen, also mit Vertreibungen, zu tun. Man will dem Konkurrenten nicht nur den mating-Partner wegnehmen, sondern man will ihn auch aus der unmittelbaren Nähe vertreiben – es geht also um Territorien. Will heißen: Auch wenn der persönliche Nebenbuhler erfolgreich zur Strecke gebracht wurde, geht der Kampf ums Dasein weiter! Um nämlich die Nachkommen aus einer erfolgreichen Paarung optimal versorgen zu können, bedarf es eines geeigneten und angemessen großen Territoriums. Es wundert daher nicht, dass viele Tierarten, angefangen vom Insekt über Vögel und Säugetiere bis hin zum Menschen, ausgesprochen territorial sind.1 Ein erstes Beispiel stammt aus der Welt unserer gefiederten Freunde, die vor allem während der Brutzeit territorial sind. So vertreibt der Schwarzstorch durch Klappern, Flügelschlagen oder aggressives Anfliegen mögliche Konkurrenten aus seinem Revier. Auch der so hübsche kleine Eisvogel mit seinem blau schillernden Federkleid kann rabiat werden, wenn es um die Verteidigung seines Territoriums geht. Dann wird zunächst mit angelegtem Gefieder und geöffnetem Schnabel gedroht. Das Ganze kann sich bis zu regelrechten Drohduellen steigern, bei denen sich die Konkurrenten hoch aufgerichtet mit ausgenbreiteten Schwingen gegenübersitzen, und im schlimmsten Fall kommt es zum Kampf. Zuletzt sucht der Unterlegene das Weite, während der Sieger im erfolgreich verteidigten Territorium zurückbleibt. Hier geht es natürlich um Ressourcen, denn nur ein genügend großes Areal oder ein genügend langer, fischreicher Bachabschnitt garantieren genügend Nahrung für die erfolgreiche Aufzucht der nächsten Schwarzstorch- oder Eisvogelgeneration. Die Sieger im Wettbewerb um ideale Brut- und Wohngebiete kommen in den Genuss entscheidender Reproduktionsvorteile, und deshalb werden Reviere energisch gegen Eindringlinge verteidigt.

1Dieser

Abschnitt wurde fast wörtlich aus unserem Buch Götter, Gene, Genesis. Die Biologie der Religionsentstehung (Klein und Wunn 2015) übernommen.

94     I. Wunn

Aber nicht nur Vögel, auch unsere nahen Primatenverwandten, z. B. die Brazzameerkatze (Cercopithecus neglectus), die in Afrika weit verbreitet ist, zeigt ein ausgeprägtes Territorialverhalten. Brazzameerkatzen leben in lichten Laubwäldern, im tropischen Regenwald, in Akazien- und Galeriewäldern in kleinen Gruppen von bis zu zehn Tieren, die ihre Besitzansprüche an ihr bis zu 10 ha großes Territorium sehr deutlich kommunizieren. Dazu gehören das Markieren ihrer Umgebung mit Sekret aus einer Brustdrüse, Lärmen und visuelle Signale. Territorialität wird jedoch auch verbal kommuniziert: Ein tiefes Brummen macht auf die Verletzung einer Reviergrenze aufmerksam, wenn fremde Männchen versuchen, in das Revier einzudringen. Vor allem unsere nahen Verwandten, die Schimpansen, zeigen ein ausgeprägtes Territorialverhalten. Im Gombe-Stream-Nationalpark im Westen Tansanias kontrollieren Gruppen von umherschweifenden Männchen die Grenzen ihres Reviers, das sie jederzeit energisch verteidigen. Bei ihren Streifzügen zerstören sie Schlafnester von Tieren aus anderen Gruppen, wobei sie Droh- und Imponiergesten zeigen. Dieselben drohenden Gesten führen sie aus, wenn sie auf fremde Nachbarn treffen. Dann stoßen sie laute Rufe aus, schütteln Zweige, trommeln auf Baumstämme und werfen Steine nach den Eindringlingen. Diese sind gut beraten, sich rasch zurückzuziehen, wenn sie nicht Opfer eines Angriffs werden wollen. Wird bei solchen Attacken ein Junges von seiner Mutter getrennt, droht ihm ein grausiges Schicksal: Es wird ermordet und gefressen. Dabei sind die Grenzen von Territorien variabel. Die Verhaltensbiologie beschreibt einen sogenannten Schimpfbereich, in dem bevorzugt Drohverhalten gegen den Nachbarn gezeigt wird. Dieses etablierte Schimpfverhalten dient der Abschätzung der Stärke des Gegners und der zu erwartenden Gegenwehr mit dem Resultat, dass die möglicherweise stärkere Gruppe ihr Revier auf Kosten der schwächeren Gruppe ausdehnt. Genau so einen Überfall auf eine als schwächer eingeschätzte Nachbargruppe schildert Jane Goodall (1990) unter der Kapitelüberschrift „Krieg“. Die benachbarte Gruppe wurde überfallen, ihre Mitglieder so schwer verletzt, dass einige starben, und zuletzt aus ihrem Territorium vertrieben. Von Fairness kann in einem solchen Kampf keine Rede sein, denn auch Babys stehen auf der Opferliste. Es ist daher nicht weiter erstaunlich, dass bei genauem Hinsehen auch die angeblich so friedlichen Jäger-und-Sammlervölker keinen Spaß verstehen, wenn es um die Sicherung ihrer Grenzen geht: Untersuchungen von Ethnologen bestätigen, dass man auch hier zu Gewalt greift, wenn die Grenzen der eigenen und für die Versorgung des Nachwuchses bitter nötigen Territorien verletzt werden. Das gilt selbst für einen so extrem dünn besiedelten Teil

5  Genegoismus und Aggression     95

unserer Welt wie die Arktis. Eskimo begeben sich in Lebensgefahr, wenn sie in das Jagdrevier eines Gruppenfremden geraten. Selbst die Buschleute der Kalahari verteidigen ihr Sippengebiet, vor allem die Bereiche, in denen die für sie so wichtigen wildwachsenden Nahrungspflanzen gedeihen. Wollen oder müssen Angehörige einer fremden Gruppe kurzzeitig ihr Lager aufschlagen, müssen sie formal um Erlaubnis fragen. Die Kolonialgeschichte Afrikas zeigt, dass ein solch aggressives Territorialverhalten durchaus sinnvoll ist und das stets fragile Überleben einer Gruppe oder eines Volkes sichern kann. Als nämlich die Buren auf der Suche nach neuem Farmland in den 1830er Jahren im südlichen Afrika in den Bereich der Drakensberge bzw. Maluti Mountains gerieten und sich dieses Gebiet nach Schimpansenart (durch Ermordung, Vertreibung und Versklavung der bisherigen Landeigentümer) unter den Nagel reißen wollten, stießen sie auf erbitterten Widerstand: Die Bewohner des Gebirges nutzten ihre vorteilhafte Position, beschossen die Eindringlinge aus ihren Felsnestern heraus und blieben durch diese Gegenwehr und anschließende kluge Politik letztlich frei. Bis heute ist dieses Land, das Königreich Lesotho, ein unabhängiger Staat! Die genannten Beispiele machen die Frage, was denn das egoistische Gen mit all dem zu tun hat, überflüssig. Nur ein ausreichend großes Territorium garantiert ausreichende Nahrungsressourcen, um sich selbst und die eigene Brut zu versorgen und damit den egoistischen Genen auch weiterhin die erfolgreiche Reproduktion zu ermöglichen. Nicht nur unsere Primatenverwandten, nicht nur Wildbeutervölker (Völker, die ausschließlich vom Sammeln und Jagen leben und weder Ackerbau noch Viehzucht kennen), sondern auch wir selbst sind nicht nur in Kriegszeiten, sondern auch im ganz normalen Alltag territorial. Bekanntermaßen entstehen erbitterte Fehden, wenn Nachbarn das Gefühl haben, ihre Grundstücksgrenze werde nicht respektiert. Auslöser eines solchen Konfliktes kann das Laub sein, das von Nachbars Baum auf den eigenen Rasen fällt, oder die eigentlich völlig belanglose Angewohnheit übel beratener Individuen, in Nachbars Einfahrt zu wenden. Gäbe es hier nicht die regulierende Gewalt des Staates, würden solche Grenzverletzungen wohl häufig zu körperlicher Gewaltanwendung mit fatalen Folgen führen. Territorialverhalten ist jedoch nicht nur im privaten zwischenmenschlichen Bereich ein Problem, sondern auch, wenn größere Einheiten, z. B. Staaten, betroffen sind. Es braucht sich nur ein Wir-Gefühl einzustellen, z. B. „wir“ als „die Deutschen“, um als Gruppe den Versuch zu unternehmen, territoriale Ansprüche gegen konkurrierende Homo sapiensGruppen durchzusetzen. Um beim genannten Beispiel, den Deutschen,

96     I. Wunn

zu bleiben: Während des Nationalsozialismus (1933–1945) definierten sich die Deutschen als Volksgemeinschaft, d. h. als so etwas wie eine große Familie von Menschen gemeinsamer Abstammung, Sprache und Kultur, und suggerierten damit das Vorhandensein gemeinsamer Gene im Sinne von Verwandtenselektion (kin selection). Jeder Deutsche, der bereit war, für „sein Volk“, ideologisch so etwas wie die erweiterte Familie mit überlegenem genetischen Material, einzustehen und als Individuum zurückzustecken, war damit im biologischen Sinne so etwas wie der Helfer am Nest bestimmter Vogelarten. Nachdem dieses Gemeinschafts- und Familiengefühl erst einmal etabliert war, war es leicht, diese Volks-Familie als natürlichen Konkurrenten anderer Gruppen darzustellen. Gegen diese konkurrierenden Gruppen mit ihren konkurrierenden egoistischen Genen musste man sich durchsetzen, und dazu gehörte der Kampf um Territorien! Eine verhängnisvolle Buchveröffentlichung unter dem bezeichnenden Titel Volk ohne Raum (Grimm 1926) war dann nur noch die ideologische Verbrämung dessen, was nichts anderes als ein Rückfall auf das Niveau unbarmherzig herrschender egoistischer Gene war. Wenn diese egoistischen Gene der Gattung Homo im Verlauf unserer Stammesgeschichte zunächst einmal durchaus gut daran taten, ihre Überlebensmaschinen zu territorialen Wesen zu programmieren, um nämlich den Nachwuchs mit ausreichenden Ressourcen auszustatten, ist diese Eigenschaft in der heutigen Zeit nur noch begrenzt sinnvoll. Die meisten Menschen streifen nicht mehr auf der Suche nach Nahrung oder einem Unterschlupf durch riesige Reviere oder benötigen geeignete Felder, um im Schweiße ihres Angesichts Emmer, Sorghum, Reis oder Mais anzupflanzen.2 Im Gegenteil, wir leben in einer globalisierten Welt, in der nur eins zählt: Wissen! Um über dieses Wissen verfügen zu können, bedarf es vor allem brillanter Gehirne und wissenschaftlich-technischen Knowhows. Territoriale Auseinandersetzungen müssten sich also eigentlich erübrigen. Die brutalen Fakten sprechen jedoch eine andere Sprache, denn die Überlebensmaschine Mensch ist von ihren egoistischen Genen so programmiert, dass Territorialität auch da eine Rolle spielt, wo sie nicht nur sinnlos, sondern sogar schädlich ist.

2Ich verkürze hier inhaltlich. Gerade hinsichtlich der Frage der Ernährung einer exponentiell wachsenden Bevölkerung spielen landwirtschaftliche Nutzflächen eine enorme Rolle. Daher bemächtigen sich clevere Staaten wie China oder Saudi-Arabien über Verträge mit armen Ländern deren landwirtschaftlicher Nutzflächen, auf denen sie Getreide für die eigene Bevölkerung anbauen – Stichwort „Land Grabbing“.

5  Genegoismus und Aggression     97

Nehmen wir das Beispiel Israel: Premier Netanjahu, Spitzenkandidat des konservativen Likud-Blocks, kündigte am 7. April 2019 an, im Falle eines Wahlsieges die illegalen Siedlungen jüdischer Siedler auf der Westbank dem israelischen Territorium einverleiben zu wollen. Ein solcher Akt, der inzwischen von Seiten der USA als legitim anerkannt wird, wird dem technologie- und elektronikaffinen Staat Israel auf lange Sicht keinerlei Vorteil bringen, sondern im Gegenteil zu Protesten und Gewaltausbrüchen auf Seiten der Palästinenser führen und damit vermutlich Menschenleben auf beiden Seiten kosten. Den Vorteil hat lediglich der kandidierende Politiker, der, nur um die Wahlen zu gewinnen und einer Anklage wegen Bestechlichkeit zu entgehen (als Premierminister genießt er Immunität), den Territorialinstinkt der Wähler anspricht. Auch ein weiteres, dem Leser bereits wohlbekanntes keimdrüsengesteuertes Alphamännchen, Donald Trump, arbeitet mit der Territorialität möglicher Unterstützer oder ist hier ein Opfer seiner eigenen genetisch fixierten Instinkte: Er empfindet die illegale Einwanderung von ressourcensuchenden Mittelamerikanern als Verletzung des eigenen Territoriums und möchte das durch den Bau einer Mauer verhindern. Die zu diesem Thema öffentlich gehaltenen Reden einschließlich der Androhung von Gegenmaßnahmen entsprechen genau dem Verhalten der Schimpansen im sogenannten Schimpfbereich – der potenzielle Verletzer territorialer Grenzen, hier also der mittelamerikanische Flüchtling, soll die Stärke und Entschlossenheit des bisherigen Revierinhabers spüren. In Deutschland sind die Proteste von Pegida, AfD und ähnlichen Gruppen mit ihrer Sorge vor sogenannter Überfremdung auch nichts anderes als der ungefilterte Ausbruch territorialer Instinkte, und in Großbritannien hat die Furcht vor Einwanderung aus östlichen EU-Ländern und damit Verletzung der territorialen Grenzen sogar zum Brexit (dem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union) geführt – ungeachtet des vorhersehbaren wirtschaftlichen Schadens, den dieser rein emotional motivierte Akt anrichten wird. Fazit: Sollte also bereits an dieser Stelle jemand nach dem Weltbeherrschungsfaktor schielen, sei ihm angeraten, die Territorialität seiner Mitmenschen trotz ihrer heutigen Sinnlosigkeit unbedingt zu berücksichtigen!

98     I. Wunn

Rangordnung – die Hierarchie innerhalb der Gruppe Nicht nur Territorialität, sondern auch die Tendenz, soziale Hierarchien zu bilden, ist das Resultat der Wirkungsweise egoistischer Gene. Dazu noch einmal ein kurzer Blick auf das Tierreich: Bei den Löwen findet zwischen den Männchen ein regelrechter Kampf um das Rudel statt: Ein Löwenmännchen muss sich ein Rudel erobern, d. h. gegen einen bisherigen Rudelchef antreten und ihn im Kampf besiegen. Dann wird er das Rudel übernehmen, bis ihm ein konkurrierendes Männchen seinen Platz streitig macht. Gleiches gilt für Hirsche oder Büffel, die ihre Herde erkämpfen und diesen Besitz verteidigen müssen. Aber längst nicht alle Tierarten haben ihr Zusammenleben einschließlich der Fortpflanzungsmodi auf diese Weise geregelt, sondern leben stattdessen als Einzelgänger (wie z. B. der Tiger) oder aber in gemischten Gruppen aus mehreren Männchen und Weibchen. Charakteristisch für diese gemischten Gruppen ist nun, dass nicht jedes Individuum in seiner Gruppe die gleiche Stellung bekleidet, sondern dass es ganz offensichtlich Hierarchien gibt. Um das Gemeinte näher zu beleuchten, lassen wir wieder Jane Goodall zu Wort kommen: „Nine minutes after he had first moved, Goblin abruptly sat up and, almost at once, left his nest and began to leap wildly through the tree, vigorously swaying the branches […] The early morning peace was shattered by frenzied grunts and screams as Goblin’s subordinates voiced their respect or fear.“3 (Goodall 1990, S. 2)

Goblin, ein männlicher Schimpanse in Tansanias berühmtem SchimpansenNationalpark Gombe, nimmt unter den Seinen offensichtlich eine besondere Stellung ein. Während sich ihm einige bevorzugte Männchen und Weibchen, wenn auch mit gebotener Vorsicht, nähern, zeigen andere alle Anzeichen von Furcht, und dies berechtigterweise, denn Goblin hat keinerlei Hemmungen, ihnen gegenüber aggressiv aufzutreten. Goblin ist also so etwas wie der Chef der Gruppe, dem sich alle Gruppenmitglieder

3Übersetzung: („Neun Minuten nach seiner ersten Bewegung setzte sich Goblin abrupt auf, verließ unmittelbar darauf sein Nest und begann wie ein Wilder durch die Bäume zu springen, wobei er die Äste mit aller Kraft schüttelte […] Der Frieden des Morgens wurde zunichte gemacht durch hektischen Grunzlaute und Schreie, mit denen Goblins Untergebene ihren Respekt und ihre Angst zum Ausdruck brachten.“

5  Genegoismus und Aggression     99

bereitwillig unterordnen. Als mächtigstes Männchen hat er manchen Vorteil: den bevorzugten Zugang zu den gerade empfängnisbereiten Weibchen und den ersten Zugriff auf das beste Futter. Auf der anderen Seite bringt seine Stellung auch Verpflichtungen mit sich. Er führt die Gruppe zu Futter- und Rastplätzen, er beschützt seine Gruppenmitglieder und schlichtet Streitigkeiten. So berichtet Jane Goodall, dass Goblin ein Schimpansenjunges vor der berechtigten Wut eines Pavians beschützte, den eben dieses Junge geneckt hatte. Als der jugendliche Delinquent aber nach der Rettungsaktion den Pavian noch einmal ärgerte, handelte er sich vom Gruppenchef eine Backpfeife ein. Eine herausragende Stellung bedeutet also keineswegs nur Vorrechte, sondern auch Verpflichtungen bis hin zur besonderen Exponiertheit bei möglichen Kämpfen. Dies gilt keineswegs nur für Primaten oder auch nur Säugetiere, sondern ebenso für ganz andere Tierklassen, zum Beispiel Vögel. Hier erzählte mir ein guter Freund, leidenschaftlicher Naturliebhaber und exzellenter Kenner der Vogelwelt, folgende Geschichte: Er hatte sich mit seinen Kindern für einen Kurzurlaub auf einem Biohof eingemietet, auf dem unter anderem auch etliche Hühner nach alter Väter Sitte freilaufend gehalten wurden. Tagsüber pickten sie im Bauerngarten und auf der Wiese nach Würmern und Samen; abends spazierten sie in ihr Hühnerhaus und verbrachten dort, auf der Stange sitzend, die Nacht. Es gab eine ganze Reihe weiblicher Hühner und zwei Hähne, einen jüngeren und einen älteren. Der ältere Hahn war der Herr im Hühnerhof, der sämtliche Hühner begattete. Der Jüngere lebte gezwungenermaßen zölibatär, da er dem älteren körperlich unterlegen war und sich daher sexuell zurückhalten musste. Der Bauer hatte ihn angeschafft, um dem älteren Hahn Beine zu machen. Auch bei Hühnern, so meinte der Bauer, belebt nämlich Konkurrenz das Geschäft. Nun kam eines Nachts der Fuchs in den Hühnerstall und begann, ein Blutbad unter den Hennen anzurichten. Der alte Hahn, ein gewiefter Kämpfer, verteidigte seine Hennen. Immer wieder flog er den Fuchs an, rammte ihm den Sporn in das Fell und hackte mit dem gefährlich scharfen Schnabel. Letztlich gelang es ihm, den Fuchs in die Flucht zu schlagen und damit den Blutzoll unter den Hennen in Grenzen zu halten. Er selbst hatte aber auch etliche Blessuren davongetragen und ging aus dem Kampf geschwächt hervor. Der junge Hahn, der sich im Kampf gegen den Fuchs keineswegs hervorgetan hatte, nutzte nun die Gelegenheit, stürzte sich auf den geschwächten alten Hahn und pickte ihn tot. Diese Geschichte ist keineswegs nur von anekdotischem Wert, sondern kennzeichnet das Verhalten von Hühnern – und die Rolle egoistischer Gene. Der alte Hahn nahm in der Hackordnung die höchste Stellung ein. Damit

100     I. Wunn

besaß er das Vorrecht, alle Hennen zu begatten, und tat dies auch. Andererseits war mit dem Vorrecht jedoch auch die Verpflichtung verbunden, sich um seine Hennen zu kümmern, ihnen die besten Futterstellen zu zeigen und sie im Zweifelsfall zu verteidigen. Genau dies, seine exponierte Stellung, kostete ihn letztlich das Leben. Die egoistischen Gene des jungen Hahnes wiederum sorgten dafür, dass dieser keineswegs dankbar dafür war, dass der ältere sein Fell, in diesem Falle seine Federn, zu Markte getragen hatte, sondern nutzte die gute Gelegenheit, sich einen überlegenen Konkurrenten vom Halse zu schaffen. Die Geschichte vom Fuchs im Hühnerstall steht hier nicht etwa nur, weil sie die Erbarmungslosigkeit im Kampf um die Vorherrschaft im Tierreich deutlich macht, sondern weil es gerade Beobachtungen am Haushuhn waren, die deutlich machten, dass es auch im Tierreich so etwas wie eine soziale Rangordnung gibt. Der norwegische Zoologe Thorleif SchjelderupEbbe (1894–1976) (1921) hatte nämlich bei seinen Untersuchungen am Haushuhn festgestellt, dass einige Individuen häufig von anderen Mitgliedern der Gruppe gehackt wurden, andere dagegen eifrig Schnabelhiebe austeilten, aber selbst kaum Opfer derartiger Aggressionen wurden. Aus der Zahl der Angriffe, die ein Tier erdulden musste, ließ sich dann eine regelrechte Hackordnung rekonstruieren, die zuverlässig Auskunft über den Rang eines jeden Tieres innerhalb der Gruppe gab. Das Alphatier der Gruppe, also das höchstrangige Tier, ist im Hühnerhof im Allgemeinen ein kräftiger, älterer Hahn, gefolgt von einigen ebenfalls älteren Hennen. Jüngere Hähne und Hennen müssen sich zunächst einmal mit einem niedrigeren Rang begnügen, bevor ihnen der Aufstieg innerhalb der Hühnergruppe gelingt. Bei wildlebenden Hühnern, die in überschaubaren Gruppen von 20 Individuen leben, ist die Rangordnung dagegen ererbt: Ranghohe Hühnermütter haben ranghohe Kinder. Die übrigen Hühner erkennen den Rang, den das Individuum einnimmt, offensichtlich an der Färbung oder an einer Zeichnung des Gefieders. Hinzu kommt die Einschätzung durch andere. Ist ein Huhn besonders kräftig oder wirkt es durchsetzungsfähig, werden sich ihm die kleineren oder schwächeren Hühner freiwillig unterordnen. Der individuelle Nutzen einer solchen Hackordnung für das Individuum ist die Tatsache, dass die Rangfolge beim Zugang zu Ressourcen nicht jedes Mal neu ausgekämpft werden muss. Im Gegenteil legen die Tiere innerhalb einer Gruppe fest, in welcher Reihenfolge die Individuen Zugang zu den Ressourcen wie Wasser, Futter oder Sexualpartnern haben. Dies spart auf längere Sicht hin Energie und verringert das Risiko von Verletzungen durch ständige Auseinandersetzungen.

5  Genegoismus und Aggression     101

Abb. 5.2  Jane Goodall mit einem Schimpansenbaby. (©Photoshot/picture alliance)

Ähnlich liegen die Verhältnisse bei unseren alten Bekannten, den Schimpansen aus dem Gombe-Stream-Nationalpark. Auch hier werden die Konflikte innerhalb der Gruppe auf ein Minimum reduziert, solange ein mächtiges Alphamännchen herrscht. Es greift bei Kämpfen zwischen anderen Männchen ein, schützt Weibchen vor Übergriffen und verhindert, dass rangniedrige Tiere drangsaliert werden. Dieser Nutzen einer stabilen Rangfolge wird vor allem deutlich, wenn sie fehlt, also in Zeiten eines Interregnums, wenn die Macht des bisherigen Alphas wackelt, sich von den konkurrierenden Männchen aber keines durchsetzen kann. Dann herrscht Chaos in der Gruppe; fast ständig finden Kämpfe zwischen irgendwelchen Männchen statt, der Schutz der Gruppe vor Leoparden oder feindlichen Pavianen ist wegen mangelnder Aufmerksamkeit nicht gewährleistet, und fruchtbare Weibchen können sich ihrer zahlreichen und aggressiven Verehrer nicht erwehren.

102     I. Wunn

Werfen wir also einen näheren Blick auf unsere Schimpansen und verfolgen dabei vor allem, wie ein Schimpansenmännchen zu Macht kommt (Abb. 5.2). Figan (der Name wurde unserem Helden vom Forscherteam um Jane Goodall gegeben) war einer der Sprösslinge der ranghohen Schimpansin Flo, die sich durch hervorragende Qualitäten als Mutter auszeichnete: Selbst gesellig, war sie mit ihren Kindern geduldig, spielte bereitwillig mit ihnen und ging generell liebevoll mit ihnen um. Ihr Einsatz wurde belohnt: Ihre Kinder wurden wichtige und allseits respektierte Mitglieder der Gruppe, während die Kinder weniger guter Mütter zeit ihres Lebens eine unbedeutende Randexistenz führten. Unabhängig von seinen optimalen Startbedingungen brachte Figan weitere Positiva ein: Er war ausgesprochen intelligent und hatte den entschiedenen Willen, in der Hierarchie der Männchen ganz oben zu stehen. Als erste Maßnahme auf dem Weg an die Spitze lernte er rasch, ein eindrucksvolles Display hinzulegen, d. h. mögliche Konkurrenten durch seine Größe und Stärke zu beeindrucken. Dazu gehörten die aufgestellten Haare, die seinen Umriss größer erscheinen ließen, als er tatsächlich war; dazu gehörte jedoch auch sein wildes Gebaren, wenn er in die Bäume sprang, Äste schüttelte und mit Steinen um sich warf und bei alldem einen enormen Lärm verursachte. Das ganze Theater diente dazu, mögliche Kombattanten bereits im Vorfeld so einzuschüchtern, dass ein tatsächlicher Wettkampf gar nicht mehr stattfinden musste. Natürlich vollführten seine Konkurrenten, vor allem aber auch sein Vorgänger als Alphamännchen, den gleichen geräuschvollen Auftritt, wobei der konkrete Vorgänger eben jenes Männchen war, das die Ölkanister als wunderbaren Lärmverstärker entdeckt und damit seine möglichen Konkurrenten vollkommen eingeschüchtert hatte. Nicht so Figan: Er beobachtete den bisherigen Alpha und schaute sich die Technik des Ölkanister-Displays an und übte sie anschließend so lange, bis er sie ebenfalls beherrschte. Es erübrigt sich zu betonen, dass diese Übungen nur in Abwesenheit des Gruppenchefs stattfanden! Sobald Figan alt genug war, begann er, die bestehende Hierarchie aufzurollen, indem er mithilfe seines Bruders, der aufgrund einer früheren Polioerkrankung keine Chance auf eine Alphastellung hatte, einen ebenfalls ambitionierten Konkurrenten in einem Kampf übel zurichtete. Dieser war damit in seinen Ambitionen geschwächt, aber noch nicht geschlagen. Auch war da ein weiteres starkes Männchen, an das sich Figan jedoch noch nicht heranwagte. Allerdings stellte er in einem nächsten Schritt die Herrschaftsansprüche des bisherigen Alphamännchens infrage, indem er dessen Displays zu missachten begann. All dies zeigte, dass die bisherige Hierarchie

5  Genegoismus und Aggression     103

wackelte und sich bald etwas ändern würde. Das ambitionierte starke Männchen, eben jenes, an das sich unser Held noch nicht herangewagt hatte, war es letztlich, das den bisherigen Alpha, den bereits erwähnten Mike (Kap. 2), unversehens aus dem Nichts überfiel, übel zurichtete, vertrieb und seine Stellung einnahm. Der entthronte Mike rückte durch diese Niederlage nicht etwa nur ein Stückchen weiter in der Hierarchie nach unten, sondern fiel quasi ins Bodenlose – er wurde über Nacht vom leitenden Männchen zu einer der bedeutungslosen Randfiguren der Gruppe. Ich erwähne diese Tatsache keineswegs, um hier intensiv in die Schimpansenmentalität einzudringen, sondern weil gerade diese Tatsache ihre überdeutlichen, wenn auch wenig beachteten Parallelen in der Menschenwelt findet! Zurück zu Figan: Nicht er, sondern sein gleichaltriger, d. h. junger und starker Konkurrent war nun das Alphamännchen der Gruppe. Allerdings fehlten dem Aggressor entscheidende Eigenschaften zum anerkannten Gruppenchef. Er war zwar stark, aber mehr im Sinne eines lärmenden Tyrannen (Trump?). Für eine solide Herrschaft fehlten ihm Intelligenz und wirklicher Mut, vor allem aber Unterstützer. Figan, weit entfernt, seine Ambitionen aufzugeben, mied den Usurpator so lange, bis er Alliierte fand, mit deren Hilfe er dem Feind und jenem anderen ambitionierten Männchen eine Niederlage beibringen konnte. Letztlich war es wieder der Bruder, der zwar in die entscheidenden Kämpfe zwischen den Rivalen nicht jedes Mal direkt eingriff, aber bereitsaß, im entscheidenden Moment seine Körperkraft für sein Geschwister in den Ring zu werfen. Figan hatte also seinen Aufstieg zur Macht perfekt geplant. Er hatte einen zuverlässigen, aber für ihn selbst ungefährlichen Alliierten an seiner Seite (der zwar selbst nie einen hohen Rang bekleidete, aber als Bruder und Gefährte des Gruppenchefs von allen mit großem Respekt behandelt wurde), er beherrschte ein grandioses Display, er hielt sich so lange im Hintergrund, bis ein Aufstieg möglich war. Er ließ den starken Vorgänger von einem zweitklassigen Konkurrenten entthronen, erschütterte dann dessen Macht durch kleinere Auseinandersetzungen und rollte zuletzt das Feld möglicher Konkurrenten Schritt für Schritt auf. Damit dürfte das Thema Ranking bei Schimpansen für unsere Zwecke ausreichend beleuchtet worden sein. Es bleibt nur noch eine Kleinigkeit nachzutragen. Auch Figan wurde irgendwann entthront, und zwar letztlich von einem Männchen, welches während seiner Adoleszenz der uneingeschränkte Bewunderer unseres Alphas gewesen war und ihm wie ein Schatten auf Schritt und Tritt folgte, nämlich eben jener bereits erwähnte Goblin. Figan tolerierte den Kleinen in seiner Umgebung, der sich bald allerhand Freiheiten erlaubte. So begattete er in Momenten von Figans

104     I. Wunn

Unaufmerksamkeit erstaunlich oft die fertilen Weibchen, die dieser sich für den Liebesakt vorbehalten hatte und deren Besitz er ansonsten energisch verteidigte. Wir ziehen ein Zwischenfazit: Ranking, also das Etablieren einer Hackordnung, nutzt zunächst dem Alphatier selbst, denn es hat den bevorzugten Zugriff auf den interessantesten Sexualpartner, mit dem seine egoistischen Gene optimal kombiniert werden können. Die Gruppe akzeptiert eine solche Rangordnung, weil dadurch, ganz im Sinne von Thomas Hobbes’ (1651) Begründung staatlicher Macht, ständige Auseinandersetzungen um Ressourcen verhindert werden. Die Reihenfolge des Zugriffs auf Sexualpartner, Futter- und Nistplätze ist klar: Das Alphatier kommt zuerst, dann sind weitere Individuen entsprechend ihrem Rang an der Reihe. Auch für sie fallen immer noch ausreichend viele Sexualkontakte ab, und auch für Futterund Rastplätze ist gesorgt. Allerdings kennt diese Regel Ausnahmen: Diejenigen Individuen, die mit dem Alphatier in einer engen Beziehung stehen, haben Vorteile, und auch besonders mutige, pfiffige oder dreiste Gruppenmitglieder können sich immer wieder einmal einen Sexualkontakt oder einen Leckerbissen erschleichen. Den Vorteilen, die ein Alphatier genießt, stehen jedoch wesentliche Nachteile entgegen: Der Aufstieg zum Alphatier ist schwierig, kräfteverschleißend und riskant. Einmal geschlagen und entthront, droht ein Fall ins Bodenlose. Nicht jedes Individuum will sich daher der Mühe der Rangkämpfe unterziehen. Manch starkes Männchen gibt sich lieber mit einer Rolle an der Peripherie des Geschehens zufrieden, denn auch dann werden sich immer noch paarungswillige Weibchen und halbwegs ergiebige Futterstellen finden lassen.

Ranking, eine Anekdote und die Politik Der direkte Vergleich zwischen Schimpansen und Menschen ist immer ein Wagnis, auch wenn es sich bei beiden um nahe verwandte Arten handelt, deren Verhalten durch einen jahrtausendelangen gleichgerichteten Selektionsdruck geprägt wurde. Erhellend ist trotz aller Schwachstellen ein solcher Vergleich allemal. Naheliegend ist vielleicht wegen der Überschaubarkeit der Gruppe ein Blick auf eine Klassengemeinschaft in einer Schule; der Einfachheit halber meiner Schule, die ich von der 10. bis zur 13. Klasse besuchte und die bis dato ein reines Knabengymnasium gewesen war. Dementsprechend waren die Klassen hinsichtlich des Geschlechterverhältnisses unausgewogen. In der Klasse, die ich hier als Beispiel anführen möchte, kamen auf 41 Knaben

5  Genegoismus und Aggression     105

vier Mädchen, deren Rolle im sozialen Miteinander innerhalb der Klasse wir für die Zeit der sogenannten Mittelstufe zunächst einmal außer Acht lassen können. Die männlichen Jugendlichen waren nämlich fast ausschließlich damit beschäftigt, ihre Rangfolge untereinander zu klären. Dabei hatte man das Stadium der direkten Raufereien inzwischen hinter sich gelassen und bediente sich stattdessen subtilerer Mittel. Dazu gehörte in erster Linie die Leistung im Sport: Sportasse nahmen im Ranking mühelos die oberen Positionen ein und signalisierten damit körperliche Überlegenheit. Dazu gehörten jedoch auch Angriffe auf die tatsächlichen Alphatiere, die par ordre du mufti über die Klasse herrschten, also die Lehrer. Ein Großteil der Energie der Schüler im Unterricht wurde darauf verwandt, die ausnahmslos männlichen Lehrer zu ärgern, hinters Licht zu führen oder ihnen Streiche zu spielen; alles natürlich mit dem Ziel, die Macht dieser Alphas zu erschüttern. Diejenigen unter den Kandidaten, die sich in Sachen Unverfrorenheit besonders hervortaten, waren dann auch die bewunderten Helden innerhalb der Klasse, also die Klassen-Alphatiere. Leider erreichten nur wenige dieser zeitweilig hochrangigen, adoleszenten Männchen das Abitur, weil sie dummerweise hinsichtlich des Rankings eine short-term-Strategie eingeschlagen hatten. Nicht alle Knaben ließen sich im Übrigen in die Falle von nur kurzzeitig erfolgreichen Rangauseinandersetzungen locken. Einer der Jugendlichen, an den ich mich noch sehr gut erinnere, war ein gewisser Bernd G., von allen nur der „Dicke G.“ genannt. Der Dicke G. muss wie Obelix aus dem gleichnamigen Cartoon als Kind in einen Zaubertrank gefallen sein, denn nicht nur seine Größe und sein Umfang waren beträchtlich, sondern er verfügte über geradezu übermenschliche Körperkräfte. Bereits in der 5. Klasse pflegte er lästige Mitschüler zu packen und an den damals noch üblichen Hosenträgern an die Garderobenhaken zu hängen, wo sie dann wie magere kleine Salamis baumelten. Auch einen der Lehrer, von den Schülern nicht ganz unberechtigterweise mit dem Spitznamen „Giftzwerg“ belegt, soll er glaubwürdigen Zeugen zufolge im Zuge einer kleineren Auseinandersetzung kurz und bündig auf den Klassenschrank gesetzt haben. Die beste Performance lieferte er jedoch, als er, inzwischen 15-jährig, auf seinem nächtlichen Heimweg vom Sport auf eine Gruppe kräftiger junger Männer stieß, die sich ebenso offensichtlich wie vergeblich bemühten, ein luxuriöses Auto zu öffnen und in Bewegung zu setzen. Der Dicke G., eigentlich gutmütig und hilfsbereit, war auch da gleich zur Stelle, bemerkte aber rasch, dass mit den Männern etwas nicht stimmte. Es handelte sich schlicht um Autodiebe am Werk. Der Dicke G., im Übrigen Träger eines blauen oder braunen Gürtels im Judo, streckte einen nieder und klemmte sich zwei

106     I. Wunn

unter den Arm, worauf zwei weitere die Flucht ergriffen. Als die inzwischen von Nachbarn herbeigerufene Polizei eintraf, staunten die Beamten nicht schlecht, als ein zugegebenermaßen großer und kräftiger 15-Jähriger ihnen drei Autoknacker fertig zum Abtransport lieferte. Jener Dicke G., der aufgrund seiner Körperkräfte und wegen seines fehlenden Respekts vor allen Höherrangigen jederzeit das Zeug zum Alphamännchen gehabt hätte, zeigte jedoch keinerlei Interesse an dieser Stellung. Er war zu allen freundlich und hilfsbereit, scharte aber keinen Kreis von Freunden und Unterstützern um sich, hatte kein Interesse daran, sich an Streichen zu beteiligen, und griff auch nicht in die klasseninternen Rangeleien und Streitereien ein. Er blieb auch als Erwachsener eine Randfigur; zwar allseits respektiert und geschätzt und vielleicht auch ein wenig gefürchtet, aber ohne Ambitionen auf eine Führungsposition. Der Dicke G. ist keine Ausnahme. Etliche Männer und auch etliche Schimpansenmännchen haben kein Interesse an einem hohen Rang, denn diese Stellung fällt ihnen nicht in den Schoß, sondern muss erkämpft und ständig verteidigt werden. Ein solcher Kampf ist aufwändig, mit hohen Risiken verbunden, und man muss die Spielregeln kennen. Wie ein solcher Kampf beim Menschen abläuft, zeigt das folgende Beispiel aus dem Bereich der Politik. Philipp Rösler (*1973), (Adoptiv-)Kind eines Bundeswehrsoldaten und einer Krankenschwester, war ohne Zweifel ambitioniert und trotz eines wenig beeindruckenden Körperbaus nicht bereit, sich mit einem bequemen Platz am unteren Ende der sozialen Hierarchie abzugeben. Nach dem Abitur entschloss er sich, Arzt zu werden, wobei er den damals sehr gesuchten, weil prestigeträchtigen Medizinstudienplatz nur auf dem Umweg über eine Stelle als Zeitsoldat bei der Bundeswehr ergattern konnte. (Bundeswehrsoldaten, die sich verpflichteten, nach erfolgreichem Medizinstudium als Stabsärzte zu arbeiten, wurden auch bei nicht exquisitem Abitur zum Studium zugelassen.) Gleichzeitig verfolgte er eine parallele Strategie, um aus der Anonymität ins Rampenlicht zu gelangen: Er engagierte sich politisch. Für einen aufstiegswilligen jungen Mann bot zur damaligen Zeit die FDP in Niedersachsen die richtige Plattform – die Partei war klein und galt, weil nicht im Landtag vertreten, als unattraktiv. Damit war auch die interne Konkurrenz nicht allzu groß; ein Aufstieg innerhalb einer solchen Partei war also machbar, vor allem, wenn man zunächst einmal eine Sparte für sich würde gewinnen können. Rösler trat also 1992 nicht nur in die FDP ein, sondern wurde gleichzeitig Mitglied der Jungen Liberalen, bei denen er es innerhalb von nur zwei Jahren zum Kreisvorsitzenden Hannover-Stadt und nach zwei weiteren Jahren zum Landesvorsitzenden brachte. ­Solcherart

5  Genegoismus und Aggression     107

im Mittelpunkt des Geschehens angelangt, fiel es ihm nicht schwer, mit den Stimmen der Jungen Liberalen zunächst Mitglied im Landesvorstand und dann Generalsekretär der FDP Niedersachsen zu werden. Während dieser Zeit als niedersächsischer Landespolitiker baute er seine Stellung systematisch aus. Bereits bei den Jungen Liberalen hatte sich Rösler mit einem Kreis von Freunden und Unterstützern umgeben, die ihn als ihren Alpha anerkannten und Willens waren, an seinem Aufstieg mitzuarbeiten; natürlich getreu der Erkenntnis, dass sie selbst nie in der Lage sein würden, für sich selbst einen hohen Rang innerhalb der Partei zu erkämpfen, dass sie aber als Gefolgsleute Röslers und mit ihm zusammen als Gruppe durchaus gute Chancen auf einen der oberen Plätze haben würden. Einen weiteren Unterstützer fand Rösler in dem bereits etwas abgenutzten FDP-Landespolitiker Walter Hirche, der nach dem üblichen Auf und Ab einer durchschnittlich erfolgreichen Laufbahn nach einem charismatischen Mann suchte, der in der Lage sein würde, ihn einstmals zu ersetzen – und damit natürlich auch seine eigene Stellung für ein paar weitere Jahre zu festigen. Röslers kometenhafter Aufstieg konnte also weitergehen. 2005 wurde er zunächst zum Beisitzer ins Präsidium der Bundespartei gewählt, ein Jahr später löste er in Niedersachsen Walter Hirche als Landesvorsitzenden ab. Für die Partei schien Rösler mit seinem Gefolge an jungen Männern die richtige Wahl zu sein: Nachdem die FDP bei den Landtagswahlen 1998 unter der Fünfprozenthürde geblieben und damit nicht mehr im Landtag vertreten war, konnte sie fünf Jahre später wieder in den Landtag einziehen, wobei es Rösler gelang, diesen Erfolg in den Augen der Öffentlichkeit zu seinem persönlichen Erfolg zu machen. Dieser Hype trug ihm zuletzt nicht nur einen Ministerposten im Kabinett Merkel ein, sondern spülte ihn auch 2011 auf den Sitz des Bundesparteivorsitzenden. Rösler hatte es geschafft: Er war das Alphatier seiner Partei! Der alte Alpha, Guido Westerwelle (1961–2016), war auf der Strecke geblieben. Er, der einen fulminanten Wahlkampf mit etwas zu vollmundigen Versprechen geführt und anschließend um des Koalitionsfriedens willen unglücklich taktiert hatte, wurde von Rösler in einem coup d’état entmachtet, seiner Stellung als Vizekanzler beraubt und verlor obendrein den Parteivorsitz. Das Drama, das für den armen Westerwelle wie ein Blitz aus heiterem Himmel kam (vergleiche Schimpanse Mike), hatte sich allerdings bereits mittelfristig angekündigt: Auf einer Feier zum 60-jährigen Bestehen der niedersächsischen FDP in Bückeburg war alles aufs Schönste vorbereitet, einschließlich eines erhöhten Ehrensitzes für den Bundesparteivorsitzenden. Die Verkehrsverhältnisse wollten es nun, dass Guido Westerwelle im Stau stecken blieb. Während die geladenen Gäste, darunter der damalige

108     I. Wunn

Abb. 5.3  Philipp Rösler, Guido Westerwelle und Christian Wulff (hier in Hannover 2009) – drei kurzfristig erfolgreiche, aber bald entthronte Alphamännchen, von denen letzteres, biologisch ganz konsequent, mit dem Verlust der Alphaposition auch sein fertiles Weibchen verlor. (© Tobias Kleinschmidt, dpa/picture alliance)

Landesparteivorsitzende Philipp Rösler, auf das Erscheinen des hohen Gastes warteten, setzte sich Rösler auf den Ehrensitz. Als Westerwelle erschien – durchaus mit fabelhaftem Display, sprich Entourage und entsprechendem Gelärme –, lächelte Rösler Westerwelle an und sagte: „Ich habe schon einmal den Chefsessel ausprobiert!“ Westerwelle reagierte damals humorlos, hatte aber wohl trotzdem nicht begriffen, dass hier ein bisheriges Betamännchen ein Display vor dem Alphamännchen hingelegt hatte, das jenes im entscheidenden Moment nicht toppen konnte! (Abb. 5.3) Wie man zum Alpha wird, ist nun klar! Wie beim Schimpansen gehören dazu die nötigen Ambitionen, Intelligenz, Entschlossenheit, Fleiß, eine große soziale Begabung (Kap. 14) und taktisches Vermögen. Alles das besaß und besitzt Rösler und mit ihm sein Vorgänger Westerwelle in hohem Maße. Rösler hatte jede Rede bis ins Detail, bis in die Betonung hinein vorbereitet und auswendig gelernt. (Dies ging so weit, dass er angeblich eine auf Englisch gelernte Rede nicht auf Deutsch halten konnte, als sich plötzlich herausstellte, dass das erwartete Publikum gar nicht englischsprachig war.) Er hatte für jedes Parteimitglied Zeit und einen freien Termin, so unbedeutend dieses Mitglied auch war. Er war Meister der Vertrauen schaffenden Geste, z. B. die leicht auf den Oberarm gelegte Hand, und er hörte jedem zu. In den inneren Kreis kam jedoch niemand, so gut er als politische Kraft und möglicher Fänger von Wählerstimmen auch sein mochte. Der innere Kreis war den Freunden und Weggefährten vorbehalten, die mit ihm aufstiegen und nur dadurch einflussreiche Posten bekleiden konnten, die sie ohne ihn niemals erlangt hätten. Allerdings wurden viele

5  Genegoismus und Aggression     109

von ihnen durch seinen Sturz mitgerissen und gingen ihrer einflussreichen Posten verlustig. Wie das Alphamännchen Mike in Gombe landete auch der gestürzte Alpha Rösler nicht irgendwo auf der Beta- oder Gammaebene der Rangstufenleiter, sondern fiel gleich ins Bodenlose; er verschwand im Niemandsland. Auf den eingangs geschilderten Empfängen sieht man ihn nicht mehr! Allenfalls die Rolle des Spaßmachers (Hofnarren) traut man ihm noch zu, wie zuletzt bei der Inauguration des Präsidenten der lokalen Medizinischen Hochschule! Ein Schicksal wie dieses bleibt natürlich nicht geheim, sondern spielt sich unter den Augen der Öffentlichkeit ab, und genau das ist das Prekäre an der Sache und letztlich der Grund für den kompletten Statusverlust. Sie erinnern sich an die Guppys? Einmal abgelehnt bedeutet komplett durchgefallen! So ist es mit Politikern auch. Genau aus diesem Grund zögerte das durchaus ehrgeizige und hinsichtlich seiner körperlichen Dimensionen an den Dicken G. erinnernde Beta- oder Gammamännchen Sigmar Gabriel den entscheidenden Kampf um die Alphaposition, d. h. Kanzlerschaft, immer wieder heraus. Wie Schimpanse Figan wartete er darauf, dass andere ambitionierte Männchen oder Weibchen die mächtigsten Gegner (in seinem Falle die Bundeskanzlerin Angela Merkel) aus dem Feld räumten, um dann im entscheidenden Moment zuzuschlagen. Leider wurde er inzwischen von den aktuellen Entwicklungen überholt und landete im politischen Nirgendwo (in diesem Falle im Harz), ohne jemals wirklich den Kampf um die Alphastellung riskiert zu haben.

Alpha im Angestelltenverhältnis Gerade die Tatsache, dass entthronte Alphamännchen gesellschaftlich quasi nicht mehr existent sind oder in die unteren Regionen der gesellschaftlichen Rangleiter abrutschen, wird von potenziellen oder tatsächlichen Alphamännchen nur ungenügend beachtet. Da ist zum Beispiel der brillante Wissenschaftler, der sich nicht nur durch die Ergebnisse seiner Forschungen auszeichnet, sondern mit seinen Entdeckungen auch im Wirtschaftsleben Erfolge zu verzeichnen hat. Außerdem ist er ein umgänglicher Mensch, witzig und unterhaltsam, und sein sozialer Ehrgeiz wird durch den sogenannten guten Ton so weit verbrämt, dass er im gesellschaftlichen Umgang kaum und sicher nicht unangenehm zu spüren ist. Jener kluge und weltgewandte Mann wird zu Recht Rektor einer bedeutenden Technischen Universität. Auch hier tummelt er sich. Er wirbt Forschungsgelder ein, er initiiert Kooperationen mit Universitäten, die an gleichen Fragen arbeiten,

110     I. Wunn

und er knüpft vor allen Dingen Beziehungen zur Wirtschaft an. Es vergeht keine Woche, in der unser Wissenschafts-Alpha nicht in der Zeitung steht, und das mit positivem Tenor. Er ist also unter den oberen Tausend der Landesebene angekommen; jeder kennt ihn, jeder grüßt ihn, und es gibt keine interessante Einladungsliste, auf der er nicht steht. Mit vielen illustren Persönlichkeiten steht er auch privat auf gutem Fuß. Da ist hier ein Essen mit einer Staatssekretärin, da eine Einladung in die Loge eines betuchten Fußballfans! Das Leben ist schön für den erfolgreichen und umgänglichen Mann! Nun, auf dem Höhepunkt des Erfolges, überlegt er sich, beruflich etwas kürzer zu treten. Keine mehrtägigen Dienstreisen mehr, keine langen und pointenlosen Sitzungen im Senat der Universität, keine Betteltouren mehr bei unwilligen, knauserigen Geldgebern! Stattdessen wieder eigene Forschungen und mehr Zeit für Privates, darunter auch die so sorgfältig gepflegten Freundschaften zu den Interessanteren der besagten oberen Tausend. Fazit: Unser sympathischer Rektor beschließt, seinen Vertrag nicht zu verlängern, obwohl die Universität eine solche Vertragsverlängerung angeboten hat. Und was passiert? Erstens: Die Universität verschwindet unter dem gesellschaftlich nicht ganz so geschmeidigen Nachfolger aus den Augen der Öffentlichkeit. Zweitens: Unser Wissenschafts-Alpha verschwindet über Nacht von allen Einladungslisten. Eröffnung der Kulturfestspiele? Der gesellschaftlich etwas orientierungslose Nachfolger ist eingeladen! Einladung in die Fußballloge? Ein zweitklassiger Landespolitiker sitzt drin! Abendessen mit der Staatssekretärin? Die muss mit ihrem Hund spazieren gehen, selbst als ein Wahldebakel sowohl den Minister als auch seine Staatssekretärin ihre Ämter kostet. Wenn unser Alphamännchen aus der Wissenschaft seine Stellung vielleicht verfrüht, aber immerhin freiwillig aufgegeben hat, sieht die Sache bei dem überregional bekannten Mediziner schon anders aus. Bereits während seiner Qualifikationsphase hatte er maßgebliche Veröffentlichungen verfasst und ist in der Fachwelt bekannt. Im klinischen Bereich leitet er erfolgreich als Chefarzt seine eigene Abteilung, und seine Patientinnen verehren ihn wie einen Gott! (Dies wundert uns nun nicht, denn es handelt sich eindeutig um ein Alphamännchen mit hervorragendem Einkommen und fabelhafter sozialer Stellung; kurz, immer noch das optimale Objekt für ein long-term mating. ) Immer wieder erscheint er mit klugen Statements oder Berichten über neueste, patientenrelevante Forschungen in den Medien. Kurz, der ausgesprochen gut aussehende Mann ist ein Star unter den Ärzten, dessen Gesellschaft gesucht ist und den man immer wieder bei wichtigen Events trifft. Nun aber nähert er sich der Altersgrenze, und auch wenn er für das gesamte Krankenhaus ein Zugpferd und

5  Genegoismus und Aggression     111

für seinen Arbeitgeber ein Riesengewinn war und immer noch ist, wird ihm jetzt bald beruflich die Stunde schlagen. Wenn er heute noch davon träumt, sich dann vermehrt seinen Forschungen widmen zu können, wird er feststellen, dass sich niemand mehr für Veröffentlichungen eines Mannes ohne Universitäts- oder Institutsanbindung interessiert, dass er zu Kongressen nur noch als zahlender Hörer und nicht mehr als geladener Keynote Speaker fahren wird und dass auch die nun bereits sattsam bekannten Empfänge bei den regionalen Honoratioren ohne ihn stattfinden werden. Ganz anders sieht es bei den Unternehmern aus. Hier gilt zwar ebenfalls nicht „einmal Alpha, immer Alpha“, denn auch hier gibt es nur einen, der im Vordergrund steht, und das ist der Mann mit der Macht, der eigentliche Strippenzieher. Ich erwähne das deshalb, weil natürlich von den großen Familienunternehmen die Rede ist, bei denen der bisherige Firmenchef (m/w) die Geschäfte an ein jüngeres Familienmitglied, den Sohn oder die Tochter, übertragen hat. Ist die jüngere Generation nur vorgeschoben oder darf sich unter der Ägide des weiterhin im Hintergrund wirkenden Vaters oder der Mutter zunächst einmal bewähren, ändert sich nichts im Ranking. Das ist nachvollziehbar, denn auch ein Alpha im Hintergrund bleibt ein Alpha. Die im Vordergrund agierende jüngere Generation oder der wendige Geschäftsführer mit den bommelchengeschmückten Loafern an den Füßen bringt es allenfalls bis zur Betaposition. Hat aber der ehemalige Firmenchef seine Firma tatsächlich in neue Hände übergeben, wird der neue Chef auch das neue Alphamännchen sein, vorausgesetzt, er hat die dafür notwendigen Eigenschaften. Längst nicht alle Nachfolger tüchtiger Mütter und Väter haben das! Und ungleich den wilden Hühnern lässt sich bei den Menschen eine Alphastellung nicht ohne Weiteres vererben. Zwar hilft eine gute Startposition außerordentlich, aber ob man tatsächlich unter den Reichen und Schönen eine herausragende Stellung einnimmt, ist immer auch noch eine Frage des persönlichen Agierens – siehe Schimpanse Figan! Die ehemaligen Alphas, die Männer oder Frauen mit Vermögen also (vorläufig wollen wir es bei ihnen belassen; Beispiele aus anderen Bereichen folgen an geeigneter Stelle), müssen jedoch keine allzu große Deprivation hinsichtlich ihrer sozialen Stellung hinnehmen. Sie spielen gesellschaftlich immer noch auf der obersten Ebene mit und nutzen das auch hier und da, indem sie sich beispielsweise in Sachen Fußball oder auch Kunst engagieren. Im Bourdieu’schen Sinne – wir werden das später ausführlich behandeln – tauschen sie ihr ökonomisches Kapital in kulturelles Kapital, was ihnen auch hier sofort eine hervorragende Ausgangsposition auf dem Weg zum FußballAlpha oder Kunst-Alpha sichert!

112     I. Wunn

Ranking bei Weibchen Bisher war in Zusammenhang mit Rangordnungen vorwiegend von Männchen bzw. Männern die Rede. Eine Rangordnung kommt, wie wir zeigen konnten, zustande, weil dominante Individuen ihre Interessen gegenüber schwächeren oder weniger imposant auftretenden Individuen mehr oder weniger rücksichtslos durchsetzen. Die Ursache für ein solches Verhalten liegt nicht zuletzt beim egoistischen Gen, das für sich selbst Vorteile beim Zugriff auf begrenzte Ressourcen sucht, und zu diesen begrenzten Ressourcen gehören einmal bevorzugte Sexualpartner, dann aber auch Nahrung oder Nist- und Ruheplätze. Bei vielen Tierarten, so konnten wir feststellen, belegen Männchen beim Ranking die vordersten Plätze. Beim Haushuhn ist es der älteste Hahn, der die Hackordnung anführt, gefolgt von älteren Hühnern. Junge Hühner und Hähnchen rangieren am unteren Ende der Skala. Bei Pferden ist es ebenfalls ein Männchen, das die Rolle des Leithengstes einnimmt, während sich ihm schwächere Hengste und Stuten unterordnen, und auch bei unseren Schimpansen sind die Männchen das dominante Geschlecht. Die Rangordnung der Schimpansenmännchen wird durch den Erfolg bei internen Auseinandersetzungen oder Displays regelrecht erkämpft und bei den kleinsten Anzeichen von Schwäche beim bisherigen Alphamännchen oder auch nur bei sich ändernden Verhältnissen in der Gruppenzusammensetzung immer wieder infrage gestellt. Auch für die in der sozialen Hierarchie der Schimpansen generell niedriger rangierenden Weibchen gilt eine Rangordnung, die aber deutlich schwächer ausgeprägt ist. Der Sinn hinter dieser sozialen Ordnung wird deutlich, wenn wir unser Augenmerk wieder auf das egoistische Gen lenken: Das egoistische Gen eines Männchens hat dann besonders gute Chancen, sich möglichst oft erfolgreich zu reproduzieren, wenn seine Überlebensmaschine sich mit möglichst vielen fruchtbaren Weibchen paart. Es ist also sinnvoll, Alphamännchen zu sein, denn als Alphamännchen hat man den bevorzugten Zugriff auf fruchtbare Weibchen. Die Weibchen dagegen, die sich bei den Schimpansen den Sexualpartner sowieso nur begrenzt auswählen können, haben von einer kräfteverzehrenden Auseinandersetzung um einen hohen Rang kaum einen Vorteil, es sei denn, bevorzugten Zugang zu Nahrung oder Schlafplätzen. Es überrascht daher nicht, dass die Rangordnung unter ihnen nur wenig ausgeprägt ist. Allerdings ist die Dominanz der Männchen keine Regel, die immer und überall im Tierreich gilt. Bei den verwilderten Hauskatzen Roms, die dort

5  Genegoismus und Aggression     113

an bestimmten Plätzen gefüttert werden, sind es die weiblichen Tiere, die dort dominieren. Sie vertreiben die Kater von den Futterplätzen, lassen die eigentlich rangniedrigen Jungtiere aber zuerst fressen. Auch beim Afrikanischen Elefanten (Loxodonta africana) sind es die Weibchen, die das Sagen haben. Während die männlichen Exemplare nach der Pubertät zu Einzelgängern werden, bilden die Weibchen zusammen mit den Jungtieren Herden, die von einer alten, erfahrenen Elefantenkuh geführt werden. Alphatier bei Loxodonta africana ist also immer ein weibliches Tier. Der Nutzen liegt klar auf der Hand: Bei Roms Katzen ist das Nahrungsangebot der limitierende Faktor für den Erfolg eines egoistischen Gens. Weibliche Katzen, die bereits in der Zeit ihrer Trächtigkeit und anschließenden Zeit der notwendigen Fürsorge für die hilflosen Neugeborenen viel in die erfolgreiche Reproduktion investiert haben, wollen diesen Erfolg nicht durch den Nahrungskonkurrenten Kater infrage gestellt sehen. Die weiblichen Elefanten dagegen, deren Trächtigkeit fast zwei Jahre dauert, können den Reproduktionserfolg nicht dadurch gefährden, dass sie aggressive, um den Zugang zu den fertilen Kühen buhlende Männchen in ihrer Herde dulden, und haben sich daher für eine mating-Strategie entschieden, die die Bullen aus der Herde verbannt. Nach diesem kleinen Exkurs lohnt es sich, noch einmal einen näheren Blick auf die Schimpansenverwandtschaft zu werfen. Ein solch genauerer Blick zeigt nämlich, dass die Schimpansinnen ungeachtet der männlichen Dominanz durchaus ein Wörtchen mitzureden haben, wenn es um sexuelle Selektion geht. Obwohl Schimpansenmännchen oft den sexuellen Akt erzwingen, haben Schimpansinnen klare Präferenzen für bestimmte Männchen und schaffen es auch erstaunlich oft, gerade die bevorzugten Männchen zu Vätern ihres Nachwuchses zu machen bzw. Kopulationen mit unerwünschten Partnern zu vermeiden. Hier sind besonders ältere und hochrangige Weibchen erfolgreich, indem es ihnen gelingt, auch mit aggressivem Verhalten verbundene Kopulationswünsche zurückzuweisen. Schimpansenmännchen, die bei den Weibchen hoch im Kurs standen, konnten deshalb deutlich mehr Nachwuchs zeugen als die weniger beliebten männlichen Exemplare, und auch die Weibchen, deren Kinder von bevorzugten Männchen stammten, hatten mehr und erfolgreicheren Nachwuchs. Um die Sache auf den Punkt zu bringen: Gegenseitige Akzeptanz oder sogar Zuneigung erhöht auf beiden Seiten den Paarungserfolg! Dies ändert jedoch nichts an der generellen Dominanz der Schimpansenmännchen, die allein aufgrund des Geschlechtsdimorphismus, also ihrer überlegenen Körpergröße und Kraft, die Weibchen jederzeit dominieren können (Boesch et al. 2006).

114     I. Wunn

Ganz anders ist es um die Sozialstruktur der nahe verwandten Bonobos bestellt. Hier sind trotz des ausgeprägten Geschlechtsdimorphismus nicht etwa die Männchen, sondern die Weibchen das dominierende Geschlecht, sodass der Primatenforscher Frans de Waal (*1948) von einer regelrechten Gynaikokratie sprechen zu können meinte. Auch unter den Bonobos gibt es einen Wettbewerb in Sachen Ranking, wobei die Weibchen in der Hierarchie im Allgemeinen oben stehen. Allerdings kann ein männlicher Sprössling einer ranghohen Mutter durchaus ein rangniedriges Weibchen dominieren. Innerhalb der Gruppe pflegen die Weibchen einen engen Zusammenhalt, den sie über sogenanntes Komfortverhalten (Fellpflege, pseudosexuelle Aktivitäten) und das Teilen von Nahrung aufrechterhalten. Bezeichnenderweise ist die Aggression innerhalb einer Bonobogruppe geringer als die innerhalb von Schimpansen, und auch das Bilden von Allianzen zum Zweck der Machtübernahme ist hier nicht bekannt (de Waal und Lanting 1997). Es bleibt also letztlich festzuhalten: Unter Primaten und anderen Säugern gibt es die verschiedensten sozialen Rangordnungen, die letztlich darauf zurückzuführen sind, dass die Paarungsstrategien der entsprechenden Arten unterschiedlich sind – immer mit dem Ziel, den egoistischen Genen den größtmöglichen Erfolg zu sichern. Eine einfache Formel für geschlechtsspezifisches Ranking bei Primaten oder bei Säugetieren überhaupt gibt es also nicht, und die naheliegende Vermutung, dass es immer Kraft und Aggressionspotenzial sind, die zum Erfolg führen, ist irreführend (Bonanni et al. 2017). Der Schluss, dass auch beim Menschen die Männchen aufgrund ihrer größeren Körperkraft und testosterongesteuerten Aggressivität automatisch das dominante Geschlecht sein müssen, ist sicherlich verfrüht. Das Ranking beim Menschen bedarf also einer gesonderten Untersuchung. Dabei zeigt ein Blick aus Frauenperspektive auf die verschiedenen Ethnien dieser Welt ein eher deprimierendes Bild: In höchstens 20 % aller bekannten und untersuchten Ethnien, darunter die hier bereits erwähnten Makonde, spielen Frauen eine herausgehobene oder gar dominante Rolle. In 80 % der Fälle regiert das Patriarchat, und dies oft so, dass Frauen weder über politische Rechte verfügen noch ein sexuelles Selbstbestimmungsrecht haben. Vor allem in islamischen Ländern wird die Ware „fertiles Weibchen“ von Männern regelrecht bewirtschaftet, und das in einer Weise, die wenigen hochrangigen Männern die Verfügung über eine Vielzahl von Frauen gestattet, während niedrigrangige Männchen leer ausgehen – wir möchten als Beispiel nur den saudi-arabischen König Saud ibn Abd al-Aziz (1902–1969) erwähnen, der allein 43 Söhne und 50 Töchter mit einer etwas unübersichtlichen Anzahl von Ehefrauen und an die 50 weitere Söhne

5  Genegoismus und Aggression     115

mit Sklavinnen gezeugt haben soll. (Man fragt sich unwillkürlich, wann er sich um die Staatsgeschäfte gekümmert hat!) Die subalterne Stellung von Frauen wird laut einer UN-Studie auch heute noch von 80 % aller Männer arabischer Länder für natürlich gehalten und damit gutgeheißen. Dies bedeutet für die befragten Männer/Männchen jedoch nicht nur das Recht, ihre Frauen zu dominieren, sondern auch ganz klar die Verpflichtung, sowohl Frauen als auch Kinder zu versorgen und zu beschützen. In einer Region, in der die Form der politischen Organisation und Herrschaft nicht in der Lage ist, den Menschen auch nur ein Minimum an Rechtssicherheit zu garantieren, ist also die traditionell dominante Stellung der Männer einschließlich der damit einhergehenden Verpflichtungen eine erfolgreiche Strategie im Sinne reproduktionswilliger egoistischer Gene! Leider sieht die Situation im heutigen, durch die Philosophie der Aufklärung geprägten Europa nur hinsichtlich des sexuellen Selbstbestimmungsrechts der Frauen, nicht aber in Sachen Alphaposition anders aus: So sind in den Vorständen der im DAX geführten Unternehmen durchschnittlich nur 13 % Frauen; im Deutschen Bundestag sind lediglich 30 % der Abgeordneten weiblich, im Europaparlament immerhin 36,4 %. Auch wenn im Kabinett der deutschen Bundesregierung eigentlich die Hälfte aller Ministerposten mit Frauen besetzt sein sollten, dominieren doch auch hier wieder die Männer, und zwar wegen innerbayrischer, also CSUspezifischer Proporz- (eigentlich aber Ranking-)Fragen. Da wir hier weder eine feministische Kampfschrift verfassen noch uns in die Niederungen deutscher Landespolitik mit Charivari-Display begeben wollen, könnten uns die bayerischen Entscheidungen kalt lassen, wenn sie nicht einen deutlichen Einblick in Rangkämpfe nach Schimpansenart gewährten. Da es uns hier aber um Macht und Herrschaft und damit um das Prototypische dieses Ergebnisses regionaler Politik geht, müssen wir konstatieren, dass es Frauen im Machtgerangel offensichtlich schwerfällt, sich gegen männliche Konkurrenten durchzusetzen, und das, obwohl direkte körperliche Auseinandersetzungen heute höchstens noch im türkischen Parlament zum Tagesgeschäft gehören (ntv 2017). Dennoch, trotz aller Schwierigkeiten, gelingt es Frauen immer wieder, innerhalb ihrer Gruppe eine dominante Stellung einzunehmen. Da direkte körperliche Auseinandersetzungen heute nicht mehr das Mittel der Wahl sind und wegen des Gewaltmonopols des Staates auch nicht mehr sein müssen, lohnt sich eventuell ein näherer Blick auf die weiblichen Dominanzstrategien. Dazu wähle ich noch einmal die uns bereits bekannte Schulklasse, in der zunächst die Knaben die klasseninterne Rangfolge durch Raufereien, anschließend durch Displays und Infragestellen der Macht der

116     I. Wunn

Schul-Alphas (Lehrer) ausgekämpft hatten. In der 11. Klasse änderte sich das Bild. Eines der vier Mädchen rückte zum uneingeschränkten Alphaweibchen auf. Dazu brachte sie optimale Voraussetzungen mit: Sie entstammte einer alteingesessenen und angesehenen Familie, stand also vom Start weg bei den Lehrern in relativ hohem Ansehen und konnte sich Freiheiten erlauben, die möglichen Konkurrenten versagt blieben. Überdies war sie ausnehmend hübsch, klug und entpuppte sich vor allem rasch als glänzende Sportlerin. Alle diese Eigenschaften wusste sie geschickt einzusetzen: Den gutmütigen und etwas hilflosen alten Biologielehrer (kein Gegner im Kampf um Dominanz!) schützte sie vor allzu dreisten Attacken ihrer Mitschüler, wohingegen sie bei dem jungen, ambitionierten Deutschlehrer ausgesprochen unverschämt auftrat. In den naturwissenschaftlichen Fächern half sie weniger bemittelten Klassenkameraden bereitwillig und war, trotz strengen Verbots und der daran geknüpften Bestrafungen, eine zuverlässige Souffleuse in Prüfungen. In sportlicher Hinsicht hatte sie keinerlei Hemmungen, sich mit den männlichen Jugendlichen zu messen, und dominierte so gut wie jeden in fast jeder Disziplin mit Ausnahme des Fußballs, vor allem aber im gefürchteten Zirkeltraining. Sie brauchte keine Allianzen und strebte auch keine an, war aber jederzeit von hochrangigen Männchen der Beta- bis Deltaebene umgeben, während sie von den niedriger rangierenden Mitschülern und auch von den wenigen Mädchen keinerlei Notiz nahm. Wir versuchen uns nun an einer Analyse: Unser Alphaweibchen bediente sich ganz offensichtlich der gleichen Dominanzstrategien wie ihre männlichen Mitschüler. Ihr Display fand im Sport statt, wo sie mühelos körperliche Überlegenheit (costly signalling!) demonstrieren konnte. Ihren Führungsanspruch zeigte sie im Verhalten den Lehrern gegenüber, die sie wie im Falle des machtlosen alten Biologielehrers freundlich unterstützte oder deren Autorität sie infrage stellte. Für die Gruppe, d. h. die Klasse, ergab sich daraus ein großer Vorteil: Alle profitierten von ihrem Wissen und ihrer illegalen Hilfe während der Prüfungen und Klassenarbeiten, und zwischen der Schüler- und Lehrerebene war sie die ideale Vermittlerin. So weit die üblichen Strategien. Es kam jedoch noch ein entscheidender Faktor hinzu: ihre Attraktivität als potenzielle Sexualpartnerin. Die bisherigen Alphas der Gruppe, die es untereinander jederzeit auf eine direkte Auseinandersetzung, sei sie verbal, sei sie körperlich, hätten ankommen lassen, hielten sich bei der weiblichen Konkurrenz zurück, offensichtlich in der Hoffnung, entgegen jeder Wahrscheinlichkeit als möglicher mating-Partner vielleicht doch noch berücksichtigt zu werden.

5  Genegoismus und Aggression     117

Nach diesem Blick in die zugegebenermaßen enge Welt der Schulklassen und der hier gewonnenen Erkenntnisse bietet sich ein Blick in die große Welt des schönen Scheins an, in der wir bereits die Laufbahn eines erfolgreichen Unterwäschemodells einer näheren Betrachtung unterzogen hatten. Heidi Klum gehört sicherlich zu den hochrangigen Frauen (Platz 39 auf der Liste „Most Powerful Women“ von 2011). Um diesen sozialen Status zu erreichen, lockte sie zunächst mit ihrem hervorragenden genetischen Material und zur Schau gestellter Paarungsbereitschaft und nahm als Schönste unter den Schönen die erste Hürde in Sachen Ranking. Nachdem dieser Schritt geschafft war, arbeitete sie mit den üblichen, eher als männlich konnotierten Methoden. Als tüchtige Unternehmerin kämpfte sie sich durch den TV-Dschungel und konnte sich dort mit Fleiß, Energie und Durchsetzungsvermögen etablieren. Auch das Display gehört dazu: Das beinahe tägliche Erscheinen in einschlägigen Zeitschriften, auf Internetplattformen oder in TV-Shows ist letztlich nichts anderes als das geräuschvolle Aneinanderschlagen leerer Speiseölkanister durch unsere Alphaschimpansen Mike und Figan! Von ihrer momentanen Alphastellung macht sie nun im ganz klassischen Sinn Gebrauch: Sie sucht sich zu Paarungszwecken immer wieder junge Männer, die bei einer möglichen Fortpflanzung gutes genetisches Material liefern können. Wem der Aufstieg einer Entertainerin in einem Kanal, der nicht gerade als Bildungs-TV bekannt ist, zu schlicht ist, mag sich vielleicht wieder dem Feld der Politik zuwenden, auf dem Machtkämpfe tatsächlich noch den Charakter wirklicher Kämpfe haben. Gerade hier haben wir auch die Prototypen von Alphaweibchen vor uns. Eines von diesen Alphaweibchen ist die unlängst zurückgetretene SPD-Vorsitzende Andrea Nahles (*1970). Vieles an ihrer Laufbahn ähnelt dem Werdegang Philipp Röslers. Auch Andrea Nahles startete ihre Karriere mehrgleisig: Parallel zu einer akademischen Laufbahn, allerdings in dem wenig karriereförderlichen Fach Germanistik, trat sie noch vor dem Abitur in die SPD ein, wo sie sich rasch bei den Jusos als traditionalistische Linke profilieren konnte und zuerst deren Landesvorsitzende, dann Bundesvorsitzende wurde. Das linke Profil wurde ihr Markenzeichen. Nicht nur als Vorsitzende des SPD-Kreisverbandes MayenKoblenz, sondern auch als Mitglied des Deutschen Bundestages 1998 bis 2002 und 2005 bis 2019 pflegte sie ihr nicht immer glaubwürdiges Image als waschechtes Arbeiterkind und Interessenvertretung einer Arbeiterklasse, die es de facto gar nicht mehr gibt. Sollte ein solches Display in der Öffentlichkeit wenig wirksam sein – denn die Unterprivilegierten, für die Nahles eintreten will, wählen als zumeist Nichtdeutsche gar nicht in Deutschland –, so erfüllte es parteiintern offensichtlich seinen Zweck.

118     I. Wunn

Wegen oder trotz der manchmal rüden Sprache („… kriegen sie in die Fresse …“) gelang ihr der Einzug in den Bundestag über die Landesliste. Das Alphamännchen, das ihrem Aufstieg im Wege stand und das es zu besiegen galt, war zunächst Gerhard Schröder mit seiner als unsozial empfundenen Agenda 2000. Ohne dass es in Abstimmungen zu einem tatsächlichen Kampf zwischen diesem Alphamännchen und einer Frau auf dem Weg zum Alpha gekommen wäre, konnte Nahles den amtierenden Kanzler infrage stellen und seine Stellung damit langfristig erschüttern. Die Entthronung des Alphamännchens überließ sie (wie Schimpanse Figan) anderen Möchtegern-Alphas: Nachdem Schröder sein Kanzleramt verloren hatte und daher (der bekannte Fall ins Bodenlose) auch bei der nächsten Wahl nicht mehr für eine Position im Dominanzbereich kandidieren konnte, trat Peer Steinbrück an und scheiterte ebenfalls. Nun war der Weg für Nahles frei: Sie übernahm 2009 das Amt der SPD-Generalsekretärin, wurde 2013 (bis 2017) Bundesministerin für Soziales, 2017 SPD-Fraktionsvorsitzende und 2018, nach dem Rückzieher von Cunctator4 Sigmar Gabriel und einem Zwischenspiel von Martin Schulz, Parteivorsitzende. Andrea Nahles kämpfte sich also mit den klassischen Methoden männlicher Schimpansen an die Spitze: Mit ihrer Verortung in der Parteilinken und der Bindung an die Jusos hatte sie einerseits ein Image, andererseits einen natürlichen Unterstützerkreis. Innerhalb der Mutterpartei arbeitete sie sich langsam nach vorn, stellte das bisherige Alphamännchen infrage und wartete auch geduldig das Scheitern des kurzfristigen Hoffnungsträgers Martin Schulz ab, bis ihre Stunde gekommen war und sie in einer für sie risikolosen Kampfabstimmung gegen eine unbekannte Kandidatin die Alphastellung erringen konnte. Genau diese Taktik versuchte sie auch, allerdings vergeblich, anzuwenden, als nach einer für die SPD desaströsen Europawahl ihre Abwahl drohte: Eine sofortige Wiederkandidatur als Parteivorsitzende sollte möglichen Konkurrenten zuvorkommen. Methoden wie das Arbeiten mit weiblichen Schlüsselreizen lagen Nahles nicht. Obwohl mehrmals liiert und Mutter einer Tochter, setzte die damalige SPD-Parteivorsetzende ausschließlich auf den direkten Wettbewerb und nicht auf ihren Frauenbonus als begehrte Sexualpartnerin – die sie bei ihrem männlich-derben Auftreten vielleicht auch nicht ist.

4Lateinisch für „Zauderer“. Damit bezeichnete der antike Historiker Polybios den römischen Feldherrn Quintus Fabius Maximus Verrucosus (um 275–203 v. Chr.), der im Zweiten Punischen Krieg (218– 201 v. Chr.) die entscheidende militärische Auseinandersetzung mit dem Feldherrn Hannibal immer wieder hinauszögerte.

5  Genegoismus und Aggression     119

Alphaweibchen Wir haben in Zusammenhang mit dem Kampf um die Alphaposition auch über das Schicksal der Verlierer gesprochen. Nicht nur für den Wettbewerber unter Hirschen, Büffeln oder Löwen gilt die Alles-oder-nichtsRegel. Auch ein gestürztes Alphamännchen verliert sofort sämtliche Privilegien und landet im Abseits, wie das Beispiel ehemals mächtiger Männer aus der Politik zeigt. Gestern war man noch berühmt und hatte einen reservierten Platz in der ersten Reihe, und heute muss man wie jeder andere vier Wochen auf die Reparatur des Internetanschlusses oder den Klempner warten! Da nutzt dann auch das eindrucksvolle Display mit Bodyguards und Chauffeur wenig: Die Öffentlichkeit ist höchstens noch interessiert, wenn es bei den einstmals hohen Herren um Geschichten von Paarung und Liebe, also um Klatsch und Tratsch, geht. Gerade in diesem Zusammenhang lohnt sich ein näherer Blick auf weitere weibliche Dominanzstrategien, denn ganz offensichtlich haben auch gestürzte Alphamännchen selten Probleme, paarungswillige Weibchen zu finden. Bekannt ist das Phänomen der Kanzlerwitwe: Erfolgreiche Kanzler wie Helmut Kohl oder Willy Brandt heirateten nach Beendigung ihrer Kanzlerschaft – die Herren waren eindeutig bereits in der Phase des Seniums (medizinisch: Greisenalter) – bedeutend jüngere Frauen, die sich alsbald zur Vermächtnisverwalterin des berühmten alten Mannes bzw. des Verblichenen aufschwangen. Die ehemalige Alphaposition ihres einstmals mächtigen Gatten genügte diesen ehrgeizigen Frauen als Sprungbrett in eine Öffentlichkeit und damit kurzfristig in eine dominante Position, die sie allein aufgrund eigener Leistungen oder gar weiblicher Vorzüge niemals erreicht hätten. Unter dem Gesichtspunkt des egoistischen Gens blieben die Bemühungen um einen hohen Rang leider folgenlos: Weder für Brigitte Seebacher-Brandt (*1946) noch Maike Kohl-Richter (*1964) gab es eine erfolgreiche Kopplung ihres genetischen Materials mit den egoistischen Genen des Ex-Alphas und damit Replikation der eigenen Gene. Erfolgreicher war im Hinblick auf das Dominanzstreben das Bemühen der Journalistin Doris Köpf (*1963), die 1997 den damaligen Ministerpräsidenten Niedersachsens zur Scheidung von seiner bisherigen Ehefrau und dann zu einer Ehe bewegen konnte. Klug benutzte sie die Beziehungen ihres Mannes, des späteren Bundeskanzlers, um sich selbst eine Position in der Politik zu verschaffen. Nachdem sie den Sprung in den Landtag geschafft und damit hinsichtlich des Rankings eine respektable Position errungen hatte, entledigte sie sich des überflüssig gewordenen und inzwischen nicht mehr

120     I. Wunn

­ ochrangigen Männchens. Durch dieses kluge Agieren gelang es ihr, für h sich und ihr genetisches Material (Schröder-Köpf hat eine leibliche Tochter) eine gute Startposition zu erkämpfen. Ähnlich agierte die amerikanische Präsidentschaftskandidatin Hillary Rodham Clinton (*1946). Obwohl sie mit einem Alphamännchen verheiratet war und somit im Ranking kaum weiter aufsteigen konnte, verfolgte sie auch während des politischen Aufstiegs ihres Mannes ihre eigenen politischen Ziele weiter und konnte sich in Politikerkreisen eine dominante Stellung erkämpfen. Vom absoluten Sieg und der uneingeschränkten Alphaposition trennten sie nur die Atavismen des US-amerikanischen Wahlsystems und eine wahrscheinliche Wahlbeeinflussung von Seiten Putins. Melania Trump, als Ehefrau des jetzigen Präsidenten der USA First Lady und damit Alphaweibchen, hat allerdings eine ganz andere Strategie gewählt, ihren egoistischen Genen gute Startchancen einzuräumen. Als bekanntes Model setzte sie ganz auf ihre Anziehungskraft als mögliche matingPartnerin und war erfolgreich. Der Partner für das begehrte long-term mating war kein Geringerer als der angebliche Milliardär Donald Trump, der trotz bereits vorhandener Kinder aus früheren Partnerschaften immer noch eine erstrebenswerte Partie darstellte. Während sie ihre Stellung in der sozialen Hierarchie ihren optischen Qualitäten und erfolgreicher Paarung verdankt hatte, verließ sie sich folgerichtig auch nach der Heirat vollständig auf ihren Ehemann – eine Entscheidung, die sich bisher als erfolgreich erwies. Allerdings ist sie damit auch in Sachen Ranking in einer abhängigen Position: Ein möglicher Sturz Donald Trumps wird auch sie ihre hohe gesellschaftliche Stellung kosten. Wie dramatisch und vollkommen ein solcher Abstieg auch für Frauen sein kann, zeigt das Beispiel der Dieter-Bohlen-Gefährtin Nadja Abd el Farrag (*1965). Als exotische Schönheit setzte sie ausschließlich auf ihr Kapital als potenzielle mating-Partnerin, um sich mithilfe dieses Arbiter elegantiarum5 der kleinen Leute und Hansdampf in allen Fernsehgassen eine dominante Position in der Welt des oberflächlichen Glamours zu verschaffen. Ihr Ziel schien sie erreicht zu haben, als sie mithilfe ihres Liebhabers in diversen Fernsehshows auftreten konnte. Ein wirklicher Erfolg stellte sich jedoch nicht ein, und nach Ende der Beziehung zu ihrem matingPartner verlor sie im Ranking ihre Stellung, die sie lediglich über ihren

5Schiedsrichter in Sachen des guten Geschmacks und Auftretens. Historisch handelt es sich um den römischen Senator und Autor des satirischen Romans Satyricon, Titus Petronius Arbiter (14–66).

5  Genegoismus und Aggression     121

hochrangigen Gefährten kurzfristig hatte einnehmen können. Heute lebt Nadja Abd el Farrag von Sozialhilfe.

Alphamännchen, der Sex und böse Fallstricke Wir fassen zusammen: Sex als die von der Natur vorgegebene Methode zur Kombination egoistischer Gene ist also, wie oben gezeigt, nicht nur die Quelle größten Vergnügens, sondern auch die Ursache von Aggressionen. Diese Aggressionen können an territoriale Ansprüche geknüpft sein: Nur ein ausreichend großes, geeignetes Territorium sichert die erfolgreiche Aufzucht der Jungtiere und damit den Erfolg der eigenen egoistischen Gene! Sie können sich aber auch gegen Wettbewerber um den optimalen matingPartner richten und zu regelrechten Kämpfen führen. Diese Kämpfe, bei denen es sich gerade wegen des Genegoismus um regelrechte Beschädigungskämpfe handelt, sind immer auch mit einem großen Risiko für den überlegenen Wettbewerber verbunden, und um dieses Risiko in Grenzen zu halten, haben sich bei einigen Tierspezies regelrechte Rangordnungen, sogenannte Hackordnungen, entwickelt, die die Reihenfolge beim Zugang zu Ressourcen regeln. Da ein hoher Rang und damit der Zugang zu Ressourcen in hohem Maße über den Erfolg des Nachwuchses und damit der egoistischen Gene entscheidet, ist er wichtig und wird mit großem Energieaufwand immer wieder erkämpft. So weit unsere bisherigen Ergebnisse. Damit haben sich unsere Erkenntnisse jedoch noch keinesfalls erschöpft: Sexualität ist so entscheidend, dass der Zugang zum Sexualpartner häufig gewaltsam erzwungen wird. Eindrucksvolles Beispiel waren hier wieder unsere Schimpansen, die begehrte Weibchen mit Östroschwellung zunächst zum Akt auffordern und auch bereit sind, auf Verzögerungstaktiken einer Schimpansin bis zu einem bestimmten Grad einzugehen, die sich aber letztlich eine allzu gleichgültige oder ablehnende Partnerin durch Bisse und andere aggressive Übergriffe gefügig machen. Der Geschlechtsakt bei Schimpansen hat also durchaus insofern etwas mit Macht zu tun, als das niedriger rangierende, hier also das weibliche Tier, einen sexuellen Akt erdulden muss und so jederzeit hinsichtlich der Machtverhältnisse in seine Schranken gewiesen werden kann. Die Androhung sexueller Gewalt, im Klartext die Vergewaltigungsdrohung, ist somit ein probates Mittel der Machtausübung. Im Tierreich sind Vergewaltigungsdrohungen beziehungsweise ritualisierte Vergewaltigungsdrohungen erprobte Mittel zur Demonstration von Macht.

122     I. Wunn

Abb. 5.4  Phallisches Drohen bei Pavianen. (© Andreas Held/Blickwinkel/picture alliance)

Sowohl bei Meerkatzen als auch bei Pavianen wird phallisch, also mit erigiertem Penis gedroht, wenn sich Eindringlinge der Gruppe nähern. Männliche Paviane sitzen dann zum Schutz ihrer Gruppe tatsächlich mit erigiertem Penis Wache und beschützen auf diese Weise die Ihrigen (Abb. 5.4). Der sich anschleichende Leopard oder auch der aggressive Schimpanse weiß dann, dass ihm theoretisch eine Vergewaltigung droht (tatsächlich aber eher gefährliche Bissverletzungen), wenn er die Warnung nicht beachten sollte. Auch dominante Hengste reiten bei rangniedrigen Tieren auf, um die Rangfolge deutlich zu machen. Es handelt sich hier also nicht um Kopulationsversuche gleichgeschlechtlicher Tiere, sondern um die Demonstration von Überlegenheit. Auch Hunde kennen ein solches Verhalten. Auf das Klammern von Hunden bei erigiertem Penis sollten Hundehalter daher keineswegs tolerant, sondern im Gegenteil mit Aggressivität reagieren, denn der Hund will damit die Alphastellung von Herrchen oder Frauchen infrage stellen. Auf das vom Hundehalter oft als fehlgeleiteter Ausdruck von Zuneigung interpretierte Klammern wird nämlich aller Wahrscheinlichkeit nach irgendwann eine Beißattacke von Seiten des Lieblings erfolgen! Nun aber zurück zum Menschen. Auch hier bedeutet der erigierte Penis nicht nur Paarungsbereitschaft, sondern ist gleichzeitig ein Ausdruck von Dominanzanspruch und Aggressivität; im extremen Fall sogar eine Drohung. Sogenannte Schamverletzer oder Exhibitionisten wollen mit dem Zurschaustellen ihres erigierten Geschlechtsorgans nämlich keineswegs ein sexuelles Angebot machen, sondern drohen und einschüchtern. Der erigierte Penis signalisiert nichts anderes als eine Vergewaltigungsdrohung!

5  Genegoismus und Aggression     123

Gerade deshalb sind oft nicht die schönen Frauen im besten Paarungsalter das Opfer derartiger Übergriffe, weil diese nämlich tendenziell als höherrangig angesehen werden und daher Respekt einflößen. Opfer sind vielmehr Kinder oder ältere Frauen, die mit dem sexuellen Aspekt dieses Signals nichts anzufangen wissen, die Drohung aber sehr wohl instinktiv verstehen. Noch problematischer wird die Vermischung von Sexualität und Machtausübung, wenn Männer in Führungspositionen fast zwanghaft ihre Sexualität einsetzen, um ihre Machtposition zu festigen oder bestätigt zu sehen. Ein fast prototypisches Beispiel sind die Übergriffe des Filmproduzenten Harvey Weinstein, der seine Alphastellung in der Filmbranche dazu benutzte, bei den von ihm beruflich abhängigen Frauen Sex als sein Recht geradezu einzufordern. Der unattraktive, ja sogar ausgesprochen hässliche Mann, der im direkten Wettbewerb kaum Chancen auf ein erfolgreiches mating gehabt hätte, nutzte seine Position aus, um Frauen sexuell zu bedrängen. Ob es ihm tatsächlich um den vollzogenen Akt, also um möglichst häufiges short-term mating, ging oder ob er lediglich seine Macht demonstrieren wollte, bleibt eine unbeantwortete Frage. Auch der vor noch gar nicht allzu langer Zeit aufgedeckte Sexskandal in der Katholischen Kirche dürfte seine Ursache in demonstrativer Machtausübung haben. Priester oder auch Bischöfe hatten sich über Jahrzehnte an Chorknaben, Ministranten oder Praktikanten vergriffen und sie teilweise schwer missbraucht. Die gleichzeitige Anwendung harter körperlicher Strafen zum Beispiel in katholischen Internaten legt den Gedanken nahe, dass es hier in erster Linie um die Unterwerfung von jungen bis sehr jungen Männern mit niedrigerem Rang in der kirchlichen Hierarchie ging und nicht etwa um die Befriedigung eines Sexualtriebes. Wenn in diesem Zusammenhang also um die Aufhebung des Zölibats als Mittel der Wahl gesprochen wird, geht die Diskussion am wahren Problem vorbei. Hier geht es eben nicht um Sex im Sinne der Fortpflanzung, sondern um sexuelle Dominanz als Ausdruck von Macht und einer hochrangigen Stellung. Anstelle des Zölibats sollte also lieber das streng hierarchische Denken hinterfragt werden! Sexuelle Übergriffe, also die Ausübung oder Androhung von erzwungenem Sex, sind immer da an der Tagesordnung, wo es feste und nicht zu hinterfragende Hierarchien gibt und entsprechende Kontrollen fehlen, so zum Beispiel in Internaten (z. B. der Skandal um die Odenwaldschule), oder auch alltägliche kleine Übergriffe in Unternehmen, in denen die Chefs auf verschiedene Weise ihren höheren Rang demonstrieren. Unzählige Frauen haben in den vergangenen Jahrzehnten den „unschuldigen“ Griff an den Po oder die unpassende Bemerkung über

124     I. Wunn

ihre gut gefüllte Bluse ertragen, die nichts weiter bedeuten, als dass sich der Chef als Alphatier eigentlich die sexuelle Verfügung über „sein“ subalternes Weibchen vorbehält. Hinzu kommen weitere kleine Bemerkungen und Äußerungen, die das Dominanzverhalten in der Berufswelt verdeutlichen. Dazu gehören das einseitige Duzen von Angestellten, mit denen man nicht auf Duzfuß steht („Frau Lickefett, hol mir mal …“), die ständige Aufforderung zu eigentlich völlig überflüssigen, zumindest aber banalen Dienstleistungen („Mach mal das Fenster auf …“), das aggressive Erheben des oder Deuten mit dem Zeigefinger und überflüssige Berührungen wie das Herunterdrücken einer Hand oder eines Armes während eines Gesprächs. Die auf diese Weise ständig latent Degradierten werden sich entweder, wenn sie sich als niedrigerrangig einstufen, mit diesen kleinen, aber aggressiven Machtdemonstrationen abfinden oder irgendwann ihrerseits höchst aggressiv reagieren, also den Kampf um die Macht beginnen – siehe die Entthronung des Alphaschimpansen Mike.

Literatur Boesch C, Kohou G, Néné H, Vigilant L (2006) Male competition and paternity in wild chimpanzees of the Taï forest. Am J Phys Anthropol 130(2006):103–105 Bonanni R, Cafazzo S, Abis A, Barillari E, Valsecchi P, Natoli E (2017) Age-graded dominance hierarchies and social tolerance in packs of free-ranging dogs. Behav Ecol 28(4):1004–1020. https://doi.org/10.1093/beheco/arx059 Darwin C (1859) On the origin of species by means of natural selection, or the preservation of favoured races in the struggle for life, 6. Aufl. 1872: The Origin of Species. John Murray, London de Waal F, Lanting F (1997) Bonobo: the forgotten ape. University of California Press, California dpa (2018, 6. Juni). Prozesse: Mordplan aus Eifersucht: Angeklagter spricht von Notwehr. Focus. https://www.focus.de/regional/aachen/prozesse-mordplan-auseifersucht-angeklagter-spricht-von-notwehr_id_9042423.html. Zugegriffen: 2. Apr. 2019 Goldhagen DJ (2009) Schlimmer als Krieg. Wie Völkermord entsteht und wie er zu verhindern ist. Siedler, München Goodall J (1990) Through a window. My thirty years with the chimpanzees of Gombe. Houghton Mifflin Company, Boston Grimm H (1926) Volk ohne Raum. Langen, München Hobbes T (1651) Leviathan or the matter, forme and power of a commonwealth ecclesiastical and civil. Oxford University Press, Oxford

5  Genegoismus und Aggression     125

Klein C, Wunn I (2015) Götter, Gene, Genesis. Die Biologie der Religionsentstehung. Springer Spektrum, Heidelberg Lorenz K (1963) Das sogenannte Böse, Zur Naturgeschichte der Aggression. Dr. G. Borotha-Schoeler, Wien ntv (2017, 12. Januar) Streit im türkischen Parlament. Debatte mündet in Schlägerei. Zugegriffen: 19. Apr. 2019 Schjelderup-Ebbe T (1921) Beiträge zur Biologie und Sozial- und Individualpsychologie bei Gallus domesticus. Universität Greifswald

Teil II Zweite Theorie: Das Ritual

6 Aggression und Ritualisierung

Sie treten aus dem Haus, und dann … Nehmen wir einmal an, es ist ein schöner Sommertag, Sie treten gut gelaunt aus dem Haus und stoßen dort auf dem Weg zu dem am Straßenrand geparkten Auto auf Ihren Nachbarn. Falls Sie nicht gerade wegen des über Ihren Zaun wuchernden Knöterichs und der damit verbundenen subtilen Verletzung Ihres Territoriums mit ihm über Kreuz liegen, werden Sie ihm ein munteres „Guten Morgen!“ zuschmettern und durch Kopfnicken eine Verbeugung andeuten. Ihr Nachbar, trotz des Knöterichs eigentlich ein netter Kerl, erwidert den Gruß und lächelt erfreut. Das war’s und jeder geht seines Weges. Eine halbe Stunde später betreten Sie die Stätte Ihres erfolgreichen, wenn auch unterbezahlten beruflichen Wirkens. Da Ihr Büro im 14. Stock liegt, steuern Sie zielsicher den Fahrstuhl an und schlüpfen noch rasch in die Kabine, bevor sich die automatische Tür schließt. Ein kurzer Blick signalisiert Ihnen, dass kein Bekannter unter den übrigen Passagieren ist. Niemand grüßt; auch Sie nicht. Stattdessen blickt jeder starr vor sich hin und vermeidet den Augenkontakt (Abb. 6.1). Die komische Situation endet erst, als alle ausgestiegen sind. Ein anderes Szenario spielt sich ab, als Sie am Abend denselben Fahrstuhl benutzen, um die Halle im Erdgeschoss und damit den Ausgang zu erreichen. Die bereits mit den morgendlichen Schweigern gut besetzte Kabine hält auf Höhe des 6. Stockwerks und nimmt drei Passagiere auf, irgendwelche unbedeutenden jungen Kerle (nur 6. Stockwerk? Also noch ziemlich weit unten auf der Karriereleiter!). Die © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Wunn, Vier Theorien, um die Welt zu beherrschen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61376-4_6

129

130     I. Wunn

Abb. 6.1  Menschen im Fahrstuhl vermeiden Blickkontakt; der andere ist sozial nicht existent. (© anonymus)

scheinen sich zu kennen, denn sie unterhalten sich übertrieben laut über Belanglosigkeiten, die niemanden, auch die engagierten Schwätzer selbst nicht, interessieren. Irgendwie machen die drei Kerle Sie aggressiv! Was ist Ihnen bzw. Ihren egoistischen Genen da im Laufe des Tages passiert? Aus verhaltensbiologischer Sicht ist die Sache klar: Am Morgen trafen Sie auf Ihren Nachbarn, den Sie seit Langem kennen und der Sie erfahrungsgemäß auch heute nicht angreifen wird; vor allem auch deshalb nicht, weil Fragen des Territoriums durch einen Eintrag ins Grundbuch eindeutig geklärt sind. Trotzdem bestätigen Sie während der kurzen Begegnung Ihre friedliche Absicht. Sie nehmen Augenkontakt auf, sprechen ihn mit einer bewährten Formel an und vollführen mit Ihrem kurzen Zunicken und der angedeuteten Verbeugung eine Unterwerfungsgeste. Auch der Nachbar reagiert nun durch freundlichen Augenkontakt und lächelt, d. h., auch er antwortet mit einer Beschwichtigungsgeste. Sie haben erfolgreich ein winziges Ritual aufgeführt, um das aggressive Aufeinanderprallen von zwei Überlebensmaschinen egoistischer Gene zu verhindern! Anders im Fahrstuhl: Die Überlebensmaschinen kennen sich nicht; ihr Zusammentreffen ist ungewollt, und sie werden anschließend auseinandergehen, ohne weitere Kontakte angeknüpft zu haben. Das Kontakt- und

6  Aggression und Ritualisierung     131

Beschwichtigungsritual der gegenseitigen Begrüßung unterbleibt also. Dafür muss man so tun, als sei niemand anderes in der Kabine, denn sonst müsste man kurz die Hackordnung klären! Genau das versuchen die jungen Kerle, die am Abend im 6. Stock zusteigen. Eigentlich sind sie unsicher und müssen sich daher gegenseitig ihrer Bedeutung versichern. Im Fahrstuhl unterhalten sie sich mit erhobener Stimme, um durch Lautstärke zu demonstrieren, dass sie die Kabine als ihr Territorium ansehen, und genau das macht Sie aggressiv. Ich schlage daher für ähnliche Situationen folgendes kleines Spielchen vor: Düpieren Sie verstockte Fahrstuhlschweiger mit einem laut vernehmlichen Gruß und suchen Sie Augenkontakt! Nicht nicken, bloß keine Verbeugung! Man wird Sie zögerlich zurückgrüßen, denn den Kleinkrieg um die Alphastellung im Fahrstuhl haben Sie mit diesem Display gewonnen! Und nun die drei jungen Kerle: Mischen Sie sich ungefragt in deren Gespräch ein und geben einen guten Rat (z. B. „Ihre dunkelblaue Krawatte würde ich nicht auf so einem schwarzen Hemd tragen, das sieht einfach grauenhaft aus. Mit dem Outfit werden Sie bestimmt nicht Karriere machen!“); in Fragen der Lautstärke müssen Sie die Schreihälse unbedingt toppen. Damit haben Sie das Display der jungen Kerle zunichte gemacht und gehen auch hier als Turniersieger vom Platz!

Das Ritual im Tierreich und ein Bürgerschreck Dieses kleine Beispiel unschuldiger und zufälliger Begegnungen im Laufe eines Tages zeigt deutlich, wie unglaublich kompliziert das Zusammenleben der Überlebensmaschinen egoistischer Gene ist und dass es nur mithilfe ausgefeilter Kniffe in friedliche Bahnen gelenkt werden kann. Da nämlich jedes weitere Exemplar der eigenen Art ein natürlicher Konkurrent um Ressourcen ist, ist es naheliegend, diesen Konkurrenten in jedem Fall zu vertreiben oder gar zu töten. Wir haben diese Problematik ausgiebig in Kap. 5 erörtert. Eine Ausnahme macht man allenfalls zur Paarungszeit, damit sich die egoistischen Gene erfolgreich reproduzieren können. Und auch hier schwindet die Tötungshemmung nur zu rasch, wenn der Sexualpartner aus welchem Grunde auch immer lästig wird oder die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllt hat. Was in der Historie eine Fußnote (Herodes der Große, Heinrich VIII.), im ländlichen Indien ein alltägliches Vorkommnis („Ehefrau beim Stillen verbrannt“; Netzfrauen 2017), in den Tageszeitungen Stoff für eine Schlagzeile („Mutter und Kind wurden zu Tode geprügelt“; Rappold 2016, S. 28) und in der Literatur ein beliebter Stoff für

132     I. Wunn

Romane ist – siehe den Roman Via Mala des erfolgreichen Schriftstellers John Knittel (1934) oder die Erzählung Lady Macbeth aus dem Landkreis um Mzensk von Nikolai Leskow (1865) –, entpuppt sich im Alltag als eine ständige Herausforderung, mit der die verschiedenen Tierarten ganz unterschiedlich umgehen. Nehmen wir als einfachstes Beispiel die Einzelgänger, die sich höchstens zur Paarung mit einem Partner arrangieren müssen: Spinnen sind solche Einzelgänger, und ein Exemplar der gleichen Art ist im Zweifelsfall ein willkommener Happen zum Lunch. Auch Igel (Ordnung Insektenfresser) oder Eichhörnchen (Ordnung Nagetiere) ziehen ein Dasein ohne Dauerpartner vor. Wenn sich während der Paarungszeit gar ein Igelmännchen zu viel im Garten aufhalten sollte, wird man Zeuge eines lautstarken Kampfgeschehens: Unter Geschnaufe und Gepruste gehen die kleinen, stachelbewehrten Panzer aufeinander los, bis der Unterlegene vertrieben wird. Aber auch der weibliche Igel duldet den mating-Partner nur für den Paarungsakt selbst. Auf einer einschlägigen Internetseite heißt es: „[…] Das Igelweibchen boxt den Bewerber zunächst mit aufgestellten Stirnstacheln weg. Wenn sie nachgibt, erfolgt die Paarung wie bei anderen Säugetieren auch: Das Weibchen wird vom Männchen von hinten bestiegen. Bei der Paarung legt sie die Stacheln flach an den Körper. Nach der Vereinigung trennen sich die Partner […] Das Männchen zieht seiner Wege und sucht nach anderen Weibchen, es scheidet dadurch für die Igelin als Nahrungskonkurrent aus.“ (Pro Igel e. V. o. J.)

Die weiblichen Eichhörnchen dulden ebenfalls niemanden, auch ein paarungswilliges Männchen nicht, in ihrem Revier. Während der Paarungszeit, wenn duftende Sekrete dem Männchen die Anwesenheit eines paarungsbereiten Weibchens anzeigen, muss das Männchen das Weibchen und sein Revier in einem ritualisierten Kampf mit eifrigen Verfolgungsjagden zunächst einmal erobern. Nicht nur für unsere kleinen Freunde im Garten, sondern auch für das Raubtier Tiger gilt: Man lebt am liebsten allein und trifft sich nur zur Paarungszeit. Nach dem sehr kurzen Paarungsakt sind die Weibchen nicht etwa sanft und verschmust, sondern ausgesprochen aggressiv und schlagen mit den Pranken nach den Männchen. So etwas wie Zuneigung oder gar Liebe ist bei Tigern nicht im Spiel! Bei unseren Beispielen resultiert aus dem Genegoismus also direkt der Egoismus der Überlebensmaschine, sprich: des Individuums. Das Individuum lebt nicht nur als Einzelgänger, sondern ist aggressiv gegenüber

6  Aggression und Ritualisierung     133

Artgenossen, und das sogar gegenüber dem Sexualpartner. Es kommt überhaupt nur während der Paarungszeit zu Begegnungen zwischen Männchen und Weibchen, und selbst dann bedarf es noch bestimmter, auch hinsichtlich ihrer Abfolge genau definierter Verhaltensweisen, um zu verhindern, dass der Sexualpartner wie ein Feind, Konkurrent oder Eindringling ins Revier behandelt, also verjagt oder gar verletzt, wird. Bei diesen Verhaltensweisen, die letztlich genauso aufgebaut sind wie unser kleines Grußzeremoniell mit dem Nachbarn, handelt es sich um Reaktionen auf die gegenläufigen Wünsche oder Regungen der Tiere: Einerseits reagiert man aggressiv auf den Eindringling ins eigene Revier, andererseits hat man sexuelle Bedürfnisse, will sich also paaren, und muss die Aggression zumindest für den Augenblick unterdrücken. Daraus resultiert eine Abfolge unterschiedlicher unwillkürlicher Bewegungen, die teilweise aus der Angst vor oder Aggression gegenüber dem fremden Paarungspartner, teils aus dem Kopulationswunsch und dem daraus folgenden Wunsch nach Nähe resultieren. Zuletzt wird daraus eine feste Folge bestimmter Bewegungen, Handlungen und Laute, die im Laufe der Evolution zu zusammenhängenden Bewegungs- und Aktivitätsmustern werden. Diese Bewegungsabläufe wirken als feste Einheit und erlangen in diesem ganz bestimmten Zusammenhang eine eigene Bedeutung. Die Bewegungen werden also ritualisiert und transportieren als ein solches ritualisiertes Verhalten eine spezifische Botschaft. Diese Botschaft kann dann auch vom potenziellen Partner nicht mehr missverstanden werden, dient also regelrecht als Signal. Im Zuge der Evolution konnte es dabei zur Bedeutungsumkehr der einen oder anderen ursprünglich aggressiv gemeinten Geste kommen: Unser freundliches Lächeln ist letztlich nichts anderes als eine ritualisierte Beißdrohung. Der Empfänger des freundlichen Lächel-Signals deutet demnach ganz richtig: Hier ist jemand, der mir freundlich gesinnt ist! Und warum heißt das Ganze nun Ritualisierung? Diesen Ausdruck verdankt die Verhaltensbiologie dem britischen Biologen Julian Huxley (1887– 1975), der als Erster die Entstehung streng regelhafter Bewegungsabläufe im Zusammenhang mit dem Paarungsverhalten bei Vögeln (Abb. 6.2) analysierte. Ihm, als einem geschulten und genauen Beobachter tierischen und menschlichen Verhaltens, fielen sofort die überwältigenden Ähnlichkeiten im Verhalten von Vögeln bei der Balz mit den gottesdienstlichen Zeremonien der Kirche auf, und folgerichtig bezeichnete er die Entwicklung dieser so wichtigen festgelegten Bewegungsabläufe mit Signalwirkung im

134     I. Wunn

Abb. 6.2  Paarungsritual des Haubentauchers. (© W. Buchhorn/F. Hecker//blickwinkel/F. Hecke/picture alliance)

Tierreich als Ritualisierung. Die Kirche war „not amused“1, denn wie konnte man das repetitive (sich wiederholende) und instinktgesteuerte Verhalten von Tieren, Geschöpfen ohne Seele, mit den frommen Handlungen von Menschen im Rahmen jahrtausendealter devoter Handlungen zur Ehre Gottes vergleichen? Der Name Huxley tat ein Übriges: Weder die Kirche noch die wohlanständigen und frommen Bürgersleute hatten vergessen, dass zwei Generationen zuvor der Großvater Thomas Henry Huxley (1825– 1895), ein Freund und Anhänger Charles Darwins, den hoch angesehenen anglikanischen Bischof Samuel Wilberforce2 (1805–1873) bloßgestellt hatte, als es um die Verteidigung von Darwins (1859) On the Origin of Species ging (Lucas 1979). Allerdings war Huxleys Beobachtung eindeutig und eröffnete der Biologie ein ganz neues Forschungsfeld, auf dem neben anderen während der 1940er und 1950er Jahre Nikolaas Tinbergen (1907–1988) und Konrad Lorenz (1903–1989) glänzten. Die späteren Nobelpreisträger erforschten das Verhalten von Tieren in ihrem natürlichen Lebensraum. Gleiche Handlungsmuster sollten demnach als soziale Signale und damit als automatische Auslöser für angepasstes Verhalten von Tier und Mensch fungieren. Anders ausgedrückt: Man stellte fest, dass ritualisiertes Verhalten der sicheren Kommunikation dient und immer dann zum Einsatz kommt, wenn gegenläufige Triebe unterschiedliche Handlungsoptionen nahelegen. Oder verein1„The Queen is not amused“ („Die Königin ist nicht amüsiert“) ist ein gern zitierter Satz im Zusammenhang mit Queen Elizabeth II. 2Wilberforce war nicht einfach ein anglikanischer Bischof, sondern einer der herausragenden Vertreter der Anglikanischen Kirche und gleichzeitig auch der Kaplan des Gemahls der Königin Viktoria.

6  Aggression und Ritualisierung     135

facht auf den Punkt gebracht: Mögliche Konfliktsituationen werden durch ritualisiertes Verhalten gemeistert. Das Gleiche gilt auch für den Menschen. Irenäus Eibl-Eibesfeldt (1928– 2018), Vater der Humanethologie (Erforschung des menschlichen Verhaltens) und Schüler des berühmten Ludwig von Bertalanffy (1901–1972), der uns noch intensiv beschäftigen wird, schildert ein solch rituelles Verhalten zum Zweck der Entschärfung einer möglichen Konfliktsituation wie folgt: „Wenn ein Yanomami […] das Dorf seiner Gastgeber betritt, dann macht er zunächst voll geschmückt einen kriegerischen Tanz. Die Waffen schwenkend, oft auch auf die Gastgeber zielend und mit scheinbar unnahbarer Miene, absolviert er tanzend ein eindrucksvolles Imponiergehabe. Mit diesem recht aggressiven Verhalten verbindet sich jedoch ein freundlicher Appell: Ein Kind tanzt mit ihm und schwenkt dabei grüne Palmwedel […] Welche Variationen des Themas auch vorgeführt werden, immer finden wir jene gegensätzliche Kombination.“ (Eibl-Eibesfeldt 1997, S. 678)

Ritualisiertes Verhalten dient also letztlich dazu, eine allzu radikale Wirkungsweise der egoistischen Gene zu verhindern und das Zusammentreffen von Angehörigen derselben Spezies zu ermöglichen, wenn immer das notwendig ist. Bleiben wir zunächst bei den Tieren: Diese Notwendigkeit, kurzfristig miteinander auszukommen, beschränkt sich bei einzelgängerischen Arten auf die Paarungszeit. Andere Tierarten, so zum Beispiel Wölfe, leben in Gruppen, und ihre egoistischen Gene müssen sich irgendwie dauerhaft arrangieren. Auch bei Wölfen kommt es gelegentlich zu Konflikten. Da Wölfe in Rudeln jagen, ihr Erfolg als Individuum also direkt vom Erfolg des Rudels abhängt, ist es für den Einzelnen und dessen egoistische Gene nicht sinnvoll, ein Rudelmitglied im Rahmen eines Rangkampfes zu beschädigen. Wölfe haben daher für ihre Kämpfe bestimmte Signale entwickelt – dazu gehört die dargebotene Kehle oder das Imitieren von Welpenverhalten z. B. durch Betteln um Futter –, die dem Sieger die Unterwerfung des Unterlegenen sicher kommunizieren. Dieser verzichtet dann auf eine wirkliche Beschädigung des Gegners. Auch ein eingeklemmter Schwanz ist beim Wolf wie auch beim Hund eine Demutsgeste, die einen Kampf verhindern soll. Unsere Schimpansen kämpfen dagegen untereinander Rangordnungen aus. Das Maß an Gewalt bei diesen Rangkämpfen unter den Schimpansen ist beträchtlich und wird nur in Grenzen gehalten, weil auch Schimpansen clevere Kosten-Nutzen-Rechner sind: Wer keine Chance auf einen oberen Rang hat, tritt gar nicht erst an, und wer sich auf den Kampf einlässt,

136     I. Wunn

probiert es zunächst einmal mit einer bloßen Demonstration seiner Kräfte: Er zeigt ein fulminantes Display, macht sich also im wahrsten Sinne des Wortes zum Affen. Andererseits zeigt er sich jedoch freundlich gegenüber den Mitgliedern der Gruppe, die nicht mit ihm um die Alphastellung konkurrieren, und vergewissert sich immer auch der Unterstützung durch andere. Auch Menschen lieben übrigens das Display: Der erwähnte eindrucksvolle Auftritt mit dem PS-starken und raumgreifenden SUV (Sport Utility Vehicle), den auf Mitteleuropas breiten und schlaglochfreien Straßen niemand braucht, ist letztlich nichts anderes als das bereits öfter erwähnte und offensichtlich enorm effektive Zusammenschlagen leerer Speiseölkanister und dient bei menschlichen Männchen dazu, von der Tatsache höheren Alters, einer Hühnerbrust oder geringer Körpergröße abzulenken. Die menschlichen Weibchen setzen dagegen ein solches Fahrzeug als Signal für hohes Ranking (vor allem, wenn man den Umweg über den Geldbeutel des long-term mating-Partners eingeschlagen hat) oder zur Vergrößerung einer insgesamt als etwas mickrig empfundenen Gesamterscheinung ein: Denn vor 165 cm lichter Höhe bei 50 kg Körpergewicht hat einfach niemand Angst! Das Ganze dient bei Männchen wie Weibchen dazu, sogenannte submissive Dominanzbeziehungen herzustellen, also ohne eine körperliche Auseinandersetzung den Anspruch auf eine obere Position in der Hackordnung anzumelden. Weitere Aktivitäten wie Lächeln, freundliche Worte oder ein Geschenk relativieren den aggressiven Auftritt des um Dominanz bemühten SUV-Fahrers (m/w/d) und machen deutlich, dass es dem Kandidaten um eine freundliche Beziehung geht.

Vom ritualisierten Verhalten zum Ritual Nach dem Blick ins Tierreich und dem kleinen Abstecher in unsere Vorgärten und Garagen wollen wir nun das menschliche Verhalten unter dem Gesichtspunkt der Ritualisierung einer näheren Betrachtung unterziehen. Menschen sind im Vergleich zu Schimpansen, Gorillas oder auch nur Pavianen eine wenig wehrhafte Art, deren Zähne ungleich den gefährlichen Gebissen unserer Affenverwandten zu harmlosen Kauwerkzeugen reduziert wurden. Auch in Sachen Körperkraft und Schnelligkeit (wohl aber in Sachen Ausdauer!) können wir und konnten unsere Vorfahren, die Australopithecinen und die daraus hervorgegangenen Arten der Gattung Homo, nicht mit den konkurrierenden Bewohnern der afrikanischen Galeriewälder und Savannen mithalten. Aber Australopithecus und Homo

6  Aggression und Ritualisierung     137

hatten einen Vorteil: Sie setzten im Laufe der Evolution unter anderem auf Intelligenz! Und diese Intelligenz ermöglichte ihnen das Leben in Gruppen, und zwar solchen Gruppen, in denen das Miteinander auf der Unterdrückung von Aggressivität zum Wohle Aller basiert. Kurzum, man setzte auf Kooperation! Wie unsere Vorfahren ihr Zusammenleben organisiert haben, wissen wir natürlich nicht. Allenfalls der Zeitpunkt des Zusammenlebens in größeren sozialen Einheiten und die Fähigkeit zur gemeinsamen Jagd auf Großwild können belegt werden. Die Funde der Speere von Schöningen (ca. 340.000 Jahre vor heute) und eine frühe Siedlung bei Bilzingsleben (370.000 Jahre vor heute) beweisen, dass bereits Homo erectus zu einem differenzierten sozialen Miteinander in der Lage war (Wunn et al. 2015). Innerhalb paläolithischer (altsteinzeitlicher) und auch heutiger Gruppen umherschweifender Jäger und Sammler musste also egoistisches Verhalten unterdrückt werden, denn nur gemeinsam konnten die körperlich schwachen Menschen erfolgreich Wildpferde oder Rentiere jagen oder ein Mammut erlegen. Und dass sie genau dies taten, belegen (siehe oben) zahlreiche archäologische Hinterlassenschaften. Welcher Techniken des Zusammenlebens man sich bedient haben könnte, zeigen Beispiele von heutigen Wildbeutervölkern. Die !Khung haben etwa einen ausgefeilten Verhaltenskodex, um ihr Überleben in den lebensfeindlichen Wüstengebieten des südlichen Afrika zu sichern. Dazu gehören die absolute Gleichrangigkeit aller Gruppenmitglieder und die Vorschrift, sämtliche zum Leben notwendigen Ressourcen einschließlich der Jagdbeute unbedingt zu teilen. Bei der Jagd darf auch der Jäger, der den entscheidenden Schuss tat, keine höheren Ansprüche stellen. Natürlich gibt es auch unter den !Kung, die allesamt ausgezeichnete Jäger sind, immer noch den einen, dessen Pfeil unweigerlich trifft, der also erfolgreicher ist als die übrigen Gruppenmitglieder. Damit jedoch nicht Eifersucht oder Neid auf einen besonders Tüchtigen den Zusammenhalt in der Gruppe gefährdet, tauschen die !Kung vor der Jagd ihre Waffen, sodass zwar bekannt ist, wessen Pfeil oder Speer dem Wild die tödliche Verletzung beigebracht hat, nicht aber, wer diesen Pfeil abgeschossen oder diesen Speer geworfen hat. Den größten Teil der Nahrung beschaffen allerdings die Frauen durch ihre Sammeltätigkeit. Sie sind es auch vorwiegend, aber nicht ausschließlich, die sich um die Kinder kümmern. Während ihres Miteinanders im Lager pflegen die Frauen ihre sozialen Beziehungen untereinander intensiv, sodass hier solide und belastbare Kontakte geknüpft werden. Sollten doch einmal Spannungen auftreten, die sich nach Auffassung der !Kung in Krankheiten zeigen, werden Heilungsrituale praktiziert, die den Sinn haben, die K ­ rankheit und den

138     I. Wunn

Bruch in der Gemeinschaft zu heilen. Diese Heilungsrituale sollen die Beteiligten glücklich machen, und glückliche Menschen tun der Gemeinschaft gut! Das Heilungsritual selbst enthält wieder die bekannten antagonistischen Elemente aus Aggression und Beschwichtigung, die uns bereits von unseren kleinen ritualisierten Alltagshandlungen her bekannt sind. Auch die Mbuti-Pygmäen im östlichen Kongo sind streng egalitär. Ihre Gruppen bestehen aus sieben bis 30 Kernfamilien, die als Jäger und Sammler ein mehrere Tagesmärsche großes Territorium durchstreifen. Die Gesellschaft der Mbuti-Pygmäen kennt kein Ranking und keine Arbeitsteilung. Sowohl Frauen als auch Männer kümmern sich um die Versorgung der Kinder und um die Nahrungsbeschaffung. Jeder, auch Kinder und Alte, tragen zum Unterhalt der Gruppe nach bestem Vermögen bei, haben aber auch jederzeit das Anrecht, versorgt zu werden. Bei der Jagd, die traditionell als Treibjagd mit Netzen durchgeführt wird, arbeiten beide Geschlechter zusammen. Die Jagdbeute wird anschließend aufgeteilt, wobei über den Verteilungsschlüssel so lange diskutiert wird, bis alle mit der Lösung zufrieden sind. Sollte es doch einmal zu Unstimmigkeiten in der Gruppe kommen oder wächst die Individuenzahl in der Gruppe stark an, kann sich jeder einer anderen Gruppe anschließen, ohne dass dies als Affront aufgefasst wird. Da ein Wechsel zwischen benachbarten Gruppen auch ohne irgendwelche Notwendigkeiten oder Divergenzen durchaus üblich ist, variieren die Zusammensetzungen der einzelnen Gruppen. Die Grenzen ihrer Reviere jedoch bleiben fest (Territorialität!). Aggressionen als Folge eines Wettbewerbs um Ressourcen scheinen in dieser lebensfreundlichen Umgebung nicht aufzutreten. Sollten sich doch einmal Unglücksfälle ereignen oder gar häufen, kennen die Mbuti ein probates Mittel, um die übliche Harmonie wiederherzustellen: Sie wenden sich an den Wald, der in ihrer Weltanschauung eine über das rein Materielle hinausgehende Dimension bekommt. Der Wald als Heimat und Nahrungsspender ist Vater und Mutter der Mbuti zugleich, und wenn ihr Leben nicht in den gewohnten sorglosen Bahnen verläuft, heißt das, dass der Wald schläft und geweckt werden muss. Dieses Wecken findet nun im Rahmen eines Festes statt. Während dieses mehrtägigen Molimo-Festes wird mehr als üblich gejagt und die Jagdbeute abends gemeinsam verzehrt. Dabei sorgen Gesang und Tanz für eine heitere Stimmung und sollen den Wald erfreuen. Das Molimo-Fest hat letztlich die Aufgabe, mögliche Konflikte oder Unzufriedenheit nach Unglücks- oder Todesfällen im Keim zu ersticken und die Harmonie in der Gruppe wieder neu zu stärken. Begleitet wird das Fest von einigen symbolischen Hand-

6  Aggression und Ritualisierung     139

lungen wie dem Löschen und wieder Anfachen des Lagerfeuers und dem Blasen einer diesem Fest vorbehaltenen Trompete. Auch eine weitere mögliche Klippe im Zusammenhang mit dem Kampf um begrenzte Ressourcen wird mithilfe ritualisierten Verhaltens umschifft: der Zugang zu möglichen Sexualpartnerinnen. Beim Elima-Fest ziehen junge Frauen mit dem Eintritt ihrer ersten Menstruation gemeinsam in eine Hütte und lernen dort von älteren Frauen alles das, was mit Sexualität, Schwangerschaft und möglicher Mutterschaft zu tun hat. In dieser Zeit werben die unverheirateten jungen Männer um die Mädchen. Es herrscht große sexuelle Freizügigkeit, und zukünftige Partnerschaften werden angebahnt. Der Sozialpsychologe und Psychoanalytiker Erich Fromm (1977) rechnete daher die Mbuti-Pygmäen zu den „lebensbejahenden Gesellschaften“, die sich durch ausgeprägten Gemeinschaftssinn, soziale Gleichheit, freundliche Kindererziehung, tolerante Sexualmoral und geringe Aggressionsneigung auszeichnen. Anders ist das Zusammenleben der Inuit, jener indigenen Völker, die im arktischen Zentral- und Nordostkanada und auf Grönland zuhause sind. Die Inuit lebten bis zur Zerstörung ihrer Kultur durch die heute dominierende westlich-europäische Kultur noch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts von der Jagd auf Meeressäuger und vom Fischfang. Die meisten Inuit waren halbsesshaft, d. h., sie lebten als Familiengruppen in Camps. Die Sozialstruktur war mehr oder weniger egalitär, und der Zugriff auf verfügbare Ressourcen stand allen im gleichen Maße offen. Allerdings war ein Leben unter den harten Bedingungen der Arktis nicht leicht, und es kam durchaus zu Konflikten zwischen den Individuen. Damit diese Auseinandersetzungen nicht den Zusammenhalt der Gruppe und das Überleben aller gefährdeten, fanden sie in ritualisierter Form statt: Entweder wurde der Missetäter nach einer strengen Etikette verspottet, oder er musste sich seinem Widersacher in einem Faustkampf oder Gesangsduell stellen. Aus unserer Perspektive, nämlich der des egoistischen Gens, hieße das also: Egoistisches und damit gruppenfeindliches Verhalten muss unterdrückt werden, um den Zusammenhalt und damit das Überleben der Familiengruppen nicht zu gefährden. Jemand, der den Gruppenfrieden stört, muss also zur Raison gebracht werden. Dies findet in streng ritualisiertem Rahmen (und nicht etwa als privater Streit) statt und ermöglicht so den Kontrahenten, auch anschließend noch ohne Gesichtsverlust Mitglied der Gemeinschaft zu sein. Es hat zwar eine Auseinandersetzung stattgefunden, aber der allseits akzeptierte Rahmen garantiert, dass dies weder zu ernsthaften Beschädigungen noch zu einer kompletten sozialen Degradierung des

140     I. Wunn

Unterlegenen führt. Beides würde eine auf der Gleichheit aller Mitglieder basierende Gesellschaft nicht vertragen. Andere Gesellschaftsordnungen bergen dagegen allein aufgrund ihrer Struktur ein erhöhtes Konfliktpotenzial. Während sich die oben geschilderten Wildbeutergesellschaften durch gleiche Rechte und Aufgaben von Mann und Frau und darüber hinaus durch die große räumliche Mobilität ihrer Mitglieder auszeichnen, sind die von uns bereits erwähnten Makonde sesshafte Ackerbauern. Ihre Gesellschaftsstruktur ist einerseits matrilineal, d. h., dass sich die Familienzugehörigkeit nach der weiblichen Linie richtet. Es sind also Urgroßmutter, Großmutter und Mutter, die die Abstammung und damit die Verwandtschaft bestimmen. Der Mann, der polygam (mit mehreren Frauen) verheiratet ist, genießt in den Familien seiner Frauen nur Gastrecht – die Gesellschaft ist also auch matrilokal, d. h., die Männer ziehen für eine gewisse Zeit zu ihren Frauen. Den Frauen, die das beständige Element in der Makondegesellschaft darstellen, obliegt die Feldarbeit, der sie gemeinschaftlich nachkommen. Der Ertrag der Felder gehört folgerichtig ihnen, und zwar ihnen allein. Sie versorgen damit ihre Kinder und Familien und versorgen auch ihre Männer, aber nur so lange, wie diese sich bei ihnen im Haushalt aufhalten. Lebt der Mann gerade im Haushalt einer seiner anderen Frauen, wird diese ihn ernähren. Die Aufgabe der Männer war ursprünglich die Verteidigung des Dorfes gegen die kriegerischen Yao, und es oblag ihnen das Geschäft der Jagd. Das änderte jedoch nichts an der Tatsache, dass die Frauen in der ansonsten egalitären Makondegesellschaft das ökonomisch wie auch sozial stärkere Geschlecht darstellten. Diesem Ungleichgewicht begegnen die Makonde mit einem Ritual: Im Rahmen der Knabeninitiation findet regelmäßig der große Mapiko-Tanz (Maskentanz) statt. Die Masken3 stellen Ahnengeister dar, die die Frauen bedrohen, und die Männer sind es dann, die in ritualisierter Form, also auch im Tanz, die Ahnen wieder in ihre jenseitige Welt zurückdrängen. Ein Makondekenner beschreibt eine konkrete Tanzsituation in einem Dorf in Mosambik wie folgt: „Die Männer wollten die Frauen davon überzeugen, dass die mapiko ein toter Mann sei, der sich aus einem Ameisenhügel erhoben habe. Als die mapiko erschien und zum lauten und schnellen Klang der Trommeln ihren rasenden Tanz begann, schlossen sich die Frauen aus Angst in den Häusern ein, und

3Nur am Rande sei vermerkt, dass es sich bei einer einzelnen Maske um lipiko handelt; mapiko, also der Plural von lipiko, bezeichnet auch das aus dem Tanz mehrerer Masken bestehende Fest.

6  Aggression und Ritualisierung     141

nur ab und zu riskierte eine beherzte und neugierige Frau von weitem einen Blick.“ (Dias und Marwick 1961, S. 57)

Als ich selbst in den späten 1980er Jahren im tansanischen Siedlungsgebiet der Makonde lebte, glaubte zwar keine Frau wirklich, dass der Tänzer im physischen Sinne ein Toter aus der Ahnenwelt sei; dass er aber im Tanz den Ahnen verkörpere und in diesem Moment über die Kräfte der Totenwelt verfüge, war jedem Ritualteilnehmer ebenso selbstverständlich wie gegenwärtig. Dort konnte ich als temporäres Mitglied der Makondegesellschaft an einem solchen Mapiko teilnehmen und sehen, dass im Rahmen des Tanzes, aber auch während des gesamten Initiationsrituals, immer wieder Symbole auftauchen, die den Wert beider Geschlechter, Männer wie Frauen gleichermaßen, betonen und so den Zusammenhalt der Gesellschaft beschwören. Vieles an diesem Maskentanz erinnert an Huxleys Beobachtung der Vogelbalz: die sich wiederholenden Bewegungen, das Abwechseln von Droh- und Beschwichtigungsgesten, die eindringlichen und immer gleichen Botschaften, die die Ritualteilnehmer auf die unterschiedlichste Weise – akustisch, optisch und motorisch – erreichen! Auch hier sind es also unterschiedliche Intentionen, verschiedene Herausforderungen und die in der Makondegesellschaft verankerten Widersprüche, die mithilfe des Rituals überwunden und gemeistert werden müssen. Das große Initiationsritual und viele andere, so z. B. die wichtigen Heilungsrituale, trugen und tragen bis heute dazu bei, die Makondegesellschaft funktionsfähig zu halten, obwohl es keine politische Obrigkeit oder juristische Instanzen gibt.

Das Ritual: Vom Tier zum Menschen Um bei der Fülle der Informationen den Überblick zu behalten, fassen wir unsere Zwischenergebnisse zunächst noch einmal stichpunktartig zusammen: Tiere und Menschen sind Genegoisten, also Überlebensmaschinen, denen es nur um die erfolgreiche Weitergabe des eigenen genetischen Materials geht – also um erfolgreiche Fortpflanzung. Daraus resultiert der individuelle Egoismus einschließlich einer gewissen Aggressivität, denn jeder andere ist ein Konkurrent um Nahrung, Brutoder Nistmöglichkeiten und letztlich auch um Sexualpartner. Eine Einschränkung dieser Regel gibt es nur, weil die Überlebensmaschinen/ Individuen clevere Kosten-Nutzen-Rechner sind, und dies verhindert meist

142     I. Wunn

ein Töten des Konkurrenten; vor allem wenn ein Zwang zum sozialen Miteinander besteht. Aus dem Zwang zur Kooperation zumindest während des Sexualaktes, bei sozial lebenden Arten jedoch auch beim alltäglichen Miteinander, resultiert ein Problem: Genegoismus und Zwang zur Kooperation aktivieren (triggern!) gegenläufige Reaktionen, die dem Gegenüber unwillkürlich oder bewusst kommuniziert werden. Im Laufe der Evolution hat sich aus diesem festen Set aus ursprünglich widersprüchlichen Botschaften ein festgelegtes, ritualisiertes Verhalten entwickelt, das hinsichtlich seiner Signalwirkung eindeutig ist. Beim ritualisierten Verhalten handelt es sich also um Verhalten mit Signalfunktion. Das Ritual beim Tier besteht aus einer festen Sequenz von Gesten und Lautäußerungen, die in dieser speziellen Zusammenstellung eine Botschaft kommunizieren. Bei den von uns gewählten Beispielen war die Botschaft die der Aufforderung zur Paarung. Aus der ehemaligen Sequenz von Gesten und Lautäußerungen ist also ein regelrechtes Ritual geworden, welches als eindeutiges Signal fungiert und auch genauso verstanden wird: Die Muster aus Bewegungen und Lauten sind also letztlich die Auslöser von sozialen Verhaltensweisen – und die Garanten dafür, dass ein soziales Miteinander überhaupt funktioniert. Und beim Menschen? Der Mensch sieht sich gern in guter biblischer Tradition als Krone der Schöpfung. Er meint – und eigentlich meinen wir das auch –, mit seinem aufrechten Gang, seiner Fähigkeit zur Werkzeugherstellung und vor allem mit seiner Intelligenz und der Fähigkeit zur Kooperation etwas Besonderes zu sein, der alle anderen Lebewesen in den Schatten stellt. Dass diese Einschätzung zu wissenschaftlichen Fehlern in der Sozialanthropologie und Religionswissenschaft führt, ist bedauerlich; dass sie zu Fehlern im Hinblick auf den Umgang des Menschen mit seiner Umwelt führt, ist katastrophal; dass sie zu Fehleinschätzungen des eigenen Verhaltens führt (siehe Kirche) ist heute allerdings eher belustigend! Vor rund 150 Jahren, also zur Zeit Charles Darwins und Thomas Henry Huxleys, konnte jedoch der Widerstand der Kirche eine Akademikerlaufbahn stark behindern, wenn nicht gar unmöglich machen! Schon der große Carl von Linné hatte ja den bekannten Sturm der Entrüstung hervorgerufen, als er in seinem Werk Systema naturae den Menschen mir nichts, dir nichts mit den Affen in die Ordnung Primates (Herrentiere) gesteckt hatte (Kap. 2)! Um ähnliche Misshelligkeiten zu vermeiden, hatte Darwin (1859) daher in seinem Buch „On the Origin of Species by Means of Natural Selection“ zunächst auf jede Aussage zur Evolution des Menschen verzichtet. Erst nach dem durchschlagenden Erfolg seines Werkes und der allgemeinen Akzeptanz

6  Aggression und Ritualisierung     143

der Selektionsthypothese – wir würden heute von Evolutionstheorie sprechen – wagte er den entscheidenden Schritt: In The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex (Darwin 1871) stellte er den Menschen an den ihm zustehenden Platz im Stammbaum und bestätigte so die systematische Zuordnung, die Linné zuvor auf der Basis eines Vergleichs der anatomischen Baupläne der Tiere getroffen hatte. Um seine Selektionsthypothese noch weiter zu erhärten, griff Darwin (1872) ein Jahr später zu einem weiteren Mittel: Er führte nun in seinem dritten großen Werk The Expression of the Emotions in Man and Animals auch die Ähnlichkeiten der Ausdrucksformen psychischer Zustände auf die gemeinsame Abstammung zurück. Der Aufhänger für dieses Buch war folgender: Inzwischen hatte wohl jeder begriffen, dass man auch den Menschen, die angebliche Krone der Schöpfung, als das Ergebnis eines Evolutionsgeschehens würde ansehen müssen. Aber man hatte trotz dieser ernüchternden Erkenntnis doch noch einen kleinen Trost: Als Mensch hatte man Gemütsbewegungen, also Gefühle, eine Seele, und die hatte das Tier nicht! Und nun kam Darwin und zeigte, dass sich Gefühle wie Furcht, Wut oder Freude im Gesicht eines Hundes oder Affen genauso zeigten wie beim Menschen! Die Ursache für diese Übereinstimmungen war klar: Die auf evolutivem Wege aus gleichen Stammformen entstandenen Muskelgruppen arbeiteten bei allen Säugetieren im Prinzip gleich, brachten also bei vergleichbaren Emotionen einen ähnlichen Ausdruck hervor. Damit hatte Darwin jedoch nicht nur wieder einmal die angebliche Sonderstellung des Menschen (die viele Sozialanthropologen und Religionswissenschaftler heute immer noch verzweifelt zu verteidigen suchen) hinterfragt und desavouiert, sondern gleichzeitig eine neue Forschungsrichtung, nämlich die der vergleichenden Verhaltensforschung, ins Leben gerufen. Das Ergebnis von Darwins Forschungen hinsichtlich der Gemütsbewegungen ist eindeutig. Das Verhalten von Tier und Mensch ist vergleichbar. Es unterscheidet sich nicht prinzipiell, da Mensch und Tier auf gemeinsame Stammformen zurückgeführt werden können. Es unterscheidet sich allerdings graduell, weil nämlich auch das Verhalten adaptiv ist und daher im Laufe der Generationen selektiert und damit verändert und angepasst wird. Das bedeutet: Ein Tier bzw. ein Individuum einer beliebigen Art kann hinsichtlich Körperbaus und Stoffwechsels noch so optimal an seine Umgebung angepasst sein. Wenn das Verhalten nicht auch angepasst ist, wird dieses Individuum keinerlei Chance haben, sich erfolgreich fortzupflanzen! Ein simples Beispiel: Eine Amsel kann noch so kräftig gebaut, ein noch so wundervoller Flieger und grandioser Sänger sein – wenn sie in ihrem Verhalten gegenüber der Katze nicht angepasst, also unvorsichtig ist, wird es mit der Paarung und der erfolgreichen Aufzucht kleiner Amseln

144     I. Wunn

nichts. Und der Maibaumlaubenvogel, der schlampige Lauben baut, also auf vogelkultureller Ebene nicht das richtige angepasste Verhalten zeigt, wird das Schicksal der unvorsichtigen Amsel teilen. Wenn Verhalten jedoch generell für eine erfolgreiche Anpassung an die Umwelt wichtig ist und sich im Laufe von Generationen entwickelt hat, können verwandte Arten nicht nur hinsichtlich ihres Körperbaus, sondern auch hinsichtlich ihres Verhaltens verglichen werden! Dies erlaubt dann weitergehende Schlüsse auf die Herkunft und den ursprünglichen Sinn dieses Verhaltens. Genau das haben wir in diesem Kapitel getan. Wir haben Beispiele für ritualisiertes Verhalten gesucht und es beim Menschen und beim Tier gefunden. Mehr noch, wir haben für ritualisiertes Verhalten beim Menschen und beim Tier dieselben Ursachen feststellen können: Wenn gegenläufige Empfindungen nach einer Ausdrucksform verlangen, um ein Miteinander zu ermöglichen und momentane Aggressionen zu unterdrücken, kommt ritualisiertes Verhalten ins Spiel. Der Humanethologe Irenäus Eibl-Eibesfeldt (1997) folgerte daraus völlig zu Recht, dass auch menschliches Ausdrucksverhalten Signalfunktion hat. Und der Begründer der Kulturwissenschaft Abraham Moritz Warburg (1866–1929), genialer und trotzdem inzwischen fast vergessener Erforscher menschlichen Kulturschaffens (kulturell geprägten Verhaltens und seiner Ausdrucksformen in der Kunst und in der Religion) konnte auf der Basis seiner überaus sorgfältigen Recherchen noch vor Eibl-Eibesfeldt bestätigen, dass sich beim Menschen sogenannte Universalien, also biologisch ererbte Verhaltensmuster, mit kulturell erlernten Symbolen mischen und sich dann ganz wie beim Tier in ritualisiertem Verhalten zeigen.

Das Ritual und existenzielle Ängste Diese Mischung aus ererbten Verhaltensmustern und kulturellen Symbolen zeigt sich exemplarisch in den altüberlieferten Ritualen der Puebloindianer Arizonas. Diese Indianer – die Hopi – leben bereits seit Jahrhunderten auf den kargen Hochplateaus, den Mesas, wo sie bis vor wenigen Jahrzehnten in einem schwierigen, durch extreme Trockenheit geprägten Klima Ackerbau betrieben. Die besonderen Umstände ihrer Existenz, d. h. die ständige Bedrohung durch mögliche Nahrungsengpässe, durch Krankheiten oder durch missionierende und kolonisierende Europäer, hatte sich im Weltbild und damit auch in der Kultur der Hopi niedergeschlagen. Besonders ein Motivpaar ist beeindruckend: Blitz und Schlange. Beide Motive fanden und finden sich regelmäßig als Blitzaltar mit der Blitzschlange in den

6  Aggression und Ritualisierung     145

Abb. 6.3  Hopi-Schlangentänzer. (© Burbank/ZUMAPRESS/picture alliance)

­nterirdischen Andachtsräumen, sogenannten Kiwas. Sie zierten jedoch u auch als profanisierte Bildelemente Häuser und Hotelzimmer. Die Schlange war und ist in der Hopikultur wegen ihrer blitzartig zuckenden, letztlich also blitzförmigen Gestalt und Fortbewegungsweise das lebende Symbol für den Blitz, und dieser zeigt wiederum das nahende Gewitter und damit das Eintreffen des lebenspendenden Regens an. Jedes Jahr im August, dem Regenmonat, vollziehen die Hopi das Schlangenritual (Abb. 6.3). Es beginnt damit, dass zunächst Klapperschlangen gefangen werden, die man dann badet und in einen der unterirdischen Andachtsräume bringt. Auf dem Höhepunkt der Zeremonie werden eben jene gefangenen Klapperschlangen auf ein Sandbild geworfen, auf dem wiederum Schlangen das entscheidende Motiv darstellen. Zuletzt werden die Schlangen ergriffen, während eines Tanzes herumgetragen und als Boten an die unterirdischen, schlangenartigen Ahnen und Kulturheroen in die Ebene entlassen. Den mythischen (mythisch im Sinne von sinnstiftender, religiöser Erzählung) Hintergrund der Handlung bildet das überlieferte Wissen um einen Kulturheros der Hopi, der in grauer Vorzeit eine Unterweltsreise antrat, die ihn zuletzt in die Schlangen-Kiwa führte. Dort, in der Unterwelt, wird das Wetter gemacht. Hier heiratete er zwei Schlangenmädchen, die ihm Kinder gebaren, und diese wiederum sind, so glauben die Hopi, die Vorfahren der Schlangentänzer und der Schlangen. Im Schlangenritual ergreifen also die Nachfahren jener Schlangenmädchen

146     I. Wunn

ihre Geschwister, die echten Schlangen, die sie mithilfe des Rituals in die unterirdische Kiwa schicken, um dort den Regen zu machen.4 Das Schlangenritual der Hopi besteht also genau wie die ritualisierte Handlung im Tierreich aus einer festgelegten Sequenz von Symbolen, die etwas kommunizieren sollen. Die Kommunikation findet in diesem speziellen Fall nun nicht zwischen mating-Partnern statt, deren Begegnung möglichst erfolgreich verlaufen soll, sondern zwischen den Hopi und den übermächtigen Gestalten der Unterwelt. Auch hier legt das Ritual den Schwerpunkt auf die Eindeutigkeit der Kommunikation: Die Botschaft, die man an die mythischen Verwandten in der Unterwelt schickt, ist die dringende Bitte um Regen. Die einzelnen Elemente des Rituals einschließlich des Schlangensymbols sind offensichtlich teilweise menschliche Universalien, also im Laufe der Stammesgeschichte ererbt. Sie lassen sich auf die Angst des Menschen vor der giftigen Schlange zurückführen, denn die Schlange scheint sich förmlich anzubieten, um existenzielle Ängste des Menschen zu symbolisieren. Bei den Hopi ist die existenzielle Angst das mögliche Ausbleiben des Regens! Die Schlange dient aber auch in anderen Regionen der Welt und zu ganz anderen Zeiten der kulturellen Verarbeitungen existenzieller Ängste: Die biblische Schlange im Mythos vom Sündenfall, die Schlangen auf dem Medusenhaupt, die Schlange als Stab des Moses in seiner Begegnung mit dem Pharao und auch die Schlange in der Laokoon-Sage erfüllen alle denselben Zweck: Man findet für eine existenzielle Bedrohung ein Symbol. Mit diesem Symbol lässt sich dann arbeiten, man bekommt es in den Griff – und damit auch irgendwie die Bedrohung selbst!5 Andere Symbole haben sich dagegen im kulturellen Kontext entwickelt: So spielt bei den Hopi der Mais eine große Rolle und ebenso die Katchina (Puppen oder Masken, die die Ahnen darstellen sollen). Gerade diese Ahnen sind für die Hopi von größter Bedeutung, denn nach ihnen richtet sich die gesamte Sozialstruktur einschließlich der Anordnung der Wohnungen. Das Ritual hat also neben der weltanschaulichen eine in sozialer Hinsicht höchst signifikante Bedeutung. Über den Bezug auf mythische Gestalten, nämlich den Kulturheros und seine Schlangenfrauen, wird die gemeinsame

4Warburg interessierte am Schlangenritual vorwiegend der Aspekt des Umgangs des Menschen mit dem Gefühl existenzieller Bedrohung und der Überwindung dieser Ängste durch das Ergreifen und damit Begreifen mithilfe einer Verbildlichung und gleichzeitig Versachlichung des angstauslösenden Elements. Wir haben diese Zusammenhänge in Wunn und Grojnowski (2016, S. 73–77) ausführlich dargelegt. 5Warburg greift hier auf Überlegungen des klassischen Philologen und Religionswissenschaftlers Hermann Usener (1896/1985) zurück.

6  Aggression und Ritualisierung     147

Abstammung aller Mitglieder der Dorfgemeinschaft beschworen. Über den Rückgriff auf Symbole wird gezeigt, dass die Dorfgemeinschaft mit den Unwägbarkeiten des Wetters nur dann wird überleben können, wenn sie sich der Tatsache bewusst bleibt, dass alle unweigerlich und schicksalhaft aufeinander angewiesen sind. Das Ritual kommuniziert genau diese schicksalhafte Verbundenheit und beschwört die altüberlieferte und lebensnotwendige Gemeinschaft: Das Ritual dient also der Überwindung des Genegoismus des Einzelnen im Dienste des persönlichen Überlebens in der Gemeinschaft. Fazit: Das Ritual dient der Stärkung der Gemeinschaft, ja macht angesichts der prekären Überlebenssituation Gemeinschaft überhaupt erst möglich!

Das Ritual Nicht nur Tiere kennen also Rituale im Dienste sicherer Kommunikation zwischen Artgenossen, sondern auch der Mensch, wobei beim Menschen nicht ererbte Handlungsmuster im Vordergrund stehen, die automatisch in bestimmten Situationen abgerufen werden, sondern lange, gegliederte und ausgefeilte Sequenzen, in denen sich ererbte Verhaltensmuster und im kulturellen Kontext erlernte Symbole abwechseln. Zu den verwendeten Symbolen gehören nicht nur Bilder, Zeichen und Objekte, sondern auch sprachliche Symbole. Das können einzelne Wörter oder Wortsequenzen (Gebete, Beschwörungsformeln) sein. Letztlich ist aber auch der Mythos, also die religiöse, sinnstiftende Ursprungserzählung, ein solches Symbol. Häufig beziehen sich daher Rituale (beim Menschen) auf einen religiösen Mythos.6 Und da sind wir auch schon bei der gottesdienstlichen Handlung, die Huxley inspiriert hatte, bei bestimmten Formen repetitiven Handelns im Tierreich ebenfalls von Ritualen zu sprechen, und stellen fest: Huxley hatte auf ganzer Ebene recht. Menschliche und tierische Rituale unterscheiden sich nicht grundsätzlich, sondern nur hinsichtlich ihres Anteils an Symbolen, die im kulturellen Kontext erworben wurden, die sich dort aber genauso wie die ererbten Verhaltensmuster der Tiere ständig in der Auseinandersetzung mit den Erfordernissen der Umwelt bewähren müssen.

6Der

bedeutende Philosoph Ernst Cassirer (1964) nennt als die drei symbolischen Formen die Sprache, Religion und Mythos und zuletzt wissenschaftliche Erkenntnis.

148     I. Wunn

Wie bei anderen Säugetieren auch, dient das Ritual vordringlich der sicheren Kommunikation immer dann, wenn gegenläufige Bedürfnisse oder, nach Konrad Lorenz (1963), sogenannte „Triebe“ im Spiel sind. Dies ist der Fall, wenn Individuen (mit ihren egoistischen Genen) ihre egoistischen Individualinteressen unterdrücken müssen, um als Gruppe oder aber auch nur als Paar oder Familie zusammenleben zu können. Auch beim Menschen ist daher besonders dann mit einem Ritual oder zumindest mit ritualisiertem Verhalten zu rechnen, wenn sich an den bisherigen, eingespielten Konstellationen des Miteinanders etwas ändert. Das ist beispielsweise bei der Hochzeit der Fall, wenn zwei Menschen beschließen, ab jetzt ihr Leben gemeinsam zu verbringen. Selbst wenn die Brautleute auf ein religiöses Trauungsritual mit seinem Reichtum an religiösen Symbolen verzichten, ist die säkulare Eheschließung auf dem Standesamt hoch ritualisiert, wie nachfolgende knappe Beschreibung zeigt: Nach erfolgreichem Aufgebot erfolgt die eigentliche Verheiratung vor dem Standesbeamten nach einem strengen Schema. Zunächst wird das Brautpaar vom Standesbeamten (wie immer genderneutral gemeint, also m/w/d!) begrüßt, dann werden die Personalien festgestellt. Nun betritt man gemeinsam das Trauzimmer; Brautpaar, Trauzeugen und Hochzeitsgäste nehmen Platz. Es folgt die Ansprache des Standesbeamten, anschließend die feste Formel der Ehekonsenserklärung mit der Eheschließungsformel. Nun erklärt der Beamte ganz offiziell, dass die Hochzeiter rechtmäßig verbundene Eheleute sind. Die Ringe werden gewechselt, und der Brautkuss besiegelt die Verbindung. Zuletzt wird der Ehebucheintrag noch einmal vorgelesen und von den beiden Eheleuten mit ihrem gegebenenfalls neuen Ehenamen unterschrieben. Endlich wird den nun glücklich Verbundenen gratuliert, und das Ritual ist vorüber. Dies gilt zumindest für den offiziellen Teil. Im Allgemeinen folgt dann das rauschende Fest mit der Familie und den Freunden und, im stillen Kämmerlein, der körperliche Vollzug der Ehe, die so wichtige Paarung, um die sich ja alles dreht. Wir werden an späterer Stelle noch sehen, dass es sich beim Ritual also um einen Prozess in mehreren Stufen handelt. Zunächst soll hier jedoch die Schilderung der eigentlich einfachen, weil säkularen standesamtlichen Trauung genügen, um zu zeigen, dass der Wechsel der Lebensumstände in ein Ritual eingebettet ist. Und dieses Ritual kommuniziert, dass zwei Menschen nun in offizieller Form aneinander gebunden sind. Damit das Zusammenleben der Überlebensmaschinen egoistischer Gene auch funktioniert, schwört das kleine Ritual die Hochzeiter regelrecht auf die neue Situation ein: Ansprache des Standesbeamten (m/w/d), Ehekonsenserklärung, Bejahung der Ehefrage, Ringwechsel und Brautkuss ­wiederholen

6  Aggression und Ritualisierung     149

mit immer neuen Mitteln – über Sprache, materielle Symbole (Ringe) und Handlungen (Kuss) – die Tatsache, dass zwei Menschen nun offiziell verbunden sind und die von ihren egoistischen Genen hervorgerufenen unschönen Regungen nun im Dienste der neuen Gemeinsamkeit zu unterdrücken haben. Wie kompliziert das sein kann, wissen alle, die verheiratet sind oder die ihre gerade geschiedene Ehe noch in allzu präziser Erinnerung haben! Übrigens: Je aufwändiger und öffentlicher die Trauungszeremonie, desto haltbarer die Ehe! Untersuchungen haben gezeigt, dass die im Rahmen einer Fernsehshow (Traumhochzeit) getrauten Paare signifikant erfolgreichere Ehen führten als Paare, die die Trauung als formalen Akt en passant vollziehen ließen! Ein Blick auf unsere Beispiele aus dem bunten Garten der Völkerkunde zeigt uns jedoch, dass nicht alle Völker, Ethnien oder Kulturen hochkomplexe Rituale praktizieren oder auch nur kennen. So sind die Mbuti quasi ritualfrei, und nur in schweren Zeiten wird die Gemeinschaft im Rahmen eines Festes beschworen. Festgelegtes repetitives Verhalten, wie es für ein regelrechtes Ritual typisch ist, kennen die Mbuti nicht. Auch die !Kung kennen Rituale lediglich in Zusammenhang mit Heilung, stellen dies jedoch in einen eindeutig sozialen Zusammenhang (ein Heilungsritual stärkt die Gemeinschaft). Komplizierter wird die Angelegenheit bei den Inuit, die als teilweise sesshaftes Volk ritualisierte Verfahren im Dienste der Konfliktbereinigung kennen, und zuletzt sind da unsere Makonde, sesshafte Ackerbauern, deren Dasein durch große, sich über Monate hinziehende Rituale entscheidend gestaltet wird. Alle genannten Völker haben eines gemeinsam: Ihre Gesellschaften sind nicht stratifiziert. Sie haben keine Obrigkeit, die mögliche Konflikte lösen könnte! Alle Misshelligkeiten müssen daher in der Gemeinschaft von Gleichen unter Gleichen so bereinigt werden, dass ein Miteinander weiterhin möglich ist – ein Miteinander wohlgemerkt, welches für das gemeinsame Überleben und damit auch für das Überleben des Einzelnen essenziell ist. Aber es gibt zwischen den genannten Völkern Unterschiede, und das ist das Maß ihrer Mobilität. Die Mbuti und die !Kung haben jeweils Territorien (deren Grenzen energisch verteidigt werden), die sie als Jäger und Sammler durchstreifen. Sie sind nicht sesshaft. Gefällt es einem Mbuti nicht mehr in seiner Gruppe, kann er diese jederzeit ohne Gesichtsverlust verlassen und in eine andere Gruppe überwechseln. Die Inuit sind dagegen, obwohl Jäger und Sammler, nicht ganz so mobil. Sie leben zumindest für einen Teil des Jahres in Familiengruppen in Camps zusammen, und hier ergibt sich dann die Notwendigkeit, Konflikte auszutragen und zu lösen, wenn die Gruppe weiter erfolgreich zusammenleben will. Noch stärker ist diese Notwendigkeit

150     I. Wunn

bei sesshaften Ackerbauern ausgeprägt. Die Investitionen in das Roden eines Areals, in das Bebauen von Feldern und das Errichten von Dörfern sind so groß, dass man diese Investitionen nicht einfach im Stich lassen kann. Streitigkeiten müssen also irgendwie bereinigt werden – oder aber es kommt am besten gar nicht erst dazu. Also beschwört man mithilfe des Rituals einerseits die Gemeinschaft, räumt aber andererseits auch Konflikte aus. Es wundert daher nicht, dass archäologische Spuren erster Rituale zu einem Zeitpunkt auftreten, an dem die Menschen sesshaft wurden, feste Dörfer bauten und langsam von einer aneignenden Wirtschaftsweise (Jagen und Sammeln) zu einer produzierenden Wirtschaftsweise (Ackerbau und Viehzucht) übergingen. Am berühmtesten sind hier vermutlich die archäologischen Funde des frühneolithischen Jericho (um 8000 v. Chr.), wo man die Spuren aufwändiger Bestattungsrituale gefunden hat. Menschen, die gerade erst den Ackerbau für sich entdeckt hatten, ließen ihren Toten im Rahmen eines gewaltigen, sich über mehrere Monate hinziehenden Bestattungsrituals große Ehren zuteil werden, um diese zu Zeugen und Garanten eines nun unbedingt erforderlichen gedeihlichen Miteinanders der Lebenden zu machen!

Gesellschaftliche Schmankerln zum Abschluss Unsere egoistischen Gene sind also schuld, dass unser Zusammenleben nur unter großen Mühen und auf dem Umweg über starke Signale und ritualisiertes Verhalten halbwegs friedlich verläuft. Eigentlich begleitet uns jedoch immer die unterschwellige Angst vor dem anderen. Sei es der Nachbar, der seinen Knöterich über meinen Zaun wuchern lässt und daher in mir den Verdacht erweckt, dass er schon einmal vorsichtig testet, wie ernst es mir mit der Verteidigung meines Territoriums ist (der also Knöterich und Zaun als sogenannten Schimpfbereich nutzen könnte), seien es die Fahrstuhl-Imponierer, die diesen Raum akustisch als ihr Territorium markieren, sei es der unverschämte Kerl, der mit seinem SUV immer dann vor meiner Lieblingsbar mit den vielen potenziellen Sexualpartnern vorfährt, wenn ich gerade meinen umweltfreundlichen, aber wenig eindrucksvollen Kleinwagen dort eingeparkt habe – immer ist mein Anspruch auf ein Territorium oder einen mating-Partner bedroht. Das bedeutet: Das ganze Leben besteht aus existenziellen Unsicherheiten, und die zeigen sich im täglichen Verhalten. Stehen zum Beispiel männliche Exemplare der Spezies Homo sapiens in einer Gruppe beieinander, wie wir es bei Fernsehaufnahmen oder auf

6  Aggression und Ritualisierung     151

Abb. 6.4  Der französische König Ludwig XIV. (hier in einer Darstellung des Malers Rigaud) fügt optisch seinem Umriss mehrere Zentimeter durch hohe Absätze und die Allongeperücke hinzu, während der hermelingefütterte Mantel den absoluten Herrscher vor allem im Schulterbereich optisch verbreitert. (© Archiv Gerstenberg/ullstein bild/picture alliance)

­ arteiveranstaltungen immer wieder sehen, werden sich die menschlichen P Männchen meist nach Schimpansenart möglichst eindrucksvoll aufbauen. Sie können zwar nicht, wie der Afrikanische Elefant, ihre Ohren abspreizen, oder wie die Schimpansen ihr Fell aufplustern, um ihren Umriss zu vergrößern, denn die kümmerlichen Reste, die uns Menschen mit Glück auf dem Kopf geblieben sind, taugen kaum für einen großartigen Eindruck. Männer können aber auf andere Weise bedrohlich wirken, indem sie sich zum Beispiel breitbeinig aufstellen und die Schultern straffen (Abb. 6.4). Das macht optisch breiter und signalisiert Kampfbereitschaft. Das freundliche Lächeln, unsere altbekannte Beschwichtigungsgeste, nimmt die Drohung aber sofort zurück. Und dass die angeblich so gefährlichen Kämpfer letztlich nichts verspüren als nackte Angst, zeigt die Handhaltung: Die Hände sind vorsichthalber als wirkungsvoller Tiefschutz vor dem Gemächte positioniert! Übrigens: Damit nicht Soldaten in der Truppe so ein grässlicher Fehler unterläuft, ist ihre Haltung streng reglementiert: Augen geradeaus (kein demütiges Lächeln, keine Kontaktaufnahme durch Blicke) und Hände an die Hosennaht (kein Angstsignal via Tiefschutz)!

152     I. Wunn

Im gesellschaftlichen Alltag werden sich Schutz- und Verteidigungsgesten meist als überflüssig erweisen, denn beim Überreichen eines Gesellenbriefes, Abiturzeugnisses oder der Verleihung eines Bundesverdienstkreuzes kommt es meines Wissens nach nur selten zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Aber besser ist es, wenn man/frau vorsorgt. Dazu dienen dann in unseren hochkomplexen Gesellschaften die Versuche, eben jene submissiven Dominanzbeziehungen herzustellen, die ein hohes Ranking auch ohne vorherige Prügelei und Beißattacke ermöglichen. Dazu gehört die Lage des eigenen Büros: Ein Büro im oberen Stockwerk bedeutet eine höhere Position in der Firmenhierarchie. Dementsprechend hieß in einem Konzern im Ruhrgebiet (damals Rheinstahl) der dem oberen Management und den Vorstandsmitgliedern vorbehaltene Lift „Bonzenheber“. Dieser brachte die hochrangigen Männchen gleich in die wichtigen oberen Etagen, hielt also gar nicht erst auf den weniger imposanten Ebenen! Ebenso wirksam ist jedoch weltweit das prestigeträchtige Auto der oberen Preisklassen; bei Herren der Vorstandsetagen oder Bezieher von deutschen Beamtengehältern der Besoldungsgruppe B auch ausgesprochen gern mit Fahrer! Diese Äquivalente der leeren Speiseölkanister der Schimpansen werden im Übrigen auch von unserem älteren, aus dem Amt geschiedenen Politiker fast zwanghaft eingesetzt: Auch hier sollen Limousine, Fahrer und Bodyguards die submissive Dominanzbeziehung herstellen, also das hohe Ranking des ehemaligen Alphas sicherstellen. Da die Geschicke des älteren Herrn aber allseits bekannt sind, geht das Display hier leider ins Leere! Warum wird in diesem Zusammenhang vorwiegend von Herren gesprochen? Ist das nicht sexistisch? Dazu eine kleine Geschichte: Einer mir sehr gut bekannten, ausgesprochen munteren und erfolgreichen Dame gelang trotz gendertypischer Benachteiligungen der Aufstieg in eben jene illustren Kreise der oberen Stockwerke. Als es nach erfreulichen Gehaltsverhandlungen an den Dienstwagen ging, war man sehr erstaunt, dass besagte weibliche Führungskraft auf eben jenem PS-starken Wagen bestand, den gleichrangige männliche Kollegen fuhren. Diese hatten allerdings gemeint, dass für eine Frau auch ein kleineres Modell genüge. Die dahinterstehende Botschaft war folgende: Selbst wenn einer Frau der Aufstieg ins obere Management gelingt, steht sie im Ranking doch grundsätzlich unter den Männchen – wie bei unseren Schimpansen! Und welches Auto wählen wir angesichts dieser Erkenntnisse, meine erfolgreichen Damen? Keinen Kleinwagen, denn das bedeutet einen unteren Platz in der Hackordnung! Keinen SUV, das signalisiert Unsicherheit (und bloß nicht in den Haaren fummeln beim Einparken oder Aussteigen!). Wenn Sie es schon geländegängig mögen, dann nehmen sie

6  Aggression und Ritualisierung     153

wenigstens einen Unimog, der ist nicht zu toppen! Und keinen Sportflitzer, denn der sieht aus, als habe Ihr Mann Ihnen den geschenkt, signalisiert also sekundäres Ranking über den Rang des mating-Partners! Wählen Sie eine möglichst breite, dicke, raumgreifende (territorialer Anspruch!) und PSstarke Limousine eines prestigeträchtigen, aber soliden Herstellers! Auch Label oder generell teuer aussehende Kleidung dienen im Übrigen dazu, eine solche submissive Dominanzbeziehung herzustellen. Gerade Damen, die ihr vermeintlich hohes Ranking dem richtigen mating-Partner verdanken, versuchen gern, ihre Angst vor den egoistischen Genen anderer über Statussymbole zu kompensieren. So findet dann in bestimmten Kreisen (neues Geld, denn da ist man seiner Position noch nicht ganz sicher) ein regelrechter Wettbewerb um Louis-Vuitton-Handtaschen, Chanel-Jäckchen, Hermes-Tücher, Louboutin-Schuhe und Cartier-Schmuckstücke statt. Die wirklich erfolgreiche Frau trägt dagegen den gepflegten, aber praktischen Hosenanzug und das durable Kostüm – siehe Angela Merkel, Margaret Thatcher oder Christine Lagarde! Dementsprechend verzichten auch erfolgreiche Männer und generell auch der Adel auf Label, denn sie signalisieren damit umso wirkungsvoller, dass sie dergleichen nicht nötig haben! Was das Zusammenleben von Überlebensmaschinen egoistischer Gene, submissive Dominanzbeziehungen und ritualisiertes Verhalten anbelangt, ist nun eigentlich für unsere Zwecke alles gesagt. Nur eine kleine Zusatzbemerkung gilt es an dieser Stelle zu machen, und die betrifft die sogenannten guten Manieren. Sie, den geneigten Leser und die geneigte Leserin, mag dieser Gedankensprung zunächst wundern. Wenn wir jedoch rekapitulieren, dass das Zusammenleben von Menschen nur möglich ist, wenn wir die Auswirkungen des Genegoismus unterdrücken, erklären sich die guten Manieren wie von selbst. Es handelt sich hierbei nämlich um ritualisiertes Verhalten im Dienste eines gedeihlichen Zusammenlebens, das sinnlose Kleinkriege um Territorien, Nahrung und Sexualpartner verhindern soll. Sitzt zum Beispiel ein ungehobelter Kerl mit weit gespreizten Beinen in der Straßenbahn, ist entweder seine Hose im Schritt zu eng und er sollte aus Bequemlichkeitsgründen die den looser kennzeichnende Jogginghose wählen. Wahrscheinlich aber will er nur den dicken Maxe machen, also auf dem Straßenbahnsitz ein möglichst großes Territorium beanspruchen. Das breitbeinige Dasitzen gilt also, weil konfliktträchtig, als schlechtes Benehmen. Das Gleiche gilt, wenn beim Dinner jemand (fast immer ein Mann) mit langem Arm über den Tisch greift und sich eine Schüssel heranzieht. Höflich ist dagegen zu warten, bis die Schüssel herumgereicht wird. Gerade der Akt des Herumreichens mit dem Anbieten der Speisen garantiert, dass die

154     I. Wunn

Alphastellung und damit der bevorzugte Zugang zum Futter nicht bei Tisch ausdiskutiert werden muss. Und auch Damen nähert man sich höflich und zurückhaltend (selbst wenn es sich „nur“ um die Fachverkäuferin in einer Gärtnerei handelt). Weder prescht man gleich nach vorn, noch überfällt man die Schöne mit einem Redeschwall oder tatscht sie gar an. Wir sind ja nicht bei den Schimpansen, bei denen das Alphamännchen automatisch Zugriff auf die begehrten short-term-Sexualpartnerinnen hat. Nicht nur die Damen empfinden das als übergriffig, selbst wenn der verbale Überfall in Komplimente verpackt ist. Auch die übrigen anwesenden Herren düpiert man durch diesen unverstellten Zugriff auf Weibchen, der letztlich nur den Anspruch des Möchte-gern-Charmeurs auf den Alphamännchentitel untermauert. Dies könnte dann leider – siehe Schimpanse Mike – dazu führen, dass die Alphastellung sofort geklärt werden muss! Gleiches gilt für Damen: Auch die können natürlich nach dem Motto „Blond, Busen, Po“ bei einer Feier aufschlagen und ihren Anspruch als bevorzugte (short-term) mating-Partnerin deutlich machen, würden aber damit die sorgfältig austarierte Gruppenharmonie deutlich stören und damit das Zusammenleben der Überlebensmaschinen egoistischer Gene so gut wie unmöglich machen. Nicht zu Unrecht gilt also ein solcher Auftritt als schlechtes Benehmen. Sie erinnern sich an unsere Schilderung eines Events in Kap. 1? Auch hier erschien eine allzu blonde Dame, die aber von der Gesellschaft nicht zur Kenntnis genommen wurde. Ihr Display als sexiest woman alive wurde nicht beachtet; sie war damit gesellschaftlich als offensichtlicher Störenfried eines ausbalancierten Gruppenfriedens disqualifiziert. Dass ein solcher Verstoß gegen die guten Sitten böse Folgen haben kann, zeigt das Beispiel der teuersten Kokotte (1933–1957) der Nachkriegszeit, Rosemarie Nitribitt. Nachdem sie ihr Sexualpotenzial allzu aggressiv ausgespielt und damit gegen die gesellschaftlichen Regeln verstoßen hatte, wurde sie ermordet. Für ihre egoistischen Gene also ein glatter Fehlschlag!

Literatur Cassirer E (1964) Philosophie der symbolischen Formen 3 Bde. Bruno Cassirer 1923–1929, Berlin. [Nachdruck: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt] Darwin C (1859) On the origin of species by means of natural selection, or the preservation of favoured races in the struggle for life, 6. Aufl. 1872: The Origin of Species. John Murray, London

6  Aggression und Ritualisierung     155

Darwin C (1871) The descent of man, and selection in relation to sex. John Murray, London Darwin C (1872) The expression of the emotions in man and animals. John Murray, London Dias J, Marwick MG (1961) Portuguese contribution to cultural anthropology. Witwatersrand University Press, Johannesburg Eibl-Eibesfeldt I (1997) Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriß der Humanethologie. Weyarn Seehamer, München Fromm E (1977) Anatomie der menschlichen Destruktivität.  Aus dem Amerikanischen von Liselotte u. Ernst Mickel. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg Lorenz K (1963) Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression. Dr. G. Borotha-Schoeler, Wien Lucas JR (1979) Wilberforce and Huxley: a legendary encounter. Hist J 22(2):313– 330 Netzfrauen (2017) Indien: Ehefrau beim Stillen verbrannt, 7. Februar. https://netzfrauen.org/2014/02/07/indien-junge-mutter-und-baby-verbrannt/. Zugegriffen: 7. Mai 2019 Pro Igel e. V. (o. J.) Biologie & Verhalten – Fortpflanzung. www.pro-igel.de/biologie/fortpflanzung.html. Zugegriffen: 23. April 2019 Rappold E (2016) Mutter und Kind wurden zu Tode geprügelt. Hannoversche Allgemeine Zeitung, 26. April Usener H (1896/1985) Götternamen. Versuch einer Lehre von der religiösen Begriffsbildung. Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. Wunn I, Grojnowski D (2016) Ancestors, territoriality, and gods. A natural history of religion. Springer, Heidelberg Wunn I, Urban P, Klein C (2015) Götter, Gene, Genesis. Die Biologie der Religionsentstehung. Springer, Heidelberg

7 Ritual und Gesellschaft

Gesellschaft und biologisches Erbe Bevor wir uns mit gesellschaftlichen Aspekten des Rituals befassen, hier noch einmal kurz die Zusammenfassung unserer Fragestellung und der bisherigen Erkenntnisse. Das mag etwas redundant erscheinen, hilft aber, den Argumentationsstrang im Auge zu behalten und die momentane Position hinsichtlich der bisher gewonnenen Erkenntnisse und der noch offenen Fragen zu bestimmen. Da ist zuerst unsere Hauptfragestellung: Wie funktioniert Gesellschaft; warum haben einige Individuen Macht, und wie haben sie den Aufstieg in die Riege der obersten 1000 oder gar 100 geschafft? Hier kommt zunächst unser biologisches Erbe ins Spiel, denn trotz aller Kultur sind wir letztlich Primaten und damit eine Spezies unter anderen im Tierreich. Und so weit wir uns durch unser Kulturschaffen auch über die tierische Ebene erhoben haben, sind wir doch immer noch Säugetiere und als solche an grundlegende Existenzbedingungen gebunden. Diese Existenzbedingungen sind zunächst der Stoffwechsel und damit der Zwang zur Nahrungsbeschaffung und in zweiter Linie die Fortpflanzung. Genau das bestimmt letztlich unser Handeln. Die natürliche Folge der schlichten Tatsache, dass wir uns geschlechtlich vermehren und die Produkte dieser geschlechtlichen Fortpflanzung um Ressourcen wetteifern, ist der Egoismus des Individuums. Allerdings zeigen Beispiele aus der Tierwelt, dass es dem Individuum gar nicht um sich selbst, um seinen eigenen Vorteil geht, sondern dass es alles tut, um dem eigenen genetischen Material die besten © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Wunn, Vier Theorien, um die Welt zu beherrschen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61376-4_7

157

158     I. Wunn

Voraussetzungen zu weiterer erfolgreicher Reproduktion zu verschaffen. Da opfern sich Eltern auf – Beispiele waren Spinnenmütter und Löwenväter –, nur damit die Nachkommen optimale Startmöglichkeiten haben! Tiere und als Teil der Tierwelt auch Menschen sind Genegoisten! Die aus dem Genegoismus – Dawkins (1998) sprach vom selfish gene – resultierende Aggressivität der Individuen, also der Überlebensmaschinen jener egoistischen Gene, entpuppte sich aber als entscheidendes Hindernis nicht nur beim Zusammenleben, sondern bereits bei der Fortpflanzung, denn Genegoismus auf der einen und der Zwang zu einer noch so kurzfristigen Kooperation auf der anderen Seite aktivieren (triggern!) gegenläufige Reaktionen, die automatisch signalisiert werden. Beim Zusammentreffen genegoistischer Individuen erfolgt also eigentlich die Kommunikation widersprüchlicher Botschaften! Im Laufe der Evolution entstand aus diesen widersprüchlichen Botschaften eine regelrechte Informationssequenz mit einer ganz eigenen Bedeutung mit Signalfunktion. Dieses ritualisierte Verhalten ist teilweise genetisch fixiert, teilweise erlernt und fungiert als Auslöser sozialer Verhaltensweisen, so zum Beispiel als Aufforderung zur Paarung oder zum Füttern. Auch beim Menschen führen intraspezifische Aggression auf der einen und der Zwang zur Kooperation auf der anderen Seite zu Ritualisierungen, die sich schon bei einfachen Begegnungen deutlich zeigen. Gegenseitige Begrüßungen und ein Verhalten, welches allgemein als höflich bezeichnet wird, sind nichts weiter als ritualisierte Verhaltensweisen, die das menschliche Miteinander überhaupt erst ermöglichen. Spätestens zum Zeitpunkt der Sesshaftwerdung des Menschen, als sich komplexere soziale Strukturen herausbildeten, wurde das ritualisierte Verhalten umfangreicher und aufwändiger, der Input kultureller Symbole nahm zu und regelrechte Rituale entstanden, um gruppeninterne Konflikte zu lösen oder solchen Konflikten vorzubeugen. So weit unsere bisherigen Erkenntnisse.

Das Ritual So ein großes Ritual, wie es mit beginnender Sesshaftigkeit entstand, entspricht im Großen und Ganzen dem ritualisierten Verhalten in der Tierwelt und besteht aus einer Aneinanderreihung von Symbolen und Metaphern, wie unser kurzes Beispiel einer standesamtlichen Trauung gezeigt hat. Dieses Set aus gesellschaftlich relevanten Symbolen und Metaphern wiederholte bei unserem Beispiel auf unterschiedliche Weise identische Inhalte, um eine auf sozialer Ebene wichtige Botschaft zu kommunizieren: Zwei Individuen

7  Ritual und Gesellschaft     159

haben beschlossen, zum Zweck der Paarung und Gründung einer eigenen Familie einschließlich der sich daraus ergebenden Verpflichtungen ab sofort zusammenzuleben und zu wirtschaften. Das Ganze fand als performativer Akt statt, der allen unmittelbar und mittelbar Beteiligten den Wechsel der persönlichen Verhältnisse des Paares verdeutlichte. Heute, in einer Zeit gesellschaftlichen und moralischen Laisser-faire wäre ein solch demonstrativer und gleichzeitig juristischer Akt nicht notwendig, um eine long-term mating-Partnerschaft einzugehen, und trotzdem sind Eheschließungen für die meisten Menschen erstrebenswert – gerade wegen des demonstrativen Charakters, der den Mitmenschen kommuniziert, dass beide Partner für ein anderweitiges long-term mating vorläufig nicht infrage kommen, dass man bereit ist, gemeinsam für Nachwuchs zu sorgen und dass die jeweiligen Eltern und Schwiegereltern nun im Sinne der Unterstützung ihres weitervererbten genetischen Materials in die neue Verbindung und den daraus hervorgehenden gemeinsamen Nachwuchs kräftig investieren sollen.

Grundsätzliches zum Ritual: Das Initiationsritual der Makonde Nun sind nicht alle Rituale so kurz und einfach wie die von uns erwähnte Begrüßung oder die standesamtliche Hochzeit, sondern können sich über Tage (Hochzeit bei tunesischen Berbern) oder Monate (Initiation bei den Makonde) bis zu einem Jahr und mehr (Bestattung bei den Toraja) hinziehen. So unterschiedlich die Rituale im Einzelnen ablaufen und so verschieden die verwendeten Symbole auch sein mögen, haben diese Rituale alle etwas gemeinsam: Sie erfüllen in den jeweiligen Gesellschaften eine wichtige Aufgabe. Zur Verdeutlichung des Gemeinten begeben wir uns noch einmal nach Ostafrika in die Welt der Makonde. Sollte ein mutiger, gegen Hepatitis geimpfter und mit Malariaprophylaxe ausgestatteter Reisender sich gegen Ende der Trockenzeit in eines der abgelegenen Dörfer auf den Hochplateaus im Grenzgebiet von Tansania und Mosambik verirren, wird ihn melodisches Trommeln darauf hinweisen, dass hier etwas Besonderes stattfindet, und tatsächlich wird eben jener Reisende in der Mitte des Dorfes auf einen großen, aufwändig hergerichteten Festplatz stoßen. Während sich junge Männer schon einmal warmtrommeln und kleine Kinder ernst und eifrig versuchen, die musikalischen Künste der Erwachsenen zu imitieren, laufen Frauen geschäftig hin und her und schleppen enorme Mengen an Speisen, vor

160     I. Wunn

allem aber an Hirsebier herbei, welches ganz offensichtlich dazu dient, eine große Festgemeinde zu versorgen. Gegen Abend nimmt das Ganze dann feste Formen an: Zahlreiche Gäste aus den benachbarten Dörfern sind eingetroffen; Väter, Mütter und eine ganze Anzahl halbwüchsiger Knaben. Alle lassen sich nach und nach in den eigens zu diesem Zweck errichteten wandlosen Hütten auf hübsch geflochtenen Bastteppichen nieder; die Kapelle, die aus Trommlern mit ihren unterschiedlich großen und in verschiedenen Tonhöhen gestimmten Trommeln besteht, beginnt zu spielen. Speisen werden gekocht, die Gäste werden großzügig bewirtet, und das ­säuerlich-wohlschmeckende und nahrhafte Hirsebier fließt in Strömen. Die Stimmung ist ausgelassen, und man beginnt zu tanzen. Vor allem die Frauen tun sich im Tanz hervor und zeigen ihre Künste. Das Fest geht bei ausgelassener Stimmung bis in die frühen Morgenstunden, und nichts deutet auf einen möglichen Umschwung hin. Da brechen plötzlich aus dem Dickicht des Busches unheimliche Gestalten hervor: Die aschebleichen Gesichter weisen sie als Angehörige der Totenwelt aus! Die Toten ergreifen die halbwüchsigen Knaben und zerren sie ins Dickicht des urwaldähnlichen Busches. Die Mütter schreien auf, ergreifen einen Stock und prügeln auf die Entführer ein, die jedoch ungeachtet der heftigen Gegenwehr die Knaben mitnehmen. Die Frauen bleiben jammernd und weinend zurück! Obwohl, wie man sich denken kann, die geschilderten Ereignisse mit zum Ablauf des Rituals gehören und alle Gäste auf das Erscheinen der Figuren aus der Geister- und Totenwelt vorbereitet waren, ist die Erschütterung der Frauen und Mütter echt. Ihre kleinen Jungen, die bisher in der behüteten Frauenwelt des Mutter-Großmutter-Enkelhaushalts groß geworden sind, sind nun alt genug, die Aufgaben eines jungen Mannes, eines Jägers und Kriegers wahrzunehmen. Der Wechsel von der matrifokalen Welt der Frauen und Mütter in die Welt des Mannes und Kriegers ist jedoch für niemanden einfach: Auf die Knaben warten neue Aufgaben, ein risikoreicheres Dasein und der Wegfall der weiblichen Fürsorge. Für die Mütter verändert sich die Zusammensetzung der Familie: Der Sohn geht endgültig fort und wird zum Mann. Eine solche krasse Veränderung der Lebensverhältnisse ist für die Kernfamilie ebenso wie die Gemeinschaft eine Phase großer sozialer und psychischer Instabilität, in der sich unterschiedliche, gegenläufige Emotionen Bahn brechen. Kurz: Der komplizierte Anlass verlangt nach einem Ritual, dessen erste Phase – die Phase der Trennung der Knaben von den Müttern – wir gerade miterlebt haben. Für die Frauen und Mütter sind die Knaben nun tot. Die Geister, Angehörige der Totenwelt, haben die Kinder in ihr jenseitiges Reich entführt.

7  Ritual und Gesellschaft     161

Die Initianden selbst wurden jedoch von Mentoren, jenen als Geister kostümierten Gestalten, in den Busch (pori – ein lichter Urwald aus halbhohen Bäumen und Sträuchern) verschleppt, wo sie den Rest der Nacht ungeschützt verbringen. Am nächsten Morgen gehen sie dann daran, gemeinschaftlich eine Hütte zu bauen, die in den kommenden Wochen ihre Unterkunft sein wird und in der sich auch ihr Krankenlager befindet; Krankenlager deshalb, weil nun die schmerzhafte Zirkumzision (Beschneidung) stattfindet. Die Wunde wird mit einer speziellen Medizin behandelt, die neben anderen Ingredienzen den Saft eines Totenbaumes, des Frangipani, aber auch den Urin der an der Beschneidung beteiligten Männer enthält. Aus der Sicht europäischer Medizin und Wundversorgung ist eine solche Behandlung mit einer alles andere als sterilen Flüssigkeit eher kontraindiziert, um es gelinde auszudrücken. Für die Makonde ist sie aber wegen der großen Symbolkraft der Ingredienzen – der Saft des Totenbaumes steht beispielsweise für die Verbindung zu den Ahnen – ungemein wirkungsvoll. Sind die Wunden erst einmal abgeheilt, beginnt für die Knaben die Phase des Lernens. Hier, an diesem geheimen Platz im Busch, lernen sie alles, was sie als erwachsener Makonde, als tapfere Krieger, erfolgreiche Jäger und respektierte Ehemänner wissen müssen. Während dieser Zeit gilt der Aufenthaltsort der Initianden für alle als die Totenwelt. Der Ort ist tabu; niemand außer dem Beschneider und den Mentoren kennt seine Lage. Sollte ein Uneingeweihter zufällig auf ein solches Lager stoßen, tut er gut daran, sich rasch und unauffällig zurückzuziehen, denn ansonsten drohen ihm massive körperliche Züchtigungen und Übergriffe von Seiten der Initianden. Als Angehörige dieser Totenwelt sind die Initianden nämlich den üblichen sozialen Regeln des Dorflebens nicht mehr unterworfen! Welchen Regeln denn auch? Die Knaben sind nun mit ihrer Entführung in die Welt der Geister nicht mehr Teil des mütterlichen Haushaltes und damit keine Kinder mehr. Die Verhaltensregeln der Kleinen haben für sie keine Gültigkeit. Andererseits sind sie auch noch nicht voll ausgebildete Erwachsene, die die Rechte und Pflichten erwachsener Männer kennen und deren Regeln zu befolgen haben. Sie sind irgendetwas betwixt and between, wie der große britische Sozialanthropologe und unser Gewährsmann für Rituale, Victor Witter Turner (1920–1983), sagt (Turner 1967). Sie sind dazwischen – zwischen der Kinderwelt und der Erwachsenenwelt. Sie sind quasi in einem Verpuppungsstadium, in dem wie beim Insekt das gesamte Individuum umgebaut wird. Beim Insekt verpuppt sich die wurmförmige Larve. Und aus ihr schlüpft nach einer entsprechenden Zeit das fertige Insekt – der Käfer oder Schmetterling. Bei der Initiation verpuppt sich quasi das Kind, und nach der Übergangsphase im Busch schlüpft dann

162     I. Wunn

Abb. 7.1  Die Toten besuchen das Dorf beim Mapiko-Tanz der Makonde. (K.U. Petry mit freundlicher Genehmigung)

aus dieser Puppe der fertige Krieger und Jäger! Bevor es jedoch so weit ist, findet der Höhepunkt des gesamten Rituals statt, denn wir befinden uns nun, Wochen nach dem ersten, eröffnenden Fest, noch mitten drin! Nun ist der Zeitpunkt gekommen, an dem die Toten dem Dorf einen überraschenden und bedrohlichen Besuch abstatten! Natürlich wurde für diesen „überraschenden Besuch“ alles vorbereitet: Speisen wurden gekocht, Hirsebier wurde gebraut und aus dem Saft der Kokospalmen der berauschende Palmwein hergestellt. Auch die Trommler sind wieder da, und am späten Nachmittag beginnt das Mapiko-Fest (Kap.  6). Sorgfältig maskierte Gestalten mit den berühmten geschnitzten Masken brechen aus dem Unterholz – nach Möglichkeit unter einem Totenbaum – hervor und bedrohen tanzend die Frauen (Abb. 7.1). Diese haben eine Kette gebildet und bilden eine tanzende Phalanx, die je nach dem Ausmaß der Bedrohung durch den stockschwingenden Totengeist vor- und dann wieder zurückweicht. Einige ängstliche Frauen haben sich in die Hütten geflüchtet und dort verbarrikadiert. Im Moment größter Bedrohung, als die tanzenden Totengeister die Frauen zu überwältigen und in die Totenwelt zu entführen drohen, stürzen die Männer des Dorfes hervor und retten tanzend ihre bedrohten Frauen vor den Gestalten der Totenwelt. Die Geister ziehen sich darauf wieder zurück, und das gesamte Dorf feiert noch Stunden bei Trommelklängen. Einige Tage später kehren die Knaben endlich aus dem Busch in ihr Dorf zurück. Die Ascheschicht, die sie bisher als Angehörige der Totenwelt gekennzeichnet hat, wird abgewaschen, sie werden vollständig neu eingekleidet und bekommen einen neuen Namen – das heißt, dass sie sozial ganz neu geboren werden. Sie kehren also aus der Totenwelt als neue

7  Ritual und Gesellschaft     163

Menschen, als neue Persönlichkeiten zurück und haben ihre frühere kindliche Existenz vollkommen abgestreift. Nun werden sie nicht wieder in den mütterlichen Haushalt zurückkehren, sondern zusammen mit anderen jungen Männern so lange in einer Junggesellenhütte leben, bis sie heiraten und dann in das Haus und den Haushalt ihrer Ehefrau ziehen.

Das Fest, die Ahnen und der Tod Das Initiationsritual bei den Makonde ist nicht nur wegen seiner großartigen Maskentänze ein Highlight für jeden Völkerkundler oder Anthropologen, sondern es verdeutlicht in exemplarischer Weise das Wesen eines Rituals im kulturellen und sozialen Kontext. Für uns, die wir soeben durch die harte Schule der biologischen Ritual- und Ritualisierungsforschung gegangen sind, sind einige Elemente ohne Schwierigkeiten zu identifizieren: Da sind zunächst einmal die gegenläufigen Interessen mit den daran geknüpften Emotionen, die es zu bewältigen gilt. Auf der einen Seite sind da die Mütter, die in einem von Frauen dominierten Haushalt ihre Söhne immer bei sich hatten. Vier Jahre wurden die Kleinen idealerweise gestillt. Die lange Stillzeit ist nötig, denn im Makondegebiet ist die Dichte an jagdbarem Wild nicht sehr groß. Zudem mussten die Jäger noch bis ins vorletzte Jahrhundert hinein Übergriffen der feindlichen Yao oder arabischer Sklavenjäger gegenwärtig sein, sodass sich ausgiebige Jagdzüge bis hinunter in die wildreicheren Ebenen nicht empfahlen. Zudem ist das gesamte Gebiet durch die Tsetsefliege verseucht, sodass auch Viehzucht kaum möglich ist. Daraus folgt, dass die Ernährung der Kinder und der Erwachsenen häufig einseitig, immer aber eiweißarm ist. Soll ein Säugling daher gesund heranwachsen, ist die übliche lange Stillperiode eine unbedingte Notwendigkeit. Daraus resultieren aber sowohl das Post-Partum-Sextabu – eine Mutter sollte nicht gleich wieder schwanger werden und nach einer weiteren Geburt das ältere, aber immer noch kleine Kind abstillen müssen – als auch eine ausgesprochen enge Mutter-Kind-Bindung. Diese Bindung zur Mutter ist naturgemäß sehr viel ausgeprägter als die Verbindung zum nur zeitweilig anwesenden Vater. Ein Aufbrechen einer so engen Beziehung ist schwierig und mit großen Emotionen verknüpft. Auf der anderen Seite muss jeder kleine Junge einmal zum Erwachsenen werden, der in der Dorfgemeinschaft die Aufgaben des Mannes übernimmt, und das sind die Verteidigung des Dorfes und die Versorgung der Gemeinschaft mit Fleisch. Es bedarf also besonderer Maßnahmen, das Muttersöhnchen aus seiner bisherigen engen

164     I. Wunn

Beziehung zu lösen und in die Gemeinschaft der Erwachsenen zu überführen, und genau diese Aufgabe übernimmt das Ritual. Die Gefühle von Trennungsschmerz und Zorn bei der Mutter dürfen sich in der ersten Phase des Rituals ungeschmälert zeigen und werden später anderen Gefühlen wie Stolz und Bewunderung für den schönen jungen Mann Platz machen. Der Knabe dagegen muss seine kindliche Furcht überwinden. Er erfährt durch die schmerzhafte Beschneidung im wilden Busch eine regelrechte Traumatisierung, die dafür sorgt, dass er mit seinem gesamten kindlichen Leben abschließt, und lernt anschließend ein völlig neues, männliches Verhalten. Der krasse Wechsel der Lebensverhältnisse der jungen Männer, die Trennung von Mutter und fast erwachsenem Kind ist also ein hochemotionaler Akt, bei dem ganz unterschiedliche Gefühle im Spiel sind: auf Seiten der Mutter Trauer über den Verlust eines Kindes, das der Mutter nie wieder so nah sein wird wie während der Kinderzeit, aber auch der Stolz auf einen großen Sohn, der bald ein mutiger Krieger und tüchtiger Jäger sein wird. Auf Seiten des Kindes konkurrieren Angst vor dem Ungewissen und den neuen Aufgaben zusammen mit dem Kummer über den Verlust der gewohnten Behaglichkeit und familiären Wärme, mit dem Stolz auf das Erwachsensein, die Vorfreude auf die neue Gemeinschaft der Männer und die mit Aufregung erwartete sexuelle Reife. Alle diese gegenläufigen Empfindungen brechen sich Bahn. Konrad Lorenz würde sagen, dass gegenläufige Triebe aktiviert werden – und die zeigen sich zunächst unverstellt in entsprechenden Reaktionen. So ist die Entführung der Knaben in den Busch durch initiierte Männer durchaus aggressiv. Die Kinder werden ihren Müttern regelrecht entrissen, und die Reaktion der Mütter ist entsprechend. Mit Stöcken schlagen sie auf die Entführer ihrer Kinder ein. Lediglich das Tanzgeschehen, in das dieser Entführungsakt eingebettet ist, relativiert den Auftritt, und das Tanzen und Feiern bis in die späten Nachtstunden machen allen Beteiligten deutlich, dass es sich hier eben um ein Ritual mit einem festgelegten Handlungsablauf handelt. Was die Mütter als ein Moment großen Trennungsschmerzes, aber auch erheblichen Stolzes erleben, bedeutet für die Knaben im Alter zwischen acht und 13 Jahren das herbeigesehnte Erwachsensein, an dessen Beginn jedoch nicht weniger als ein traumatisches Ereignis, nämlich die Beschneidung, steht. Die Entführung in den dunklen und gefährlichen Busch und die anschließende ungemein schmerzhafte Entfernung der Vorhaut lösen in den Kindern extremen Stress aus und erzeugen Gefühle des Ausgeliefertseins und der Hilflosigkeit, denen zum ersten Mal ohne mütterliche Hilfe begegnet werden muss. Diese starke psychische Erschütterung

7  Ritual und Gesellschaft     165

führt zu Veränderungen im zentralen Nervensystem, zu einer emotionalen und kognitiven Umstrukturierung, wie sie zum Beispiel auch die Verhaltenstherapie anwendet (Roth und Strüber 2018, S. 372 ff.). Möglicherweise ist genau dies der Sinn der schmerzhaften und gefährlichen Körpermutilationen: Durch die beängstigende Situation und gleichzeitig den großen Schmerz bei Gefühlen absoluten Ausgeliefertseins wird jegliches kindliche Wissen um das bisher als angemessen geltende Verhalten gelöscht, und wie bei einer gelöschten Festplatte neue Inhalte geladen werden können, können nun auch im Gehirn männliche Ethik und männliche Verhaltensnormen verinnerlicht werden.1 Gerade die Pubertät, in der sich die Adepten befinden, ist der ideale Zeitpunkt, um neue, gesellschaftlich erwünschte Verhaltensweisen einzuüben. In dieser Lebensphase durchläuft nämlich das Gehirn der Jugendlichen eine regelrechte Umbauphase, in der nicht mehr benötigte neuronale Verbindungen gekappt und neue Verbindungen aufgebaut werden. In dieser Phase ist das Gehirn besonders sensibel und für neue Lernerfahrungen offen, und genau hier greift das Ritual (Blakemore et al. 2010). Dabei spielt eben auch der Akt der Beschneidung eine entscheidende Rolle. Aus der Sicht der Makonde ist der riskante Eingriff absolut notwendig, denn erst das Entfernen der Vorhaut und damit das Trockenlegen der Glans penis entfernt alles Weibliche, Feuchte, das den unbeschnittenen Mann zu einem in geschlechtlicher Hinsicht uneindeutigen Wesen macht. Aus Sicht der erwachsenen Männer, die alle selbst in ihrer Jugend das Ritual der Beschneidung und Initiation durchlaufen haben, werden nun aus den Knaben Männer. Sie werden der Fürsorge ihrer Mütter entzogen, dann von erfahrenen Männern beschnitten und anschließend in allem unterrichtet, was sie als Männer wissen müssen. In der Zeit im Busch, während sie mit ihren neuen Aufgaben und Pflichten vertraut gemacht werden, vertieft sich nicht nur die Bindung zu den Vätern, sondern sie identifizieren sich auch mit der männlichen Welt, zu deren Teil sie nun geworden sind. Noch ein weiterer Punkt ist wichtig: Das unyago (die Beschneidungsfeierlichkeit) mit anschließendem mapiko (Maskentanz) wird immer von mehreren Dörfern gemeinsam begangen. Die Knaben, die gemeinsam beschnitten und anschließend mehrere Wochen als Adepten im Busch zusammen unterrichtet wurden, bilden eine verschworene Gemeinschaft, die 1Zu den Auswirkungen der Beschneidung männlicher Kinder und Jugendlicher vgl. z. B. Goldman (1999). Während es eine Fülle neuerer und neuester Literatur zum Thema der Beschneidung männlicher Säuglinge und Kinder in der westlichen Welt gibt, äußern sich nur wenige Autoren zu dieser Thematik in Zusammenhang mit Initiationssitten bei außereuropäischen Ethnien.

166     I. Wunn

zeit ihres Lebens eng zusammenstehen wird. Nicht nur der Zusammenhalt der Männer untereinander wird also befördert, sondern auch die Freundschaft von Männern verschiedener Dörfer, die dadurch größere politische und soziale Einheiten bilden können. Damit die während der Initiation vermittelten neuen Kenntnisse, vor allem aber die neuen sozialen Verhaltensregeln und Normen auch angemessen verinnerlicht werden, bedient sich das Ritual wirkmächtiger Symbole. In diesem Zusammenhang war bereits von der Medizin, ntela, die Rede, die auf die frischen Wunden aufgetragen wird, die aber mit Desinfektion und Heilungsförderung im westlich-europäischen Sinne wenig zu tun hat. Sie besteht vielmehr aus verschiedenen Ingredienzen, die alle von hoher Symbolkraft sind. Ebenso ist es mit dem Jagen und Leben im Busch, wo die Knaben unter Anleitung ihrer Mentoren ihren Lebensunterhalt zum ersten Mal selbst bestreiten müssen, also auf ein Leben als Jäger vorbereitet werden. Die wichtigsten symbolischen Handlungen und Akte kreisen jedoch um etwas ganz anderes: die Ahnen und den Tod. Um die Zusammenhänge zu verstehen, ist ein kurzer Blick in die Weltanschauung der Makonde unabdingbar. Die Makonde haben ein zyklisches Zeitverständnis: Zeit fließt für sie nicht linear von der Vergangenheit über einen kurzen Punkt der Gegenwart in Richtung Zukunft, sondern bewegt sich im Gegenteil auf einer großen Kreisbahn. Das heißt, dass jeder Mensch, wenn er geboren wird, in die Periode der Gegenwart, das sasa, eintritt und dort so lange lebt und auch leben wird, bis er in die Vergangenheit, das zamani, eingeht, also stirbt. Aus dem zamani, der Vergangenheit, die gleichzeitig Zukunft ist, werden jedoch auch die Kinder geboren. Zukunft und Vergangenheit sind also eins; sie fließen ineinander. Erscheint ein Neugeborenes auf dieser Welt, werden die Angehörigen überlegen, welchem der Vorfahren es am meisten ähnelt, und ihm den entsprechenden Namen geben: Der Vorfahre wurde also wiedergeboren, tritt aus dem zamani in die sasa-Periode ein. Dementsprechend ist auch der Tod nicht das Ende der physischen Existenz, sondern lediglich ein anderes Stadium, in dem sich der Tote nicht in der Welt der Lebenden, sondern in der Welt der Toten aufhält. Diese Welt der Toten ist in gewisser Weise konkret und genau lokalisierbar: Es handelt sich um die Grabstätten, die inmitten des Dorfes unter den Totenbäumen liegen. Genau diese Vorstellung von Werden und Vergehen, von Leben und Tod, von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als ineinanderfließender Kreislauf ist die weltanschauliche Grundlage des Rituals. Wenn am Ende des ersten großen Festtages die Adepten von Ahnengeistern, eigentlich jedoch von den Mentoren, in den Busch entführt werden, heißt das nichts anderes,

7  Ritual und Gesellschaft     167

als dass die Knaben von den Ahnen in die Totenwelt überführt wurden. Tatsächlich ist für die Familien das Kind tot – allerdings ist ein sozialer Tod damit gemeint! Tot ist es insofern, als es in seiner Rolle als Kind nie wieder im Dorf und bei seiner Familie erscheinen wird. Sein Status als Angehöriger der Totenwelt wird dadurch verdeutlicht, dass es an jenem verborgenen Platz im Busch mit einer Ascheschicht bedeckt herumläuft – es ist selbst ein bleicher Totengeist. Wie für die gefährlichen Totengeister selbst gelten auch für die Initianden nun keine sozialen Regeln, denn man existiert nicht in der sozialen Welt! Man ist nicht Person (im Sinne eines Menschen, der eine soziale Rolle ausfüllt), nicht Kind und nicht Erwachsener. Man ist in einem Zwischenreich, im sozialen Niemandsland. Hier muss sich nun unter Anleitung der Mentoren eben jene neue Persönlichkeit bilden, die dann ins Dorf zurückkehrt – als ein neuer Mensch, der wiederum, genau wie ein Neugeborenes, aus der Welt des zamani in die soziale Welt der Lebenden zurückkehrt, aber nun alle seine Wurzeln zu seiner kindlichen Existenz gekappt hat. Weitere Rituale werden im Laufe seines Lebens stattfinden: Heilungsrituale oder Rituale zur Bereinigung von Konflikten, und in jedem dieser Rituale wird der Mann einen etwas anderen Status erwerben. Zuletzt wird er am Ende seines Lebens in einem weiteren großen Ritual noch einmal in die Welt der Toten überführt werden und das sasa verlassen. Dass genau das Ritual mit seiner gemeinschaftlichen Überführung eines Menschen in eine neue Seinsphase und nicht etwa der physische Tod entscheidend ist, konnte der große britische Sozialanthropologe Edward E. Evans-Pritchard (1902–1973) deutlich machen. Er beschreibt einen Fall aus dem Leben der sudanesischen Nuer. Hier ging ein erwachsener Mann auf der Suche nach Arbeit in die Hauptstadt und entschwand für Jahre aus dem Gesichtsfeld seiner Angehörigen. Als diese auch nach langer Wartezeit nichts von ihm hörten und keinerlei Lebenszeichen erhielten, waren sie der Ansicht, er sei in der Fremde verstorben. Da für einen Toten jedoch nichts schlimmer ist, als nicht in die Totenwelt überführt zu werden, richteten sie für ihren vermissten Liebsten ein Totenritual in Abwesenheit aus. Er war nun für die Gemeinschaft tot und ein Mitglied der Anderswelt. Leider war aber besagter Mann nur den Verführungen der Großstadt erlegen, hatte dort ein fröhliches Leben zwischen leicht erreichbaren „Damen“ (short-term mating!) und diversen Vergnügungen geführt und war keinesfalls gewillt, wie verabredet die Früchte seiner Arbeit der Familie und dem Heimatdorf zugutekommen zu lassen. Daher hatte er sich zunächst einfach nicht mehr gemeldet und seine Familie im Unklaren über seinen genauen Aufenthaltsort gelassen. Erst nach einigen Jahren beschloss er, in sein Heimatdorf

168     I. Wunn

zurückzukehren. Dort galt er allerdings inzwischen als tot, und obwohl man ihn natürlich erkannte, durfte er weder am Dorfleben noch am Familienleben teilnehmen. Als in sozialer Hinsicht Verstorbener und rituell in die Totenwelt Überführter konnte er eben konsequenterweise nicht mehr Teil der Gesellschaft der Lebenden sein (Evans-Pritchard 1956)!

Ökonomische Aspekte des Rituals Wer die Ereignisse in Zusammenhang mit den MakondeInitiationsfeierlichkeiten genau verfolgt hat, dürfte unschwer festgestellt haben, dass es sich hierbei nicht nur in zeitlicher Dimension um eine ungemein aufwändige Veranstaltung handelt, sondern dass auch in materieller Hinsicht von allen Beteiligten, vor allem aber von den Eltern der Initianden, ungeheure Anstrengungen erforderlich sind, um die Feierlichkeiten auszurichten. Zwar ist nicht eine einzelne Familie allein der Gastgeber, vielmehr besprechen sich im Vorfeld eines solchen Großereignisses die Ältesten mehrerer benachbarter Dörfer miteinander und organisieren dann die Festivitäten gemeinsam. Dennoch bleibt die materielle Belastung für die Beteiligten enorm hoch. Immerhin muss ein Festplatz hergerichtet werden, Nahrungsmittel und berauschende Getränke sind zu beschaffen, Beschneider und Mentoren haben Anspruch auf ein Geschenk, und auch die Trommler kosten. Niemand will sich jedoch bei einem solchen einschneidenden Ereignis lumpen lassen, und so werden nicht selten bei einem solchen Fest die Vorräte ganzer Familien verprasst. Alle, auch Gäste aus den benachbarten Dörfern, sind eingeladen, und die Stimmung ist großartig! Natürlich verfolgt der Aufwand einen Zweck: Die vielleicht nicht jedes Jahr, aber doch regelmäßig wiederkehrenden Festivitäten, die von den Eltern der Initianden ausgerichtet werden, sorgen für eine gleichmäßige Verteilung oder zumindest Nutzung des Reichtums! Die Vorräte, die eine Familie anlegen konnte, heute auch ihre finanziellen Rücklagen, werden bei solchen Großereignissen aufgebraucht, um die Gäste und damit die Gemeinschaft zu verköstigen. Ich selbst bin während meiner Zeit bei den Makonde immer wieder um private Kredite zur Finanzierung der Feierlichkeiten gebeten worden! Im nächsten oder übernächsten Jahr hat dann eine andere Familie einen halbwüchsigen Sohn, dessen Initiation gefeiert werden muss, und die kommt nun mit anderen für das Wohl der Geladenen auf. Bei solch aufwändigen Festen ist es für die Betroffenen – und das sind letztlich irgendwann alle einmal – so gut wie unmöglich, Reichtümer oder auch nur größere Vorräte anzuhäufen, also Kapital anzusparen, mit dessen Hilfe man

7  Ritual und Gesellschaft     169

vielleicht ein Geschäft starten könnte, obwohl das eigene kleine Geschäft heute der Traum vieler Makonde ist. Reiche gibt es also nicht, denn das System, das auf den mit den Feierlichkeiten verbundenen Ritualen fußt, verhindert effektiv und ohne dass es den in dieses System Eingebundenen bewusst ist, jede Ansammlung von Reichtum in einer Hand. Andererseits gibt es auch keine soziale Ungleichheit, und niemand kann sich aufgrund seines Reichtums über den anderen erheben. Mehr noch: Die regelmäßigen großen Feierlichkeiten schaffen Verbundenheit und Harmonie zwischen den teilnehmenden Familien, den Dörfern und ihren Gästen. Konflikte werden auf diese Weise so gut wie ausgeschaltet, können erst gar nicht entstehen oder werden rasch beigelegt. Es wundert daher nicht, dass Harmonie in und unter den Familien hoch geschätzt und intensiv gepflegt wird. Dies geht so weit, dass selbst tragische Fehlentscheidungen nicht weiter diskutiert werden, nur um keine Streiterei aufkommen zu lassen. Wie weit das Harmoniebedürfnis geht, konnte ich selbst erleben: In meiner Zeit in einem Makondedorf erkrankte ein junger Mann schwer. Vermutlich hatte er einen Bandscheibenvorfall, denn er litt nach Aussage seiner Mutter unter kaum erträglichen Rückenschmerzen. Der Familienrat entschloss sich, den Erkrankten bei einem lokalen traditionellen Heiler, mganga, vorzustellen, der einen Schadenszauber diagnostizierte. Die Mutter, eine lebenskluge und aufgeschlossene alte Frau, hatte dagegen dringend zum Besuch eines europäischen Arztes im nahe gelegenen Regionshospital geraten, wurde aber überstimmt. Der Sohn, inzwischen überzeugt, verhext worden zu sein, legte sich auf seine Matte aus Palmblattfasern und starb innerhalb weniger Tage (vgl. dazu auch die Ausführungen von Mauss 1989, S. 178–195). Trotz ihres großen Schmerzes über den vermeidbaren Tod des Sohnes klagte die alte Mutter niemanden an, denn „es ist nicht gut, Streit in der Familie zu haben“. Genau dies ist in sozialer Hinsicht auch der Sinn des gesamten Rituals. Die Makonde sind eine sogenannte segmentäre Gesellschaft, nicht arbeitsteilig und egalitär (wie bereits hervorgehoben). Alle erwachsenen Mitglieder sind gleichwertig und haben dieselben, allerdings geschlechtsspezifischen Rechte und Pflichten. Außer der Trennung in einen weiblichen (Familie, Ackerbau) und männlichen (Verteidigung, Jagd) Zuständigkeitsbereich gibt es keine Arbeitsteilung. Jede Familie stellt ihre Gebrauchsgüter wie Tongeschirr, Kalebassen, Schlafmatten oder Waffen selbst her. Auch Institutionen oder Instanzen im Dienste der Konfliktlösung sind unbekannt.

170     I. Wunn

Weder gibt es eine Gerichtsbarkeit noch einen „Chief“, der über die Belange des Dorfes oder seiner Bewohner entscheiden könnte.2 Da aber die Individuen, unsere bekannten Überlebensmaschinen egoistischer Gene, einerseits zu eigennützigem Handeln neigen und sie andererseits als Einzelpersonen unter den schwierigen Existenzbedingungen der ostafrikanischen Küstenregionen nicht überlebensfähig wären, müssen die Überlebensmaschinen zu probaten Mitteln greifen, um ihr Zusammenleben überhaupt erst einmal zu ermöglichen und dann erträglich zu gestalten. Dieses probate Mittel ist, wie wir zeigen konnten, das Ritual! Einander zuwiderlaufende Gefühle und Wünsche führen automatisch zu spezifischem Verhalten, das wiederum ebenso spezifische Antworten triggert. Dies wird in eine bestimmte Abfolge gebracht und dient nun als Signal! Es entsteht die bekannte Informationssequenz mit Signalfunktion als Auslöser für die erwünschten sozialen Verhaltensweisen! Auch beim Mapiko-Tanz als Teil eines großen, umfassenden Rituals lässt sich diese Informationssequenz feststellen. Sie besteht aus einer festgelegten Abfolge aggressiver, beschwichtigender und heiterer Handlungen, Bilder und Wortbeiträge. Aggressive Gesten gehören zum Verhaltensrepertoire des Tänzers, der als ein böser Geist aus der Anderswelt auftritt (Abb. 7.1). Die Einbettung seines Auftritts in ein Tanzgeschehen macht den spielerischen, den versöhnlichen Gesamtcharakter des ganzen Geschehens deutlich. Dies wiederum ist in seinen einzelnen Gesten und Aussagen keineswegs heiter. Vielmehr verkörpert der Maskenträger eine grundsätzlich übelwollende Kreatur, die die Frauen existenziell bedroht. Auch ihr ritualisierter Kampf gegen das Wesen aus dem Totenreich, das Hin und Her der tanzenden Frauenphalanx, ist nicht heiter und friedlich. Viele Frauen verspüren tatsächlich Angst und verstecken sich in ihren Hütten. Wir dürfen an dieser Stelle auch nicht vergessen, dass es die Männer sind, die meist in Frauenmaske – die lipiko ist fast immer weiblich – die Frauen ängstigen und bedrohen. Hier, im Rahmen des Festes, haben die Männer die Gelegenheit, gegen die soziale und ökonomische Dominanz der Frauen aufzubegehren; quasi in der getanzten Aussage: „Wir könnten, wenn wir wirklich wollten!“ 2Vor

allem die Briten führten ein solches Häuptlings- oder Dorfvorsteheramt in Zusammenhang mit ihren kolonialen Eroberungen ein, indem sie eine offensichtlich hoch geachtete oder hochrangige Persönlichkeit ungeachtet der tatsächlichen traditionellen Herrschaftssysteme mit Befehlshoheit ausstatteten, aber auch für das Wohlverhalten der übrigen Dorfbewohner oder Clanmitglieder verantwortlich machten. Viele der heutigen politischen Probleme Afrikas – der Probleme mit Herrschaft – lassen sich auf diesen durch fahrlässige Ahnungslosigkeit geprägten Eingriff in bis dato ausgewogene soziale und politische Strukturen der Eroberten zurückführen!

7  Ritual und Gesellschaft     171

Dann sind es jedoch wiederum die Männer, die letztlich das Ungeheuer vertreiben und ihre Frauen retten. Auch hier ist das Signal eindeutig: Die Männer garantieren die Sicherheit der Frauen und stehen in bedrohlichen Situationen für sie ein. Und warum die mapiko, die Ahnenmasken? Das ganze Ritual bezieht sich, angefangen vom Auftauchen der Mentoren am ersten Festtag über das vorgebliche Verweilen der Initianden in der Totenwelt über die Medizin zum Behandeln der Beschneidungswunde bis zum Auftauchen der Toten beim mapiko, auf die Ahnen, die Verstorbenen. Beschworen wird hier der Zusammenhalt, vor allem die Kontinuität der Gesellschaft. Es sind die Verstorbenen, die über die Einhaltung der Gesetze und Regeln wachen, die die Makondegesellschaft zusammenhält. Das Auftreten der Verstorbenen, der Hinweis auf die Ahnen, ist der Bezug auf letztgültige Werte, die nicht mehr hinterfragbar sind. Und auf das Einhalten dieser Werte und der auf ihnen basierenden sozialen Ordnung werden sowohl die Initianden als auch alle Teilnehmer am Ritual mit ihren divergierenden Individualinteressen eingeschworen. Ganz konkret bedeutet das: Es sind zwar die Frauen, die mit Speisen und Hirsebier den fröhlichen Teil des Festes ermöglichen, und sie sind es auch, zu deren Familien die Knaben zeitlebens zählen werden, aber ohne die Männer wären selbst diese sozial und ökonomisch so starken Frauen hilflos und der feindlichen Welt ausgeliefert!

Ritual und soziale Ungleichheit Bei den Makonde ist es also letztlich soziale Unausgewogenheit, konkret die ökonomische und familiäre Dominanz der Frauen, die sich in einem Ritual Bahn bricht. Genauer: Die Dominanz der Frauen führt zum latenten Unmut der Männer, die in regelmäßigen Abständen ein legales Ventil findet. Die latente Benachteiligung der Männer kann in einem geregelten Rahmen zum Ausdruck gebracht und gleichzeitig korrigiert werden – zumindest was das Ansehen und die Bedeutung der Männer anbelangt! Das ist möglich, weil das Ritual den Wert und die Bedeutung der Männer in einer matrifokal organisierten Gesellschaft betont. Der Rückgriff auf nicht mehr hinterfragbare Autoritäten, die Ahnen, macht die Aussage des Rituals unangreifbar. Damit ist der Wert der Männer in der Gesellschaft bestätigt, und möglichen Konflikten zwischen den Geschlechtern wird wirkungsvoll vorgebeugt. Das Ritual dient also ganz wie die Ritualisierung im Tierreich der Vermeidung und Lösung potenzieller und tatsächlicher Konflikte.

172     I. Wunn

Genau diese Aufgabe hatte und hat ein Ritual auch in der hiesigen Gesellschaft. Zwar gibt es hier feste Strukturen der Herrschaft auf der Basis einer Demokratie, die jedem Erwachsenen, egal welchen Geschlechts, gleiche Rechte bei gleichen Pflichten garantiert, aber gerade die Notwendigkeit von Herrschaft – und sei sie auch demokratisch legitimiert und durch entsprechende Institutionen kontrolliert – führt zur Stratifizierung der Gesellschaft und damit zu Ungleichheiten. Ein Ministerpräsident oder Bürgermeister genießt nun einmal höheres Ansehen als irgendeine beliebige Assistentin an einem Lehrstuhl der örtlichen Universität; ganz zu schweigen von dem Krankenpfleger, dem Paketboten oder der Fitnesstrainerin (Kap. 14). Genau diese normalen und ordentlichen Bürger gehen regelmäßig zur Wahl, zahlen ihre Steuern und Sozialabgaben, engagieren sich sozial und sind gute Nachbarn – kurz, sie sind die Träger und Säulen des Staates und seiner demokratischen Verfassung. Wenn es aber darum geht, von eben jenem Staat, dessen Teil man ja selbst ist und den man finanziert, eine Dienstleistung einzufordern, wird genau jener Staat zu einer merkwürdigen kafkaesken Einrichtung, die ein Eigenleben entfaltet und an die kaum noch heranzukommen ist (Kap. 10 und 11). Ein neuer Reisepass ist fällig? Nur bei Anmeldung per PC und einer Wartezeit von mehr als sechs Wochen allein für das Vorsprechen bei der Behörde (Abb. 7.2)! Das Auto soll umgemeldet werden? Weitere vier Wochen Wartezeit sind fällig! Man wartet auf die Bewilligung eines Bauantrags? Nach zwölf Monaten

Abb. 7.2  Screenshot der Internetseite des Ordnungsamtes Hannover vom 07.06.2019 (siehe Datum auf dem PC in der rechten oberen Ecke). Es geht um einen Termin zur Beantragung eines Ausweisdokuments. Der nächste freie Termin kann für Ende Juli, also sieben Wochen später, gebucht werden! Nur am Rande sei vermerkt, dass die Wartezeiten natürlich für Alphas mit Kenntnis der richtigen telefonischen Durchwahl nicht gelten!

7  Ritual und Gesellschaft     173

könnte man mit etwas Glück und guten Kontakten zum Bauamt Nachricht erhalten (in Bayern geht es schneller)! Es geht um die Pflegeversicherung? Um den Bafög-Antrag? Den Schutzzaun gegen Wölfe? Oder gar um die Rechnung eines Handwerkers, die von der Stadt einfach nicht beglichen wird? Immer das gleiche Ergebnis: Wie in Franz Kafkas Roman Das Schloss rennt der Bürger gegen die Mauern der Institution, und man lässt ihn spüren, dass die Sachbearbeiter und Amtsträger, die Büroleiter und Dezernenten, die sich hinter Schaltern, Schreibtischen und Internetportalen verschanzt haben, diejenigen mit der größeren Macht sind, die den Antragsteller zappeln lassen. (Da ist es wieder, unser egoistisches Gen!) So etwas sorgt für Unmut; auch und gerade in einer Demokratie. Noch größer wird dieser Ärger, wenn es um politische Entscheidungen auf höherer Ebene geht. Sei es der Abgasskandal in der Autoindustrie, seien es fragwürdige, von Lobbyisten beeinflusste politische Entscheidungen in Zusammenhang mit dem Braunkohleabbau, seien es Waffenlieferungen an ausgewiesene Unrechtsstaaten aus politischem Kalkül oder das verantwortungslose Verhalten von EU-Mitgliedsstaaten: Die Politik, gesteuert von den Überlebensmaschinen der egoistischen Gene gewählter Politiker, wird kaum einmal Lösungen anbieten, die den oben genannten ordentlichen Bürger zufriedenstellen. Und genau hier hat sich die Gesellschaft ein legales Ventil geschaffen: den Karneval! Zu einer bestimmten Zeit im Jahr, die sich traditionell am Kirchenkalender orientiert, wird die allgemein akzeptierte soziale Ordnung mit ihren Autoritäten infrage gestellt. Bereits ab November finden Faschingsbälle und Sitzungen der Karnevalsvereine statt. Man ist kostümiert, und das heißt nicht weniger, als dass man die alten, eingespielten gesellschaftlichen Rollen mit ihren Verpflichtungen verlässt, um in andere Rollen zu schlüpfen. Die Kindergärtnerin ist nun in ihrem rosa Rüschenkleid endlich die Prinzessin, die sie immer einmal sein wollte! Der Polizeihauptmeister ist in seinem geringelten Anzug ein Sträfling, die Managerin ein Blumenmädchen, ihr Mann gibt wie in seinen Kindertagen den Indianer. Während der Sitzungen der Karnevalsvereine wird die Politik und werden die Politiker und andere Mächtige kräftig auf den Arm genommen. Der Spott ist beißend, und zumal in den rheinischen Karnevalshochburgen zielt die Pointe gern auch unter die Gürtellinie. Die Narrenkappe signalisiert, dass alle diese Grobheiten in geregeltem, also ritualisiertem Rahmen stattfinden: Man ist in diesem Moment nicht Mitglied der Zivilgesellschaft, sondern befindet sich in einem sozialen Niemandsland des betwixt and between, in dem die üblichen Regeln der Höflichkeit und des guten Betragens nicht gelten. Anwürfe gegen Würdenträger, denen im

174     I. Wunn

gewöhnlichen Alltag mit Respekt bis zur Unterwürfigkeit begegnet wird und deren Alphastellung allgemein akzeptiert wird, müssen sich nun Wahrheiten gefallen lassen, die im besten Falle grob, häufig jedoch unverschämt und verletzend sind – im Karneval jedoch mit zum üblichen Scherz-Repertoire gehören. Das bedeutet, dass sich hier eine legale Möglichkeit ergibt, auch Hochrangigen, den bekannten, von Speichelleckern und Nickemännern umgebenen Alphas,3 ungestraft und ungeschminkt die Meinung zu sagen. Die Alphas kennen und tolerieren diese Praxis während der besagten tollen Tage, denn sie gibt ihnen die Möglichkeit, sich Kritik anzuhören und auf sie zu reagieren – und das ohne Gesichtsverlust! Der Karneval erreicht seinen Höhepunkt im Straßenkarneval, der mit der Weiberfastnacht beginnt. Bezeichnenderweise sind es in unserer patriarchalischen Gesellschaft die Frauen, die an diesem Tag das Regiment übernehmen, und zwar, indem sie den Männern in Führungspositionen, also dem herrschenden Geschlecht und gleichzeitig der herrschenden Schicht, die Krawatte abschneiden. Die Krawatte gilt hier als Symbol: Als Kleidungsstück von Amtsträgern in Firmen und Behörden ist sie ein Zeichen für männliche Herrschaft. Gleichzeitig deutet sie in ihrer Form einen Phallus an oder zeigt zumindest mit ihrer Spitze auf den Phallus des Mannes. Wenn Frauen an Weiberfastnacht also die Krawatten abschneiden, werden die Männer in den Machtpositionen symbolisch entmannt und ihrer dominanten Stellung beraubt. Dem Gießereifacharbeiter, der Küchenhilfe oder dem Schmied wird nichts abgeschnitten – sie sind nicht die gesellschaftlich Mächtigen, die Alphamännchen, gegen die sich der rituelle Aufstand richtet. Dem Aufstand der Frauen in der Weiberfastnacht folgt am Rosenmontag der Höhepunkt des Ganzen: Die sogenannten Jecken übernehmen das Rathaus! Das berühmte Kölner Dreigestirn oder in anderen Karnevalshochburgen auch Karnevalsprinz und -prinzessin, trotz der royalen Titel nichts weniger als wahre Vertreter des einfachen Volkes, entthronen in den Rathäusern die Bürgermeister und übernehmen die Herrschaft – die Machtverhältnisse werden also geradezu umgekehrt!

3Diese

Speichellecker oder Unterstützer sind natürlich nichts anderes als die Verbündeten, die bereits unsere Schimpansen-Alphas benötigten, um ihre Stellung zu erobern und zu behalten. Bei ihnen reichte es nicht zu einer eigenständig erkämpften oberen Position, aber als Bevorzugte des Alphas fielen für diese Unterstützer noch genügend Vorteile ab, um die Stellung für sie attraktiv zu machen. Bei Menschen ist es nicht anders! Auch hier findet sich im Umfeld der Mächtigen die bekannte Entourage, die von der Stellung ihres Alphas profitiert, die es jedoch selbst nie in eine so herausragende Position schaffen würde.

7  Ritual und Gesellschaft     175

Dann wird gefeiert! Alle Amtsstuben sind geschlossen, auf den Straßen und Plätzen wird getrunken und getanzt, es wird „gebützt“ (geküsst), und jeder ist jedermanns Freund und Bruder! Dass die tollen Tage auch in sexueller Hinsicht freizügig sind, ist kein Geheimnis! Es gibt keinerlei Standesunterschiede, und alles mischt sich in allgemeiner Brüderlichkeit und Liebe. Victor Witter Turner, Begründer der anthropologischen Ritualtheorie (und damit Gewährsmann für unsere zweite große Weltbeherrschungsformel Ritual ), nennt dies den Zustand der communitas. Am Aschermittwoch ist alles vorbei. Der gewählte Bürgermeister ist wieder im Amt, und auch die vorherigen Probleme und Skandale sind wieder da. Die Wartezeiten auf dem Bürgeramt haben sich nicht verringert, obwohl sich der Sachbearbeiter aus der Abteilung Recht und Ordnung und die reisefreudige Grundschullehrerin mit dringendem Passbedarf gestern noch in einem schummerigen Hauseingang in der Nähe des Doms in den Armen gelegen haben! Aber es war schön; irgendwie sind alle trotz der zähen Kopfschmerzen (Alkoholabusus) und der ersten Anzeichen einer Erkältung (Unterkühlung beim short-term mating im Hauseingang) zufrieden. Die gesellschaftlichen Ungleichheiten und Unzulänglichkeiten lassen sich wieder etwas leichter ertragen, und in ein paar Monaten ist schließlich wieder Karneval! Und nun die Deutung: Obwohl wir ungleich den Makonde in einer stratifizierten Gesellschaft leben – also einer arbeitsteiligen Gesellschaft mit Institutionen und Hierarchien – und gesellschaftliche Probleme mithilfe dieser Institutionen (Wahlen, Gerichtsverfahren) gelöst werden können und sollten, ergeben sich dennoch im Alltag zahllose Reibungspunkte zwischen Individuum und Gesellschaft. Reibungspunkte sind letztlich die persönlichen Animositäten zwischen den verschiedenen Überlebensmaschinen egoistischer Gene, die mithilfe gesetzlicher Regelungen und entsprechender Institutionen in sozial vertretbaren Grenzen gehalten werden. Nicht immer genügen jedoch die Regelungsmechanismen der Gesellschaft den Anforderungen, und hier kommt wie im Tierreich das Ritual ins Spiel. In einem festgelegten Rahmen kommuniziert die Gemeinschaft bestimmte Botschaften, die sich an eine inzwischen demokratisch legitimierte Obrigkeit richten. Der Charakter dieser Botschaften ist teilweise ausgesprochen aggressiv! Die allgemeine fröhliche Stimmung, die begleitende Musik, der Tanz und der Festcharakter nehmen jedoch das Bedrohliche dieses Auftritts ein Stück weit zurück und machen ihn sozial verträglich. Aufgestauter Unmut und Unzufriedenheit mit der Herrschaft können sich so ein Ventil verschaffen, ohne die Stabilität des gesamten Systems zu gefährden. Der Karneval hat sich vor allem in katholischen Regionen entwickeln können, wo er aus fröhlichen Festivitäten vor Einsetzen der Fastenzeit

176     I. Wunn

hervorging. Seine politische Konnotation erhielt er während und unmittelbar nach der napoleonischen Besatzungszeit, weil sich der rituelle Rahmen für die Kritik an der jeweiligen Herrschaft geradezu anbot. Bis heute hat der Karneval von seiner Bedeutung als großes Gesellschaftsritual nichts von seiner Bedeutung eingebüßt. Im Gegenteil ist er gerade dabei, sich auch in traditionell protestantischen Regionen (wieder) zu etablieren. Ob in Magdeburg, Zerbst, Berlin oder Hannover: Überall übernehmen am Rosenmontag die Narren das Rathaus. Auch wenn sich die Versuche eines Karnevalsumzugs, bestehend aus den Wagen der lokalen Brauerei, einer viertplatzierten Partei und einer Sparkasse oder Volksbank, ein wenig kläglich ausmachen, scheint die kathartische Wirkung trotzdem zuverlässig einzusetzen! Kleine Probleme ergeben sich allerdings hinsichtlich der Einsicht in die Zusammenhänge zwischen kathartischer Wirkung und dem damit notwendig verbundenen beißenden Witz: Als eine führende Politikerin wagte, in ihrer Büttenrede einen deftigen Scherz über verweichlichte männliche „Latte-macchiato-Politiker“ und das für sie gendertechnisch passende WC zu machen, wurde sie in den sozialen Netzwerken verbal zerfleischt – offensichtlich in Unkenntnis karnevalesker Notwendigkeiten!

Wirkung des Rituals Nicht nur ritualisiertes Verhalten wirkt also als Signal und triggert spezifische, sozial erwünschte Verhaltensweisen, sondern Gleiches gilt für das Ritual im kulturellen Kontext! Wird ein Mensch in ein Ritual eingebunden und Empfänger der im Ritual kommunizierten Botschaften, ist für ihn das Ignorieren dieser Botschaften kaum noch möglich. Diese Wirkung des Rituals ist erwünscht, beruht auf dem Umbau von Strukturen im Gehirn, den sogenannten Datenautobahnen, und ist im Dienste des Zusammenlebens notwendig, wenn es um die Stabilität einer Gesellschaft geht. Rituale können jedoch auch ganz anders eingesetzt werden und dann möglicherweise verhängnisvolle Folgen nach sich ziehen. Ein solcher Fall spielte sich unlängst in einem kleinen Ort im südlichen Niedersachsen ab. Hier hatte sich ein ominöser Orden mit dem Namen Deutscher Hüterorden niedergelassen, der für sich selbst mit den Attributen „geheimnisvoll“ und „besonders“ warb. Letztlich handelte es sich bei dem angeblich Geheimnisvollen um eine dumm-naive Mischung aus Versatzstücken vereinfachter germanischer Mythologie, Okkultismus, einer erschütternd schlichten Form von Esoterik und merkwürdigem Geschwurbel im Dienste einer besonderen

7  Ritual und Gesellschaft     177

Welterkenntnis mit stark nationalistischen bis nationalsozialistischen Einschlägen einschließlich der Verwendung der sogenannten Schwarzen Sonne als Signet.4 Hier eine Kostprobe von der Facebook-Seite des Ordens: „Es grüßt der Deutsche Hüterorden, der Deutsche Hüterorden stellt ihnen nun die Geschichte der Menschheit des ersten Zeitalter (sic!) vor. Hören Sie sich das hüterliche Hörspiel an und erfahren Sie mehr als jemals zuvor über die Vergangenheit unserer Ahnen. Hütron Kronum, Sprecher des Hüterordens, verliest das Erbe des ersten Zeitalters aus dem Buch der Hüter.“

Junge Männer mit Sehnsucht nach einem vielleicht nicht ganz so bedeutungslosen Dasein und dem Wunsch nach Machtgewinn durch den versprochenen Kontakt zu übermächtigen Wesen (deren Existenz dann wider alle Wahrscheinlichkeit postuliert werden muss), fühlten sich von den dunklen und geheimnisvollen Versprechungen angezogen und traten dem Orden bei. Die Aufnahme in den Orden war mit einem regelrechten Ritual verbunden, in dessen Rahmen der Adept einen Ordensnamen erhielt und unter anderem den Ordenssitz, ein schlichtes Wohnhaus, vom Keller bis zum Dachboden durchschreiten musste. Ein kurzer Blick auf die entsprechenden Einträge in den sozialen Netzwerken legt nahe, dass dieses Durchschreiten der wenigen Stockwerke dem Aufstieg des Ordensmitglieds durch die verschiedenen Zeitalter (kleine Anleihe aus der indischen und damit „arischen“ Mythologie) entsprechen sollte. Aussagen zu den weiteren Inhalten und Symbolen des Rituals liegen bis heute nicht vor, denn obwohl der Orden inzwischen als eine kriminelle Organisation mit mörderischen Aspekten entlarvt ist, entfaltete das Ritual eine solche Wirkung, dass die ehemaligen Mitglieder sich weiterhin an einen Eid gebunden fühlen, der ihnen absolute Geheimhaltung auferlegt. Zu den Aktivitäten der sonderbaren Gemeinschaft zählten nächtliche Wanderungen bei Fackelschein zu einem Hexentanzplatz im Wald mit Schwur vor einer heidnischen Gottheit, Séancen mit der Anrufung von Geistern und vagen Ideen von Menschenopfern. Als ein solches Menschenopfer letztlich von einem geistig instabilen Mitglied dargebracht wurde, schritt die Polizei ein und der Orden flog auf. Es stellte sich nun heraus, dass der Ordensgründer wohl nicht zuletzt ökonomische Interessen mit seiner okkult-nationalistischen Vereinigung verfolgt

4Der

okkulte ideologische Hintergrund entstammt dem Werk eines gefeierten Mediums und einer selbsternannten Kennerin geheimnisvoller Zusammenhänge von Macht und Okkultem, Helena Petrovna Blavatsky (1831–1891), die auch die Nationalsozialisten entscheidend beeinflusste (vgl. Goodrick-Clarke 1997, S. 23–34.

178     I. Wunn

hatte. Obwohl er nun als Scharlatan entlarvt und seine materialistischen Ziele bekannt geworden waren, konnten sich die Initiierten nur schwer von der Gemeinschaft lösen und fühlten sich den einmal unter falschen Voraussetzungen geleisteten Eiden weiterhin verpflichtet. Auch wenn der obskure Orden mit seinen wenigen Mitgliedern nur eine zu vernachlässigende gesellschaftliche Reichweite entfalten konnte, zeigt dieser Fall doch, welche Kraft ein Ritual auch im kriminellen Sinn entfalten kann. Gar nicht so sehr anders sahen nämlich Inhalte und Initiationsrituale bei einer verschworenen ordensähnlichen Gemeinschaft aus, die vor rund 80 Jahren ihre menschenverachtenden Aktivitäten entfaltete. Gemeint ist die sogenannte Schutzstaffel, Hitlers persönliche Verfügungstruppe, die unter ihrem Kürzel SS als der mörderische Arm der NSDAP bekannt wurde. Bereits 1925, als Adolf Hitler nach seinem misslungenen Putschversuch die NSDAP neu gründete und in diesem Zusammenhang nach einem zuverlässigen Schlägertrupp suchte, wurde die Schutzstaffel von Hitlers Vertrauten Julius Schreck und Josef Berchtold ins Leben gerufen. Bedeutung erlangte die SS jedoch erst, als Heinrich Himmler die SS übernahm und für sie ein ganz neues Konzept entwickelte. Angeblich nahm die SS nur die „besten Soldaten, überhaupt die besten Deutschen“ (Protokoll über die Führerbesprechung der SS am 13./14.6.1931) auf, eben jene, die sich aufgrund ihrer postulierten „rassischen Überlegenheit“ durch besondere körperliche und geistige Leistungsfähigkeit auszeichneten (Hein 2011, S. 268), und sollte somit eine direkt dem Diktator unterstellte Elitetruppe darstellen. In der Praxis konnte die SS diesem Anspruch niemals gerecht werden, selbst wenn man von den fragwürdigen Rasseidealen mit ihren nicht einlösbaren Exzellenzversprechen absieht. Vielmehr rekrutierte die SS im Laufe der Jahre zunächst sowohl SA-Mitglieder als auch die Mitglieder anderer paramilitärischer und rechtsradikaler Verbände (z. B. Stahlhelm; Brigade Ehrhardt), des Kyffhäuserbundes und der Hitlerjugend, dann auch Reichsund Volksdeutsche, deren Eignung nach den offiziell-elitären SS-Kriterien nur sehr oberflächlich geprüft wurde. Weit davon entfernt, tatsächlich die Elitetruppe zu sein, die nur ideale Bewerber, nur die besten und rassereinen Kämpfer aufnahm, wurde aktiv um Mitglieder geworben, und spätestens seit 1943 waren auch Zwangsrekrutierungen nicht mehr die Ausnahme. Dennoch hielt sich die Vorstellung von der SS als einer Elitetruppe, deren Mitglieder sich als etwas Besonderes sahen.5 Die Uniform und eine entsprechende Propaganda hatten dafür gesorgt, dass die Zugehörigkeit zur 5Auch

der Historiker R. A. C. Parker (1998, S. 234) spricht noch von Elitetruppe.

7  Ritual und Gesellschaft     179

SS genügte, um im Verhältnis der SS-Mitglieder zur übrigen Bevölkerung jene submissive Dominanzbeziehung herzustellen, mit der die Überlebensmaschinen unserer egoistischen Gene ihren Anspruch auf ein hohes Ranking durchzusetzen pflegen. Nun ging es nur noch darum, die Aktivitäten dieser Schlägertruppe in die sozial, hier also parteipolitisch und ideologisch erwünschte Richtung zu lenken, und dies funktionierte über ein regelrechtes Aufnahmeritual. Rein formal musste der SS-Anwärter seinen AV-Schein (Aufnahme- und Verpflichtungsschein) abgeben und wurde einer ärztlichen und rassischen Musterung unterzogen. Nachdem eine Rassekommission (deren Mitglieder recht fragwürdig qualifiziert waren) über die Eignung des Beitrittswilligen entschieden hatte, begann für diesen eine Zeit der Prüfungen und Bewährungen, die sich über mehrere Wochen hinzog und zeitlich in ein Korsett aus ideologisch wichtigen Daten eingebunden war. So trat der möglichst junge Bewerber am 9. November, dem Tag des gescheiterten Hitler-Putsches, in die SS ein und wurde damit zum Staffelbewerber. Am 30. Januar (Tag der nationalen Erhebung) wurde er zum Jungmann, der bereits einen, wenn auch vorläufigen, SS-Ausweis besaß. Endlich, am Geburtstag des „Führers“, dem 20. April, leistete der Novize den Eid auf Hitler, der mit den Worten „So wahr mir Gott helfe“ endete, durfte die SS-Runen am Kragenspiegel tragen und erhielt seinen endgültigen Mitgliedsausweis. Damit war das Aufnahmeritual jedoch noch nicht beendet. Weitere Bewährungsmaßnahmen hatten absolviert zu werden. Bevor das neue Mitglied zum Reichsarbeitsdienst und anschließend zur Wehrmacht eingezogen wurde, hatte es das Reichssportabzeichen zu machen und den SS-Katechismus zu erlernen. Letzterer enthielt in knapper und eingängiger Form die Glaubenssätze des Nationalsozialismus und den Verhaltenskodex des zukünftigen SS-Vollmitgliedes, die auf diese Weise verinnerlicht und zu nicht weiter hinterfragbaren Überzeugungen gemacht werden sollten. Die quasireligiöse Konnotation der Fragen, die tatsächlich im Stil an Luthers Kleinen Katechismus erinnern, lauten beispielsweise: „Warum glauben wir an Deutschland und den Führer? Wem müssen wir dienen? Warum gehorchst Du? (Himmler o. J.)“ Erst nach dem Absolvieren des Arbeitsdienstes und des Wehrdienstes avancierte der nunmehr indoktrinierte und militärisch ausgebildete Staffel-Anwärter zum ­ Staffel-Vollanwärter, der nun binnen Monatsfrist zum vollwertigen SS-Mitglied wurde. In diesem Zeitraum legte er nun einen weiteren Eid, den Sippeneid, ab, durch den er sich verpflichtete, auch eine mögliche Ehe in den Dienst der nationalsozialistischen Ideologie zu stellen, d. h. die rassistischen Vorstellungen der NSDAP zur Grundlage der Partnerwahl zu machen. Nun erhielt das vollwertige SSMitglied als Insignie seiner herausragenden Stellung den SS-Ehrendolch.

180     I. Wunn

Gleichzeitig unterstand er jetzt nicht mehr der allgemeinen, sondern einer besonderen SS-Gerichtsbarkeit, die dadurch notwendig wurde, weil die SSEinheiten sich bei ihren Einsätzen oft durch eine solche Grausamkeit auszeichneten, dass dies auf den Widerstand von Teilen der Wehrmacht stieß. Etliche hochrangige Wehrmachtsangehörige (leider nicht alle) waren nicht bereit, ein solches Verhalten, vor allem den Mord an Zivilpersonen, zu tolerieren, sodass die Gefahr bestand, dass die den militärischen Gepflogenheiten und dem Ehrenkodex der Wehrmacht zuwiderlaufenden Taten von der Militärgerichtsbarkeit geahndet würden. Was hatte sich nun bei der Aufnahme junger Männer in die SS ritualtheoretisch abgespielt? Der junge Erwachsene, also eine Person mit noch plastischem Gehirn, in dem vorhandene Verbindungen gelöst und durch neue ersetzt werden konnten, wurde für den Beitritt zur SS gewonnen. Dies erschien dem Kandidaten deshalb erstrebenswert, weil die Mitgliedschaft in dieser innergesellschaftlichen Gruppierung bereits ein relativ hohes Ranking garantierte. Medizinische Untersuchungen und der Nachweis „arischer“ Abstammung verstärkten den subjektiven Eindruck, zu einer Elite zu gehören. Durch das Tragen der Uniform und den Dienst in der gewählten Einheit noch während der Anwärterzeit befand man sich sichtbar in der Übergangs- und Lernphase des Rituals, dem betwixt and between, in der sich der Anwärter die ideologischen Inhalte zu eigen und mit den praktischen Anforderungen vertraut machen konnte. Der feierliche Eid bei Fackelschein zusammen mit anderen rief dann in einem besonderen, als ergreifend und bedeutungsvoll empfundenen Moment das Gefühl hervor, zu einer verschworenen Gemeinschaft von Gleichen zu gehören – communitas entstand. Sprachlich fand diese Gemeinschaft, die durch das Ritual erzwungene Brüderlichkeit, in der Bezeichnung „Kamerad“ seine Entsprechung. Dabei war das Wort emotional hoch aufgeladen und bedeutete deutlich mehr als die bloße gemeinsame Zugehörigkeit zu einer Truppe. Ein Kamerad war vielmehr so etwas wie ein Bruder, für den man einstand und in jeder Beziehung Verantwortung übernahm. Die üblichen kleinen Gemeinheiten, die die Überlebensmaschine egoistischer Gene gern Konkurrenten zufügt, galten unter „Kameraden“ als unverzeihlich. Ein sogenanntes „Kameradenschwein“ war der Inbegriff des Verächtlichen. (Kühne 2006). Auch der Bezug auf höchste, nicht mehr hinterfragbare Werte durfte nicht fehlen. Da war zunächst der auf den Diktator Adolf Hitler persönlich abgelegte Eid, wodurch dieser selbst zu einer nicht mehr hinterfragbaren Instanz avancierte. Weitere Symbole spielten eine wichtige Rolle, darunter das Datum des Jahrestags des gescheiterten Hitler-Putsches. Damit wurde die Bedeutung Hitlers als Leitfigur der neuen Ordnung ebenso

7  Ritual und Gesellschaft     181

­ ervorgehoben wie der Hinweis auf den Anbruch eines neuen, goldenen h Zeitalters, in dem jene neu eingeschworene Truppe eine bedeutende Funktion haben würde. Die Runenzeichen der SS bildeten die ideologische Verbindung zu einer vorausgegangenen, angeblich ebenfalls großartigen Zeit eines heldenhaften Germanentums, in der blonde Hünen Tugenden wie Tapferkeit, Todesmut und Treue gepflegt und über die heiligen Runenzeichen mit ihrer Götterwelt kommuniziert hatten. Über all dem schwebte das Hakenkreuz, die alte indoarische Swastika, als Symbol der Zugehörigkeit zu einer überlegenen Rasse. Zuletzt knüpfte das „So wahr mir Gott helfe“ an die bisher üblichen, christlich gefärbten Eidformeln an, um den Eindruck der Tradition zu wahren. Tatsächlich hatte der Nationalsozialismus bekanntermaßen mit dem Christentum nichts zu tun, ja sah es als konkurrierende Ideologie und damit als schädlich an und versuchte daher, die Kirchen wie auch alle anderen Institutionen im Deutschen Reich gleichzuschalten, um sie zuletzt an den Rand drängen und vernichten zu können. Als Ersatz für den Glauben an einen Gott, der sich nach ­NS-Auffassung nicht zuletzt durch seine Verbindung zum Judentum disqualifiziert hatte, musste dann eben ein historisch nicht realistisches, aber umso stärker idealisiertes und durch allerhand Okkultes angereichertes Germanentum treten. Vor allem der SS-Chef Heinrich Himmler mit seinem Hang zum Okkulten bis hin zum Hexenglauben versuchte, der SS die Züge eines regelrechten Ordens zu verleihen, der sich an den mittelalterlichen Ritterorden orientierte (Goodrick-Clarke 1997, S. 155–160 und 163). Zu diesem Zweck richtete er Weihestätten ein, von denen die Externsteine als angeblich germanische Kultstätte, der Dom zu Quedlinburg als Ruhestätte des mittelalterlichen deutschen Königs Heinrich I. oder die Wewelsburg (Abb. 7.3) als geplante Aufbewahrungsstätte der Reliquien verstorbener SS-Größen (Totenkopfringe, Familienwappen) die bekanntesten sind.

Orden Himmler hatte also erfolgreich versucht, seiner SS die Züge und die Struktur eines Ordens zu geben, und tatsächlich wurde die SS auch als der Schwarze Orden bekannt. Wie in einen christlichen Orden musste man auch für die Aufnahme in die SS ein regelrechtes Initiationsritual durchlaufen. Im Zuge dieses Rituals wurde man mit neuen, ideologieentsprechenden Lerninhalten, darunter der Rasselehre, dem Glauben an die Überlegenheit des Deutschen Volkes und einem daraus resultierenden Herrschaftsanspruch konfrontiert. Gleichzeitig wurden die letzten, nicht mehr ­hinterfragbaren

182     I. Wunn

Abb. 7.3  Die Schwarze Sonne, ein Emblem der SS, auf der Wewelsburg bei Paderborn. (© hwo/imageBROKER/picture alliance)

Tugenden vermittelt: Gehorsam gegenüber dem „Führer“ und den jeweiligen Vorgesetzten. Das Ganze bekam einen Bezug zur Transzendenz ganz wie bei einer Religion über ein idealisiertes, verkürztes und passend zurechtgestutztes Germanentum und ein romantisiertes Mittelalter mit seinen mächtigen Kaisern und der bis in die Neuzeit reichenden Reichsidee, wobei vor allem die im Ritual vergegenwärtigten Bezüge zur germanischen Mythologie für jeden halbwegs klaren Geist schwer verdaulich wirken mussten – immerhin wusste jedes SS-Mitglied durchaus, dass das Schicksal der Welt nicht durch den Kampf der Göttergeschlechter der Asen und Wanen gegen die Riesen bestimmt war. Ein Teil des germanischen Mythos ging allerdings auf: Am Ende des Nationalsozialismus fand tatsächlich die Götterdämmerung mit dem großen Weltenbrand statt, der die gesamte zivilisierte Welt in Schutt und Asche legte und 60 Mio. Menschen das Leben kostete. Himmler hatte sich also bei seinem Schwarzen Orden tatsächlich von religiösen Orden inspirieren, ja leiten lassen, und deren Initiationsrituale bis ins Detail übernommen. Vorbild waren dabei die mittelalterlichen Ritterorden, deren Mitglieder aus dem Adel, also einer gesellschaftlichen Elite stammten. Die Ritter hatten sich freiwillig einer mönchischen Lebensregel und Ethik verschrieben, die neben Keuschheit und Armut vor allem den Gehorsam zu einer ihrer Kardinaltugenden erklärte. Zu ihren Aufgaben zählte der bewaffnete Kampf gegen die Feinde der Christenheit zunächst im Heiligen Land, nach dessen Rückeroberung durch die Muslime jedoch auch gegen die heidnischen Völker Osteuropas. Im Gegensatz zur weltlichen Ritterschaft waren die Ritterorden spirituell ausgerichtete, streng

7  Ritual und Gesellschaft     183

hierarchisch organisierte Gemeinschaften, deren tragende Idee die Verwirklichung christlicher Werte und Tugenden war. Die Parallelen zu Himmlers Schwarzem Orden sind deutlich: Wie im christlichen Ritterorden sollten sich die Mitglieder aus einer Elite – bei Himmler nicht einer Standes-, sondern einer Rasseelite – rekrutieren, die wie bei den Rittern durch Abstammungsurkunden zu belegen war. Diese Elitekämpfer wurden durch eine entsprechende Ideologie zusammengehalten, die bei den christlichen Rittern die Vorstellung von der Überlegenheit der christlichen Religion, bei der SS die Überlegenheit der germanischen Rasse war. Auch das Feindbild war ähnlich: Nach der Vertreibung der Ritterorden aus dem Heiligen Land hatten sich die Deutschordensritter ein neues Betätigungsfeld in Europas Osten gesucht und dort nach erfolgreichem Kampf gegen die heidnischen Prußen ihren Ordensstaat gründen können. Der Schwarze Orden der SS sah seine Feinde ebenfalls im Osten: Hier sollte ein Vernichtungskrieg gegen den Kommunismus und gegen die einheimische Bevölkerung geführt werden, um „Raum“ für die neue „Herrenrasse“ zu schaffen. Um dieses Ziel zu erreichen, musste der Orden der üblichen Gerichtsbarkeit entzogen und wie die alten Ritterorden einer eigenen Gerichtsbarkeit unterstellt werden. Obwohl die Kreuzzüge nach heutiger Auffassung in ethischer Hinsicht sehr zu wünschen übrig ließen und vor allem der erste Kreuzzug mit seinem Mord an der Bevölkerung Jerusalems, an Muslimen, Juden und alteingesessenen Christen, zu den finstersten Kapiteln in der Geschichte des Christentums gezählt werden muss, ist der von Himmler angestrengte Vergleich seiner SS mit den Ordensrittern zynisch. Da, wo eine christliche Ritterschaft zwar das Heilige Land von den sogenannten „Ungläubigen“ befreien, aber auch fromme Pilger schützen, Kranke pflegen und sich karitativ betätigen wollte, ging es der SS-Schlägertruppe nur um die Sicherung der Macht einer Partei, in deren kruder Ideologie für den Dienst am Nächsten kein Platz war. Trotzdem funktionierte das Ritual, das den Aufnahmewilligen in die Reihen des nationalsozialistischen Ordens überführte, genauso zuverlässig, wie es bei der Initiation der christlichen Ordensritter funktioniert hatte. Der Grund ist uns inzwischen vertraut: Über unsere bekannten Mechanismen erschafft das Ritual eine eigene soziale Welt mit eigenen Regeln, die über verschiedene Symbole die immer wieder gleichen Botschaften kommuniziert. Diese werden dann letztlich im Gehirn als letztgültige Wahrheiten abgespeichert und können nicht mehr hinterfragt werden. Rituale schaffen eine emotionale und soziale Wirklichkeit, eine

184     I. Wunn

eigene Sicht auf die Welt, die im besten Falle die Härten der biologischen Wirklichkeit mit ihren genegoistischen Überlebensmaschinen glättet, im schlimmsten Falle jedoch Machtmissbrauch Tür und Tor öffnet.

Literatur Blakemore S-J, Stephanie Burnett S, Dahl R (2010) The role of puberty in the developing adolescent brain. Hum Brain Mapp 31(6):926–933 Dawkins R (1998) Das egoistische Gen, 2. Aufl. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg Evans-Pritchard EE (1956) Nuer Religion. Oxford University Press, New York Goldman R (1999) The psychological impact of circumcision. BJU Int 83(1):93–102 Goodrick-Clarke N (1997) Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus. Graz: Leopold Stocker Verlag Hein B (2011) Himmlers Orden. Das Auslese- und Beitrittsverfahren der Allgemeinen SS. Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 2011(2):263–280 Himmler H (o.  J.) Der Weg des SS-Mannes. Undatierte (etwa: 1935) ­RFSS-Filmrolle 155 (87) Kühne T (2006) Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Mauss M (1989). Über die physische Wirkung der von der Gemeinschaft suggerierten Todesvorstellung auf das Individuum (Australien und Neuseeland). In: Ders. Soziologie und Anthropologie 2. Fischer, Frankfurt a. M., S 178–195 Parker RAC (1998) Das Zwanzigste Jahrhundert, Bd 1. Europa 1918–1945. Weltbild Verlag, Frankfurt a. M., S 234 Protokoll über die Führerbesprechung der SS am 13./14.6.1931. BA Berlin, NS 19, Bd. 1934, Bl. 94–105 u. Bl. 109–113 Roth G, Strüber N (2014/2018) Wie das Gehirn die Seele macht. Klett-Cotta, Stuttgart Turner VW (1967) The forest of symbols. Aspects of Ndembu Ritual. Cornell University Press, Ithaca

8 Die Anatomie des Rituals

Was das Ritual alles kann … Unsere inzwischen recht umfänglichen und vielseitigen Untersuchungen zum Thema Ritual haben deutlich gemacht, welches enorme Potenzial in dieser besonderen Aneinanderreihung von Symbolen steckt: Die Kommunikation zwischen den letztlich egoistischen Individuen klappt nur mithilfe kleiner oder großer Rituale! Wir konnten zeigen: Durch die Ritualisierung automatisch generierter Verhaltensweisen entsteht aus den verschiedenen akustischen, optischen oder auch performativen Symbolen eine Sequenz, die selbst als Signal wirkt und bestimmte Antworten regelrecht triggert. Im Tierreich werden überlebensnotwendige Verhaltensweisen wie die Fürsorge für den Nachwuchs oder die Anbahnung der Paarung auf diese Weise möglich. Gleiches gilt für das Säugetier Mensch. Als wenig wehrhafte Art kann der Mensch nur im Sozialverband mit anderen überleben, und dazu bedarf es komplexer sozialer Beziehungen. Auch hier sorgen Rituale, die nun allerdings viel umfangreicher geworden sind und allerhand kulturelle Symbole aufgenommen haben, für ein gedeihliches Miteinander. Da ist zunächst der Umgang mit Aggressionen durch den Verweis auf die körperliche Stärke und Kampfbereitschaft einerseits und gleichzeitiges Dokumentieren der friedlichen Absicht andererseits. Ein offizieller Rahmen mit Musik und Tanz gibt dem Ganzen einen festlichen Charakter, und die gemeinsam eingenommene Mahlzeit stärkt die Gemeinschaft. In ökonomischer Hinsicht sorgt ein großes Ritual für eine gleichmäßige Verteilung © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Wunn, Vier Theorien, um die Welt zu beherrschen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61376-4_8

185

186     I. Wunn

der Ressourcen, indem der oder die Gastgeber für die Verköstigung der Gäste aufkommen und diese oft auch noch beschenken müssen. So werden beim Bestattungsritual der indonesischen Toraja nicht nur die Gäste mit geröstetem Schweinefleisch bewirtet, sondern erhalten auch noch das Fleisch von geopferten Büffeln zum Geschenk, wobei die Verteilung nach einem festen Schlüssel erfolgt: Jede Familie muss zwingend den ihnen zustehenden Anteil erhalten (Volkman 1984)! Der Karneval wiederum hatte uns gezeigt, dass Rituale auch soziale Ordnungen mit ihren möglichen Ungleichheiten erträglich machen können, indem sie eben diese Ordnungen in einem allgemein akzeptierten Rahmen infrage stellen. Dadurch sorgen sie für Machtausgleich und letztlich für die Akzeptanz der momentan anerkannten sozialen Organisationsform, egal, ob es sich um eine segmentäre Gesellschaft, eine Monarchie oder um eine Demokratie handelt. Vor allem aber schien das Ritual geradezu eine Notwendigkeit zu sein, wenn es innerhalb von Gesellschaften oder auch Gruppen zu Rollenwechseln kommt, wenn beispielsweise aus einem Jugendlichen mit seinen kindlichen Freiheiten und kleinen Aufgaben ein Mann mit seinen Rechten und Pflichten werden soll. Der biologische Grund sei hier noch einmal ausdrücklich erwähnt: Es geht um gegenläufige Empfindungen, die nach einer Ausdrucksform verlangen! Diese Ausdrucksform ist das Ritual!

Das Übergangsritual Rollenwechsel destabilisieren die Gruppe, in der jeder bisher seine feste Position mit entsprechenden Aufgaben hatte und führen damit zu den besagten gegenläufigen Empfindungen! Wir müssen gar nicht besonders weit ausholen, um die Zusammenhänge zu verstehen. Ein Blick in ein ganz normales Büro genügt. Ein Beispiel: In einem inhabergeführten Betrieb kümmert sich ein eingespieltes Team um die alltäglichen Verwaltungsarbeiten. Da sind Immobilien zu betreuen, Angebote einzuholen, Handwerker zu beauftragen, Rechnungen zu schreiben, Telefonate anzunehmen, und gelegentlich ist auch einmal Kaffee für Besucher zu kochen. Die Organisationsform im Büro ist einfach. Da ist der Eigentümer, der sein Unternehmen selbst leitet, die wichtigsten Kundengespräche führt, das einmal aufgebaute Netzwerk pflegt und seine Angestellten – nun, wir können es ruhig beim Wort nennen – beaufsichtigt. Alles klappt wunderbar, denn jeder hat seinen Aufgabenbereich, für den er zuständig ist. Nun möchte sich der Inhaber aus Altersgründen aus dem Tagesgeschäft zurückziehen und hat auch bereits einen besonders zuverlässigen Mitarbeiter mit

8  Die Anatomie des Rituals     187

langjähriger Betriebszugehörigkeit als Geschäftsführer ausersehen. Hier wird die Sache allerdings schwierig, denn der zukünftige Geschäftsführer war bisher Kollege, ein Gleicher unter Gleichen oder vielleicht auch primus inter pares, der im Namen aller um Vergünstigungen vorsprach, z. B. nach einem günstig gelegenen Feiertag einen freien Brückentag zu gewähren. Oder er legte die Arbeitszeit großzügig aus und stimmte dem Wunsch der Kollegen zu, schon zehn Minuten vor Dienstende den Anrufbeantworter einzuschalten und den PC herunterzufahren, um Schlag Fünf das Hauptportal des Bürogebäudes ins Schloss fallen lassen zu können. Wenn ein solcher Kollege nun Führungsverantwortung tragen und beispielsweise auf die pingelige Einhaltung von Arbeitszeit schauen oder ausufernde Privatgespräche am Firmentelefon verhindern soll, kann das zu einem Problem werden. Warum sollte der frischgebackene Geschäftsführer sein Streben nach einem überpünktlichen Feierabend nicht auch in der neuen Position weiterverfolgen? Und warum sollten sich die ehemaligen Kollegen einem der Ihrigen plötzlich unterordnen, wenn dieser die altgewohnten Spielregeln ändert? Hier müssen sich das Denken und Verhalten bei allen Beteiligten grundsätzlich ändern. Was tut also der Inhaber: Er führt ein Übergangsritual durch! Bereits einige Wochen vor dem großen Ereignis wird zunächst dem Auserwählten, dann den übrigen Mitarbeitern der Wechsel angekündigt. Dadurch ändert sich schon jetzt etwas im Verhalten: Der für die Beförderung Vorgesehene hat sich bereits eine straffere Haltung, einen neuen Habitus zugelegt. Er bleibt nun gern einmal etwas länger oder verkürzt seine Mittagspause. An dem entscheidenden Tag, einem Freitag, haben sich alle für das große Ereignis gerüstet. Der Inhaber und sein ­Geschäftsführer-to-be tragen Anzug und Krawatte, auch die übrigen Bürokräfte haben sich in Schale geworfen, und die Mitarbeiter aus der Techniksparte sind in einem frischen, gebügelten Blaumann erschienen. Man baut sich im Foyer als Gruppe auf, und der Inhaber hält eine kurze Rede. Er lobt zunächst die bisherigen Leistungen des gesamten Teams und ihre Loyalität und hebt anschließend die Vorzüge des Kandidaten hervor. Es schließen sich warme Worte an, mit denen der Firmeninhaber der Erwartung Ausdruck verleiht, dass der neue Geschäftsführer auch in seiner neuen Funktion brillieren wird. Dieser bedankt sich mit einer kurzen Gegenrede für das entgegengebrachte Vertrauen … bla, bla, bla. Eine oder drei (auf die genaue Zahl wollen wir uns hier nicht festlegen, denn es ist Freitag und anschließend Dienstschluss) Flasche(n) eines besonders guten Schaumweins wird/werden geköpft, und alle stoßen an und beglückwünschen den neuen Chef! Am nächsten Montag erscheint dieser in seiner neuen Rolle – freundlich und pünktlich

188     I. Wunn

wie immer, aber mit genau dem Quäntchen mehr an Autorität, das über das neue interne Ranking keinerlei Zweifel aufkommen lässt. Die ehemaligen Kollegen ihrerseits fügen sich willig in ihre Rollen – nun als Mitarbeiter! Was ist geschehen? Nicht mehr und nicht weniger als die Tatsache, dass ein Ritual mit dem Statuswechsel eines Gruppenmitglieds stattgefunden hat. Der Auserwählte (ja, er, denn der Inhaber der Firma mag zwar Frauen in Führungspositionen, aber nur in Firmen anderer Unternehmer! Sie raten richtig: Es handelt sich um jenen Patriarchen, der generell alle weiblichen Mitarbeiter, Kellnerinnen und Verkäuferinnen duzt – das vermeintlich angeborene Verfügungsrecht des Alphamännchens über die Weibchen!) verlässt die Region der Sachbearbeiter, um eine ganz neue Rolle zu bekleiden: die des Chefs. Damit ändert sich alles: das Verhältnis des Aufsteigers zu seinen ehemaligen Kollegen und die Gruppenzusammensetzung unter den Sachbearbeitern. Telefondienst? Kaffeekochen? Das macht der Geschäftsführer nun nicht mehr! Das Ritual war nötig, um so einen Wechsel einschließlich der neuen Rollen nicht nur deutlich und akzeptabel zu machen, sondern in den Köpfen der Beteiligten regelrecht zu verankern. Die Reden, der festliche Akt, die besondere Kleidung hoben den Anlass heraus und betonten die Besonderheit. Die bekannten Worte – das, was man halt bei solchen Anlässen zu sagen pflegt – triggerten zusammen mit dem Anstoßen (das Äquivalent zur gemeinsamen Mahlzeit) gleichsam die gewünschten Reaktionen. Wir kennen inzwischen von unserem Beispiel des nachbarschaftlichen Grußes oder der standesamtlichen Hochzeit die Mechanismen, die die gewünschte Botschaft kommunizieren: Symbole und Metaphern, Worte und Handlungen bilden einen performativen Akt, der eine wichtige Botschaft so kommuniziert, dass sie verstanden und verinnerlicht wird. Nicht thematisiert wurde von uns jedoch bisher der Aufbau des Rituals, und genau der spielt bei dem Geschehen eine wichtige Rolle. Wir können mit etwas gutem Willen drei Phasen erkennen: 1. Die bevorstehende Beförderung wird mitgeteilt. Das heißt, dass der Glückspilz sich nun nach und nach aus seiner Gruppe löst – er befindet sich in einer Trennungsphase. 2. Der Festakt mit den zugehörigen Reden findet statt. Der Aufsteiger „lernt“ seine neuen Rechte und Pflichten. Dies ist die eigentliche Übergangsphase, in der aus dem bisherigen Sachbearbeiter der Geschäftsführer wird. 3. Der Sekt (oder Champagner) wird entkorkt und gemeinsam getrunken! In dieser Phase der Integration wird der Beförderte in seiner neuen Rolle wieder in die Gruppe integriert.

8  Die Anatomie des Rituals     189

Diese drei Phasen sind charakteristisch für alle Übergangsrituale. Zunächst wird der Betroffene aus einer bestehenden sozialen Konstellation gelöst. Dann findet innerlich der Rollenwechsel statt. Alte Verhaltensmuster werden getilgt und neue trainiert. In dieser Phase befindet sich der Adept in einem sozialen Niemandsland – er ist weder das eine noch das andere. Wie bei dem Verpuppungsstadium des Insekts wird die frühere Persönlichkeit mit ihren Eigenschaften gelöscht, und ein völlig neues Wesen tritt am Ende zutage. Dann wird, in einer dritten Phase, diese neue Persönlichkeit wieder in die Gesellschaft eingeführt, die das Ereignis gebührend feiert. Damit werden die Reihen wieder geschlossen, und eine neue stabile Gruppenkonstellation ist hergestellt. Zugegeben, unser Ritual-Beispiel einer innerbetrieblichen Beförderung ist ungewohnt. Wenn von regelrechten Ritualen die Rede ist, erwartet man etwas Religiöses wie eine Taufe oder etwas Völkerkundliches wie eine Initiation. Mir war jedoch wichtig, an dieser Stelle deutlich zu machen, dass ritualisiertes Verhalten und regelrechte Rituale tatsächlich unser gesamtes Leben durchziehen und gerade auch in Zusammenhang mit Machtgewinn im Alltag eine große Rolle spielen! Zur Verdeutlichung der wichtigen Phasenstruktur wollen wir uns jedoch noch einmal unseren guten Bekannten, den Makonde, zuwenden. Es sind ja nicht nur die Farbigkeit und das Exotische der afrikanischen Übergangsrituale, die sie so faszinierend machen. Es sind vielmehr ganz entscheidende, urmenschliche Verhaltensweisen, die sich in der noch nicht durch unendliche Differenzierungen verkomplizierten Welt traditioneller afrikanischer Gesellschaften unverstellt zeigen. Dies gilt insbesondere für das ­Übergangsritual. Wir erinnern uns: Bei den Makonde wurden am Abend des ersten Festtages die zu initiierenden Knaben ihren Müttern entrissen. Anders ausgedrückt: Im Rahmen eines Festes wurden die Initianden von ihren Müttern getrennt. Ihre soziale Rolle als Kind ist damit beendet. Genau dieser Abend, dieses von der Allgemeinheit gefeierte Fest stellt die Trennungsphase dar, die Phase der séparation. Danach, im Busch, treten sie in das eigentliche Übergangsstadium ein, die liminale Phase oder marge, in der sie sich innerlich und äußerlich vollkommen wandeln. In diesem Zeitraum erwerben sie das Wissen eines erwachsenen Mannes, übernehmen einen entsprechenden Verhaltenskodex und entwickeln ein neues Bewusstsein. Während dieser Lernphase gehören sie in sozialer Hinsicht keiner sozialen Gruppe an; sie sind weder Kinder noch erwachsene Männer. Sie befinden sich in einem Verpuppungsstadium, einem Stadium betwixt and between, wie der britische Sozialanthropologe

190     I. Wunn

Abb. 8.1  Frisch initiierte Jugendliche bei den Makonde. Die neue, weiße Kleidung kennzeichnet sie als Quasi-Neugeborene – neugeboren in ihre soziale Stellung als Erwachsene. (K.U. Petry, mit freundlicher Genehmigung)

Victor Witter Turner (1967, S. 93–127) konstatierte. Das sichtbare Zeichen dieses Wandels ist die Zirkumzision, die aus dem Knaben einen Mann macht. Während dieses Wandels sind die Initianden dem Blick der Gesellschaft entzogen. Die Makonde wählten dafür die Metapher des Totenreichs. Die Novizen gelten für die Gesellschaft als tot – was sie in ihrer Eigenschaft als Kinder auch sind. Hier, in der liminalen Phase, bildlich im Totenreich, in dem nach Makondeauffassung das neue Leben entsteht, werden sie zu neuen Wesen, die anschließend im Rahmen einer weiteren sozialen Geburt in einer neuen Rolle die öffentliche Bühne betreten. Dieses Wiedererscheinen in der neuen Rolle als Mann ist die dritte Phase, die Phase der Integration oder incorporation, in der die Reihen der Gesellschaft nun in neuer Besetzung wieder geschlossen werden (Abb. 8.1).1 Wie wir bereits zeigen konnten, ist allerdings nicht nur das Leben der Makonde, sondern auch unser eigener Alltag durch kleinere und größere Übergangsrituale geprägt. Einige Beispiele: Da ist der Tod eines Familienangehörigen in einer christlich sozialisierten Familie. Zunächst wird ein Arzt kommen, den physischen

1Die Erkenntnis, dass Übergangsrituale eine Struktur haben, verdankt die Wissenschaft dem belgischen Völkerkundler Arnold van Gennep (1909). Die rituelle Begleitung von als bedrohlich empfundenen Brüchen im Leben eines Menschen gliedert sich nach van Gennep in drei Phasen. Die Phase der séparation (separation, Trennung) kennzeichnet die Ablösung vom alten Status. Die marge (liminality, der eigentliche Übergang) kennzeichnet den Initianden als sozial tot. Er führt eine Zwischenexistenz außerhalb des üblichen gesellschaftlichen Lebensraumes, aber auch außerhalb der gesellschaftlichen Normen. Erst in der letzten, als Wiedergeburt verstandenen Phase der intégration (incorporation, Integration) erfährt der Initiand eine Rehabilitation auf höherem Niveau, die ihn auf seinen neuen Platz in der Gesellschaft verweist.

8  Die Anatomie des Rituals     191

Tod feststellen und einen Totenschein ausstellen. Anschließend wird der Verstorbene zurechtgemacht, d. h. gewaschen, eventuell geschminkt, frisiert und dem lokalen oder religiösen Brauchtum gemäß gekleidet. Nun wird er im Hause oder neuerdings auch in der Leichenhalle auf dem Friedhof aufgebahrt, wo jeder noch einmal Abschied nehmen kann (Abb. 8.2). Am Tage des Begräbnisses wird der Sarg in die Kirche oder Friedhofskapelle gebracht und mit Kränzen geschmückt. Ein Gottesdienst findet statt, in dem das Leben des Verstorbenen noch einmal geschildert wird. Seine Leistungen werden hervorgehoben, ebenso seine vorzüglichen Charaktereigenschaften. Gebete empfehlen die Seele des Verstorbenen der Gottheit – Gebete, in denen auf die Auferstehung und das ewige Leben verwiesen wird. Anschließend wird der Sarg in einem Trauerzug von der Friedhofskapelle zu dem bereits ausgehobenen Grab gebracht und dort beigesetzt. Auch hier finden wieder symbolische Handlungen statt. Der Geistliche spricht ein weiteres Gebet, die Trauergemeinschaft wirft Erde oder Blumen auf den Sarg und bekundet der oder dem engsten Hinterbliebenen sein Beileid. Zuletzt finden sich die Trauernden noch einmal je nach Region zum Beerdigungskaffee oder zum sogenannten Leichenschmaus zusammen. Hier wird des Toten noch einmal gedacht; dann gehen alle nach Hause. So unspektakulär das Ganze auch war: Es hat ein Übergangsritual stattgefunden. Mit dem Ausstellen des Totenscheins und der Aufbahrung begann die Phase der séparation, in der jeder von dem Verstorbenen Abschied nehmen konnte. Die religiöse Zeremonie in der Kirche oder in der Friedhofskapelle stellte die eigentliche marge oder Übergangsphase dar, in der der Verstorbene rituell in die Welt der Toten überführt wurde. Diese Phase

Abb. 8.2  Die Trennungsphase eines Bestattungsrituals: Der Tote wird aufgebahrt, damit jeder Abschied nehmen kann. (https://upload.wikimedia.org/wikipedia/ commons/0/0d/Beerdigung_Kolonist_Wolhynien.jpg)

192     I. Wunn

endete mit dem letzten Abschied am Grab. Der Leichenschmaus oder der Totenkaffee markierte dagegen die incorporation. Die Reihen der Gesellschaft schlossen sich wieder; die bisherige Stellung des Toten wird nun durch einen neuen Familienangehörigen eingenommen. Besonders stark kommt die soziale Veränderung in Zusammenhang mit dem Tod zum Tragen, wenn ein bedeutendes Mitglied der Gesellschaft verstorben ist. Politiker erhalten ein Staatsbegräbnis, aber auch der Inhaber eines bedeutenden lokalen Unternehmens hinterlässt dort eine große Lücke. Nicht zuletzt sorgt der Wechsel an der Spitze der Firma für beträchtliche Verwerfungen im firmeninternen Machtgefüge, in der Familie und in der lokalen oder regionalen Gesellschaft. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn gerade solche Personen, die im Mittelpunkt der politischen, ökonomischen und sozialen Gemeinschaft standen, ein besonders aufwändiges Begräbnis bekommen. Nicht die am meisten Geliebten, also verstorbene Kleinkinder oder junge Mütter, werden mit dem größten Aufwand zu Grabe getragen, sondern diejenigen, deren Tod in ihrer Gemeinschaft, Gruppe oder Gesellschaft für die größten Umbrüche sorgt. Der Grund ist völlig klar: Das soziale Miteinander, sorgfältig austarierte Machtstrukturen, Allianzen und nicht zuletzt das Ranking müssen völlig neu austariert werden – die betroffene Gemeinschaft muss zu einem neuen Gleichgewicht finden, und damit genau das ohne Kämpfe geschieht, wird das Ritual bemüht. Dieses Ritual bezieht sich, genau wie wir es bei der Initiation jugendlicher Makonde kennengelernt haben, auf höchste, nicht mehr hinterfragbare Werte. Das ist bei einem christlichen Begräbnis Gott. Der Hinweis auf die Barmherzigkeit und Gerechtigkeit des Gottes weist dem Verstorbenen den Weg in eine kommende, ewige Welt und tröstet die Trauernden. Sie enthält aber auch den deutlichen Hinweis an die Hinterbliebenen, sich entsprechend dem göttlichen Gebot zu verhalten, also nicht um das Erbe zu streiten und damit für Verwerfungen innerhalb der Gemeinschaft zu sorgen. Sie erinnern sich an unser Beispiel der Osmanenherrscher in Zusammenhang mit dem egoistischen Gen? Hier gab es kein Ritual, welches den Übergang von einem verstorbenen Sultan zu einem bestimmten seiner Söhne regelte, und das Resultat war, ganz wie inzwischen (bei unserem jetzigen Kenntnisstand in Sachen egoistisches Gen und Ritual) von uns vorauszusehen, Mord, Totschlag und Krieg zwischen den einzelnen Thronprätendenten! Verweilen wir noch ein wenig beim Tod und dem damit notwendigerweise verbundenen Übergangsritual. Ist der Verstorbene eine Person des öffentlichen Lebens, also ein Politiker, der möglicherweise gar noch während seiner Amtszeit stirbt, ist der Aufwand bei seiner Beisetzung besonders hoch.

8  Die Anatomie des Rituals     193

Abb. 8.3  Staatsbegräbnis John F. Kennedys. (© picture alliance/ZUMAPRESS)

Dies zeigt in exemplarischer Weise das Staatsbegräbnis für John F. Kennedy (geboren 1917) (Abb. 8.3), von 1961 bis zu seiner Ermordung 1963 der 35. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, der während einer Wahlkampfreise in Dallas, Texas, möglicherweise von Rechtsradikalen (Olmsted 2011) erschossen wurde. Eine knappe Schilderung der Geschehnisse: Gleich nachdem die Schüsse gefallen waren, brachte man den Präsidenten in die Notaufnahme des Parkland Memorial Hospital, wo die Ärzte vergeblich versuchten, das Leben des Attentatsopfers zu retten. Nachdem nur noch der Tod des Präsidenten festgestellt werden konnte, wurde ein katholischer Geistlicher hinzugezogen, der die Sterbesakramente spendete. Nach einer kurzen Pressekonferenz, in der einer schockierten Öffentlichkeit der Tod des Präsidenten mitgeteilte wurde, wurde der Leichnam an Bord der Air Force One (offizielles Flugzeug für die Beförderung des Präsidenten) verbracht und zur Obduktion ins Bethesda Naval Hospital bei Washington geflogen. Noch in der Air Force One legte Lyndon B. Johnson, bisheriger Vizepräsident, den Amtseid als 36.

194     I. Wunn

Präsident der Vereinigten Staaten ab. Während Johnson die Regierungsgeschäfte übernahm, liefen die Vorbereitungen für das Staatsbegräbnis an, welches sich an dem größtmöglichen historischen Vorbild orientierte: Abraham Lincoln (1809–1865). Abraham Lincoln war noch vor seiner Wahl zum 16. Präsidenten der Vereinigten Staaten als Gegner der Sklaverei und enthusiastischer Vertreter von Menschenrechten und Demokratie aufgetreten, hatte den Amerikanische Bürgerkrieg zugunsten der Union entscheiden können und sich anschließend für die Wiedereingliederung der Südstaaten und Versöhnung der verfeindeten Kriegsparteien eingesetzt. 1865 wurde diese große Persönlichkeit von einem fanatischen Südstaatler während einer Theateraufführung erschossen. Nachdem Vorbild und Regie für das Staatsbegräbnis geklärt worden waren, überführte man bereits am frühen Morgen nach dem Attentat den Sarg mit den sterblichen Überresten Kennedys vom Bethesda Naval Hospital ins Weiße Haus, seinen Amtssitz, wo er zunächst im East Room, dem Empfangssaal, aufgebahrt wurde. Hier erwiesen ihm seine Familienangehörigen, Vertraute und führende Regierungsmitglieder die letzte Ehre. Dann fand eine private Messe nur für die nächsten Angehörigen statt. Der weitere Verlauf der Trauerfeierlichkeiten war dann jedoch umso mehr für die Öffentlichkeit bestimmt. Am Sonntag, den 24. November – Präsident Johnson hatte inzwischen eine 30-tägige Staatstrauer angeordnet –, wurde der Ermordete ins Kapitol gebracht. Mehr als 300.000 Bürger wurden Zeugen, als der Sarg des ermordeten Präsidenten auf eben jener Lafette überführt wurde, die knapp 100 Jahre vorher bereits den Sarg des ebenfalls erschossenen Abraham Lincoln getragen hatte. Soldaten aller Waffengattungen begleiteten den Sarg; dahinter ein Rappen, an dessen Sattel zwei schwarze, mit den Spitzen nach rückwärts zeigende Reitstiefel hingen. In schwarzen Limousinen folgte die Familie dem Sarg bis zum Kapitol, wo er im Kuppelsaal auf eben jenen Katafalk gestellt wurde, auf dem bereits der Sarg Abraham Lincolns gestanden hatte. Eine Ehrengarde nahm Aufstellung, Jackie Kennedy küsste kniend zum Abschied die Flagge, und dann hatte die Bevölkerung die Gelegenheit, Abschied zu nehmen. Die Symbole waren eindeutig: Wirken, Leistung und Tod des Präsidenten wurden als Wiederholung der historischen Leistungen des großen Abraham Lincoln inszeniert. Am nächsten Tag, einem Montag (25. November 1963), fand die eigentliche Bestattung statt. Der Sarg mit den sterblichen Überresten des Präsidenten wurde nun aus dem Kongressgebäude getragen und wieder auf die Lafette gestellt. Gefolgt von der Witwe und den Brüdern des Ermordeten bewegte sich der Trauerzug zunächst zum Weißen Haus, wo

8  Die Anatomie des Rituals     195

sich die führenden Politiker und hohe ausländische Trauergäste anschlossen. Zu Fuß zogen die Trauernden nun zur St.-Matthew-Kathedrale, der Gemeindekirche der Kennedys in Washington, wo ein Kardinal die Pontifikalmesse hielt. Von hier aus bewegte sich der Trauerzug zum Ehrenfriedhof Arlington, auf dem die Nation ihre Helden, ihre Großen und ihre Märtyrer zu bestatten pflegt. Am Grab spielte die Marinekapelle die Nationalhymne, bevor eine Sonderabordnung der Irish Guards dem Toten noch ein letztes Mal die Ehre bezeugte. Nach dem Gebet des Geistlichen wurden 21 Salutschüsse abgefeuert und 50 Düsenjäger, gefolgt von der Air Force One, flogen über den Friedhof; drei Gewehrsalven wurden abgefeuert, und die Flagge, die den Sarg bedeckt hatte, wurde eingerollt. Zuletzt fand der Sarg seinen endgültigen Platz im Grab, und die Witwe entzündete die ewige Flamme. Was hatte sich nun, unter dem Gesichtspunkt des Rituals gesehen, abgespielt? Ein junger und charismatischer Präsident, darüber hinaus mit einer schönen Frau mit Starqualitäten verheiratet, war Opfer eines Mordanschlags geworden. Wie bei einem jeden anderen Bürger auch, wurde der Tod festgestellt, die Sterbesakramente wurden erteilt, und der Verstorbene wurde aufgebahrt. Damit wäre bei jedem anderen Bürger die erste Ritualphase, die Trennungsphase, beendet gewesen, und ein Gottesdienst hätte den Verstorbenen rituell in die Totenwelt überführt. Nicht so beim Tod des Präsidenten. Hier war die Öffentlichkeit, hier war ein ganzer Staat beteiligt, und politische Verwerfungen und Unruhen, vor allem hervorgerufen durch die mit dem Täter und möglicher Hintermänner verursachten Unklarheiten, hätten den Staat in eine politisch prekäre Situation bringen können. Immerhin war Kennedy Präsident in unruhigen Zeiten: In seine kurze Regierungszeit fielen der Bau der Berliner Mauer, die missglückte Invasion in der Schweinebucht, die Kubakrise und ein zunehmendes militärisches Engagement der USA in Vietnam, und sein Agieren war auch aus der Sicht von politischen Freunden nicht immer glücklich gewesen (Rasenberger 2011). Es galt also, nach seinem gewaltsamen Tod einen glatten Übergang zu einer neuen stabilen Regierung zu finden. Johnson, bisheriger Vizepräsident, wurde noch an Bord des offiziellen Präsidentenflugzeugs vereidigt. Was nun noch fehlte, war der große Abschied für die Öffentlichkeit, und der wurde ausgiebig zelebriert. Jedes politische Zeichen, jede Metapher wurde bemüht! Hätte es sich um eine gewöhnliche Bestattung gehandelt, wäre der Tote vom Parkland Memorial Hospital zu seinem Wohnsitz überführt und anschließend in der Bostoner Familiengruft bestattet worden. So aber bedurfte es eines anderen, eines staatstragenden Rituals, in welches das

196     I. Wunn

Weiße Haus als offizieller Präsidentenwohnsitz, das Capitol in Washington als Regierungssitz und der Friedhof von Arlington mit seinem grandiosen Blick über Washington als Heldenfriedhof eingebunden wurden. Die Ausstattung des Ermordeten mit den Requisiten eines Präsidenten, der fast genau 100 Jahre zuvor ermordet worden war, und zwar wegen seiner liberalen Gesinnung und seines Eintretens für die Menschenrechte, sollte Kennedy mit diesem Großen der amerikanischen Geschichte gleichsetzen. Das militärische Zeremoniell verlieh den Bestattungsfeierlichkeiten den grandiosen und pompösen Rahmen, der auch auf der internationalen Bühne die Bedeutung Kennedys und der Supermacht USA verdeutlichte. Aus Anlass der Bestattung eines Präsidenten konnte ein Staat seine militärische Potenz zur Schau stellen – das bekannte costly signalling! Die Trauer um einen Toten vermischte sich mit eindeutigen Drohgebärden gegen mögliche Aggressoren, die die momentane Führungsschwäche hätten ausnutzen können. Was hatte stattgefunden, was musste kommuniziert werden? Die folgenden Botschaften: (1) Der Präsident ist tot, und die Bevölkerung kann Abschied nehmen. (2) Es handelte sich um einen großen Präsidenten, der in eine Reihe mit Abraham Lincoln zu stellen ist. (3) Der Tote verlässt seinen Amtssitz, das Weiße Haus, und das Capitol endgültig. (4) Ein Präsident wird zu Grabe getragen, aber die Gemeinschaft, der Staat bleibt stabil. Das militärische Zeremoniell, die den Sarg bedeckende Flagge, die Militärkapelle, Fliegerstaffel und Salven, zuletzt auch die Nationalhymne, sind die starken Symbole. Sie stehen für die nicht weiter hinterfragbaren letzten Werte, die bei diesem großen Übergangsritual immer wieder beschworen werden.2 Diese Werte sind der Staat, die Vereinigten Staaten von Amerika, mit seinem fast religiösen Erlösungsanspruch für seine Bürger. Zu diesen demokratischen Werten und zu dem Freiheitsversprechen für alle seine Bürger können und sollen sich alle Ritualteilnehmer – und das sind auch die Vielen, die die Straßen säumen oder das Geschehen im Fernsehen verfolgen – bekennen und bekennen können, gleich welcher Religion sie angehören. Der traditionelle religiöse Aspekt des Begräbnisses eines Mannes aus einer katholischen Familie hält sich demgegenüber im Hintergrund und spielt nur im privaten Teil der Bestattung eine Rolle! 2Nicht

grundlos hat der bedeutende amerikanische Religionssoziologe Robert N. Bellah (1967) die säkularen Rituale vor allem in den Vereinigten Staaten von Amerika als Civil Religion bezeichnet. Die amerikanische Civil Religion ist demnach eine quasireligiöse Weltanschauung, die ein eigenes, heiliges Symbolsystem entwickelt hat, dessen Einzelsymbole der amerikanischen Historie entstammen. Diese Zivilreligion fungiere, so Bellah, als eine kohäsive Kraft, die über ein gemeinsames Wertesystem den sozialen und kulturellen Zusammenhalt fördere.

8  Die Anatomie des Rituals     197

Erst nach diesem offiziellen Abschied, dem Übergang vom präsidialen Sein Kennedys zum Nicht-Sein, konnte der neue Präsident Lyndon B. Johnson auch im Empfinden der Bürger als vollwertiger Präsident agieren! Interessanterweise verzichtete Johnson auf eine offizielle Einführung, nutzte das Oval Office mit Rücksicht auf die Witwe und ihre Familie erst eine Woche nach dem Staatsbegräbnis und betonte, in dieser seiner ersten Amtszeit das politische Programm Kennedys erfüllen zu wollen. Ritualtheoretisch bedeutet das nicht weniger, als dass Johnson seine Regierung rituell weiter als Übergangszeit, als marge, deklarierte, und erst mit dem Ende der ursprünglichen Amtszeit Kennedys und der Wiederwahl Johnsons war das Übergangsritual tatsächlich beendet. Gleichzeitig war das Kalkül der Witwe, die als studierte Historikerin entscheidend an der Choreografie des Staatsbegräbnisses mitgewirkt hatte, aufgegangen: Ihr ermordeter Gatte avancierte in den Augen der Öffentlichkeit von einem nicht immer glücklich agierenden Präsidenten mit starkem Hang zu short-term matings zu einem tragischen Helden, zu einem amerikanischen König Artus! Und tatsächlich war es auch der Vergleich mit Artus, den Jaqueline Kennedy in Interviews bemühte, und das Oval Office war sein Camelot! Um hier an unsere erste Theorie anzuschließen: Damit verschaffte sie ihren egoistischen Genen, also ihren Kindern, trotz des allzu frühen Todes des Vaters mit Alphamännchenqualitäten noch in letzter Stunde ein kulturelles Kapital (mehr dazu in Zusammenhang mit Bourdieus Habitustheorie), mit dem sie später würden arbeiten können. Zumindest für ihre Tochter Caroline ging diese Strategie auf. Zum Glück enden nicht alle Präsidentschaften oder Kanzlerschaften tragisch, und daher markiert im Allgemeinen nicht das Begräbnis das Ende einer großen politischen Karriere. Stattdessen bezeichnet ein nüchternes Datum im Kalender das offizielle Ende der Amtszeit. Die praktische Umsetzung sieht für den Regierungschef eines deutschen Bundeslandes meist traurig aus. Wie ein beliebter Ministerpräsident einstmals in einer privaten Runde desillusioniert mitteilte, fährt der erste Mann im Bundesland mit Dienstwagen und Chauffeur am Morgen zur Staatskanzlei und am Nachmittag mit der Straßenbahn nach Hause.3 Es findet kein Ritual statt, sondern allenfalls ein letztes Kaffeetrinken und ein Händeschütteln mit den Bürokräften und Staatssekretären (m/w/d). Entsprechend orientierungslos suchen dann jene ehemaligen Ministerpräsidenten nach

3So

Ernst Albrecht, von 1976 bis 1990 Ministerpräsident Niedersachsens, in einem privaten Gespräch mit einem Freund.

198     I. Wunn

ihrer neuen Stellung in der Gesellschaft und dümpeln gelegentlich in den seichten Gewässern einer parteinahen Stiftung oder des Bundes Deutscher Radfahrer. Anders ein Staatschef, der mit einem Ritual, in Deutschland möglicherweise sogar mit dem Großen Zapfenstreich, verabschiedet wird. Beim letzten Bundeskanzler (m; lang, lang ist’s her!) war dies ein großes Ereignis, zu dem Freunde und Weggefährten geladen waren. Die Bevölkerung konnte jenseits eines eilig errichteten Sicherheitszaunes an der offiziellen Verabschiedung, dem großen Übergangsritual, teilhaben. Anders ausgedrückt: Der Bundeskanzler, während seiner Kanzlerschaft ein Mann, der sich seiner Stellung bewusst war, wurde rituell in seinen neuen Status als Privatmann überführt, und die zuschauende Bevölkerung verinnerlichte diesen Statuswechsel. Es ist daher nicht erstaunlich, dass der gewesene Staatsmann nun in jedermanns Augen genau die Rolle einnimmt, in die er rituell überführt wurde, nämlich die einer beliebigen Privatperson. Auch die ihm lebenslang zustehenden, völlig überflüssigen und natürlich aus Steuergeldern bezahlten Personenschützer und die große Dienstlimousine ändern daran nichts. Ritual ist Ritual. Die erhoffte submissive Dominanzbeziehung durch die Zurschaustellung ehemaliger Kanzlerrequisiten kann sich einfach nicht einstellen. Anders seine damalige Ehefrau: Nur gerade mal eben fast so schön und elegant wie Jacky Kennedy und leider auch ohne deren Starqualitäten, aber mindestens ebenso ehrgeizig, war sie von dem ritualisierten Übergang ins gesellschaftliche Nirwana nicht betroffen und startete ihre eigene politische Laufbahn.

Wie kommt so ein kulturelles Symbol ins Ritual? Nicht bei allen Ritualen, so haben die obigen Beispiele gezeigt, stehen die drei Phasen der Trennung, des Übergangs und der Re-Integration in einem so ausgeglichenen Verhältnis wie bei den Makonde: Hier waren alle drei Phasen durch fröhliche Feste gekennzeichnet, von denen möglicherweise der Mapiko-Tanz mit dem Auftreten der Gestalten aus der Totenwelt den Höhepunkt darstellte. Anders bei den geschilderten Bestattungen, bei denen ganz offensichtlich die Trennung, die séparation, im Vordergrund steht und die größte Aufmerksamkeit beansprucht. Dies ist sicherlich nicht bei allen Bestattungsritualen der Fall. Bei den bereits kurz erwähnten indonesischen Toraja, aber auch bei etlichen vorgeschichtlichen Totenritualen spielten vor allem der Übergang in die jenseitige Welt, aber auch die spätere Integrationsphase eine große Rolle. Wird eine Bestattung auf diese

8  Die Anatomie des Rituals     199

Weise mit allen ihren Phasen ausgiebig zelebriert, das Ritual also in seiner ganzen Breite ausgeführt, zieht es sich leicht über ein Jahr oder mehr hin. Diese Zeit benötigt der Tote im Glauben seiner Ethnie, um das Totenreich zu erreichen. Ich selbst habe eine solche mehrstufige Bestattung an anderer Stelle wie folgt geschildert und dabei das Beispiel einer Bestattung bei den Ostjaken (heute als Keten bezeichnet) gewählt: „Stirbt ein Familienangehöriger, wird sein Heim völlig leergeräumt und enthält zuletzt nur noch die Besitztümer des Toten, der selbst in seinem Hause im Kanu aufgebahrt wird. Ein Schamane befragt ihn dort zunächst nach den Ursachen seines Todes, bevor das Kanu auf den Begräbnisplatz des Clans gebracht wird, wo man es auf den gefrorenen Untergrund setzt […] Anschließend nehmen die Trauernden auf dem Begräbnisplatz ein Totenmahl ein, an dem der Tote dem Glauben der Ostjaken nach noch einmal teilnimmt, bevor er sich auf den beschwerlichen Weg gen Norden in das Totenreich macht. Zuhause haben die Frauen bereits eine Totenfigur angefertigt, die von nun an […] zwei bis zweieinhalb Jahre lang täglich gebadet und gefüttert wird, ein Zeitraum, dem die Dauer der Reise in das Totenreich entspricht. Am Ende dieser Frist, wenn der Tote sein endgültiges Ziel erreicht hat, erfolgt das zweite und abschließende Begräbnis, in dessen Verlauf er in die Totenwelt integriert und die Angehörigen in das soziale Leben zurückgeführt werden“ (Wunn 2002, S. 265 f.)

Und weiter hatte ich damals richtig konstatiert, dass solche aufwändigen, mehrstufigen Bestattungen in religiöser Hinsicht die Vorstellungen über das Schicksal des Verstorbenen reflektieren, aus psychologischer Warte den Hinterbliebenen das Ausleben ihrer Trauer in einem sozial akzeptierten Rahmen ermöglichen und in sozialer Hinsicht auf die Instabilität reagieren, die sich in einer Gruppe durch den Verlust eines ihrer Mitglieder ergeben hat (ebd. S. 264). Im Christentum jedoch ist die Trennungsphase mit der Aufbahrung und möglicher Totenwache sichtbar vorhanden, aber der eigentliche Übergang ist unklar und wird lediglich in einer christlichen Trauerpredigt kurz als Auferstehungsversprechen thematisiert, während auch die sich direkt anschließende Integrationsphase mit dem Totenmahl oder Beerdigungskaffee recht kurz und wenig feierlich ausfällt. Unterziehen wir vor diesem Hintergrund das christliche Begräbnis einer religionsgeschichtlichen Betrachtung: Das Christentum entstand bekanntlich aus einer älteren Form des Judentums – in der Fachterminologie aus dem Second-Temple-Judaism. Diese Form des Judentums mit ihren theologischen Reflexionen und Hoffnungen hatte ihre Ausprägung im ­Zeitraum

200     I. Wunn

zwischen der Eroberung Jerusalems durch die Babylonier (586 v. Chr.) bis zur Zerstörung des Zweiten Tempels durch die Römer (70 n. Chr.) gefunden und war insbesondere während ihrer Spätzeit durch den festen Glauben an das baldige Erscheinen des Messias, des Erlösers, gekennzeichnet. Und dieser Messias kam! Um die Zeitenwende herum, vermutlich um 6 v. Chr., wurde ein gewisser Jesus wahrscheinlich in Nazareth, Galiläa, geboren, genoss eine religiöse Ausbildung und hatte anschließend im Alter von etwa 30 Jahren ein Berufungserlebnis. Er zog nun als Wanderprediger durch Judäa, Galiläa und Peräa, wo er in der Tradition des Second-Temple-Judaism die unmittelbare Herabkunft des Gottesreiches ­ predigte. Sein unglaublicher Erfolg als charismatischer Verkünder und Wunderheiler bestärkte seine Anhänger und ganz zuletzt auch ihn selber in dem Glauben, selbst dieser erwartete Messias zu sein. Entsprechend alttestamentlicher Prophezeiungen und nach dem Beispiel früherer Aufstände (von denen nur der Aufstand der Makkabäer Erfolg hatte und für rund 100 Jahre zur Unabhängigkeit eines jüdischen Staates führte) versuchte er vor dem Pessachfest im Jahre 30 oder 33 v. Chr. einen Aufstand gegen die römischen Besatzer anzuzetteln (Vertreibung der Händler aus dem Tempel; Mt 21,12 ff. EU; Mk 11,15 ff. EU; Lk 19,45 ff. EU; Joh 2,13–16 EU), der allerdings schon im Ansatz scheiterte. Anstatt als Messias den prophezeiten Gottesstaat zu errichten, wurde Jesus von den Römern als Aufwiegler und Hochverräter angeklagt und hingerichtet. So weit die harten historischen Tatsachen. Seine Anhänger hatten nach der Hinrichtung Jesu jedoch Erlebnisse, die in ihnen die Überzeugung wachsen ließ, ihr Messias sei nicht endgültig tot. Auf der Basis ihrer Visionen deuteten sie alttestamentliche Überlieferungen neu und kamen zu dem Ergebnis, dass der Messias habe sterben müssen, um dann aufzuerstehen und erst dann endgültig das Gottesreich zu errichten. Seine Anhänger, unter ihnen die zwölf Apostel, waren der festen Überzeugung, noch zu ihren Lebzeiten Zeuge dieser Ereignisse zu werden. Dann, nach dem zweiten Erscheinen des Erlösers, würden sich wie versprochen die Gräber öffnen, die Toten auferstehen und die Gerechten erlöst werden. Jede christliche Bestattung bedeutete demnach also, dass sich die Angehörigen von dem Verstorbenen verabschiedeten (séparation), der nach ihrem Glauben nun nur noch eine kurze Zeit im Grab würde ausharren müssen, bis die unmittelbar bevorstehende Auferstehung die Hinterbliebenen wieder mit dem Toten vereinigte. Ein endgültiger Übergang in eine Totenwelt erübrigte sich damit für den gläubigen Christen. Dementsprechend wurde im Ritual vor allem der Abschied thematisiert. Allerdings wurde für die Übergangs- und Integrationsphase in das bald kommende Gottesreich

8  Die Anatomie des Rituals     201

v­ orgesorgt, indem man seine Grabstätte möglichst nah bei solchen Personen anlegte, deren Auferstehung man gewiss sein konnte: bei den Heiligen in den Kirchen oder zumindest auf dem Kirchengelände, denn ursprünglich konnte eine Kirche nur auf einer Reliquie, also auf einem Körperteil eines verstorbenen Heiligen, errichtet werden (Ariès 1980)! Genau diese Geschichte des christlichen Begräbnisses mit seinem historischen Hintergrund ist dafür verantwortlich, dass im Christentum ausgerechnet die letzten beiden Phasen des Bestattungsrituals bis zur Unkenntlichkeit verkürzt stattfinden und die Trauernden nicht in den Genuss der Tröstungen eines tatsächlichen ausgearbeiteten Übergangs kommen.

Die Integrationsphase Anders ist es bei einer christlichen Taufe oder einer jüdischen Brit Mila (Abb. 8.4); letztere wollen wir hier als Beispiel wählen. Hier ist es vor allem die Integrationsphase, die betont wird, denn erst mit diesem rituellen Akt gilt der kleine neue Mensch als Mitglied seiner religiösen Gemeinschaft und damit in sozialer Hinsicht als existent. Der Ablauf einer solchen Brit Mila, die am achten Tage nach der Geburt stattfinden soll, ist wie folgt: Der männliche Säugling wird von seiner Mutter herbeigetragen und einer sogenannten Kvatterin übergeben, die ihn dann an ihren männlichen Gegenpart, den Kvatter, überreicht. Der Kvatter, der seinen Gebetsschal trägt, wird das Neugeborene zu dem Platz bringen, an dem die Zirkumzision stattfinden wird. Hier steht bereits der Stuhl für den Propheten Elia, auf den das Kleine kurz gelegt wird, während ein Gebet

Abb. 8.4  Brit Mila-Zeremonie in Jerusalem 2005. (© Pavel Wolberg/dpa/dpaweb/ picture alliance)

202     I. Wunn

von Seiten des Beschneiders, des Mohel, Elia um seinen Beistand bei dem Eingriff bittet. Nun hebt ein Repräsentant des Kindsvaters, der Sandek, das Baby vom Stuhl des Elia, übergibt es dem Vater, der es dem Sandek zurückreicht mit der Bitte, es während des Eingriffs zu halten. Jetzt überreicht der Vater (nach entsprechender Desinfektion) das Skalpell dem Beschneider, den er nun offiziell mit dem Akt der Beschneidung beauftragt. Es folgen die rituellen Segenssprüche über einem Weinbecher von Seiten des Kindsvaters, des Mohel und der Anwesenden, die noch einmal betonen, dass Gott die Seinen zur Beschneidung aufgefordert hat. Auch das Neugeborene erhält von dem Wein, indem der Mohel seinen Finger in den Weinbecher eintaucht und dem Baby einige Tropfen davon gibt. Nun erhält das Kleine auch seinen Namen, traditionellerweise den Namen eines verstorbenen Vorfahren, wenn nicht ältere Geschwister da sind, die die Namenstradition bereits fortführen. Zuletzt findet auch bei der Brit Mila eine festliche Mahlzeit statt, während der alle Beteiligten und Gäste das frohe Ereignis gebührend feiern. Die Ritualphasen und die Aussagen des Rituals sind eindeutig. Ein neuer kleiner Mensch, ein Säugling, ist geboren, aber damit ist er noch lange nicht in sozialer Hinsicht existent. Dazu muss er erst in die Gemeinschaft aufgenommen werden, und das ist ein großer gesellschaftlicher Akt, der natürlich gebührend begangen werden muss. Immerhin soll aus dem Kleinen in absehbarer Zeit ein vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft werden. Also findet ein Initiationsritual statt: Das Neugeborene wird in seine Gemeinschaft initiiert. Eine ausgiebige Phase der séparation erübrigt sich in diesem Zusammenhang, denn es gibt noch keine sozial relevante Station im Leben des Kindes, von der es getrennt werden müsste. Die séparation fällt also denkbar kurz aus: Die Mutter übergibt den Winzling der Kvatterin und diese dem Kvatter. Nun finden mit Gebeten, symbolischen Handlungen und dem Akt der Zirkumzision die Handlungen statt, die den eigentlichen Übergang darstellen. Kvatter, Sandek und Kindsvater nehmen als unmittelbar Beteiligte und Gewährsleute den Kleinen in ihre Mitte auf; der Stuhl des Elia bezeugt seine Verankerung im Judentum. Die Gebete sind der Verweis auf höhere, nicht weiter hinterfragbare Instanzen, die den Akt auf eine transzendente Ebene heben; die Namensgebung macht das Kind erst zu einer sozialen Person. Nach Vollendung dieser Handlungen schreitet man zum gemeinsamen Festessen, mit dem der rituelle Akt besiegelt wird und durch den die versammelte Gemeinschaft bezeugt, dass sie das Kind in ihre Mitte aufgenommen hat.

8  Die Anatomie des Rituals     203

Die Wucht des Narrativs Jedes große Ritual, sei es die Initiation bei den Makonde, sei es die Brit Mila oder sei es die Bestattung eines Präsidenten, verweist auf bedeutungsvoll Historisches, ja eigentlich mehr noch: Es verweist auf ein sogenanntes sinnstiftendes Urzeitgeschehen. Das heißt, die großen Symbole, Bilder und Metaphern sind einem bekannten Narrativ entnommen, welches für die Gemeinschaft von so überragender Bedeutung ist, dass sie ihr soziales Miteinander auf eben dieses Ereignis zurückführt und genau dieses Ereignis ihrem Sein existenziellen Sinn verleiht. Eine solche große Erzählung, die um nicht weniger kreist als die großen, ewig wahren Grundgewissheiten des Seins, ist im Allgemeinen ein religiöser Mythos, also das, was als die grundlegende Botschaft der jeweiligen Religion gilt. Bei den Hopi (Kap.  6), deren Existenz immer wieder von dem bedrängenden Wassermangel auf den trockenen Hochebenen Arizonas bedroht war, stellte der Mythos von den Schlangenfrauen aus der regenbringenden Unterwelt diese sinnstiftende Erzählung dar, und jedes Jahr im August wiederholt ein großes Ritual, das Schlangenritual, dieses Urzeitgeschehen. Wenn die Schlangentänzer während des Rituals die Schlangen ergreifen, mit ihnen tanzen, sie dann in ihren unterirdischen Andachtsräumen, den Kiwas, auf ein Sandbild werfen, um sie zuletzt als Boten ins Freie zu entlassen, verkörpert jeder Tänzer den Urzeithelden, der die Schlangenmädchen aus der Unterwelt geheiratet hatte und damit eine direkte verwandtschaftliche Bindung zu den regenmachenden Unterweltskräften eingegangen war. Für alle Rituale gilt: Die ausführenden Personen werden zu jenen Urzeitgestalten, die das Ritual erstmalig ausführten! Gleiches gilt für die hiesigen religiösen Rituale. Bei einer christlichen Taufe beispielsweise wird der Säugling getauft – wie auch vor etwa 2000 Jahren Jesus getauft wurde. Durch die Taufe wird der Täufling selbst zu einem kleinen Jesus, und das heißt, dass sich in seinem Leben genau das Jesusschicksal wiederholen wird. Er oder sie wird leben und irgendwann sterben; der Tod wird aber wie bei Jesus nur ein vorübergehender sein, an dessen endgültigem Ende dann die Auferstehung und ein ewiges Leben im Himmel stehen wird. Im Leben dieses Christen werden weitere christliche Rituale mit Verweis auf ein Urzeitgeschehen diese Gewissheit immer wieder nähren: Mit jeder Eucharistiefeier, an der Christen teilnehmen, vergewissern sie sich durch den Genuss einer Oblate und des Weins (Letzteres leider nur bei Protestanten) dieser Tatsache, dass sie nämlich selbst in diesem Moment Jesus sind, der sterben, aber auch wieder auferstehen wird. Nach Turner

204     I. Wunn

(1969), unserm Gewährsmann für Rituale aus anthropologischer Sicht, hat das Individuum in genau diesem Augenblick Anteil am Göttlichen! Für uns, die wir etwas weniger theologisch und dafür mehr biologisch geprägt sind als Turner, handelt es sich hier um im kulturellen Kontext erworbene, wirkmächtige Symbole, die bestimmte Antworten zuverlässig triggern – und diese Antworten beziehen sich hier auf das Sich-Identifizieren mit einer Gemeinschaft. Von ähnlich starker Wirkung ist das jüdische Pessachfest auf die Anhänger dieser großen, schönen und alten Religion. Jedes Jahr verlassen sie rituell Ägypten, das Land ihrer Knechtschaft, werden wunderbar vor der Verfolgung durch den Pharao gerettet, irren durch die Wüste, erhalten die Zehn Gebote und gelangen zuletzt in das Gelobte Land, den Ort ihrer Erlösung. In jedem Jahr fühlen sich jeder gläubige und jeder säkulare Jude als Teil dieses Gottesvolkes, das verfolgt wurde, für das jedoch auch immer wieder das große mythische Versprechen von der göttlichen Errettung Gültigkeit hat. Und für Muslime gilt: Immer, wenn er oder sie an der Hadsch, an der für den Frommen einmal in seinem Leben obligatorischen Pilgerreise nach Mekka, teilnimmt, weiß er, dass er damit genau jene Pilgerfahrt wiederholt, die der Prophet selbst nach seinem Friedensschluss mit seiner Heimatstadt Mekka unternahm. Und mehr noch: Nach islamischer Auffassung waren es Abraham und sein Sohn Ismaël, die die Kaaba als Zeichen ihres Bundes mit Allah errichteten. Mit der Pilgerreise zur Kaaba wird also jeder Muslim zu Abraham, der sich dem göttlichen Willen freudig unterwirft. Und genau wie Gott mit Abraham einen Bund schloss, schließt er ihn nun im Ritual mit dem Gläubigen, der in diesem Moment Abraham ist. Soweit die großen religiösen sinnstiftenden Ursprungserzählungen – viele andere aus dem bunten Garten der Religionsgeschichte und Völkerkunde könnten hier angeführt werden. Ihre große Bedeutung für die entsprechende Religionsgemeinschaft haben diese alten Mythen und die dazugehörigen Rituale bis heute. Für eine politische Gemeinschaft allerdings galt das vor allem in einer Zeit, als das jeweilige religiöse Weltbild mit seinem symbolischen Ausdruck in einem entsprechenden Narrativ gleichzeitig die staatstragende oder gruppentypische Ideologie war – also der christliche Mythos vor allem im Mittelalter oder der Hopi-Schlangenmythos in der Zeit vor der spanischen Eroberung. Für einen modernen, säkularen Staat taugen die alten religiösen Symbole oft nur wenig, und vor allem, wenn es sich um einen multiethnischen und multireligiösen Staat handelt, können ausschließlich christliche oder

8  Die Anatomie des Rituals     205

ausschließlich muslimische oder nur jüdische Symbole nicht mehr alle Ritualteilnehmer erreichen. In einem solchen Staat mit einer ethnisch und religiös heterogenen Bevölkerung, die eine Gemeinschaft bilden soll, müssen also andere Symbole, müssen andere Narrative her, und die finden sich dann am ehesten in der eigenen, heroisierten Geschichte. Für die Kennedys und den amerikanischen Staat war das Abraham Lincoln. Als ein Mann, der für die Freiheit und das Ende der Sklaverei einstand und der sich für eine Aussöhnung zwischen Nord- und Südstaaten einsetzte, schien er uramerikanische Ideale zu verkörpern. Damit stellte er die ideale mythische Gestalt dar, mit der sich ein Präsident identifizieren, ja, mit dem er im Ritual geradezu verschmelzen konnte. Dementsprechend wurden die Symbole gewählt, die genau dieses Bild festigten: Lincolns Lafette und Lincolns Katafalk. Da ein Ritual ja Urzeitgeschehen wiederholt, also im Ritual immer und immer wieder dasselbe geschieht und damit eine uralte, für gut befundene Weltordnung – eigentlich aber die soziale Ordnung – immer wieder eingesetzt und bestätigt wird, bekräftigte auch Kennedys Bestattung diese historischen Werte und die amerikanische soziale und politische Ordnung. Und ein weiteres wichtiges Kriterium erfüllte Lincoln und nach ihm Kennedy: das Kriterium des heroischen Todes, des Opfertodes. Schon im Mythos alter Völker ist die Hauptfigur des Mythos, also diejenige, die mit ihrem Schicksal die Seinsordnung inauguriert, eine tragische Figur. Immer stirbt sie einen grausamen Tod, aber gerade dadurch erschafft sie die herrschende soziale Ordnung, die als gut und richtig empfunden wird. Solche tragischen Figuren sind in der griechischen Antike Dionysos (wurde zerstückelt) und Persephone (wurde ins Totenreich entführt). Am bekanntesten ist wohl der ägyptische Isis-und-Osiris-Mythos, nach dem Osiris von seinem Bruder erschlagen und zerstückelt wurde. Aber auch Jesus von Nazareth starb einen Opfertod und errichtete dadurch eine neue soziale Ordnung, in der nun nicht mehr der Stamm, die Familie (im Sinne der römischen Geschlechter) zählt, sondern jeder Einzelne, das Individuum. Und nun, im multiethnischen und multireligiösen Amerika ist Lincoln der Märtyrer, die sinnstiftende Urzeitgestalt, deren Schicksal sich in Kennedy wiederholt und damit die soziale und politische Ordnung noch einmal bestätigt! Auch andere Staaten üben sich in staatstragenden, den Staat und seine Gesellschaft stabilisierenden Ritualen. In Großbritannien spielt in diesem Zusammenhang der regierende Monarch bzw. zurzeit die Monarchin eine wesentliche Rolle. Bei der Krönung werden alte Kronen bemüht, die teilweise nur dieses eine Mal, nämlich zur Krönung, offiziell Verwendung finden (die St.-Edwards-Krone) und die mit ihrem Alter und mit den

206     I. Wunn

in ihnen verwendeten kostbaren Steinen auf das Alter der britischen Monarchie, das ehemalige Empire und die wirtschaftliche Potenz verweisen; kurz gesagt, auf glorreiche Zeiten. Jedes Jahr, zum offiziellen Geburtstag der Queen, findet das Trooping the Colours, die Militärparade statt, die einerseits auf die militärische Potenz, andererseits auf alte Traditionen verweist. Und für jede Sitzungsperiode eröffnet die Monarchin nach einem strengen Hofzeremoniell das Parlament und verliest die Regierungserklärung. Ist an dieser Stelle vielleicht ein wenig Boulevard gefällig? Dann folgende kleine Ergänzung: Die Symbolkraft eines Monarchen ist umso größer, je mehr er einem Archetypus entspricht. Der Archetypus des guten und weisen Herrschers ist der legendäre biblische König David, dessen Bild sich für das europäische Mittelalter übrigens in der Figur des Artus wiederfindet. Eine Königin hat es hier wegen des fehlenden archetypischen Vorbildes schon etwas schwerer, es sei denn, sie tritt in die Fußstapfen der mythischen Großen Mutter, die in den alten Religionen durch so gewaltige Gestalten wie Kybele oder Rhea oder gar die babylonische Ishtar verkörpert wurde. Elizabeth II. mit ihrer fast schon als ewig empfundenen Regentschaft kommt diesem Archetypus der Großen Mutter inzwischen sehr nahe! Schwer haben es allerdings die erwachsenen Kinder regierender Monarchen, die nämlich, wenn verheiratet, den Archetypus der Heiligen Familie (Abb. 8.5) repräsentieren sollen – und das steht leider meist in einem kaum aufzulösenden Gegensatz zu den Auswirkungen der egoistischen Gene! Wohl dem, der einen Monarchen oder aber ein anderes Staatsoberhaupt mit großer Symbolwirkung hat! Gerade junge Nationalstaaten ohne Traditionen und ohne altüberlieferte identitätsstiftende Symbole tun sich hier schwer, obwohl die jeweilige politische Elite die Notwendigkeit solcher staatstragenden Rituale und Symbole durchaus erkannte. So überboten und überbieten sich vor allem die totalitären Staaten des Ostens gegenseitig mit Militärparaden, in deren Rahmen alles spazieren gefahren wird, was irgend aus Metall ist, Phallusform hat (Sie erinnern sich an den Phallus als Zeichen für eine Vergewaltigungsdrohung?) und bedrohlich aussehen könnte. Ungezählte Soldaten in Uniform marschieren und salutieren, während die Führungsriege, bis hinauf zum Doppelkinn mit militärischem Lametta verschönert, mit martialischem Blick auf der Tribüne steht. Hier und da kann es allerdings ein Potentat nicht lassen, auch in diesem Zusammenhang seine Paarungsfreudigkeit zumindest anzudeuten: Gaddafi, der inzwischen ermordete Herrscher Libyens, hatte sich eine weibliche Leibgarde zugelegt! Eine Grundgewissheit des Seins im Sinne eines ritualtauglichen Signals ist natürlich eine Militärparade nicht, und Waffen taugen auch nicht, um gegenläufigen Empfindungen angemessen Ausdruck zu verleihen (Abb. 8.6).

8  Die Anatomie des Rituals     207

Abb. 8.5  Prinz Charles und Prinzessin Diana mit ihren Söhnen als Heilige Familie. (© epa Ron Bell/picture alliance)

Abb. 8.6  Die verzweifelte Suche nach einem staatstragenden Mythos. (© Lehtikuva Oy/picture alliance)

208     I. Wunn

Auch ist zum Beispiel ein am Schlaganfall verstorbener Stalin weder JungSiegfried noch Richard Löwenherz. Daher lässt die Wirkung eines solchen Möchtegernrituals auch ziemlich zu wünschen übrig! Aber was tun, wenn nichts da ist? Man kann einem nackten Mann eben nicht in die Tasche greifen, wie das Sprichwort richtig bemerkt. Dementsprechend sind die genannten Staaten oder Staatskörper auch wackelig. Eine wirkliche Gemeinschaft mit gemeinsamen existenziellen Werten kann sich so nicht bilden. Dann aber werden die wirklich existenziellen Fragen anderweitig beantwortet; möglicherweise durch die konkurrierende Institution Religion. Die ist dann als bindende Kraft innerhalb der Gesellschaft die Konkurrenz des totalitären säkularen Staates und wird dementsprechend vom Staat als möglicher Feind angesehen. Genau das hat es historisch bereits gegeben. Wir werden im übernächsten Abschnitt ein Beispiel nennen. Zunächst aber zu einem weiteren Manko in einem Staat ohne staatstragenden Mythos: Da er kein wirkliches Ritual hat, mit dessen Hilfe er aus Individuen eine Gemeinschaft formen und diese Gemeinschaft zusammenhalten kann, ist er gezwungen, mit autoritären Mitteln, also mit Gewalt, zu arbeiten. Umgekehrt gilt: Ein säkularer Staat wie die USA mit staatstragender sinnstiftender Ursprungserzählung – hier war es der Mythos von Demokratie und Freiheit, verkörpert durch seine ersten Präsidenten – ist möglicherweise nicht moralischer, nicht gerechter, bestimmt nicht sozialer und vielleicht nicht einmal freier als sein osteuropäisches oder asiatisches Pendant (die Entscheidung wollen wir Politikwissenschaftlern überlassen), aber sicherlich wird die politische Gemeinschaft von allen ihren Mitgliedern getragen, und das wegen des sinnstiftenden Mythos und seiner regelmäßigen Vergegenwärtigung im Ritual. Zurück zu dem Sinnvakuum, das die Existenz eines Staates ohne staatstragenden Mythos gefährdet. Dazu ein historisches Beispiel: Der Vorläufer der heutigen Türkei, das Osmanische Imperium, hatte bedauerlicherweise den Anbruch der Moderne verschlafen. Insbesondere die technische und militärische Entwicklung war an der einstigen Großmacht fast spurlos vorübergegangen. Als man am Bosporus endlich aufwachte, war es fast zu spät. In der Zwischenzeit waren aus den einstigen unbedeutenden kleinen Kläfferstaaten im Nordwesten des Osmanischen Imperiums militärische Großmächte mit einem schier unstillbaren imperialistisch-kolonialistischen Appetit entstanden, die auch vor den Grenzen des Osmanischen Reiches nicht Halt machten. Das Osmanische Reich reagierte mit Reformen. Hastig versuchten seine letzten Sultane und eine junge politische Avantgarde Neuerungen einzuführen, die aus dem Kalifat mit seinen

8  Die Anatomie des Rituals     209

o­ smanisch-islamischen Grundlagen einen modernen, türkischen, säkularen Nationalstaat nach europäischem Muster machen sollten. Die konservative Bevölkerungsmehrheit vermochte dem Reformkurs jedoch nicht zu folgen, sondern fühlte sich alten Traditionen verbunden. Diese konservative Schicht fand Rückhalt bei den vielen religiösen Orden und Mystikergruppen, die das Osmanische Reich seit Jahrhunderten geprägt hatten und darüber hinaus das verbindende Element zwischen den unterschiedlichen Ethnien und Gruppierungen innerhalb dieses heterogenen Imperiums darstellten: Ob Kurde, Türke, Albaner, Lase, Abchase oder Araber – sobald sie in den Orden initiiert waren, spielte das keine Rolle mehr! Diese Orden pflegten also die jahrhundertealte Tradition der islamischen Mystik, nach der ein junger Mann von einem ordinierten Derwisch unterrichtet und schließlich im Rahmen eines Rituals in diesen Orden initiiert wurde. Diese Orden waren (und sind) streng hierarchisch aufgebaut. An der Spitze steht ein Pir, dem alle Ordensmitglieder, die Derwische, absoluten Gehorsam schulden. Nach außen gilt strengste Geheimhaltungspflicht. In religiöser Hinsicht sind die Orden einem verinnerlichten, auf esoterische Erkenntnis zielenden Islam verpflichtet. Im Zentrum der sinnstiftenden Ursprungserzählung steht entweder der Prophet selbst oder aber sein Vetter und Schwiegersohn Ali; Letzterer übrigens im besten mythosstiftenden Sinn eine tragische Gestalt, die zuerst um das Kalifat gebracht und dann ermordet wurde! Die islamischen Mystikerorden erfreuten sich großer Beliebtheit, besaßen durch Stiftungen riesige Vermögen, bestimmten in weiten Teilen des Imperiums das soziale Leben und bildeten wegen der hierarchischen Strukturen plus Arkandisziplin Staaten im Staate. Vor allem der ­Bektaschi-Orden mit seiner engen Beziehung zum Militär wurde für ein reformwilliges Osmanisches Reich zur Bedrohung. Letztlich entledigte sich Sultan Mahmud II. (reg. 1808–1839) in einem Befreiungsschlag beider – des alten Militärs, der Janitscharen, und der Bektaschi –, schwächte sein Land aber damit dermaßen, dass es sich in den militärischen Auseinandersetzungen mit Russland und auf dem Balkan nicht mehr erfolgreich behaupten konnte. Das Desaster setzte sich im Ersten Weltkrieg fort. Nur dem Offizier Mustafa Kemal, genannt Atatürk, ist es zu verdanken, dass die heutige Türkei als Territorialstaat mit nennenswerter Fläche überhaupt überleben konnte. Allerdings drängte Atatürk, ein bekennender Säkularist, den Islam bis auf unverzichtbare Rudimente zurück und versuchte, dem neuen Staat eine nationalstaatliche Ideologie zu geben. Nach dem Tode des Staatengründers wurde Atatürk selbst von seinen Nachfolgern als mythische Gestalt aufgebaut: Der Begründer der modernen, demokratischen und nationalstaatlichen Türkei stand im Mittelpunkt eines Personenkultes, der das

210     I. Wunn

e­ ntscheidende Symbol staatstragender Rituale darstellen sollte. Aber wie das mit dem Mythos so ist: Nicht jede Erzählung ist wirklich sinnstiftend! Und so war es auch mit Atatürk und der Türkei: Zwar pflegten moderne, westlich orientierte Intellektuelle den Mythos von Atatürk als dem Begründer der modernen Türkei, aber ihm fehlte der Heldentod (Leberzirrhose als Todesursache gilt hier leider nicht; und bestimmt nicht in einem muslimischen Land), und die ländliche, von zu radikalen Reformen überforderte Bevölkerung hatte weiterhin die alten Symbole verinnerlicht. Jahrelang konnte die Türkei ihren Weg in die Moderne nur durch Druck von Seiten eines kemalistischen Militärs weitergehen. Dann gelang es einem cleveren und skrupellosen Politiker, die alten islamischen Symbole für seine eigene Politik fruchtbar zu machen. Das Kopftuch von Erdogans Ehefrau Emine ist typisch für die Sehnsucht nach den alten Werten; sein neuer Präsidentenpalast mit den vergoldeten Stühlen knüpft an den Prunk (nein, nicht des Parvenüs – wie kommen Sie denn darauf?) der Osmanen an und ist daher ein Symbol für den universalen Herrschaftsanspruch über die islamische Welt, und die Garde in den verschiedenen historischen Uniformen steht für die jahrhundertelange erfolgreiche Imperialgeschichte. So weit die positive Wirkung tragender Symbole und eines großen sinnstiftenden Mythos, der Gemeinschaft stiftet und innerhalb dieser Gemeinschaft für das social bonding, die soziale Bindung, sorgt. Manchmal können ein solches Symbol und ein entsprechendes Narrativ jedoch auch problematisch werden. Auch hierzu einige Beispiele; zunächst der Fall, in dem ein Symbol und Narrativ von der Geschichte überholt wurden. Sie erraten es bereits: Wir sprechen von unserem eigenen Land und Staat, von unserer eigenen Gemeinschaft. Wir sprechen von Deutschland. Seit der Gründung der Bundesrepublik, im Volksmund auch gern Bonner Republik genannt, war der staatstragende Mythos die verbalisierte Hoffnung auf Wiedervereinigung, und die Mauer quer durch Deutschland war das Symbol einer schmerzlichen Trennung. Ob mehr oder weniger gut getarnter Altnazi (z. B. Hans Globke, Kurt Georg Kiesinger), ob Sozialdemokrat (leider mit Nazivergangenheit: Hinrich Wilhelm Kopf, Horst Ehmke, Erhard Eppler, Günter Grass) oder braver Kirchenfürst (schon wieder mit zweifelhafter Vergangenheit: Bischof Hanns Lilje, Bischof Wilhelm Berning), alle konnten sich mit einem Staat und einer Gemeinschaft identifizieren, für den die Vokabel Wiedervereinigung das Synonym zur christlichen Erlösung darstellte. Als daher Kennedy (obwohl er den Mauerbau aus eigennützigen politischen Gründen durchaus begrüßt hatte) in Berlin seine berühmten Worte „Ich bin ein Berliner“ sprach, hatte er die Herzen der Deutschen gewonnen.

8  Die Anatomie des Rituals     211

26 Jahre später fiel die Mauer, jenes aus Stein und Stacheldraht bestehende Symbol der deutschen Teilung. Nach einem Sturm der Begeisterung, nach herzergreifenden Verbrüderungsszenen geschah – gar nichts. Die ehemalige DDR wurde Teil der Bundesrepublik, Eigentumsfragen wurden bürokratisch und für alle unbefriedigend gelöst, eine neue Steuer (der Soli) wurde eingeführt, niemand, außer einigen Gangstern beim Umrubeln, hatte verdient, und der neue Staat hatte weder Mythos noch Symbol. Genau das stellt sich nun als Problem dar. Ost und West, Alteingesessenen und Zuwanderern fehlt es an einem gemeinsamen, überzeugenden Narrativ und sichtbaren Symbolen, die eine neue Gemeinschaft begründen könnten. Zaghafte Versuche kommen allenfalls aus einer rechtslastigen bis rechtsradikalen und wegen ihrer ­mitleidlos-menschenverachtenden Tendenzen nur als abscheulich zu bezeichnenden ­Pegida-Bewegung und ihrem Parteienumfeld: Das auf den Demonstrationen gelegentlich mitgetragene Kreuz ist zwar tatsächlich ein „Kernsymbol europäischer Kultur“ (Pesch o. J.), taugt aber gerade daher nicht zum Kernsymbol eines ethnisch deutschen Nationalstaates. Und nun ein Fall, in dem ein hochemotional besetztes Symbol dafür sorgt, dass ein politischer Konflikt nicht gelöst werden kann. Die Rede ist natürlich von Jerusalem, konkret dem Tempelberg und der Klagemauer. Rein historisch gesehen handelt es sich bei Jerusalem um die Hauptstadt des kleinen, unbedeutenden eisenzeitlichen States Judäa, der nach einer kurzen Blütezeit im 7. und 8. Jahrhundert v. Chr. von einer Großmacht geschluckt wurde und als Provinz im Laufe der Geschichte von Imperium zu Imperium weitergereicht wurde: von den Assyrern zu den Babyloniern, von den Babyloniern zu den Persern, von den Persern an die Griechen, von den Griechen an die Römer – nur kurz unterbrochen von den bereits erwähnten knapp 100 Jahren Makkabäerherrschaft. Aber: Aller Herrschaftsverhältnisse zum Trotz hatte sich die ursprüngliche Religion des kleinen Königreiches Judäa nicht nur behaupten können, sondern war gerade wegen der diversen Fremdherrschaften zu einer Universalreligion geworden, für die Jerusalem den Sehnsuchtsort darstellte und für die die Wiedererrichtung des ehemaligen kleinen Königtums unter der Dynastie der Davididen Erlösungscharakter erhielt. Rund 2000 Jahre lang träumten die Juden – nun eine Religionsgemeinschaft, die sich selbst jedoch zunehmend als Volk im ethnischen Sinn sah – von einer Rückkehr in das Gelobte Land mit der Hauptstadt Jerusalem. Und dieses Gelobte Land, das laut religiöser Überlieferung Gott selbst den Juden übereignet hatte, war selbstverständlich ein Territorium in den Grenzen des mythischen Reiches eines ebenfalls mythischen Königs, nämlich David. Immer wieder wird dieser Mythos im

212     I. Wunn

Ritual beschworen. Jedes Jahr zu Pessach vernimmt jeder Jude, ob klein oder erwachsen, während des gemeinsamen Verlesens der Pessach-Haggada dieses Versprechen, und jedes Jahr erreicht er im Ritual nach glücklicher Errettung aus der Hand seiner Verfolger das Heilige, das Gelobte Land. Und jedes Jahr wiederholt er die Verheißung „Nächstes Jahr in Jerusalem“. Ich selbst habe die Kraft dieses Symbols spüren können, als ich vor Jahren im äthiopischen Gonda spontan zu einer Feier äthiopischer Juden, sogenannter Falascha, gebeten wurde. Die Familie feierte ihre bevorstehende Ausreise nach Israel, wo man sie als Juden anerkannt hatte. „Nächstes Jahr in Jerusalem!“, sagte der alte Patriarch, der Familienvorstand, und Tränen standen bei diesen altheiligen Worten in seinen Augen. Gern würden wir den Juden ja Jerusalem und die judäische Wüste gönnen! Was kann man schon mit einem Landstrich anfangen, der fast nur aus Wüste und Sand besteht und den zu besiedeln und ökonomisch zu entwickeln die Osmanen-Sultane vergeblich versucht hatten? Nur ist leider Jerusalem auch für die Muslime ein Ort mit höchster Symbolwirkung. Dort, auf dem Tempelberg, wo heute der Felsendom und die Al-Aqsa-Moschee stehen, befindet sich jener Stein, auf dem Abraham auf Befehl des Herrn seinen Sohn Isaak als Opfer schlachten sollte, und von hier aus ist der Prophet auf seinem Schimmel Buraq zu seiner Himmelsreise aufgebrochen. Vor allem seitdem sich die Träume der arabischen Muslime von einem arabischen Nationalstaat in Luft aufgelöst hatten (die europäischen Siegermächte im Ersten Weltkrieg hatten die Araber ganz einfach hinters Licht geführt und mit falschen Versprechen geködert), avancierte Palästina zum Mythos. Und al-Quds, das muslimische Jerusalem, wurde zum Symbol für Freiheit und Unabhängigkeit, aber auch für die Einheit der Muslime in Nahost. Immer wieder wird dieser Mythos beschworen. Im ­Tempelberg (Abb. 8.7) hat er ein weithin sichtbares bauliches Zeichen, in der Geschichte von der Himmelsreise das entsprechende Narrativ, und jedes Jahr am ­al-Quds-Tag werden diese Symbole in einer großen Demonstration verinnerlicht. Jedes muslimische Kind (und eine tendenziell antisemitische Linke) weiß: Jerusalem ist die Hauptstadt eines freien, eines glücklichen, eines gerechten Palästina. Nichts unterscheidet also letztlich die Erwartungen von Juden und Muslimen: In Israel/Palästina liegt das Paradies. Hier ist das Land mit Erlösungsqualitäten. Hier muss sich das Schicksal der Gemeinschaft erfüllen. Juden und Muslime bemühen also dieselben Symbole, nur eben in unterschiedlichen narrativen Kontexten, die in unterschiedlichen Ritualen vergegenwärtigt werden. Dadurch werden zwar die jeweiligen religionsspezifischen Gruppen gestärkt – hier Juden, dort Muslime –, aber

8  Die Anatomie des Rituals     213

Abb. 8.7  Blick aus der Altstadt Jerusalems auf den Tempelberg – staatstragendes religiöses Symbol für Israelis und Palästinenser. (Privates Foto)

eine G ­ emeinschaft kann sich nicht einstellen. Im Gegenteil: Die Grenzen zwischen den beiden Gruppen werden stabilisiert, und der bestehende Gegensatz wird verschärft.

Literatur Ariès P (1980) Geschichte des Todes. Hanser, München Bellah RN (1967) “Civil Religion in America”. Journal of the American Academy of Arts and Sciences 96(1):1–21. ((Archiviert am 6.3.2005) Gennep, A Van (1909) Les rites de passage: étude systématique des rites de la porte et du seuil, de l’hospitalité, de l’adoption, de la grossesse et de l’accouchement, de la naissance, de l’enfance, de la puberté, de l’initiation, de l’ordination, du couronnement, des fiançailles et du mariage, des funérailles, des saisons, etc. Nourry, Paris Olmsted KS (2011) Real enemies. Conspiracy theories and American democracy, World War I to 9/11. Oxford University Press, Oxford Pesch A (o. J.) Symbole gestern und heute: Die Kraft von Bildern. In: Märchen, Mythen und Symbole. MAMUZ Museum, Mistelbach, S 35

214     I. Wunn

Rasenberger J (2011) The brilliant disaster. JFK, Castro, and America’s doomed invasion of Cuba’s Bay of Pigs. Scribner, New York Turner VW (1967) The Forest of Symbols. Aspects of Ndembu Ritual. Cornell University Press, Ithaca Turner VW (1969) The Ritual Process. Structure and Antistructure. Chicago, Aldine Pub. Co Volkman, Toby Alice (1984). Great Performances: Toraja Cultural Identity in the 1970s. In: American Ethnologist. 11, Nr 1, S 152–169 Wunn I (2002) Naturreligionen. In: Antes Peter (Hrsg) Vielfalt der Religionen. Lutherisches Verlagshaus, Hannover, S 243–284

9 Liminalität, Konflikt und Wandel

AfrikaBurn und andere Festivals Kennen Sie AfrikaBurn? Dieses großartige Festival inmitten der südafrikanischen Karoo-Wüste, den kleineren Ableger des legendären, aber inzwischen viel zu stark kommerzialisierten Burning Man in den USA? Also: Einmal im Jahr findet dieses wunderbare Festival statt. Hier wird nicht, wie sonst auf Festivals üblich, Musik von DJs und Kunst von renommierten Künstlern gemacht, während die Festivalteilnehmer die Rolle des zahlenden Konsumenten spielen, sondern Sinn und Ziel des afrikanischen Festivals ist, dass sich jeder einbringt. Jeder muss etwas beisteuern, vorführen oder produzieren, sei es Kunst, sei es Musik, sei es kochen für andere. Jeder tut etwas, jeder partizipiert. Und natürlich ist jeder gleichrangig, egal welches Geschlecht oder welche Hautfarbe. Hier gilt radical inclusion, wie ein Schild am Eingang des Festivalgeländes verkündet (Abb. 9.1)! Und eine einschlägige Webseite teilt mit, dass sich hier „[…] Künstler und Phantasiegestalten, Abenteurer und Naturliebhaber, Fantasten und Idealisten und all jene Kreative zusammenfinden, […] [um] sich und die Welt innerhalb der Gemeinschaft in absoluter Selbstdarstellung neu zu erfinden. Das soll geschehen ohne die sonst übliche Erwartung oder Gegenleistung und die fast schon automatische Kategorisierung politischer und sozialer Motive […] Es soll uneingeschränktes Selbstbewusstsein und radikale Kreativität ohne Grenzen demonstriert werden.“ (https://www. madiba.de/blog/afrikaburn-festival)

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Wunn, Vier Theorien, um die Welt zu beherrschen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61376-4_9

215

216     I. Wunn

Abb. 9.1  Die Prinzipien des AfrikaBurn-Festivals. Die Punkte 1, 3, 4, 5, 6 und 9 sind gleichzeitig kennzeichnend für die liminale Phase nach Arnold van Gennep und Victor W. Turner (Kap.  8). (https://www.eventmanagerblog.com/wp-content/ uploads/2018/02/graph-1.jpg)

In jedem Jahr Ende April fährt man für eine Woche in die Wüste. Hier, fünf bis sieben Autostunden und mindestens zwei Reifenpannen von Kapstadt entfernt, ist nichts; keine Tankstelle, kein Restaurant, und nicht einmal das Internet funktioniert. Und diese Abgeschiedenheit ist erwünscht, damit sich nämlich auf dem Festivalgelände etwas Einzigartiges abspielen kann: Gemeinschaft, in der jeder für jeden da ist, wo nichts Geld kostet und wo absolute communitas zählt. Bevor man das Festivalgelände betritt, gibt es eine kleine Zeremonie: Die Teilnehmer müssen sich im Staub der Wüste wälzen, um sich auf diese Weise mit Mutter Erde zu vereinen. Und dann beginnt das große Fest mit Musik, Tanz, Kochen, Verschenken, Spielen, in Rollen schlüpfen und, und, und. Der Kreativität sollen bewusst keine Grenzen gesetzt werden. Höhepunkt des Festes ist das Abbrennen von selbst geschaffenen Kunstwerken. Die Hauptskulptur ist der San Clan, der einem von dem Volk der San bei ihren Felsmalereien benutzten Zeichen nachempfunden ist (Abb. 9.2). Dieses Zeichen meint in der San-Felsmalerei eine Gruppe von Menschen und steht für Gemeinschaft und Einigkeit. Wenn das Feuer lodert, werden von den Teilnehmern Gegenstände von sentimentalem Wert in das Feuer geworfen, denn der Sinn des Festes ist

9  Liminalität, Konflikt und Wandel     217

Abb. 9.2  Der San Clan, ein Motiv der Buschmann-Felsmalerei. (https://i2.wp. com/www.afrikaburn.com/wp-content/uploads/2017/01/San-Clan-Tarkstad-Imageenhanced-contrast-.png?w=610&ssl=1)

unter anderem, hier eine Gegenwelt entstehen und Altes und Belastendes hinter sich zu lassen. Ist das eigentliche Festival vorbei, das temporäre Lager in der Wüste abgebaut und der Staub aus Haaren und Kleidern entfernt, findet noch eine After Party statt, mit Musik und Picknick. Dann ist alles vorbei – bis zum nächsten AfrikaBurn. Uns als inzwischen erfahrenen Ritualspezialisten ist natürlich klar, was sich hier jedes Jahr abspielt: nicht mehr und nicht weniger als ein Ritual. Hier geht es allerdings nicht um Übergänge; weder Statuswechsel (vom Angestellten zum Chef, vom Schüler zum Studenten, vom Zivilisten zum Militär, vom Theologiestudenten zum Priester etc.) noch ein Wechsel im Lebenszyklus (Konfirmation, Bar Mitzwa, Hochzeit, Begräbnis etc.) oder ein jahreszeitlicher Übergang (Neujahr, Mittsommer, Solstitien) stehen an. Trotzdem sind die Ritualphasen klar zu erkennen. Zunächst wird vorbereitet. Ein Organisationskomitee koordiniert die Angebote der gemeldeten Burner. Dann folgt das eigentliche Fest. Das Festgelände liegt außerhalb der bewohnten Welt. Ganz bewusst gibt es keinerlei Kontakte, keinerlei Zivilisationserrungenschaften, kein Telefonnetz. Mitten in der Wüste ist man im Nirgendwo, in einer Art Totenreich. Und dementsprechend muss der Teilnehmer sich mit dem Staub, der Asche dieser Gegenwelt einreiben, um zu dokumentieren, dass er die Alltagswelt hinter sich gelassen hat. Was ist in diesem Fall die Alltagswelt? Eine Welt des Kommerzes, eine Welt der Rassenunterschiede, eine Welt der Statusunterschiede, eine Welt

218     I. Wunn

Abb. 9.3  Der brennende San Clan. (By Zaian – Own work, CC BY-SA 4.0, https:// commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=40058409)

der festgelegten Rollen! Kurz: Es ist die Welt einer stratifizierten, durchorganisierten, effektiven Gesellschaft mit Gewinnern und Verlierern, die der Burner bewusst hinter sich lässt, um sich für eine bestimmte Zeit in eine Anderswelt zu begeben. In dieser Anderswelt haben sie und er keine festgelegte Rolle als Managerin, Lehrer, Firmengründer, Busfahrerin, Polizist, Universitätspräsident oder Bürgermeisterin. Sie/er kann sie/er selbst sein; mit Büffelmaske, mit Bastrock, mit Körperbemalung oder auch, wie manch junge Frauen, mit fast gar nichts (das egoistische Gen kann halt das Signalisieren von Paarungsbereitschaft nicht lassen). Hier findet nun die Umwertung aller Werte statt. Weder Reichtum zählt, noch Amt, sondern nur Kreativität. Nicht der Wirtschaftsmogul steht hier im Mittelpunkt, sondern alle, auch der ansonsten Randständige, Unbedeutende; der, dem es nie wichtig war, in der stratifizierten und durchstrukturierten Welt draußen eine bedeutende Stellung einzunehmen. Hier sind alle gleich. Kurz: Hier wird communitas gelebt. Für eine Woche gibt es in dieser Welt weit draußen, in der Wüste, eine Welt betwixt and between, in der alle, befreit von den Regeln einer strukturierten Gesellschaft, uneingeschränkte Gemeinsamkeit und Brüderlichkeit ohne Rassen- und Standesunterschiede leben können. Auf dem Höhepunkt des Festes werden die teilweise großartigen Kunstwerke verbrannt und mit ihnen die Symbole für das, was die Festteilnehmer in ihrem bürgerlichen Leben belastet hat (Abb. 9.3). Die Feuer sind also Purifikationsfeuer, und sie sind auch als genau das gedacht. Gereinigt und purifiziert sollen die Festivalteilnehmer aus dieser Gegenwelt mit den

9  Liminalität, Konflikt und Wandel     219

klaren Zügen einer Toten- und Unterwelt hervorgehen,1 gestärkt für ein neues Leben in der normalen Gesellschaft, in der feste Strukturen mit ihren Zwängen den Alltag bestimmen. Bevor es aber so weit ist, findet noch ein gemeinsames Picknick statt: Für den Kenner ist dies die Integrationsphase, die Wiedereingliederung in den normalen Alltag! Wir haben hier also ein Ritual mit einer klar erkennbaren liminalen Phase, ohne dass jedoch irgendein Übergang stattgefunden hätte. Die Ritualteilnehmer lösen sich vielmehr aus der bestehenden Gesellschaft mit ihrer akzeptierten Ordnung, um eine Woche in einer ganz anderen Konstellation ohne Ordnung, ohne wirtschaftliche Reziprozität und ohne Herrschaft zu leben. Anschließend fährt man wieder nach Hause, zurück in das alte Leben mit seinen Zwängen, die nun für eine Weile etwas erträglicher geworden sind. Warum also das alles, wenn nicht ein Statuswechsel damit verbunden ist? Der Grund ist derselbe, aus dem der Rheinländer den Karneval zelebriert! Es geht um das Ertragen von gesellschaftlichen Strukturen und den daraus notwendigerweise erwachsenden Zwängen. Wie bereits ausführlich erörtert, diente das Ritual in den unstratifizierten, also herrschaftsfreien Ackerbaugesellschaften – Beispiel Hopi oder Makonde – der Aufrechterhaltung einer kosmischen und damit auch sozialen Ordnung und wiederholte zu diesem Zweck ein mythisches Urzeitgeschehen. Das Ritual bedient sich also starker Symbole, und in unseren völkerkundlichen Beispielen entstammen diese Symbole einem Mythos. Damit ermöglicht das Ritual gesellschaftlichen und psychischen Ausgleich in Situationen, die von den Beteiligten als extrem, als besonders fordernd oder gefährlich erlebt werden, und das sind vor allem Übergänge im Lebenszyklus oder im Status, aber auch Krankheiten und Konflikte.2 Die starken Symbole dienen dann dazu, die Teilnehmer auf die gemeinsamen Werte einzuschwören und Partikularinteressen zu unterdrücken. Wie im biologischen Ritual sind es die widersprüchlichen Empfindungen, ist es der Gegensatz zwischen dem Egoismus der Überlebensmaschine und der Notwendigkeit eines wie auch immer gestalteten Zusammenlebens, die in ritualisiertem Verhalten bis hin zu regelrechten Ritualen ihren Ausdruck finden und bearbeitet werden. Im Ritual, und hier vor allem in der liminalen Phase, in der die Ritualteilnehmer in einer statusfreien, anarchischen Situation sind, kann mithilfe großer und wirkmächtiger Symbole ein A ­ usgleich 1An

dieser Stelle sei ausdrücklich auf Thomas Manns berühmten mythischen Roman Joseph und seine Brüder verwiesen. Auch hier steht die Wüste für das Totenreich, für eine Gegenwelt! 2Die Zusammenhänge von Ritual und Konflikt erläutert Victor W. Turner (■) in Schism and Continuity in an African Society. A Study of Nedembu Village Life.

220     I. Wunn

Abb. 9.4  Fantasievolle (Ent-)Kleidung als Teil der absoluten Selbstdarstellung auf dem AfrikaBurn-Festival. (© Kim Ludbrook,/dpa/picture alliance)

von Interessengegensätzen stattfinden (Turner 1957). AfrikaBurn ist ein solches Ritual, welches mit den Widersprüchen und Unzulänglichkeiten der modernen südafrikanischen Gesellschaft versöhnt und dabei altafrikanische Symbole, den San Clan, ebenso einsetzt wie junge, neue Symbole. Genau diese wollen wir uns einmal mit den Augen des Ritualtheoretikers Turner (1974, S. 53–59) anschauen: Die im AfrikaBurn benutzten neuen Bilder und Symbole entstammen dem Bereich der absoluten Kreativität. Es handelt sich um Kunst, und zwar sowohl um Musik als auch um große bildhauerische Werke. Die Musik vergeht und verweht, und auch die Skulpturen werden verbrannt und nicht etwa hinterher in Galerien vermarktet. Alles, was hier stattfindet, ist unentgeltlich, ist frei; genauso wie die Teilnehmer hinsichtlich ihrer Kleidung und der Art und Weise der gewählten Selbstdarstellung (Abb. 9.4). Hier steht also ein Bereich der Gesellschaft im Mittelpunkt, der draußen, in der stratifizierten und durchorganisierten Welt immer ein wenig herausfällt – die Welt der Gesellschaftskritischen, der Künstler, der Gaukler, der Verweigerer, der Heimatlosen, vielleicht sogar der Gescheiterten – quasi eine Welt des Liminalen am Rande der Gesellschaft. Jede Gesellschaft, so sagt Turner, hat an ihren Rändern solche liminalen Gestalten und Figuren, und wir wissen auch, warum: Die Überlebensmaschinen unserer egoistischen Gene tun sich schwer damit, sich in die Gemeinschaft einzuordnen. Dies geht nur durch ständigen Verzicht auf Individualinteressen, durch das Unterdrücken gemeinschaftsschädigender Gelüste und durch einen Teil Selbstverleugnung. Nicht jedem gelingt das. Jede Gesellschaft kennt ihre Gestalten und Figuren am Rande, die ein unangepasstes Dasein führen.

9  Liminalität, Konflikt und Wandel     221

Das sind bei uns solche Menschen, die sich den üblichen Anforderungen der Leistungsgesellschaft verweigern. Sie wollen nicht die elterliche Anwaltskanzlei übernehmen, sondern lieber in einer gänzlich unbekannten und erfolglosen Band Musik machen. Oder da sind die beach boys, deren Leben am Strand inmitten von Wellen und Surfbrettern ohne jede Zukunftsperspektive stattfindet. Oder die brotlosen Künstler, die es nach Berlin zieht, wo sie ihre unverkäuflichen Bilder immer wieder in aufgelassenen Fabrikhallen ausstellen, ohne einen wirtschaftlichen Erfolg überhaupt anzustreben. Oder der einstmals erfolgreiche Unternehmer, der plötzlich als Kleinbauer alte Apfelsorten rettet und seinen Lebensunterhalt mit der Herstellung von Bio-Ziegenkäse gerade so eben bestreitet. Unsere erfolgsfixierte, auf technischen Fortschritt und ökonomisches Wachstum gepolte Gesellschaft scheint diese Gestalten nicht zu brauchen, und die Sozialhilfeempfänger, die lokale Unterwelt, die Flüchtlinge und die nicht sesshaften Roma schon gar nicht. Und trotzdem sind sie da und werden irgendwie mitgeschleppt. Nicht nur das, manchmal spielen sie sogar eine gewisse gesellschaftliche Rolle, wie alle jene mehr oder weniger auffallenden, schrägen Figuren, die bei jedem Christopher Street Day die optischen Höhepunkte der Umzüge bilden. Und genau hier sind wir beim Thema! Aus Liminalität entsteht nämlich Struktur, und Struktur, eine strukturierte Gesellschaft, erneuert sich immer wieder gewaltfrei durch das ritualisierte Einbinden von Liminalität! Bleiben wir zunächst beim Christopher Street Day.

Christopher Street Day Der sogenannte Schwulenparagraf, § 175 des Bürgerlichen Gesetzbuches, stellte sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe, auch wenn es sich um erwachsene Männer handelte, die einvernehmlichen Sex hatten. Vor allem während der Zeit des Nationalsozialismus wurden Schwule unbarmherzig verfolgt, aber auch die junge Bundesrepublik stellte gleichgeschlechtlichen Sex unter Männern lange unter Strafe. Es dauerte tatsächlich bis 1994, bis der Paragraf endlich abgeschafft wurde. Mit dem Paragrafen verbunden war die gesellschaftliche Diskriminierung von Homosexuellen, die ihre sexuelle Neigung verleugnen oder verstecken mussten, wenn sie nicht ihre berufliche Stellung verlieren oder sich von der heterosexuellen Mehrheitsbevölkerung mobben lassen wollten. Erst in den letzten Jahren finden gleichgeschlechtliche Beziehungen zunehmend Akzeptanz, und daran ist nicht zuletzt der Christopher Street Day schuld.

222     I. Wunn

Abb. 9.5  Doris Day, als keimfreie Sauberfrau das amerikanische Frauenideal der 1950er und 1960er Jahre. (© United Archives/kpa Publications/picture alliance)

Der Christopher Street Day erinnert ursprünglich an den Aufstand von Homosexuellen in der Bar Stonewall Inn in der Christopher Street im New Yorker Stadtteil Greenwich Village. Hier, in den nicht immer ganz gesetzeskonform geführten Bars des Szeneviertels, hatten sich Homosexuelle und Transvestiten getroffen und ein fröhliches und munteres Stelldichein gegeben, und gerade gegen dieses bunte Völkchen, sowohl in sexueller Hinsicht als auch hinsichtlich ihrer ethnischen Herkunft Außenseiter der Gesellschaft, richtete sich willkürliche Polizeigewalt. Immerhin war man in einem Amerika, für dessen sauberen Sex die Filmikone Doris Day (Abb. 9.5) stand und in dem erotische Handlungen offiziell ausschließlich zwischen verheirateten Heterosexuellen unter der Bettdecke bei ausgeschalteter Nachttischlampe vorkamen! Sex zwischen Männern oder Männer, die sich als Frauen kleideten, und dann noch gar offene Promiskuität war für diese Gesellschaft eine Provokation und stellte alles infrage, wofür die amerikanische Mid-Century-Gesellschaft stand (Huber 2013). Aber irgendwann ließen ­ sich diejenigen, die „anders“ waren, die am Rande der Gesellschaft standen, die Polizeigewalt nicht mehr gefallen. Als die Polizei in den frühen Morgenstunden des 28. Juni 1969 wieder eine ihrer Razzien durchführte, widersetzten sich die Schwulen und Transsexuellen ihrer Festnahme und vertrieben die Polizei. In den folgenden Tagen kam es im ganzen Viertel zu Schwulenaufständen und Straßenschlachten, in denen die Außenseiter der Gesellschaft, die Missachteten und Randständigen, erbittert gegen ein weißes, puritanisches Establishment kämpften. Damit war ein Damm gebrochen: Die Homosexuellen rebellierten gegen die Unterdrückung

9  Liminalität, Konflikt und Wandel     223

und gingen an die Öffentlichkeit. Schon Ende Juli formierte sich die Gay Liberation Front (ab 1973 Gay Activists Alliance ), die offen für die Anerkennung der Rechte von Schwulen eintrat und ein Gesetz gegen Diskriminierung forderte. Die Gay Liberation Front (die übrigens dann selbst wieder bestimmte Gruppen, darunter Transgender-Personen und People of Color und damit auch das berühmte Gründungsmitglied Sylvia (Ray) Rivera ausschloss) war es dann auch, die im Gedenken an den StonewallAufstand einen ersten Gedenkmarsch vom Greenwich Village zum Central Park organisierte. Der Christopher Street Day war geboren. Seitdem wird der Jahrestag des Aufstandes der Schwulen stets mit einem großen, bunten Umzug gefeiert, bei dem sich alles, was in der Schwulenszene aktiv ist, bunt und farbenfroh präsentiert. Gesellschaftliche Ausgrenzung, hier gleichzeitig Liminalität im eigentlichen Sinne (charakteristisch für Liminalität ist das sexuell nicht Festlegbare), wird zum Mittelpunkt einer Bewegung und findet nach und nach ihren Eingang in die Gesellschaft mit ihren festen sozialen Normen und Vorstellungen von Sex und Gender – die sich dann langsam verändern. Und nun die ritualtheoretische Interpretation: Eine stratifizierte, hochkomplexe Gesellschaft, multiethnisch und multireligiös, betont ihren Zusammenhalt und die gemeinsamen Werte immer wieder in geeigneten Ritualen; so beispielsweise aus Anlass der Bestattung des ermordeten Präsidenten John F. Kennedy. Aber auch Rituale im Jahreszyklus wie Thanksgiving werden von allen amerikanischen Bürgern privat gefeiert. Hier vergewissert man sich seines Amerikanerseins. Man empfindet sich als Teil einer großen, heldenhaften Nation, der Siegerin in zwei Weltkriegen, in denen man sich auf die Seite der Freiheit geschlagen und ihr zum Sieg verholfen hat. Freiheit, die Freiheit des Individuums und die Freiheit der Nation, das ist der höchste Wert, ultimate value, im Turner’schen Sinn. Diese Freiheit erwächst aus einer tugendhaften Gesellschaft, in der Leistung und Gottesfurcht, die alten puritanischen Tugenden der ersten europäischen Siedler, noch immer im Vordergrund stehen. Dieses Ideal wird ergänzt durch den Pionier- und Frontier-Gedanken: Harte Kerle und entbehrungsfähige Frauen mit dem Herzen auf dem rechten Fleck dehnten die Grenze der Zivilisation immer weiter nach Westen aus, und der „Wilde“, der Unzivilisierte, der Ureinwohner musste weichen. Zwischen Puritanern und Siedlern mit ihren Planwagen war ideologisch kein Platz für Indianer, Latinos oder gar Menschen, deren Geschlecht (Sex oder Gender) sich nicht festlegen ließ. Die Gesellschaft beschwor in ihren Ritualen den europäischen Einwanderer, den Christen und sexuell Eindeutigen mit seinen Sitten und seinen Werten einschließlich dem höchsten Wert der europäischen

224     I. Wunn

Abb. 9.6  Christopher Street Day in Berlin 2019. (© Ben Kriemann/Geisler-Fotopress/ picture alliance)

­ ufklärung, der Freiheit – letztere aber, wie bei dem Philosophen Immanuel A Kant (1797) nachzulesen, in eindeutiger Bindung an die Gesamtgesellschaft. Fazit: Amerika war frei, aber das bedeutete in erster Linie politisch und konfessionell frei! Freie Genderwahl oder die Freiheit importierter Sklaven war damit keineswegs gemeint. Bei einer Gesellschaft mit den oben genannten weltanschaulichen Grundlagen mussten alle an den Rand gedrängt werden, die sich nicht in dieses Schema pressen lassen wollten, also Latinos, Afroamerikaner, Arbeitslose, Künstler, Sänger – und eben Schwule, Transsexuelle und in Sachen Gender Unentschiedene. Sie fanden dennoch einen Platz, und zwar in den Kneipen und Bars von Greenwich Village, wo sie eine randständige Gegenkultur errichteten. Immer wieder kam es zwischen der Gesellschaft mit ihren herrschenden Normen und den Marginalisierten zu Zusammenstößen – eine Gesellschaft kann Unordnung eben nur in gewissen Maßen ertragen, wenn ihre Strukturen tragfähig bleiben sollen, d. h., wenn sie funktionsfähig bleiben will! Diese Zusammenstöße mündeten in den Stonewall-Aufstand mit seinem bekannten Ausgang: Die Schwulenbewegung formierte sich und erzwang sukzessive die Anerkennung von Homosexualität als legitime sexuelle Orientierung und als gesellschaftlich anerkanntes Gender. Jedes Jahr am Christopher Street Day wird dieses Ereignisses mit einem großen Umzug – in unserer Lesart einem Ritual – gedacht (Abb. 9.6). Dieses Ritual hat den Sinn, die neuen Werte, also eine Vielzahl möglicher Gender-Orientierungen, im Bewusstsein der Gesellschaft so zu verankern, dass sie zur Normalität werden. Zählen wir hier einmal die Merkmale des Rituals auf: Wir haben ein sinnstiftendes Urzeitgeschehen (wenn auch im Vergleich zu den großen

9  Liminalität, Konflikt und Wandel     225

religiösen Ritualen mit vergleichsweise harmlosem Inhalt) in Gestalt des Stonewall-Aufstands. Dieses sinnstiftende Ereignis inaugurierte eine neue Seinsordnung, nämlich die gesellschaftliche Inklusion unterschiedlichster sexueller Orientierungen. Diese Seinsordnung ist fragil und muss jedes Jahr wieder bekräftigt werden, und das geschieht im Ritual, dem Festumzug. An diesem Umzug nehmen in gelebter Liminalität alle teil, die randständig oder Außenseiter sind. Es gibt keine gesellschaftlichen Unterschiede oder Diskriminierungen; der bürgerliche, mit einem Mann verheiratete Schwule nimmt genauso teil wie die Latino-Drag-Queen oder der afroamerikanische Loverboy, aber auch Künstler und schräge oder auch arrivierte Gestalten der Musik- oder Filmszene sind dabei. Man kostümiert sich im Sinne hemmungsloser Selbstdarstellung. An diesem Tag ist alles möglich: Es gibt keine Standesunterschiede, sondern stattdessen allgemeine Verbrüderung auch mit der heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft, und sexuelle Freizügigkeit. Der Tag ist ein einziges großes Fest! Inzwischen hat sich die Schwulenbewegung organisiert. Es gibt überall Schwulenbewegungen, die in Deutschland z. B. auf der Basis des Vereinsrechts organisiert sind, also einen gewählten Vorstand, einen Kassenwart und einen Schriftführer haben. Aus der einstmals strukturlosen, liminalen Bewegung sind strukturierte Organisationen geworden, die sich ganz offiziell in der Gesellschaft für die Belange der Schwulen einsetzen und diese Gesellschaft hin zu mehr sexueller Toleranz verändert haben. Letztlich also, und das ist die Erkenntnis Turners, muss eine jede stabile und überlebensfähige Gesellschaft eine Struktur haben; allgemein akzeptierte Regeln, nach denen sie funktioniert und die den Krieg aller gegen alle im Dienste der Durchsetzung egoistischer Wünsche verhindert. Diese Strukturen werden von der Gesellschaft allein schon zum Zweck der Selbsterhaltung verteidigt, und natürlich ist eine solche strukturierte Gesellschaft restriktiv und begrenzt die Entfaltungsmöglichkeiten des Individuums. Die Grenzen werden durch die letzten, nicht mehr hinterfragbaren Werte gesetzt, die das Weltbild der fraglichen Gesellschaft formen. Allerdings kann sich so ein Weltbild wandeln, und daran sind nicht zuletzt jene liminalen, aber höchst kreativen Elemente Schuld, die sich am Rande jeder Gesellschaft bilden und dort ein marginalisiertes Dasein führen. Irgendwann aber begehren diese Elemente auf, schließen sich zusammen und bilden eine große Bewegung, die alle bisherigen unumstößlichen Regeln infrage stellt – allgemeine Liminalität entsteht. Anders ausgedrückt: Die gesamte Gesellschaft gerät in ein larvales Stadium, in ein Umformungsstadium, in dem alles möglich scheint. Wenn in diesem Stadium wirkmächtige Symbole zur Hand sind wie im Deutschland der

226     I. Wunn

1848er-Revolution eine schwarz-rot-goldene Deutschlandflagge, eine Nationalhymne und die Ideologie einer Nation, die sich über ethnische Zugehörigkeit, gemeinsame Sprache und Kultur definiert, kann sich die gesamte Gesellschaft einschließlich ihres politischen Systems massiv verändern. Allerdings muss sie anschließend wieder zu Strukturen finden, damit die Bewegung nicht auseinanderfällt und versickert. Unser Fazit: Gesellschaft und gesellschaftlicher Wandel findet also zwischen zwei Polen, zwischen Struktur und Liminalität statt.

Zwischen Liminalität und Struktur Ein weiteres Beispiel: In den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten führten nicht nur diejenigen, die sich in sexueller Hinsicht nicht in das Raster bürgerlicher Wohlanständigkeit pressen lassen wollten, eine Existenz am Rande der organisierten Gesellschaft. Auch in politischer Hinsicht regte sich vor allem unter Jugendlichen bald Widerstand gegen das etablierte System mit seiner weltanschaulichen Fixierung auf materiellen Wohlstand, ökonomischen Erfolg und militärische Macht. Gerade hinsichtlich dieser Macht reagierten die westlichen Staaten, wenn nicht skrupellos (vgl. Abschnitt „Territorialität“ in Kap. 5), so doch zumindest amoralisch. In der Zeit des Ost-West-Konfliktes suchte man sich seine Verbündeten, wo immer man sie finden konnte, auch wenn dies bedeutete, ein absolut korruptes System zu stützen – zum Beispiel den Diktator Fulgenico Battista (1901–1973) in Kuba! In Deutschland kam noch ein weiterer Faktor hinzu: Viele der politischen und wirtschaftlichen Größen der jungen Bundesrepublik hatten auch schon während der Zeit des Nationalsozialismus eine bedeutende Rolle in der Politik, der Wirtschaft, den Universitäten oder an den Gerichtshöfen gespielt, und der Verdacht, dass sich braunes Gedankengut nahtlos in bundesdeutsche Institutionen gerettet hatte, war nicht unbegründet. Mit dem Ruf „Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren“ meinte die Studentenbewegung genau das: In den Talaren der Universitätsprofessoren steckten genau dieselben Gestalten, die 20 Jahre zuvor wegen der passenden braunen Gesinnung auf einen Lehrstuhl berufen worden waren, den vorher ein höher qualifizierter, aber jüdischer oder regimekritischer Kollege innegehabt hatte (Nath 2007). Gegen dieses einerseits miefige, andererseits als unaufrichtig empfundene Establishment begann die Jugend in der westlichen Welt zu rebellieren, indem sie ihre eigenen alternativen Jugendkulturen mit ihrem eigenen Kleidungsstil und ihrer eigenen Musik entwickelte. Dies waren zunächst in

9  Liminalität, Konflikt und Wandel     227

Deutschland die sogenannten Halbstarken als eine popkulturell inspirierte Jugendkultur, die vorwiegend der Arbeiterschicht entstammte und die bürgerliche Welt durch ihr Aufbegehren und ihren Musikgeschmack verschreckte (Preuss-Lausitz 1990). In Amerika standen die Beatniks für die rebellische Jugendkultur der 1950er Jahre, die sich laut Medien durch pseudointellektuelles Gehabe und Drogenmissbrauch auszeichneten, sich selbst aber als „Generation von verrückten, erleuchteten Jazzmusikern oder Jazzfans sahen, die die USA durchstreiften und aufmischten, ernsthaft, herumgammelnd, überall per Anhalter hinreisend, zerlumpt, glücklich, und auf eine neue, hässliche Art schön“ (Kerouac 1958). Es waren also randständige Existenzen, gewollte Liminalität am Rande einer strukturierten Gesellschaft, die eine Gegenkultur entwarfen, in der weder Reichtum noch Herkunft zählte, in der alle gleich waren und in der die Normen und Vorschriften der etablierten Schichten nicht galten. Gegenkultur heißt gegen Konsum, gegen geistige Leere, gegen Unterdrückung, gegen Krieg und Gewalt. Aus dieser Gegenkultur gingen eine ganze Reihe Einzelbewegungen hervor, die sich nicht immer scharf voneinander abgrenzen lassen oder auch nur voneinander abgegrenzt werden wollten. (Abgrenzen wäre bereits der Anfang von Struktur, und das steht im Gegensatz zur gewollten Liminalität!) Da war eine mehr politische Richtung, aus der sich dann eine vorwiegend linke Jugendbewegung mit Umweltaktivisten, Atomkraftgegnern oder Friedensaktivisten bis hin zu den Protagonisten einer antikapitalistischen, sozialistischen bis kommunistischen politischen Ordnung herauskristallisierte. Auf der anderen Seite entstand die Hippiebewegung mit ihrer Verachtung für materielle Werte, mit ihrer Vorliebe für esoterische und östliche Weltanschauungen, mit ihrer Forderung nach Frieden und Liebe. In künstlerischer Hinsicht fand diese Hippiebewegung ihren Ausdruck in der Musik von Janis Joplin, Jimi Hendrix, Jim Morrison und Carlos Santana oder den Bands Grateful Dead, Beatles, The Rolling Stones und The Who. Alle diese Musiker traten bei einem legendären Musikfestival auf, das unter dem Namen Woodstock bekannt geworden ist. Vom 15. bis in die frühen Morgenstunden des 18. August 1969 (Abb. 9.7) feierte sich die Hippiebewegung fern von allen bürgerlichen Normen und praktizierte absolute Freiheit, die Drogenkonsum ebenso einschloss wie freie Liebe. Obwohl das Festival eigentlich als kommerzielle Veranstaltung geplant war und die bereitgestellten Lebensmittelvorräte zum Verkauf gedacht waren, ergriff die Stimmung von Woodstock alle, und zuletzt wurden Lebensmittel und Getränke frei verteilt. Zwar wurde Woodstock inzwischen vor allem durch den gleichnamigen Film mystifiziert und glorifiziert, aber dieses Festival

228     I. Wunn

Abb. 9.7  Flyer mit Werbung für das Woodstock-Festival. (https://upload.wikimedia. org/wikipedia/commons/e/e9/Woodstock_flyer.jpg)

gilt dennoch als Höhepunkt der Hippiebewegung, in der sich alle Randständigen, Nicht-Gesellschaftskonformen zusammenfanden. Wir, geschult durch unsere Erkenntnisse hinsichtlich des Rituals und der Bedeutung von Liminalität, erwarten nun, dass sich ähnlich wie bei der Schwulenbewegung Strukturen bilden, die die ja durchaus erstrebenswerten Ideale der Hippiebewegung in die Mehrheitsgesellschaft tragen und dort umsetzen. Aber weit gefehlt: Die Hippies, die nicht nur Gewaltfreiheit und Konsumverzicht auf ihre Fahnen geschrieben hatten, sondern auch eine anarchische, also herrschaftsfreie Lebensform anstrebten, mussten jede Form von Organisiertheit, also jede Form von Struktur, ablehnen. Dementsprechend bildeten sie keine Interessenvertretung, gründeten keine Partei – und verschwanden von der Bildfläche.

9  Liminalität, Konflikt und Wandel     229

Anders eine ähnliche Protestbewegung, die sich aus Umweltschützern, Atomkraftgegnern und ehemaligen Aktivisten der 68er-Studentenbewegung rekrutierte. Genau wie die Hippiebewegung stellte dieses heterogene Bündnis aus wertekonservativen Naturschützern, Kämpferinnen für die Gleichstellung der Frauen, aufmüpfigen Senioren (wer kennt noch die Grauen Panther? ), Atomkraftgegnern und Sozialreformern einschließlich bekannter Figuren aus der Sponti- und Schwulenszene einen Fortschrittsbegriff infrage, der sich vorwiegend am Wirtschaftswachstum orientierte. Anstatt jedoch ausschließlich an den klassischen Rändern der Gesellschaft im Milieu von Hausbesetzern und mehr oder weniger militanten Demonstrationen zu agieren, stellte sich dieses Bündnis zur Wahl: Mit zwei unterschiedlichen Organisationen, der Grüne Aktion Zukunft und der Grüne Liste Hessen, traten die Umweltschützer 1978 bei der Landtagswahl in Hessen an, blieben jedoch unter der Fünf-Prozent-Hürde. Im selben Jahr trat in Bayern zur Landtagswahl ein Wahlbündnis an, das sich den Namen Die Grünen gab und für das der parteilose Künstler Joseph Boys als Spitzenkandidat fungierte. Obwohl man auch hier weit unter der magischen Linie von 5 % blieb, waren Die Grünen dennoch im Bewusstsein des Wählers angekommen – das bunte Völkchen aus Linksintellektuellen, Künstlern, Protestlern, Figuren aus der Schwulenszene, Biologen und Ökologieaffinen hatte sich aus der Liminalität gelöst und zu ersten politischen Strukturen gefunden. Da die Ökologiebewegung in der etablierten Gesellschaft durchaus auf Sympathie stieß – immerhin hatte der Club of Rome inzwischen auf die Grenzen eines überhaupt möglichen weltweiten Wirtschaftswachstums aufmerksam gemacht (http://www.clubofrome.org/?p=693) –, konnte sie in den folgenden Kommunalwahlen achtbare Erfolge erzielen und zog in etliche Stadtparlamente ein. 1980 schlugen sich diese Erfolge in der Gründung einer Partei unter dem Namen Die Grünen nieder. Die Zusammenfassung der einstigen Aktionsbündnisse und bunten Listen mit ökologischem Tenor war jedoch nur um den Preis möglich, dass man kommunistische Organisationen eindeutig ausschloss. Dennoch blieben Die Grünen in zwei Lager, ein bürgerlich-ökologisches und ein links-alternatives, gespalten, und der Streit zwischen den Lagern sollte die junge Partei noch lange beschäftigen. Dies ist jedoch für unsere Fragestellung nicht von Bedeutung. Hier interessiert vielmehr, dass sich liminale Elemente vom Rande der Gesellschaft wie Künstler, verbummelte Studenten, marginalisierte Alte, Linke, Homosexuelle, zunächst sogar bekennende Päderasten, Atomkraftgegner, Feministinnen usw. in einer großen Protestbewegung gegen eine strukturierte, aber in ihren Werten erstarrte Gesellschaft formieren konnten. Ungleich den Hippies verharrten sie jedoch nicht in ihrer Liminalität

230     I. Wunn

Abb. 9.8  Die erste Bundestagsfraktion der Grünen. Zwischen den gewohnten glattrasierten Anzugträgern sitzen nun Langhaarige, Bärtige, strickende Frauen. (©Peter Popp/dpa/picture alliance)

(obwohl sie Forderungen nach sexueller Freizügigkeit und absoluter Gleichheit ebenso aufrechthielten wie die Verachtung materiellen Wohlstands), sondern fanden zu Strukturen, d. h., sie gründeten eine Partei mit ihren notwendigen Einrichtungen (Parteitagen, Mitgliederlisten, Mitgliedsbeiträgen, Parteiengesetz-konformem Abstimmungsverhalten) und Hierarchien (Wahl einer/eines Vorsitzenden; Vergabe von Parteiämtern, Aufstellung von Kandidatenlisten) und wurden auf diese Weise Teil der Strukturen der Gesellschaft, gegen die sich ihre Aktivitäten zunächst gerichtet hatten. Der Verzicht auf Liminalität mit ihren Freiheiten zugunsten von Struktur einschließlich der damit verbundenen Restriktionen zahlte sich aus: 1983 zogen Die Grünen in den Bundestag ein (Abb. 9.8). Ihr Erscheinen wurde von der Presse wie folgt beschrieben: „Der Auftrieb war schwerlich zu überbieten: Der erstmalige Einzug der Grünen ins Parlament. Feministinnen, Dritte-Welt- Spezialisten, Ostermarschierer, Öko-Sozialisten, Anthroposophen, Graue Panther, K-Veteranen, Sektierer, Realos, Fundis. Mit den Etiketten war wenig anzufangen,

9  Liminalität, Konflikt und Wandel     231

die Archetypen der alternativen Gründergeneration mit ihren ­ Fünf-vorzwölf-Gesichtern hatten sich versammelt.“ (Schreiber 2007)

Bis heute kann und will die inzwischen im Parteienspektrum fest etablierte Partei ihren Ursprung in gesellschaftskritischen, randständigen Milieus nicht verleugnen: So gliederte sie nach dem Fall der innerdeutschen Mauer eine demokratische ostdeutsche Protestbewegung ein, die maßgeblich zum Gelingen der friedlichen Revolution von 1989 beigetragen hat, und firmiert nun unter dem Parteinamen Bündnis 90/Die Grünen. Ihren größten Erfolg hatte die Partei, die inzwischen auch an Landes- wie Bundesregierungen beteiligt war und ist, bei der Landtagswahl 2011 in Baden-Württemberg, bei der Die Grünen die meisten Stimmen auf sich vereinigen konnten und mit Winfried Kretschmann inzwischen schon zum zweiten Mal den Ministerpräsidenten stellen. Entscheidend für den Wahlerfolg war wieder ein Protest; diesmal gegen einen als unsinnig und überdimensioniert empfundenen Ausbau des Stuttgarter Hauptbahnhofes. Ihr Ziel, eine Anti-Parteien-Partei ohne das übliche Funktionärswesen zu sein, konnte Bündnis 90/Die Grünen allerdings nicht verwirklichen. Auch hier gibt es inzwischen die Parteiprominenz mit klarem Ämteranspruch, auch hier haben grüne Minister oder Stadträte einen leistungsstarken Dienstwagen (der Hybridantrieb soll es dann herausreißen) mit Fahrer, und auch hier lässt man sich zu Kunstfestspielen einladen und gibt nicht etwa basisdemokratisch die kostenlosen Eintrittskarten an jemanden aus dem weniger privilegierten Parteienfußvolk weiter (Kap. 1)! Die Begründung kennen wir natürlich: Die großzügige Bevorzugung der eigenen Person konträr zur Parteiideologie ist einerseits eine Folge des egoistischen Gens, das die eigene Überlebensmaschine in den Vordergrund stellt, andererseits eine Folge des Rankings nach dem Motto „Ich habe es bis an die Spitze meiner lokalen Organisation geschafft, und nun kann ich als Alphatier über alle Ressourcen bevorzugt verfügen“. Noch ein paar Worte zum Thema Jugendkultur, zu der im landläufigen Sinne sowohl die Beatniks und Hippies in den Vereinigten Staaten als auch die Halbstarken, Hippies, die Studentenbewegung der 68er, die Hausbesetzerszene oder die Ökobewegung in Deutschland gezählt werden, also diejenigen Gruppierungen, aus denen sich unsere hier diskutierten Protestbewegungen entwickelt haben. Zu den Jugendkulturen werden jedoch auch bestimmte islamistische Gruppierungen gerechnet, deren Mitglieder sich vor allem aus Jugendlichen rekrutieren, die aus prekären Milieus stammen, den emotionalen Kontakt zu ihrem Elternhaus verloren haben, ihren Platz weder in der Gesellschaft eines fremden Herkunftslandes der Eltern noch

232     I. Wunn

in der hiesigen Aufnahmegesellschaft gefunden haben oder aus irgendeinem anderen Grund marginalisiert und an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden. Kurz: Auch sie gehören zum liminalen Potenzial! Jugendkulturen sollen angeblich entstehen, weil die dominierende Kultur der Erwachsenen den Jugendlichen keine Ausdrucksmöglichkeiten für ihr Lebensgefühl bietet (Wyneken 1914). Diese Sichtweise hatte sicherlich ihre Berechtigung zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, als der Begriff Jugendkultur von einer Reformpädagogik geprägt wurde, der die formelhafte Enge der wilhelminischen Ära bewusst war. Heute werden die Ursachen ihrer Entstehung jedoch viel differenzierter gesehen und unter anderem auch mit der ökonomischen Situation der Jugendlichen (die Jugendlichen der Nachkriegsgeneration verfügten zum ersten Mal über eigenes Geld) und mit der Partnersuche in Verbindung gebracht.3 Gerade beim letzten Punkt können wir aus unserer Perspektive einhaken. Vieles, was den Erwachsenen aufstieß, wie beispielsweise die laut knatternden Mopeds und Roller der Halbstarken oder die hautengen Hosen der jungen Frauen, war nichts anderes als ein gelungenes Display in Zusammenhang mit der Suche nach einem geeigneten mating-Partner. Auch die Bars und Szenelokale dienten genau diesem Zweck: Sie waren der Treffpunkt der Paarungswilligen! Und warum sind nun einige Jugendkulturen (längst nicht alle) so rebellisch? Das liegt am fehlenden Übergangsritual an der Schwelle vom Jugendlichen zum Erwachsenen! Wir erinnern uns: Der junge Makonde wird in der Trennungsphase seines Initiationsrituals offiziell aus dem sozialen Status des Kindes entlassen. Dann begibt er sich in eine Welt des betwixt and between, einer Anderswelt, in der er in gesellschaftlicher Hinsicht nicht existent ist. Hier wandelt er sich und wird vom Kind zum Mann. Als fertiger Mann wird er wieder in die Gesellschaft integriert und nimmt dort seine Aufgaben wahr. In unserer westlichen, säkularen Welt findet ein solches Ritual nicht statt, obwohl auch hier die Rollen eines Kindes und eines Erwachsenen vollkommen unterschiedlich sind. Ein Kind soll lernen, darf spielen und muss keine Verantwortung übernehmen. Der junge Erwachsene soll dann plötzlich genau diese Verantwortung tragen, wichtige Rollen in der Gesellschaft ausfüllen und sich einbringen. Den entscheidenden Übergang zwischen den beiden sozialen Stadien – dem Stadium des Kindes und dem Stadium des Erwachsenen – mit seinen schwerwiegenden

3Ausführlich in Baacke (1993). In diesem Zusammenhang ist interessant, dass auch Baacke, der sich nicht auf Turner bezieht und als Pädagoge Turners Ritualtheorie möglicherweise nicht einmal kennt, den transitorischen Charakter von Jugendkultur betont!

9  Liminalität, Konflikt und Wandel     233

sozialen, p ­ hysiologischen (Geschlechtsreife und sexuelle Bedürfnisse) und psychischen Veränderungen lässt unsere Gesellschaft jedoch vollkommen unbegleitet. Dann aber ist der Jugendliche hinsichtlich dieses Übergangs völlig auf sich allein gestellt, und er muss ganz allein mit dem Wandel seiner Lebensverhältnisse fertigwerden. Hinzu kommt, dass die Jugendlichen ins fortpflanzungsfähige Alter kommen und von wenig mehr beherrscht werden als dem Gedanken an den passenden Partner für ein short-term oder ein long-term mating. Um dieses Ziel zu erreichen, muss das Ranking unter den Jugendlichen geklärt werden, und nicht nur das. Auch die Frage des Rankings zwischen den Alten und den Jungen, quasi dem alten Löwen und dem neuen Anwärter auf das Rudel, ist zu klären. Während dieser Kampf bei den Löwen durch Prankenhiebe und Bisse, bei den Hühnern durch Hacken und Dolchstöße mit dem Sporn entschieden wird, spielt er sich in unserer Gesellschaft auf der Straße ab: Er äußert sich in Protest, in Zerstörungen, in Krawall und im schlimmsten Fall in Attentaten im Dienste obskurer Weltverbesserungsfantasien. Es braucht eben – und da sind wir wieder am Beginn unserer Erörterungen zum Thema Ritual — das Ritual, um den Kampf aller gegen alle zu verhindern und das unumgängliche Zusammenleben der Überlebensmaschinen egoistischer Gene überhaupt erst zu ermöglichen, und genau in der liminalen Phase des Rituals lassen sich dann auch notwendige Veränderungen durchsetzen.

Aus der Liminalität zur Weltmacht Noch ein letztes, meiner Ansicht nach besonders überzeugendes Beispiel für die Bedeutung des Rituals in einer Gesellschaft: Vor etwa 2000 Jahren scharte sich eine Gruppe liminaler Gestalten um einen charismatischen Wanderprediger aus Galiläa. Da waren arme, am Existenzminimum lebende Fischer vom See Genezareth, da waren die übel beleumundeten Zolleinnehmer, da waren rechtlose und halb verhungerte Witwen ohne Familie. Es gab Frauen von zweifelhaftem Ruf, Leute aus Samaria, ehemalige Aussätzige oder Geisteskranke und alles, was sich an den Rändern der ordentlichen jüdischen Gesellschaft so herumtrieb. Die Bevölkerung dieses schönen Landstrichs am östlichen Mittelmeer war nämlich in mancher Hinsicht recht heterogen. Zwar hatte in der unmittelbaren Vergangenheit ein jüdisches Herrscherhaus, die Hasmonäer, das gesamte Gebiet von Galiläa im Norden bis an die Südspitze des Toten Meers beherrscht und

234     I. Wunn

auch die nichtjüdische Bevölkerung zwangsweise zu Juden gemacht, aber das bedeutete noch lange nicht, dass das alte jüdische Establishment alle diese Juden als gleichwertig ansah. Als richtig jüdisch galten nur die alteingesessenen Bewohner der Provinz Judäa, die auch in Zeiten der Fremdherrschaft stets ihre Reinheitsgesetze befolgt und vor allem auf Mischehen mit Nichtjuden verzichtet hatte. Allerdings gab es auch innerhalb des Establishments Spannungen. 300 Jahre zuvor hatte Alexander der Große den ganzen östlichen Mittelmeerraum zu einem einzigen großen, griechisch geprägten Kulturraum gemacht. Die Gebildeten sprachen seitdem Griechisch, trieben nackt Sport in den Gymnasien, befassten sich mit griechischer Philosophie und pflegten Tischgemeinschaft mit sogenannten Heiden. Das Herrscherhaus war Teil dieser vornehmen jüdisch-hellenistischen, politisch jedoch römisch geprägten Welt. Dieser internationale, offene Lebensstil gefiel auch in etablierten Kreisen nicht jedem, vor allem nicht den Frommen, die sich zusammenschlossen und nach damaliger Lesart verschiedene philosophische Schulen bildeten – wir würden heute Sekten sagen. Die jüdische Gesellschaft bestand also damals aus verschiedenen sozialen Gruppen. Die Oberschicht pflegte einen internationalen Lebensstil und hatte vielfältige Beziehungen zu den führenden Persönlichkeiten der internationalen Politik und Wirtschaft, während konservative Kreise von einer Theokratie nach altem Muster träumten und immer wieder gegen den angeblichen Sittenverfall und die Abkehr von den alten Werten wetterten. Am Rande dieser Gesellschaft standen die Abgehängten, die Unzufriedenen, die Ausgeschlossenen, die Verarmten und diejenigen, die den strengen Sittengesetzen nicht genügten. Alle diese liminalen Figuren sammelten sich immer wieder um charismatische Gestalten und hofften auf das Erscheinen eines von religiösen Autoritäten vor Jahrhunderten prophezeiten Messias. Dessen Herrschaft musste unmittelbar bevorstehen, denn alle politischen Zeichen schienen darauf hinzudeuten, dass man in einer Endzeit lebte! Auch die Anhänger des oben erwähnten Predigers, eines gewissen Jesus, waren dieser Überzeugung – die Gegenwart konnte nur eine Übergangszeit von der römischen Fremdherrschaft zu der von Gott gewollten Herrschaft eines jüdischen Königs aus dem alten davidischen Geschlecht sein. Man befand sich nach eigenem Empfinden also auch historisch in einer liminalen Phase. Die Gemeinschaft, die sich um Jesus geschart hatte, lebte dementsprechend. Man praktizierte communitas. Alle waren gleich; es gab keine Standesunterschiede. Der Reiche, wenn er denn zu dieser Gruppe fand, zählte ebenso viel wie die arme Witwe; der „Sünder“ (Steuereinnehmer) ebenso viel wie der strenggläubige Befolger der religiösen Vorschriften. Getragen von der sicheren Zuversicht auf einen baldigen Wandel der jetzigen, als u ­ nerträglich

9  Liminalität, Konflikt und Wandel     235

und ungerecht empfundenen Verhältnisse und voller Begeisterung teilte man alles miteinander, sei es Brot, seien es Fische (Joh 6,10–14), verachtete die materielle Welt und lehnte das Ansammeln von Reichtümern ab (Mk 10, 21). Unter diesen „Brüdern“ und „Schwestern“ gab es niemanden, der herausragte oder eine Führungsposition beanspruchen konnte. Selbst ganz zuletzt, als man sich aus Anlass des nahenden Pessachfestes unmittelbar vor Jerusalem befand und an eine allgemeine Volkserhebung und die unmittelbar bevorstehende Wiedererrichtung des davidischen Königtums glaubte, lehnte Jesus die Verteilung von Ämtern ab (Mt. 20, 20 ff.; Mk. 10, 35 ff.). Wir wissen heute, dass die allgemeine Volkserhebung ausblieb und dass der ersehnte Messias stattdessen im Garten Gethsemane ergriffen, des Landfriedensbruchs angeklagt und hingerichtet wurde. Dies änderte jedoch nichts am Erfolg der Bewegung; im Gegenteil. Paulus, ein jüdischer Gelehrter und ursprünglich ein Gegner der Jesusanhänger, deutete nach einem Berufungserlebnis den Tod des Jesus aus Nazareth analog zu den bekannten und anhängerstarken vorderorientalischen Mysterienreligionen, in deren Mittelpunkt ein sterbender und wiederauferstehender Gott stand. Als Beispiel hatten wir in Zusammenhang mit dem Thema Mythos bereits die Mysterien von Isis und Osiris, von Demeter und Persephone oder von Dionysos genannt. Alle diese Gottheiten – Osiris, Persephone und Dionysos – starben, um als Herrscher über ein jenseitiges Reich wiederaufzuerstehen. Der Gedanke einer Auferstehung in einer jenseitigen Welt voller Glückseligkeit war also der hellenistischen Welt vertraut. Und Jesus, der gekreuzigte Wanderprediger aus Nazareth, der Verkünder des Gottesreiches, war also ein solcher sterbender und wiederauferstehender Gott. Man musste sich nur in seine Mysterien einweihen lassen, das heißt taufen lassen und an der Eucharistiefeier teilnehmen, um selbst rituell zu einem solchen Jesus zu werden und damit Teil an seiner Auferstehung zu haben. Die Wiederkunft dieses Gottes, einer Gemengelage aus jüdischem Messias und griechisch-orientalischer Mysteriengottheit, erwartete man in absehbarer ­ Zukunft und sicherlich noch zu Lebzeiten seiner einstmaligen Gefährten. Die Phase des Übergangs, die liminale Phase, schien also noch nicht zu Ende zu sein. Die Ideale von communitas, von absoluter Gleichheit, Brüderlichkeit und Verzicht auf weltliche Güter galten daher weiterhin, auch als sich erste Gemeinden zusammenfanden. Hier standen die Reichen für die Armen ein und finanzierten mit ihrem Vermögen den Unterhalt der gesamten Gemeinschaft (Apg 2,44; 4,32). Bereits zu diesem Zeitpunkt entstanden allerdings erste Ämter: Ein Gremium von sieben gewählten Diakonen übernahm in der Jerusalemer Urgemeinde die Verteilung von Nahrungsmitteln. In der Zwischenzeit bildeten sich durch die rege Missionstätigkeit der Apostel erste

236     I. Wunn

Abb. 9.9  Das Konzil von Nicäa 325 n. Chr. Die ursprünglich egalitäre, der Armut und absoluter Gleichheit verpflichtete Jesusbewegung hatte zu Strukturen gefunden, Hierarchien gebildet und war zu einer Institution im Imperium Romanum geworden. (Fresco um 1600 von Speranza, Rom, Biblioteca Vaticana, © akg-images/picture alliance)

Diasporagemeinden, die von einem Ältestenrat geleitet wurden. Erst nach und nach, im Laufe der folgenden Jahrzehnte, entwickelte sich das Bischofsamt: Der Bischof war der von den Ältesten gewählte Leiter der Gemeinde und Nachfolger der Apostel, die diese Gemeinden ursprünglich gegründet und betreut hatten. Dem Bischof oblag es, die Predigt zu halten und die Eucharistiefeier durchzuführen. Bald übernahm dann die rasch wachsende Kirche die organisatorischen Strukturen, die im Römischen Reich üblich waren. Die Bischöfe, die ursprünglich nicht mehr als die Leiter lokaler Gemeinden gewesen waren, standen nun ganzen Sprengeln vor, für die sie die Lehr- und Leitungsfunktion innehatten. Dass die junge Kirche nun zu festen organisatorischen Strukturen gefunden hatte, die auch von der politischen Welt anerkannt wurden, zeigt das erste Konzil (Abb. 9.9). Kaiser Konstantin (reg. 306–337) hatte erkannt, dass das Christentum inzwischen zu einem Machtfaktor geworden war und lud im Jahre 325 n. Chr. sämtliche Bischöfe des Imperium Romanum nach Nicäa. Während es dem Konzil gelang, sich auf ein gemeinsames, bis heute gültiges Glaubensbekenntnis festzulegen, konnte man sich hinsichtlich der Lehrmeinungen über die Natur Jesu nicht einigen. So jung die Kirche auch war, zeigten sich jedoch bereits hier die Ansätze zu den Spaltungen, die offensichtlich keiner großen Religion erspart bleiben. Dennoch: Trotz Spaltung, trotz wiederholter Christenverfolgung konnte sich das Christentum nicht nur halten, sondern über das gesamte Gebiet des Imperium

9  Liminalität, Konflikt und Wandel     237

Romanum und darüber hinaus erfolgreich ausbreiten. Communitas wird hier freilich nicht mehr gelebt. Im Gegenteil haben die verschiedenen Kirchen sämtlich zu festen, hierarchischen Strukturen gefunden und hatten auch deshalb Erfolg. Aus Liminalität wurde Struktur, aus gelebter communitas entstand ein System, das eigenen Regeln und Gesetzen gehorcht. Und genau damit wollen wir uns nun befassen.

Literatur Baacke D (1993) Jugend- und Jugendkulturen. Darstellung und Deutung. Juventa, Weinheim Huber M (2013) Queering Gay Pride: Zwischen Assimilation und Widerstand. Zaglossus, Wien Kant I (1797) Die Metaphysik der Sitten. Unveränderter photomechanischer Abdruck von Kants gesammelte Schriften. Herausgegeben von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd VI, Berlin 1907/14. de Gruyter, Berlin Kerouac J (1958) Aftermath: the philosophy of the beat generation. Esquire, März Nath D (2007) 68er-Revolte – „Der NS-Muff ist vertrieben“. Süddeutsche Zeitung, 7. November Preuss-Lausitz U (Hrsg) (1990) Kriegskinder, Konsumkinder, Krisenkinder, Zur Sozialisationsgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg., Weinheim Schreiber J (2007) Joschka Fischer: Die Besteigung eines Throns. Tagesspiegel, 11. September Turner VW (1957) Schism and continuity in an African society. A study of Nedembu village life. Manchester University Press, Manchester Turner VW (1974) Dramas, fields, and metaphors. Symbolic action in human society. Cornell University Press, Ithaca, S 23–59 Wyneken G (1914) Schule und Jugendkultur. Diederichs, Jena

Teil III Dritte Theorie: Systemtheorie

10 Systeme, Systeme … überall nur Systeme

Ihre Tochter möchte kirchlich getraut werden … Nehmen wir einmal an, Sie haben eine bildschöne und kluge Tochter, die endlich den passenden long-term mating-Partner gefunden hat. Das Glück ist vollkommen, und natürlich wird es eine kirchliche Trauung geben – eben jenes große Ritual, bei dem die egoistischen Gene zweier Überlebensmaschinen mit ihren jeweiligen Eigeninteressen auf die sichere Aufzucht des gemeinsamen Nachwuchses eingeschworen werden sollen. Das heißt also, dass mögliche Aggressionen für die nächsten Jahre ebenso zu unterdrücken sind wie eventuelle Gelüste hinsichtlich außerehelicher short-term matings. Aber auch die jeweiligen Eltern und zukünftigen Großeltern sollen einbezogen werden, denn immerhin stammt ja das genetische Material des zu erstrebenden Nachwuchses letztlich von ihnen, und daher kann es nur in ihrem Interesse liegen, in die neue Verbindung zu investieren und ihrerseits die nur natürlichen Aggressionen gegen den anderweitigen Elternpart niederzuhalten. Bei diesem schwierigen Geschäft der Disziplinierung der jeweiligen Überlebensmaschinen hilft bekanntermaßen das Ritual, und das mächtigste Ritual in Zusammenhang mit der Paarung ist nun einmal eine kirchliche Trauung mit ihrer Beschwörung nicht mehr hinterfragbarer Werte, der ultimate values. So weit, so gut. Bis hierher haben wir unsere Theorien, um die Welt zu beherrschen, verstanden, und der großen Hochzeit steht nichts mehr entgegen. Leider aber kann die Braut, evangelisch, ihren Taufschein nicht finden! Zwar gab es ein Familienstammbuch, in dem alles o­rdentlich © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Wunn, Vier Theorien, um die Welt zu beherrschen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61376-4_10

241

242     I. Wunn

verzeichnet war, aber bei diversen Umzügen und Anmeldungen zu akademischen Abschlussprüfungen muss es irgendwo auf der Strecke geblieben sein. Das ist nun nicht weiter schlimm, denn eine Geburtsurkunde ist vorhanden, und die Familie erinnert sich noch dunkel der Kirche, in der die Taufe damals stattgefunden hat. Also scheint alles ganz einfach. Man bittet um eine Kopie des Taufscheins oder Bestätigung der Taufe bei der damaligen Kirchengemeinde. Den reizenden Pastor von damals gibt es allerdings nicht mehr; er hat irgendwann andere Aufgaben innerhalb der Kirche übernommen. Aber auch die alte Innenstadtgemeinde ist wegen massiven Mitgliederschwunds nicht länger existent. Fünf Anrufe im Landeskirchenamt später – der erste war vor 9 Uhr (noch keiner da), der zweite um 12.30 Uhr (man ist zu Tisch), der dritte nach 15 Uhr (keiner mehr da), der vierte am nächsten Tag um 11 Uhr (Probe des Bläserchors), der fünfte dann um 14 Uhr (Erfolg) – kann man dort an geeigneter Stelle Erkundigungen einziehen, wo denn nun die Kirchenbücher mit dem Taufregister geblieben seien und wird an eine geeignete Stelle verwiesen. Drei Landeskirchenbedienstete später (jeweils mindestens drei Anrufversuche) wird man in das Kirchenbüro der Gemeinde geschickt, mit der die alte Gemeinde zusammengelegt worden ist. Das Kirchenbüro ist auch tatsächlich zweimal pro Woche für jeweils drei Stunden besetzt (Di 9–12 Uhr, Do 14–17 Uhr), und irgendwann trifft man die Mitarbeiterin tatsächlich während der Dienstzeiten an. Unerschütterlich liebenswürdig gibt sie der Auskunftsuchenden den guten Rat, auf ein so lebensentscheidendes Dokument wie den Taufschein demnächst doch besser aufzupassen, und wozu sie ihn denn überhaupt brauche. Für eine Trauung? Mit einem Katholiken in einer katholischen Kirche? Das ist ja entsetzlich! In diesem Falle (wegen des Katholiken?) müsse sie sich mit ihren arthritischen Beinen und 30 kg Übergewicht extra in das im Keller lagernde Archiv begeben und da in den Dokumenten der eingegliederten Kirchengemeinde nachschauen. Da deren Unterlagen jedoch nach nur zirka sieben Jahren verständlicherweise noch nicht ausgepackt seien, werde es dauern. Man möge sich gedulden, und überhaupt … Der kleine Hinweis darauf, dass die kluge und schöne Tochter auch tüchtig ist, ein Vielfaches ihrer professoralen Mutter verdient und mit ihrer Kirchensteuer letztlich das Gehalt der Mitarbeiterin bezahlt, kann zwar das in die Gesichtszüge fest einbetonierte, dauerverzeihende Lächeln jener Mitarbeiterin nicht erschüttern, aber mit einem leicht schrillen Unterton in der Stimme lässt sie sich nun über die unzumutbaren Belastungen in ihrer Stellung aus … Mit dem Rest der Geschichte verschone ich Sie, meine geneigten Leser.

10  Systeme, Systeme … überall nur Systeme     243

Eines ist allerdings klar: Mit den Christen der Jerusalemer Urgemeinde oder der von Paulus gegründeten Gemeinde in Korinth hat das alles nicht mehr viel zu tun. Zwar glaubt man noch an denselben Jesus aus Nazareth als den Messias und Erlöser und hofft auf ein ewiges Leben (wenn ich für das Jenseits einen Wunsch äußern darf, dann bitte kein ewiges Leben zusammen mit Mitarbeitern des Landeskirchenamtes oder Gemeindesekretärinnen), aber aus der Gemeinschaft der Gleichen, die ungeachtet ihrer Standesunterschiede communitas lebt, ist eine organisierte und durchstrukturierte Organisation geworden. Da gibt es einen Landesbischof, der von der Synode gewählt wird und selbst dem Kirchensenat vorsteht. Dieser Kirchensenat hat als weitere Mitglieder den Präsidenten des Landeskirchenamtes, ein geistliches Mitglied des Landeskirchenamtes, den Vorsitzenden des Landessynodalausschusses, den Präsidenten der Landessynode, drei Landessynodale und vier Mitglieder der Landeskirche. Der Kirchensenat schlägt den Bischof vor, ernennt die Landessuperintendenten (die den Kirchensprengeln vorstehen), ernennt den Präsidenten und Vizepräsidenten des Landeskirchenamtes und ist die oberste Dienstbehörde. Die Kirchensynode ist die zweite Kammer der evangelischen Landeskirchen, deren Abgeordnete mehrheitlich von den Gemeinden gewählt, zu einem geringen Anteil jedoch auch vom Kirchensenat bestimmt werden. Ein Mitglied der theologischen Fakultät der Universität sowie in Niedersachsen der Abt eines berühmten Klosters vervollständigen den Kreis. Die Gemeinden wiederum werden von den Ältesten, dem Presbyterium, geleitet, welches von allen Gemeindemitgliedern gewählt wird. Sie entscheiden auch abwechselnd mit dem Landeskirchenamt über die Besetzung der Pfarrstellen, wobei nur akademisch ausgebildete und von der Landeskirche geprüfte Theologen infrage kommen. Kirche ist also heute im Gegensatz zur gelebten communitas der ersten 200 Jahre eine hochkomplexe und stratifizierte Organisation, die im Falle der evangelischen Kirche grundsätzlich demokratisch aufgebaut ist. Allerdings führt ein striktes Reglement zur Anbindung an eine akademisch vermittelte Theologie. Verschiedene Kammern und ein mächtiger Verwaltungsapparat und die entsprechenden engen Querverbindungen garantieren Konstanz und Einheitlichkeit hinsichtlich der Lehre, während geregelte Abläufe bei allen Verwaltungsangelegenheiten, geordnete Personalstrukturen und nicht zuletzt ein in seiner Höhe vorhersehbares Einkommen aller Kirchenbediensteten dem Ganzen auch einen in organisatorischer Hinsicht geordneten Rahmen verleiht. Das bedeutet im Alltag, dass Gemeindesekretariate oder Ansprechpartner im Landeskirchenamt ihren Dienst entsprechend ihrem Arbeitsvertrag und den Vorschriften absolvieren, wobei deren Einhaltung mehr oder weniger abhängig von einer angemessenen

244     I. Wunn

­ ufsicht ist. Ist der Pastor nicht da, klappt das auch mit den Öffnungszeiten A des Gemeindebüros nicht richtig (das egoistische Gen erledigt lieber schnell noch ein paar private Einkäufe während der Dienstzeit). Und wenn z. B. der Leiter des landeskirchenamtlichen Dezernats Bildung im Bläserchor die Posaune spielt und die Übungsstunde um 11 Uhr angesetzt hat, bläst und tutet man lieber mit, als die eigentlich dringend zu erledigenden Anfragen auf dem Schreibtisch zu bearbeiten. Und wenn wegen der sich häufenden Kirchenaustritte die Einkünfte knapper werden, schreit man lieber nach staatlicher Unterstützung für die defizitären eigenen Krankenhäuser und Kindergärten (erstere werden gern von verdienten, aber ahnungslosen Pfarrern geleitet), anstatt bei der Verwaltung zu sparen. Denn der Leiter der Personalabteilung braucht nur noch zwei Mitarbeiter mehr, um selbst die nächsthöhere Besoldungsstufe zu erreichen! Gemäkel? Typisches Akademikergekrittel? Mitnichten, sondern die nüchterne Beschreibung ganz normaler Entwicklungen innerhalb einer Institution, die ein Eigenleben entwickelt hat und intern nach ihren eigenen Regeln funktioniert. Die Außenwirkung ist demgegenüber sekundär. Man könnte sogar ohne allzu große Übertreibung behaupten: Was die Kirche mit ihren Gemeindebüros und dem Landeskirchenamt an Aufgaben erledigt, ist eigentlich egal, Hauptsache, die internen Abläufe mit ihren Gewohnheiten und Eigentümlichkeiten greifen weiterhin reibungslos ineinander, sodass der Laden läuft. Die Kirche, hier eine evangelische Landeskirche, ist also, so könnte man sagen, für sich selbst, für das Aufrechterhalten des Betriebs der Gemeinden, der Verwaltungen, die Hierarchie kirchlicher Würdenträger und Gemeindebüros da. Der Sinnsucher und Gläubige, an den sich das Angebot der Kirche eigentlich richten sollte, spielt in den Abläufen keine Rolle. Genau gleiche Verhältnisse findet man in städtischen oder Landesverwaltungen, den politischen Gremien und den zugehörigen Parteien. Da ist die ehrgeizige Abgeordnete, die, um ein Alleinstellungsmerkmal zu haben und im Licht der Öffentlichkeit zu stehen, das Amt der Ausländerbeauftragten (offiziell: Integration und Teilhabe) für sich reklamiert. Nein, nein! Sie will kein neues Ministerium! Sie macht den wichtigen und verantwortungsvollen Job natürlich rein ehrenhalber (und weil man dann so oft und immer positiv in der Zeitung steht!). Da ihr allerdings die fachliche Expertise fehlt, stellt sie eine entsprechende Kraft ein. Ein bewährtes Parteimitglied, für das sich bisher kein gut dotierter Posten finden ließ, scheint wegen seines Migrationshintergrundes die optimale Besetzung zu sein. Das monatliche Gehalt des Leiters des neu gegründeten Referats beläuft sich auf eine Summe zwischen 5000 und 8000 € monatlich, die natürlich der

10  Systeme, Systeme … überall nur Systeme     245

Steuerzahler aufbringt. Hinzu kommen die Mitarbeiter, über die der frischgebackene Referatsleiter selbstverständlich verfügen muss. Dies ist nicht die übliche Versorgung von Parteifreunden, auch wenn sich für den Job des Referatsleiters bei ordnungsgemäßer Ausschreibung und Prüfung der Eignung der Bewerber sicherlich eine bessere Besetzung hätte finden lassen als ein mäßig erfolgreicher Advokat. Es ist das System selbst, das quasi ein Eigenleben entwickelt und die Tendenz hat, sich immer weiter aufzublähen. Es geht auch nicht nur um den Egoismus oder die Gefräßigkeit dieses Systems, welches zumindest in der Politik und in der Verwaltung dazu tendiert, ungeheure Ressourcen zu binden (die Einkünfte und Pensionen der Beamten und Angestellten), sondern auch um die Tatsache, dass die eingebundenen Personen in erster Linie systemkonform sein müssen! Es wird also nicht der (m/w/d) fachlich Beste, der für die Stellung Geeignetste ausgesucht, sondern derjenige, der in das infrage kommende System am besten passt. Ein Querdenker oder ein begeisterter Reformer oder auch der Überkorrekte mit seinem Arbeitsethos und Pünktlichkeitswahn werden nur das ganze, gut eingespielte System stören! Für die Kirche ist das folgerichtig nicht der geniale junge Theologe mit den brillanten Erkenntnissen über Leben und Sterben des historischen Jesus, sondern derjenige, der sich in die bestehenden Strukturen unauffällig eingefügt hat. In Sachen Ausländerreferat ist es nicht die fabelhafte Absolventin des Studiengangs Soziologie mit Schwerpunkt Migration, sondern eben der verdiente und berechenbare Parteifreund, der die gut dotierte Stelle erhält. Und hier geht es nicht (nur) um Kungelei oder Freundschaftsdienste, sondern es ist das System selbst, welches die Einstellung von solchen Figuren befördert, die unauffällig sind, sich als systemkonform erwiesen haben und kaum irgendetwas verändern werden, denn Veränderungen würden das reibungslose Funktionieren des gesamten Systems gefährden. Allerdings werden diese Unauffälligen im System Kirche auch nicht dafür sorgen, dass dem Mitgliederschwund Einhalt geboten wird, und im System Politik werden sie kaum eine höhere Wahlbeteiligung und das Ende der Politikverdrossenheit bewirken (Kap. 12). Sie werden das System einfach am Laufen halten und ihre Arbeit mehr oder weniger mittelgut erledigen! Aber ein System hat auch enorme Vorteile: Wird z. B. der Bischof (m/w) mit zu viel Alkohol am Steuer oder der Landessuperintendent im Schlafzimmer der falschen Frau ertappt, wird er zurücktreten müssen. Das System allerdings wird diesen Fauxpas einschließlich des bedauerlicherweise auftretenden Interregnums ohne Mühe überleben, denn alles andere funktioniert. Auch ohne Oberhaupt läuft das System für eine Weile reibungslos weiter.

246     I. Wunn

Unter diesem Gesichtspunkt erklären sich natürlich auch die Mühen bei der Beschaffung des Taufschein-Doppels: Die LandeskirchenamtBediensteten sind Teil des Systems Kirche und sorgen dafür, dass dieses System funktioniert. Da sind die ganz normalen Verwaltungsaufgaben, da sind Personalfragen, da gibt es Streitigkeiten innerhalb einer Gemeinde zu schlichten, da ist die eigene Bibliothek, da ist die Kantine mit dem ständig kranken Küchenchef, und zuletzt ist da noch dieser unbotmäßige Professor für Neues Testament, der behauptet, es habe die Auferstehung Jesu als historische Tatsache nicht gegeben. Mit all dem muss umgegangen werden, alles das verlangt Klärungen, Sitzungen, Protokolle, Beschlüsse und und und. Man ist also verständlicherweise mit diesen Angelegenheiten beschäftigt – den ganzen Tag und das an fünf Tagen in der Woche. Es gibt Vorgesetzte und Mitarbeiter, und wenn man irgendwie zurechtkommen will, sollte man mit beiden Ebenen gut auskommen und zwischen ihnen vermitteln, denn nur dann laufen alle Verfahren glatt und alle Tätigkeiten führen zum Ziel. Da ist es dann aus interner Sicht manchmal wichtiger, wenn das Betriebsklima durch das tägliche gemeinsame Mittagessen ab 12 Uhr (dann hat der Bläserchor fertig geübt!) gepflegt und der Vorgesetzte durch das gemeinsame Blasen milde gestimmt ist, als wenn Aktenberge abgearbeitet und E-Mails beantwortet werden. Wenn in einem solch ausgeklügelten und mit seinen internen Angelegenheiten beschäftigten System dann noch irgendwer anruft, der seinen Taufschein nicht finden kann, bedeutet dies aus interner Sicht nur eine lästige Störung von gut eingeschliffenen Abläufen. Wie sagte mir einmal ein – nein, kein Pfarrer oder Landesbischof, sondern ein erfolgreicher, forschender Oberarzt einer Universitätsklinik mit deutlichem Augenzwinkern: „Wir sind auch ohne Patienten vollkommen ausgelastet!“ Aha! Eine Klinik ist also offensichtlich auch ein System und funktioniert nach systemimmanenten Gesetzen! Aber zurück zur Kirche! Wir haben hier verstanden: Die Kirche ist ein System. Die einstmalige Bewegung von Menschen am Rande der Gesellschaft, von Ausgestoßenen und Marginalisierten, die miteinander in absoluter Gleichheit und Brüderlichkeit in selbst gewählter Armut lebten, hatte vor etwa 2000 Jahren aus eigener Kraft zu Strukturen gefunden, indem sie einigen Geeigneten Leitungsfunktionen zubilligte. Mit dem Anwachsen der Anhängerzahl mussten die Leitungsfunktionen ausgeweitet werden, und regelrechte Leitungshierarchien entstanden. Der Kaiser des Imperium Romanum empfing dann jene gewählten Leiter, die Bischöfe, und gab ihnen damit eine offizielle Funktion. Im Laufe der Kirchengeschichte entstanden aus diesen ersten Anfängen regelrechte Verwaltungsapparate, die die Bistümer

10  Systeme, Systeme … überall nur Systeme     247

mit ihren Gemeinden einschließlich des kirchlichen Besitzes und der familienrechtlichen Angelegenheiten der Gemeindemitglieder zu wichtigen gesellschaftlichen Institutionen werden ließen. Eine ursprünglich chaotische Menge von Individuen hatte durch Selbstorganisation zu Strukturen gefunden. Ein System, das System Kirche war entstanden. Aber was ist denn nun eigentlich ein System?

Was ist ein System? In aller Bescheidenheit: Ich zum Beispiel bin ein System. Aufgrund des Paarungstriebs meiner Eltern, ein Resultat ihrer auf erfolgreiche Replikation erpichten egoistischen Gene, entstand ich zunächst als ein ungeordneter Haufen völlig gleicher Zellen, die sich dann im Laufe der Ontogenese (Entwicklung des Individuums) differenzierten und so organisierten, dass ein selbstständiger, lebensfähiger Organismus daraus entstand. Dieser Organismus, also ich, inzwischen bestehend aus Unmengen von Zellen mit den unterschiedlichsten Aufgaben, angefangen von der Nervenzelle im Gehirn über die Zellen meines Herzmuskels, über die Darmzelle bis hin zur T-Helferzelle, lebe gesund und meistens gut gelaunt inmitten meiner Umwelt. Diese Umwelt allerdings brauche ich, um zu überleben, denn der geordnete Zellhaufen, den ich so großartig mit meinem Ich gleichsetze („Ich habe Stoffwechsel, also bin ich“1) (Zitat in Anlehnung an Descartes 1641: „Cogito ergo sum“), braucht ständig Energie, also Nahrung, um existieren zu können, und er benötigt den Austausch mit seiner Umwelt, denn sonst würde es zum Beispiel mit dem Stoffwechsel, dem mating, aber auch mit dem Auffinden von Nahrung und der Vermeidung von Gefahren nicht klappen. Alles das kann mein differenzierter und wohlorganisierter Zellhaufen, denn der genetische Code meiner ersten Zelle, entstanden aus der Verschmelzung der haploiden Chromosomensätze meiner Eltern, hat die nötigen Informationen geliefert. Damit verlief die Bildung neuer Zellen und deren Differenzierung genau nach Plan – eben nach jenem genetischen Code der kombinierten Spermien- und Eizelle meiner Eltern. Gut versorgt mit Energie (vorzugsweise in Form von Spargel mit Sauce Hollandaise, knuspriger Ente oder Grünkohl) und Informationen (fünf Sinne, Gespräche, Zeitung, Fernsehen, Internet), dazu Wasser und Atemluft,

1In

Anlehnung an den ersten Grundsatz des Philosophen René Descartes (1641) „Ego cogito, ergo sum“.

248     I. Wunn

konnte ich die komplizierte Organisation meines Systems bisher störungsfrei aufrechterhalten. Aber stellen wir uns nun einmal vor, dass die Überlebensmaschinen fremder egoistischer Gene in Form von Tuberkuloseerregern (Mycobacterium tuberculosis) von meinem Körper Besitz ergreifen. Einfacher ausgedrückt: Ich stecke mich mit Tuberkulose an. Irgendjemand, der selbst an offener Tuberkulose erkrankt ist, hustet mich an, die Bakterien werden von mir mit der Atemluft aufgenommen, und schon bin ich infiziert. Die Bakterien nisten sich in meiner Lunge ein, vermehren sich dort munter und bilden Entzündungsherde, die meinen Körper schwächen und Teile des Lungengewebes zerstören. Damit greifen sie natürlich massiv in die Abläufe meines Systems, meines Organismus ein. Irgendwann ist so viel Lungengewebe zerstört, dass die für das Funktionieren meines Systems notwendige Aufnahme von Sauerstoff nicht mehr gewährleistet ist. Ein wichtiger Teil der Kommunikation des Systems „Ich“ mit der Umwelt ist zusammengebrochen, und das führt dann zum Systemtod. (Die Hinterbliebenen bereiten nun das Ritual meines Übergangs in die jenseitige Welt vor.) Ein Systemtod muss aber nicht unbedingt den Tod sämtlicher Teile des Systems bedeuten. Nehmen wir an, meine Überlebensmaschine egoistischer Gene, der organisierte Zellhaufen, hat sich nicht mit Tuberkulose infiziert, sondern beim Autofahren nur ungenügend mit der Umwelt kommuniziert und wird Opfer eines Unfalls. Das System hat als Folge dieses Unfalls zwar die Kommunikation mit der Umwelt komplett eingestellt, weil die Steuerungsfunktionen meines Systems ausgefallen sind, d. h., der Notarzt kann nur noch meinen Hirntod feststellen, aber sämtliche Organe funktionieren noch! Da ich, vorbildlich wie ich bin, einen Organspenderausweis besitze, entnimmt man mein Herz, meine kampferprobte Leber und die besser erhaltene der beiden formschönen Nieren, um sie einem Empfänger einzupflanzen (schade, dass niemand meine klassisch geformte Nase oder meine niedlichen kleinen Ohren gebrauchen kann). Merke: Systemtod bedeutet nicht den sofortigen Tod der Komponenten dieses Systems! System ist mehr als die Summe der Leistungen seiner Einzelteile. Umgekehrt kann so ein System auch den Ausfall einiger Teile verkraften, wenn dieser Ausfall nicht den Austausch mit der Umwelt komplett unterbricht. Nehmen wir also an, ich habe weder einen tödlichen Unfall noch eine galoppierende Schwindsucht, sondern lediglich einen Schlaganfall. Der Thrombus legt Teile des Gehirns lahm und führt zum Absterben der betroffenen Hirnareale. Damit ist das System zunächst massiv geschädigt. Ich kann meinen linken Arm nicht mehr bewegen und auch nicht mehr sprechen. Aber das Gesamtsystem funktioniert! Es kann die massive

10  Systeme, Systeme … überall nur Systeme     249

Schädigung verkraften, und ich lebe weiter. Und nach einer Weile haben sich die Zellen in meinem Gehirn so weit reorganisiert, dass sowohl die Bewegungsfähigkeit meines Armes als auch meine Sprache wieder da sind. (Die Angehörigen blasen das geplante Bestattungsritual wieder ab! Schade, denn der Ministerpräsident wäre bestimmt gekommen.) Aus der obigen Schilderung meines physiologischen Ichs lässt sich nun recht gut ableiten, was ein System ist, nämlich zunächst einmal eine Ganzheit, die von ihrer Außenwelt eindeutig durch eine Grenze getrennt ist. In meinem Falle ist die Ganzheit mein Körper, der nach außen durch die Haut abgegrenzt wird. Im Inneren besteht das System aus vielen verschiedenen Elementen, die miteinander in einer geordneten Beziehung stehen – in meinem Falle die verschiedenen Organe einschließlich des Gehirns, das Skelett mit dem Knochenmark, die Gefäße, Blut, Lymphe, endokrines System etc. Alle diese Organe und weiteren Bestandteile meines Körpers bilden ein Ganzes, dessen Einzelteile bestimmte Aufgaben erfüllen, also nach eindeutigen Regeln funktionieren, wobei ihre Funktionen so aufeinander abgestimmt sind, dass das reibungslose Ineinandergreifen aller Komponenten die Funktion des Gesamten ermöglicht. In meinem Falle also: Nur wenn die Lunge arbeitet und den Körper mit Sauerstoff versorgt, kann der Stoffwechsel funktionieren, indem die von mir aufgenommenen organischen Stoffe (z. B. der Spargel plus entsprechende Beilagen) über oxidative Prozesse zum Zwecke der Energiegewinnung abgebaut und gleichzeitig Zwischenprodukte für den Aufbau organischer Körperbestandteile gebildet werden. Zu den immer wieder gebildeten organischen Körperbestandteilen gehört auch die Haut, die mein System Körper von der Außenwelt trennt. Auch die Haut, d. h. die Grenze meines Systems Körper, wird demnach vom System selbst nach systemimmanenten Regeln produziert! System und Systemgrenze bedingen sich also gegenseitig. Auch ein zweites Stichwort fiel soeben: Energiegewinnung. So ein System benötigt nämlich Energie, wenn es funktionieren soll, die in meinem Fall durch die regelmäßige Aufnahme von Nahrung zugeführt wird. Den Grund für die Notwendigkeit der Energiezufuhr liefert der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, der nicht mehr und nicht weniger aussagt, als dass in einem Raum alle Teilchen das Stadium größtmöglicher Unordnung anstreben (von Bertalanffy 1968, S. 39). Will man die Teilchen dazu bringen, in einen Zustand der Ordnung überzugehen, sollen Moleküle also Gewebe und Organe bilden, muss Energie zugeführt werden. Genau diese Energie liefern wir unserem System, dem Körper, durch Nahrungsaufnahme, um nämlich die am Aufbau unseres Körpers beteiligten Moleküle dazu zu bringen, besagte Organe zu bilden und zu erhalten. Die Energie in Form

250     I. Wunn

von Nahrung entnehmen wir unserer Umwelt, die – beiläufig gesagt – ein anderes, und zwar übergeordnetes System ist. Das heißt also, dass ich mit meinem Körper genau wie Sie auch, verehrter Leser, ständig mit meiner Umwelt in einer Austauschbeziehung stehe, und mein Körper, das System, funktioniert, weil die interne Variabilität dem System ermöglicht, sich auch in einer sich verändernden Umwelt immer wieder zu stabilisieren und zu einem temporären Gleichgewicht zu finden. Zwar kann die Umwelt nicht von außen direkt in die Abläufe in meinem System Körper eingreifen, aber mein Körper kann auf die Veränderungen reagieren und die internen Abläufe entsprechend anpassen. Mein System Körper ist also adaptiv. Wir können nach unseren Überlegungen somit ein System wie folgt definieren: „[Ein System ist ein] Komplex von Elementen, die miteinander verbunden und voneinander abhängig sind und insofern eine strukturierte Ganzheit bilden […]; ein geordnetes Ganzes, dessen Teile nach bestimmten Regeln, Gesetzen oder Prinzipien ineinandergreifen.“ (Hügli und Lübcke 1991)

Dabei können sich Systeme in entscheidenden Eigenschaften unterscheiden, die in erster Linie das Verhältnis des Systems zu seiner Umwelt betreffen und je nach wissenschaftlicher Disziplin oder Autor etwas unterschiedlich eingeteilt werden. Ein abgeschlossenes oder isoliertes System steht in keinerlei Austauschbeziehung zu seiner Umwelt. Ein geschlossenes System dagegen tauscht nur Energie mit seiner Umwelt aus, während das offene System an bestimmten Schnittstellen mit der Umwelt in einer Austauschbeziehung steht. Lebende Systeme sind immer offene Systeme, die an mehreren Schnittstellen mit ihrer jeweiligen Umwelt verbunden sind und zu ihrem Erhalt Informationen und Energie importieren müssen. Ein solches System wird durch ganz bestimmte Eigenschaften charakterisiert: Eine systemtypische Eigenschaft ist seine Komplexität. Unser System menschlicher Körper besteht zum Beispiel aus vielen Organen, die – sorgfältig aufeinander abgestimmt – in ihrer Funktion ineinandergreifen. Dies tun sie auch dann, wenn sich die Arbeitsweise einer Komponente des Systems plötzlich ändert. Der Grund könnte eine Botschaft aus der Umwelt sein (Feind? Gefahr? Mating-Partner?). Das System Körper begibt sich in Habachtstellung: Das Nebennierenmark schüttet ungewöhnlich viel Adrenalin aus, die Herzfrequenz steigt, der Blutdruck erhöht sich, die Bronchiolen erweitern sich. Energie wird durch Fettabbau bereitgestellt und die Tätigkeit von Magen und Darm verringert, das Gehirn auf Flucht oder Angriff programmiert. Das heißt also, dass sich alle Komponenten des Systems Körper gegenseitig beeinflussen und auch bei einer Veränderung

10  Systeme, Systeme … überall nur Systeme     251

der Umwelt zu einem neuen, angepassten Gleichgewicht finden. Das Ganze funktioniert quasi automatisch. Eine Gefahr erkennen bedeutet, dass der oben genannte Reaktionskreislauf über Rückkopplungseffekte in Gang gesetzt wird, egal, ob das ein für die Situation angemessenes Verhalten generiert oder nicht. Im obigen Falle, wenn das System eine brenzlige Situation meldet, wird das System automatisch auf Angriff oder Flucht programmiert. Letzteres ist in Prüfungssituationen oder bei Vorstellungsgesprächen völlig fehl am Platz, denn egal, ob man den zukünftigen Vorgesetzen niederschlägt oder aufspringt und mit rekordverdächtiger Geschwindigkeit davonläuft, das Ergebnis wird ungünstig ausfallen. Trotz der zu erwartenden negativen Ergebnisse können wir die Reaktion unseres Gesamtsystems nicht steuern. Eine Gefahr wahrnehmen heißt, Adrenalin auszuschütten und optimal auf Angriff oder Flucht, nicht aber auf Nachdenken vorbereitet zu sein, denn die einzelnen Komponenten unseres Systems sind nun einmal vernetzt, und es gibt entsprechende Rückkopplungseffekte! Noch einmal Grundsätzliches zum Aufbau des Systems: Das System, in unserem Beispiel der menschliche Körper, hat sich selbst nach inhärenten Gesetzen organisiert. Unser System eigener Körper hat bereits als Embryo mit der Ausbildung der Haut eine Grenze zur Umwelt gebildet, im Inneren verschiedene Organe hervorgebracht und hält sich durch ständige Selbstkontrolle und Rückkopplung sämtlicher Informationen in einem Gleichgewicht, wobei es selbstverständlich der ständigen Energiezufuhr, der Kommunikation mit der Umwelt und Verarbeitung von Informationen bedarf. Unser System steht also notwendigerweise in einer Wechselwirkung mit der Umwelt. Es braucht diese Umwelt, die ihm die Energie und die Informationen liefert, um das ganze System überhaupt am Laufen zu halten. Ist die Kommunikation mit der Umwelt unterbrochen, das heißt in unserem Beispiel, wird keine Nahrung mehr geliefert oder gibt es kein Wasser und keine Atemluft, stirbt das System. Oder aber das System, dessen interne Abläufe ja nicht direkt von außen gesteuert werden können, hat sich so verändert, dass es selbst die Kommunikation mit der Umwelt nicht mehr aufrechterhalten kann (siehe die Folgen einer schweren Erkrankung an Tuberkulose). Wir fassen also zusammen: Ein System besteht aus den das System konstituierenden Komponenten und einer eindeutigen Systemgrenze. System und Systemgrenze bedingen sich gegenseitig. An der Systemgrenze findet der notwendige Austausch (Kommunikation) mit der Umwelt statt.

252     I. Wunn

In der Welt der belebten Natur ist das kleinste System natürlich die Zelle. Als strukturell abgrenzbares, eigenständiges und selbsterhaltendes System nimmt die Zelle aus ihrer Umwelt Nährstoffe auf, die sie verarbeitet. Zu dieser Umwelt hin ist die Zelle durch eine Zellmembran abgegrenzt, an der dieser Austausch stattfindet. Dabei bedingen sich Zelle und Zellmembran gegenseitig. Ohne Zelle keine Membran, ohne Membran keine Zelle. Die Informationen sowohl für die Bildung der Zellmembran als auch für die Aktivitäten und das Zusammenspiel der Zellorganellen liegen in der Zelle selbst, letztlich in den Chromosomen des Zellkerns, die damit ihre Aktivitäten und ihr Verhältnis zur Umwelt steuert. Jedes System hat also notwendigerweise Elemente, die es steuern! Ein etwas komplexeres System, ein System zweiter Ordnung, ist der oben erwähnte Körper eines Lebewesens. Auch hier handelt es sich um ein System, denn das Lebewesen ist nach außen hin zu seiner Umwelt ganz eindeutig durch eine Haut, eine Rinde, ein Fell, ein Schuppenkleid, Federn oder einen Panzer abgegrenzt. In seinem Inneren haben sich nun, geschützt durch die Grenze nach außen, Tausende spezialisierte Zellen so organisiert, dass sie unterschiedliche Organe, Neurotransmitter und Körperflüssigkeiten bilden, die in einem komplexen Miteinander das System Lebewesen aufrechterhalten. Das tun sie auch dadurch, dass an der Systemgrenze ein lebhafter Austausch mit der Umwelt stattfindet. Das Lebewesen nimmt Sauerstoff, Flüssigkeit, bei Pflanzen auch Licht und Nahrung auf und deckt damit seinen Energiebedarf. Gleichzeitig kommuniziert es mit der Umwelt, um sich darin zu orientieren. Gerade der erfolgreiche Austausch mit der Umwelt, die Zufuhr von Energie und bei Systemen höherer Ordnung vor allem von Information, ist für das Überleben des Systems entscheidend, denn ohne Energiezufuhr werden die das System konstituierenden elementaren Bausteine wieder in ihren natürlichen Zustand der Unordnung übergehen; das System wird sterben und zerfallen. Es liegt also in der Natur der Sache, dass der Energiebedarf des Systems zum größten Teil in seine Erhaltung fließt. Die Bedeutung dieser Aussage kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Soziale Systeme An dieser Stelle kehren wir wieder zu unserer Kirche zurück, für die wir überprüfen wollen, ob es sich hier tatsächlich um ein System handelt. Zunächst einmal gibt es offensichtlich eine eindeutige Systemgrenze. Das ist zwar keine Membran und auch keine Haut, die einen Körper umschließt,

10  Systeme, Systeme … überall nur Systeme     253

aber die Taufe aus theologischer Sicht und die Mitgliedschaft in der Kirche grenzen die Kirchenmitglieder ganz eindeutig von der übrigen Gesellschaft, von den Nicht-Kirchenmitgliedern ab. Die Kirche selbst bildet eine Gemeinschaft von Gläubigen oder eben Kirchenmitgliedern, die sich in einer bestimmten hierarchischen Art und Weise organisieren. Hierarchisch deshalb, weil das System, um zu funktionieren, gesteuert werden muss! Dies hierarchische Organisation hat zur Folge, dass die Kirche eine Anzahl von Organen aufweist, die erst in ihrer Gemeinsamkeit das ganze System Kirche ausmachen. Es gibt auf der untersten Ebene die Gemeinde mit ihrem Küster, ihrer Gemeindesekretärin, vielleicht einer Diakonieschwester, dem oder den Pastorinnen und Pastoren und dem Presbyterium. Darüber gibt es dann den Kirchenkreis mit dem Superintendenten und den zugeordneten Gremien, die Landessuperintendenten mit den jeweiligen Landessuperintendenturen, das Landeskirchenamt mit seinen verschiedenen Abteilungen, die Ausbildungsstätten für die Vikare oder für Missionare und und und. Alles das ist Kirche; eine unglaubliche Anzahl von Mitgliedern, haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern, Gremien, Abteilungen und den jeweiligen Führungspersönlichkeiten. Alle diese verschiedenen Einheiten nehmen bestimmte Aufgaben wahr, die das System Kirche in Gang halten. Nicht zuletzt definieren sie, was Kirche und wer Kirchenmitglied ist, und legen so die Grenze zwischen Kirche und Gesellschaft, also zwischen Kirche und Umwelt, fest. Ohne diese Grenze wiederum würde Kirche als Einheit gar nicht existieren, denn dann würde Kirche in der Umwelt, also in der Gesamtgesellschaft, aufgehen. Dieses geordnete Etwas, diese ineinandergreifenden Gremien und Abteilungen mit der gemeinsamen, eindeutigen Abgrenzung zur Umwelt, kann ihren hohen Organisationslevel nur halten, weil dem System Kirche ständig von außen Energie zugeführt wird. Die Kirche ist also ganz eindeutig ein System, und zwar ein offenes System, das auf Kommunikation mit der Umwelt und Energiezufluss angewiesen ist. Diese Energie ist auf der gesellschaftlichen Ebene, auf der wir uns jetzt bewegen, ganz schlicht Geld, ergänzt durch ehrenamtliche Arbeit. Jedes Kirchenmitglied füttert das System monatlich mit Kirchensteuer und Spenden, und mancher engagiert sich zusätzlich ehrenamtlich. Darüber hinaus fließt dem System noch reichlich Energie in Form finanzieller Zuwendungen aufgrund der rechtlichen Folgen des Reichsdeputationshauptschlusses von 1803 (Säkularisierung der geistlichen Fürstentümer und Annexion eines Teils des Kirchenvermögens) zu, der die Landesregierungen verpflichtet, die Gehälter geistlicher Würdenträger zu zahlen und für den Unterhalt der Kirchengebäude aufzukommen. Gleichzeitig ist dieser Vertrag der Kirchen mit dem Staat natürlich eine wichtige

254     I. Wunn

Schnittstelle zwischen System (Kirche) und Umwelt (Staat bzw. Länder). Nur diese ständige Kommunikation mit der Umwelt einschließlich des Zuflusses von materiellen Mitteln versetzt die Kirche in die Lage, zunächst einmal ihren riesigen Apparat aufrechtzuerhalten und sich in zweiter Linie ihren eigentlichen Aufgaben zu widmen: der Verbreitung des Gotteswortes und den Taten der Nächstenliebe. Das, was in den ersten Gemeinden noch von den Gemeindemitgliedern selbst, dann aber von den Ältesten geleistet wurde, nämlich das Predigen von Jesu Leben und seiner seligmachenden Botschaft einschließlich des Auferstehungsversprechens, die Durchführung christlicher Rituale im Lebens- und im Jahreszyklus (Taufe, Konfirmation, Hochzeit, Beerdigung, Weihnachten, Ostern, Pfingsten) und die Fürsorge für die Gemeindemitglieder, liegt nun in den Händen des kirchlichen Apparates. Das Verbreiten des Gotteswortes übernehmen inzwischen Fachkräfte, die Pfarrer. Sie tun dies in den Gottesdiensten, in Bibelstunden oder Hauskreisen. Für die Taten der Nächstenliebe sind inzwischen ganz eigene kirchliche Organe zuständig. Da ist auf unterster Ebene die Gemeindeschwester, die sich um Alte oder Kranke, aber auch um überforderte Mütter kümmern soll. Inzwischen wird die Krankenpflege gern von einem kirchlichen Pflegedienst geleistet, dessen Einrichtung für das System selbst den Vorteil hat, dass seine Leistungen abgerechnet werden können, also dem System wieder Energie in Form von Geld zuführen. Da sind auch die kirchlichen Krankenhäuser mit ihren Ärzten, Krankenschwestern und dem dazugehörigen Verwaltungsapparat. Auch hier arbeitet man inzwischen gegen Bezahlung und nicht mehr für Gotteslohn, und das System wird mit den Erträgen weiter gefüttert. Man kann sich daher leisten, dass der Leiter des Diakoniekrankenhauses, ein studierter ehemaliger Gemeindepfarrer, mit zu den besten Verdienern der Kirche gehört! Da er als Theologe aber besser beten als rechnen kann, arbeiten die kirchlichen Krankenhäuser oft defizitär; es folgt der Hilfeschrei in Richtung Umwelt, in diesem Falle in Richtung Land oder Stadt, mit der dringlichen Bitte um finanzielle Unterstützung. Ein weiteres christliches Betätigungsfeld sind Schulen und Kindergärten in kirchlicher Trägerschaft. Auch hier sorgen Beitragszahlungen und öffentliche Fördermittel dafür, dass dem System Geld zugeführt wird. Und wenn es mit der nötigen Energiezufuhr mal nicht so richtig klappt, weil das System oder ein Subsystem in Form einer diakonischen Einrichtung (rechtlich selbstständig, da e. V.) für die Aufrechterhaltung der Systemorganisation mehr finanzielle Energie aufbringen muss, als zugeführt werden kann, stirbt eben dieses Teilsystem (Luhmann würde hier von einem Subsystem sprechen). Das heißt auf Wirtschaftsdeutsch: Dieser Teilbereich der

10  Systeme, Systeme … überall nur Systeme     255

Diakonie geht pleite. Den Schaden haben wie bei jeder säkularen Pleite die unglücklichen Gläubiger, die nicht etwa im christlichen Sinne aus dem Etat der Kirche entschädigt, sondern höchstens ins Nachtgebet eingeschlossen werden. Dem Gesamtsystem schadet der Systemtod eines der kleineren Subsysteme, quasi dem Blinddarm unter den kirchlichen Organen, erst einmal nicht. Am Beispiel Kirche, als System betrachtet, lassen sich aus dem oben Gesagten leicht weitere Eigenschaften von Systemen dritter Ordnung, also von gesellschaftlichen Systemen, erkennen. Systeme tendieren dazu zu wachsen, wenn die Umwelt das erfordert oder auch nur ermöglicht. Ein Beispiel haben wir bereits kurz erwähnt: die Landtagsabgeordnete mit besonderen Aufgaben im Bereich Migration und Teilhabe. Die Umwelt, hier also die Gesellschaft, verändert sich durch Zuwanderung. Das System reagiert, weil es die Kommunikation mit diesem Teil der Umwelt für notwendig hält, und bildet ein Subsystem aus. Aber auch ohne neue Subsysteme tendieren Systeme dazu, sich aufzublähen, wenn man ihnen unkontrolliert Energie zuführt. So hatte die Hannoversche Landeskirche, die ich hier als Beispiel wähle, im Jahre 2017 2.630.125 Mitglieder in 1262 Kirchengemeinden, 1799 Pastorinnen und Pastoren plus 577 Diakoninnen und Diakone sowie 23.877 sonstige Bedienstete ohne Mitarbeiter des Diakonischen Werks. Um alles das einschließlich der kircheneigenen Gebäude zu unterhalten, verfügt die Kirche über rund 541 Mio. € an Kirchensteuern plus rund 47 Mio. € aus sonstigen Quellen. Davon fließen knapp 360 Mio. € in Form von Pfarrerbesoldung, Kirchenunterhalt etc. wieder zurück in die Gemeinden. Der Rest verteilt sich auf sogenannte gesamtkirchliche Aufgaben, das sind die EKD (Evangelische Kirche in Deutschland), die Ökumene, der Religionsunterricht und die evangelischen Schulen, aber auch auf so schwammige Felder wie Gesellschaft, Umwelt und Medien, die Finanz- und Immobilienwirtschaft, auf Versicherungen und zuletzt auch auf die Leitung und zentrale Verwaltung. Dieser Rest mit Ausnahme des Religionsunterrichts umfasst letztlich Bereiche der Kirche, die nur mittelbar mit ihrem eigentlichen Auftrag, der Verkündigung des Gotteswortes, zu tun haben. Solange aber nicht nur die Steuerungsorgane des Systems arbeiten und die Kommunikation mit der Umwelt stimmt, sondern auch die Versorgung mit Ressourcen, entsprechend der Energie, die wir unserem Körper zufügen, wird auch das System Kirche anwachsen und sich aufblähen: Vor allem in den ersten Nachkriegsjahrzehnten wurden eifrig Kirchen und Gemeindehäuser gebaut. Jedes Neubaugebiet, jedes Viertel erhielt sein eigenes Kirchengebäude oder zumindest Gemeindezentrum. Wenn zunächst ein zentrales Gotteshaus für eine Gemeinde

256     I. Wunn

genügte, waren es dann (in meiner damaligen eigenen Kirchengemeinde in ­ Nordrhein-Westfalen) fünf! Jede dieser Kirchen hatte ihren eigenen Pfarrer, ihren eigenen Hausmeister, die eigene Gemeindeschwester, eigene Gärtner und Reinigungspersonal. Alle diese Kirchen mussten einschließlich der Orgeln, Gesangbücher und Teeküchen gepflegt, unterhalten und gewartet werden, und dazu bedurfte es neuen Personals in der Verwaltung. Die Verkündigung, das Kerngeschäft dieser Gemeinden, die Trauungen, Beerdigungen und Jugendarbeit wurden dadurch nicht besser, und es wurde keine einzige Seele zusätzlich vor dem Fegefeuer oder der ewigen Verdammnis gerettet. Nur das System war größer, differenzierter und schwerfälliger geworden – und gleichzeitig weniger effizient. Die Funktion des Systems und damit der Kontakt zu seiner Umwelt hatte gelitten (Kap. 11). Gleiches gilt für mein System Körper. Auch der vergrößert sich durch ungebremste Energiezufuhr, wird aber jenseits eines Optimums in seinen Leistungen nicht effektiver, im Gegenteil. Ungebremste Energiezufuhr führt zu ungesunden Fettdepots oder zu Erkrankungen, und das System Körper funktioniert nicht mehr ordentlich. Ähnliches gilt für Systeme dritter Ordnung. Wegen der systemimmanenten Eigenschaften, nämlich der Rückkopplungseffekte innerhalb des Systems, wird das System auf die ungebremste Energiezufuhr reagieren und sich stabilisieren, indem es sich wie ein fettsüchtiger Organismus aufbläht. Dabei wird es träge und ineffektiv. Es kann seine Aufgaben (Funktion!) nicht mehr optimal erfüllen und verliert damit zunehmend den Kontakt zur Umwelt. Das System müsste eigentlich dringend abspecken. Wenn die Energiezufuhr dann plötzlich nachlässt, muss das System wiederum mit Anpassung reagieren. Diese Anpassung erfolgt dann nicht notwendigerweise an den einzelnen, vernetzten Komponenten der Systemstruktur und an der Verschlankung der Steuerungselemente, also dem Wegfall überflüssig gewordener Hierarchien. Es spart dann oft an der Erfüllung seiner Aufgaben. Das heißt für die Kirche, dass Gemeinden zusammengelegt, Kirchengebäude entweiht und verkauft werden. Einen guten Eindruck hinterlässt das nicht. Die Mitglieder der aufgelösten Gemeinden meutern, und mancher nimmt das Ereignis zum Anlass, seinen angedachten Entschluss, aus der Kirche auszutreten, endlich umzusetzen. Auch die Außenwirkung ist nicht optimal. Es entsteht der Eindruck einer Institution, die sich überlebt hat und verzweifelt versucht zu retten, was zu retten ist. In systemtheoretischer Sprache hieße das: Das System kann sich an die neuen Gegebenheiten nicht genügend anpassen und erleidet Einbußen hinsichtlich seiner Funktion! Gleiches gilt für den Staat sowohl auf Bundes- wie auf Landesebene. Lebhaft sprudelnde Einnahmen veranlassen das System, zusätzliche Stellen zu

10  Systeme, Systeme … überall nur Systeme     257

schaffen und sich aufzublähen. Der nun immer größer werdende Staatsapparat benötigt zu seinem Unterhalt enorme finanzielle Mittel, die in erster Linie in den Erhalt des Systems selbst fließen. In Zeiten mit geringerem Steueraufkommen wird das Ganze problematisch: Das System kann nur unter Mühen mit der nötigen Energie versorgt, sprich finanziert, werden. Noch einmal mit anderen Worten: Ein System ist bekanntermaßen eine Entität, die durch eine Systemgrenze von der Umwelt getrennt ist. Das Innere des Systems kann sich, weil es die Systemgrenze gibt, organisieren und benötigt dazu Energie. Energie wird darüber hinaus auch stets benötigt, um die Organisation im Inneren des Systems aufrechtzuerhalten. In der Fachsprache heißt das: Negentropieimport ist notwendig. Dies bedeutet aber, dass ein Großteil der aufgewandten Energie in den Systemerhalt selbst fließt und nicht etwa der Aufgabe zugutekommt, die die Existenz unseres Systems rechtfertigt. Zum Beispiel benötigt unser System eigener Körper den weitaus größten Teil der von uns aufgenommenen Energie dazu, die Lebensfunktionen unseres Körpers, der Überlebensmaschinen unserer egoistischen Gene, aufrechtzuerhalten. Nur ein geringer Teil der zugeführten Energie wird in die eigentliche Aufgabe, die Fortpflanzung, investiert. Wir werden geboren, werden rund 20 bis 30 Jahre gefüttert (unserem System wird zwecks Aufrechterhaltens des Organisationslevels Energie zugeführt), pflanzen uns dann endlich fort und ziehen den Nachwuchs auf, um anschließend weitere 20 bis 30 Jahre nutzlos herumzuhängen und weiter Energie in unser nun ziellos arbeitendes System zu pumpen. Welche Verschwendung! Am effektivsten sind nach reinen Nützlichkeitsaspekten die Spinnen, denn da wird das Männchen nach Erfüllung der Fortpflanzungsaufgabe bekanntlich gefressen; die aus seinem Eiweiß gewonnene Energie kommt also direkt dem Fortpflanzungsprodukt zugute, während die Spinnenmutter sich dann gleich anschließend vom Nachwuchs verspeisen lässt. Systemtheoretisch gesprochen: Das System Spinne hat einen hohen Wirkungsgrad, während das System Mensch hinsichtlich des Wirkungsgrades doch recht erbärmlich ist! Genauso ist es bei Systemen dritter Ordnung, unseren gesellschaftlichen Systemen. Auch hier fließt der größte Teil der Energie in den Systemerhalt, und nur ein geringer Teil wird auf die eigentliche Aufgabe verwandt. Bei dem hier gewählten Beispiel Kirche ist dieses Missverhältnis besonders auffällig. Zwar will niemand bestreiten, dass die Kirche auf vielen gesellschaftlichen Feldern in positiver Weise aktiv ist, aber bei der eigentlichen Aufgabe, der Verkündigung des Gotteswortes und der Durchführung der wichtigen Rituale, hapert es. Pfarrer mögen zwar mehr oder weniger viel Zeit mit Kaffeetrinken und Mitarbeitergesprächen im G ­ emeindebüro

258     I. Wunn

verbringen oder kirchliche Trödelmärkte organisieren – alles dies sind Aufwendungen, die in das System selbst fließen und sein reibungsloses Funktionieren auf Gemeindeebene garantieren. Aber ihr Kerngeschäft, nämlich den in religiöser Hinsicht Suchenden ein Angebot zu unterbreiten, vernachlässigen dieselben engagierten und fleißigen Pfarrer. Dabei belegen die Tatsachen, dass das Kerngeschäft, die Suche nach den nicht weiter hinterfragbaren letzten Werten und die Zugehörigkeit zum Kreis der Erleuchteten, immer noch boomt. Nicht nur evangelikale oder östliche Sekten, sondern auch Prediger und Geistliche, die auf die Bedürfnisse der Gläubigen eingehen wie z. B. auf evangelischer Seite die ehemalige EKD-Ratsvorsitzende und Bischöfin Margot Käßmann und auf katholischer Seite der esoterisch angehauchte Benediktinermönch Anselm Grün, füllen zu jeder Zeit jeden beliebigen Kirchenraum, und ihre Bücher erreichen Millionenauflagen. Auch traditionelle christliche Rituale im Lebens- oder Jahreszyklus sind weiterhin gefragt: Paare wollen christlich getraut werden, und an Weihnachten sind die Kirchen brechend voll. Genau dieser Widerspruch zwischen dem Bedürfnis der Gläubigen und Sinnsucher und den Leistungen der Kirche weist auf ein großes Problem des Systems: Das System selbst frisst zu viel Energie; die eigentliche Aufgabe des Systems gerät in den Hintergrund, und damit klappt ein wichtiger Teilbereich der Kommunikation mit der Umwelt, im Falle der Kirche(n) mit den Sinnsuchenden, nicht! Mit Kommunikation sind nun hier nicht etwa kirchliche Verlautbarungen einschließlich des Gemeindeblättchens und des langweiligen Internetauftritts gemeint, sondern jener essenzielle Austausch zwischen System und Umwelt über die Systemgrenze. Das Problem ist in diesem speziellen Fall auch, dass System oder Vertreter des Systems auf der einen und die Umwelt auf der anderen Seite verschiedene Sprachen sprechen, die Kommunikation also nicht gelingen kann. Wenn in der evangelischen Kirche, deren Gottesdienste stark von der Predigt leben, eine Predigt wie folgt lautet, wird das niemanden ansprechen: „Immer wieder hört man, wie voll unsere Kirchen nach dem Zweiten Weltkrieg waren. Damals waren die Menschen ja nicht frommer als heute, aber sie waren hilflos und ohne Orientierung […] Woran sollte man sich also halten? Das Volk war damals so, wie Jesus das Volk Israel in unserem Predigttext beschreibt: […] Als Jesus das Volk sah, jammerte es ihn; denn sie waren verschmachtet und zerstreut wie Schafe, die keinen Hirten haben. Da sprach er zu seinen Jüngern: Die Ernte ist groß, aber wenige sind der Arbeiter. Darum bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter sende in seine Ernte. Gilt das heute noch, dass unendlich viele Menschen einen Hirten bräuchten, aber es

10  Systeme, Systeme … überall nur Systeme     259

gibt wenige Hirten?“ (VELKD. DieLesepredigt 5. Sonntag nach Trinitatis 21.7.2019. Text: MT 9,35–10,1.5–7),

Der Grund: Der Text spiegelt nicht die Lebenswelt der Adressaten, nämlich der Menschen in unserer Gesellschaft (Gesellschaft ist hier die Umwelt des Systems Kirche). Der Mensch in der heutigen Gesellschaft hat ganz andere Probleme, z. B.: Kann ich den hohen Anforderungen im Berufsleben genügen? Bin ich im Vergleich mit den vielen Trendsettern, Bloggern, Influencern und anderen Selbstdarstellern attraktiv und liebenswert genug (da ist schon wieder die verzweifelte Suche nach dem mating-Partner!). Wem kann ich das Gefühl des Versagens, meine Ängste anvertrauen? Und zuletzt: Was passiert, wenn ich tot bin? Gibt es vielleicht doch ein ewiges Leben? Die Wiedergeburt? Eine geistige Existenz? Oder kann ich mit einem geliebten Verstorbenen kommunizieren? Mit der Natur eins werden? Mystische Erfahrungen machen? Genau das sind die Fragen, die das System Kirche beantworten müsste und die nur einige wenige wie die eben genannten Margot Käßmann und Anselm Grün tatsächlich beantworten! Das ist Kirchenaufgabe, die Funktion des Systems Kirche; hier sollten die Antworten angeboten und kommuniziert werden. Aber das System Kirche, ausgiebig mit sich selbst, also mit systemimmanenten Aufgaben beschäftigt, versagt. Eine Kommunikation mit einem maßgeblichen Teil der Umwelt findet nicht statt, und so wird auf lange Sicht der Systemtod unvermeidlich sein. Die katholische Kirche hat hier übrigens die besseren Karten. Nicht, dass hier alles optimal liefe. Auch hier ist das System aufgebläht, verschwendet einen Großteil der zugeführten Energie in eigene Hierarchien und Prachtentfaltung und hat durch den Mangel an internen Kontrollen, Verpflichtung zu absolutem Gehorsam und einer teilweise fehlgeleiteten Sexualität (das egoistische Gen mit seinem Paarungstrieb ist auch mit dem gestrengen Hinweis auf das verpflichtende Zölibat kaum auszutricksen) mit großen Problemen zu kämpfen, die die Glaubwürdigkeit und damit die Kommunikation von System und Umwelt tangieren. Aber die katholische Kirche hat einen großen Vorteil: Sie hat nicht, wie die evangelischen Kirchen seit der Reformationszeit, einseitig auf das Wort, auf die Predigt gesetzt, sondern stets der Kraft der Rituale vertraut. Und diese Rituale mit ihrem Bezug zu letztgültigen Werten sind es, die die katholische Kirche stabil halten. Auch wenn die einzelnen Symbole in den Ritualen nicht mehr alle verstanden werden, haben sie dennoch eine solche tragende Kraft, dass sie für die Stabilität des Systems katholische Kirche sorgen.

260     I. Wunn

Das Eigenleben des Systems Ich möchte an dieser Stelle eines ausdrücklich betonen: Es ging im obigen Abschnitt keineswegs um Kirchenschelte. Es geht vielmehr darum zu zeigen, dass viele Institutionen, zu denen eben auch die Kirche gehört, in unserer hoch differenzierten, komplexen und komplizierten Gesellschaft Systeme sind und dass diese Systeme eigenen Gesetzen gehorchen. Die Gesetze der Systemtheorie beschreiben und erklären, wie besagte Institutionen funktionieren, warum sie manchmal so schwerfällig sind und warum sie auf gesellschaftliche Herausforderungen so wenig reagieren. Fassen wir zunächst einmal unsere bisherigen Erkenntnisse zum Thema Systeme zusammen (nach Springer Gabler Verlag o. J.): Systeme sind Mengen von geordneten Elementen, nämlich den Bestandteilen des Systems, die miteinander verknüpft sind. Diese Verknüpfungen bilden die Struktur des Systems. Die Struktur des Systems ist dasselbe wie die Ordnung seiner einzelnen Bestandteile, also letztlich seine Organisation. Die Begriffe der Organisation und der Struktur sind damit identisch. Die Elemente, die das System durch die Beziehungen, die sie untereinander haben, konstituieren, schaffen damit eine Systemgrenze, die das System von der Umwelt abgrenzen. Diese Systemgrenze muss nicht (wie bei der Zelle) materieller Natur sein, sondern kann auch durch Sinnzusammenhänge bestimmt werden. Offene Systeme müssen mit der Umwelt in Verbindung stehen. Da auch die Umwelt im Allgemeinen ein System ist, steht jedes System über seine Systemgrenze oder ein Randelement mit anderen Systemen in Verbindung. Dies heißt, dass letztlich jedes System wieder das Element eines übergeordneten Systems ist bzw. dass jedes System Untersysteme/Subsysteme hat. Bei unseren Beispielen: Die Zellen sind die Untersysteme des Systems Körper. Systeme befinden sich, solange die Kommunikation mit der Umwelt funktioniert, in einem Gleichgewichtszustand. Auch nach massiven Störungen wird das System aufgrund der Rückkopplung seiner Elemente nach einer Weile wieder in den Zustand des Gleichgewichts zurückkehren. Wir zeigen das am Beispiel der FIFA (Fédération Internationale de Football Association), des Weltfußballverbandes. Die FIFA wurde am 21. Mai 1904 in Paris von dem Niederländer Carl Anton Wilhelm Hirschmann und dem Franzosen Robert Guérin gegründet und fasste mehrere europäische nationale Fußballverbände, darunter auch den deutschen Fußballverband, zum ersten Mal in einer größeren, übergeordneten Organisation zusammen. Ziel dieser neuen Vereinigung waren die Kontrolle des Weltfußballs und die Durchführung großer internationaler Turniere. Nach ersten e­rfolgreichen

10  Systeme, Systeme … überall nur Systeme     261

Wettbewerben während der Olympischen Sommerspiele 1908 und 1912 gelang dem Weltfußballverband der Durchbruch mit der Idee einer Fußballweltmeisterschaft, die im Vier-Jahres-Rhythmus in verschiedenen Ländern ausgetragen werden sollte. Das Konzept der FIFA erwies sich als erfolgreich. Heute repräsentiert und kontrolliert die FIFA mit über 200 Mitgliedsverbänden praktisch den ganzen Weltfußball vom Profifußball bis hin zu den kleinen, lokalen Sportvereinen. Sie organisiert zum Beispiel die Fußball-Weltmeisterschaft der Männer und seit 1991 auch der Frauen, die olympischen Fußballturniere, die altersspezifischen internationalen Wettbewerbe (U20, U17 für Männer und Frauen), Beachsoccer-Weltmeisterschaft, Klub-Weltmeisterschaft und Benefizspiele. Die Vermarktung dieser Spiele, vor allem im Rahmen der Weltmeisterschaft der Männer, verschaffte der FIFA in der Geschäftsperiode 2015–2018 ein Einkommen von ca. 5,66 Mrd. $, wobei 70 % dieser Einnahmen stets an die einzelnen Mitgliedsverbände zurückfließen. Lauf Finanzbericht (FIFA 2017a, S. 7) dient das Geld „den Verbänden zur Deckung ihrer täglichen Betriebskosten“ und der Förderung des Fußballs „in Form von Spielfeldern, technischen Zentren und Stadien rund um die Welt“. Die FIFA-Führung und Administration verschlingen dagegen mit 165 Mio. $ einen vergleichsweise moderaten Betrag (FIFA 2017b, S. 19). Allerdings erschöpft sich das Engagement der FIFA nicht nur im Eintreiben von Sponsorengeldern und Mitgliedsbeiträgen, in der Vermarktung der Fußballspiele und der Förderung des Fußballs weltweit, sondern sie hat sich auch auf die Fahnen geschrieben, wegen ihrer Verbreitung auf allen Kontinenten eine Vorreiterrolle bei Menschenrechten und dem Kampf gegen Rassismus zu spielen. Das tut sie ausgesprochen glaubwürdig, indem sie vor wichtigen Finalspielen bei Weltmeisterschaften Deklarationen gegen Rassismus verlesen lässt und ihre Mitgliedsverbände zu Aktivitäten gegen Rassismus und Menschenrechtsverstöße ermutigt. Theo Zwanziger (2015), langjähriger Präsident des Deutschen Fußballbundes, hob in diesem Zusammenhang vor allem die Rolle des Breitensports hervor. 80.000 Kinder spielen jedes Wochenende auf den vielen tausend Fußballplätzen Deutschlands, und in den Mannschaften seien Kinder aus allen Herkunftsländern. Alle hätten sich an dieselben Regeln zu halten, und es zähle allein das sportliche Ergebnis. Während das Bekenntnis Theo Zwanzigers für den DFB in jeder Hinsicht glaubwürdig ist und die Resultate sichtbar sind, trifft dies vor dem Hintergrund der Vergabe der Weltmeisterschaften 2018 an Russland oder 2022 an Katar leider nicht auf die FIFA zu. Es handelt sich in beiden Fällen um Länder, in denen die Menschenrechte nicht allzu hoch im Kurs stehen.

262     I. Wunn

Und tatsächlich ergaben Überprüfungen, dass es bei der Entscheidung für die jeweiligen Austragungsländer der Weltmeisterschaften nicht mit rechten Dingen zugegangen war. Es sollen teilweise erhebliche Geldsummen geflossen sein, um die notwendigen Stimmen regelrecht zu kaufen. Dies war nur möglich, weil sich innerhalb der FIFA im Zuge selbstorganisatorischer Prozesse Strukturen etabliert hatten, die ein quasi unkontrolliertes Handeln einer obersten Führungsriege möglich machten. An der Spitze der FIFA stand bis zum großen Skandal von 2016 das Exekutivkomitee, bestehend aus dem Präsidenten, acht Vizepräsidenten, einem weiblichen Mitglied und 15 von den jeweiligen Konföderationen (das sind die Zusammenschlüsse der nationalen Verbände auf Kontinentebene) gewählten weiteren Mitgliedern. Alle Mitglieder waren für vier Jahre gewählt und wurden durch den Kongress, ein weiteres Gremium der FIFA, eingesetzt. Das Exekutivkomitee bestimmte einerseits die Spielorte einschließlich der Termine und die Art der Wettbewerbe. Wichtiger für die Struktur unseres Systems FIFA ist jedoch vielleicht die Tatsache, dass das Exekutivkomitee nicht nur den Generalsekretär ernannte, sondern letztlich sämtliche Ausschüsse und Kommissionen beherrschen konnte, da es nicht nur deren Vorsitzende und Vizevorsitzende, sondern auch die Mitglieder berief. Rückkopplung garantierte das störungsfreie Funktionieren des Systems. Einzige Ausnahme blieben die vom F ­ IFA-Kongress gewählten Mitglieder der Audit- und ComplianceKommission (FIFA-Exekutivkomitee, Stand 20112). Da die Dauer der Mitgliedschaft im Exekutivkomitee nicht beschränkt war, verblieben dessen Mitglieder oft für mehrere Wahlperioden, durchschnittlich jedoch für zehn Jahre, im Amt. Eines der ältesten Mitglieder brachte es sogar auf 26 Jahre, bevor es das Zeitliche segnete und deshalb ausschied. Aber nicht nur der Tod oder der seltene Verzicht auf eine Wiederwahl sorgte für den Wechsel an der FIFA-Spitze: Etliche Mitglieder mussten letztlich aufgrund von Korruptionsvorwürfen zurücktreten bzw. wurden suspendiert, da ihre Namen mit Stimmenkauf bzw. Schmiergeldaffären in Zusammenhang gebracht wurden. Zuletzt ereilte dieses Schicksal auch den Präsidenten selbst: Joseph (Sepp) Blatter, der der FIFA als Präsident von 1998 bis 2015 vorgestanden hatte und zuvor Generalsekretär gewesen war, hatte sein über die Jahre gewachsenes Netzwerk genutzt, um im Exekutivkomitee seine Spezis unterzubringen, bzw. sich die Mitglieder dieser erlauchten Gruppe durch Sonderzahlungen oder das Zudrücken beider Augen gewogen und gefügig gemacht 2Eine

heute nicht mehr zugängliche Webseite der FIFA.

10  Systeme, Systeme … überall nur Systeme     263

(Rückkopplungseffekte und Gleichgewicht im Inneren des Systems). Immerhin hatte er nun die Alphastellung in einem mächtigen und angesehenen Verband inne, der obendrein einen Umsatz in der Höhe eines großen internationalen Unternehmens machte und enorme Geldflüsse steuerte. An der Spitze eines Gremiums, das entscheiden und kontrollieren sollte, aber selbst kaum kontrolliert wurde, konnte er seine Macht ausbauen und festigen, indem er seine Vizepräsidenten und Komiteemitglieder durch die Möglichkeit illegaler Einkünfte bei der Stange hielt. Auch er selbst ging dabei nicht leer aus. Nach Auskunft von Transparency International soll er für sich selbst beträchtliche Sonderzahlungen und Erfolgsprämien in unbekannter Höhe abgezweigt haben. Das Ganze erinnert sie an die Methode Figan? Richtig. Nur ersetzen wir hier Schimpanse durch Funktionär. Ein Männchen hat es durch kluges Taktieren und Rigorosität und mithilfe eines Kreises von Helfern an die Spitze einer Organisation geschafft und belegt dort die Alphaposition. Als Alphamännchen hat er allerdings seiner eigenen Ansicht nach uneingeschränkte Richtlinienkompetenz und darf auch nach Belieben über sämtliche Ressourcen verfügen. Die Betamännchen seines unmittelbaren Umfeldes profitieren von dieser Regelung, denn ohne ihren Alpha hätten sie es vermutlich nicht so weit geschafft oder würden sich in internen Machtkämpfen verschleißen (siehe Figan gegen Humphrey). Dann belässt man es lieber bei der komfortablen Stellung im zweiten Glied, bei der immer noch genügend Vorteile abfallen. Das Alphamännchen, hier Joseph Blatter, genießt inzwischen in vollen Zügen die Vorteile seiner Stellung, die nicht nur in hohen, nicht legalen Einkünften liegen. Als Präsident des mächtigen und vor allen Dingen medial stets gegenwärtigen Fußballverbandes genießt er überall höchste Aufmerksamkeit. Er fährt in einer hochpreisigen Limousine vor; er sitzt in besonderen Logen, er plaudert mit Regierungschefs und gekrönten Häuptern, er hat überall Vortritt. Kurz und gut, es stellt sich jene submissive Dominanzbeziehung ein, die ja so ungemein erstrebenswert ist, vor allem, wenn es um den Zugriff auf paarungswillige Weibchen geht. Auch hier ging die Rechnung auf: Nach Ehefrau Nr. 1, Liliane Biner, gefolgt von Barbara Käser (Ehefrau 1981–1991), heiratete Blatter die attraktive Graziella Bianca (verh. 2002–2004), war 2008 mit der 41-jährigen Polin Ilona Boguska und zum Zeitpunkt seiner Entmachtung mit der 27 oder 28 Jahre jüngeren und ebenfalls attraktiven Linda Barras liiert. Die Liste der mating-Partnerinnen dürfte nicht vollständig sein. So weit ist dies alles nicht weiter erstaunlich, sondern entspricht genau dem, was wir nach unserer Kenntnis der Theorie vom egoistischen Gen erwartet hatten. Nun geht es jedoch um das System, die FIFA, zur Zeit

264     I. Wunn

des Skandals und danach. Noch einmal die Fakten: Mit Blatter, seit 1981 Generalsekretär der FIFA, ging es mit dem Weltfußballverband wirtschaftlich bergauf. Vor allem die systematische Vermarktung des Fußballs spülte endlich Geld in die bis dato leeren Kassen. Die FIFA war und ist wirtschaftlich auf Erfolgskurs. Ab 1991 traten jedoch erste Korruptionsvorwürfe auf, die Blatter und mit ihm die gesamte FIFA jedoch stets so weit entkräften konnten, dass sie keine juristischen Folgen zeitigten. 1989 wurde Blatter dann endlich zum Präsidenten der FIFA gewählt und war am Ziel. Er hatte systematisch einen Kreis von Freunden und Unterstützern aufgebaut, die bereit waren, Regeln so zu formulieren, dass sie Blatter nicht gefährlich werden konnten (Selbstorganisation des Systems). So wurde sowohl auf eine Begrenzung der Amtszeiten als auch auf ein Alterslimit verzichtet. Aus seinen offiziellen Einkünften machte er kein Geheimnis: Einer Zeitung teilte er auf Nachfrage freimütig mit, von der FIFA als Bezüge für 2006 eine Million US-Dollar erhalten zu haben. Ernstzunehmende Korruptionsvorwürfe wurden erst zu einem Zeitpunkt laut, als man sich über die Vergabe der Weltmeisterschaften an Russland und Katar zu wundern begann. Gleichzeitig fielen Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe von Sponsoring- und Vermarktungsrechten durch FIFA-Funktionäre in Nord- und Lateinamerika auf. Die amerikanischen Strafverfolgungsbehörden wurden aufmerksam und setzten die Justiz in der Schweiz in Bewegung. Am 27. Mai 2015 wurden hochrangige FIFA-Funktionäre im Hotel Baur au Lac festgenommen; weitere Festnahmen folgten. Im September desselben Jahres geriet auch Sepp Blatter in die Mühlen der Justiz: Die Schweizer Bundesanwaltschaft eröffnete gegen ihn ein Ermittlungsverfahren wegen des Verkaufs von Fernsehrechten in die Karibik weit unter Marktwert an einen Günstling und Unterstützer. Auch war ein namhafter Betrag an den ehemaligen französischen Fußballer und Chef der UEFA, Michel Platini, für nicht näher bezeichnete Dienste geflossen, was Blatter den Vorwurf der Untreue eintrug. Nach einigem Hin und Her und insgesamt recht zögerlich sperrte die Ethikkommission der FIFA sowohl Blatter als auch Platini für jeweils acht Jahre. Weitere Aufklärung über die Methode Blatter verdankt die staunende Öffentlichkeit der britischen Zeitung The Guardian und den schweizerischen Ermittlungsbehörden. Demnach hätten einige namentlich bekannte Personen aus dem Umfeld Blatters immer wieder lukrative Boni auf fragwürdiger Grundlage erhalten. Kurzum: Man hatte sich rundum großzügig bedient. Das System hatte zunächst einmal für sich selbst gearbeitet. Als Ergebnis des Skandals musste Blatter als Präsident zurücktreten, was er nur widerstrebend tat. Vielmehr betonte er stets, nichts Unrechtmäßiges getan zu haben. Aus seiner Warte hatte er sogar recht. Er

10  Systeme, Systeme … überall nur Systeme     265

hatte nur das System FIFA ungemein erfolgreich gemacht, indem er solchen Funktionären an die Spitze verhalf, die das System stützen und störungsfrei am Laufen halten würden. Dafür bedurfte es gewisser Sonderleistungen und Absprachen, die man nun einmal treffen musste, damit das Ganze reibungslos lief. Auch der Stimmenkauf und die Schmiergelder bei der Vergabe der Weltmeisterschaften gehörten dazu, denn schließlich sollte jeder Kontinent irgendwann einmal Weltmeisterschaften austragen dürfen, und irgendwann einmal musste jede Ländergruppe bedient werden, wenn die FIFA wirklich international agieren wollte. Eigentlich hatte das System auf diese Weise auch perfekt gearbeitet. Leider war es nur mit dem Gesetz in Konflikt geraten, und das war letztendlich aufgefallen! Deshalb war Blatters Zeit abgelaufen. Wie der Alphaschimpanse Mike wurde er entthront und verjagt. Ihn ereilte also das ganz normale Schicksal eines jeden Alphamännchens. Erstaunlich ist jedoch das Beharrungsvermögen des Systems FIFA. Jeder sollte meinen, dass nach einem Skandal, an dem die Öffentlichkeiten sämtlicher Kontinente intensiven Anteil nahmen, das System FIFA am Ende sei. Bereits zuvor war immer wieder Kritik an der Monopolstellung des Fußballverbandes und an seiner Fokussierung auf den kommerzialisierten Spitzenfußball geübt worden. Nun wäre die Gelegenheit gekommen gewesen, sich des einengenden und offensichtlich mafiösen Verbandes ein für alle Mal zu entledigen. Aber nichts davon geschah. Die FIFA begann lediglich mit der längst überfälligen Reform ihrer auf einen Präsidenten zugeschnittenen Organisation. Anstelle des Exekutivkomitees gibt es nun den FIFA-Rat mit dem Präsidenten, den acht Vizepräsidenten und 28 einfachen Mitgliedern. Die Verwaltung liegt in den Händen des Generalsekretariats in Zürich mit dem Generalsekretär an der Spitze. Der Generalsekretär kümmert sich um die Finanzen, die Pflege internationaler Beziehungen und die Organisation hochrangiger Fußballwettkämpfe. Der Präsident soll dagegen vornehmlich Repräsentationsaufgaben wahrnehmen und eine Funktion ähnliche einem Aufsichtsratsvorsitzenden haben. Ob die Umstrukturierung des Systems FIFA Erfolge zeitigen und Korruption in Zukunft verhindern wird, sei dahingestellt. Immerhin scheint es kein geschlossenes Gremium alter Art mehr zu geben, in dem durch Kungeleien Machtpositionen erhalten und ungesetzliche Geldzahlungen ermöglicht werden. Dennoch scheinen auch die neuen Strukturen darauf hinzuweisen, dass sich die Organisation FIFA als closed shop versteht, die ihre Angelegenheiten intern nach eigenen Regeln handhabt. So hat die Ethikkommission ein neues Reglement verabschiedet, das sowohl auf das Wort „Korruption“ verzichtet als auch die Verfolgung von Bestechungen zeitlich limitiert. Überdies wird jedem Spieler oder Offiziellen bei Androhung einer hohen

266     I. Wunn

­eldstrafe verboten, „verleumderische“ Aussagen über irgendwelche G Personen der FIFA zu machen. Das Ganze hört sich eher nach dem Einfordern von Arkandisziplin eines Geheimordens an als nach der ethischen Grundlage einer Sportorganisation! Aber seis drum! Diese Fragen müssen die Mitgliedsverbände der FIFA selbst klären. Hier, für uns ist dagegen interessant, wie stabil ein System wie die FIFA ist, obwohl es sich nachgewiesenermaßen um eine Organisation mit kriminellen Zügen handelt. Zunächst einmal: Die Strafverfolgungsbehörden einzelner Länder haben zwar die kriminellen Machenschaften einzelner FIFA-Funktionäre aufgedeckt und strafrechtlich verfolgt. Die Tatsache, dass offensichtlich fast die gesamte FIFA-Führungsriege durch und durch korrupt war und das System FIFA benutzte, um sich hemmungslos zu bereichern, führte jedoch keineswegs zur Zerschlagung dieser Organisation. Das heißt für uns als Systemtheoretiker: Die Verbindungen des Systems FIFA sind an den Schnittstellen mit der Gesellschaft noch so groß, dass der Systemerhalt gewährleistet ist. Der Energiefluss findet weiter statt, und durch Selbstorganisationskräfte konnte sich eine neue Führungsstruktur bilden – ähnlich wie mein fiktiv lädiertes Gehirn nach einem ebenso fiktiven Schlaganfall in meinem System Körper den Schaden durch Restrukturierung beheben konnte. Aber auch die Systemorganisation selbst verkraftet die Umstrukturierung und damit einen massiven Eingriff in das System. Fazit: Die FIFA hat den Eingriff überstanden und funktioniert so gut (und so korrupt?) wie eh und je. Dabei erledigt dieses System seine Aufgaben, die Förderung des Fußballs, die Wahrung allgemeiner und generell anerkannter Regeln, die Ausrichtung von Wettbewerben und den Kampf gegen Diskriminierung und für die Einhaltung der Menschenrechte weiterhin vorbildlich, auch wenn zumindest in der Ära Blatter viel Energie in Form von Geld für das aus gesamtgesellschaftlicher Sicht unerwünschte Funktionieren des Systems aufgewendet werden musste.

Literatur Descartes R (1641). Meditationes de prima philosophia, in qua Dei existentia et animae immortalitas demonstratur. („Meditationen über die Erste Philosophie, in welcher die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele bewiesen wird“). Paris

10  Systeme, Systeme … überall nur Systeme     267

FIFA (2017a) Vorwort des FIFA-Präsidenten. In: Finanzbericht FIFA 2017. https:// resources.fifa.com/image/upload/fifa-financial-report-2017-2933108.pdf?cloudid =ry0xdbw8cero053lqidi. Zugegriffen: 1. Aug. 2019 FIFA (2017b) Investitionen/Aufwand. In: Finanzbericht FIFA 2017. https:// resources.fifa.com/image/upload/fifa-financial-report-2017-2933108.pdf?cloudid =ry0xdbw8cero053lqidi. Zugegriffen: 1. Aug. 2019 FIFA-Exekutivkomitee (2011) Eine heute nicht mehr zugängliche Webseite der FIFA, Stand 2011 Hügli A, Lübcke P (1991) System. In: Philosophielexikon. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg Springer Gabler Verlag (Hrsg) (o. J.). Gabler Wirtschaftslexikon, Stichwort: System; https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/system-50117. Zugegriffen: 1. Aug. 2019 von Bertalanffy L (1968) General system theory. Geoge Braziller, New York Zwanziger Theo (2015) Die Rolle des Sports im Kampf gegen Diskriminierung. Ina Wunn und Beate Schneider: Das Gewaltpotenzial der Religionen. Kohlhammer, Stuttgart, S 273–282

11 Alles Systeme – oder was?

Ökosysteme und Wissenschaftstheorie Wir haben verstanden: Unsere natürliche und unsere soziale Umwelt bestehen aus Systemen, und diese Systeme bestehen wiederum aus Einzelkomponenten. Das Interessante ist, dass ein System anders funktioniert als die Summe seiner einzelnen Komponenten und dass die Veränderung einer dieser Komponenten möglicherweise Folgen nach sich zieht, die man auch bei genauer Kenntnis der Wirkungsweise der einzelnen Komponenten nicht hatte voraussehen können. Ein einfaches und jedem bekanntes Beispiel ist das Ökosystem. Hier sind alle Komponenten angefangen vom Klima (Temperatur, Menge und Häufigkeit der Niederschläge) über die Bodenbeschaffenheit und die Vegetation bis hin zur Fauna intensiv miteinander vernetzt und beeinflussen sich gegenseitig. Menschliche Eingriffe bergen also stets ein hohes Risiko, nicht nur einen bestimmten Teilbereich des Ökosystems zu beeinflussen, sondern das gesamte System zu irritieren, massiv zu verändern und letztlich zu zerstören. Wir erleben das gerade in Zusammenhang mit der globalen Erwärmung und dem daraus resultierenden Klimawandel: Vor wenigen Jahren wurde endlich auch dem Letzten klar, dass durch das permanente Verbrennen fossiler Brennstoffe, also durch das Oxidieren von fossilem Kohlenstoff, der CO2-Gehalt der Atmosphäre ständig steigen und dies durch den Treibhauseffekt (Brechung des Sonnenlichtes in den Infrarotbereich) die Erdatmosphäre in dramatischer Weise aufheizen würde. Die einfachste Lösung schien, auf das Verbrennen fossilen Kohlenstoffes zu verzichten und stattdessen den in der Biomasse © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Wunn, Vier Theorien, um die Welt zu beherrschen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61376-4_11

269

270     I. Wunn

Abb. 11.1  Der Stieglitz oder Distelfink – heute ein seltener Anblick. (©LudenbergMcPhoto/Bildagentur-online/picture alliance)

gebundenen Kohlenstoff als Energielieferanten zu wählen. Dass man auch hier letztlich gebundenen Kohlenstoff oxidiert und damit als Gas in die Atmosphäre entlässt, war unseren klugen Politikern und den ebenso klugen Wählern allerdings zunächst entgangen. Eine Antwort auf das Problem schien daher der Anbau sogenannter Energiepflanzen zu sein: Zuckerrohr in Brasilien (schade um den Zuckerrohrschnaps, mit dem sich so leckere Caipirinhas mixen lassen), Ölpalmen auf Sumatra sowie Mais und Raps in Europa. Plötzlich lohnte sich die Landwirtschaft wieder, und die Bauern setzten auf den großflächigen Anbau von Energiepflanzen. Damit verschwanden die vielen Feldränder mit ihrem Wildkräuterbewuchs ebenso wie die bislang unrentablen, aufgelassenen Felder und Brachen. Unerwünschte Konkurrenzpflanzen, sogenanntes Unkraut, konnte in den Monokulturen leicht mit Unkrautvernichter niedergehalten werden, während Insektizide den für Monokulturen typischen Schädlingsbefall in Grenzen hielten. Tatsächlich gab es auch bald keine Disteln und Brennnesseln mehr am Wegesrand. Allerdings gab es auch keine Distelfinken (Abb. 11.1) oder Feldlerchen mehr. Auch die Insekten gingen zurück. Was erst angenehm auffiel – keine Bienen an der Marmelade auf dem sommerlichen Frühstückstisch und keine Insektenleichen auf der Windschutzscheibe –, zeigt seine unangenehme Seite spätestens dann, wenn man im heimischen Garten, der auf den ersten Blick nach ganz heiler Welt aussieht, in den verlassenen Vogelnestern die Leichen verhungerter Jungvögel findet. Die Altvögel hatten einfach nicht mehr genügend Insekten gefunden, um die Jungen zu füttern. Die Jungvögel wiederum fehlen dann dem Sperber als Nahrung! Allerdings auch den herumstreunenden Katzen der Nachbarn (Sauerbrei et al. 2014, Peterson 2003, Flade und Schwarz 2013,

11  Alles Systeme – oder was?     271

Forsman und Mönkkönen 2003); immerhin Letzteres ist ein Punkt, an dem sich mein Bedauern in Grenzen hält. Inzwischen hat man allerdings die ideale Lösung gefunden: Elektroautos! Sie stoßen kein CO2 bei der Verbrennung des im Benzin gebundenen Kohlenstoffes aus! Leider hat man bei diesem Schildbürgerstreich vergessen, dass auch die Elektrizität gewonnen werden muss – der Strom kann wahlweise aus Atomkraftwerken, Kohlekraftwerken oder aus mit Erdgas betriebenen Kraftwerken kommen – vielleicht ein wenig auch von den sogenannten erneuerbaren Energien. Allerdings weiß jeder, der in Physik schon einmal etwas vom Energieerhaltungssatz gehört hat, dass man Energie nicht erneuern, sondern nur eine Energieform in die andere überführen kann. Dabei entsteht jedes Mal als meist unerwünschtes oder nicht benötigtes Nebenprodukt Wärme, die beim Kühlen der Kraftwerke Flüsse aufheizt. Diese Flüsse taugen dann nicht mehr als Lebensraum für die ursprüngliche Fauna. Aber davon wollte ich gar nicht sprechen, sondern davon, dass beim Elektroauto zweimal Energie ungenutzt verloren geht: zunächst bei der Umwandlung von der in Kohle oder Öl oder Erdgas gebundenen Energie in Elektrizität und dann noch einmal im Elektroauto bei der Umwandlung von elektrischer Energie in Bewegungsenergie (kinetische Energie) – zwei Mal Umwandlung, zwei Mal Energieverlust aufgrund des Wirkungsgrades der jeweiligen Anlagen/Systeme. Richtig, auch Autos und Kraftwerke sind Systeme, deren Betrieb Energie kostet! Aber auch darauf wollte ich eigentlich nicht hinaus, sondern auf die Tatsache, dass Elektroautos Batterien mit enormer Speicherkapazität benötigen. Um solche Batterien herzustellen, bedarf es nicht nur wieder enormer Energie, sondern auch besonderer Rohstoffe, die nur in wenigen geologischen Lagerstätten in China und im Kongo zu finden sind. Damit man in der westlichen Welt Elektroautos verkaufen und dem Wähler aktiven Schutz des Ökosystems vorgaukeln kann, werden die letzten tropischen Regenwälder abgeholzt und die Lagerstätten ausgebeutet. Dass die Arbeitsbedingungen verheerend sind, dass Kinderarbeit an der Tagesordnung ist und dass hier Menschen brutal ausgebeutet werden, interessiert niemanden oder wird vielleicht gar nicht verstanden! Systeme sind eben leider kompliziert. (Ich wette, dass die heutigen Entscheider schon auf der Schule Schwierigkeiten mit sogenannten Transferaufgaben hatten!) Welch dramatische Folgen Eingriffe in das Ökosystem haben, zeigt auch das Beispiel Australien. Hier hatte man zwar weder großflächig abgeholzt wie in Brasilien oder im indonesischen Archipel, aber man hatte etwas anderes getan: Man hatte fremde Tiere in das Ökosystem eines bis zur Ankunft der Europäer isolierten Kontinents eingeschleppt. Ratten zerstörten

272     I. Wunn

schon bald die Gelege bodenbrütender Vögel, die daraufhin ausstarben. Schafe fraßen die Weiden kahl und raubten den Kängurus die Nahrungsgrundlage, Kaninchen wurden zur Plage, und die verwilderten Haushunde, die Dingos, wurden zur übermächtigen Konkurrenz der einheimischen Raubbeutler (Beuteltiere, die die ökologische Nische der Räuber in der Australis einnehmen) und sorgten für deren Aussterben. Binnen weniger Jahrzehnte war eine über Jahrmillionen gewachsene und wohlangepasste Fauna komplett zerstört (Woinarski et al. 2015)! Der heutige naturliebende Europäer fragt sich nun folgerichtig, wie so etwas überhaupt hatte passieren können. Hätte man bzw. hätte Kapitän James Cook (1728–1779), der Entdecker Australiens, eine solche Katastrophe nicht vorhersehen können? Nein, das hätte er nicht, denn das uns (mit Ausnahme der politischen Entscheidungsträger) heute selbstverständliche Denken in Systemzusammenhängen war den Zeitgenossen Cooks noch unbekannt. Man dachte zwar zu Cooks Zeiten, im Zeitalter der Aufklärung, kritisch und auch nach heutigen Maßstäben wissenschaftlich, aber die Vorstellungen über das Funktionieren der Natur oder des menschlichen Körpers waren mechanistisch, also dem Funktionieren einer Uhr oder einer Maschine abgeschaut. Sowohl Lebewesen als auch Staaten wurden als mechanisch funktionierende Maschinen gedacht, und nach diesen Vorstellungen mussten sich theoretisch sogar perfekte Menschen konstruieren lassen. Ihren literarischen Niederschlag haben diese Ideen unter anderem im Werk E. T. A. Hoffmanns (1776–1822) gefunden (Hoffmann 1985–2004). In wissenschaftlicher Hinsicht spiegelt die Evolutionstheorie Lamarcks (eigentlich Transformismushypothese; Kap. 2) das mechanistische Weltbild der Zeit, denn Lamarck war bekanntlich der Auffassung gewesen, dass die Anpassung der Lebewesen an die Umwelt und damit deren Evolution über die mechanische Wirkung von Fluids im Körper der Lebewesen erfolge. Ein Tier auf einem bislang isolierten Kontinent auszusetzen oder eine fremde Pflanze einzuschleppen, bedeutete daher in den Augen der Menschen des 18. Jahrhunderts zunächst einmal nichts anderes, als dass diese Pflanze und dieses Tier dort gedeihen und die einheimische Fauna bereichern würden. Das eingeschleppte Kaninchen war beispielsweise schlichtweg zur Steigerung des Jagdvergnügens ausgesetzt worden! Die Vorstellungen, dass es zu unerwünschten Wechselwirkungen kommen könnte, konnte wegen des mechanistischen Denkens gar nicht aufkommen. Zwar hatte bereits Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) festgestellt: „In der Natur ist alles mit allem verbunden; alles durchkreuzt sich, alles wechselt mit allem, alles ändert sich, eines in das andere“ (Lessing 1767/1768), und der große

11  Alles Systeme – oder was?     273

Alexander von Humboldt (1769–1859) hatte betont: „Alles ist Wechselwirkung“ (von Humboldt 1803/1804). Trotzdem dominierte im wissenschaftlichen Tagesbetrieb die Vorstellung, dass eine einzelne Ursache eine bestimmte Wirkung zeigen müsse und dass umgekehrt jedes Ereignis auf eine ganz bestimmte Ursache zurückzuführen sei. Allenfalls konnte man sich vorstellen, dass eine bestimmte Ursache vielleicht auch mehrere Wirkungen haben könne.1 Es sollte noch ein gutes Jahrhundert dauern, bis Ludwig von Bertalanffy (1932) in seinem Buch Theoretische Biologie den Begriff des offenen Systems einführte. Ziel Bertalanffys war es zum einen, die Isolation und Überspezialisierung der einzelnen Wissenschaftsdisziplinen zu überwinden. Zum anderen war er jedoch der Ansicht, dass das bisher gültige mechanistische Denken in den Wissenschaften der Komplexität der Phänomene und der Dynamik von Prozessen nicht gerecht werde (von Bertalanffy 1968, S. 154). In einer Theorie offener Systeme dagegen werden sowohl die Prinzipien multivariabler Interaktion als auch die Dynamik der Organisation deutlich. Damit meint Bertalanffy nichts anderes als die Tatsache, dass die nach dem Beispiel von Automaten und Uhrwerken konstruierten perfekten Menschen letztlich Automaten bleiben mussten und nicht zu wirklichen Lebewesen werden konnten – wie es sich die Romancière Mary Shelley (1797–1851) mit Frankenstein(s) Monster vorgestellt hatte (Shelley 2017) –, weil deren Konstrukteure aus Unkenntnis von Systemzusammenhängen die notwendigen Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Komponenten ihrer Automaten, Homunculi und Golems nicht berücksichtigt hatten und auch zur damaligen Zeit nicht erfassen konnten. Ein System, und das war die große Erkenntnis Bertalanffys, ist eben etwas anderes als die Summe seiner Teile! Ein lebender Organismus ist so ein System (Kap. 10). Sowohl die Zelle als auch der Organismus stehen in ständigem Austausch mit der Umwelt, und zwar so, dass sich im Inneren des Organismus ein Gleichgewicht einstellt. Dieses Gleichgewicht nennt Bertalanffy Fließgleichgewicht, da es ja in einer ständigen Austauschbeziehung mit seiner Umwelt steht (Stoffwechsel). Ein solches Fließgleichgewicht stellt sich über Rückkopplungseffekte (das ist eine Rückmeldung aus dem System) ein, die ihrerseits wiederum den Stoffwechsel so steuern, dass das System einen Zustand der Homöostase (Aufrechterhaltung eines Gleichgewichtszustandes eines offenen dynamischen Systems) erreicht.

1Der

Gedanke, dass jede Ursache mehr als eine Wirkung hat, liegt dem Entwicklungsmodell des britischen Philosophen Herbert Spencer (1867) zugrunde.

274     I. Wunn

Bertalanffy sah die Vorteile eines systemtheoretischen Ansatzes keineswegs auf die Biologie beschränkt. Auch soziale Phänomene sind Systeme! Vor allem historische Ereignisse sollten nun nicht mehr als Resultat des Verhaltens mächtiger Herrscher betrachtet werden, sondern als das Ergebnis der Entwicklung von Systemen (Bertalanffy 1932). Zwei kleine Randbemerkungen: Auch Bertalanffy verwies bereits vor knapp 100 Jahren auf die Folgen von Überbevölkerung, Verschwendung natürlicher Ressourcen und Umweltverschmutzung in Zusammenhang mit der Unfähigkeit der Politik, entsprechende Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Es sei offensichtlich eine systemimmanente Dynamik, die die Menschheit und den Globus in den Abgrund treibe. Und die zweite Randbemerkung: Lineares Denken ist immer noch weit verbreitet, wie sich vor allem in der Medizin zeigt. Sie, verehrte Leserin und verehrter Leser, haben einen zu hohen Blutdruck, erhöhte Cholesterinwerte, Diabetes Typ 2, rheumatische Beschwerden in den Knien und können nicht schlafen? Ihr Arzt wird Ihnen gegen alles bereitwillig Pillen verschreiben, in dem guten Glauben, dass jedes einzelne Medikament in schönster linearer Kausalität den Fehler im Uhrwerk Mensch behebt. Diese Pillen, bei fortgeschrittenem Alter des Patienten gern bis zu 20 unterschiedliche Medikamente, reagieren jedoch im System Körper miteinander, verändern die Funktionsweise der Organe in unvorhergesehener Weise und rufen ein neues Problem hervor – gegen das dann ein weiteres Medikament verabreicht wird. Gesund wird letztlich von diesem Cocktail nur die Pharmaindustrie. Aber zurück zu gesellschaftlichen Fragen. Bertalanffy, dem es ja um eine ganzheitliche, die Grenzen der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen überwindende Theorie zu tun war, hatte damit bereits die Sozialwissenschaften und Anthropologen eingeladen, sich des neuen Ansatzes zu bedienen und ihn für ihr Fach fruchtbar zu machen, und genau das tat der amerikanische Soziologe Talcott Parsons (1902–1972). Auslöser für seine Hinwendung zur Systemtheorie war die Frage, die auch uns hier letztlich bewegt: Wie kommt es, dass Menschen in einer Gemeinschaft – Parsons spricht hier von der Gesellschaft – das tun, was letztendlich nicht ihren natürlichen Wünschen entspricht (Parsons 1934)? Warum passen sie sich ihrer Gemeinschaft an, werden ein kleines Rädchen im Getriebe und arbeiten zum Wohle dieser Gemeinschaft, die Parsons Gesellschaft nennt? Das funktioniert nur, weil es sich nach Parsons bei der Gesellschaft um ein System handeln soll. Dieses System ist ein Verhaltensgefüge, und das entsteht, weil Menschen innerhalb dieses Systems bestimmte Rollen haben, denen sie gerecht werden. Leitlinien für diese Rollen sind laut Parsons die

11  Alles Systeme – oder was?     275

charakteristischen Normen und Werte ihrer Gesellschaft, und diese Leitlinien bestimmen ihr Handeln. Kleine Zusatzbemerkung über die Erkenntnisse Parsons hinaus: Uns dämmert bereits an dieser Stelle, dass es sich bei den charakteristischen Normen und Werten um die ultimate values handelt, die wir bereits aus unseren Ritualen kennen und die durch einen sinnstiftenden Mythos generiert wurden! Zurück zu Parsons: Wie er ausführt, bildet sich durch das Handeln eine Struktur, die das System kennzeichnet, während Funktionen zwischen System und Umwelt vermitteln und dadurch für die Stabilität sorgen. So weit sind alles bekannte Größen, die Ihnen, verehrte Leserin und verehrter Leser, nicht zuletzt aus der Ritualtheorie vertraut sind und die offensichtlich auch ein gesellschaftliches System charakterisieren. Wo aber ist die Systemgrenze, die ja ein System erst konstituiert? Das verschweigt des Dichters Höflichkeit (Langbein 1812, S. 232)! Zwar definiert Parsons seinen Gesellschaftsbegriff an mehreren Stellen und bezeichnet Gesellschaft als den „totalen Komplex menschlicher Beziehungen insofern, als sie aus Ziel-Mittel-Aktionen erwachsen“ (Parsons 1934, S. 2312), aber seine weitere Behandlung des Themas gesellschaftliche Systeme oder vielmehr Gesellschaft als System zeigt, dass er mit einem wesentlichen Aspekt der Systemtheorie ein Problem hat, nämlich mit der Systemgrenze seines Systems Gesellschaft. Denn nur wo es eine Systemgrenze gibt, kann es auch ein System geben, da sich (siehe unsere Beispiele Zelle und biologischer Körper; Kap. 10) System und Systemgrenze gegenseitig bedingen. Wenn man also die Gesellschaft als System betrachtet und die Gesellschaft als System funktionieren soll, muss eine Systemgrenze her! Im Unterschied zu biologischen Systemen wie Zelle oder Organismus zeigt sich bei der Gesellschaft die Systemgrenze nicht so ohne Weiteres, sondern muss gefunden oder eben durch kluge Überlegungen konstruiert werden. Parsons als gelehrter und belesener Sozialwissenschaftler entschied sich bedauerlicherweise für das Finden. Bereits der Altmeister der Sozialwissenschaften, der große britischen Denker Herbert Spencer (1820–1903), hatte nämlich die Gesellschaft als ein im biologischen Sinne organisches Gebilde aufgefasst, das natürlichen Gesetzen von Wachstum, Entwicklung und Veränderung unterworfen sein sollte (Rumney 2017, Wunn 2018). Dieses Gesetz natürlicher

2Dort

heißt es: Gesellschaft „may be defined as the total complex of human relationships in so far as they grow out of action in terms of the means-end relationship,i ntrinsic or symbolic.“

276     I. Wunn

Entwicklung besagte jedoch nach Spencer nichts anderes, als dass sämtliche Entwicklungsprozesse einem aus der Individualentwicklung eines biologischen Organismus abgeleiteten Gesetz des Wandels von der homogenen zur heterogenen Struktur folgen sollten.3 Also: Alle wissenschaftlich fassbaren Entwicklungslinien, angefangen bei der Entstehung und Entwicklung des Kosmos über die Erdgeschichte, die Geschichte des Lebens auf der Erde, die Entwicklung unterschiedlicher menschlicher Rassen bis zur menschlichen Gesellschaft, beruhen laut Spencer auf solchen Differenzierungsprozessen. (Spencers entsprechende These, die er aus der Physik ableiten zu können geglaubt hatte, wurde von der zeitgenössischen Physik zu Recht sofort in der Luft zerrissen!) Für die Gesellschaft bedeutete das, dass aus einer ursprünglichen, primitiven und undifferenzierten Gesellschaft durch Differenzierungsprozesse immer komplexere Gesellschaftstypen hervorgehen sollten, die sich eben gerade durch das Maß an Komplexität voneinander abgrenzen lassen mussten. Für Parsons (1934) war damit die Systemgrenze mit dem Rückgriff auf Spencer gefunden! Die von der Soziologie unterschiedenen Gesellschaftstypen, die von der primitiven Gesellschaft über die Stadtstaaten und Imperien der Antike, das mittelalterliche Kaisertum, die frühmoderne Zeit der Reformation und Aufklärung bis zur heutigen Demokratie reichen, stellten für Parsons jeweils eigene Systeme dar, deren Systemgrenzen quasi durch das Maß ihrer internen Differenzierung bestimmt wurden. Sie verstehen das jetzt gerade nicht? Das spricht für Sie, denn leider kann man das auch nicht verstehen, weil es schlicht und einfach falsch ist. Eine Entwicklungsstufe markiert keine Systemgrenze, wie ein simples historisches Beispiel zeigt: Schließlich hat sich das moderne Europa nahtlos aus dem frühmodernen Europa und dieses wieder aus dem mittelalterlichen Europa mit seiner Gesellschaft entwickelt. Irgendwelche Grenzen zwischen verschiedenen Systemen sind da ganz offensichtlich nicht aufgetaucht. Und auch die Behauptung einer zwangsläufigen Zunahme an Komplexität eines beliebigen Systems ist nicht richtig: Weder unser System Zelle noch unser System eigener Körper werden im Laufe der Zeit zunehmend komplexer, sondern leider nur älter! Und auch die Gesellschaft der Makonde ist heute nicht komplexer als vor 200 Jahren! Unser Verdacht: Hier stimmt etwas ganz und gar nicht!

3Dieser Schlüsselsatz in Spencers (1996, S. 10) Denken lautet wörtlich: „This is the history of all organisms whatever. It is settled beyond dispute that organic progress consists in a change from the homogenous to the heterogenous.“

11  Alles Systeme – oder was?     277

Trotz dieses eklatanten Mankos wurden Parsons Ideen begeistert von den Sozialwissenschaften und auch von meinem eigenen Fach, der Religionswissenschaft, aufgegriffen und variiert. Dabei ging es vor allem um die Funktionen und Aktivitäten innerhalb des Systems Gesellschaft, immer unter der Fragestellung: Wie ist soziales Handeln möglich? Je nach Autor wurden verschiedene Schwerpunkte gesetzt, die uns hier nicht zu kümmern brauchen. Eines blieb jedoch: Die merkwürdige, künstliche Systemgrenze, die sich an genau den gesellschaftlichen Entwicklungsstadien festmachte, die eine beginnende Geschichtsphilosophie noch vor Spencer ausmachen zu können geglaubt und die Spencer übernommen hatte.4

Wie entsteht Struktur, und wie ist das nun mit der Systemgrenze? Eine Diskussion müssen wir jedoch noch einmal vertiefen: Wie entsteht Struktur? Hier lieferten die chilenischen Biologen Francisco Varela und Humberto Maturana die entscheidenden Hinweise. Zwar war deren Forschungsgebiet nicht die Soziologie, sondern die Erkenntnistheorie, aber ihre Überlegungen schienen für die sozialwissenschaftliche Systemtheorie von höchster Relevanz. Dabei richteten sich Maturanas und Varelas Aussagen vor allem gegen die Vorstellung in der Erkenntnistheorie, dass Erkenntnis letztlich darauf beruhe, dass das Gehirn die Wirklichkeit der Welt draußen (außerhalb des Gehirns) mehr oder weniger wirklichkeitsgetreu abbilde. Demgegenüber vertraten die obigen Autoren die Ansicht, dass das Gehirn sich seine Wirklichkeit selbst erschaffe. Der Grund ist völlig einleuchtend. Wenn ein Mensch zum Beispiel einen Hund sieht, wird nicht der Hund im Inneren des Gehirns abgebildet. Stattdessen werden über die Sinne – Sehen, Hören, Riechen, Fühlen – mithilfe physikalisch-chemischer Reaktionen verschiedene Signale generiert, die zu einer Veränderung der Aktivitäten des neuronalen Netzwerkes führen. Das, was wir dann als Hund wahrnehmen, ist nach Maturana und Varela nichts anderes als ständige Transformation im Inneren des Gehirns in Abhängigkeit von der Umwelt und ihren Signalen.

4Sie

sollten jetzt unbedingt mein Buch (Wunn 2018) über die historischen Zusammenhänge von wissenschaftlichen Theorien lesen! Dann verstehen Sie, wie Fehler von einer Wissenschaftlergeneration auf die nächste weitergeschleppt werden!

278     I. Wunn

Das System entsteht also durch die Aktivitäten des Systems selbst und durch seine Interaktion mit der Umwelt. Ein System entsteht also durch Autopoiesis – es erschafft sich, erhält sich und steuert sich selbst. Der Gedanke der Autopoiesis wurde von dem Bielefelder Soziologen Niklas Luhmann (1984) aufgegriffen und wie bei Parsons (1934) auf die Gesellschaft als System angewandt. Auch hier entsteht das System Gesellschaft durch Autopoiesis, also durch Selbstorganisation, wobei nun nicht mehr Handlungen wie bei Parsons die entscheidenden Operatoren im System darstellen, sondern die Kommunikation. Die Kommunikation, und darunter versteht Luhmann Information, Mitteilung und Verstehen, erschafft und unterhält das System. Jede Kommunikation erzeugt aber eine weitere Kommunikation und bildet somit die grundlegende autopoietische Operation eines sozialen Systems. Kommunikation ist also der entscheidende Operator, der zur Systembildung führt. So ein System ist selbsreferenziell, d. h., seine einzelnen Operationen beziehen sich immer nur auf systeminterne Vorgänge. Dadurch ist das Luhmann’sche System grundsätzlich von der Umwelt getrennt. Wir fassen zusammen: Die Gesellschaft ist letztlich nichts anderes als ein System, dessen Struktur durch die eigenen Aktivitäten des Systems selbst entsteht – durch Handeln bei Parsons, durch Kommunikation bei Luhmann. Das Ziel dieses autopoietischen Systems ist es, sich selbst zu erhalten, und zu diesem Zweck muss es auch seine Strukturen erhalten, vor allem die höchsten und kontrollierenden Funktionen des Systems. (Das erklärt, warum die FIFA Blatter noch stützte, als sich die Korruptionsvorwürfe gegen ihn bereits erhärtet hatten.) Des Weiteren gelten die Bestrebungen des Systems der inneren Integration, dem Ausrichten auf das Erreichen von Zielen (Funktion) und der Anpassung an ein Milieu. Unterziehen wir diese Punkte in Bezug auf die Gesellschaft einer etwas näheren Betrachtung: Soziale Systeme – entstanden durch Kommunikation oder Handlungen – werden dabei ihre eigene Systemgrenze konstituieren und mit der Umwelt in einem geregelten Austausch stehen, d. h., sie werden sich an ein Milieu anpassen. Auch der Austausch mit der Umwelt findet mithilfe von Kommunikation statt, und diese Kommunikation führt dazu, dass sich die Systeme nach Zielen ausrichten. Um jedoch als System bestehen zu können, müssen kontrollierende Funktionen im System her. Das heißt aber, dass sich Hierarchien bilden! So weit ist alles klar – manchmal wirkt die Argumentation zwar in der Primärliteratur weit hergeholt, recht abstrakt und unnötig kompliziert, aber das Funktionieren bzw. teilweise amoralische Verhalten von Institutionen wie der FIFA oder einer evangelischen Landeskirche, einer Bundesregierung, einer Partei oder

11  Alles Systeme – oder was?     279

eines Autoherstellers kann mithilfe der Systemtheorie sehr leicht erklärt werden. Der Zweck des Systems FIFA war und ist eben die Förderung des Fußballs weltweit einschließlich des Ermöglichens internationaler Wettkämpfe. Dazu bedarf es des Systems selbst, also der Organisation, die, damit sie funktioniert, bestimmte Strukturen ausgebildet hat. Natürlich will sich das System selbst erhalten, und es muss funktionieren. Vor allem müssen die obersten kontrollierenden Funktionen aufrechterhalten werden, damit das System nicht zusammenbricht. Genau das war der Grund, warum das System FIFA seinen Präsidenten Blatter selbst dann noch stützte, als sein Fehlverhalten offensichtlich war. Und genau das war auch der Grund, warum (Sie erinnern sich an das Kap. 1 mit dem Event und dem Oberbürgermeister?) eine Partei den von ihr gestellten Oberbürgermeister noch zu einem Zeitpunkt stützte, als für jeden außerhalb dieses Systems offenkundig geworden war, dass der liebenswürdige Mann aus Unkenntnis oder Führungsschwäche Fehler begangen hatte, die den Staatsanwalt auf den Plan riefen. Im Sinne des optimalen Funktionierens des Systems selbst hatte man leider allgemeingültige rechtliche Normen außer Acht gelassen. Das hatte man getan, weil diese Normen außerhalb des Systems liegen, das Systeminnere also zunächst einmal nicht tangieren! Die ultimate values der Umwelt sind eben nicht unbedingt die ultimate values des Systems! So weit ist alles klar. Innerhalb der Gesellschaft gibt es verschiedene Systeme, die für die Gesellschaft ganz wichtig sind und die sie sogar maßgeblich bestimmen. Nach Luhmann kommunizieren diese Systeme nicht miteinander (da hat er recht). Die Steuerung des Miteinanders der Systeme übernimmt vielmehr ein übergeordnetes System, die Gesellschaft, die in diesem Falle die Umwelt des Systems darstellt. Dass die Gesellschaft die Umwelt des Systems darstellt, glauben wir gern! Dass es sich bei der Gesellschaft aber um ein System handelt, glauben wir nicht! Denn genau wie Parsons hat auch Luhmann ein Problem mit der Systemgrenze. Zwar soll das System durch Kommunikation seine eigene Grenze autopoietisch hervorbringen, aber diese Systemgrenze lässt sich in der Wirklichkeit einfach nicht finden, und wir als latente Naturwissenschaftler (mein ursprüngliches Fach ist Paläontologie) haben immer zuerst diese Wirklichkeit, unsere Objekte, Gegenstände, Messreihen oder Phänomene vor Augen, die wir dann mithilfe einer Theorie erklären wollen. Unser zu erklärendes Phänomen ist jetzt, da wir Luhmann verstehen wollen, die Gesellschaft. Zwar wissen wir dank Parsons‘ Definition, was wir darunter zu verstehen haben, aber wir können nicht empirisch feststellen, wo diese Gesellschaft ihre Grenze zur Umwelt hat. Wer oder was ist denn die Umwelt der Gesellschaft? Genau dasselbe Problem hatte auch Luhmann. Da eine Systemgrenze

280     I. Wunn

eines fiktiven Systems Gesellschaft nicht auszumachen ist, greift er wie Parsons auf das Hilfsmittel der Differenziertheit eines Systems zurück, und da gibt es dann ein Stadium segmentärer Differenzierung, ein Stadium funktionaler Differenzierung und ein Stadium funktionssystemspezifischer Kommunikation in Form binärer Codierungen. Mit einem solchen System Gesellschaft, das sich an Stadien der Differenziertheit festmacht, sind wir nun wieder genauso weit wie bei Parsons. Das angebliche System Gesellschaft erklärt uns nicht, wie Gesellschaft funktioniert, und es erklärt auch nicht, wie sich eine solche Gesellschaft entwickelt, also wie sie evolviert (und beides wollte Luhmann eigentlich erklären). Irgendetwas stimmt also noch immer nicht! Und was hier nicht stimmt, verstehen wir sofort, wenn wir uns den Begriff Gesellschaft einmal näher ansehen. Wenn man nämlich von „der Gesellschaft“ spricht und die Ansicht vertritt, dass Gesellschaft aus einem Beziehungsgefüge besteht, das sich über ein gemeinsames Wertesystem konstituiert, bleibt Gesellschaft etwas Schwammiges. Sie ist ein Gebilde mit unklarer Grenze zu einer wie auch immer gearteten Umwelt. Nehmen wir als Beispiel unsere Gesellschaft hier in Deutschland. Bestimmt würden sich viele deutsche Staatsbürger ohne Migrationshintergrund und mit einem geregelten Einkommen als zur hiesigen Gesellschaft gehörig bezeichnen. Aber wie ist es mit deutschen Staatsbürgern, die erst kürzlich eingebürgert wurden, aber aus opportunistischen Gründen (Krieg in der Heimat, Wirtschaftsflüchtlinge, Verfolgte) hier leben? Zählen sie sich zur deutschen Gesellschaft, oder verorten sie sich irgendwo am Rand, weil sie eben dieses Wertesystem nicht teilen? Immerhin haben sie nicht immer an dem Wertekonsens teil, der nach Parsons und Luhmann (Luhmann spricht allerdings von Reduktion von Komplexität der Wirklichkeit, aus dem aber dann letztlich die Werte hervorgehen), der über werteorientierte Handlungen bzw. Kommunikation letztlich das System hervorbringt. Oder wie ist es um die Obdachlosen bestellt? Wo haben sie einen Platz im System mit seinen Hierarchien und Kontrollfunktionen? Oder was ist gar mit den Reichsbürgern? Auch sie teilen den allgemeinen Wertekonsens nicht! Noch deutlicher wird die Problematik, wenn wir an die Juden des Deutschen Reiches im Mittelalter denken. Ihr Wertekonsens war ein gänzlich anderer als der der katholischen Christen, aber genau dieser christliche Wertekosens konstituierte die mittelalterliche Gesellschaft mit ihrer Doppelspitze von Kaiser und Papst! Dementsprechend waren Juden auch nicht Mitglieder der mittelalterlichen Gesellschaft, sondern standen an ihrem Rand. Politisch und wirtschaftlich waren sie allerdings völlig integriert. Sie waren

11  Alles Systeme – oder was?     281

direkte Schutzbefohlene des Kaisers und nur allzu oft Finanziers derjenigen Persönlichkeiten, die neben dem Kaiser Kontrollfunktionen ausübten! Oder denken Sie an die Ursprünge der Schwulenbewegung mit ihren Homosexuellen, Lesben, Drag Queens und Loverboys! Sie wollten zur Gesellschaft gehören, aber die Gesellschaft ließ sie nicht; und sie ließ sie deshalb nicht dazugehören, weil sie nicht den Wertekonsens der damaligen Gesellschaft teilten! Aus den Beobachtungen kann nur eines gefolgert werden: Gesellschaft ist ein deskriptiver Begriff, der irgendeine Form des Zusammenlebens ganz unterschiedlicher Menschen meint, aber es handelt sich bei der Gesellschaft sicher nicht um ein System, denn es fehlt sowohl an der Struktur, die alle genannten und nicht genannten Gruppen in eine Beziehung zueinander setzt (also an der inneren Integration), als auch an der Systemgrenze.5 Die Gesellschaft mit ihren Gruppen, deren Zugehörigkeitsstatus mehr als unklar ist, kann daher kein System sein! Der Staat allerdings mit seiner eindeutigen Definition von Staatsangehörigkeit, mit seinen territorialen Grenzen und mit den vielen Subsystemen, die seine Existenz ermöglichen, ist ein System! Allerdings gibt es in seinem Inneren nicht nur funktionierende Subsysteme, sondern auch jede Menge Individuen und Gruppen, die sich keinem System zuordnen lassen und die daher zu den von Turner beschriebenen liminalen Elementen gehören. Diese latente oder offensichtliche Liminalität im Inneren eines Staates kann wegen des fehlenden Wertekonsenses oder der mangelnden Bereitschaft, sich Strukturen und den mit ihnen verbundenen Hierarchien zu unterwerfen, ein Problem sein. Das System Staat versucht sich mit Macht an der inneren Integration dieser liminalen Elemente. Deshalb wird ein Staat Liminalität immer bekämpfen: Nichtsesshafte zum Beispiel, auch wenn es sich um traditionell nicht sesshafte Völker wie die Roma handelt, aber auch Autonome oder Reichsbürger lassen sich in das System Staat nicht eingliedern, bilden liminale Existenzen am Rande der Gesellschaft und werden daher vom Staat mit systemimmanenten und systemkonformen Mitteln (Justiz) bekämpft. Der Grund ist: Der Staat als System will und muss das Systeminnere integrieren, wenn er als System funktionieren will! Hat ein Staat zu viele liminale Elemente, greifen seine Systemeigenschaften inklusive der Selbstreferenzialität nicht mehr; er kann im Inneren keine Strukturen schaffen und aufrechterhalten und wird

5Luhmann

und Parsons ist hier ganz einfach ein Kategorienfehler unterlaufen. Das kommt in der Wissenschaft häufiger vor als gedacht (vgl. Ryle 1938)!

282     I. Wunn

l­etztlich zugrunde gehen. Genau diese Verhältnisse konnten zuletzt in Syrien und im Irak und unlängst auch wieder in Afghanistan beobachtet werden. Oder aber: Ein Staat besteht eigentlich gar nicht als System, weil er seine Subsysteme und liminalen Elemente nicht integrieren kann. Dies ist zum Beispiel in etlichen afrikanischen Staaten der Fall, in denen verschiedene Dorfgemeinschaften und auch Stämme intern mithilfe ihrer Rituale Strukturen ausbilden, sich aber keineswegs als Subsysteme in ein übergeordnetes System integrieren lassen. Hier existieren dann Staaten z. B. als Subsysteme der UNO, haben aber zu ihrer Bevölkerung gar keine strukturelle Beziehung. Die Bevölkerung mit ihren verschiedenen Systemen auf Dorf- oder ethnischer Ebene existiert einfach neben dem Staat und hat mit ihm nichts zu tun. Aber zurück zur Wahl der richtigen Einheit oder Bezugsgröße: Hätten Parsons und Co. statt der Gesellschaft den Staat als übergeordnetes System gewählt, wäre auch ihr großes Problem mit der Systemgrenze und damit der Entwicklung (Evolution) von Systemen nicht aufgetaucht! Die Entwicklung eines Staates von seinen Anfängen bis zu seinem Untergang ist nämlich eindeutig feststellbar und hat natürlich überhaupt nichts mit seinem Grad an Differenziertheit zu tun. Ein Staat – nehmen wir das elisabethanische Großbritannien – mit funktionaler Differenzierung kann ohne Mühe in einen Staat mit funktionssystemspezifischer Kommunikation in Form binärer Codierungen, also in das heutige Großbritannien, übergehen, ohne dass dazwischen eine Systemgrenze entsteht oder im konkreten Falle entstanden wäre. Demgegenüber besteht aber durchaus eine Systemgrenze zwischen dem Staat Großbritannien und den übrigen Staaten oder, um von einem übergeordneten System zu sprechen, es bestand eine Systemgrenze zwischen dem Staat Großbritannien und der Europäischen Union. Die Gesellschaft mit ihren liminalen Anteilen an ihrem Rande ist also kein System, bringt jedoch immer wieder Systeme hervor, wie uns nicht zuletzt die Ritualtheorie gezeigt hat. Ein solches System war die Partei Die Grünen, die aus den liminalen Rändern der Gesellschaft der noch jungen Bundesrepublik Deutschland hervorging (Kap. 9). Aber auch die AfD, die Partei Alternative für Deutschland, ist ein solches System. Ursprünglich als tatsächliche Alternative für die Gegner des Euro von dem Professor für Volkswirtschaft Bernd Lucke gegründet, versammelte die Partei fast sofort alle mit der etablierten Politik Unzufriedenen und nach subjektivem Empfinden Abgehängten, die sich hier organisierten und unter großen Querelen Strukturen ausbildeten. In diesem Zusammenhang sind in der jungen und mir wegen ihrer menschenverachtenden und rechtslastigen Tendenzen höchst unsympathischen Partei vor allem die Normen und Werte

11  Alles Systeme – oder was?     283

noch umstritten, und damit ist die Struktur dieses noch recht neuen Systems immer noch instabil. Natürlich böte sich hier eine Analyse der AfD und ihrer Entstehungsgeschichte an. Da aber auch die Suche nach den verbindlichen Normen dieser Partei nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten verläuft – Gesetzmäßigkeiten, die Thema unserer vierten Theorie sind – verschieben wir die Diskussion auf später (Kap. 15)! Stattdessen wenden wir uns einem anderen, nicht weniger interessanten Thema zu: dem Islam.

Der Islam Um das Jahr 610 n. Ch. versammelte der Kaufmann Muhammad ibn ʿAbdallāh einen Kreis von Anhängern um sich, denen er ein ihm offenbartes Gotteswort predigte. Bei seinen Anhängern handelte es sich zunächst um seine nächsten Verwandten, aber auch um Personen aus den sozial schwachen Schichten der Stadt Mekka. Die soziale Atmosphäre in Mekka, einer Oasenstadt auf der arabischen Halbinsel, war rau. Stämme mit ihren Stammesführern und die Oberhäupter von Großfamilien (Geschlechter) beherrschten die Stadt nach Gutdünken und wie es ihre Macht gerade erlaubte. Wer hier keine einflussreiche Verwandtschaft und keinen soliden wirtschaftlichen Hintergrund hatte, war verloren. Vor allem Waisen, Sklaven oder Menschen ohne familiären Hintergrund und Beziehungen hatten es schwer in dieser materialistischen Ellbogengesellschaft, in der nur das Gesetz des Stammes galt. Statt eines unabhängigen Justizsystems herrschten das Prinzip der Blutrache und das Recht des Stärkeren, und die Handelskarawanen, die Quelle des mekkanischen Reichtums, konnten nur durch Tributzahlungen vor räuberischen Überfällen geschützt werden. Zwar gab es alte, polytheistische Gottesvorstellungen auf der Arabischen Halbinsel, und Mekka hatte mit der Kaaba und den darin verehrten Göttinnen sogar ein Heiligtum aufzuweisen, aber als moralische Instanz taugten diese Gottheiten genauso wenig wie als Garanten eines gemeinsamen Wertekonsenses. Muhammad, eine Waise, zählte selbst zu den liminalen Elementen in dieser Gesellschaft. Zwar genoss er durch seinen einflussreichen Großvater und anschließend durch einen Onkel einen gewissen Schutz und Protektion, aber als Mann ohne eigenes Vermögen – als Kind einer bereits bei der Niederkunft verwitweten Mutter war er nicht erbberechtigt – war seine Stellung solange prekär, bis ihm die Heirat mit einer wohlhabenden Kaufmannswitwe eine halbwegs gesicherte Position verschaffte.

284     I. Wunn

Der neue Prophet, der die Gleichheit aller Menschen vor Gott und vor allem auch vor einem Gesetz göttlichen Ursprungs forderte, genoss bald so hohe Reputation, dass er für die bisherige Willkürherrschaft der Stämme in Mekka eine Bedrohung darstellte. Entsprechend aggressiv reagierten sie auf die neue Religion und ihre Bekenner. Muhammads Anhänger sahen sich daher gezwungen, für eine Weile ins christliche Abessinien zu fliehen, bis man ihnen und ihrem Propheten eine sichere Heimat in der Oasenstadt Yathrib, dem heutigen Medina, anbot. Den Stammesoberhäuptern von Yathrib war in erster Linie darum zu tun, die ständigen Auseinandersetzungen zwischen den Stämmen in ihrer Stadt zu beenden, und Muhammad, der sich inzwischen den Ruf eines unbestechlichen, weil göttlichen Gesetzen gehorchenden Schiedsrichters erworben hatte, schien die geeignete Persönlichkeit zu sein. Muhammad und seine Anhänger verließen daher das ihnen feindlich gesinnte Mekka, siedelten nach Medina um und installierten dort das geoffenbarte religiöse Gesetz als Gemeindeordnung. Aus einer Stadt mit konkurrierenden Stämmen war nun eine Gemeinschaft, die umma, geworden. In dieser Gemeinschaft, die sich durch das Bekenntnis zum Islam deutlich von anderen Gemeinschaften abhob, galt zwar das Prinzip der absoluten Gleichheit aller Gläubigen, aber mit dem Propheten als Verkündiger des Gotteswortes und als Führer der umma hatte sich nun eine Führungsebene gebildet, in der die Gefährten des Propheten nach und nach bevorzugte Positionen einnahmen. Im Zuge erster kriegerischer Auseinandersetzungen, vor allem aber nach der Unterwerfung zunächst Mekkas und anschließend der Arabischen Halbinsel, konsolidierte sich die umma und bildete politische Hierarchien aus, die die Oberhäupter der zum Islam bekehrten Stämme einbezog. Rituale wie die jährliche Pilgerreise nach Mekka und das gemeinsame Gebet versicherten die Gemeinschaft immer wieder ihres Wertekonsenses. Aber nicht nur in ihrem Inneren hatte die umma Strukturen aufgebaut. Auch durch das Betonen eines Gegensatzes zwischen Gläubigen und Ungläubigen konnte die umma eine feste Systemgrenze zu ihrer Umwelt errichten, die aus der ursprünglichen Gruppe aus liminalen Elementen nun ein strukturiertes und stabiles System machte. Dieses System erwies sich als so tragfähig, dass es sogar die Querelen und internen Kämpfe überstand, die sich zuerst durch den Tod Muhammads, des Propheten, ergaben und die auch später immer wieder aufflammten. Anlass für die Auseinandersetzungen waren Fragen der Nachfolge; offiziell mit durchaus theologischem Hintergrund: Sollte der Geeignetste und der beste Muslim das Kalifenamt erben, oder sollte es ein Mitglied

11  Alles Systeme – oder was?     285

der Familie des Propheten sein, einer Familie, auf der ein erblicher Segen läge? Auch wenn diese theologische Frage die Gemüter der frühen Muslime intensiv bewegte, wissen wir als Kenner der Theorie vom egoistischen Gen, dass es letztlich um etwas ganz anderes ging, nämlich um die Alphastellung innerhalb des Systems, um die mit allen bekannten Mitteln gekämpft wurde. Es gab allerdings einen gewissen Vorteil aufgrund familiärer Dispositionen (wie bei den Hühnern): Die Nachkommen oder zumindest Verwandten des bisherigen Alphas, Muhammads, glaubten, allein aufgrund ihrer Familienzugehörigkeit einen Anspruch auf einen hohen Rang und möglichst die Alphaposition zu besitzen. Andere Prätendenten machten ihnen jedoch diesen Anspruch streitig. Durch kluge interne Allianzen, ein Netz von Unterstützern und nicht zuletzt durch simple Gewalt konnten sich langfristig Angehörige unterschiedlicher Großfamilien (zunächst der Umayyaden, dann der Abbasiden) durchsetzen und die Position des Kalifen einnehmen. Die zentrifugalen Kräfte im Inneren des Systems umma wurden durch das altbekannte Mittel des Rituals in Schach gehalten: Die Überlebensmaschinen egoistischer Gene, die zunächst auf ihren eigenen Vorteil bedacht waren und heftig um ihr Ranking kämpften, konnten durch Rituale mit Bezug auf die nicht mehr hinterfragbaren höchsten Werte, den Islam, immer wieder auf die Gemeinschaft eingeschworen werden. Mit der Zeit und vor allem mit den militärischen Erfolgen gewann der Islam immer mehr Anhänger. Das System Islam wuchs, und die zunehmende Größe erforderte seine weitere Differenzierung. Während zunächst der Prophet und nach ihm der Kalif die kontrollierenden Funktionen allein ausüben konnte, machte bald allein schon die Größe des Systems weitere kontrollierende Instanzen notwendig, die dem Kalifen unterstellt waren. Das waren zunächst die Statthalter der Provinzen, die sowohl für die Sicherheit und Ordnung im Kalifat als auch für die dauerhafte Anerkennung der ultimate values sorgten. Letzteres konnten sie schon bald nur noch mithilfe eines gelehrten Beraterstabes, aus dem dann nach und nach die Institution der Muftis hervorging: Bereits unter der ersten islamischen Dynastie, den Umayyaden (661–750) wurde der erste Mufti ernannt. Während der Kalif nominell Oberhaupt der muslimischen Welt blieb, zerfiel das Kalifat in politischer Hinsicht rasch, sodass die tatsächliche Macht schon bald in den Händen unterschiedlicher Fürsten lag. Allen war jedoch gemeinsam, dass sie sich als zur islamischen Welt gehörig betrachteten, und alle beriefen Muftis, also Rechtsgelehrte, die dafür sorgten, dass innerhalb der islamischen Welt ein gemeinsamer Wertekonsens erhalten blieb. Allerdings führte die politische Zersplitterung der islamischen Welt bald zur

286     I. Wunn

Herausbildung nationaler Muftiate, die ideologisch vor allem im Zeitalter des Nationalismus, also im 20. Jahrhundert, stark unter den Einfluss der jeweiligen Nationalstaaten und ihrer Politik gerieten. Dies wurde vor allem nach dem Ersten Weltkrieg und dem Untergang des Osmanischen Reiches bedeutsam, nachdem mit dem endgültigen Erlöschen des Kalifats 1924 auch das Amt des Scheich ül Islam endete, der letztlich die Oberhoheit in allen religiösen Angelegenheiten im riesigen Osmanischen Reich hatte. Um ihre religiösen Angelegenheiten zu klären und zu organisieren, führten etliche Nachfolgestaaten – zuerst das seit 1921 unter britischer Mandatshoheit stehende Palästina – die Institution des Obersten Islamischen Rates ein. Auf internationaler Ebene wurde 1931 zunächst ein allislamischer Kongress einberufen, der jedoch in erster Linie antizionistische politische Ziele verfolgte. 1962 machte die muslimische Welt einen erneuten Versuch, sich zusammenzuschließen: In Mekka wurde die Islamische Weltliga gegründet. Die stark unter saudischem Einfluss stehende und von saudischen Geldern finanzierte Islamische Weltliga bemüht sich um einen Konsens der Muslime sowohl hinsichtlich ihrer Glaubensgrundsätze und ihrer Haltung zu bestimmten Oberhäuptern islamischer Staaten als auch hinsichtlich der Koordinierung von Hilfsleistungen für Notleidende (da‘awa). Ist nun der Islam ein System? Immerhin fehlt ihm die feste Organisationsform als „Kirche“, bei der eine eindeutige Mitgliedschaft über die Zugehörigkeit entscheidet und damit eine klare Systemgrenze zur Umwelt, den Nichtmitgliedern zieht. Auch sind im Inneren zwar durchaus Strukturen vorhanden, denn es existieren ja Universitäten und Medresen, die in der ganzen Welt anerkannte religiöse Autoritäten hervorbringen. Es existiert (zumindest im sunnitischen Islam) jedoch keine Hierarchie aus Klerikern und Verwaltungsbeamten, die die höchsten kontrollierenden Funktionen des Systems wahrnehmen könnten. Es ist vielmehr so etwas wie der Konsens aller Gläubigen, der dem einen oder anderen Gelehrten eine herausragende Stellung beimisst und ihm damit eine gewisse Kontrollfunktion in Glaubensangelegenheiten bzw. in Fragen des islamischen Rechts zubilligt. Eine solche Figur ist zurzeit der in Ägypten geborene Jussuf ­al-Qaradawi (*1926), dessen Nähe zur Muslimbruderschaft (die sicherlich ein System ist) ihn zu einer auch unter Muslimen umstrittenen Persönlichkeit macht. Auch zeigt die Geschichte, vor allem die Entstehungsgeschichte des Islam, wie wir sie hier in eigentlich unzulänglicher Kürze umrissen haben, charakteristische Anzeichen für eine Systembildung. Wiederholen wir die Geschichte noch einmal unter systemtheoretischen Gesichtspunkten: Zu

11  Alles Systeme – oder was?     287

Beginn des 7. Jahrhunderts n. Chr. fanden sich auf der Arabischen Halbinsel Menschen vom Rande der Gesellschaft zusammen und forderten nicht weniger als eine neue, gerechte Ordnung. Dabei beriefen sie sich auf höchste Werte, wie sie aus anderen Ländern bekannt waren: aus Ländern, in die sie der Karawanenhandel geführt hatte. Diese höchsten Werte, die einem der Ihrigen exklusiv und speziell auf arabische Verhältnisse zugeschnitten noch einmal durch göttliche Offenbarung übermittelt worden waren, grenzten die neu entstandene Gruppe von ihrer Umwelt ab. Gemeinsame Rituale wie das Gebet schworen die Gruppe nun auf die höchsten Werte ein und schufen intern zunächst ein Gefühl absoluter Gleichheit – communitas wurde gelebt. Die Auswanderung nach Medina, die Hidschra (ein sinnstiftender Ursprungsmythos entstand!), versetzte das sich formierende System jedoch in eine neue Umwelt, die ein neues Verhalten erforderte. Dieses Verhalten klärte die Absichten und Ziele des sich nun formierenden Systems; es bildeten sich erste Strukturen. Das System, die junge umma, passte sich der neuen Umwelt an und richtete sich auf ein Ziel aus: ein gottgefälliges Leben zu führen. Das tat sie durch neue Offenbarungen, die das Miteinander regelten und für die Integration im Systeminneren sorgte. Gleichzeitig wurde die Systemgrenze deutlicher, die zwischen Gläubigen und Ungläubigen unterschied. Das System war nun die umma in Medina, und die Umwelt war zunächst das feindliche Mekka, nach der Eroberung Mekkas die feindliche Arabische Halbinsel. Mit dieser Umwelt kommunizierte man durch Handlungen und Kommunikation; im Fall des Islam waren diese Handlungen in erster Linie die erfolgreichen Feldzüge, die Kommunikation die ebenfalls erfolgreichen Verhandlungen. Die letztgültigen, nicht mehr hinterfragbaren Werte, die das System Islam charakterisierten und über gemeinsame Rituale immer wieder vergegenwärtigt wurden, betrafen jedoch nicht nur den Glauben, sondern erstreckten sich auf weit mehr, nämlich die gesamte Lebensweise der Muslime einschließlich ihrer politischen Organisation. Das System Islam war also recht bald schon ein religiöses und ein politisches System. Die sich weiterhin verändernde Umwelt, die nun aus den anderen großen politischen und politisch-religiösen Systemen der Zeit bestand, erforderte weitere Anpassung durch fortschreitende Differenzierung des Systems. Es bildete sich ein islamisches Rechtssystem aus, ein Verwaltungssystem, ein Militärsystem. Es war also nicht eine automatische, systemimmanente Dynamik, die zur weiteren Differenzierung des Systems führte, sondern es war ein entsprechender Druck von Seiten der Umwelt, auf den das System durch Anpassungsmaßnahmen reagieren musste. Dieses erfolgreiche und sich stetig wandelnde System schaffte die innere Integration unterschiedlichster

288     I. Wunn

ethnischer und sozialer Komponenten durch den gemeinsamen Wertekonsens, der durch Symbole und Handlungen immer wieder vergegenwärtigt und in den gemeinsamen Ritualen wie Gebet, Hadsch und Fasten verinnerlicht wurde. Das gut funktionierende System erhielt erste Risse, als es durch seine schiere politische Größe kaum noch funktionsfähig war. Auch hatte der Islam als politische Einheit inzwischen etliche Nichtmuslime integriert, hatte also die ursprüngliche Einheit von politischem und religiösem System aufgeben müssen. Politisch brach der Islam auseinander. Das heißt, dass aus dem religiös-politischen System Kalifat zunächst zwei Systeme, Staat und Religion, wurden, wobei aus dem politischen System Islam nach und nach verschiedene Staaten, d. h. politische Systeme mit unterschiedlichen politischen Zielen, entstanden. Das System Islam als Religion hatte aber weiterhin Bestand. Es definierte sich über eine Systemgrenze zur „ungläubigen“ Umwelt und behielt über seine Medresen (seine wissenschaftlichen Lehranstalten), sein allgemeinverbindliches, übernationales Recht, seine Pilgerstätten und Rituale und nicht zuletzt über das Arabische als gleichzeitig religiöse Sprache und lingua franca eine übergreifende Struktur bei. Erst als zu Beginn des 20. Jahrhunderts nationalstaatliche Ideen aufkamen, schien das System Islam sich zunehmend den nationalen, politischen Umwelten anzupassen. Allerdings war der Islam als Gesamtsystem so stabil und so anpassungsfähig, dass er auch hier angemessen reagieren konnte, indem er über religiöse Bruderschaften (Muslimbruderschaft), Orden (Naqschbandīya) und internationale Verbände neue innere Strukturen ausbildete, die seine Existenz als System auch unter den veränderten Bedingungen weiterhin sicherstellen. Der Islam ist also ein System. Was aber ist mit dem Islam in Deutschland? Die Geschichte des Islam in Deutschland ist rasch erzählt. Zwar gab es bereits vor dem Zweiten Weltkrieg erste muslimische Gemeinden, aber erst im Zuge der Arbeitsmigration wanderten Muslime in größerer Anzahl nach Deutschland ein. Da man zunächst davon ausgegangen war, dass es sich bei den Zugewanderten um Gastarbeiter handelte, die nach zwei oder vier Jahren wieder in ihre Heimat zurückkehren sollten, hatten sich weder das Gastland noch die Zugewanderten selbst Gedanken um ihre Religionsausübung gemacht. Selbst im Zuge des Familiennachzugs zu Beginn der 1970er Jahre machte sich der Staat, machten sich die Bundesländer eher Gedanken um muttersprachlichen Unterricht als um die Unterweisung in Religion oder um die Integration. Der Islam, die Muslime blieben also liminale Elemente am Rande der Gesellschaft. Diese liminalen Elemente, ein de facto

11  Alles Systeme – oder was?     289

marginalisierter Teil der Gesellschaft, fanden sich zusammen und gründeten erste Vereine – teilweise Moscheevereine, teilweise sogenannte Kulturvereine, in denen man die Erinnerung an die alte Heimat pflegte, in der man sich zur gemeinsamen Religionsausübung zusammenfand oder in denen man politische Ziele verfolgte, die jedoch vorwiegend um die Verhältnisse in der alten Heimat kreisten. Nach und nach entstand auf diese Weise noch in der alten Bundesrepublik Deutschland ein Netz von Vereinen, die jedoch in erster Linie durch die Beziehung zum Herkunftsland oder durch die Affinität zu einer ganz bestimmten Richtung des Islam geprägt waren. Erst als deutlich wurde, dass man dauerhaft in Deutschland bleiben würde, änderte sich die Zielrichtung dieser ersten Organisationen: Es ging jetzt weniger um die Beziehung zur alten Heimat und die dortigen Verhältnisse, sondern zunehmend um die dauerhafte Etablierung der eigenen religiösen Gemeinschaft inmitten des Kanons der in Deutschland ansässigen Religionen und ihrer Organisationen. In den 1980er Jahren war es dann so weit: Die zunächst versprengten Moscheegemeinden schlossen sich zu Dachorganisationen zusammen. Da gab es dann das VIKZ, die Jama’at-un Nur, die Millî Görüş und die Ahmadiyya und die allerdings direkt dem türkischen Innenministerium unterstellte DITIB, die alle bei den verschiedenen Landesregierungen vorstellig wurden. Man wollte einen Staatsvertrag, so etwas wie ein Konkordat, das der Staat ja schließlich mit den beiden Großkirchen auch abgeschlossen hatte. Die Landesregierungen wiederum zeigten sich verwirrt. Statt einer kirchenähnlichen Einrichtung präsentierten sich ihnen verschiedene Dachorganisationen, die alle für sich in Anspruch nahmen, den Islam in Deutschland zu repräsentieren. Die Bundesländer, selbst Systeme, denen es um die Integration ihrer einzelnen Elemente und damit auch der Muslime zu tun war, hätten einen solchen (vielleicht nicht ganz so weit gehenden) Staatsvertrag gern geschlossen, fanden jedoch kein den Kirchen vergleichbares Gegenüber, sondern nur eine Reihe von Dachorganisationen, die häufig selbst intern durch mancherlei Querelen gebeutelt waren. Diese Einwände trugen die Kultusministerien der Länder vor. Die Muslime versuchten darauf zu reagieren und Landesverbände zu gründen. Dies wiederum gestaltete sich mühsam, denn die letztlich dem türkischen Innenministerium unterstehende DITIB bekam aus Ankara ein definitives Nein zu hören. Ankara wollte selbst diesen Staatsvertrag mit dem Anspruch, dass die DITIB die einzig legitime religiöse Institution für die in Deutschland lebenden Muslime sei. Dies wollte wiederum der Staat nicht, denn wenn die DITIB bereits ein wohlintegriertes Subsystem des Systems türkischer Staat ist, kann das System deutscher Staat dieses Subsystem

290     I. Wunn

nicht wunschgemäß integrieren. Das fremde Subsystem würde dann stets die systeminternen Abläufe des Systems deutscher Staat stören, weil fremde Rückkopplungsmechanismen aus dem falschen System kämen. Die übrigen muslimischen Moscheegemeinden waren aber bereit und willig, sich zu organisieren, d. h. ein System zu bilden. Das taten sie, und schon bald entstanden Strukturen, die den Islam auf Länderebene repräsentieren sollten. Allerdings waren diese Strukturen oft wenig stabil oder von einer Gruppierung dominiert oder schlossen bestimmte islamische Richtungen wie Ahmadiyya oder Aleviten aus. Fazit: Ein wirkliches System deutscher Islam mit einer eindeutigen Systemgrenze nach außen und einer festen Struktur im Inneren konnte sich trotz verschiedener Ansätze bislang nicht bilden.

Zum Beispiel Parteien Auch Parteien sind natürlich Systeme. Sie sind autopoietisch, das heißt selbstorganisierend. Sie haben eine Systemgrenze, die sie von der Außenwelt abgrenzt. Sie haben überdies eine interne Organisation, eine Struktur, die das Ganze erst handlungsfähig macht. Da ist einmal die sogenannte Basis, bestehend aus den einfachen Parteimitgliedern. Diese Mitglieder wählen auf der Ebene der Ortsverbände sowohl die Kandidaten für Kommunal-, Landtags-, Bundestags- oder Europawahlen. Sie wählen aber auch die Delegierten, und diese vertreten das Parteivolk auf den Parteitagen der unterschiedlichen Ebenen. Auf den Parteitagen wiederum werden Anträge eingereicht, diskutiert und Beschlüsse gefasst, und diese Beschlüsse definieren über das bestehende Parteiprogramm hinaus die politischen Nah- und Fernziele der Partei. Auf den Parteitagen werden jedoch auch die Kandidaten für die Landes- oder Bundeslisten, die sogenannten Listenplätze möglicher Abgeordneter, aufgestellt und natürlich die Spitzenkandidaten und Parteivorsitzenden gewählt. Das, was hier nach einem klaren ­Bottom-up-Prinzip aussieht, ist in der Praxis oft eher ein Top-downAgieren. Intern bestimmen Parteivorstände als die Ausübenden höchster kontrollierender Funktionen des Systems sehr deutlich die Marschrichtung, und Vorsitzende mit Charisma können ungeachtet ihrer persönlichen Ziele oder tatsächlichen Leistungen von der Zustimmung der Delegierten als auch der Basis ausgehen. (Das System hat offensichtlich seine einzelnen Elemente bestens integriert.) So konnte zum Beispiel der FDP-Parteivorsitzende Philipp Rösler (wir haben ihn in Zusammenhang mit dem Sturz von Alphamännchen bereits ausführlich diskutiert; Kap. 5) der Unterstützung durch

11  Alles Systeme – oder was?     291

die Parteibasis über lange Zeit gewiss sein, auch wenn seine tatsächlichen politischen Leistungen hinter den Erwartungen zurückblieben (er konnte die Ziele des Systems nicht verwirklichen). Erst nach einem desaströsen Wahlergebnis zum Bundestag 2013 blieb auch intern der Applaus für den Vorsitzenden aus, und ein Konkurrent, Christian Lindner, übernahm. Hier hatte, mit den Worten der Systemtheorie gesprochen, die Kommunikation mit der Umwelt nicht mehr funktioniert. Die politische Botschaft, die die FDP zu verkünden hatte, ging offensichtlich an den Bedürfnissen und Wünschen des Wählers vorbei. Dadurch traten über Rückkopplungseffekte ernsthafte Störungen im System auf, die zwar nicht zum Systemtod, aber doch zu erheblichen internen Unruhen führten, die sich durch den Rücktritt Röslers und der Wahl Lindners zum Parteivorsitzenden jedoch rasch glätten ließen. Die obersten kontrollierenden Funktionen wirkten wieder, und damit funktionierte auch das System! Zuvor hatten die Rückkopplungseffekte im Inneren des Systems FDP die Partei einschließlich ihres Vorstandes, der Delegierten und der Basis in einem Zustand der Homöostase gehalten – das System war stabil, bis die verlorenen Wahlen deutlich machten, dass die Kommunikation mit der politischen Umwelt offensichtlich nicht klappte.

Literatur Flade M, Schwarz J (2013) Bestandsentwicklung von Vogelarten der Agrarlandschaft in Deutschland 1991–2010 und Schlüsselfaktoren. Tagungsband Fachgespräch „Agrarvögel – ökologische Bewertungsgrundlage für Biodiversitätsziele in Ackerbaugebieten“, 1.–2. März 2013, Kleinmachnow. Julius-Kühn-Archiv 442 Forsman JT, Mönkkönen M (2003) The role of climate in limiting European resident bird populations. J Biogeogr 30:55–70 Hoffmann ETA (1985–2004) Sämtliche Werke in sechs Bänden. Hg. von Hartmut Steinecke und Wulf Segebrecht. Frankfurt a. M. Langbein August Friedrich (1812) Die Weissagung. In Neuere Gedichte. J. G. Cotta, Tübingen Lessing, G. E. (1767/1768). Hamburgische Dramaturgie. Cramer, Hamburg Luhmann N (1984). Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Suhrkamp, Frankfurt am Main Parsons AT (1934) Society. In: International encyclopedia of the social sciences. Bd 14. The Macmillan Company, New York, S 225–231

292     I. Wunn

Peterson AT (2003) Projected climate change effects on rocky mountain and great plains birds: generalities of biodiversity consequences. Glob Change Biol 9:647– 655 Rumney Jay (2017) Herbert spencer’s sociology: a study in the history of social theory, to which is appended a bibliography of spencer and his work. Transaction Publishers, London Ryle Gilbert (1938) Categories. Proc Aristotelian Soc 38:189–206 Sauerbrei R, Ekschmitt K, Wolters V, Gottschalk TK (2014) Increased energy maize production reduces farmland bird diversity. Glob Change Biol Bioenergy 6:265– 274 Shelley M (2017) Frankenstein oder Der moderne Prometheus. Die Urfassung von 1818. Hrsg. von Alexander Pechmann. Manesse, München Spencer Herbert (1867) First principles. William and Norgate, London Spencer H (1996) Progress: Its Law and Cause. In: Spencer, Herbert: Essays: scientific, political and speculative. Bd 3. Routledge/Thoemmes, London [Nachdruck der Ausgabe von 1891] von Bertalanffy L (1932) Theoretische Biologie. Bornträger, Berlin von Bertalanffy Ludwig (1968) General System Theory. George Braziller, New York von Humboldt A (1803/1804) Tagebücher der Amerikanischen Reise IX. Varia: Obs. Astron. de Mexico a Guanaxuato … 27r. http://resolver.staatsbibliothekberlin.de/SBB0001527C00000000 Woinarski JCZ, Burbidge AA, Harrison PL (2015). Ongoing unraveling of a continental fauna: decline and extinction of Australian mammals since European settlement. PNAS 112(15):4531–4540 Wunn I (2018) Barbaren, Geister, Gotteskrieger. Wie wir uns die Evolution der Religionen vorstellen müssen. Springer, Heidelberg

12 Systemkontrolle, Rituale und Systemevolution

Evolution und Differenzierung? In diesem Kapitel soll es um ein heißes Eisen gehen: das Thema Evolution von Systemen. Inzwischen wissen wir, dass angefangen von Herbert Spencer, dem Geistesgiganten des 19. Jahrhunderts, über Talcott Parsons bis zum agenda-setter der Sozialwissenschaften Niklas Luhmann1 die sozialwissenschaftlichen Systemtheoretiker ihre Systeme evolvieren lassen wollten – und die Systeme sollten dies angeblich auf dem Wege der automatischen Differenzierung leisten. Ein Blick auf uns selbst als System falsifiziert jedoch diese Annahme sofort, denn der Vergleich unseres Konterfeis im Fotoalbum aus Jugendzeiten mit unserem heutigen Spiegelbild zeigt, dass wir eben nicht differenzierter, sondern trotz der kostspieligen Bemühungen unseres Schönheitschirurgen nur älter geworden sind (Abb. 12.1). Das Gleiche gilt für eine beliebige Zelle unseres Körpers: Auch sie wird nicht differenzierter und komplexer, sondern altert und wird irgendwann den Zelltod sterben. Mit Glück und entsprechend den Steuerungsfunktionen in unserem System Körper wird diese Zelle durch eine neu gebildete Zelle ersetzt werden, die jedoch nicht komplexer oder differenzierter als die ursprüngliche Zelle sein wird.

1Für

mein eigenes Fach, die Religionswissenschaft, möchte ich noch die Namen der hochkarätigen Wissenschaftler Robert Bellah und Günter Dux ergänzen, die jedoch hinsichtlich der Evolutionsmechanismen und der Systemgrenzen nichts Neues zu bieten hatten, sondern am Prinzip der Differenzierung und künstlichen Systemgrenzen festhielten.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Wunn, Vier Theorien, um die Welt zu beherrschen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61376-4_12

293

294     I. Wunn

Abb. 12.1  Der menschliche Körper als System. Er wird nicht differenzierter, sondern nur älter! (Foto: Bjarne Geiges)

Eine einzige Ausnahme gibt es, und zwar handelt es sich um die Zellen nach den ersten Teilungen der befruchteten Eizelle. Diese ersten Zellen sind noch omnipotent, und aus ihnen gehen im Zuge der Embryogenese dann alle die spezialisierten Zellen hervor, die später unser komplexes System Körper bilden werden. Genau dieser Vorgang war die Ursache eines großen Missverständnisses mit dem scheinbaren Ergebnis, dass Evolution immer Differenzierung und Höherentwicklung bedeuten müsse. Aber bekanntermaßen handelt es sich weder bei der Embryogenese noch bei der Weiterentwicklung einer Zelle oder eines Individuums um Evolution. Unsere Systeme erster (Zelle) oder zweiter (Individuum) Ordnung evolvieren also nicht, sondern entwickeln sich höchstens und altern dann. Im Zuge des Alterns zeigen sich dann allerdings gewisse Schwächen hinsichtlich der Steuerung des Systems; Fehler schleichen sich ein (Kopierfehler bei der Zellteilung, Schäden durch Krankheit, Unfall, Strahlung, Gifte usw.) und stören nach und nach die systeminternen Abläufe, bis schlussendlich das System nicht mehr funktioniert und zusammenbricht. Der Systemtod tritt ein. Evolution ist jedoch, wie wir in Zusammenhang mit unserer ersten Theorie gelernt haben, etwas ganz anderes. Evolution ist der bekannte Zwei-Stufen-Prozess aus Bereitstellung von Varietäten und der darauf einwirkenden Selektion. Dabei erfolgt die Herstellung der Varietäten blind durch die Zufallskombination des Erbgutes beider Eltern (Kap. 2). Wenn man von Evolution und ihren charakteristischen Leistungen spricht, braucht man also immer eine Vielzahl von Entitäten, die durch Rekombination interner Informationen (der genetische Code ist nichts anderes als Information) diejenigen Varietäten bilden, auf die dann die Selektion

12  Systemkontrolle, Rituale und Systemevolution     295

e­inwirken kann. Die Rekombination interner Informationen ist natürlich bei Lebewesen die Rekombination des elterlichen genetischen Materials.2 Eine solche Vielzahl von Entitäten, die miteinander im Wettbewerb stehen, haben aber unsere Systeme nicht. Ich zumindest würde mich schön bedanken, wenn meine Hirnzellen in energischem Wettbewerb um Ressourcen mit meinen Darmzellen konkurrierten. Im Gegenteil besteht ja das System zwar aus verschiedenen, aber fein aufeinander abgestimmten Komponenten, aufgrund derer das System überhaupt erst ein System bildet. Das System ist also ein Einzelnes, eine in sich abgeschlossene, aber in Wechselbeziehung mit der Umwelt stehende Entität; im Falle unseres Körpers ein einzelnes Individuum, im Falle eines sozialen Systems ein einziger organisierter Komplex von Individuen oder Subsystemen. Auch bei einem System dritter Ordnung, also bei einem sozialen System, stehen die einzelnen Komponenten nicht in Konkurrenz zueinander, sondern in dem wohlbekannten Systemzusammenhang mit Selbstorganisation, Integration und Rückkopplung (und genau deshalb klappt es innerhalb von Systemen auch mit dem Wettbewerb nicht). Fazit: Auch ein System dritter Ordnung, ein soziales System, kann nicht evolvieren, sondern kann sich nur entwickeln, verändern und altern. Und wie das funktioniert – die Differenzierung haben wir als Mechanismus ja bereits eliminiert –, wollen wir uns jetzt anschauen.

Die kontrollierenden Funktionen des Systems Zu diesem Zweck werfen wir noch einmal einen Blick auf ein afrikanisches Volk, die Nuer. Die Nuer leben teilweise bis heute halbnomadisch in den Savannen Südsudans und Westäthiopiens vom Ackerbau, dem Fischfang und der Rinderzucht. Das Savannenklima mit seinen jährlichen Regenund Trockenzeiten zwingt den Nuern einen bestimmten Lebenszyklus auf: Nur während der Regenzeit ist Ackerbau möglich; in der Trockenzeit zieht man dagegen zum Fischfang an den Weißen Nil und seine Nebenarme. Die Milch der Kühe ist ganzjährig verfügbar und eine wichtige Eiweißquelle. Auch das Fleisch der Tiere wird genossen, allerdings nur selten, denn eine große Herde zu besitzen, ist das Ziel aller Nuer-Familien, und nur unter

2Ich

habe mich hier nur neutral ausgedrückt, weil man die Evolutionstheorie natürlich auch als universale Theorie formulieren kann, und die kann man dann durchaus auch auf andere Bereiche übertragen, wie ich es bei Religionen schon getan habe.

296     I. Wunn

ganz bestimmten Umständen wird ein Tier, meist ein Ochse, geschlachtet und von der gesamten Dorfgemeinschaft verzehrt. Diese ganz bestimmten Umstände bedürfen einer näheren Erklärung. Die Nuer sind in politischer Hinsicht eine akephale, segmentäre Gesellschaft. Akephal meint, dass es keine wie auch immer geartete Regierung gibt – die Nuer leben in einer funktionierenden Anarchie. Segmentär meint, dass die Gesellschaft in Segmente eingeteilt wird, deren unterste Ebene die der Dorfgemeinschaften ist. Mehrere Dorfgemeinschaften finden sich dann möglicherweise zu größeren Einheiten, den tertiären Elementen, zusammen, die dann wiederum sekundäre und primäre Segmente bilden können. Die Primärsegmente wiederum bilden zusammen den Stamm, der jedoch nur dann als Einheit erscheint und handelt, wenn Konflikte mit anderen Stämmen auftreten. In sozialer Hinsicht sind die Nuer in patrilineare Abstammungslinien gegliedert, die sich jeweils auf einen gemeinsamen Ahnen zurückführen. Die kleinste Einheit einer solchen lineage, so der Fachausdruck, ist die Familie. In den Dörfern leben immer Angehörige verschiedener lineages zusammen. Diese Durchmischung ist letztlich auch eine Folge der Heiratsregeln, die bestimmen, dass nur Angehörige unterschiedlicher lineages heiraten dürfen (Exogamiegebot). Die Gemengelage aus sozialer und politischer Organisation wiederum führt zu ganz bestimmten Konfliktlösungsstrategien, die uns aus dem biologischen Kontext bereits bekannt sind. Dazu zunächst eine kleine Rekapitulation der bisherigen Erkenntnisse: Die Überlebensmaschinen egoistischer Gene werden immer egoistisch oder zum Wohle ihrer nächsten Blutsverwandten handeln. Alle Personen, die nicht Träger desselben genetischen Materials sind, sind Konkurrenten um mating-Partner, Nahrung, Wohnraum und Besitz und daher Ziel von Aggressionen. Da der Mensch und damit auch der Nuer aber als wenig wehrhafte Spezies kaum allein überleben kann und zumindest während der Paarungszeit seine Aggressionen überwinden muss, kennt die Verhaltensbiologie das ritualisierte Verhalten, das ein Zusammenleben überhaupt erst ermöglicht. Beim Menschen als Kulturwesen hat sich das ritualisierte Verhalten zu regelrechten Ritualen entwickelt, die über Symbole, Sprache und Handlungen immer dieselbe Botschaft vermitteln und damit bestimmte Antworten und Reaktionen geradezu triggern. Diese Botschaften berufen sich immer auf die letztgültigen und nicht mehr hinterfragbaren Werte der jeweiligen Gemeinschaft, auf ihre ultimate values. Um diese ultimate values geht es auch bei den Nuern, wenn das Zusammenleben gefährdet ist. Da die Nuer als akephale und segmentäre Gesellschaft, also als Gesellschaft ohne Herrschaft und ohne Hierarchien, weder Legislative, Exekutive oder Judikative haben, müssen sie ihre

12  Systemkontrolle, Rituale und Systemevolution     297

Konflikte anders lösen, und das tun sie über das Ritual. Auch hier stehen dann die letztgültigen Werte im Mittelpunkt, auf die die Ritualteilnehmer eingeschworen werden. Diese letztgültigen Werte, die von der Religion der Nuer repräsentiert werden, bedürfen noch einer kurzen Betrachtung: Die Nuer glauben an einen Hochgott. Zwar existieren in der Nuer-Religion zusätzlich mindere Gottheiten und Geistwesen, die für ­ unsere hiesigen Betrachtungen jedoch nicht von Belang sind. Dagegen spielt der Hochgott, Kwoth, eine wichtige Rolle. Er ist nämlich, genau wie der Gott des Alten Testaments, der Schöpfer der Welt und gleichzeitig der Vater und Beschützer der Menschen. Er wohnt im Himmel und ist doch gleichzeitig überall auf der Welt gegenwärtig, ist allmächtig und allwissend. Vor allem ist er aber auch oberste moralische Instanz. Als Schöpfer der Menschen, ohne dessen Wille kein Unglück geschieht und niemand zu Tode kommt, fordert er das friedliche Zusammenleben der Nuer und wird denjenigen zur Rechenschaft ziehen, der gegen seine Gebote verstößt. Natürlich kommt es im Zuge des alltäglichen Zusammenlebens immer wieder einmal zu Konflikten, die dadurch bereinigt werden, dass einem eventuell Geschädigten sein Verlust ersetzt wird. Dieses Prinzip gilt letztlich auch dann, wenn Blut vergossen, im schlimmsten Falle auch, wenn jemand getötet wird. Auch hier wird zunächst der materielle Verlust ersetzt. Stirbt beispielsweise nach einer tätlichen Auseinandersetzung einer der Beteiligten an den Folgen seiner Verletzungen, muss die Familie des Totschlägers eines ihrer Kinder an die Familie des Getöteten übergeben. Das Kind gilt nun und sieht sich auch selbst als Mitglied der Familie des Opfers. Der weltliche Schaden ist damit behoben, nicht jedoch der Verstoß gegen das göttliche Gesetz. Da Kwoth als Schöpfer auch Eigentümer aller Menschen ist, hat der Totschläger mit seinem Verbrechen auch Gott einen Schaden zugefügt, und auch hier gilt es, einen Ausgleich zu schaffen. Dies geschieht durch ein Opfer. Der Totschläger bzw. seine Familie wird im Rahmen eines Rituals einen Ochsen schlachten. Dieser Ochse gilt als alter ego seines Besitzers. Mit dem rituellen Schlachten des Ochsen, also mit dem Vergießen des Blutes des Tieres, wird daher symbolisch das Blut des Delinquenten vergossen, und auf diese Weise wird Kwoth das Blut, das man ihm durch den Totschlag genommen hat, wieder zurückerstattet. So weit der religiöse Hintergrund. Für die Gemeinschaft jedoch gilt, dass während des Rituals mit seiner Beschwörung der letztgültigen Werte eine erschütterte und dadurch fragil gewordene Gemeinschaft wieder zusammengefügt wird, sodass sie als Gemeinschaft wieder Bestand hat. Ein großes Festmahl, an dem das Fleisch des Ochsen gemeinsam verzehrt wird, besiegelt das Ritual (ausführlich in Evans-Pritchard 1956) (Abb. 12.2).

298     I. Wunn

Abb. 12.2  Traditionelles Opferritual bei den Nuern. (© John Heeneman/picture alliance)

Die Gemeinschaft löst und vermeidet also ihre Konflikte mithilfe des Rituals, letztlich also mit ritualisiertem Verhalten. Dies tut sie allerdings nicht nur bei den Nuern, sondern auch in unserer heutigen stratifizierten Gesellschaft. Auch bei uns werden Konflikte mithilfe eines Rituals gelöst! Nehmen wir einen Mordfall, den Mordfall Daniel H., über den das ZDF online wie folgt berichtet: „Alaa S. sitzt seit einem Jahr in der JVA Waldheim in Untersuchungshaft. Der 23-jährige Syrer bestreitet im Interview, Daniel H. in der Nacht zum 26. August 2018 in Chemnitz erstochen zu haben. Er sei aus einem Döner-Imbiss hinausgelaufen, weil er Rufe gehört habe. ‚Ohne hinter mich zu gucken, bin ich einfach so mit denen abgehauen. Und dann kommt die Polizei und fasst nur uns beide‘, berichtete Alaa S. gegenüber Frontal 21. Der gemeinsam mit Alaa S. festgenommene Yousif A. wurde wenig später aus Mangel an Beweisen wieder freigelassen. Ein weiterer Tatverdächtiger, Farhad A., ist untergetaucht und flüchtig. Alaa S. beteuert, an der Tötung Daniel H.s nicht beteiligt gewesen zu sein: ‚Ich schwöre bei meiner Mutter, ich habe ihn nicht angefasst. Ich habe überhaupt nicht das Messer angefasst.‘ Alaa S. hat bisher im Prozess zu den Vorwürfen geschwiegen. Alaa S. sagte im Gespräch mit Frontal 21, dass er nach einem Jahr Untersuchungshaft kaum noch an ein faires Urteil glaube. ‚Ich habe Angst vor jedem hier, ich habe Angst vor den Mitgefangenen, ich habe Angst vor den Beamten. Ich habe sogar Angst vor dem Gericht.‘ Tatsächlich lastet auf den Prozessbeteiligten ein großer Druck. So hatte die Bürgermeisterin von Chemnitz, Barbara Ludwig (SPD), gesagt, sie hoffe auf eine Verurteilung, ‚damit die Angehörigen Ruhe finden

12  Systemkontrolle, Rituale und Systemevolution     299

können‘. Der Tod von Daniel H. hatte Chemnitz international in die Schlagzeilen gebracht, weil bei Demonstrationen und sogenannten Trauermärschen Rechtsextreme Hitlergrüße zeigten, die Polizei und Gegendemonstranten angegriffen. Alaa S. hofft, dass das Gericht sich davon nicht leiten lässt: ‚Wir sind nicht in Syrien oder in Afghanistan oder im Irak. Ich bin in Deutschland, in einem demokratischen Land.‘ Die Wahrheitsfindung müsse an erster Stelle stehen. Am Montag hatte die Staatsanwaltschaft eine hohe Freiheitsstrafe für den Angeklagten gefordert. In seinem Plädoyer beantragte Anklagevertreter Stephan Butzkies eine Gesamthaftstrafe wegen Totschlags und gefährlicher Körperverletzung von zehn Jahren. Die Höchststrafe bei Totschlag beträgt 15 Jahre. Die Staatsanwaltschaft stützt sich im Wesentlichen auf die Aussagen eines ehemaligen Angestellten eines Döner-Ladens. Der hatte zunächst berichtet, dass er den Angeklagten aus einem Fenster des Imbisses am Tatort gesehen habe, wie er mit schlagenden oder stechenden Bewegungen auf das Opfer eingewirkt habe. Bei späteren Vernehmungen und auch vor Gericht wurden seine Aussagen zunehmend unpräziser. Im Laufe des Prozesses wurde klar, dass die Polizei keinerlei Spuren von Alaa S. an der Tatwaffe finden konnte. Es fehlen auch DNA-Spuren des Täters am Opfer. Für einige Prozessbeobachter bestehen Zweifel, ob mit Alaa S. der Richtige auf der Anklagebank sitzt. […] Am Donnerstag will die Schwurgerichtskammer des Landgerichts Chemnitz das Urteil sprechen in einem Fall, der Chemnitz aufgewühlt und dessen Folgen Deutschland aufgeschreckt haben.“ (Ginzel und Stoll 2019).

Inzwischen, am 22. August 2019, ist Alaa S. übrigens für schuldig befunden und zu neun Jahren Haft verurteilt worden. Es geht uns hier nicht um die Aussage des Angeklagten und ihren Wahrheitsgehalt, und es geht auch nicht um das Verbrechen selbst, sondern es geht uns um die Art und Weise, wie Gesellschaft mit einem solchen Verbrechen umgeht. Dabei hilft der Vergleich mit den Nuern. In einer Stadt, die wegen ihrer sozialen Unruhen traurige Berühmtheit erlangt hat, hat sich ein Mord ereignet. Dieser Mord spaltet die Einwohnerschaft der Stadt, die wegen ihrer Haltung zu Flüchtlingen und Zuwanderung sowieso schon zerstritten ist, zusätzlich. Die Gesellschaft ist in Aufruhr! Eine explosive Stimmung hat sich breitgemacht, Demonstranten treten auf und posieren dabei mit Symbolen, die nach allgemeinem Verständnis den Staat, also das System, infrage stellen. Das System bedarf also dringend der Konsolidierung. Für solche Fälle hat das System ein allgemein anerkanntes und akzeptiertes Reglement: das Gerichtsverfahren. Zunächst kommen Staatsanwaltschaft und Polizei zum Einsatz, die in dem Mordfall ermitteln. Ein Verdächtiger wird festgenommen. Dieser Verdächtige wird einem Untersuchungsrichter vorgeführt, der in diesem Falle Untersuchungshaft anordnet. Der Verdächtige wird damit aus der Gesellschaft entfernt. In

300     I. Wunn

der Haft ist er in einem Zwischenstadium, irgendwo betwixt and between, (trotz der Unschuldsvermutung) kein unbescholtener Bürger, aber auch kein verurteilter Straftäter. Nach einer gewissen Zeit wird das eigentliche Verfahren eröffnet. Das Gericht tritt zusammen, der Fall wird vorgetragen, Zeugen werden vernommen und werden vereidigt – die ultimate values, eine Gemengelage aus aufklärerischen und christlichen Werten, kommen ins Spiel. Die Staatsanwaltschaft und die Verteidigung tragen ihre Argumente vor. Schließlich kommt das Gericht zu einem Urteil – schuldig oder nicht schuldig – und bestimmt im Falle eines Schuldspruchs das Strafmaß. Das Urteil wird im Namen des Volkes verkündet. Damit ist der Angeklagte entweder freigesprochen und verlässt das Gericht wieder als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft. Die Gesellschaft ist versöhnt! Oder aber er wird verurteilt und muss eine Haftstrafe verbüßen. In diesem Falle wird er rituell in die Gruppe der Strafgefangenen überführt. Damit ist das Übergangsritual, denn genau darum handelt es sich, beendet. Der Konflikt wurde ausgeräumt, und die Gemeinschaft von Überlebensmaschinen egoistischer Gene funktioniert wieder. Dass wir mit dieser ritualistischen Deutung des Geschehens nicht falsch liegen, zeigen nicht nur die wissenschaftlichen Arbeiten kluger Kollegen, sondern auch die Äußerung der Chemnitzer Bürgermeisterin: Sie hatte auf eine Verurteilung gehofft, „damit die Angehörigen Ruhe finden können“. Vermutlich meinte sie jedoch eigentlich, „damit die Stadt Ruhe finden kann“. Eine aufgewühlte Gemeinschaft braucht eben das Ritual, das gemeinsame Eingeschworenwerden auf die höchsten Werte der Gemeinschaft, um mit einer solch massiven Störung fertigzuwerden. Das geht so weit, dass die Gemeinschaft die Verurteilung eines Unschuldigen einer Wahrheitsfindung ohne Schuldigen vorzieht, wie die immer wieder gefällten Fehlurteile deutlich machen. Zum Beispiel war der geistig behinderte Gastwirtsohn Ulvi K., der wegen Mordes an einem kleinen Mädchen zunächst verurteilt, dann aber in einem Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen wurde, so ein Fall (ntv.de, AFP 2016). Andere Gesellschaften, wie zum Beispiel der jüdische Staat zur Zeit des Zweiten Tempels (bis 70 n. Chr.) übertrugen aus genau diesem Grunde sogar die gesamten Verfehlungen ihrer Mitglieder an einem bestimmten Tag im Jahr, dem Jom Kippur, auf einen Bock, der in die Wüste gejagt und dann über eine Klippe gestoßen wurde. Dieses rituelle Opfer, das Töten eines Lebewesens als Ersatz für die Bestrafung möglicher Missetäter, hatte für die gesamte Gemeinschaft eine kathartische Funktion. Verstöße gegen das religiöse Gesetz (ultimate values), das gleichzeitig das Gesetz der politischen

12  Systemkontrolle, Rituale und Systemevolution     301

Einheit und damit des Systems war (der jüdische Staat war zu dieser Zeit eine Provinz des persischen Großreiches bzw. anschließend seiner Nachfolgestaaten), mussten geahndet werden, um den Zusammenhalt der Gesellschaft, das Funktionieren des Systems Staat, zu gewährleisten. Man geht nicht unbedingt fehl, wenn man annimmt, dass es sich bei Ulvi K. um einen solchen Sündenbock gehandelt hat, dessen Verurteilung hauptsächlich den Zweck verfolgte, eine aufgebrachte und zutiefst verstörte Gemeinschaft zu beruhigen und eventuelle Risse und Brüche zu kitten.

Das System Staat und das Recht Ein System dritter Ordnung, das gesellschaftliche System, konstituiert sich also nicht nur über das Ritual, wie wir ja letztlich am Ende von Kap. 9 bereits festgestellt haben, sondern auch innerhalb funktionierender Systeme spielt das Ritual weiterhin für das reibungslose Funktionieren des Systems die entscheidende Rolle. Treten in einem System Störungen auf, muss das System reagieren und die Systemfehler reparieren. Dazu hat das gesellschaftliche System genau wie unser System Körper bestimmte Mechanismen ausgebildet, die meistens sicher funktionieren. Während unser System Körper beispielsweise eine Wunde verschließt, indem es neues Bindegewebe und neue Epithelzellen bildet oder im Falle einer Infektion Lymphozyten den Eindringlingen den Garaus machen, greift das gesellschaftliche System zu einer anderen Waffe: zum Ritual. In einer segmentären Gesellschaft ist dieses Ritual auch für den Laien ganz leicht zu erkennen. Es wird getrommelt, es wird möglicherweise getanzt, es werden vielleicht heilige oder bedeutsame Gegenstände gezeigt, es werden wichtige, altüberlieferte Worte gesprochen und Handlungen ausgeführt. Alles das findet in einem besonderen, in einem festlichen und heiligen Rahmen und auf einem eigens dafür vorbereiteten Platz statt, sodass völlig außer Frage steht, dass es sich hier um ein nicht alltägliches Ereignis handelt. Da Bilder von exotischen Ritualen bis hin zu den ausgefeilten Riten im religiösen Kontext gemeinhin die Vorstellung von Ritualen geprägt haben, ist es nicht immer ganz einfach, die deutlich weniger aufregenden Rituale in unserem heutigen Alltag zu erkennen. Ein genauerer Blick zeigt allerdings rasch die Übereinstimmungen. Im Falle eines Konfliktes, der auf der persönlichen Ebene nicht gelöst werden kann (ich erinnere an das ritualisierte Verhalten zwischen Nachbarn trotz der Verletzung territorialer Grenzen durch wuchernden Knöterich!), kommt ein Ritual ins Spiel, bei dem allerdings inzwischen eine regelrechte Institution, nämlich das Gericht,

302     I. Wunn

die Schlichtung des Streites übernimmt. Auch hier folgt man einem festgelegten und bedeutungsschweren Ablaufplan, der erfordert, dass die Konfliktparteien vor Gericht, einem besonderen, als bedeutungsvoll gekennzeichneten Platz, ihre Standpunkte vortragen. Das Gericht wird dann über den Fall beraten, wobei es die ultimate values des Systems, des Staates, beschwört und zur Grundlage seiner Entscheidung macht. Zum Schluss wird es ein Urteil fällen – im Namen des Volkes. Der Streit ist damit rituell beigelegt, eine dauerhafte Störung im System vermieden. In schwerwiegenden Fällen, in denen es nicht nur um private Konflikte, sondern um schwere Eingriffe in das System selbst geht, wird das System in eigener Sache aktiv: Ein Staatsanwalt ermittelt und klagt an, und der Richter fällt letztlich nach Abwägen aller Erkenntnisse und Argumente ein Urteil. Das alles findet im oben geschilderten streng ritualisierten Rahmen statt. Es gibt einen besonderen, nur diesen Ritualen vorbehaltenen Ort, nämlich den Gerichtssaal, es gibt die besonderen, extra für gerichtliche Verfahren initiierten Personen, als da sind Richter und Anwälte, es gibt einen rituellen Wechsel von Rede und Gegenrede, es gibt die Sacra (die heiligen Zeichen, die die ultimate values repräsentieren), hier das Gesetz, und den festgelegten, ritualisierten Ablauf. Das System Staat, das durch einen Mord, Raub, Brandstiftung, Landesverrat oder durch ein Attentat gestört und in seinem Funktionieren kurzfristig beeinträchtigt wurde, hat sich über ein Ritual, in diesem Falle das Gerichtsverfahren, selbst geheilt und dabei noch einmal alle Teilnehmenden auf die Normen und Werte der Gemeinschaft eingeschworen. Besonders deutlich wurde diese Selbstheilung des Systems Staat im unlängst mit einem Schuldspruch beendeten NSU-Prozess, in der sich Beate Zschäpe, Gefährtin der durch Selbsttötung verstorbenen Haupttäter Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, wegen Mittäterschaft an zahlreichen Morden, versuchten Morden, Brandstiftung und Attentaten verantworten musste. Die toten Attentäter und die Angeklagte gehörten mit weiteren Helfern zur rechtsradikalen Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund, deren Morde und Terrorattacken sich gegen diejenigen Bürger des Systems Deutscher Staat richteten, die einen Migrationshintergrund aufzuweisen hatten. Grund für ihre Morde und Attentate seien, so ein Anwalt Zschäpes, die Angst vor dem „Volkstod“ der Deutschen gewesen. (Ganz ehrlich: Mit Figuren wie Zschäpe, Mundlos und anderen Rechtsradikalen wie Björn Höcke möchte ich kein Volk bilden!) In einem groß angelegten Prozess, also einem Ritual riesigen Ausmaßes, an dem über fünf Jahre mehr als 24.000 Besucher, fünf Richter, drei Ergänzungsrichter, die Bundesanwaltschaft, 14 Verteidiger sowie 95 Nebenkläger plus deren Anwälte

12  Systemkontrolle, Rituale und Systemevolution     303

teilnahmen, ging es aus juristischer Sicht um Sühne für die begangenen Straftaten. Aus ritualtheoretischer Sicht aber geht es um viel mehr, nämlich um die Konsolidierung des Systems deutscher Staat, das durch die Ansprüche von Bürgern mit Migrationshintergrund dazuzugehören und durch deren Ablehnung auch mithilfe von Gewalt durch eine rechte Szene schwer geschädigt worden war. Das Gerichtsverfahren, in dem Zschäpe und ihre Unterstützer verurteilt wurden, galt daher nicht zuletzt der Beschwörung der ultimate values dieses Staates, und diese ultimate values sind die Grundsätze, die im Grundgesetz fixiert sind und die Benachteiligung von Menschen nicht deutscher Abstammung kategorisch ausschließen. Vorläufig hat das Ritual des Prozesses seinen Zweck erfüllt. Die Gefährder des Systems Staat konnten durch Selbstheilungskräfte (wenn wir den Vergleich mit dem System Lebewesen hier wagen wollen) bzw. über die Kontrollfunktionen des Systems ausgeschaltet werden. Allerdings handelt es sich wohl nur um einen kurzfristigen Erfolg, denn der eigentliche Konfliktherd, der Widerstand aus dem Systeminneren gegen Zuwanderer, ist ja leider auch nach dem Prozess nicht beseitigt. Da aber auch ein soziales System immer aus Menschen besteht und diese Menschen die Überlebensmaschinen egoistischer Gene sind, die wiederum stets befürchten, durch konkurrierende Überlebensmaschinen an den Rand gedrängt zu werden, werden Konflikte um die Verteilung von Ressourcen auch fürderhin innerhalb des sozialen Systems Staat nicht ausbleiben. Es bedarf also weiterer Rituale, und zwar möglichst solcher Rituale, die sich idealerweise auf einen allgemeinen Wertekonsens mit sinnstiftendem Ursprungsmythos beziehen – wie in den Vereinigten Staaten von Amerika den Mythos Abraham Lincoln und ein weiteres mächtiges Symbol, die Freiheit, die in der Freiheitsstatue bildlichen Ausdruck gefunden hat. Dennoch können wir festhalten: Das Ritual des Gerichtsverfahrens konnte das System stabilisieren, und dies gelang, weil die ultimate values, auf die sich das Verfahren berief, von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung geteilt werden. So anders als in den USA sind unsere ultimate values eigentlich gar nicht: Das deutsche Recht beruht nämlich – und damit hat es ein Alleinstellungsmerkmal – auf der Rechtsphilosophie der Philosophen Immanuel Kant (1724–1804) und Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831), die die Freiheit des Individuums zur rechtsphilosophischen Grundlage ihrer Überlegungen machten. Die ultimate values, für die dieses Recht steht, sind also die Freiheitsrechte der Bürger. Diese Freiheitsrechte eines jeden Einzelnen sind ihrerseits unvereinbar mit rassistischen Ideologien, die die fragwürdige

304     I. Wunn

Überlegenheit bestimmter ethnischer Zugehörigkeit in das Zentrum ihres Wertekanons stellen. So viel dazu! Aber: Nicht immer gelingt dem Ritual die Stabilisierung eines bestehenden Systems.

Luther und der Reichstag zu Worms Im 16. Jahrhundert zum Beispiel führte ein ganz großes Ritual zu einer Erschütterung, die ein politisches System, einen Staat, ins Wanken brachte und zu grundsätzlichen Veränderungen in seiner Struktur führte. Was war geschehen? Martin Luther, Mönch und seit 1513 Professor der Theologie an der Universität Wittenberg, hatte 1517 nach guter akademischer Tradition eine Reihe von Disputationsthesen an der Tür der Schlosskirche zu Wittenberg angeschlagen, in denen es theologisch um die Frage der justitia dei, ­ethisch-praktisch jedoch um den florierenden Ablasshandel der katholischen Kirche durch den besonders gierigen und ehrgeizigen Erzbischof von Mainz ging (hier wollte die Überlebensmaschine egoistischer Gene unbedingt eine Alphaposition!). Luthers Ideen, die nicht nur theologisch brisant waren, sondern vor allem auch sozialen und politischen Sprengstoff enthielten, wurden zunächst in einem geistigen und sozialen Umfeld populär, in dem man mit der scholastischen Theologie der etablierten Kirche nichts mehr anzufangen wusste und in dem überdies volksnahe Schwärmer und Enthusiasten regen Zulauf hatten. Andreas Bodenstein, genannt Karlstadt (1486–1541), ebenfalls akademischer Lehrer an der Universität Wittenberg und zeitweise Anhänger radikaler Ideen, hatte die neue Wittenberger Lehre bereits innerhalb der akademischen Welt bekannt gemacht: Luthers Lesart des Kirchenvaters Augustinus, nach dem der Mensch kraft eigener Willensanstrengung nichts zu seinem Heil beitragen könne, sei richtig! So war die Öffentlichkeit bereits vorbereitet, als Nachdrucke von Luthers Sermon von Ablass und Gnade sowie eine inhaltsgleiche Erläuterung für Theologen seine theologischen Ansichten und Argumente publik machte. Während eine erste, für Luther ungemein erfolgreiche Disputation seiner Thesen vor einem Heidelberger Universitätsforum noch im üblichen universitätsinternen Rahmen blieb, hatte Luthers Ablasskritik wegen der öffentlichen Aufmerksamkeit für den streitbaren Gelehrten Rom erreicht und dort eine Anklage wegen Häresie provoziert. Luthers Vorstellungen stellten nämlich das System infrage; die alte Doppelspitze von Kaiser und Papst, in deren Händen die Herrschaft über die bekannte Welt lag. Anders

12  Systemkontrolle, Rituale und Systemevolution     305

ausgedrückt: … die die kontrollierenden Funktionen des Systems innehatten und dessen Spitze verkörperten. Gleichzeitig standen Kaiser und Papst auch für die ultimate values des Systems: Man berief sich auf das Christentum nicht nur als Grundlage des Glaubens, sondern auch als Grundlage des Weltbildes einschließlich der damit verknüpften Herrschaftsansprüche. Und nach diesen Herrschaftsansprüchen war der Kaiser letztlich der Nachfolger des römischen Imperators und damit von Gott eingesetzt, während der Papst als Nachfolger des Apostels Petrus Jesu Stellvertreter auf Erden sein sollte. Alles das stellte Luther mit seiner Kritik an der kirchlichen Ablasspraktik infrage. Das System verzeichnete eine empfindliche Störung! Der weitere Verlauf der Geschichte ist bekannt: Luther, der an Rom ausgeliefert werden sollte, wurde durch das Eingreifen seines Landesherrn, des Kurfürsten von Sachsen, stattdessen am Rande des Reichstages zu Augsburg 1518 durch Kardinal Cajetan verhört, verweigerte den Widerruf seiner Thesen und wäre verhaftet worden, wenn er nicht vorzeitig im Geheimen abgereist wäre. Die Reichstage waren deshalb so wichtig, weil sie als Nachfolgeeinrichtung der alten kaiserlichen Hoftage die Versammlungen der Stände des Heiligen Römischen Reiches und damit das politische Gegengewicht zur Zentralgewalt des Kaisers darstellten. Die Reichstage waren also Institutionen, die dem Interessenausgleich zwischen den mittelalterlichen Ständen und den Institutionen Kaisertum und Papsttum dienten. Hier kamen die Vertreter unterschiedlicher Interessengruppen, jeweils verkörpert durch die entsprechenden Überlebensmaschinen egoistischer Gene, zusammen, um in einem großartigen Ritual unter Bezug auf letztgültige und nicht mehr hinterfragbare Werte (den christlichen Glauben und die daraus abgeleitete Weltordnung) ihre Konflikte zu lösen und zu bewältigen. Dabei war es keineswegs so, dass der Kaiser, der ja der vom Papst zum Kaiser gekrönte deutsche König und damit das gewählte Oberhaupt des Heiligen Römischen Reiches war, befahl, und alle anderen gehorchten. Im Gegenteil: Der Reichstag und damit die Stände verhandelten über Beschwerden gegen den päpstlichen Hof, über die Beteiligung an Kreuzzügen, über Hasspredigten gegen Juden, Bewilligung von Finanzmitteln für Kriege u. a. gegen die Türken usw. Es waren also letztlich die Reichsstände, die in diesem großen Ritual über alle Fragen berieten und beschlossen, die das politische System Heiliges Römisches Reich betrafen. Im Allgemeinen konnte man zu einer Einigung kommen. Gelegentlich gab es Schwierigkeiten, und die Beschlüsse wurden auf den nächsten Reichstag vertagt. Immer aber hielt das große Ritual des Reichstags die Vertreter der unterschiedlichsten Stände und Institutionen zusammen und garantierte damit das Funktionieren des Heiligen Römischen Reiches als System.

306     I. Wunn

Nur mit Luther klappte es nicht. Er weigerte sich zu widerrufen. Das Ritual endete also nicht mit einer Konsolidierung unter Berufung auf die ultimate values, die damit gleichzeitig bestätigt worden wären, sondern mit deren Infragestellung. Das Ritual hatte hier und in diesem Falle ein System nicht geheilt und konsolidiert, sondern infrage gestellt. Auf einem weiteren Reichstag, dem Reichstag zu Augsburg 1530, wurde die durch Luther provozierte Veränderung letztlich in einem weiteren großen Ritual festgeschrieben. Die theologische Folge war das Augsburger Bekenntnis und damit die Anerkenntnis des Protestantismus als eigene Konfession. Die politische Folge war jedoch eine Zunahme an Macht auf Seiten der deutschen Fürsten und eine Schwächung der Institutionen Kaisertum und Papsttum. Der entscheidende Schritt vom Mittelalter hin zur Neuzeit war getan! Das System Staat, hier das Heilige Römische Reich, hatte sich über seine Rituale verändern können. Knapp 100 Jahre später funktionierte eine solche Systemanpassung über Rituale nicht mehr, sondern die durch konfessionelle Unterschiede geschürten Interessenkonflikte brachen sich in einem großen, grausamen und 30 Jahre währenden Krieg (1618–1648) Bahn. Hier hatte es kein Ritual gegeben, das den Krieg aller gegen alle hätte verhindern können! Wir sind natürlich weder die Einzigen noch die Ersten, denen aufgefallen ist, dass Rituale nicht nur konsolidieren, sondern auch verändern können. Victor Witter Turner (1969), unser Gewährsmann für Rituale, hatte schließlich bereits herausgefunden, dass Rituale einerseits einer Gesellschaft Stabilität verleihen, denn im Unterschied zu Ideologien, Anschauungen und Geschichten des alltäglichen Lebens, die sich von einem zum anderen Tag ändern können (siehe das Breitklopfen von nur kurzfristig aktuellen Themen in den Medien), haben Rituale Bestand und sind von Dauer. Allerdings sind sie nicht so unveränderlich, wie ihre Befürworter und Anwender glauben. Wenn man einen bekennenden Katholiken nach dem Ritual für ein Hochamt fragt, wird er gern beteuern, dass es seit Jahrhunderten immer nach demselben Muster durchgeführt werde (Frutaz 1960). Vergleicht man aber tatsächlich, werden dem Beobachter nicht nur die Eliminierung des Lateinischen, sondern auch sonstige Veränderungen ins Auge fallen. Also: Auch das Ritual verändert sich, aber meistens langsam und in so kleinen Schritten, dass es kaum auffällt. Die Öffentlichkeit, die Ritualteilnehmer, bemerken diesen Wandel so gut wie gar nicht und nehmen ihn vor allem nicht als kontrovers, d. h. als Konflikt, wahr. Wie lautet nun folgerichtig unser Fazit aus dem bisher Gesagten? Wir wissen, wie sich Systeme verändern. Wir wissen, wie sich Systeme

12  Systemkontrolle, Rituale und Systemevolution     307

e­ntwickeln (nein, nicht, wie sie evolvieren, denn sie evolvieren nicht!): Systeme entwickeln sich/verändern sich mithilfe von Ritualen!

Systemänderung und Ritual Eine solche erfolgreiche Systemveränderung – wir können auch von einer erfolgreichen Systemanpassung an die Umwelt sprechen – konnte man bei einem anderen System, nämlich dem System Sozialdemokratische Partei Deutschlands, beobachten. Die SPD, heute eine grundsolide Volkspartei, entstand zunächst ganz nach Turner’schem Muster: Kleingewerbetreibende und Handwerker, die Marginalisierten und Zukurzgekommenen der nachnapoleonischen Ära, hatten sich zur Zeit der Revolution von 1848 zusammengefunden, um gegen den Rückfall der deutschen Staaten in feudale Zustände zu protestieren. Aus dieser ersten Bewegung gingen verschiedene sozialistische Parteien hervor, die sich 1875 zur Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands zusammenschlossen und auf ihrem Parteitag zu Gotha ein erstes, moderat sozialistisches Programm3 beschlossen. Nach dem Ende der Repressionen von Seiten des Bismarck’schen Sozialistengesetzes gab sich die Partei, nun unter dem neuen Namen Sozialdemokratische Partei Deutschlands, auf dem Parteitag zu Erfurt 1892 ein neues Programm, das auf die rasant fortschreitende Industrialisierung reagierte. Dabei war man der festen Überzeugung, dass die Geschichte, wie von Karl Marx vorhergesagt, letztlich in einen sozialistischen Staat münden würde. Dementsprechend bezog sich das neue Parteiprogramm nunmehr stärker auf die marxistische Theorie, integrierte jedoch realpolitische Forderungen nach Demokratisierung, allgemeinem Wahlrecht und Arbeiterschutz. Das Erfurter Programm4, im Rahmen des Parteitag-Rituals beschlossen, konnte zwar die Vertreter unterschiedlicher Positionen – mehr marxistische auf der einen, mehr pragmatische auf der anderen Seite – nicht endgültig versöhnen, aber immerhin auf das gemeinsame Programm einschwören. Das Ritual hatte seine Funktion erfüllt. Es hatte Konflikte innerhalb der SPD, also innerhalb des Systems, entschärfen und durch ein neues Parteiprogramm auf die veränderten Umweltbedingungen reagieren können. Damit hatte das System SPD Erfolg.

3Gothaer 4Erfurter

Programm: https://www.marxists.org/deutsch/geschichte/deutsch/spd/1875/gotha.htm. Programm: https://www.marxists.org/deutsch/geschichte/deutsch/spd/1891/erfurt.htm.

308     I. Wunn

In der Weimarer Republik stellte die Partei, die sich eindeutig zur pluralistischen Demokratie bekannte, mit Friedrich Ebert den ersten demokratisch gewählten Reichspräsidenten und war anschließend in wechselnden Koalitionen an anderen Reichsregierungen beteiligt, obwohl die unterschiedlichen ideologischen und inhaltlichen Positionen letztlich weiterbestanden und für ständige Flügelkämpfe sorgten. Den vorläufigen Todesstoß versetzten der SPD jedoch die Nationalsozialisten, unter deren Regierung die Partei verboten und ihre Mitglieder verfolgt und teilweise in den Konzentrationslagern ermordet wurden. Erst nach Ende des Zweiten Weltkrieges gründete sich die Partei auf der Wennigser Konferenz zunächst als reine West-Partei (ohne die damalige Sowjetische Besatzungszone) im Oktober 1945 neu und zog 1949 in den Deutschen Bundestag ein. In klarer Opposition zu der Politik Konrad Adenauers und getreu ihrem alten, wenn auch inzwischen mehrfach überarbeiteten Erfurter Programm vertrat sie klassisch sozialistische Ansichten und forderte zunächst die Verstaatlichung aller Grundstoffindustrien und die politische Lenkung der Wirtschaft. Hinsichtlich der Außenpolitik wandte sich die SPD gegen die einseitige Anbindung der Bundesrepublik an den Westen, wollte die Wiedervereinigung und war eine klare Gegnerin der Wiederbewaffnung. Allerdings gelang es der SPD mit diesem Programm nicht, eine Bundestagswahl zu gewinnen. Gleich mit der Gründung der Bundesrepublik hatte nämlich das sogenannte Wirtschaftswunder eingesetzt, das den Deutschen einschließlich der Arbeiterklasse einen nie gekannten Wohlstand bescherte (Braun1989). Das alte Erfurter Programm und seine ganz ähnlichen Nachfolgeprogramme hatten sich offensichtlich überlebt; die Kommunikation zwischen System und Umwelt, also zwischen SPD und potenzieller Wählerschaft, klappte nicht mehr richtig. Die Partei zog daraus die richtigen Schlüsse: Das System musste sich ändern, wenn es überleben wollte! Und genau das tat es. Bereits zu Beginn der 1950er Jahre hatte es Stimmen gegeben, die eine Anpassung des Parteiprogramms an die Bedingungen der Gegenwart forderten, und in kleineren Gruppen hatte man bereits Alternativen entworfen. Besonders das Berliner Aktionsprogramm mit seiner Hinwendung zur Marktwirtschaft und Abkehr von einem religionsfeindlichen Marxismus setzte neue Akzente. 1955 nahm dann eine Kommission zur Reform der SPD ihre Arbeit auf, die ihre Ergebnisse zunächst auf einem Parteitag 1958 in Stuttgart vorstellte und dann auf einem Sonderparteitag in Godesberg 1959 zur Abstimmung vorlegte. Nach einer intensiven Diskussion, in der auch das Verhältnis zu den Kirchen angesprochen wurde, stimmten die Delegierten dem neuen Parteiprogramm mit überwältigender Mehrheit zu, auch wenn der linke Flügel

12  Systemkontrolle, Rituale und Systemevolution     309

Abb. 12.3  Die SPD verabschiedet das Godesberger Programm. (©akg-images/picture alliance)

der SPD bei einigen Punkten deutliche Bedenken hatte, die aber aus Gründen des Parteikonsenses hintangestellt wurden (Abb. 12.3). Aus der einstigen Arbeiterpartei mit klaren sozialistischen Zügen, Klassenkampfvokabular und ideologischer Rückbindung an die Lehren Marx‘ war eine Volkspartei geworden, die sich zur sozialen Marktwirtschaft bekannte, die Westbindung der Bundesrepublik akzeptierte und dieses Bekenntnis in ihrem Godesberger Programm festhielt. Damit war die SPD für einen größeren Wählerkreis wählbar geworden; vor allem auch, da sie mit dem Berliner Oberbürgermeister Willy Brandt einen charismatischen Spitzenkandidaten gefunden hatte, der vor allem auf weibliche Wähler starken Eindruck machte (schon wieder die Sache mit dem shortterm mating!). 1966 gelang einer inzwischen ziemlich bürgerlichen SPD im Rahmen der sogenannten Großen Koalition eine erste Regierungsbeteiligung, in der die SPD zwar mit ihrer Forderung nach Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ein deutliches soziales Zeichen setzte, aber mit den Notstandsgesetzen und dem wirtschaftsliberalen Stabilitätsgesetz auch eine Abkehr von alten ­sozialistisch-sozialdemokratischen Standpunkten vollzog. Dies sicherte der SPD in den folgenden Wahlen weitere Stimmen und den Wahlsieg 1969, führte aber zur Entstehung und zum Erstarken einer neuen außerparlamentarischen, sozialistisch orientierten Opposition, die unter anderem für die Unruhen der späten 1960er und frühen 1970er Jahre und in letzter Konsequenz für die Gründung einer neuen Partei, der Grünen, verantwortlich war. Dennoch markiert die Ära Willy Brandt die erfolgreichste Zeit der SPD. In Brandts Regierungszeit fielen nicht nur die Aussöhnung mit dem Osten, sondern auch längst überfällige, umfangreiche Reformen, die der SPD den

310     I. Wunn

Beifall auch eines Teils des Bildungsbürgertums und der Intellektuellen sicherte, den Kontakt zur ehemaligen Basis, den Arbeitern, allerdings schwächte. Nach dem Rücktritt Willy Brandts wegen einer Spionageaffäre (Günter Guillaume) setzte Helmut Schmidt die Reformpolitik weiter fort und konnte noch zwei Bundestagswahlen für sich entscheiden, bis der Koalitionspartner, die FDP, die Koalition verließ. Nach einem konstruktiven Misstrauensvotum fand sich die SPD nunmehr wieder in der Opposition. Hier, als Gegenspielerin von Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher, tat sich die auf Öffnung nach Osten und Reformen festgelegte Partei schwer, auf die Veränderungen in Osteuropa – Stichwort „Glasnost“ – angemessen zu reagieren. Die Partei Willy Brandts, die die Aussöhnung mit den osteuropäischen Staaten quasi „erfunden“ hatte, wurde nun von Helmut Kohl in dieser Hinsicht überholt und hatte ihr Thema verloren5. Zwar gelang der Partei 1998, als die Wiedervereinigungsbegeisterung einer allgemeinen Ernüchterung Platz gemacht hatte, noch einmal die Rückkehr in die Regierungsverantwortung, aber in den darauffolgenden Wahlen nahm der Stimmenanteil der SPD kontinuierlich ab und hat sich inzwischen bei einem dramatischen Tief von unter 20 % der Wählerstimmen eingependelt. Die SPD hat ungeachtet ihrer unstrittigen sozialen Leistungen den Kontakt zu ihren Wählern verloren – die Kommunikation des Systems mit seiner Umwelt, dem potenziellen Wähler, funktioniert nicht mehr! Ein Blick auf die knapp geschilderte Historie dieser großen, alten und hinsichtlich ihrer Haltung während des Nationalsozialismus untadeligen Partei zeigt ganz klar die Ursachen: Wie so oft in der Parteiengeschichte hat sich wieder einmal die Umwelt des Systems verändert! Waren es nach 1848 die Arbeiter und kleinen Gewerbetreibenden, die Marginalisierten der damaligen, vom Adel und Großbürgertum dominierten Welt, die sich zusammenfanden und Strukturen bildeten, an deren Ende das System einer sozialistischen und dann sozialdemokratischen Partei stand, war die Umwelt der Sozialdemokratie im ausgehenden 19. Jahrhundert tatsächlich ein Proletariat, wie Marx es als Akteur in einer angeblich letzten Phase der Geschichte beschrieben hatte. Als jedoch die Revolution in Deutschland 1918 einen anderen Verlauf nahm als vorausgesehen und sich vor allem nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die sozialen Verhältnisse in

5Die historischen Ursachen für die Aussöhnung mit dem Osten bzw. die Öffnung nach Osten waren allerdings bei CDU und SPD völlig verschieden: Bei der SPD lag der Aussöhnung mit dem Osten letztlich die Idee der auf Marx zurückgehenden internationalen Arbeiterassoziation zugrunde, während die CDU ihre Ansprüche auf Wiedervereinigung mit der Weiterexistenz des Deutschen Reiches als Völkerrechtssubjekt begründete.

12  Systemkontrolle, Rituale und Systemevolution     311

eine ganz andere Richtung entwickelten, reformierte sich die Partei immer wieder erfolgreich – und zwar mithilfe der großen Rituale, die sich bei allen Parteisystemen im Rahmen der Parteitage abspielen. Parteitage sind nämlich letztendlich nichts anderes als die Rituale von Parteisystemen. Hier werden Konflikte in ritualisiertem Rahmen, das heißt mit Verweis auf gemeinsame Werte und unter Verwendung von Symbolen, bearbeitet und ausgeräumt. Die Konflikte, die es jenseits persönlicher Meinungsverschiedenheiten und unterschiedlicher kurzfristiger Strategien zu bewältigen galt, wurden in der Parteigeschichte immer wieder durch fällige Anpassungen an eine sich rasch wandelnde Umwelt beigelegt, und wiederholt ist dem System SPD diese Anpassung an die Umwelt im Rahmen von parteiinternen Ritualen gelungen. Sieht man die heutige Entwicklung der SPD und ihren rasanten Schwund an Wählerstimmen in Zusammenhang mit systemtheoretischen Überlegungen, wird deutlich, dass aktuell wieder einmal der Kontakt mit der Umwelt, nämlich den Wählern, durch einen Wandel dieser Umwelt verloren gegangen ist. Diese Umwelt besteht eben nicht mehr aus den Kleingewerbetreibenden und Arbeitern eines sich konstituierenden wilhelminischen Kaiserreiches, sie besteht nicht mehr aus dem Proletariat der vorletzten Jahrhundertwende, und sie besteht auch nicht mehr aus den gut verdienenden, sozial abgesicherten Vertretern einer gegen Altnazis gerichteten moralischen Instanz. Wichtig ist allerdings, dass das System SPD, das sich in einer ausgesprochenen Klassengesellschaft konstituiert hat und auch die Diskussion um das Godesberger Programm mit dem Vokabular von Klassengesellschaft und Klassenkampf geführt hat, genau dieses Vokabular so verinnerlicht hat, dass es quasi zur Grundausstattung gehört. Die Symbole der SPD sind das rote Parteibanner mit SPD-Schriftzug und die rote Nelke; die sprachlichen Symbole des Systems SPD sind Ausdrücke wie Arbeiter, sozialistisch, Gewerkschaft, Rentenerhöhung, Lohnerhöhung usw. Nur versteht diese Symbole heute niemand mehr! Das heißt nicht, dass der Terminus „Lohnerhöhung“ in seiner profanen Bedeutung nicht verstanden würde, aber die Symbolwirkung, die große einigende Kraft des Begriffs ist in einer Gesellschaft verloren gegangen, in der jeder, auch der Sozialhilfeempfänger, nicht nur satt wird, sondern auch täglich Fleisch und Kuchen essen und sich bei vielen öffentlichen Ereignissen kostenlos amüsieren kann (Braun 1989). Auch ein Schlagwort wie „Gerechtigkeit“ zieht kaum noch in einer Gesellschaft, in der sich mehr als 60 % als zur Mittelschicht gehörig bezeichnen (auch wenn sie rechnerisch nicht dazugehören) und in der – zumindest in Deutschland – auch erfolgreiche Unternehmer meist nicht grundsätzlich anders wohnen und leben als ein Facharbeiter. Die in Kap. 1 erwähnten Gäste des Events

312     I. Wunn

Abb. 12.4  Der Festsaal eines fürstlichen Schlosses kann von jedermann für private Festivitäten angemietet werden. (https://www.schloss-bueckeburg.de/hochzeiten. html)

zum Beispiel wohnen einschließlich des Popstars alle in unspektakulären Einfamilienhäusern oder Wohnungen! Das gilt auch für den Adel, dessen Schlösser inzwischen Museen sind oder für Hochzeiten von jedermann, auch dem ehemaligen Klassenkämpfer und SPD-Wähler, angemietet werden können (Abb. 12.4). Kurz und gut: Wenn SPD-Politiker die Vermögenssteuer oder die Grundrente oder eine gebührenfreie Kita aus dem Hut zaubern, wird ihnen das keine einzige Wählerstimme bescheren! Dieser Kommunikationsversuch eines Systemvertreters mit der Umwelt geht ins Leere! Die ­Online-Zeitschrift The Buzzard tituliert daher zutreffend: „Die SPD macht Politik für nichtexistente Wähler“ (Ruhose und Faus 2019). Eine Anpassung des Systems SPD ist bisher nicht gelungen, denn das System hat den Wandel der Umwelt und die Notwendigkeit der Anpassung im Unterschied zu 1959 nicht erkannt. Die Umwelt des Systems besteht eben nicht mehr aus Lohnabhängigen, deren Rechte es unter anderem über die gebetsmühlenartig vorgetragene Forderung nach Arbeitsplätzen einzufordern gilt, sondern aus den Jugendlichen einer Fridays-for-Future-Bewegung, die ihre Zukunft bedroht sehen. Sie besteht auch aus all denjenigen in prekären Beschäftigungsverhältnissen wie z. B. Hochschulassistenten und Juniorprofessoren, Praktikanten und Volontären, Zeitarbeitern und Scheinselbstständigen. Das Feindbild dieser Bevölkerungsgruppe sind nicht die Unternehmer, Bonzen und Milliardäre, mit deren Besteuerung die SPD in alter Klassenkampfmanier punkten will. Im Gegenteil: Das Feindbild ist nur zu oft das System Staat selbst, das durch entsprechende Gesetze die neuen Marginalisierten erst geschaffen hat. Diese Klientel, die heute Marginalisierten, Benachteiligten und nicht Gehörten, sammeln sich – genau wie von Turner beschrieben – zunächst

12  Systemkontrolle, Rituale und Systemevolution     313

in Bewegungen, die sich dann jedoch konsolidieren und neue Subsysteme bilden werden. Aus der Pegida-Bewegung ist bereits die AfD entstanden. Ob aus der Fridays-for-Future-Bewegung ein neues politisches System, also ein Verband oder eine Partei entstehen oder ob sie wie die damalige ­Woodstock-Bewegung spurlos verschwinden wird, muss sich noch zeigen.

Literatur Braun Hans (1989) Helmut Schelskys Konzept der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ und die Bundesrepublik der 50er Jahre. Archiv für Sozialgeschichte 29:199–223 Evans-Pritchard EE (1956) Nuer Religion. Oxford University Press, Oxford Frutaz, AP (1960). Contributo alla storia della riforma del Messale promulgato da san Pio V nel 1570. In: Problemi di vita religiosa in Italia nel cinquecento; Italia Sacra 2; Padua Ginzel A, Stoll U (2019, 20. Aug.). ZDF. Frontal 21 exklusiv. Alaa S.: “Ich habe ihn nicht angefasst”. https://www.zdf.de/nachrichten/heute/frontal-21-exklusivangeklagter-alaa-s-zum-tod-des-chemnitzers-daniel-h-100.html. Zugegriffen: 20. Aug. 2019 ntv.de, AFP (2016, 13. Dez.). Ulvi fordert Millionenentschädigung. https://www.ntv.de/ticker/Ulvi-K-fordert-Millionenentschaedigung-article19317421.html. Zugegriffen: 18. Febr. 2020 Ruhose F, Faus R (2019, 6. Juni). Die SPD macht Politik für nichtexistente Wähler. IPG Journal. https://thebuzzard.org/2019/06/06/die-spd-macht-politik-fuernichtexistente-waehler/. Zugegriffen: 27. Aug. 2019

Teil IV Vierte Theorie: Habitus- und Kapitaltheorie

13 Der eine hat’s – der andere nicht

Meine Urgroßeltern, die Literatur und ich Beginnen wir der Einfachheit halber mit mir: Als ich noch ein Teenager war, versuchten meine Eltern, genau wie es von den Überlebensmaschinen ordentlicher egoistischen Gene zu erwarten war, meine Zukunft in die richtigen Bahnen zu lenken. Das bedeutete nicht nur die ausreichende Versorgung mit Nahrung und den Schutz vor allerlei tatsächlichen oder überbewerteten Gefahren, sondern vor allem Erziehung, Erziehung, Erziehung. Ich stamme aus einer kleinen Großstadt im Bergischen Land. In der über mehrere Generationen geführten Familienbibel aus dem 18. Jahrhundert steht neben den Namen meiner Groß-, Ur- und Ururgroßväter die hochtrabende Berufsbezeichnung Fabrikant. Das mag nach heutigen Gesichtspunkten ein wenig hochgegriffen sein, aber immerhin waren die Vorfahren sowohl väterlicher- als auch mütterlicherseits Unternehmer, die in mehr oder weniger großen Fabriken Werkzeuge herstellten. Ein Urgroßvater hatte bereits studieren dürfen (eigentlich legte der Ururgroßvater Wert darauf, dass auch seine Söhne das schwere Geschäft am Schmiedehammer von der Pike auf erlernten), und erst die Großonkel waren stolze Träger von Doktortiteln und Schmissen im Gesicht. Die Großmütter und Großtanten dagegen hatten ganz, ganz feine Mädchenpensionate besucht, in denen sie lernten, elegante und gesuchte Gesellschaften zu geben, zu aquarellieren, Klavier zu spielen und sich zimperlich aufzuführen. Das war die Umgebung, die mich prägte. Hier lernte ich als Erstes, keine Befindlichkeiten zu haben: Mir war und ist in Gesellschaft bis heute nicht zu heiß oder zu kalt, mir zieht es © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Wunn, Vier Theorien, um die Welt zu beherrschen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61376-4_13

317

318     I. Wunn

nicht, mir ist nicht langweilig, mir tun die Füße nicht weh, und ich habe weder Hunger noch Durst. Ich esse alles, vom sardischen Käse mit lebenden Fliegenmaden bis zum Hammelhoden (bitte bei der nächsten Einladung nicht unbedingt testen), und ich leide selbstverständlich nicht unter Lebensmittelallergien oder Unverträglichkeiten. Ich lernte zu stehen, zu sitzen und zu gehen, jemanden zu begrüßen und Gespräche so zu führen, dass mein Gesprächspartner sich klug und interessant finden kann. Ich lernte die Handhabung von Besteck, das korrekte Essen von Spargel, das Anfassen eines Weinglases nur am Stiel, die richtige Kleidung zu jeder Gelegenheit und Uhrzeit, die korrekte Anrede von Akademikern, Adligen und Geistlichen in offiziellem und privatem Umfeld (privat niemals Titel, auch nicht auf der Todesanzeige!) und wusste, wer die Treppe zuerst heraufgeht (der Herr, damit der Träger paarungswilliger Gene der Dame nicht auf die Beine und den Po schielen kann). Alles das sollte mir einen optimalen Start ins bürgerliche Leben und die feine Gesellschaft ermöglichen. Die Gestaltung meiner Freizeit hatte sich möglichst in dieses Bild einzufügen. Man stellte mir einen Fundus ordentlicher Jugendbücher wie Moby Dick oder Tom Sawyer, Das kalte Herz, Die Sagen des klassischen Altertums oder Geschichten aus Tausendundeiner Nacht zur Verfügung und entfernte sorgfältig eventuell auftauchende Micky-Maus-Hefte oder anderen „Schund“. Man meldete mich beim Musikunterricht an (kein Erfolg), und mit zehn Jahren durfte ich zum ersten Mal im feinen Kleidchen und weißen Strumpfhosen mit in die Oper. In Sachen Sport hatte man Tennis für mich vorgesehen, aber leider scheiterte die geplante Laufbahn als lokale Tenniskoryphäe und Nachfolgerin meiner diesbezüglich grandiosen Großmutter an meiner damaligen Vorliebe für die angeblichen Kleine-Leute-Sportarten Geräteturnen und Judo. Aber das war nicht das einzige Hindernis auf meinem Lebensweg, der mich in der Welt des Bürgertums mit seinen Gepflogenheiten, seinen Manieren und seinen ästhetischen Vorlieben hätte etablieren sollen. Der Krieg, jener große Gleichmacher (vgl. dazu die erhellenden Ausführungen von Graeber 2012), hatte das alte Bürgertum schon lange vor meiner Geburt ausgelöscht, und eine neue Schicht hatte das Ruder (und nach und nach auch die Fabriken meiner Großeltern) übernommen, ohne dass meine Großfamilie die Zeichen der Zeit hätte deuten können. Ich war bereits das Kind einer neuen Zeit. Mein Gymnasium war längst nicht mehr das nur den Mädchen vorbehaltene Lyzeum. Dass ich studieren würde, war ausgemacht, und ebenso klar war, dass ich in einem späteren Berufsleben auf Konkurrenten (m/w; divers gab es damals noch nicht) und möglicherweise privat auf einen mating-Partner stoßen würde, der nicht der

13  Der eine hat’s – der andere nicht     319

Gesellschaftsschicht meiner Großeltern entstammte. Die Gesellschaft war kurz nach der Stunde null durchlässiger geworden. Wo früher Benimmschranken dem unmittelbaren Erfolg der Tüchtigen im Wege gestanden hatten und sich ein gesellschaftlicher Aufstieg nur auf dem Umweg über eine studentische Verbindung, das Militär oder eine geistliche Laufbahn hatte realisieren lassen, zählten in der Nachkriegszeit Chuzpe, Durchsetzungsvermögen, unternehmerischer Mut und Fleiß. Es zählten jedoch auch eine gewisse Rigorosität und der Verzicht auf allzu viel Mitleid mit den Verlierern, und es zählte die Fähigkeit, Allianzen zu schmieden. Kurz und gut: In einer Gesellschaft, in der sich durch den Krieg die bestehenden Strukturen aufgelöst hatten und das alte Ranking nicht mehr galt, entstanden in den 1950er und 1960er Jahren neue Schichten, die sich an teilweise neuen, teilweise aber auch an althergebrachten Sitten und geschmacklichen Vorbildern orientierten, kurz, die ihren eigenen Habitus entwickelten. Diesem gesellschaftlichen Wandel zum Trotz sind mir gewisse Gewohnheiten und Vorlieben geblieben. Ich gehe immer noch gern in die Oper und höre Musik – E-Musik selbstverständlich. U-Musik und hier gar Schlager erinnern mich nur zu sehr an das Jaulen rolliger Katzen und können mir, zur Unzeit gespielt, die Laune für den ganzen restlichen Tag verderben. Ich schaue mir auch gern die Werke bedeutender Maler an und bin der zeitgenössischen Kunst gegenüber aufgeschlossen. Immer noch finde ich die Küsserei bei der Begrüßung auch der entferntesten Bekannten übertrieben und gelte deshalb in einer Umgebung von Menschen mit einem weniger altmodischen Gefühl für angebrachtes Verhalten als distanziert und unterkühlt. Der früh erlernte Benimmkodex ist mir eben in Fleisch und Blut übergegangen und lässt sich nur begrenzt ändern! Ich sei hoffnungslos altmodisch, finden Sie? Mental von 1917, wie die bereits erwähnten schönen und klugen Töchter zu sagen pflegen? Vielleicht. Aber immerhin scheinen die … ja, was ist es denn? Regeln? Eine bestimmte Form der Selbstdarstellung? Gar ein Teil der Persönlichkeit? Nehmen wir ruhig den Fachausdruck Habitus. Immerhin scheint der oben geschilderte Habitus auch heute noch geeignet, eine ganz bestimmte Gesellschaftsschicht zu charakterisieren, die übrigens aus eben jenem Habitus gewisse Dominanzansprüche ableitet. Genau damit spielt ein unterhaltsamer, kleiner Schelmenroman um einen Gentlemandetektiv (Suter 2014). Dieser Detektiv hat offenbar eine exklusive Erziehung genossen, denn er hat einen hervorragenden Geschmack, trinkt nur große Weine, residiert in den Suiten der besten, immer aber unbedingt altmodischen Hotels, lässt sich chauffieren und

320     I. Wunn

v­erfügt über einen ihm treu ergebenen Diener. Selbstverständlich ist der Titelheld stets exquisit und dem Anlass entsprechend gekleidet. Der Ausdruck „Cargohose“ würde ihm niemals über die Lippen und das Objekt selbst noch viel weniger an den Körper kommen! Seine Schuhe sind stets perfekt geputzt, und natürlich ist Herr von Allmen, so heißt der Titelheld, stets wohlrasiert (kein Dreitagebart!). Sein Benehmen ist ebenso tadellos wie seine Bildung fundiert, sein Zeitvertreib anspruchsvoll und seine Taschen chronisch leer! Genau mit diesem Widerspruch zwischen dem Habitus eines vermögenden Herrn von Welt und den tatsächlichen finanziellen Möglichkeiten spielt der Roman. Natürlich kann der Held, der schon deutlich bessere Tage gesehen hat und anstelle seiner ehemaligen hochherrschaftlichen Villa nun das Gärtnerhaus bewohnt, keiner ordinären Tätigkeit zum Zwecke des Gelderwerbs nachgehen, aber die Beschäftigung mit der Kunst lässt sich mit seinem Anspruch an sich selbst, mit seinem Habitus, vereinbaren. Und so ist die Wiederbeschaffung verschwundener oder entwendeter Kunstgegenstände das Metier des Herrn von Allmen. Die Geschichten um den Gentlemandetektiv spielen in der heutigen Schweiz, und besagter Titelheld ist um die 40 Jahre alt – also keineswegs von 1917! Die alten Regeln, nach denen ich erzogen wurde, gelten also mit gewissen Abstrichen noch immer beziehungsweise taugen immer noch, die Zugehörigkeit einer Person zu der tonangebenden Klasse glaubhaft zu machen. Sehr viel strenger waren besagte Regeln jedoch im 19. Jahrhundert, einer Zeit, in der die Gesellschaft in den europäischen Ländern strikt in soziale Klassen unterteilt war. Die verschiedenen Klassen unterschieden sich nicht nur durch ihren unterschiedlichen Lebensstil, ihre Interessen und ihren Geschmack voneinander, sondern durch ihren Zugang zu politischer Macht einerseits und zum ökonomischen Kapital andererseits. Genau dies war die Zeit, in der Marx sein Kapital schrieb und in der marginalisierte Arbeiter und Gewerbetreibende in Deutschland die ersten sozialistischen Arbeitervereine gründeten (Kap. 11)! Und es war die Zeit der bürgerlichen Revolutionen, in der Menschen auf die Straße gingen, sich bewaffneten und für einen bürgerlichen Nationalstaat zu kämpfen bereit waren. In dieser Zeit spielt einer der ganz großen Romane der Weltliteratur. Die Rede ist von Giuseppe Tomasi di Lampedusas (2019; Originalausgabe 1958) Der Leopard. In diesem Roman geht es um nicht weniger als den Untergang der alten Welt, in der die alten Dynastien die Herrscher stellten und lokale Fürsten die Fäden von Politik und einer noch vorwiegend auf der Landwirtschaft gründenden Wirtschaft in den Händen hielten. Der Kreis dieser Mächtigen war klein und

13  Der eine hat’s – der andere nicht     321

geschlossen. Die Kirche und ein unausgesprochener, aber umso strengerer Benimmkodex hatten dafür gesorgt, dass es so blieb. Aber mit der Französischen Revolution und ihren Folgen, zu denen auch das Aufkommen eines neuen, von den jeweiligen Herrschern ernannten Adels zählte, waren die unsichtbaren Mauern dieser geschlossenen Zirkel durchlässiger geworden – vor allem für diejenigen, in deren Händen sich ein neu entstandener Reichtum befand. Wenn ein solcher Neureicher dann noch eine schöne Tochter hatte, stand dem gesellschaftlichen Aufstieg so gut wie nichts mehr im Wege – der wirklichen Akzeptanz in den etablierten Kreisen allerdings doch noch einiges. Hier nun die Passagen des Romans, die uns interessieren: Der Titelheld der Geschichte, der Fürst von Salina, hat einen reizenden, charmanten Neffen aus bestem, aber verarmtem Hause, und er hat neben weiteren Kindern eine sehr ansehnliche, perfekt erzogene Tochter, die in eben jenen Neffen verliebt ist. Der Fürst sähe eine Verbindung zwischen den beiden nicht allzu gern, denn er kennt sowohl den Charakter seiner Tochter als auch die Vermögensverhältnisse des Neffen, Tancredi, nur allzu gut. Da trifft es sich gut, dass eine bildschöne junge Frau, die Tochter eines Emporkömmlings, auftaucht und das Herz Tancredis im Sturm erobert. Diese junge Frau, Angélica, hatte in einem Kloster eine ausgezeichnete Erziehung erhalten, die alles Bäurische und Ungeschliffene aus ihrem Wesen verbannt hatte; ihre Sprache war elegant, und ihre Manieren waren untadelig. Niemals, so sagt der Roman, verloren ihre Oberarme den Kontakt zum Körper. Und doch blieb da immer eine Kleinigkeit, eine Spur von „zu sehr überwacht“ (S. 91), die sie von der Tochter des Hauses unterschied. Es fehlte ihr das gewisse Etwas, das sich kaum erklären lässt. Umso deutlicher drängten sich die gesellschaftlichen Fehlleistungen Don Calógeros, des Emporkömmlings und Vaters der Schönen, auf. Er erschien zu einem ländlichen Diner im Abendanzug, auf den der Fürst verzichtet hatte, um seine schlichteren Gäste nicht zu düpieren. Dieser Abendanzug aus teurem Tuch war jedoch ziemlich verschnitten, und außerdem hatte der Emporkömmling die falschen Schuhe dazu gewählt. Hiermit nicht genug: Die Reden des Parvenüs waren in einheimischer Mundart, derb und manchmal auch grob. Eine Verbindung zwischen Tancredi und Angélica hätte also unter normalen Umständen wegen der gesellschaftlichen Diskrepanzen gar nicht zur Debatte gestanden, wäre nicht die junge Frau so schön und so reich und der junge Mann völlig verarmt gewesen. Übrigens: Es war gerade diese mangelnde Feinheit der Empfindungen, die Rigorosität des Mannes aus einfachen Verhältnissen, die den wirtschaftlichen Aufstieg Don Calógeros ermöglicht hatte.

322     I. Wunn

Jugendkreis und Fitnessstudio Nun geht es uns allerdings nicht nur um den Adel im südlichen Italien oder ein protestantisches Bürgertum am Rande des Ruhrgebietes, sondern um den Habitus generell. Es war ja gerade die enorme Leistung Pierre Bourdieus (1930–2002) festzustellen, dass es jenseits der gesellschaftlichen Klassen und ihrem Anteil an den Produktionsmitteln, wie sie Marx beschrieben hatte, eine viel raffiniertere Aufteilung der Gesellschaft in unterschiedliche Schichten gab, deren Grenzen sich nicht nur an ihrem Zugriff auf ökonomisches Kapital festmachen ließen, sondern an etwas höchst Subtilem: an Vorlieben für bestimmte Speisen, Literatur, Musik, einer schön gedeckten Tafel und dem Kleidungsstil. Und das Interessante daran ist: Die Vorlieben und Abneigungen der entsprechenden Schicht sind durchaus normativ; der Geschmack und die Lebensweise einer Gruppe werden von dieser Gruppe selbst absolut gesetzt und gelten in dieser Gruppe – aber auch nur da – als erstrebenswert. Ein Beispiel: Ich weiß noch genau, als meine älteste Tochter, damals in der Grundschule, von einem Besuch bei einer Schulfreundin zurückkehrte und voller Erstaunen zu berichten wusste, dass man in der Familie der Freundin die Mahlzeiten schweigend einzunehmen pflegte. Die Großeltern der Freundin, die in jener Familie tonangebend waren, stammten vom Lande. Sie hatten zeit ihres Lebens schwer gearbeitet und dem Boden mit Mühe das abgerungen, was mittags auf den Tisch kam. Die Müdigkeit nach der körperlich schweren Arbeit und der Respekt vor dem täglichen Brot hatten dann in der Familie, aber auch in dem gesamten kleinbäuerlichen Stand, aus dem sie kamen, zu einem Essverhalten geführt, das meiner Tochter zutiefst fremd war (vgl. dazu auch die Milieuschilderungen in Knobloch und Seligman 2012). Auch wenn die Großeltern nun längst nicht mehr in einem bäuerlichen Umfeld lebten, sondern eher dem Kleinbürgertum zuzurechnen waren, hatten sie die alten Sitten, ihren Habitus doch beibehalten. Vergleichbares ließ sich in der lokalen Oberschicht (neues Geld!) beobachten. Wieder war es meine Tochter, die nun als Gymnasiastin nach der Schule den Nachmittag bei einer Freundin verbrachte und dort auch die Mahlzeiten einnahm. Sie hatte wieder einmal Gelegenheit zum Staunen. In diesem Haushalt einer ausgesprochen wohlhabenden und in der Stadtgesellschaft tonangebenden Familie wurde das Mittagessen von einer Haushälterin zubereitet und serviert. Da die Eltern nicht zu Hause waren – der Vater war geschäftlich unterwegs, und die Mutter hielt sich gerade wieder

13  Der eine hat’s – der andere nicht     323

einmal zum Shopping in London oder Paris auf –, hatte die Haushälterin Spaghetti gekocht, die sie mit Ketchup servierte, und zwar in der Küche. Bei uns, in der stets etwas überbemühten professoralen Mittelschicht mit bürgerlichem Hintergrund, hatte es niemals Spaghetti mit Ketchup gegeben, und niemals hätten die Kinder oder ich in der Küche gegessen (siehe oben). Um genau diese subtilen Unterschiede, für die besonders die Esskultur einen Gradmesser darstellt, ging es Bourdieu. Es ging ihm um die verschiedenen Gruppen jenseits der alten sozialwissenschaftlichen Klasseneinteilung und ihr Verhältnis zur Macht – und genau das interessiert auch uns! Schauen wir uns also auch weitere Gruppen mit einem ganz klaren Gruppenhabitus an. Da ist zum Beispiel das Fitnessstudio, von den Männern etwas despektierlich, aber zutreffend auch Muckibude, von den Frauen beschönigend Gym genannt. Trotz aller Bemühungen, dergleichen Einrichtungen salonfähig zu machen, ist es ein bestimmtes Publikum, das bis heute das Bild bestimmt: „der bullige, kahlrasierte Mann mittleren Alters […], gekleidet in einem (sic!) Muskelshirt und überzogen von Tattoos“ (http://www.fitness-checker.de/fitnessstudios/muckibude.php) und die ebenfalls tätowierte Frau um die 30 in hypermoderner bauchfreier Sportkleidung mit der Figur eines anatomischen Modells. In sozialer Hinsicht stammen zwar längst nicht alle, aber die das Erscheinungsbild bestimmenden Kunden derartiger Einrichtungen immer noch vorwiegend aus der unteren Mittelschicht, vielleicht auch Unterschicht. Da ist der „Türsteher […] In der Muckibude […] kann er sich mit anderen Charakteren messen“ (http:// www.fitness-checker.de/fitnessstudios/muckibude.php). Und da ist der Bodybuilder. Genau wie die weiblichen Besucher des Gym „arbeitet [er] an seinem Körper wie an einem Kunstwerk. Das Training dient nicht der Steigerung von Kraft und Ausdauer, sondern der Erreichung eines Schönheitsideal[s]“ (http://www.fitness-checker.de/fitnessstudios/muckibude. php). Was für Männer und Frauen hier gleichermaßen gilt ist der Primat des Körpers: „Körperarbeit statt Hirnarbeit und nichts drum rum.“ Ein solches Ideal verträgt sich selbstredend nicht mit den bildungsbürgerlichen Vorstellungen von der eigenen Person als intellektuelles Gesamtkunstwerk, und das betrifft nicht nur den von den weiblichen Gymbesuchern angestrebten flachen Bauch und den muskulösen und ­Unterhautfettgewebe-freien Oberkörper der männlichen Pendants, sondern auch weitere Attribute von Aussehen und Verhalten. So wird unter den Frauen, die in Fitnessstudio-Zirkeln eine Führungsrolle spielen, eindeutig der blonde Pferdeschwanz als Frisur bevorzugt; ein Blond wohlgemerkt, das ins Gelbliche tendiert und nach Heimarbeit oder billigem Salon aussieht. Wichtigste Gesprächsthemen sind nicht etwa Emanuel Macrons und Angela

324     I. Wunn

Merkels Europapolitik oder das hysterische Reagieren der Börse auf Trumps neueste Verbalattacke gegen China, sondern der erreichte Body-MassIndex und die Aussichten auf dem mating-Markt – bis auf die Vormittagskurse, da dominieren thematisch die undichte Babywindel und die immer noch etwas zu schlaffe Bauchdecke. Allerdings sind auch Zuwanderung und Fremdenfeindlichkeit auf diesem Parkett kein Thema, denn Muckiman und Superwoman interessieren sich nicht für Fragen der Ethnizität. Jeder ist willkommen! Und jeder wird gleich geduzt (Abb. 13.1)! Nun werden einige unter Ihnen, verehrte Leserinnen und Leser, laut protestieren und mich dahingehend aufklären, dass die Fitnessstudios längst salonfähig geworden seien und unter ihren Dächern genauso vielen schwitzenden Akademikern wie Türstehern und hauptberuflichen Lebensgefährtinnen den Weg zum wahrhaftigen Glück eines optimierten Körpers weisen. Das glaube ich gern; umso mehr, als ich selbst in den 1980er Jahren dreimal pro Woche in einem Verein für Schwerathletik trainiert und auch heute aus Gesundheitsgründen zumindest für einen befristeten Zeitraum den Weg in ein Gym gefunden habe. Ich sprach daher eher von dem bestimmten Habitus der Fitnessgurus und Anwärter auf eine Alphaposition in dieser speziellen Umgebung – diese jeweils spezifische Umgebung nennt Bourdieu soziales Feld – und hier gehört zum Habitus unbedingt das Tattoo. Immerhin ist auch dieser heute weit verbreitete Körperschmuck spätestens dann erklärungsbedürftig, wenn plötzlich das soziale Feld nicht mehr stimmt, wenn also die Gattin eines Bundespräsidenten ein Tattoo trägt. Selbst der Hinweis auf „ein Stück meines Ichs“ (Poschardt 2012) wirkt dann noch irgendwie matt und fast ein wenig verzweifelt. Die Duchess of

Abb. 13.1 Trainerin alliance)

im

Fitnessstudio.



Bartek

Szewczyk,/westend61/picture

13  Der eine hat’s – der andere nicht     325

Cambridge trägt nämlich keine Tätowierung und ebenso wenig ihr Mann, Prinz William, oder ihre Schwiegermutter, die Herzogin von Cornwall. Fazit: Der tätowierte Fußballer und der Spross alten Adels, der Golfspieler und der Besucher eines Fitnessstudios leben nicht nur in verschiedenen Welten, kämpfen also auf verschiedenen sozialen Feldern um Anerkennung, sondern – und das ist entscheidend für Bourdieus Habitustheorie – man sieht es! Aber auch jenseits des Körperkultes ist die Zugehörigkeit zu bestimmten gesellschaftlichen Gruppen leicht zu erkennen. Bourdieu, dem niemand die Ernsthaftigkeit seines wissenschaftlichen Anliegens absprechen wollte, wählte neben anderen zwei Gruppen aus, die gesellschaftlich um den Führungsanspruch kämpfen: den alten Adel einerseits und den neuen Geldadel andererseits. Während der alte Adel vor allem in Großbritannien gern in etwas abgeschabten Tweed gekleidet ist und auch das Hemd mit durchgescheuerten Manschetten, aber unbedingt mit Manschettenknöpfen nicht etwa aus Geldmangel wie eine Trophäe trägt, braucht der (angestellte) Herrscher über ein Wirtschaftsimperium den Maßanzug ohne Fehl und Tadel. Gleiches gilt für die Damenwelt. Auch hier wählt die Dame aus altem Adel ganz unkompliziert bequeme, robuste Kleidung (aber niemals den Jogginganzug) oder holt auch gelegentlich ein Kleid aus dem Schrank, das sie bereits vor 20 Jahren zu einem offiziellen Anlass getragen hat. Die sogenannte Dame von Welt, Herrin über ein eigenes Vermögen oder über einen großzügigen Gatten, trägt dagegen eine neue Kreation ihres Lieblingsmodeschöpfers. Ist die Dame vornehm, wird man kein Label finden – weder an der Kleidung noch an der Handtasche. Ist sie weniger vornehm, wird ein riesiges Gucci oder Prada oder Versace als Druckmotiv auf dem Kleiderstoff selbst oder zumindest als Schließe auf der Handtasche oder dem Gürtel prangen. Damit hat frau sich allerdings für die wirklich feine Gesellschaft disqualifiziert. Dumm gelaufen! Allerdings: Unsere Modeikone verkehrt ja gar nicht in der wirklich feinen Gesellschaft, sondern zusammen mit dem neureichen Gatten in genau den Kreisen, in denen alle mit Labeln glänzen. Und hier gilt: Das schönste, das teuerste, das neueste Modell mit dem dicksten Label hat zusammen mit aufgespritzten Lippen und der straff hinter die Ohren gezogenen Gesichtshaut gewonnen! Genau mit diesen subtilen gesellschaftlichen Regeln, die wie eine geheime Sprache unter den Eingeweihten funktionieren, spielte die inzwischen verstorbene Präsidentengattin und Schöpferin eines nationalen Präsidentenmythos, Jacqueline Kennedy. Während eines Besuches von Schah Mohammad Reza Pahlavi trug sie zum erlesenen, aber schlichten Abendkleid

326     I. Wunn

lediglich Ohrringe – und deklassierte damit zumindest in den Augen der europäischen und nordamerikanischen Öffentlichkeit die Shahbanu (Königin Farah), die sich mit reichlich Juwelen dekoriert hatte. Jackies Stil entsprach eben dem Habitus der Ostküste! Genau diesen eleganten Stil und den dazugehörigen feinen Ton der Ostküste wird man beim jetzigen Präsidenten der USA vergeblich suchen. Er spricht dem Mann von der Straße aus der Seele, er wählt den Ton des Mannes von der Straße, und er wirkt wie ein Mann von der Straße, der zu Geld gekommen ist – ein amerikanischer Don Calógero. Genau das ist der Grund, warum seine Wähler ihn für einen der Ihrigen halten, obwohl er mit seinem Vermögen eigentlich zu einer ganz anderen sozialen Schicht gehört. Sein Habitus ist von dem des Stahlarbeiters aus Pittsburgh oder dem texanischen ­Möchte-gern-Cowboy nicht zu unterscheiden, es sei denn durch die enorme Selbstsicherheit, die ein großes Vermögen verleiht. Aber genug mit den Reichen und Schönen, obwohl sie diejenigen sind, die die Macht in den Händen halten, und genau diese Mechanismen gilt es ja herauszufinden. Dennoch lohnt es sich, wenn wir uns nun anderen durchaus mächtigen und einflussreichen Gruppen und ihrem charakteristischen Habitus zuwenden. Wählen wir – wieder einmal – die evangelische Kirche. Während meiner Konfirmandenzeit gab es in meiner Kirchengemeinde eine wundervolle, warmherzige Diakonisse, die auch außerhalb der vorgeschriebenen Lehrstunden ein auf Jugendliche zugeschnittenes Freizeitprogramm anbot, das gern in Anspruch genommen wurde. Auch nach der Konfirmation wurden Schwester Alettes Nachmittage noch für eine gewisse Zeit besucht, aber mit fortschreitendem Alter richtete sich unser außerschulisches Interesse auf andere Objekte; zum Beispiel Sport und dann auch auf das andere Geschlecht, die potenziellen mating-Partner. Schwester Alettes Kreis begann zu schrumpfen. Zuerst verschwanden die Frühreifen, die bereits mit einem ersten Freund in die Nachmittagsvorstellung des örtlichen Kinos gingen, dann verschwanden die begeisterten Turnerinnen, Tennisspielerinnen und Volleyballerinnen. Zum Schluss verabschiedeten sich auch die behüteten Mädchen aus den bürgerlichen Familien, die anstelle von kirchlichen Freizeiten nun die örtlichen Tanzschulen besuchten. Von Schwester Alettes frommer Saat gingen nur wenige Körnchen auf, bei denen es sich um diejenigen handelte, die in einer der attraktiveren Gruppen von hoffnungsvollen Sportlerinnen, Tänzerinnen und begehrten Schönheiten keinen oder nur einen aussichtslosen Platz gefunden hätten. In Schwester Alettes Kreis blieben die Unscheinbaren, die allzu Braven und die hoffnungslos Schüchternen zurück. Aber auch sie, die in ihren Klassengemeinschaften immer am Rande

13  Der eine hat’s – der andere nicht     327

gestanden hatten, konnten nun endlich glänzen. In der Kirche zählten weder Aussehen und Kleidung noch sportliche oder schulische Leistungen, sondern einzig und allein Werte wie Frömmigkeit, Milde und Wahrhaftigkeit. Die Glanzlosen aus der Schule mit dem verunglückten Haarschnitt (m/w; divers geht nicht, weil in der Kirche unanständig – passt nicht zum frommen Habitus!) wurden zu den Umworbenen in der Gemeinde. Sie, die inzwischen vielleicht dem CVJM oder dem Entschieden für Christus beigetreten waren (also eigene Strukturen und unabhängige Systeme entwickelt hatten), avancierten zu Betreuern des Kindergottesdienstes, zu den Stützen des Pfarrers, zu den Augensternchen des Seniorenkreises. Mancher von ihnen hat in diesem speziellen Zirkel seinen ebenfalls schüchternen und unscheinbaren mating-Partner gefunden. Viele haben sich später auch beruflich ganz auf diesem Feld orientiert. Sie haben Theologie studiert, wenn sie keine Angst vor dem Altgriechischen hatten; sonst reichte es vielleicht immerhin zum Diakon, und wenn der Berufswunsch eher in Richtung Juristerei oder Verwaltung ging, bot das Landeskirchenamt attraktive Stellen auch für diese optisch Glanzlosen. Zunächst sah es für die Kandidaten (m/w) auch so aus, als könnte man in diesem System institutionalisierter christlicher Nächstenliebe den gnadenlosen Konkurrenzkampf vermeiden, der eine jede Laufbahn in der Industrie begleitet. Es dauert dann einige Jahre, bis man bemerkt, dass in der Kirche der gleiche … nein, vielleicht nicht Krieg aller gegen alle, aber doch das gleiche survival of the fittest stattfindet wie in der Wirtschaft oder Politik. Nur wird der Konkurrenzkampf mit anderen Mitteln und unter der Maske brüderlicher Liebe ausgetragen. Man sitzt sozusagen liebevoll lächelnd am Tisch und schaut sich christlich-selig in die Augen, während man unter der Tischplatte zum kräftigen Tritt ausholt. Das egoistische Gen ist eben auch durch Jesus höchstselbst nicht so leicht in Schach zu halten! Dazu noch rasch eine kleine Anekdote aus – wie sagt man? – wohlinformierten Kreisen: Da ist zum Beispiel die inzwischen emeritierte Landesbischöfin Margot Käßmann (*1958). Margot Käßmann hatte sich von der einfachen Pfarrerin in der kurhessisch-waldeckischen Landeskirche über verschiedene Stationen in der kirchlichen Hierarchie hochgearbeitet. Dazu gehörte zunächst eine Promotion, eine zusätzliche wissenschaftliche Qualifikation, die unter evangelischen Geistlichen nicht selbstverständlich ist. Dazu gehörte jedoch auch das Übernehmen weiterer Ämter, die den Namen Käßmann in einem weiteren Umfeld bekannt machten. So war sie zum Beispiel von 1983 bis 2002 Mitglied im Exekutivausschuss des Ökumenischen Rates der Kirchen, wo sie wichtige internationale Kontakte knüpfte. Auch vor zusätzlichen Herausforderungen mit enormem Arbeitsaufwand schreckte

328     I. Wunn

sie nicht zurück: Von 1995 bis 1999 fungierte sie als Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages, der unter ihrer Ägide zu einem durchschlagenden Erfolg wurde. Neben ihrem Fleiß und ihrem Ehrgeiz zeichnete sie vor allem eines aus (wir erwähnten das bereits): Sie zog sich nicht auf die bekannten theologischen Formeln zurück, sondern holte die Menschen dort ab, wo ihre Nöte und Sorgen entstanden: mitten im Leben. Das mag ihr Kritik von Seiten einer wissenschaftlich arbeitenden Theologie eingetragen haben, aber von den Gläubigen und von Trostsuchenden wurde und wird sie geliebt. Es war daher nicht weiter erstaunlich, dass man diese unter den üblichen Bewerbern für ein Bischofsamt herausragende Persönlichkeit ernsthaft in Erwägung zog, als es um die Nachfolge Horst Hirschlers im Amt des Landesbischofs ging. Ihr Gegenkandidat war Jürgen Johannesdotter (*1943), der seinen Aufstieg an die Spitze der evangelischen Kirche sorgfältig geplant bzw. der als ehrgeiziger Mann mit Alpha-Ambitionen mit Bedacht dasjenige System gewählt hatte, in dem ihm ein Aufstieg an die Spitze am ehesten gelingen könnte. Johannesdotter studierte also Theologie und Soziologie in den Hochburgen deutscher Theologengelehrsamkeit Göttingen und Marburg und wurde zunächst Gemeindepfarrer. Da, wo Käßmann über den Ökumenischen Rat der Kirchen Kontakte ins Ausland gesucht und sich internationales Flair zugelegt hatte, setzte Johannesdotter auf deutsche Biederkeit und demonstratives soziales Bewusstsein: Er wurde Mitglied der IG Metall. Solcherart gut vernetzt, ergatterte er den Posten eines Studiendirektors im Predigerseminar im niedersächsischen Kloster Loccum und bekleidete anschließend das Amt eines Landessuperintendenten. Nun schien er bereit für den großen Sprung an die Spitze: Er bewarb sich 1999 auf das Amt des Landesbischofs der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, sah sich dort aber unversehens einer weiblichen Gegenkandidatin gegenüber, die nicht nur promoviert war und Auslandserfahrungen hatte (also für evangelische Kreise schon unerhört intellektuell war), sondern auch noch über eine enorme soziale Begabung verfügte! Margot Käßmann war und ist ein Predigtgenie! Es kam also zur Abstimmung. Es ist in der evangelischen Kirche, in der es zum Habitus gehört, demütig und bescheiden zu wirken, nicht üblich oder sogar fast unmöglich, öffentlich mit erbrachten Leistungen zu punkten. Die Anhänger Johannesdotters (und Gegner einer Frau auf dem Bischofsstuhl) mussten also ein anderes, ein mitmenschliches und fürsorgliches Argument finden, um die unliebsame Konkurrentin und so unchristlich strebsame Theologin von ihrem Platz zu drängen, und da kam ihnen eine grandiose Idee: „Tun

13  Der eine hat’s – der andere nicht     329

wir das der Frau doch nicht an!“, rief einer dieser selbsternannte Frauenbeschützer. „Die Frau hat vier Kinder!“ Es folgte schallendes Gelächter: Johannesdotter, von der Kopierwut seiner egoistischen Gene in Gang gesetzt und von der Kirche zeugungstechnisch auf dem rechten Tugendpfad gehalten, hatte zu selben Zeit bereits fünf Mal für männlichen Nachwuchs gesorgt! Zum christlichen Habitus (Abb. 13.2) gehört allerdings nicht nur die zur Schau gestellte Milde, Fürsorglichkeit und Nächstenliebe. Auch der Verzicht auf alle Äußerlichkeiten und damit die Hinwendung zu höheren Werten muss für alle deutlich sichtbar sein. Bescheidene Kleidung in gedeckten Farben und körperfernen Formen ist daher vorgeschrieben und hat noch den Vorteil, nicht so schmutzanfällig zu sein. Kurzum: Der Pfarrer (m/w) ist meist derjenige, der, wenn nicht den Talar, dann eine besonders schlecht sitzende und fast immer zu kurze oder zu lange Hose und über einem ungebügelten Hemd ohne Krawatte einen sackartigen Pullover trägt. Sowohl von den Hosen als auch den Pullovern hat er höchstens zwei. Seine Mitarbeiterin in der Gemeinde trägt fast das Gleiche. Nur statt des ungebügelten Hemds beschränkt sie sich auf einen formlosen Blazer in lebhaftem Mausgrau. Die in der Kleidung demonstrativ zur Schau gestellte Bescheidenheit zieht sich wie ein roter Faden durch sämtliche kirchlichen Einrichtungen (nur evangelische; die katholische Kirche kann und darf auch prächtig!). Bescheiden muss das Pfarrhaus möbliert sein, zurückhaltend ist die Einrichtung des Gemeindehauses, und selbst die kirchliche Bildungseinrichtung mit Übernachtungsmöglichkeit glänzt mit gefliesten Böden, Doppelzimmern

Abb. 13.2  Ein Kirchenkreisvorstand mit typischem Habitus. (© patrick becher/rtn – radio tele nord/picture alliance)

330     I. Wunn

mit getrennt stehenden 80-cm-Betten, Vollwertkost und Hagebuttentee – man ist ja verantwortungsbewusst und geht sowohl mit Gottes Natur als auch mit dem von Gott anvertrauten Körper (spöttisch unter Eingeweihten: der evangelische Dienstleib) sorgfältig um. Fazit: Den Frommen erkennt man immer und überall – an seinem Habitus. Das gilt nicht nur für den evangelischen Christen, sondern zieht sich durch alle abrahamitischen Religionen. Dieses Auffallen als frommer Bekenner ist von Seiten der Frommen durchaus erwünscht. Der fromme Jude mit Schtreimel und Pejes möchte als frommer Jude in Erscheinung treten, und auch die kopftuchtragende Muslimin will als das erkannt werden, was sie ist: eine fromme Muslimin. Ein Spaziergang durch die Altstadt Jerusalems zeigt rasch, was allen Frommen vom Christen über den Muslim bis zum Juden gemeinsam ist: das dicksohlige, immer ungeputzte Schuhwerk! Und damit sind wir bei einem wichtigen Punkt, der Klassifizierung.

Kategorisieren und klassifizieren Auch beim Thema Kategorisieren möchte ich mit dem beherzten Sprung in die Niederungen der Trivialität beginnen – die Welt der Yellow Press. Hier wird berichtet, dass die Herzogin von Sussex, besser bekannt unter ihrem Mädchennamen Meghan Markle, das royale Landleben in Tweed und Gummistiefeln satt habe und sich nach ihrem früheren Leben, der Schauspielerei und dem alten Freundeskreis sehne (Dietloff 2019). Dies überrascht nun tatsächlich niemanden, denn immerhin ist die Welt der amerikanischen Schauspieler der Kreis (oder das soziale Feld), in dem die heutige Herzogin von Sussex sozialisiert wurde, deren Sitten und Wertekanon sie übernommen hat, mit denen sie gemeinsame Gesprächsthemen und Interessen teilt und deren Geschmack in kulturellen Fragen mit dem ihrigen mehr oder weniger identisch ist. Wenn es früher um Wettbewerb ging, dann um Wettbewerb in diesem Kreis. Wer hatte die schlankeste, durchtrainierteste Figur auf Instagram oder Facebook zu posten? Wer trug das extravaganteste Outfit, hatte die stylishste Wohnung und bekam die interessantesten Rollenangebote? Dies war die Umgebung, in der sich die junge Frau sicher fühlte, denn sie hatte als Tochter eines Kameramannes quasi von Geburt an sämtliche ungeschriebenen Regeln erlernt und verinnerlicht, die in diesem sozialen Feld galten und gelten. Dann, nach ihrer Einheirat in die königliche Familie, war plötzlich alles anders. Das Posten von Fotos, auf denen man im kondomartig anliegenden Fitnessdress erschien, war plötzlich nicht

13  Der eine hat’s – der andere nicht     331

lediglich unfein, sondern galt als ausgesprochen pfui. Wählte sie früher einen auffallenden Nagellack, musste er nun auf den moderat kurzen Fingernägeln hell, am besten farblos sein, das Makeup dezent. Um die Sache auf den Punkt zu bringen: Der Fink mit der Extrafeder auf dem Kopf (Kap. 3), Lady Gagas Perücken oder gar Madonnas Korsetts kamen als Mittel der Verschönerung ebenso wenig infrage wie eine chirurgische Brustvergrößerung. Eine Herzogin, ein Mitglied der Königsfamilie gar, versucht nämlich nicht, mit ihren körperlichen Vorzügen zu punkten, d. h. ihre Qualitäten als mating-Partnerin in den Vordergrund zu stellen! Wir, verehrte Leserin und verehrter Leser, wissen das längst! Aber auch das alltägliche Verhalten, wie man steht, geht oder winkt, musste neu gelernt werden. Immerhin geriet die frischgebackene Herzogin in das Kreuzfeuer der Kritik, weil sie beim Sitzen die Beine übereinandergeschlagen hatte (Abb. 13.3)!

Abb. 13.3  Die perfekt gekleidete Herzogin von Sussex schlägt beim Sitzen sehr elegant, aber nicht standesgemäß die Beine übereinander. (© Photoshot/picture alliance/)

332     I. Wunn

Kurz und gut, die ehemalige Schauspielerin in US-Fernsehserien musste, was ihr Verhalten anbelangte, gehörig umlernen, und dieses Umlernen war ausgesprochen anstrengend. Jeder Griff in den Kleiderschrank widersprach der eigentlichen Neigung, jede Mahlzeit – Hammel in Minzsauce statt Burger – war eine Tortur für die Geschmacksnerven, und jeder Auftritt war ein Meisterwerk an darstellerischer Kunst und bedurfte höchster Konzentration. Ausbrüche aus diesem Korsett der guten Sitten waren nicht vorgesehen. Wenn, wohlgemerkt, nur wenn Meghan Markle früher auf ein Festival wie AfrikaBurn gegangen wäre, hätte sie sich im Zuge der erwünschten radikalen Selbstdarstellung in einem fantasievollen, knappen Kostüm unter die anderen Festivalteilnehmer mischen und hemmungslos communitas praktizieren können. Nun, als Ehefrau des Sechsten der britischen Thronfolge, kam und kommt communitas welcher Couleur auch immer bestimmt nicht infrage. Im Gegenteil beschränken der Rang ihres Mannes und die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Klasse auch die Möglichkeiten zu sogenannten kleinen Fluchten. Wir sind also geneigt, den Äußerungen der Klatschblätter Glauben zu schenken, dass die frühere Schauspielerin und heutige Herzogin sich nach manchen Aspekten ihres früheren Lebens zurücksehnte! An dieser unserer Reaktion ist zweierlei interessant. Erstens: Wir sind geneigt, den Äußerungen der Yellopress, die sich höchst vage auf Informanden aus höfischen Kreisen beruft, Glauben zu schenken, denn es scheint uns nur natürlich, dass die junge, an ein freies und selbstbestimmtes Leben gewöhnte Frau sich im Umfeld des englischen Hofes unwohl fühlt. Dies setzt jedoch voraus, dass wir bereits eine Vorstellung davon haben, dass es sich bei dem englischen Hochadel einerseits und der zweiten oder dritten Garde der Schönen und Reichen Hollywoods andererseits um sehr wohl voneinander unterscheidbare soziale Schichten mit ihrem jeweiligen Habitus handelt, deren Vorstellungen von angemessener Lebensweise, einem gelungenen öffentlichen Auftritt und Freizeitvergnügungen vollkommen unterschiedlich sind. Das heißt also, dass nicht nur die adlige Oberschicht genau weiß, was sie von einem der Ihrigen mit Fug und Recht erwarten darf, und eine klare Grenze zieht, sondern dass die Gesellschaft diese Ansichten teilt. Die Gesellschaft, in diesem Falle die Leserinnen der genannten Gesellschaftspostillen, hat also ein genaues und fein abgestimmtes Klassifikationssystem verinnerlicht, mit dessen Hilfe sie die Personen ihres Umfeldes ebenso klassifiziert und kategorisiert wie Persönlichkeiten, die man lediglich aus den unterschiedlichen Medien kennt beziehungsweise zu kennen vermeint. Wir sind also gewohnt zu klassifizieren und haben neben den Charakteristika einer

13  Der eine hat’s – der andere nicht     333

jeden sozialen Schicht auch deren Rangfolge verinnerlicht. Nach dieser Rangfolge rangiert eine royale Familie über der ansonsten bewunderten und tonangebenden Schicht der Film- und Medienstars, und dem interessierten, vermutlich vorwiegend weiblichen Leser scheint es nur zu natürlich, dass sich eine junge Frau, die aus der Welt der Stars in die Welt des Hochadels eingeheiratet hat, die Gepflogenheiten eben jener angeblich höheren Schicht zu eigen macht. Aber eigentlich ist das gar nicht natürlich! Warum nur sollte eine attraktive und wirtschaftlich unabhängige junge Frau, die sich selbstbewusst und selbstbestimmt in ihren Kreisen bewegt hat und für dieses soziale Feld genau den richtigen Habitus hatte, alle ihre Gewohnheiten und Vorlieben ändern, nur um in einer vollkommen anderen sozialen Schicht zu bestehen? Warum soll sie Bevormundung ertragen und sich sogar ihren Sitzstil vorschreiben lassen, wenn sie in ihrem bisherigen, erfolgreichen Leben auch mit übereinandergeschlagenen Beinen gut zurechtkam? Ihr Verhalten ist unter rein logischen Gesichtspunkten umso weniger verständlich, weil der Adel, abgesehen von den regierenden Monarchen als politischen Oberhäuptern und Stabilitätsfaktoren in ihren jeweiligen Staaten, in der heutigen westlichen Gesellschaft eigentlich keine Rolle mehr spielt (Kap. 15). Anders jedoch die Manieren, der adelige Habitus: Er gilt immer noch als die Krone des Benimms und als unbedingt erstrebenswert und war natürlich auch Vorbild (aber nicht identisch) für meine bürgerliche Erziehung, und zwar, weil er etwas hat, was nicht produzierbar oder käuflich ist: Anciennität! Der Adel ist alt! Seine Manieren haben sich im Laufe von Generationen ausgebildet; seine Kleidungsvorschriften, seine Tischsitten, ja selbst sein Tafelsilber und sein Speiseservice stammen mindestens aus dem letzten oder vorletzten Jahrhundert. Da spielt es keine Rolle, wenn, wie im Roman Der Leopard (Tomasi di Lampedusa 1958), im Hause des Fürsten Salina kein unversehrtes Service mehr anzutreffen ist, weil die nachlässigen Küchenjungen hier Verheerungen angerichtet haben. Wichtig ist das Alter des Porzellans, denn ein neues Tafelservice kann jeder kaufen, auch der Emporkömmling Don Calógero. Das Alte, das Ererbte ist eben nicht käuflich, denn es ist unverfügbar, und genau das gilt auch für die angeborenen Manieren und den über Generationen erworbenen Habitus! Deshalb gilt das Bildungsgut des 19. Jahrhunderts in bürgerlichen Kreisen immer noch als erstrebenswert: Gebildet ist derjenige (m/w/d), der sich in der klassischen Musik und nicht etwa in der Rapperszene auskennt. Gebildet ist derjenige, der die großen Maler der Renaissance und die französischen Impressionisten und nicht etwa die Karikaturisten von Charly Hebdo oder den Zeichner des Comics Asterix und Obelix, Albert Uderzo, kennt. Bildung betrifft auch

334     I. Wunn

stets das rein Schöngeistige und nicht das Nützliche. Gebildet und fein ist derjenige, der das Lateinische und Altgriechische beherrscht, während der Händler auf dem Touristenmarkt von Luxor, der außer Arabisch noch Englisch, Deutsch, Französisch, Italienisch, Spanisch, Russisch, Chinesisch und Neuhebräisch spricht, keineswegs als Bildungsbürger durchgeht. Als gebildet, und zwar im vornehmen Sinne, galt auch meine Mutter, die jede Operninszenierung, jeden Regisseur und jeden Intendanten kannte, während meine gar nicht so üblen Kenntnisse in Physik zwar bewundert, aber keinesfalls unter der Rubrik Bildung abgeheftet wurden. Die Fähigkeit, über Kunst und Musik fundiert plaudern zu können, gehörte also zum bildungsbürgerlichen Habitus; die Fähigkeit zu erklären, was Quarks sind oder auch nur das Ohm’sche Gesetz, gehörte nicht dazu! Auch hier, in meinem ganz persönlichen Umfeld, zählte also die Anciennität des Wissens als Teil des bürgerlichen Habitus. Die Tatsache, dass man seit Jahren gewohnt war, die Oper zu besuchen und die besten Produktionen zu kennen, also Eigenschaften, die die nötige Muße und den über mehrere Generationen in Fleisch und Blut übergegangenen Sachverstand zu haben, ist wertvoller als ein wirtschaftlich oder wissenschaftlich verwertbares Wissen, genauso wie der Opernconnaisseur mehr zählt als der Opernkritiker, der schließlich ganz ordinär sein Geld mit seinen Opernkenntnissen verdienen muss. Übrigens, ein kleiner, aber wichtiger Zusatz: Sowohl das Gefühl für soziale Schichten und die Grenzen zwischen ihnen als auch die Kriterien für die Bewertung sind kulturspezifisch. In einer fremden Kultur lassen sich soziale Schichten nicht ohne Weiteres erkennen. So gilt in weiten Teilen Afrikas Körperfülle noch immer als erstrebenswert und als untrügliches Zeichen für Reichtum und damit eine hohe soziale Stellung. Auch zählen eine gewisse zur Schau getragene Würde und Unnahbarkeit zu den Eigenschaften, die den Habitus einer wichtigen Persönlichkeit ausmachen. Während meiner Zeit in Ostafrika war die Magerkeit meiner Kinder für die Nachbarn, darunter etliche Akademiker, ein Stein des Anstoßes und der Grund wiederholten Nachfragens. Sie selbst setzten alles daran, ihre Kinder durch reichliche und reichhaltige Mahlzeiten regelrecht zu mästen. Dass ein dickes Kind hier als Unterschichtsphänomen (dick durch Fehlernährung) gilt, ist meinen afrikanischen Freunden bis heute völlig unverständlich! Nur eines – ich kann mir die Bemerkung hier einfach nicht verkneifen – gilt überall als nicht wirklich fein und höchstens mittelschichttauglich: der anstelle einer Handtasche oder Aktentasche getragene Rucksack (gilt nicht für den Funktionsrucksack beim Wandern!). Wenn ich in Sachen Fitnessstudio und sozialer Schicht noch mit mir diskutieren lasse, dann bestimmt

13  Der eine hat’s – der andere nicht     335

nicht bei diesem grauenhaften Accessoire von All-inclusive-Reisenden und Rentnern, und da kann der ehemalige Co-Vorstandsvorsitzende der Deutsche Bank, Anshu Jain, heute übrigens auch ins Bodenlose abgestürzt (siehe Schimpanse Mike), ihn noch so selbstbewusst getragen haben! Stimmt nicht? Haben Sie jemals Prinz Philipp oder auch nur Melania Trump mit einem Rucksack gesehen?

Das Selbstkategorisieren Wir fassen unsere Erkenntnisse an dieser Stelle zusammen: Ein bestimmter Habitus, eine Gemengelage aus erlernten Vorlieben, Kenntnissen und Verhaltensweisen zusammen mit bestimmten Ansprüchen ist für eine Gruppe so charakteristisch, dass er geeignet ist, diese Gruppe von anderen abzugrenzen. Kommt eine gewissen Wertung oder ein Ranking hinzu, das der besagten Gruppe einen Platz zwischen den anderen Gruppen zuweist, kann man von einer sozialen Schicht sprechen, die wiederum an ihrem Habitus zu erkennen ist. Dies funktioniert jedoch nur in der Kultur, mit der und mit deren Gepflogenheiten man vertraut ist. In einer fremden Kultur wird man seine Stellung im sozialen Gefüge, wird man seine soziale Schicht erst suchen müssen, um sich dann dem dortigen Habitus anzupassen. Ein Beispiel: Vor einigen Jahren kam ein aus Iran stammender geisteswissenschaftlicher Kollege an eine deutsche Universität (Abb. 13.4). Seinen eigenen heimischen Gepflogenheiten folgend, trug er stets Anzug und Weste, bewegte sich langsam und würdevoll und versuchte, sich einen Mitarbeiterstab aufzubauen, der ihm gegenüber ein in unseren deutschen Augen unterwürfiges Verhalten an den Tag legen sollte. Letzteres scheiterte sofort, denn die deutschen Studenten und Doktoranden hatten einfach den Habitus des neuen Professors nicht verstanden und nicht durchschaut. Es bedurfte einiger klärender Gespräche, bis deutlich geworden war, dass zwar auch in Deutschland ein Autoritätsgefälle zwischen studentischer Hilfskraft und Professor besteht, dass dieses aber nicht deutlich zur Schau gestellt wird, sondern auf einer subtilen Ebene zum Tragen kommt. Auch hatte der im Übrigen wunderbar höfliche Kollege zunächst Schwierigkeiten, sich unter Seinesgleichen zurechtzufinden. Er hatte weitere würdige Anzugträger erwartet, die er dann, obwohl gleichrangig, mit vollem Titel ansprach und vice versa mit vollem Titel angesprochen zu werden erwartete. Auch das entpuppte sich als Fehlschlag. Auch wenn sich die Verhältnisse einspielten und der kluge Mann für eine gewisse Zeit erfolgreich an seiner Gastuniversität arbeitete, glaube ich nicht, dass er sich in einem Kreis wohlgefühlt hat, in dem die Professoren

336     I. Wunn

Abb. 13.4  Prof. Richard Sosis, mein reizender Kollege, mit typisch professoralem Habitus. Abdruck mit freundlicher Genehmigung

einen so ganz anderen Habitus, nämlich den des intellektuellen Struppis, an den Tag legten. Woher dieses Struppitum kommt? Ganz einfach, natürlich aus der uralten europäischen Intellektuellentradition, in deren Nachfolge man sich sieht: Da waren zunächst die vorchristlichen Kyniker (Diogenes in seiner Tonne), dann der der Armut verpflichtete Jesus! Diesem intellektuellen Vorbild eifert man heute wieder unbewusst nach. Ein wenig wie dem Kollegen aus Iran ging es auch den Menschen, die seit den 1960er Jahren als Arbeitsmigranten aus der Türkei nach Deutschland kamen. Sie wurden zunächst genau wie Italiener, Spanier oder Portugiesen als Gastarbeiter bezeichnet und fühlten sich auch so. Sie sahen ihren Aufenthalt in Deutschland als begrenzt an, sie schickten Geld in ihre Heimat und ordneten sich in sozialer Hinsicht der Schicht zu, der sie in der Heimat entstammten: anatolischer Arbeiter oder Bauer. Mit dieser Selbsteinschätzung war der gewohnte Habitus verbunden, der den Kleidungsstil, die Essgewohnheiten, die geistigen Interessen und das Verhalten Autoritäten gegenüber betraf. Manch einer der damaligen sogenannten Gastarbeiter hatte gewisse Affinitäten zu einer bestimmten in der Heimat praktizierten Form des Islam und pflegte auch im Gastland entsprechende Kontakte. Das war alles. Die Gastarbeiter sahen sich als Gastarbeiter. Erst in den 1970er Jahren, als im Zuge des Familiennachzugs auch die Frauen ihren Männern nach Deutschland folgten, änderte sich etwas im Verhältnis von Gastland und Zugewanderten: Diese Frauen hatten einen ganz bestimmten Habitus. Wie

13  Der eine hat’s – der andere nicht     337

aus der Heimat gewohnt, spielte sich ihr Leben eher im häuslichen Umfeld ab. Die eine oder die andere ging beim Einkauf einen oder zweite Schritte hinter ihrem Mann. Oft sprach sie gar kein Deutsch und versuchte auch nicht, mit ihrer deutschen Umgebung Kontakt aufzunehmen. Und, als deutlichstes Zeichen der Andersartigkeit, trug sie lange Röcke und ein Kopftuch! Es waren Menschen nach Deutschland gekommen, die man so mit dem von ihnen gezeigten Verhalten und mit ihrem speziellen Aussehen nicht gewohnt war. Deutschland hatte die Muslime entdeckt! Ab jetzt waren die Muslime Thema! Kennzeichen für sie war ein typischer Habitus, der sich an der Kleidung, an der Sprache und an der Einstellung gegenüber Frauen festmachen lassen sollte. Und die Muslime reagierten. Sie sahen sich nun nicht in erster Linie als gut im Ausland verdienende anatolische Arbeiter oder Bauern, als die Gewinner eines mutigen Aufbruchs in eine unbekannte Fremde (die sie ja waren), und sie sahen sich auch nicht als typische Vertreter der Arbeiterklasse (die sie ja auch waren). Deutschland, und auch der deutsche Arbeiter, hatte die Kollegen aus Anatolien mit ihren Familien als Muslime klassifiziert, und sie hatten diese Klassifizierung einschließlich der damit verbundenen Charakterisierung angenommen. Ab sofort stellten sie auch nach eigenem Empfinden eine eigene soziale Schicht dar, die Schicht der Muslime. Dementsprechend betonten sie von nun an im Rahmen der Diskussion um den richtigen Habitus besonders das Islamische: die Verbundenheit mit der Familie, die Ehrbarkeit und eine besondere islamische Frömmigkeit. Hinterhofmoscheen schossen geradezu aus dem Boden, und getreu unserer Ritualtheorie – aus communitas entsteht Struktur – gründete man zuerst Moscheevereine und dann Verbände. Innerhalb dieser neuen sozialen Schicht entstand und verfestigte sich nun ein als typisch islamisch klassifizierter Habitus, der sich vor allem bei jungen Frauen am Kopftuch festmachen lässt. Das Kopftuch ist quasi das Wahrzeichen der muslimischen deutschen Frau! Bei all dieser Fremdzuschreibung und Selbstkategorisierung geriet eines völlig aus dem Blickfeld: Es gab schon seit etlichen Jahrzehnten Muslime in Deutschland, die entweder irgendwann einmal zum Islam übergetreten oder als Ärzte oder Kaufleute nach Deutschland gekommen waren. Sie gehörten und gehören ganz anderen sozialen Schichten an. Da ist der Ayatollah, ein hochrangiger schiitischer Geistlicher und brillanter Theologe im Range eines Kardinals; da ist das Vorstandsmitglied eines großen Konzerns mit seiner eleganten, weltläufigen Frau; da ist der tüchtige, joviale Unternehmer; und da ist die erfolgreiche Politikerin! Sie alle haben einen bestimmten Habitus, aber eben nicht den des „typischen Muslim“, sondern den Habitus der hohen Geistlichkeit, den Habitus des Maßanzugträgers, den Habitus des erfolgreichen Unternehmers und den typischen Politikerhabitus.

338     I. Wunn

Mit der Zuschreibung „deutsche Muslime“ sind also nicht die genannten erfolgreichen Persönlichkeiten gemeint, sondern die soziale Schicht der zugewanderten muslimischen ehemaligen Gastarbeiter, deren Verhalten wir jetzt unter einem ganz neuen Gesichtspunkt analysieren können. Diese sogenannten Gastarbeiter kamen nach Deutschland; wenig später folgten ihre Familien. Ihre Identifikation mit der alteingesessenen Arbeiterschaft war vielleicht aus Gründen der Konkurrenz, vielleicht wegen fehlender Sprachkenntnisse mangelhaft, sodass die Zugewanderten in sozialer Hinsicht marginalisiert irgendwie am Rande der Gesellschaft lebten. Erst durch eine Kategorisierung aufgrund eines als typisch empfundenen Habitus entstand aus den liminalen gesellschaftlichen Elementen so etwas wie eine soziale Schicht. Man übernahm die der Kategorisierung zugrunde liegenden Charakteristika und machte sie zu den entscheidenden Eckpunkten des eigenen Habitus. Bei der Suche nach möglichen höchsten, nicht mehr hinterfragbaren Werten stieß man auf ein Alleinstellungsmerkmal: den Islam. Auch er konnte – zwar nicht gerade in Deutschland, aber doch immerhin unter weltgeschichtlichen Aspekten – Anciennität für sich beanspruchen. Ein traditioneller muslimischer Habitus adelte also eine ganze Gemeinschaft, eine komplette soziale Schicht. Aus Turners Liminalität war durch Kategorisierung und Selbstkategorisierung eine soziale Schicht, und innerhalb der sozialen Schicht waren durch das Ausbilden von Strukturen Systeme entstanden! Sobald man aber eine wahrnehmbare soziale Schicht ist, kann man für diese Schicht sprechen, man kann Rechte einfordern! Man kann Organisationen gründen, die die Interessen eben jener Schicht vertreten und die im Kampf um Ressourcen und Anerkennung mitspielen!

Literatur Dietloff T (2019, 5. September) Ziel: Weit weg. Gala Nr. 27, S 22–24 Graeber D (2012) Schulden. Die ersten 5000 Jahre. Klett-Cotta, Stuttgart Knobloch C, Seligman R (2012) In Deutschland angekommen: Erinnerungen. DVA, München Poschardt U (2012, 13. September) Die Spießigkeit auf der Haut der Bettina Wulff. WELT. https://www.welt.de/kultur/article109183938/Die-Spiessigkeit-auf-derHaut-der-Bettina-Wulff.html Suter M (2014) Allmen und die Dahlien. Diogenes, Zürich Tomasi di Lampedusa G (1958) Il Gattopardo. Feltrinelli, Milano Tomasi di Lampedusa G (2019) Der Leopard. Roman. Deutsch von Burkhart Kroeber. Piper, München

14 Kapital

Mein Kollege, das kulturelle Kapital und ich Ich bin, das haben Sie, meine geduldigen Leserinnen und Leser, ja bereits gemerkt, als ursprüngliche Naturwissenschaftlerin erst vergleichsweise spät zu den Geisteswissenschaften gekommen und handhabe sie methodisch immer noch wie Naturwissenschaften. So war es auch mit Bourdieu, den mir erst ein sehr geschätzter Kollege nahebrachte. Inzwischen nimmt mich der Kollege leider nicht mehr zur Kenntnis; ich muss irgendetwas falsch gemacht haben. Aber das passiert leicht im Zuge des gesellschaftlichen struggle for existence (siehe Schimpanse Figan und die nun folgenden Ausführungen). Also, besagter Kollege hat sich als Bourdieu-Spezialist einen Namen gemacht und brachte mir diesen großen Denker auf dem Umweg über das Bourdieu’sche Kapitalverständnis nahe. Nach Bourdieu – und damit unterscheidet er sich von Marx – gibt es verschiedene Arten von Kapital. Neben dem allseits bekannten ökonomischen Kapital, das man in Form von Produktionsmitteln oder Geld besitzt und das entscheidend für die eigene soziale Stellung ist, gehört auch der Besitz von Wissen zum Kapital. Über die gesellschaftliche Stellung, so der Kollege, entscheidet letztlich der gesamte Kapitalbesitz. Wenn der Unternehmer über ökonomisches Kapital verfügt, so verfügt der Professor in höchstem Maße über Wissen, also über kulturelles Kapital. In einem Koordinatensystem, in dem auf der einen Seite das ökonomische, auf der anderen Seite das kulturelle Kapital eingetragen wird, befinden sich demnach beide auf der gleichen Höhe, nehmen also im sozialen Ranking dieselbe Stellung ein! © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Wunn, Vier Theorien, um die Welt zu beherrschen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61376-4_14

339

340     I. Wunn

Vernehme ich brüllendes Gelächter Ihrerseits? Sie liegen genau richtig! Bourdieu hat zwar eigentlich recht und damit auch der Kollege, aber Letzterer hatte den Wechselkurs zwischen den Kapitalarten nicht berücksichtigt. Die Inflation an Professoren – selbst ein abgehalfterter Politiker oder gescheiterter kirchlicher Würdenträger wird heute noch mit dem Titel eines Professors getröstet (Kap. 15) – hat dazu geführt, dass der Wert des kulturellen Kapitals ungefähr mit dem der italienischen Lira vor der Einführung des Euro oder mit dem Wert der Riester-Rente verglichen werden kann! Und daher wartet besagter kluge Bourdieu-Spezialist immer noch auf die gesellschaftliche Anerkennung und auf die Einladung zum Empfang des Oberbürgermeisters aus Anlass der Eröffnung der Kunstfestspiele aus Kap. 1! Dennoch bleibt festzuhalten: Diejenigen, die in der ersten Liga mitspielen, haben nicht unbedingt alle viel Geld, sondern können mit anderen Aktiva punkten. Schauen wir uns also unter diesem Gesichtspunkt noch einmal unseren Empfang an: Da waren zunächst einmal die Unternehmer. Es bedarf keiner weiteren Diskussion, um deutlich zu machen, welcher Art ihr Kapital ist. Sie sind reich. Sie besitzen, um mit Marx zu sprechen, die Produktionsmittel. Das müssen nicht unbedingt Fabriken oder Ländereien wie zu Marx‘ Zeiten sein. Zu den Reichen gehört vielleicht der Besitzer einer Drogeriemarktkette (geht nach den Regeln von 1917 gar nicht, denn man durfte als Angehöriger der wirklich feinen Welt zwar einen Großhandel, aber keine offenen Ladengeschäfte betreiben; Berndorff 1966). Dazu gehört auch der Unternehmer, der sich in großem Maßstab auf Gebäudereinigung spezialisiert hat, und dazu gehört der noch jugendliche Gründer eines millionenschweren Start-ups auf dem Geldmarkt. Alle Genannten sind Eigentümer eines Kapitals, das sich in bare Münze verwandeln lässt, dessen Wert sich also in Euro, Dollar oder meinetwegen auch in Gold oder Bitcoins ausdrücken lässt. Zu dem besagten Event waren jedoch auch Personen geladen, die keineswegs über großen ökonomischen Reichtum verfügten, wie zum Beispiel die gesellschaftlich aktiven Vertreter des Adels. Die Zeiten ihres Reichtums liegen mehr oder weniger lange zurück. Eventuell hatte bereits der Urgroßvater eine Rechenschwäche und konnte Ausgaben und Einnahmen nicht in ein ausgewogenes Verhältnis bringen, denn in der feinen Gesellschaft spricht man nicht über Geld. Man hat es oder tut zumindest so (siehe unsere Romanfigur Herr von Allmen aus Kap. 13). Vielleicht aber verlor die Familie auch durch politische Veränderungen einen erheblichen Teil ihres Vermögens, als zu Beginn der Weimarer Republik alle Adelsprivilegien abgeschafft wurden. In den Genuss der Einladung kommen sie also nicht wegen ihres ökonomischen Kapitals, sondern wegen eines ganz

14 Kapital     341

anderen Besitzes: ihres inkorporierten kulturellen Kapitals. Das inkorporierte kulturelle Kapital ist nämlich jene kulturelle Kapitalform, die mein hochgelehrter Kollege nicht oder auf jeden Fall nicht in gleichem Maße besitzt wie der fiktive Herr von Allmen, der höchst reale Prinz Harry oder der ebenso reale Prinz aus altem Hochadel, der gelegentlich den besagten Events den nötigen verstaubten Glanz verleiht. Er – in Wirklichkeit präsentiere ich Ihnen hier ein Medley verschiedener prinzlicher Persönlichkeiten – hat wunderbare Manieren, die beim formvollendeten Handkuss beginnen. Sie streben einem Höhepunkt zu, wenn es um eine elegante Ausrede für die peinliche Tatsache geht, dass er sich mir nach zehnjähriger Bekanntschaft immer noch vorstellt, sich also mein Gesicht einfach wegen meiner gesellschaftlichen Belanglosigkeit nicht merken kann, und sie erschöpfen sich noch lange nicht in seiner Rolle als ungemein aufmerksamer Tischherr (trotz meiner Belanglosigkeit). Natürlich spielt man wunderbar und auf Profiniveau Klavier oder Cello, ohne jemals einen Broterwerb aus diesen Fähigkeiten machen zu wollen, und ebenso selbstverständlich ist man in der Literatur bewandert; allerdings mehr in den Klassikern und dem Bildungsgut der letzten und vorletzten Generation als in der zeitgenössischen Literatur und Kulturkritik. Das heißt, dass besagter Prinz oder Fürst recht fundiert über Kleists Penthesilea plaudern kann und auch den Inhalt von Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes oberflächlich kennt, weil er über diese Autoren bereits im Elternhaus gehört hat, nicht aber die Erzählungen von Gao Xingjian oder Edward Saids Kritik am europäischen Orientalismus. Aber darum geht es auch nicht. Leistung und der Wunsch, mit Leistung auch auf kulturellem Gebiet zu punkten, ist etwas zutiefst Bürgerliches. Das inkorporierte kulturelle Kapital, das der Adel besitzt, ist dagegen etwas nicht bewusst Erworbenes, sondern etwas, das sich im Laufe der Jahre durch die Erziehung von Kindheit an ansammelt und eben inkorporiert, bis es zu einem Teil des Selbst, zum Habitus geworden ist. Dementsprechend haftet dieser Form des Kapitals etwas Besonderes an: Es ist so wertvoll, weil es sich eben nicht so ohne Weiteres erwerben und nicht einmal im juristischen Sinne vererben lässt. Andererseits kann es eben nur durch eine bestimmte Form von Erben gewonnen werden, nämlich durch die direkte Übernahme dieser alten Sitten von den Vorfahren. Und genau darin liegt ihr Wert, der sich durchaus in einen ökonomischen Wert umrechnen lässt. Der Erwerb von Bildung kostet nämlich viel Zeit, und in dieser Zeit kann der junge Mann und kann die junge Frau keinem Broterwerb nachgehen und den Grundstein für ein zukünftiges oder auch nur für die Rettung des alten Vermögens legen. Die Zeit wird vielmehr in ein nicht ökonomisches

342     I. Wunn

Kapital, nämlich Bildung und Kultur, investiert, das also folgerichtig den gleichen Wert wie ein zeitgleich erwirtschaftetes ökonomisches Kapital haben müsste. Nur wird das inkorporierte kulturelle Kapital nicht während eines Schulbesuchs oder Studiums erworben, sondern quasi en passant. Eine solche Investition war nur möglich, weil die Vorfahren die nötigen Voraussetzungen schufen. Durch Arbeit, Kriegszüge und geschicktes politisches Agieren sammelten sie im Laufe von Generationen zunächst ein ökonomisches Kapital an, das die nachfolgenden Generationen in die Lage versetzte, auf weitere ökonomische Aktivitäten weitgehend verzichten zu können und stattdessen kulturelles Kapital zu akkumulieren (Bourdieu 1992). Sie akkumulierten jedoch nicht nur das inkorporierte, also zum zweiten Selbst, zum Habitus gewordene Kapital, sondern gleichzeitig ein weiteres, ein bewegliches kulturelles Kapital, das sich deutlich leichter in ökonomische Aktiva verwandeln lässt: das objektivierte kulturelle Kapital. Dabei handelt es sich um alle jene schönen und wertvollen Dinge, die sich im Laufe der Generationen in den Schlössern und auf den Landsitzen unserer Adligen angesammelt haben, als da sind Bilder großer Meister, kostbare Reliquiare, Tafelsilber, Porzellan, komplette Bibliotheken wie die Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar oder die alten Raritätenkabinette der Fürsten, die heute meist in öffentliches Eigentum übergegangen sind und als naturkundliche Museen oder Landesmuseen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Ursprünglich waren sie jedoch, wie das Grüne Gewölbe und der Zwinger in Dresden, die privaten Schatzkammern der Fürsten, in denen eine besondere Form des Reichtums gehortet wurde. Der Erwerb dieser Schätze hatte die Fürsten viel Geld gekostet und stellte auch in ökonomischer Hinsicht ein beachtliches Vermögen dar. Während der sinnliche Genuss dieser schönen Dinge wieder inkorporiertes kulturelles Kapital voraussetzt, nämlich eine bestimmte Form von Bildung, um das Kunstwerk überhaupt verstehen und die Schönheit einer Meissener Vase genießen zu können, lassen sich die materiellen Werte dieser Sammlungen ohne Schwierigkeiten errechnen: Das Bild „Jakobssegen“ des holländischen Malers Rembrandt van Rijn, das heute in der Gemäldegalerie alter Meister in Kassel hängt, wurde zusammen mit anderen Werken niederländischer Meister von dem Landgrafen Wilhelm VIII. von Hessen-Kassel (1751– 1760) angeschafft und hat heute einen ökonomischen Wert, der in die Millionen geht. Nun hat nicht jeder Adlige, nicht jedes ehemalige Fürstenhaus seine Rembrandts, Dürers und Tizians, aber auch jenseits der Publikumsmagneten (nach Bourdieu besonders interessant für die Mittelschicht!) haben sich in

14 Kapital     343

den Schlössern und Residenzen des Adels Objekte angesammelt, die ein kulturelles Kapital mit erheblichem ökonomischem Gegenwert darstellen. Wie leicht sich objektiviertes kulturelles Kapital in ökonomisches Kapital umwandeln lässt, zeigt sich immer dann, wenn eine dieser alten Familien wieder einmal auf dem Trockenen sitzt und dringend Geld benötigt (die Fähigkeit, zwischen Soll und Haben unterscheiden zu können, gehört nicht zum adligen Habitus). Dann wandern schon einmal kulturelle Kostbarkeiten in ein international renommiertes Auktionshaus oder werden von der öffentlichen Hand aufgekauft, und das zu Preisen, bei denen sich dem Steuerzahler der berechtigte Verdacht aufdrängt, hier sei das inkorporierte kulturelle Kapital gleich mit eingepreist worden. Übrigens: Manchmal versucht der Adel auch, seine weniger wertvollen, aber lästigen Besitztümer wie nicht beheizbare, vor sich hin bröckelnde Schlösser mit Klosett auf der halben Treppe an die besagte öffentliche Hand weiterzureichen, die dann das angebliche Kulturgut aufkauft und übernimmt. Dabei vertraut sie auf die Expertise eben jenes Adligen, der ja als Besitzer eines ungeheuren kulturellen Kapitals in geschmacklicher Hinsicht gar nicht irren kann – und ruckzuck ist der Staat Eigentümer einer weiteren teuren und kulturgeschichtlich belanglosen Immobilie aus der Zeit des Historismus! Bei der dritten Form von kulturellem Kapital, dem institutionalisierten kulturellen Kapital, handelt es sich endlich um diejenige Kapitalform, auf die mein Kollege seine gesellschaftlichen Hoffnungen gegründet hatte: die mühsam individuell zu erwerbende und mit Zeugnissen belegbare Bildung. Eigentlich befand er sich durchaus im Recht. Immerhin hatte er zuerst jahrelang in der Schule gebüffelt, um dort einen höchst erstrebenswerten Abschluss, das Abitur, zu erreichen. Dann hatte er nicht etwa einen Beruf ergriffen und bereits Geld verdient, sondern an der Universität weitergelernt, einen Magistertitel erworben, promoviert und anschließend noch eine Habilitationsschrift verfasst. Alles das kostete ihn viel Zeit, und er war um die 50 Jahre alt, als er endlich die angestrebte Professur bekam. Wäre er zum Beispiel stattdessen Klempner geworden, hätte er bereits mit 16 als Azubi kleines Geld verdient, als Geselle mehr, und hätte inzwischen vielleicht seinen eigenen Betrieb mit etlichen Angestellten haben können. Auf heutige Verhältnisse umgerechnet würde das bedeuten, dass er mit 19 Jahren, wenn andere ihr Abitur machen, bereits 36.000 EUR verdient hätte, und in den folgenden Jahren, während er tatsächlich noch auf Kosten seiner Eltern studiert und jeden Monat etwa 1000 EURbenötigt hatte, weitere 2500 bis 3500 EUR hätte verdienen können. Rechnen wir noch einmal bescheiden mit dem unteren der beiden erwähnten ungefähren Eckwerte,

344     I. Wunn

dann hätte unser Klempner bis zum vollendeten 50. Lebensjahr mindestens 1.000.000 EUR, wahrscheinlich aber deutlich mehr verdient, bevor unser angehender Professor, der jahrelang noch von Papa und Mama gesponsert wurde und sich mit befristeten Assistentenstellen und abendlichem Kellnern irgendwie über Wasser zu halten versuchte, endlich ein geregeltes Gehalt bezieht. Genau dieser ökonomische Einsatz, die Möglichkeit, institutionalisiertes kulturelles Kapital direkt in ökonomisches Kapital umzurechnen, spiegelte sich früher im sozialen Ansehen, welches ein Professor genoss. Er oder sie hatte hoch investiert, hatte ein Kapital in Form von Wissen angesammelt und war damit in einer bestimmten, nämlich in kultureller Art und Weise reich. Entsprechend hoch war sein/ihr Ansehen. Sie, die Plancks, die Dohnanyis, die Bonhoeffers und die Harnacks (übrigens auch in ethischer Hinsicht einwandfreie Familien, denn alle waren aktiv im Widerstand gegen Hitler), wohnten in schönen Villen in der Wangenheimstraße in Berlin, verkehrten in den ersten Kreisen und musizierten bei gemeinsamen Gesellschaften zusammen mit Albert Einstein oder dem genialen Geiger Joseph Joachim. Mein Kollege spielt leider weder Klavier mit Igor Levit, noch verkehrt er mit dem Eigentümer von Drogeriemärkten oder dem Hersteller von Backtriebmitteln. Nicht einmal einen gewesenen Landesminister kann er zu seinen Freunden rechnen. Da ist seine Frustration natürlich nur zu verständlich! Wenn früher ein Professor selten war und ein hohes soziales Ansehen genoss, bedeutete das jedoch auch umgekehrt, dass zu Zeiten meines Urgroßvaters oder selbst noch Großvaters Kinder aus armen Familien nicht studieren konnten. Ein Fabrikarbeiter verdiente gerade so viel, dass er seine Familie damit ernähren konnte, und er war froh, wenn sein 14-jähriger Sohn nach der Schulentlassung und Konfirmation eine Anstellung in derselben oder einer ähnlichen Fabrik bekam, um dort den Beruf des Werkzeugmachers zu erlernen und schon einmal ein paar Pfennige nach Hause zu tragen. Die Tochter dagegen blieb bis zu ihrer Heirat zu Hause und entlastete die Mutter, wenn sie nicht „in Stellung“ ging, also bei einer reichen Familie Dienstmädchen wurde, und auf diese Weise zum Familieneinkommen beitrug. Einen längeren Schulbesuch oder gar ein Studium hätte sich die Familie niemals leisten können (und wurde deshalb, wenn sie politisches Bewusstsein hatte, Mitglied der SPD). Hoch begabte Kinder wie der von uns erwähnte Gregor Mendel (Kap. 2), der Entdecker der Vererbungsmechanismen, waren daher auf die Unterstützung eines wohlmeinenden Gönners oder auf die Kirche angewiesen, um eine akademische Laufbahn einschlagen zu können.

14 Kapital     345

Das war natürlich unsozial und führte dazu, dass manches Talent verloren ging. Um dem abzuhelfen, hat unser heutiger Sozialstaat Mittel und Wege gefunden, jedem begabten Jugendlichen eine hochkarätige Ausbildung zu ermöglichen, und die Jugendlichen nutzen das. 44 % aller Schüler machen das Abitur, und die meisten Abiturienten schließen, vom Staat unterstützt, ein Studium an. Das Abitur hat damit keinen Seltenheitswert mehr; ebenso wenig die abgeschlossene akademische Ausbildung, und der Student (m/w/d) investiert oft auch kein eigenes ökonomisches Kapital mehr in seine Ausbildung, sondern bezieht mit dem Bafög ein kleines Gehalt, wie es auch der Azubi bekommt. Wenn besagter Staat dann noch gescheiterte religiöse Würdenträger, überflüssig gewordene Politiker und abgehalfterte Manager mit Professorentiteln tröstet und sich gazettenbekannte Neureiche (mit typisch neureichem und daher peinlichem Habitus) durch Spenden einen Doktortitel bei einer Universität kaufen können, ist es kein Wunder, wenn sich der Wechselkurs des institutionalisierten kulturellen Kapitals im freien Fall befindet. Der Titelkäufer, den ich meine, zahlte übrigens dem Vernehmen nach 500.000 €, was nach unserem oben errechneten klempnerbasierten Umrechnungskurs deutlich zu billig war. Dieser schleichenden Entwertung versuchen manch weit schauende Mama und manch reicher Papa entgegenzusteuern, indem sie ihren Sprösslingen das immer noch teure und relativ seltene Studium im Ausland ermöglichen. Rein argumentativ soll der Jugendliche auf den Gebrauch des Englischen als internationale Wissenschaftssprache und auf eine gewisse Internationalität vorbereitet werden. Letztlich kostet das Studium in Canterbury oder London aber einfach nur Geld. Man investiert also auch hier wieder ökonomisches Kapital und wandelt es in kulturelles Kapital um, und genau das zahlt sich später, wenn den üblichen Titeln noch ein LL.M. hinzugefügt werden kann, bei der Bewerbung um eine erstrebenswerte berufliche Anstellung aus. Übrigens heißt das institutionalisierte kulturelle Kapital institutionalisiert, weil sich sein Besitz mithilfe von Zeugnissen, Diplomen und Titeln belegen lässt. Ein Abiturzeugnis besagt noch lange nicht, dass sein Besitzer tatsächlich ein Bahnintegral lösen, Plutarch übersetzen oder ein paar Takte des zweiten Satzes aus Bruchs erstem Violinkonzert vor sich hin summen kann. Die Zeugnisse und Titel sind eben nur Beleg für die investierte Zeit und das investierte ökonomische Kapital. Genau diese Tatsache lag auch einem großen Missverständnis zugrunde, welches in den vergangenen Jahren etliche Politiker (m/w; von d ist mir nichts zu Ohren gekommen) ihre Karriere gekostet hatte. Im guten Glauben, mit dem Dr. vor dem Namen institutionalisiertes kulturelles Kapital erwerben zu können, verfassten sie

346     I. Wunn

ihre Dissertationen möglichst zeitsparend und damit in ökonomischer Hinsicht durchaus kapitalschonend. Wenn wir die Ökonomisierung unseres Sprachduktus auf die Spitze treiben wollen, könnten wir sagen, sie bezahlten selbst in heutiger Währung einfach nicht den angemessenen Preis für ihren Titel! Das rächte sich. Die „Vollzahler“ wurden aufmüpfig und die Discounttitel wurden aberkannt. Damit war für die entsprechenden Kandidaten das institutionalisierte kulturelle Kapital futsch. Vermutlich haben sie dennoch beim Abfassen auch der unzulänglichen Dissertation viel gelernt, also immer noch eine Form von kulturellem Kapital akkumuliert, das sich allerdings nicht so ohne Weiteres in ökonomisches Kapital umwandeln lässt.

Die Fake-Dissertation und das sakrale Königtum der Schilluk Unser obiger kleiner Abstecher in die Welt der politischen Eitelkeiten und die Protokollliste für besagtes Event zeigt uns, dass es jenseits des ökonomischen und kulturellen Kapitals noch eine ausgesprochen erstrebenswerte Kapitalform gibt, auf die alle Discounttitelinhaber setzen: das symbolische Kapital! Der gekaufte oder der mit heißer Nadel gestrickte Doktortitel, mit dem man im akademischen Betrieb rein gar nichts anfangen kann, ist für seinen Besitzer nur deshalb so erstrebenswert, weil er sich eine andere Form von Gewinn davon verspricht, nämlich gesellschaftliche Anerkennung. Er oder sie hat nicht nur kulturelles Kapital – wenn auch nur scheinbar – erworben, sondern gleichzeitig ein symbolisches Kapital, das sich für Politiker vielleicht indirekt positiv auf den Erwerb eines Mandats oder gar Ministeramtes auswirken könnte, also letztlich auch wieder in ökonomisches Kapital umwandelbar wäre. Aber auch als Minister (m/w/d) steht nicht unbedingt das Einkommen im Vordergrund, sondern die gesellschaftliche Anerkennung. Nichts ist so schön wie beim zufälligen Treffen auf dem Wochenmarkt oder beim ebenfalls zufälligen Treffen im VIP-Bereich des örtlichen Bundesliga-Fußballvereins (darunter geht eigentlich nicht) mit „Herr Minister“ oder „Frau Ministerin“ angesprochen zu werden, bestätigt diese Anrede doch die erhoffte Alphaposition im gesellschaftlichen Ranking und damit auf der mating-Liste! Ähnlich ist es um das Amt des Bundeskanzlers (m/w) bestellt. Der Job ist hart; eine 70- bis 80-Stunden-Woche ist keine Ausnahme. Selten ist man zu Hause, Flüge, Jetlag und die damit verbundene suboptimale Schlafqualität sind dafür an der Tagesordnung. Ständig trifft man Menschen, die man

14 Kapital     347

nicht mag. Nicht grundlos nannte Siddhartha Gautama, der Buddha, das Vereintsein mit Unliebem eine schlimme Form des Leidens, aus dem erst das Nirwana befreit! Man muss sich pausenlos dummes Zeug anhören, was vermutlich für eine promovierte Physikerin besonders schwer erträglich ist, man muss mit den brutalen Egoismen anderer Staatschefs irgendwie zurechtkommen und darf den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen, man muss jedes Gefühl für persönliche Kränkungen beiseiteschieben können und stundenlang auf langweiligen Gesellschaften und in ergebnislosen Konferenzen herumsitzen. Und was vielleicht das Schlimmste ist: Wenn endlich einmal Emanuel Macron der Gastgeber ist und man im Élysée-Palast diniert, darf man dem köstlichen Burgunder nicht nach Belieben zusprechen, denn man kann unmöglich hinterher den Palast ohne Schuhe und mit schief geknöpfter Jacke, leicht schwankend und fröhlich bei Macron untergehakt verlassen. Obwohl … vielleicht wäre das ja bei Putin die Methode der Wahl? Guten Wein von der Krim hat er ja jetzt wieder! Kurz und gut, ob Bundeskanzlerin oder Präsidentin der Europäischen Kommission: Weder das Gehalt noch der Arbeitsalltag empfehlen diese Berufe. Es ist etwas anderes: Die Anerkennung, die Verantwortung, die soziale Bedeutung und die Einzigartigkeit machen den Reiz dieser Positionen aus. Frau Dr. Angela Merkel (unangefochtener Doktortitel) und Frau Dr. Ursula von der Leyen (nicht ganz so unangefochten) haben etwas, was weder mein Kollege mit seiner Magna-cum-laude-Doktorarbeit und der einwandfreien Habilitation noch ich haben: symbolisches Kapital. Es ist unverfügbar, nicht zu kaufen und schwer zu erwerben. Dabei scheint es die demokratischste aller Kapitalarten überhaupt zu sein, denn es kommt nur durch gesellschaftliche Anerkennung zustande. Nur weil wir, Sie und ich, das Amt einer Kanzlerin (w, vor langer Zeit gerüchteweise wohl auch m, bisher noch nie d) oder einer Kommissionspräsidentin entsprechend hoch bewerten, können die tüchtigen Damen über ein grandioses symbolisches Kapital verfügen. Es ist letztlich dieses symbolische Kapital, das die späten (und eben selbst nicht so tüchtigen) Ehefrauen alter bis steinalter Ex-Bundeskanzler bewog, einen weder vermögenden noch fortpflanzungsfähigen mating-Partner zu wählen. Was hat es also auf sich mit diesem symbolischen Kapital, das offensichtlich einen direkten Draht zur Macht hat? Um hier klarer zu sehen, tauchen wir wieder ins exotische Afrika ein und werfen einen näheren Blick auf das mythische Königtum bei den Schilluk. Die Schilluk sind ein Volk im Nordosten des Südsudan, das nach dem Sieg Lord Kitcheners (1850–1016) über die aufständischen Anhänger des Mahdi 1898 unter britische Kolonialherrschaft kam. Die Briten verfuhren

348     I. Wunn

politisch wie gewohnt. Sie ernannten die bisherigen Autoritäten zu Chiefs, hatten nicht verstanden, was es mit der speziellen Form von lokaler Autorität auf sich hatte, und wunderten sich, dass die Sache nicht so funktionierte wie gedacht. Irgendwie tickten die Schilluk anders als die durch die Herrschaft der Großmogule bereits vor Beginn der Kolonialherrschaft gezähmten Inder. Es musste also im Sudan ein Fachmann ran, der den Grund für die Unregierbarkeit der Schilluk und der Azande oder der von uns bereits erwähnten Nuer herausfinden sollte, und dieser Fachmann war in der Gestalt des Sozialanthropologen Edward Evan Evans-Pritchard (1902–1973) bald gefunden. Was der später wegen seiner Leistungen geadelte (das sichtbare Zeichen symbolischen Kapitals, auf das mein Kollege so sehnsüchtig wartet) Evans-Pritchard herausfand, war tatsächlich erstaunlich und stellte alles auf den Kopf, was die durch die strenge philosophische Schule eines Thomas Hobbes (der mit dem Krieg aller gegen alle) gegangenen Briten gewohnt waren. Zwar hatten die Schilluk wie die Briten einen König, und dieser König schien ungleich des britischen Königs über absolute Macht zu verfügen, aber als Vertragspartner und Gewährsmann für das Einhalten einer politischen Ordnung taugte er gar nicht. Im Gegenteil: Interne Streitigkeiten bei den Schilluk waren weiterhin an der Tagesordnung, und nur ungern wollte dieses Volk von der schönen Sitte ablassen, hier und da die besser situierten arabischen Nachbarn zu überfallen und deren Hab und Gut als Beute an sich zu bringen. Gelegentlich wurde auch der König selbst das Opfer seiner Untertanen, sodass frühere Völkerkundler vom rituellen Königsmord gesprochen hatten. Tatsächlich jedoch, so befand der amerikanische Ethnologe David Graeber (2011, S. 2), war das Königtum der Schilluk eher eine Gemengelage aus Utopie und institutionalisiertem Räuberwesen: „The Shilluk kingdom was a system of institutionalized raiding, and a utopian project.“ Das kann man natürlich so sehen. Für uns jedoch zeigen die Schilluk in perfekter Weise, wie aus den konkurrierenden Überlebensmaschinen egoistischer Gene ein Staat, wenn auch ein fragiler, gebildet werden kann. Wenn für die Nuer noch die politische Organisationsform der segmentären Gesellschaft genügte, die ihre internen Konflikte mithilfe von Opferritualen und den Verweis auf letztgültige Werte bereinigen konnte, galt dies nicht mehr für die Schilluk. Ihre geografische Nähe zu den alten Königreichen von Meroe oder Ägypten, dem äthiopischen Kaiserreich und dem Machtbereich des Osmanischen Imperiums machte eine straffere Organisationsform notwendig, wenn die Schilluk als Volk überleben wollten. Eine solche straffere und damit auch hierarchische politische Organisation würde jedoch in unauflösbarem Widerspruch zu ihrer eigentlich egalitären

14 Kapital     349

sozialen Organisation stehen – wie ich bereits erwähnte, mögen Afrikaner keine Staaten und haben sie meistens auch nicht gebraucht. Sie lebten mehr oder weniger gut in funktionierenden Anarchien. Lediglich die Nachbarschaft zu hoch organisierten und machthungrigen Staaten machte auch für die Schilluk eine Organisationsform notwendig, die sie bei Bedarf in die Lage versetzt hätte, möglichen Aggressoren eine gemeinsame und potente Streitmacht entgegenzustellen. Denn: Sowohl die benachbarten Äthiopier als auch die Bewohner des arabischen Sudan sind territorial und streben danach, ihr Territorium auf Kosten ihrer Nachbarn auszuweiten (Kap. 5). Die Schilluk wählten daher einen Mittelweg, der ihren egoistischen Genen größtmögliche Freiheit garantierte, aber jederzeit ein gemeinsames Agieren als Ethnie ermöglichte. Die Grundlage der sozialen Organisation der Schilluk ist die Großfamilie, die idealerweise gemeinsam in einem kleinen Weiler von einem bis höchstens 50 Gehöften lebt. Das Oberhaupt der Großfamilie ist der männliche Familienvorstand, der nominell als der Eigentümer sämtlicher Felder und des Viehs gilt. Unverheiratete Söhne und Töchter leben im Gehöft der Eltern, bis sie heiraten. Der Sohn wird dann mit seiner Frau und den irgendwann zu erwartenden Kindern ein eigenes Gehöft im selben Weiler beziehen, während die Tochter im Allgemeinen in das Dorf ihres Mannes übersiedeln wird. Mehrere Weiler zusammen bilden eine größere ­ geografisch-politische Einheit, die Evans-Pritchard (2011/1948) etwas ungenau mit settlement, Siedlung, bezeichnet. Der Grund und Boden eines solchen Settlements oder einer solchen Siedlungseinheit gehört einer lineage, also einer Abstammungslinie (Kap. 12). Der Begründer dieser lineage, der Vorfahre der heutigen Abkömmlinge, ist allgemeinem Verständnis zufolge mit dem ersten König in das jetzige Schillukland gekommen, und hier hat der König dem Vorfahren dieses Landstück zugeteilt. Dies bedeutet nun nicht, dass in den Weilern des Siedlungsgebietes nur Familien leben, die dieser lineage angehören, aber es ist diese lineage, die sich auf den mythischen Vorfahren zurückführen kann, die im entsprechenden Siedlungsgebiet dominiert und die auch den gewählten und durch den König bestätigten Chief der Siedlungseinheit stellt. Die verschiedenen Siedlungseinheiten wiederum formen ein politisches Gemeinwesen, das Königreich Schillukland. Möglicherweise hat es größere Einheiten mit jeweils einem Chief, eine nördliche und eine südliche, gegeben, deren Bedeutung sowohl von den Osmanen als auch den Briten aus verwaltungstechnischen Gründen betont wurde, die aber zu Evans-Pritchards Zeiten um die Mitte des 20. Jahrhunderts lediglich in ­ rituellen Zusammenhängen bedeutsam wurden. Hier jedoch und vor

350     I. Wunn

allem in Verbindung mit dem Königtum waren sie von großer Relevanz: Die nördlichen auf der einen und die südlichen Siedlungsgebiete auf der anderen Seite stellten die zwei Säulen des Königreiches der Schilluk dar, und das Königtum war das entscheidende Bindeglied zwischen diesen beiden potenziell rivalisierenden Regionen (Evans-Pritchard 2011/1948). Der König selbst ist ein unmittelbarer Nachfahre eines ersten, mythischen Königs Nyikang, der mit seinen Leuten das heutige Siedlungsgebiet erobert und anschließend unter die Gefolgsleute, die Stammväter der aktuellen lineages, verteilt haben soll. Der König selbst ist nicht nur ein Mitglied seiner eigenen, der royalen lineage, sondern als Nachfahre des ersten mythischen Königs die Verkörperung des Schilluk-Königtums an sich und der Träger des Geistes und der Persönlichkeit von Nyikang. In jedem König, so die Grundlage des Schilluk-Königtums, personifiziert sich dieser Kulturheros als Ausdruck einer zeitlosen moralischen Ordnung. Dementsprechend liegen die Funktionen des Königs eben gerade nicht wie in den historischen Monarchien Europas oder Indiens auf dem Gebiet der Verwaltung und des Regierens, umfassen also die Legislative, Exekutive und Judikative, sondern sind in erster Linie ritueller Art. So gehören Opfer zu Ehren des ersten mythischen Königs ebenso zu seinen Aufgaben wie das Ergänzen der Heiligen Herde Nyikangs oder die Pflege seines Schreins. Die Hauptstadt des Königreiches ist Fashoda. Hier residiert der Hof, hier befindet sich der Schrein des ersten mythischen Königs, und hier finden wichtige Zeremonialhandlungen statt, in die die Chiefs der Siedlungsgemeinschaften einbezogen werden. Die Hauptstadt, der Schrein Nyikangs und die Schreine der verstorbenen Könige spielen im rituellen Leben der Schilluk eine enorme Rolle und stehen jeweils im Mittelpunkt des Geschehens, wenn es um bäuerliche Rituale (Ernte), um das wichtige Regenmachen oder um Hilfe bei Epidemien und anderen bedrohlichen Vorkommnissen geht. Der König als Personifizierung des ersten mythischen Königs ist ein direktes Bindeglied zwischen den Schilluk und Gott und genießt als solches höchste Autorität. Politisch nutzt er diese Autorität jedoch vorwiegend, um Streitigkeiten zwischen verschiedenen Dörfern oder Siedlungseinheiten zu schlichten. Um es auf den Punkt zu bringen: Er setzt seine Autorität nicht zu Machtzwecken ein. Der König herrscht, aber er regiert nicht! Dennoch genießt er vor allem als sakrale Person höchstes Ansehen, und es gilt auch unter den Sprösslingen des Königs als ausgesprochen erstrebenswert, seine Nachfolge anzutreten. Mit dieser Nachfolge hat es nun eine besondere Bewandtnis: Der König besitzt mehrere Frauen. Wenn eine dieser Frauen schwanger ist, kehrt sie in ihr Heimatdorf zurück, um dort

14 Kapital     351

das Kind des Königs zu gebären, welches auch in eben jenem Dorf, meist in der Familie des Bruders der Mutter, großgezogen wird. Obwohl von königlichem Blute und damit der königlichen lineage zugehörig, ist der Kleine daher zutiefst mit seiner mütterlichen Familie verbunden und hat zu ihrem Dorf eine besondere Affinität. Stirbt also der bisherige König, haben die verschiedenen Siedlungsgemeinschaften mit ihrer dominierenden lineage, also Großfamilie, natürlich ein starkes Interesse daran, dass gerade der Spross aus ihrer lineage der neue König wird. Der neue König wird jedoch von einem Rat gewählt, in dem die Chiefs aller lineages vertreten sind; dazu die Chiefs über den genannten nördlichen bzw. südlichen Distrikt plus die Chiefs dreier Seitenlinien aus der königlichen lineage. Das eigentliche Sagen haben die beiden District Chiefs, und König kann nur werden, wen diese beiden Persönlichkeiten ernennen. Dieses hochkomplexe Verfahren garantiert, dass der König immer wieder aus einem anderen Dorf kommt und seine mütterliche Abstimmung immer wieder auf eine andere lineage zurückführt. Eine regelrechte Dynastie oder gar ein krasser Nepotismus wie im heutigen Saudi-Arabien, wo der Herrscher neben der rituellen und moralischen Macht auch tatsächliche politische Macht akkumuliert, kann bei einem solchen Verfahren nicht entstehen.1 Und was hat es nun mit dem angeblichen rituellen Königsmord auf sich? Hier handelt es sich wohl ganz profan um Aufstände unzufriedener Königskinder. Ein ausbleibender Regen, eine Epidemie dienen als der Hintergrund, um behaupten zu können, die spirituellen Kräfte des Königs hätten sich erschöpft. Man zettelt einen Aufstand an, und der alte König bleibt als Opfer auf der Strecke. Nun aber wird er zu einer heiligen Figur. Sein Leichnam wird in einer versiegelten Hütte aufgebahrt, bis seine Weichteile verwest sind, um dann seine letzte Ruhestätte in einem Schrein in seinem Heimatdorf zu finden. Aber zurück zur politischen Macht, die der Schillukkönig ja nur in begrenzter Form hat. Dennoch ist das Ganze für unsere Zwecke hochinteressant. Erwartungsgemäß zeigen auch bei den Schilluk die Überlebensmaschinen egoistischer Gene nur eine geringe bis keine Neigung, im struggle for existence zum Wohle anderer zurückzustecken. Im Gegenteil ist die Gesellschaft entlang von Familienverbänden organisiert, in denen man

1Im

Unterschied übrigens zum heutigen politischen System im Südsudan, wo Mehrheiten über die Macht entscheiden. Der Stamm mit den meisten Angehörigen wird immer den Präsidenten stellen und seine Macht auf Kosten der unterlegenen Stämme ausüben. Diese werden wiederum rebellieren. Unfrieden ist daher vorprogrammiert, und zwar durch ein politisches System, das auf die Verhältnisse in Europa, nicht aber in Afrika zugeschnitten ist.

352     I. Wunn

genetisches Material teilt, also Aggressionen aufgrund der sogenannten kin selection unterdrückt. Diese Form des Zusammenhaltes und der Kooperation würde jedoch nicht genügen, um das Überleben der Schilluk zu sichern, sodass man sich zu größeren politischen Verbänden zusammenschließt. Dies setzt jedoch nicht nur das Unterdrücken von Aggressionen voraus, sondern auch das partielle Delegieren von Macht. Wie bereits bekannt, funktioniert dies nur über ritualisiertes Verhalten beziehungsweise über das Ritual. Im hiesigen Falle, wenn es darum geht, eine Persönlichkeit mit Autorität auszustatten, bedarf es nicht nur des Bezugs auf nicht mehr hinterfragbare Werte im Ritual, sondern die Autoritätsperson sollte diese ultimate values am besten gleich selbst repräsentieren. Der König als Personifikation des ersten mythischen Königs, Kulturheros und Mittelpunkt eines sinnstiftenden Ursprungsmythos ist eine solche Autorität. Er besitzt aufgrund seiner Abstammung und aufgrund seiner Wahl zum König das symbolische Kapital, das die Überlebensmaschinen egoistischer Gene dazu bringt, sich ihm zumindest bedingt unterzuordnen. Symbolisches Kapital als Grundlage von Macht und Herrschaft beruht also letztlich auf Ritualisierung und hier auf Ritualen mit Bezug auf die allgemein anerkannten und verinnerlichten ultimate values.2

Symbolisches Kapital, Staat und Macht Dasselbe Prinzip gilt auch heute noch, wenn es um Staaten und Regierungen geht. Der Einfachheit halber bewegen wir uns bei der Suche nach einem überzeugenden Beispiel weiterhin im Rahmen unserer beliebten Events, wählen hier aber als Aufhänger den Empfang zu Ehren des Besuchs des Königs von Lesotho. Lesotho ist ein unabhängiges Königreich im Herzen des südlichen Afrika; hinsichtlich seiner politischen Organisation ist das Land eine parlamentarische Monarchie, und der in England erzogene König erfreut sich eines ansehnlichen Besitzes sowohl von inkorporiertem als auch institutionalisiertem kulturellem Kapital. Es ist jedoch nicht das kulturelle Kapital, das die Stellung und den Rang des Königs ausmacht, sondern sein symbolisches Kapital, dessen Ursprünge im 19. Jahrhundert liegen.

2Hier entfernen wir uns ein wenig von Bourdieu und fassen unser symbolisches Kapital entsprechend unseren Erkenntnissen aus der Ritualtheorie!

14 Kapital     353

Bekanntermaßen – wir haben das nun bereits mehrfach gehört und wollen es wegen der überzeugenden historischen und völkerkundlichen Belege auch bereitwillig glauben – schätzen Afrikaner keine politischen Autoritäten, d. h., die Überlebensmaschinen ihrer egoistischen Gene mögen es gar nicht, wenn irgendjemand ihnen vorschreiben will, was sie zu tun und zu lassen haben. Deshalb ist es auf dem afrikanischen Kontinent auch vergleichsweise selten zu Staatenbildung gekommen. Es war letztlich das Fehlen solcher wehrhaften politischen Einheiten, das die rasche Kolonialisierung Afrikas und die Zerstörung seiner Kultur durch europäische Mächte ermöglicht und vergleichsweise leicht gemacht hat. Allerdings gibt es ein paar Ausnahmen, von denen einige bekannt sind, wie das alte christliche Äthiopien, das noch ältere Ägypten, das ebenfalls uralte, aber erloschene Meroe (ca. 400 v. Chr. bis 300 n. Chr.) oder die in kultureller Hinsicht arabisch geprägten Anrainerstaaten des südlichen Mittelmeeres. Andere sind weniger bekannt, wie das mittelalterliche Königreich Mali mit seiner Hauptstadt Timbuktu oder das von Shaka Zulu (1787–1828) im 19. Jahrhundert mit roher Gewalt gegründete, allerdings nur kurzlebige Zulureich.3 Dieses Zulureich agierte imperial, d. h., es trachtete danach, seine Grenzen auf Kosten der Nachbarn auszudehnen, und unter diesen Nachbarn waren auch die Basutho. Die Basutho, die vor der Zuluexpansion in den fruchtbaren Ebenen westlich der Drakensberge lebten, gerieten zunächst durch marodierende Zulugruppen, anschließend durch die auf der Suche nach neuem Siedlungsraum vordringenden Buren unter Druck. In dieser Situation ergriff der inzwischen legendäre Moshoeshoe I. (1822–1868) das Ruder. Moshoeshoe war ein Morena, nach britischer Auffassung und in englischer Übersetzung also so etwas wie ein lokaler Chief, der als Oberhaupt seines Clans fungierte. Die verschiedenen sesothosprachigen Stämme, die Moshoeshoe zum ersten Mal politisch vereinte, waren nämlich und sind bis heute in verschiedene Clans unterteilt, die ihre Herkunft auf ein jeweiliges Totem, also einen tiergestaltigen, mythischen Kulturheros, zurückführen. Jeder dieser Clans, die gleichzeitig in einem bestimmten Siedlungsgebiet dominieren, werden von einem sogenannten Morena angeführt, der in erster Linie für das Wohlergehen der Clanangehörigen verantwortlich ist. Auch wenn das Amt des Morena üblicherweise vom Vater auf den Sohn vererbt wird, ist diese Regel jedoch ebenso wenig unumstößlich wie die Herrschaft des Morena absolut:

3Das

Zulureich war auf nackte Gewalt gegründet und hatte weder den erforderlichen Staatsmythos noch die Akzeptanz der Bevölkerung! Es hatte also genau das nicht, was der Schillukkönig hatte: symbolisches Kapital!

354     I. Wunn

Bei Versagen kann ein Morena abgesetzt und durch einen passenderen Kandidaten ersetzt werden. Es war also keineswegs selbstverständlich, dass ein Morena angesichts der Bedrohung durch Feinde die Initiative ergriff, die verschiedenen Stämme und Clans einte, eine Kriegsmacht aufstellte und sich gegen die Eindringlinge zur Wehr setzte. Moshoeshoe war jedoch nicht nur tapfer und initiativ, was die Verteidigung anbelangte, sondern hatte auch die Zeichen der Zeit erkannt. Auf seine Einladung hin kamen französische Missionare ins Land, die den Basutho Lesen und Schreiben beibrachten und den neuen morena e moholo (großen Beschützer und Versorger) in die Geheimnisse der Diplomatie einführten. Der politischen Klugheit und dem Verhandlungsgeschick dieses großen Mannes ist es zu verdanken, dass die Basutho die politisch unruhigen Zeiten als Volk in seinen eigenen Grenzen überstanden und heute einen unabhängigen Staat bilden. Moshoeshoe I., der ursprünglich nichts weiter war als einer von mehreren Barena (Pl. von Morena), hatte damit nicht nur ein Volk im nationalstaatlichen Sinne, sondern auch eine Dynastie gegründet. Diese Leistung erkennen die Basutho bis heute an. Obwohl ihr König aus traditioneller Sicht eigentlich nur der Morena eines Clans ist, steht er bei allen Basutho in höchstem Ansehen. Mag der parlamentarische Teil der parlamentarischen Monarchie noch so sehr im Argen liegen, der König und die Königsfamilie genießen als „Garanten der nationalen Einheit und Hüter des kulturellen Erbes“ (SABC News o. J.) höchsten Respekt. Dieses Ansehen und seine Autorität verdankt der König dem symbolischen Kapital, das sein Vorfahre, der gefeierte und inzwischen wie ein Kulturheros verehrte Moshoeshoe I. erworben hat. Er hat mit seinem Widerstand gegen die afrikanischen und europäischen Eindringlinge einen sinnstiftenden Ursprungsmythos begründet, der bis heute staatstragend ist. Unsere Untersuchungen haben also ein interessantes Resultat ergeben: Politische Macht beruht maßgeblich auf dem Besitz von symbolischem Kapital, und dieses symbolische Kapital ist umso wertvoller, je älter es ist und je mehr es sich auf nicht weiter hinterfragbare, letzte Werte bezieht. Genau diese nicht mehr hinterfragbaren Werte standen jedoch auch im Mittelpunkt jener Rituale, die das Zusammenleben von den Überlebensmaschinen egoistischer Gene überhaupt erst ermöglichen (Kap. 7). Der König, wohlvertraut mit den Zusammenhängen von sinnstiftender Ursprungserzählung, Ritual und der Domestizierung von Überlebensmaschinen egoistischer Gene, feiert daher klugerweise jedes Jahr seinen Geburtstag in einem anderen Teil seines Landes öffentlich unter großem Zeremoniell und bemüht als Symbole sowohl die international bekannten Zeichen von politischer und militärischer Macht als auch von altem Brauchtum

14 Kapital     355

und überlieferter Sitte! Gegen die zentrifugalen Kräfte seiner Politiker, also die durchaus genegoistisch agierenden, demokratisch legitimierten Vertreter einer Bevölkerung, die mit einer Demokratie nach europäischem Muster wegen eines ganz anders gelagerten Habitus auf politischem Gebiet nichts anfangen kann, hat jedoch auch er noch kein Mittel gefunden! An dieser Stelle muss ich unbedingt noch ein weiteres Beispiel für die Zusammenhänge von symbolischem Kapital, Mythos und politischer Macht anfügen, auch wenn zum jetzigen Zeitpunkt (Dezember 2019) noch nicht klar ist, ob dieses symbolische Kapital tatsächlich Früchte tragen wird. Auch bedarf der hier postulierte Zusammenhang zwischen Mythos und der zu schildernden Persönlichkeit noch zusätzlicher Erklärungen. Die Rede ist von Greta Thunberg (Abb. 14.1), der Galionsfigur der Fridays-for-Future-Bewegung. Dazu möchte ich noch einmal kurz auf ­ unsere Erörterungen in Zusammenhang mit dem Ritual zurückgreifen. Hier waren wir Turner und anderen Ritualspezialisten gefolgt und hatten festgestellt, dass jedem wirklich tragfähigen Ritual ein sinnstiftender Ursprungsmythos zugrunde liegt. So weit, so gut! Nun müssen wir einen kleinen Abstecher in die Frühgeschichte und die Psychologie machen. Bedeutende Forscher konnten nämlich wahrscheinlich machen, dass vor etwa 10.000 Jahren die ersten großen Rituale und mythischen Themen (also der erste Mythos) entstanden, und mit ihnen ging die „Erfindung“ von zentralen Figuren Hand in Hand, die im Zentrum solcher großen Mythen stehen. Diese zentralen Figuren im Mythos sind sogenannte Archetypen, die personifizierten Grundstrukturen menschlicher Vorstellungs- und Handlungsmuster. Eine solche archetypische Personengruppe haben wir bereits kennengelernt (Kap. 8): die Heilige Familie.

Abb. 14.1  Greta Thunberg, Archetypus der kindlichen Weltretterin und Galionsfigur einer weltweiten Bewegung. (© Wiktor Nummelin/TT NYHETSBYRÅN/picture alliance)

356     I. Wunn

Verkörpert ein Paar einen solchen Archetyp, wie das bei dem britischen Thronfolger Prinz Charles und seiner Frau Diana der Fall war, kann der Druck, diesem Idealbild zu entsprechen, so groß werden, dass die irdischen Verkörperungen dieses Archetypus daran zerbrechen – was dann auch der Fall war. Weitere archetypische Bilder und Symbole sind der weise alte König (z. B. König David), die weise oder auch böse alte Frau (Göttin der Unterwelt), der jugendliche Held (Gott Dionysos, Science-Fiction-Held Luke Skywalker), die himmlische Jungfrau und das unschuldige, die Menschheit rettende Kind. Um Letzteres und ein wenig auch um die Jungfrau wollen wir uns kurz kümmern. Dem Archetypus des göttlichen Kindes als Weltenretter entsprach der kindliche Buddha, der kleine Moses, vor allem aber der kleine Jesus, das unschuldige Kind in der Krippe. Obwohl klein, machtlos und aus armer Familie, sollte aus diesem Kind das Heil der Welt erwachsen. Auch im Märchen finden sich diese archetypischen Figuren immer wieder. Hänsel und Gretel, die unschuldigen Kindlein, befreien einen verzauberten Wald von der bösen Hexe, und im Märchen „Die sieben Raben“ gelingt der kleinen Schwester die Erlösung ihrer Brüder von einem Bann, der sie in Vögel verwandelt hatte. Auch Jeanne d’Arc (1412–1431) war so eine kindliche Erlöserfigur, auf der die Hoffnungen ganz Frankreichs ruhten. Es konnte also jetzt, in einer globalen Krise, nur ein Kind kommen, um die Menschheit vor der Selbstvernichtung zu retten. Um noch einmal die Zusammenhänge deutlich zu machen: Die Tatsachen eines Klimawandels mit fatalen Folgen waren alle längst bekannt; ebenso die Dringlichkeit des Problems. Bereits Ludwig von Bertalanffy hatte vor der drohenden ökologischen Katastrophe gewarnt, der Club of Rome hatte sehr deutlich auf das Problem eines ungehemmten Wachstums hingewiesen, und während der Zeit meines Studiums der Naturwissenschaften waren die nicht nur zu erwartenden, sondern in ihren Auswirkungen genau vorhersehbaren und beschreibbaren Klimaveränderungen sowohl in der Physik als auch in den Geowissenschaften immer wieder Thema. Mojib Latif (*1954), offensichtlich der einzige den Journalisten bekannte Meteorologe und Klimaforscher, warnt seit mindestens 30 Jahren vor den Folgen ungehemmten ­CO2-Ausstoßes (fährt aber trotzdem einen Spritschlucker) und nichts, aber auch gar nichts ist während der vergangenen 100 Jahre passiert. Nun kommt ein kleines Mädchen oder vielmehr eine 16-Jährige, die mit ihrem noch kindlichen, gänzlich ungeschminkten Gesicht und den Schulmädchenzöpfen mindestens fünf Jahre jünger wirkt, als sie ist, streikt zuerst ganz allein an Freitagen gegen die Vernichtung von Lebensraum und

14 Kapital     357

ganzen Ökosystemen und löst eine weltweite Bewegung aus. Das ist nur möglich, weil sie dem Archetyp des unschuldigen Kindes, des kindlichen Weltenretters entspricht. Als kindliche Erlöserin ist sie die einzig mögliche Galionsfigur und der Mittelpunkt einer großen und inzwischen politisch unglaublich mächtigen Bewegung, die ohne den im Unterbewussten eines jeden Menschen vorhandenen Mythos vom kindlichen Weltenretter nicht möglich gewesen wäre. Sie ist mit ihrem Engagement beileibe nicht die Einzige und verfügte zu Beginn ihres Engagements über keinerlei symbolisches Kapital. Prinz Charles dagegen engagiert sich seit Jahrzehnten für den Umwelt- und Klimaschutz! Der Fürst von Monaco tut es ihm gleich. Mit den hiesigen Grünen steht eine ganze Partei für aktive Klimapolitik, aber niemandem ist es bisher gelungen, eine solche Bewegung ins Leben zu rufen wie einem kleinen schwedischen Mädchen mit dünnen Zöpfen – und damit ein enormes symbolisches Kapital anzusammeln, mit dem sie auf politischer Ebene eine ungeahnte Macht entfalten kann. Und jetzt folgt die wissenschaftliche Überprüfung unserer These von der Verbindung Mythos und Archetypus, symbolischem Kapital und Macht. Wir tun das, indem wir etwas Gegenteiliges behaupten. Wir versuchen also, unsere These zu falsifizieren. Wenn das Falsifizieren nicht geht, muss die These demnach richtig sein! Wir stellen uns also jetzt vor, Greta Thunberg trüge High Heels, hautenge Kleider in Rosa mit Lurex, die Haare blondiert und mit Extensions künstlich verdichtet und verlängert! Stellen Sie sich also vor, eine Art Daniela Katzenberger hätte sich in der beschriebenen Aufmachung mit ihrem Streikschild vor den schwedischen Reichstag oder in Berlin vors Kanzleramt gesetzt. Hätte sie dieselbe Bewegung ausgelöst? Na, sehen Sie!

Und jetzt das Deutsche Reich … Angela Merkel ist jedoch weder eine archetypische Figur noch ein Morena und bestimmt nicht die Verkörperung eines mythischen Reichsgründers, und dennoch beruht ihre politische Macht auf einem symbolischen Kapital, das unauflöslich mit ihrem Amt verknüpft ist. Mehr noch: Ein Blick in die Historie des deutschen Staates macht deutlich, dass jedwede Form von Herrschaft über das Gebiet, das heute Deutschland ist, nur und ausschließlich auf dem Besitz von einem symbolischem Kapital beruhte, das stets mit dem Amt des jeweiligen Regenten, aber nicht mit einer Persönlichkeit oder lineage (Dynastie) verknüpft war.

358     I. Wunn

Wir beginnen, wie ich das als alter Evolutionist (w) immer zu tun pflege, in der allertiefsten Vergangenheit, nämlich zur Zeit des Römischen Reiches. Hier war die Wohlfahrt des Staates vom Willen und Wohlwollen der Götter abhängig, und sorgfältig achteten die Regenten darauf, dass der Staatskult den Vorschriften entsprechend versehen wurde. In historisch allerdings nicht greifbarer Zeit waren es die römischen Könige, die über den Kult wachten. Während der Zeit der Republik hatte ein Pontifex maximus die Kulthoheit, und in der Kaiserzeit vereinte der Kaiser sowohl das Amt des Regenten als auch das Amt des Pontifex maximus in seiner Person. Der jeweilige Kaiser, zuletzt oft ein Mann, der der Prätorianergarde oder dem Militär sein Amt verdankte, herrschte also letztlich dank seines symbolischen Kapitals. Dies änderte sich auch nicht, als das Christentum die dominierende Religion im Römischen Reich wurde. Statt Opfer für Jupiter oder Juno darzubringen, wurde nun Jesus, der Christus, angebetet und seine Mutter Maria als Gottesgebärerin verehrt. Der Kaiser war und blieb der Herr über den Kult und die religiösen Würdenträger, und genau das verlieh ihm das symbolische Kapital, auf dem seine Herrschaft beruhte. Das alte Weströmische Reich ging entgegen der verbreiteten Meinung von Laien mit dem Ende der Antike nicht zugrunde. Als nämlich der Ostgote Theoderich 493 n. Chr. die Herrschaft in Westrom an sich riss – übrigens nominell im Auftrag des in Ostrom residierenden Kaisers –, tolerierte Ostrom den neuen rex (König) lediglich als eine Art patricius (Heermeister), ohne ihn formal anzuerkennen. Zwar konnte der oströmische Kaiser Justinian I. (reg. 527–565) das Römische Reich nach dem ostgotischen Intermezzo wieder einen, aber langfristig musste sich Rom, um überleben zu können, auf seine östlichen Provinzen konzentrieren, die in den folgenden Jahrhunderten zunehmend unter Druck von Seiten der expandierenden Araber gerieten. Das Machtvakuum im Westen wurde derweil von den Franken ausgefüllt, die zunächst unter den Merowingern (5. Jahrhundert bis 751), dann unter den Karolingern ein eigenes Reich gründeten, das sie in der Nachfolge Westroms sahen. Längst hatte man sich taufen lassen; man hatte 732 die Muslime bei Tours und Poitiers geschlagen und zurückgedrängt. Zuletzt regierte Karl der Große (reg. 768–814) ein Gebiet, das kaum kleiner war als das alte Westrom. Zwar beherrschte Karl nicht Spanien und England, konnte dafür aber endlich die Sachsen unterwerfen und seinem Reich einverleiben, und – er konnte sie christianisieren. Wieder also, wie im „alten“ Rom, herrschte der König mithilfe göttlicher Macht. Es war somit nicht nur kluge Politik, die Karl dazu bewog, das Lateinische als Lingua franca in seinem gesamten Reich einzuführen und die Verwaltung in die Hände der von ihm ernannten Bischöfe zu legen. Vielmehr verschaffte ihm das bewusste

14 Kapital     359

Anknüpfen an das alte (Anciennität!), ja fast mythische Weströmische Reich und seine religiösen Fundamente auf einen Streich ein enormes symbolisches Kapital, das mit der Krönung zum Kaiser im Dom zu Aachen (800) einen sichtbaren und im Ritual vergegenwärtigten Höhepunkt fand. Aber nicht nur auf römische Tradition konnte sich Karl berufen. Auch die Germanen kannten in alten Zeiten ein Heerkönigtum, das in der germanischen Mythologie verwurzelt war und durch Insignien wie Schwert und Krone seine sichtbaren Symbole fand (Goltz 1918). Römischer Kaiser oder Kaiser in römischer Tradition zu sein, bedeutete für Karl und seine Nachfolger, auf ein fast 800 Jahre altes Amt und dessen religiöse Fundierung zurückgreifen zu können. Damit war der Kaiser im germanisch-römisch-christlich geprägten Europa eine quasi mythische Person, die für nicht mehr hinterfragbare Werte stand. Auch als das Reich Karls des Großen unmittelbar nach seinem Tod durch die Aufteilung des Reichsgebietes unter seine Söhne zerfiel, blieb die Vorstellung von der Sakralität des Königtums im ostfränkischen Teil des Reiches, dem späteren Heiligen Römischen Reich und noch später dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, erhalten und fand vor allem in den Zeremonien um die Krönung des Königs sichtbaren Ausdruck. Nur diese Verankerung des Königtums in einer alten Tradition und seine Legitimierung durch die christliche Religion konnten die zahlreichen regionalen Herrscher und die freien Reichsstädte dazu bringen, sich diesem gewählten König partiell unterzuordnen. Dieser König, der meistens auch den Kaisertitel trug, musste daher auf den Reichstagen jedes Mal geradezu betteln, wenn es darum ging, Gelder für notwendige Kriegszüge bewilligt zu bekommen. Auch auf den für Luther und die Reformation entscheidenden Reichstagen konnte daher Kaiser Karl V., der streng katholisch erzogen worden war und für die Mätzchen eines in seinen Augen dahergelaufenen Provinzprofessors nichts übrig hatte, keineswegs nach Gutdünken verfahren, sondern musste sich der Entscheidung der Reichsstände beugen. Das heißt also: Auch im Deutschen Reich herrschte der König und Kaiser nur aufgrund eines symbolischen Kapitals, das sich teilweise aus dem Herrschaftsanspruch römischer Imperatoren, teilweise aus der Vorstellung eines besonderen Königheils, später aber von der Idee einer von Gott gewollten Ordnung herleitete. Genau aus diesem Grunde, nämlich wegen der Verankerung des Herrschaftsanspruchs im Christentum, waren die regelmäßig aufflammenden Konflikte zwischen Kaiser und Papst für Erstere so prekär! Mit einer Exkommunikation entzog der jeweilige Papst dem Kaiser letztlich seine Legitimation und damit seine Machtbasis.

360     I. Wunn

Selbst als das Deutsche Reich nach der Eroberung durch Napoleon erlosch (offizielles Ende des Deutschen Reiches 1806), blieb das symbolische Kapital der Kaiserwürde erhalten, als sei es auf einem Konto bei einer Sparkasse geparkt worden und warte nur auf den legitimen Erben. Dieser Erbe zeigte sich auch, den aktuellen Ereignissen etwas vorauseilend, in Gestalt des gewesenen deutschen Kaisers, des Habsburgers Franz II., der sich selbst 1804 kurzerhand zum Kaiser von Österreich (hier Franz I.) ernannte. Allerdings gab es noch einen anderen Prätendenten auf das symbolische Kapital „Deutscher Kaiser“. Nach einem erfolgreichen, kurzen Krieg gegen Frankreich (1870–1871) wurde der preußische König Wilhelm zum Deutschen Kaiser Wilhelm I. (ab 1861 König von Preußen, Deutscher Kaiser 1871–1888) ausgerufen. Obwohl die ultimate values, die das Kaisertum und seine Basis, das Königtum, durch das Mittelalter getragen hatten, sich inzwischen verändert hatten und nun durch das Ideal des Nationalstaates überformt wurden, schien die Institution des Kaisertums unerschütterlich. Allerdings schien eine Königs- oder gar Kaiserkrone nun auch, nach ihrer inhaltlichen Loslösung vom alten, inzwischen mythischen Weströmischen Reich, für jeden erreichbar zu sein! Für jede Nation war es daher erstrebenswert, jetzt einen eigenen Kaiser oder zumindest einen König zu haben, selbst wenn die Französische Revolution von 1789 eigentlich die Volkssouveränität an die Stelle des alten Gottesgnadentums gestellt hatte. Nach seinen militärischen Siegen hatte Napoleon in Frankreich nichts Eiligeres zu tun, als sich 1804 zum Kaiser zu erklären. Nach erfolgreichem Unabhängigkeitskrieg erwählten sich die Griechen 1835 einen König aus altem, europäischem Adel: zunächst einen Wittelsbacher, dann einen Oldenburger. Auch Bulgarien verschaffte sich nach der von den Osmanen erkämpften Unabhängigkeit einen königlichen Souverän aus dem Hause Sachsen-Coburg und Gotha: Zar Ferdinand I. (1909–1918); und die Italiener machten nach ihrer erfolgreichen Risorgimento-Bewegung den Sarden Victor Emanuel zu ihrem König (Italien wurde 1861 konstitutionelle Monarchie). Allerdings war keiner dieser jungen Monarchien eine lange Existenz beschieden. Nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs war es mit den meisten Herrscherhäusern vorbei, und nur wenige Nachzügler, bezeichnenderweise mit einer langen eigenen Geschichte, konnten sich bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts und ganz wenige bis in die Gegenwart hinein retten. Das symbolische Kapital der Könige hatte sich aufgebraucht. Der Königstitel war zu billig geworden (vgl. unsere Discount-Dissertationen und Ramsch-Professuren). Er lieferte nicht mehr das gewohnte symbolische

14 Kapital     361

Kapital, und die ultimate values stimmten auch nicht mehr! System- und ritualtheoretisch gesprochen, hatte sich die Umwelt der Systeme verändert, die Kommunikation zwischen System (Monarchie) und Umwelt (Gesellschaft) funktionierte nicht mehr, die neu geschaffenen Symbole in den Ritualen triggerten nicht die richtigen Antworten, und die Systeme brachen zusammen. Republiken mit gewählten Kanzlern oder Präsidenten regierten, wo früher Könige und Kaiser das Zepter (eines der mittelalterlichen Herrschaftssymbole) in der Hand hielten. Die Philosophen der Aufklärung, die das Prinzip der Herrschaft auf einen fiktiven Staatsvertrag zwischen Regent und Volk zurückgeführt und die Freiheit des Individuums zum letztgültigen Wert erklärt hatten, hatten eine solche Entwicklung ideologisch vorbereitet, und nach dem Scheitern der Monarchen wurde das Volk selbst durch seine gewählten Vertreter der Souverän. Wenn ein Volk aber Souverän wird, setzt dies die Existenz eines Volkes voraus, und dementsprechend hatte auch der Volksgedanke im Sinne von Volk gleich Nation vor allem in der Aufklärung und der anschließenden Romantik erst richtig Gestalt gewonnen. Allerdings hatte diese neue Idee und damit die neue Staatsform noch kein symbolisches Kapital. Hier bedurfte es eines Rückgriffs auf alte, sinnstiftende und damit heilige Traditionen, und die fand man in der Antike. Die alten Staatsformen der Griechen und Römer, die griechische Demokratie als früheste und damit angeblich dem Europäer natürliche Form politischer Organisation und die auf das ius, auf das Recht gestützte römische Republik, die res publica, liefern das symbolische Kapital, auf dessen Grundlage heute auch Frau Dr. Merkel Macht ausüben kann. Ihr sichtbares Zeichen findet die Fundierung des demokratischen Staates in der Architektur: Das Weiße Haus in Washington und der Kongress imitieren den alten Baustil einer demokratischen Antike (die übrigens politisch nie wirklich erlosch, denn die oberitalienischen Städte und auch die alten Hansestädte haben diese Form der Selbstregierung von der Antike an kontinuierlich beibehalten). Natürlich haben die antikisierenden Gebäude Washingtons gigantische Ausmaße, aber das egoistische Gen bzw. seine Überlebensmaschine neigt, wenn nicht durch einen adligen Habitus geschmacklich verfeinert, dazu, die eigenen Leistungen protzig zur Schau zu stellen – Imponiergehabe zum Zwecke der Herstellung einer submissiven Dominanzbeziehung natürlich! Ein kurzer Blick auf einige heute noch regierende Herrscherhäuser bestätigt unsere Analyse. Der König von Jordanien herrscht heute, indem er wie seine Vorgänger auch zwischen den unterschiedlichen Interessen der verschiedenen Stämme in seinem Land immer wieder vermittelt und

362     I. Wunn

Kompromisse findet. Die Könige Jordaniens werden allerdings nur als Oberhaupt anerkannt, weil sie Haschemiten sind, also Angehörige der Familie des Propheten Muhammad, denen eigentlich auch die Herrschaft über die Heiligen Stätten des Islam gebührt. Auch hier beruht die Herrschaft also auf symbolischem Kapital, das sich aus der religiösen Überlieferung und Tradition herleitet. Gleiches gilt für die Könige von Marokko, die sich genealogisch auf einen Enkel des Propheten zurückführen. In Asien sind die Bezüge zwischen Herrschaft und religiösem Mythos noch deutlicher. So führt sich der Tenno von Japan auf die Sonnenkönigin Amaterasu selbst zurück, während der traditionelle Herrscher der ­Wahl-Theokratie Tibet (heute von China annektiert), der Dalai Lama, als eine Inkarnation von Bodhisattva Avalokiteshvara gilt. Umso mühsamer ist das Herrschen in Ländern, in denen der Regent oder Herrscher auf kein religiös oder historisch fundiertes symbolisches Kapital zurückgreifen kann, also in Republiken ohne historischen Bezug auf die Antike. In Kuba schufen die Revolutionäre Fidel und Raúl Castro, Camilo Cienfuegos und Ernesto Guevara immerhin einen Revolutionsmythos, der die Herrscher zumindest bis heute an der Macht hält. Ein erfolgreicher Kampf für nationale Unabhängigkeit ist also auch geeignet, dem Regenten zumindest für eine gewisse Zeit so viel symbolisches Kapital zu bescheren, dass eine Staatengründung und funktionierende Regierung für zumindest eine Generation möglich sind. In Tansania z. B. führte Julius Nyerere den Staat in die Unabhängigkeit. Er regierte übrigens bewusst nach afrikanischem Muster: Er versuchte mit seinem ­Ujamaa-Konzept nicht nur, das afrikanische lineage-Gefühl auf Dorfgemeinschaften zu übertragen (Versagen auf der ganzen Linie), sondern auch die Herrschaft sollte idealerweise nach afrikanischem Muster durch Interessenausgleich erfolgen. Daher ist Nyereres Ehrentitel Mwalimu (Lehrer) ähnlich gemeint wie das sesothische Morena, also als Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft, und sein Einparteiensystem sollte wie auf einer Versammlung der Barena oder der Schillukchiefs zu einem Interessenausgleich zwischen den unterschiedlichen Clans und lineages führen. Leider wurde dieses System von der internationalen Staatengemeinschaft nicht verstanden; ein Mehrparteiensystem wurde gefordert, und statt eines Interessenausgleichs gibt es nun auch in Tansania das Gegeneinander der Überlebensmaschinen egoistischer Gene. Das soll zunächst einmal in Sachen symbolisches Kapital und Macht genügen. Allerdings darf natürlich nicht unerwähnt bleiben, dass es außer symbolischem Kapital in direktem Zusammenhang mit Herrschaft auch sonst noch etliche Möglichkeiten gibt, symbolisches Kapital zu erwerben.

14 Kapital     363

Da sind zum Beispiel die Honorarkonsuln, die gern bereit sind, für ihren schönen Titel (und den Platz auf den Einladungslisten zu den Events in Kap. 1) unentgeltliche Extraarbeit zu leisten. Für den Musiker ist der Gewinn eines Musikpreises, z. B. des Joseph-Joachim-Violinwettbewerbs, eine exquisite Gelegenheit, symbolisches Kapital anzusammeln, das sich später, wenn es um Engagements oder Plattenverträge geht, perfekt in ökonomisches Kapital umwandeln lässt. Auch der Fußballer aus der Nationalelf oder ein Trainer gewinnt mit jedem hochklassigen Spiel mehr symbolisches Kapital, aus dem sich über Werbeverträge sofort ökonomisches Kapital machen lässt. Selbst die Teilnehmer an Wettbewerben unterirdischer Serien im Junk-TV gewinnen symbolisches Kapital, das sich dann habitusspezifisch in der entsprechenden Rezipientenschicht zu Geld machen lässt, und sei es durch die bezahlte Teilnahme an einem weiteren TV-Format, in dessen Zentrum die Selbstentblößung, wenn nicht Selbsterniedrigung steht. Ohne auf diese Thematik weiter einzugehen, denn uns interessiert ja vor allem die Machtfrage, kann hier konstatiert werden, dass auch das symbolische Kapital klassenspezifisch im Sinne Bourdieus ist! Der Wettbewerb um Anerkennung findet einfach nur auf einem anderen sozialen Feld statt!

Der Besuch bei Tante Anni oder das berühmte Vitamin B Nun bleibt nur noch eine letzte Kapitalform zu beschreiben, das soziale Kapital. Was ist soziales Kapital? Nun, auch dazu eine Geschichte. Meine Kindheit war wie rosig überhaucht durch das Wirken zahlreicher älterer Tanten und Großtanten, die die eher strenge Erziehung durch meine Eltern nach Kräften torpedierten. Eine der Besten war Tante Anni. Sie lebte mit zugehörigem Onkel in einem wunderschönen bergischen Bürgerhaus aus der Zeit des Barock und führte ein gastfreies Haus. Wenn ich im Winter nach ausgiebigen Schlittenfahrten beschloss, einen nicht unerheblichen Fußmarsch auf mich zu nehmen und diese Großtante zu besuchen, wurde ich aufgenommen wie die Königin von Saba. Man servierte mir wahlweise Kakao oder Saft (daheim gab es für Kinder Leitungswasser oder Hagebuttentee) und stellte eine Silberschale mit teuren Keksen auf den Tisch. Während ich mich labte, wurde ich liebenswürdig unterhalten, als wäre ich zumindest die Gattin des Ministerpräsidenten. In einer Zeit, in der Kinder einfach da waren, aber unsichtbar zu sein hatten, war das etwas Ungeheuerliches. Dementsprechend wurde die

364     I. Wunn

Tante geliebt und auch noch besucht, als ich mit Plätzchen und Kakao kaum noch zu beglücken war. Aber auch für die Erwachsenen war sie eine großartige Gastgeberin. Bei ihr traf man die örtlichen Honoratioren aus dem sogenannten Mittelstand, der das Bergische Land einstmals wohlhabend gemacht hatte, und alle genossen die liebenswürdige Atmosphäre des Hauses und die großzügige Bewirtung. Auch die Unterhaltung war immer interessant, denn man hatte über die großen ortsansässigen Handelshäuser oder befreundete Unternehmer Kontakte nach Rio, Montevideo, Boston, Singapur und Teheran; von dort stammten die herrlichen Silbervasen, das kostbare Porzellan und die alten Teppiche, die dem schönen Haus sein besonderes Flair verliehen. Das Besondere war jedoch nicht die gesellschaftliche Begabung der Tante, sondern ihre Herzlichkeit, die sich auch auf die weniger bedeutenden Familienmitglieder erstreckte. Nicht nur ich war willkommen, sondern auch die nicht immer salonfähigen Freunde der jüngeren Generation wurden jederzeit liebenswürdig aufgenommen, beherbergt und bewirtet. Das Gleiche wiederholte sich bei ihrem Enkel, der als Student regelmäßig in Begleitung von Freunden und Freundinnen für einen Wochenendbesuch erschien und sich, wie es Studentenart ist, durchfüttern ließ. Für die zu dieser Zeit bereits ältere Dame waren die Besuche möglicherweise manchmal strapaziös, aber das Investment sollte sich lohnen. Alle, die als Kinder wie ich oder als Studenten ihre Gastfreundschaft genießen durften, blieben der Tante bis an ihr Lebensende herzlich verbunden und besuchten sie regelmäßig. In einem Alter, in dem andere vereinsamen, brauchte sie sich über einen Mangel an Besuch und Ansprache nicht zu beklagen. Immer kam jemand vorbei, immer gab es Einladungen auch zu jungen Leuten, und da die Tante nicht selbst Auto fuhr und bei aller Großzügigkeit die Existenz von Taxis beharrlich ignorierte, wurde sie zu den Einladungen von den jeweiligen Gastgebern gern und ohne Murren abgeholt. Tante Anni hatte eben während ihres ganzen Lebens soziales Kapital angesammelt, von dem sie im Alter zehren konnte. Natürlich ist meine Schilderung einseitig, denn das soziale Kapital der Tante, an deren Seite es auch einen Onkel mit dem inzwischen in Misskredit geratenen Namen Adolph gab, war Teil des komplexen Beziehungsgeflechts, das meine Großfamilie aufgebaut hatte und in dem Gesellschaftliches eine nicht unerhebliche Rolle spielte. Gesellschaftliche Beziehungen, gegenseitige Freundschaften und die Gesellschaften und Abendeinladungen, die Teil der Beziehungspflege waren, schufen ein Netz von Verbindlichkeiten, die jederzeit mobilisierbar waren.

14 Kapital     365

Wie weit diese Solidarität in dieser Gruppe von gut situierten Bürgern ging, mag ein weiteres Beispiel aus meinem familiären Umfeld verdeutlichen: Mein Großvater Moritz, ein „Fabrikant“, war Mitglied in einem Club. Nun war dies weder ein Club im britischen Sinne noch ein eingetragener Verein, sondern es handelte sich einfach um eine Runde von befreundeten Herren aus derselben sozialen Schicht, die sich wöchentlich einmal ohne ihre Ehefrauen (und ohne ihre Freundinnen) trafen, um miteinander ein paar lustige Stunden zu verbringen. Lustig konnte dann auch bedeuten, dass man die letzte Straßenbahn entführte und unter großem Gelächter durch die gesamte Stadt fuhr, um verspätete Zecher nach Hause zu chauffieren (Abb. 14.2). Oder man buchte einen Vergnügungsdampfer auf dem Rhein, wo man in so ausgelassene Stimmung geriet, dass leider das Klavier des Alleinunterhalters über Bord ging. Ein Scheck brachte am nächsten Tag die Sache in Ordnung. Bekanntlich schweißt gemeinsam veranstalteter Blödsinn zusammen, und so war es gar keine Frage, dass alle Freunde halfen, als einer der Ihrigen, der einen Brennstoffhandel besaß, Konkurs anmelden musste. Die Freunde legten zusammen und kauften für den Unglücksraben aus der Konkursmasse ein großes Mietshaus. In einer der Wohnungen konnte der Freund und nach seinem Tod seine Witwe leben, und die Mieten aus den übrigen Wohnungen garantierten dem Freund ein gesichertes Einkommen. Das Gesamt-Sozialkapital der Gruppe, das durch die Beziehung der Freunde untereinander aufrechterhalten wurde, diente letztlich dazu, einen der Ihrigen aufzufangen und vor dem gesellschaftlichen Abstieg zu bewahren.

Abb. 14.2  Mit einer solchen Straßenbahn fuhren mein Großvater und seine Freunde unerlaubterweise nächtliche Zecher nach Hause, während der Straßenbahnfahrer nichtsahnend in der nächsten Kneipe sein Feierabendbier trank. (https://deacademic. com/pictures/dewiki/87/WikiRemschStraBa.jpg)

366     I. Wunn

Aber nicht nur in Kreisen von Unternehmern ist soziales Kapital ein hoher Wert. Während meiner Studentenzeit, als ich in einem kleinen, übrigens ausgesprochen erfolgreichen Athletikclub trainierte, konnte ich jederzeit auf die Hilfe und Unterstützung meiner Vereinskameraden bauen. Brauchte zum Beispiel mein Kleinwagen einen neuen Kotflügel, erledigte das ein Vereinskamerad. War bei einer studentischen Party ein Fenster zu Bruch gegangen, konnte ein sogenannter Kumpel gefunden werden, der die Sache in Ordnung brachte. Bei meinem Auszug aus der Studentenbude fassten nicht nur sechs starke Männer mit an, sondern zwei weitere erledigten die bei meinem Auszug fälligen Malerarbeiten. Alles das waren Freundschaftsdienste, die mich nichts außer einem Kasten Bier kosteten und die man bereitwillig für mich leistete, weil ich im selben kleinen Verein trainierte. Ich hatte dort Freunde! Ich hatte soziales Kapital! Auf meinem weiteren Lebensweg nutzte mir dieses soziale Kapital allerdings genauso wenig wie weiteres soziales Kapital, das ich in Ostafrika oder im Kongo ansammelte. Sicher, auch dort würden meine Freunde mir jederzeit helfen – aber hier an einer europäischen Universität werde ich dieses soziale Kapital wohl kaum abrufen und flüssig machen können. Da hatte es eine meiner Kolleginnen schon klüger angefangen. Bereits während ihres Studiums begann sie, sich an ihrer Universität in Gremien zu engagieren, um zuletzt das Amt einer Frauenbeauftragten zu bekleiden. Gleichzeitig wurde sie in einer Fachgesellschaft aktiv und arbeitete sich hier langsam über verschiedene Ämter nach oben. Als es zuletzt um die Besetzung eines interessanten Lehrstuhls an einer der alten deutschen Eliteuniversitäten ging, wurde sie genommen – nicht, weil ihre wissenschaftlichen Leistungen die ihrer Mitbewerber überragten, sondern einfach deshalb, weil jeder sie kannte und mochte. Sie hatte im Laufe der Jahre so viel Sozialkapital angesammelt, dass sie dieses soziale Kapital letztlich in eine begehrte Stelle mit einem sicheren Einkommen umwandeln konnte. Sprich: Soziales Kapital ließ sich direkt in ökonomisches Kapital umtauschen. Nun ist das aus einer Professur herauszuschlagende ökonomische und symbolische Kapital eher übersichtlich, und mancher Kollege findet das Ergebnis seiner Bemühungen zuletzt doch recht enttäuschend (siehe oben). Da gibt es andere, die es offensichtlich klüger angefangen haben. Auch sie sind zuletzt bei einem Professorentitel gelandet, konnten aber auf dem Wege dahin noch reichlich kulturelles, ökonomisches und zum Schluss auch symbolisches Kapital ansammeln. Perfektes Beispiel ist eine in der politischen Öffentlichkeit wohlbekannte, schöne Frau.

14 Kapital     367

Ein Wikipedia-Eintrag, Erfolg und Schimpanse Goblin Den Wikipedia-Eintrag hat natürlich Margarita Mathiopoulos, Willy Brandts „schöne Griechin“, die er zur Parteisprecherin machen wollte (Franz 2007; Abb. 14.3). Willy Brandt hatte zum Zeitpunkt der im Übrigen am Widerstand der Partei gescheiterten Berufung bereits seit Jahren engen freundschaftlichen Kontakt zur Familie Mathiopoulos: Der Vater, ein politisch links stehender, griechischstämmiger Journalist, war im Zuge der Machtübernahme durch die Obristenjunta in Griechenland in Schwierigkeiten geraten, und es war der damalige Außenminister Willy Brandt, der erreichte, dass Basil Petros Mathiopoulos nach Bonn ausgeflogen wurde, wo seine Frau als akademische Rätin an der Universität lehrte. Auch für Brandt war dieser Kontakt günstig. Sein Einsatz für einen kritischen Journalisten konnte ihm in einer Zeit, in der sich die SPD und ihre Wähler zunehmend intellektualisierten, nur nützlich sein. Margarita Mathiopoulos verbrachte also eine politische Kindheit zwischen Journalismus und Universität, und genau das sollte ihren weiteren Lebenslauf bestimmen. Nach dem Abitur begann sie ein Studium in Bonn, also an eben der Universität, an der ihre Mutter lehrte, dort bereits über soziales Kapital verfügte und ihr deshalb den Weg ebnen konnte. Gleichzeitig arbeitete

Abb. 14.3  Margarita Mathiopoulos und Willy Brandt. Der inzwischen in Sachen Dominanzverhalten gut geschulte Leser achte bitte auf das gönnerhafte Tätscheln der Wange der jungen Margarita durch das Polit-Alphatier mit unwillkürlich postuliertem Verfügungsrecht über alle Weibchen! (© Heinrich Sanden/dpa/picture alliance)

368     I. Wunn

sie, hier durch ihren Vater unterstützt, als freie Journalistin beim Westdeutschen Rundfunk. Die guten Kontakte zur SPD verhalfen ihr zu einem Promotionsstipendium an der Harvard University, wo der Politikwissenschaftler, Politikberater und Bestsellerautor Samuel P. Huntington ihr Mentor wurde – weil sie eben bereits über ein gewisses soziales Einstiegskapital von zu Hause aus verfügte, das sie nun klug investierte: Ihre Zeit in den USA nutzte sie, indem sie nicht nur die bestehenden Kontakte pflegte und intensivierte, sondern indem sie auch die politisch und wirtschaftlich interessanten transatlantischen Beziehungen zu ihrem Thema machte. Alles, was sie unternahm, war gut geplant, war in sich stimmig und auf das Ziel Erfolg programmiert. Sowohl die Studiengänge Politikwissenschaft und Zeitgeschichte als auch die von ihr bearbeiteten Themen waren das, was eine intellektuelle und politische Öffentlichkeit interessierte, und die erfolgreiche Studentin brachte ihre Arbeiten an die Öffentlichkeit – ungleich ihren Mitbewerbern, deren Abschlussarbeiten zu rein akademischen Themen derweil in den Universitätsarchiven verstaubten. Nachdem sie ihre Dissertation zum Thema „Geschichte und Fortschritt im Denken Amerikas: Ein europäisch-amerikanischer Vergleich“ verfasst hatte und promoviert wurde, veröffentlichte sie auch dieses Werk umgehend in einem namhaften Verlag, nicht ohne sich zuvor für die englische Ausgabe von dem bekannten Historiker Gordon Craig ein Vorwort schreiben zu lassen. Natürlich waren auch der Doktorvater und der Zweitgutachter solche Professoren, die über ansehnliches kulturelles und symbolisches Kapital verfügten: Der Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher (1922–2016) und der Politikwissenschaftler, Journalist und Kanzlerberater Wolfgang Bergsdorf (*1941) agierten letztlich im selben Umfeld (soziales Feld), in dem bereits auch die Eltern Mathiopoulos aktiv waren, sodass ihre Tochter, inzwischen durch ihre amerikanischen Kontakte selbst Besitzerin von symbolischem und sozialem Kapital, auch hier wieder auf bestehenden Beziehungen aufbauen konnte. Ihre Verbindungen, ihre internationale Ausbildung und ihre Veröffentlichungen trugen ihr zunächst interessante Stellungen im Bereich Rundfunkt und Regionalfernsehen, dann auch im Bereich Kommunikation in der Industrie ein. Den Höhepunkt bildete jedoch sicherlich die geplante, dann aber nicht umsetzbare Berufung der schönen jungen Frau auf den Posten einer Parteisprecherin. Einen Karrieresprung konnte Mathiopoulos jedoch machen, als sie den Pressesprecher des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, das ­CDU-Mitglied Friedbert Pflüger (*1955) kennenlernte und 1987 heiratete. Pflüger war mindestens genauso ehrgeizig wie die „schöne Griechin“, hatte seinen politischen Aufstieg durch eine frühe CDU-Mitgliedschaft und

14 Kapital     369

politisches Engagement bereits während des Studiums sorgfältig geplant, hatte ebenfalls in Harvard bei Huntington studiert und anschließend bei Bracher in Bonn promoviert. Jetzt begannen sich Mathiopoulos‘ viele Kontakte auch in wirtschaftlicher Hinsicht auszuzahlen. Vor allem weniger bedeutende Potentaten aus solchen Staaten, die nicht im Fokus der deutschen Außen- oder Wirtschaftspolitik standen, suchten den Kontakt zu wichtigen Vertretern der bundesdeutschen Politik und Wirtschaft, und Mathiopoulos konnte nicht zuletzt über ihren Ehemann helfen: gegen das Wohlwollen der Persönlichkeit, für die man sich erfolgreich eingesetzt hatte. Nach und nach entstand so ein großes Netz von sorgsam gepflegten sozialen und geschäftlichen Beziehungen, das ihr verschiedene hochkarätige Beraterstellen eintrug, so die Stelle als Chefberaterin des Vorstandsvorsitzenden des britischen Rüstungskonzerns BAE Systems, die sie von 1998 bis 2001 innehatte. Nun hatte sie es endgültig geschafft. Von 2000 bis 2015 stand sie im Auftrag des damaligen griechischen Verteidigungsministers Akis Tsochatzopoulos einer internationalen Expertenkommission zur Restrukturierung der griechischen Streitkräfte vor. Alle diese zuletzt hochkarätigen Tätigkeiten machten sie nicht nur zu einer erfolgreichen Geschäftsfrau. Margarita Mathiopoulos hatte immer darauf geachtet, dass sie vor allem ihr soziales Kapital, ihr Netz von Beziehungen und Freundschaften, ausbaute. Als sie daher 2001 eine eigene Beraterfirma gründete, die vor allem, aber nicht nur, in hochkarätigen internationalen Rüstungsgeschäften beriet, vermittelte und makelte, konnte sie auf so hoch geachtete Partner wie den früheren Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzenden des NATO-Militärausschusses Klaus Naumann und den ehemaligen schwedischen Premierminister Carl Bildt zurückgreifen; Namen, die für Seriosität standen und ihr jede Tür öffneten. In Sachen soziales und ökonomisches Kapital war Mathiopoulos also ungemein erfolgreich. Weniger glatt verlief ihr Lebensweg, was das Ansammeln von institutionalisiertem kulturellem Kapital anbelangte. Bereits eine erste geplante Vertretungsprofessur (um symbolisches Kapital zu erwerben) im Wintersemester 1987/1988 scheiterte an zum damaligen Zeitpunkt erhobenen Plagiatsvorwürfen. Zwar konnte sie anschließend noch Gastvorlesungen in Stanford und, als DAAD-Professorin, an der ­Humboldt-Universität zu Berlin halten und wurde Honorarprofessorin an den Universitäten Braunschweig und Potsdam, jedoch holten sie auch dort die 30 Jahre zuvor erhobenen Plagiatsvorwürfe wieder ein. Der Doktortitel wurde ihr letztlich aberkannt, was aber ihre gesellschaftliche Stellung heute in keiner Weise beeinträchtigt und auch ihr soziales Kapital nicht schmälert.

370     I. Wunn

Schmerzlich ist dieser Verlust von institutionalisiertem kulturellen Kapital und damit von symbolischem Kapital dennoch! Margarita Mathiopoulos, die schöne Griechin aus intellektuellem Hause, konnte also bereits vor ihrem Start in eine erfolgreiche berufliche Laufbahn auf das akkumulierte kulturelle soziale Kapital ihrer Eltern zurückgreifen. Nicht jeder ist allerdings in solch glücklicher Situation. Mancher muss ganz von vorn anfangen und sein soziales und ökonomisches Kapital aus dem Nichts schaffen. Hierzu ein Beispielaus der Welt des Business. Ein ehrgeiziger junger Mann hat zunächst ein hervorragendes geschäftliches Projekt, aber nicht das nötige Kapital, die Sache umzusetzen. Er verdankt letztlich nur seiner Eloquenz und Überzeugungskraft (und natürlich seinem Auftreten, also seinem kulturellen Kapital), dass er ein Bankhaus findet, welches ihm den nötigen Einstiegskredit gewährt. Eben jenes Bankhaus behält den vielversprechenden Jungunternehmer im Auge und ermöglicht ihm über die üblichen geschäftlichen Einladungen die ersten wichtigen Kontakte in die Welt der Unternehmer und Politiker. Unser Jungunternehmer macht sich in diesen Kreisen beliebt, indem er erstens mit geschäftlich hervorragenden Ergebnissen brillieren kann, sich also ein ökonomisches Kapital erarbeitet, sich dann jedoch auch in der genannten Gesellschaft als angenehmer und geistreicher Gesprächspartner präsentiert, der jede Möglichkeit nutzt, neue Freundschaften anzuknüpfen. Hier konzentriert er sich jedoch nicht nur auf Kontakte aus der Finanzwelt und Politik, sondern lernt im Laufe der Jahre auch Ärzte, Größen des Showgeschäfts und den einen oder anderen Vertreter glänzender oder zumindest noch matt schimmernder Adelshäuser kennen. In die gesellschaftlichen Kontakte investiert unser soziales Genie genauso intensiv wie in die geschäftlichen Beziehungen und Unternehmungen. Auch die Urlaubsorte werden unter Kontaktgesichtspunkten gewählt: Wir treffen unseren Freund immer da, wo sich die elegante Welt trifft: An der Côte d’Azur, in Sankt Moritz, auf Sylt. Und immer kann er durch seine Offenheit, seine witzige Art, seine Großzügigkeit und seine unzweifelhafte Eleganz – denn rasch hat man sich den Habitus der großen Welt zumindest so ungefähr angeeignet – überzeugen und neue Kontakte knüpfen. Auch die Wahl der Ehefrau passt ins Bild: Sie ist attraktiv, kontaktfreudig, nicht zu intelligent (was anstrengend gewesen wäre), und sie kann munter plaudern. Inzwischen ist das soziale Kapital unseres Aufsteigers parallel zum ökonomischen Kapital so beträchtlich angewachsen, dass man auch damit Handel treiben kann; einen Handel allerdings, der sich ungleich dem Handel im Beratungsgeschäft unseres weiblichen Beispiels auf einer nicht

14 Kapital     371

pekuniären Ebene abspielt. Der hochkarätige Medizinerfreund benötigt einen Kredit? Unser soziales Genie spricht mit einem Freund von der Bank. Ein Mann aus der Wirtschaft sucht einen wirklich kompetenten Chirurgen? Unser Freund kennt einen und arrangiert einen Termin bereits für übermorgen. Die Gattin des Politikers möchte unbedingt mal, sagen wir Andreas Gabalier kennenlernen? Auch hier lässt sich ganz leicht etwas arrangieren. Letztlich entsteht auf diese Weise ein Netz aus Beziehungen und erwiesenen Gefälligkeiten, ein soziales Kapital, das sich immer wieder aktivieren und in weitere Gefälligkeiten oder aber auch direkt in ökonomisches Kapital umwandeln lässt. Selbst ein Umwandeln des sozialen und ökonomischen Kapitals in kulturelles oder symbolisches Kapital wäre leicht möglich, aber unser Freund lehnt sowohl das offerierte Bundesverdienstkreuz ab, noch will er eine Honorarprofessur. Auch ohne dergleichen sichtbare Zeichen seiner Bedeutung – wir wissen ja nun, worum es geht – steht er auf der Liste der von der Damenwelt favorisierten mating-Partner ganz oben! Wenn es allerdings um ein soziales Kapital wie bei Tante Anni geht, muss unser Erfolgsmensch passen. Da im eleganten Heim kein Raum für lärmende und kleckernde Kinder und deren überbesorgte und damit anstrengenden Eltern ist, wird ihn im Alter wohl kein Neffe und keine ehemalige Freundin seines Sohnes besuchen! Eine weitere Form von sozialem Kapital bleibt noch nachzutragen, nämlich genau das Kapital, das sich der spätere Alphaaffe Goblin dadurch verschafft hat, dass er sich konsequent im Umfeld eines Alphamännchens aufhielt. Wir wählen hier als Typusexemplar keinen Schimpansen und auch kein Männchen, sondern ein Alphaweibchen. Wir wählen die von uns bereits erwähnte und bewunderte Angela Merkel. Angela Dorothea Merkel (*1954) wurde in Hamburg geboren, wuchs in der DDR auf, studierte nach einem erstklassigen Abitur Physik an der damaligen Karl-Marx-Universität Leipzig und promovierte anschließend am Zentralinstitut für Physikalische Chemie (ZIPC) der Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin. Eine kluge und erfolgreiche Frau also! Das politische Engagement von Angela Merkel begann mit der sogenannten Wende. Merkel engagierte sich für die Organisation Demokratischer Aufbruch (DA), die 1990 bei den Volkskammerwahlen allerdings nur durch ihr Bündnis mit der CDU-Ost erfolgreich war. Merkel bekleidete dann in dieser von Lothar de Maizière angeführten, ersten und einzigen frei gewählten ostdeutschen Regierung das Amt der Regierungssprecherin. Im Zuge der Verhandlungen zur Wiedervereinigung wurde Merkel von Günther Krause, dem parlamentarischen Staatssekretär beim Ministerpräsidenten der DDR, nicht zuletzt wegen ihrer Sprachkenntnisse und

372     I. Wunn

ihrer relativen Weltläufigkeit gefördert und konnte die Delegation zum Abschluss des Zwei-plus-Vier-Vertrages 1990 nach Moskau begleiten. Im Zuge der geplanten Wiedervereinigung kam es dann zum Zusammenschluss des DA und der Ost-CDU mit der westdeutschen CDU auf einem Parteitag in Hamburg 1990, wo Angela Merkel zum ersten Mal mit Kanzler Helmut Kohl zusammentraf und ein ebenso langes wie für sie erfolgreiches Gespräch führte. Die Wiedervereinigung und die Fusion des DA mit der CDU bescherte Merkel eine Planstelle im Bundespresse- und Informationsamt (BPA). Gleichzeitig bewarb sie sich im Wahlkreis Stralsund/Rügen/ Grimmen um ein Bundestagsmandat, wobei ihr ihr früher politischer Förderer Günther Krause behilflich war. Nachdem sie ihren Wahlkreis gewonnen hatte, erhielt sie im Kabinett Kohl als Zugeständnis an die Ost-CDU ein unbedeutendes Ministerium (das Bundesministerium für Frauen und Jugend). Diesen raschen Erfolg als Quereinsteigerin hatte sie zunächst Günther Krause, dann aber vor allem Kanzler Helmut Kohl zu verdanken, der in ihr eine ebenso kluge wie loyale Stütze für seine eigene Regierung und Hausmacht sah. Angela Merkel, die mit den politischen Gepflogenheiten in der ehemaligen BRD wenig vertraut war und in der etablierten Partei über keinerlei soziales Kapital verfügte, band sich ihrerseits fest an den Kanzler, der zukünftig ihren Aufstieg befördern sollte. Ihre Taktik sollte sich als erfolgreich erweisen: Nachdem sie in den darauffolgenden Bundestagswahlen 1994 ihren Wahlkreis mit 48,6 Prozent der Erststimmen gewinnen konnte, ersetzte Kohl seinen bisherigen, mühsam gewordenen Minister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (es handelte sich um Klaus Töpfer, der damals lästige Forderungen in Sachen Umweltschutz aufstellte, die heute geradezu harmlos wirken) durch Angela Merkel, die bereits als „Kohls Mädchen“ bekannt geworden war. Mit dem Debakel der Bundestagswahlen von 1998 hätte auch der Aufstieg Merkels beendet sein können, wäre sie nicht auf Vorschlag Wolfgang Schäubles zur Generalsekretärin der CDU gewählt worden; eine Position, in der sie die Möglichkeit hatte, Weichen für die Zukunft zu stellen. Diese Gelegenheit ergab sich öffentlichkeitswirksam im Zuge der Spendenaffäre, in die Kohl tief verstrickt war. Merkel zögerte nicht, ihren bisherigen Mentor, dem sie alles verdankte, öffentlich anzugreifen. Damit galt sie zwar unter den alten Hasen ihrer Partei als Nestbeschmutzerin, konnte sich aber außerhalb der Partei als Sauberfrau präsentieren und galt gerade wegen ihrer fehlenden Verbindungen zur alten BRD-Parteihierarchie als unbelastet. Am 10. April 2000 wurde Angela Merkel auf dem C ­ DU-Bundesparteitag in Essen mit 897 von 935 gültigen Stimmen zur neuen ­CDU-Bundesvorsitzenden gewählt, und 2005 schaffte sie den Sprung ins Kanzleramt.

14 Kapital     373

Merkel hat ihren Mentoren Günther Krause, dann Helmut Kohl alles zu verdanken, indem sie sich an deren Fersen heftete und von deren Aufstieg mit nach oben getragen wurde. Im entscheidenden Moment löste sie sich von ihren Ziehvätern und schreckte auch nicht davor zurück, den ehemaligen Mentor ihrer Karriere zu opfern – wie Goblin, der kleine Schimpanse, der es zuerst im Dunstfeld des Alphamännchens Figan nach oben schaffte, um dann seinen Ziehvater brutal zu entmachten und zu vertreiben! Schrecklich? Barbarisch und nur für Schimpansen akzeptabel? Nein, genau so funktioniert der Weg zur Macht über soziales Kapital. Den treuen Heinrich, der seinem Herrn auch in ausweglosen Situationen verlässlich bis an ein bitteres Ende zur Seite steht, gibt es nur im Märchen oder in Schillers Ballade Die Bürgschaft. Wenn es um die tatsächliche Macht geht, heftet sich ein Philipp Rösler als treuer Adlatus an die Fersen eines Guido Westerwelle, um ihm im geeigneten Moment den Dolch ins politische Ämter-Herz zu stoßen, währen ein Christian Lindner schon bereit steht, um Gleiches mit Rösler zu tun. Der Aufsteiger heftet sich an die Fersen seines Mentors oder Förderers und unterstützt ihn nach Kräften zum Wohle beider, bis das ältere Alphamännchen oder -weibchen ermattet und bereit ist für den Todesstoß – von Seiten seines bisherigen treuen Dieners und Gefährten! Entrüstet? Haben Sie etwa schon das egoistische Gen vergessen?

Literatur Berndorff HR (1966) Das schwarz-weiss-rote Himmelbett. Aus den Memoiren eines rheinischen Schlingels. Ullstein, Frankfurt a. M. Bourdieu, P (1992) Die verborgenen Mechanismen der Macht. In: Schriften zu Politik & Kultur (Hrsg) Margareta Steinrücke. VSA-Verlag, Hamburg Evans-Pritchard, EE (2011/1948) The divine kingship of the Shilluk of the Nilotic Sudan. The Frazer Lecture, 1948. HAU: J Ethnographic Theor 1(1):407–422 Goltz A (1918) Sakralkönigtum. In: Hoops J (Hrsg) Rreallexikon der germanischen Altertumskunde, vol 26. De Gruyter, Berlin, S 234–247 Graeber D (2011) The divine kingship of the Shilluk. On violence, utopia, and the human condition, or, elements for an archaeology of sovereignty. HAU: J Ethnographic Theor 1(1):1–62 SABC News (o. J.) King Letsie III led Lesotho’s 50th independence anniversary. https://www.youtube.com/watch?v=T6HhJgIXqEk. Zugegriffen: 13. Sept. 2019 Walter F (2007, 23. März) Brandts Rücktritt. https://www.spiegel.de/geschichte/ brandts-ruecktritt-a-948724.html. Zugegriffen: 23. Sept. 2019

15 Der Kampf um Macht und Anerkennung

Das egoistische Gen will nach oben Sie erinnern sich an das egoistische Gen, das nur danach trachtet, möglichst identische Kopien von sich in die Welt zu setzen? Das sich zu diesem Zweck mit anderen, ebenso egoistischen und möglichst erfolgreichen Genen zusammentut und um sich herum eine Überlebensmaschine baut, die genauso egoistisch ist wie das Gen selbst, und dem es in letzter Konsequenz nur um Paarung, um die Alphastellung und damit um einen bevorzugten Platz auf der mating-Liste geht? Genau dieses Gen beziehungsweise seine Überlebensmaschine macht sich also auf den gesellschaftlichen Weg nach oben, denn – wir können es nicht oft genug betonen – nur in einer hohen Position, vor allem als Alphamännchen oder -weibchen, hat man/frau den freien Zugriff auf die besten, die erfolgversprechendsten und die meisten mating-Partner. Lebt unsere Überlebensmaschine in einer egalitären, klassenlosen und nicht arbeitsteiligen Gesellschaft, wie wir sie aus Afrika beschrieben haben (Mbuti, Makonde), wird die Gesellschaft alles tun, um die egoistischen Gene in Schach zu halten und jegliches offensichtliche Streben nach einer Alphastellung zu unterdrücken. Dazu dient nicht zuletzt das Ritual mit seiner Beschwörung nicht mehr hinterfragbarer höchster Werte. Alphamännchen oder Alphaweibchen gibt es in einer egalitären Gesellschaft offiziell nicht, und doch wird sich eine begehrte Schöne unter den potenziellen mating-Partnern vorzugsweise einen jungen, gesunden und starken Mann aussuchen – eben denjenigen, der für die eigenen egoistischen © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Wunn, Vier Theorien, um die Welt zu beherrschen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61376-4_15

375

376     I. Wunn

Gene der bestmögliche Paarungspartner zu sein scheint. Theoretisch steht in einer solchen Gesellschaft jeder oder jede als möglicher Paarungspartner zur Verfügung, denn gesellschaftliche Schranken (mit Ausnahme von verwandtschaftlichen Beziehungen), die ein Heiratshindernis darstellen könnten, gibt es nicht. Das wird anders, sobald eine Gesellschaft beginnt, sich zu differenzieren. Dann geht es sogleich um Ranking, um Schichtzugehörigkeit, um Führungspositionen, um die Zugehörigkeit zur richtigen Gruppe. Um in diesem struggle for existence bestehen zu können, machen sich die Überlebensmaschinen egoistischer Gene sofort daran, die wichtigsten Ressourcen für sich zu erobern – sie beschaffen sich Kapital! Wurde man zufällig in die Klasse des Adels geboren, dürfte man mit etwas Glück dieses Kapital bereits in die Wiege gelegt bekommen haben. Da ist vielleicht ein großer Grundbesitz als ökonomisches Kapital, oder weitblickende Vorfahren haben möglicherweise schon ein Unternehmen aufgebaut oder sich durch Heirat mit einem solchen Unternehmen verbunden (wie z. B. die Grafen von Faber-Castell), das dem jüngsten Produkt aus der Rekombination erfolgversprechender Gene einen guten Start ermöglicht. Da ist weiter das symbolische Kapital des Adels, das einem Spross aus adeligem Hause immerhin den Posten eines Frühstücksdirektors oder eine günstige Heirat einbringen könnte (d. h. eine Firma schmückt sich mit dem Titel und suggeriert Solidität durch die Anciennität des Adelsnamens), da ist selbstverständlich das kulturelle Kapital mit allen seinen Spielarten, und da ist zuletzt das soziale Kapital des Adels. Die Adelshäuser sind miteinander verwandt, verschwägert, pflegten über Generationen nachbarschaftliche Verhältnisse und verkehrten ursprünglich ausschließlich mit Ihresgleichen. Ihr Habitus, jenes gewisse, auf dem inkorporierten kulturellen Kapital beruhende Etwas, schuf selbst dann noch unüberwindliche Standesschranken, als die Klassengesellschaft offiziell bereits abgeschafft war. Der Habitus diente also wie immer dazu, eine einmal erreichte Machtposition zu sichern. Dieses Vorgehen mag sinnvoll gewesen sein, als der Besitz an Ländereien die wesentliche Quelle von Wohlstand war. Der Besitzer großer landwirtschaftlicher Güter konnte sicher sein, aus seinem ökonomischen Kapital (der Land- und Forstwirtschaft; vielleicht auch noch aus der einen oder anderen Mine) eine Rendite zu erwirtschaften, die ihm nicht nur ein angenehmes Leben, sondern auch den Erwerb des kulturellen Kapitals ermöglichte, das dann wiederum dazu diente, seine Vorrangstellung zu untermauern und zu begründen.

15  Der Kampf um Macht und Anerkennung     377

Bedauerlicherweise – bedauerlich aus dem Blickwinkel der adeligen Überlebensmaschinen – waren diese schönen Zeiten nicht von Dauer. Strenggenommen wurden die Privilegien des Adels bereits zu einer Zeit infrage gestellt, in der sie noch gar nicht richtig ausgeprägt waren, nämlich in der Renaissance. In dieser Zeit begann nämlich bereits der Aufstieg des Bürgertums in den Städten, und auch hier wurde fleißig Kapital akkumuliert. Man denke in diesem Zusammenhang nur an die unvorstellbar reichen Fugger, die mit ihrer finanziellen Unterstützung des Hauses Habsburg dessen politischen Aufstieg erst ermöglichten und damit auch das Schicksal des Deutschen Reiches für die nachfolgenden Jahrhunderte bestimmten. Jakob Fugger (1449–1525) hatte nämlich nicht nur die Wahl Maximilians zum Kaiser finanziert, sondern auch finanziell eine Heiratspolitik unterstützt, durch die Spanien, Böhmen und Ungarn an Habsburg fielen und somit den Grundstein für die österreichisch-ungarische Hausmacht der Habsburger legte. Letztlich dominierte hier also das ökonomische Kapital sowohl das symbolische als auch das kulturelle Kapital. Obwohl – eines muss man hier hervorheben – Fugger konnte nur indirekt die Fäden ziehen! Trotz seines Reichtums hätte er nicht Kaiser werden können, denn dazu fehlte dann doch das symbolische Kapital! Dass bereits im Mittelalter der Adel gegen den Aufstieg des Bürgertums und der Bauern und damit auch gegen die Dominanz des ökonomischen Kapitals kämpfte und vor allem kritisierte, dass reiche Bürger und Bauern den adeligen Habitus annahmen, zeigt die Einlassung des Dichters Neidhart von Reuental (im 13. Jahrhundert). Er bemängelte vor allem, dass reiche Bauern in eleganter Kleidung den Rittern die Frauen ausspannten und damit schuld am Verfall von Sitte und Kultur seien! Auch hier also: Der adelige Habitus sollte der Sicherung von Privilegien und damit vor allem Exklusivität beim Zugang zu fruchtbaren Weibchen garantieren! Trotz ihrer überlegenen Macht imitierte die aufsteigende Schicht allerdings sofort den Habitus derjenigen, an deren Untergang bzw. Nivellierung sie eigentlich arbeitete, denn bekanntermaßen steigert der Besitz nicht nur an ökonomischem, sondern auch an kulturellem Kapital die Chancen auf dem Heiratsmarkt. Es ist daher kein Zufall, wenn sich im Laufe der Geschichte etliche zu Reichtum gekommene oder berühmte Bürger in den Adelsstand heben ließen (z. B. die Medici, Goethe und der relativ neue, sogenannte Bahnhofsadel). Lediglich Alfried Krupp (1812– 1887) lehnte eine Nobilitierung ab. Er als Stahlmagnat und schwerreicher Selfmademan hatte derlei Mätzchen nicht nötig! Die Ursache für den Aufstieg sowohl der Bauern als auch der Bürger seit dem Mittelalter ist also nicht ihr symbolisches oder ihr kulturelles Kapital,

378     I. Wunn

sondern ganz schlicht ihr Vermögen. Es war ihr ökonomisches Kapital, das ihnen einen Lebensstil vergleichbar dem Lebensstil der herrschenden Klasse ermöglichte, und es war das ökonomische Kapital, das ihnen politischen Einfluss sicherte. Das Übernehmen der feinen, der höflichen gleich höfischen Manieren sollte dann nur noch die offiziell bestehenden Standesunterschiede verwischen. Die ordinäre Dominanz des Mammons gilt im Übrigen auch für einen Stand, der eigentlich ausschließlich von seinem symbolischen Kapital zehren sollte – den Klerus. Selbst hochrangige Kleriker verdankten bis in die jüngste Vergangenheit nämlich ihre herausragende Stellung entweder ihrer adeligen Abstammung und Verwandtschaft, ihrer konkreten politischen Macht als Regenten des Kirchenstaates oder eines geistlichen Fürstentums oder aber einem Vermögen, welches ihnen den Erwerb eines Bistums ermöglichte. Einige Beispiele: Papst Leo IX. (1049–1054) war ein elsässischer Graf und entfernter Cousin des Salierkaisers Heinrich III.; Papst Alexander VI., der zunächst durch seinen Onkel, Papst Calixt III. (1455–1458) protegiert wurde und einträgliche Pfründe erhielt, herrschte auf der Basis seines Reichtums und seiner militärischen Macht; Bischof Albrecht von Brandenburg (1490–1545) kaufte – was nicht rechtens war und daher von Luther angeprangert wurde – zur Vergrößerung seiner Macht das Bistum Mainz hinzu. Erst mit dem Ende des Kirchenstaates als Territorialstaat 1870 hatte der Papst und mit ihm auch der Klerus jede weltliche Macht eingebüßt. Dennoch, oder gerade weil mit seinem Amt heute keinerlei territorialen Ansprüche und keine politische Macht mehr verbunden sind, stellt er als Oberhaupt der römisch-katholischen Christenheit und Stellvertreter Christi auf Erden eine moralische Instanz dar, deren Einfluss nicht zu unterschätzen ist. Kaum ein Politiker, und sei er Anhänger einer konkurrierenden Kirche oder gar bekennender Atheist, würde jemals eine Einladung zu einer Privataudienz beim Papst ausschlagen (Abb. 15.1)! Dennoch: Im Sinne unserer egoistischen Gene ist das symbolische Kapital des Papstes eine glatte Fehlinvestition. Das heute streng einzuhaltende Zölibat verbietet nämlich dem Alphamännchen des Systems katholische Kirche, seine privilegierte Stellung in der biologisch vorgesehenen Weise zu nutzen. Insofern, diese Bemerkung sei noch erlaubt, zeugt die Manipulation meines Fotos (Abb. 1.1) mit dem Papst und dem Untertitel „Affenforscherin mit ihren Alphamännchen“ von geradezu sträflicher Unkenntnis der Zusammenhänge! Zurück zu Geld und Macht: Hier hat sich seit Fuggers Zeiten wenig geändert. Zwar verfügen der Adel und inzwischen auch das alte

15  Der Kampf um Macht und Anerkennung     379

Abb. 15.1  Putin wird im Rahmen einer Privataudienz vom Papst empfangen. (© ABACA/picture alliance)

Großbürgertum vom Schlage der Thurn und Taxis, der Thyssens und Krupps über ein ansehnliches kulturelles Kapital und grenzen sich über einen entsprechenden Habitus von konkurrierenden Schichten ab; wirkliche Macht und Einfluss hatten und haben die genannten Familien aber letztlich nur über ihr ökonomisches Kapital. Das Gleiche gilt für diejenigen, die die Kapitalströme lenken. Es sind die Martin Winterkorns (ehemaliger Vorstandsvorsitzender Volkswagen AG), die Susanne Klattens (unter anderem Anteilseignerin BMW), die Reinhold Würths (Würth-Gruppe), die Frank Mastiaux’ (der Energieversorger EnBW) oder die Christine Lagardes (bis 2019 geschäftsführende Direktorin des Internationalen Währungsfonds und inzwischen Präsidentin der Europäischen Zentralbank), die die Fäden der Macht in der Hand halten, ganz so wie weiland Jakob Fugger. Sie finanzieren über Parteispenden eine ihnen genehme Politik, sie bezahlen Lobbyisten und Medienbeauftragte, sie bieten ausgedienten Politikern lukrative Anstellungen in ihren Firmen und produzieren auf diese Weise noch mehr Frühstücksdirektoren wie z. B. Ex-Kanzler Schröder bei der russischen GazProm, Sigmar

380     I. Wunn

Gabriel beim Großschlachter Tönnies oder Ronald Pofalla bei der DB. Sie bestimmen durch das Festlegen des Leitzinses, wie viel ein Staat für seine Kredite bezahlen muss, und sie drohen unverhohlen mit dem Verlust von Arbeitsplätzen und sozialen Unruhen, wenn es darum geht, eine nicht mehr zeitgemäße Technologie und damit ihr Kapital zu unterstützen: Man denke nur an Kohle und Stahl an der Ruhr, Braunkohle in der Lausitz und Autos mit Verbrennungsmotoren in Wolfsburg, Ingolstadt oder Stuttgart. Oder sie erzwingen, ein von irgendwelchen Managern in den Sand gefahrenes Unternehmen (Philipp Holzmann AG; Pohl 1999) oder Bankhaus (Bankhaus Oppenheim) zu retten. Ein reicher Parvenü ist daher auch in den Kreisen des alteingesessenen Adels und Geldadels trotz bedauerlicher Defizite in Sachen Manieren (falscher Habitus) stets willkommen! Da wir hier aber nicht über die Verflechtung von Wirtschaft und Politik und auch nicht über unsinnige, aber vielleicht wählerwirksame politische Entscheidungen eines Alphamännchens zur Absicherung seiner Machtposition sprechen wollen, sondern über unsere vier Theorien, die den Zugang zur Macht erklären, werden wir dieses für Stammtischdiskussionen so fabelhaft geeignete Thema beiseiteschieben und uns wieder unserem eigentlichen Thema, dem egoistischen Gen, seiner Überlebensmaschine und dem Weg zur Macht aus Gründen eines möglichen Paarungsvorteils zuwenden. Also: Nicht jede (w/m/d) hat das Glück, in eine reiche Familie geboren zu werden und über ein ansehnliches Startkapital zu verfügen, sei es ökonomisches Kapital wie bei Susanne Klatten, sei es kulturelles Kapital wie bei Prinz Harry oder symbolisches plus soziales Kapital bei Stella McCartney, der Tochter des bekannten Beatle. Alle genannten Persönlichkeiten und weitere Erben kulturellen, ökonomischen, sozialen und symbolischen Kapitals (ja, auch das kann man erben, wenn man z. B. der Sohn Aga Khans ist oder auch nur als Kind eines renommierten Arztes die väterliche oder mütterliche Praxis übernimmt) haben sicherlich bei ihrem Weg an die Spitze der Gesellschaft, beim Kampf um Ranking, um Macht und damit beim Wettbewerb um die besten mating-Partner einen nur schwer einzuholenden Vorsprung. Und dennoch gelingt dieser Aufstieg aus dem Nichts einigen wenigen immer wieder, indem sie sich daranmachen, möglichst viel von dem Kapital anzureichern, das ihnen eine besondere Stellung in den Reihen der happy few verschafft. Wir schauen uns hier noch einmal einen exemplarischen Lebenslauf an: Da ist zunächst der Bewerber um ökonomisches Kapital. Wir wählen stellvertretend für ähnliche erfolgreiche Lebensgeschichten den Unter­ nehmer Dirk Rossmann (*1946). Nichts an Rossmanns Geburt und Jugend

15  Der Kampf um Macht und Anerkennung     381

deutete darauf hin, dass er einer der erfolgreichsten deutschen Unternehmer und in dieser Eigenschaft natürlich auch Alphamännchen werden sollte. Im Gegenteil: Seine Eltern besaßen eine kleine Drogerie am Stadtrand von Hannover und konnten damit gerade den Lebensunterhalt für sich und die beiden Kinder erwirtschaften. Der frühe Tod des Vaters entschied über Rossmanns berufliche Zukunft: Eine aufwändige Berufsausbildung kam aus finanziellen Gründen nicht infrage. Vielmehr musste der Junge nach dem Hauptschulabschluss eine Ausbildung zum Drogisten machen, um anschließend, nur unterbrochen von einem kurzen und unfreiwilligen Zwischenspiel bei der Bundeswehr, die elterliche Drogerie zu übernehmen. Hier allerdings kam seine Stunde. Er wurde nämlich Zeuge des kometenhaften Aufstiegs der Brüder Albrecht mit ihrem ganz neuen Verkaufskonzept. Die Albrechts verkauften Lebensmittel zu niedrigsten Preisen bei einem reduzierten Angebot. Genau dieses Erfolgskonzept musste sich, da war sich Rossmann sicher, auch auf Drogerien übertragen lassen! Also eröffnete der erst 25-Jährige 1972 in Hannover den Markt für Drogeriewaren, den ersten Selbstbedienungsdrogeriemarkt in Deutschland. Mit diesem Konzept hatte er sofort einen geradezu märchenhaften Erfolg, der trotz einiger Schwankungen bis heute anhält. Inzwischen ist Rossmann Herr über mehrere Tausend Filialen, hat angeblich ein Vermögen von 2,7 Mrd. US $ und belegt auf der Liste der reichsten Deutschen Platz 50. Trotz seines Reichtums lebt er relativ bescheiden, skandalfrei und zurückgezogen. Den Auftrag seiner egoistischen Gene hat er erfüllt: Seine beiden Söhne haben studiert, haben leitende Funktionen in der väterlichen Firma und sind so aufs Beste ausgestattet, um im struggle for existence und im Wettbewerb um begehrte ­mating-Partnerinnen einen der vorderen Plätze einzunehmen. Aber da ist mehr: Das egoistische Gen will Aufmerksamkeit, um sich optimal an andere erfolgreiche Gene ankoppeln und dann kopieren zu können, und diese Eigenschaft behält es bei, auch wenn der eigentliche Fortpflanzungsauftrag bereits zufriedenstellend erledigt wurde. Daher drängt es die Überlebensmaschine eben jenes egoistischen Gens in die Öffentlichkeit, denn die paarungswilligen Weibchen (und umgekehrt die vielversprechenden Männchen) müssen ja in Kenntnis darüber gesetzt werden, dass hier ein begehrenswerter mating-Partner ist, und das können sie nicht, wenn sich der Inhaber eines enormen Vermögens an ökonomischem, kulturellen oder symbolischen Kapital dezent im Hintergrund hält. Es drängt also den Kapitaleigner (m/w/d) an die Öffentlichkeit, auch wenn es sich um einen so bescheidenen und zurückhaltenden Mann wie unseren Drogerieeigner handelt. Da wird dann, um der eigenen, so wunderbar anständigen Existenz etwas Würze zu verleihen, eine angebliche Affäre der Mutter aus dem Hut

382     I. Wunn

gezaubert, der unser Held entsprossen sein will. Und da drängt man in die Medien, wenn es – und hier ist Rossmann ein wirklicher Ritter alter Schule – darum geht, eine in Schieflage geratene, nur ein ganz klein wenig tätowierte Ex-Präsidentengattin moralisch zu retten! Bei einem solch ordentlichen Mann als gesellschaftliche Folie muss ein anderer Milliardär besonders unangenehm auffallen: Er ist gar nicht bescheiden, müht sich nicht um einen großbürgerlichen Habitus, verfolgt als mating-Strategie eher das Ziel Masse statt Klasse und präsentiert diese seine Eigenschaften völlig ungeniert und ungehemmt in der Öffentlichkeit: Die Rede ist leider vom derzeitigen US-Präsidenten (vielleicht ist er es sogar noch, wenn das Buch in Druck geht!). Er hatte sich eigentlich um das Präsidentenamt nur bewerben wollen, um für seinen Mischkonzern Trump Organizations einschließlich der auf ein schlichtes Publikum zugeschnittenen Fernsehshow zu werben und damit sein ökonomisches Kapital zu mehren, konnte aber dann mit genau den Eigenschaften, mit denen er als Entertainer Erfolg hatte, die Präsidentschaftswahlen gewinnen. Nun ist er Präsident und nimmt auch dieses Amt als eine Art Entertainer für das Wählervolk und eine staunende internationale Öffentlichkeit wahr. Die Öffentlichkeit und die Aufmerksamkeit, die er generiert, gefallen ihm genauso, wie er seine Position als Alphamännchen ungeniert auslebt. Ein Alphamännchen ist er nun ohne Zweifel, und er übt Macht aus. Letzteres wird von Befürwortern einer auf Nachhaltigkeit und demokratische Werte angelegten Politik mehr als bedauert. Bürgerliche Kreise, also diejenigen mit dem Habitus und dem Empfinden für das „gehört sich“ der oberen Klassen in Amerika (und nicht nur dort), rümpfen dagegen über sein ordinäres, rüpelhaftes Benehmen die Nase, und das ist nur allzu natürlich: Der verpflichtende Habitus der oberen und damit auch der politisch einflussreichen Klassen hätte eigentlich den Aufstieg eines Trump, also eines Außenseiters, verhindern sollen. Genau aus diesem Grunde haben ihn aber vermutlich viele Amerikaner gewählt, weil sie nämlich das Gefühl hatten, dass sich in Washington eine Politklasse etabliert hatte, die die Macht unter sich aufteilte und dafür sorgte, dass sie in ihren eigenen Kreisen verblieb. Dass Trumps politische Vorstellungen wirr sind und seine Entscheidungen keiner klaren Linie (außer krassem Eigennutz) folgen, ist aus politischer Sicht zu beklagen. Dass er aber seine herausragende Stellung benutzt, um sich als Alphamännchen innerhalb der sich willig anbietenden Weiblichkeit zu bedienen („you can even grab them by the pussy“), ist zwar in den Augen der Öffentlichkeit ordinär, unter den amerikanischen Präsidenten, Bundeskanzlern oder östlichen Diktatoren aber völlig normal.

15  Der Kampf um Macht und Anerkennung     383

Man denke nur an Bill Clinton und Monika Lewinsky, Helmut Kohl und Beatrice Herbold, Wladimir Putin und, unbestätigt, Alina Kabajewa. Moralisches Stirnrunzeln ist also unangebracht, wenn es nur auf Trump beschränkt sein sollte. Er unterscheidet sich, was sein Paarungsverhalten anbelangt, also nicht durch seine Promiskuität von anderen Alphamännchen, sondern durch den schlechten Stil, mit dem er diese short-term matings handhabt – also er unterscheidet sich auch beim Sex durch seinen proletarischen Habitus von vergleichbaren Polit-Alphas.

Le charme discret de la précarité1 oder: Der Kampf der Häretiker gegen die Arrivierten Es geht also, und das ist das Ergebnis unserer kurzen Beobachtung der Zusammenhänge von Kapital, Macht und Paarungschancen, letztlich darum, Alphamännchen oder -weibchen zu sein (selbst wenn man von der Alphastellung in sexueller Hinsicht keinen Gebrauch machen möchte) und als solches auch erkannt zu werden. Nun gibt es in unserer hoch differenzierten Gesellschaft nicht nur ein Alphamännchen oder ­-weibchen, sondern jedes der zahlreichen Subsysteme in unserem Staat bringt sein eigenes Alphatier hervor. Wir haben diese Alphas auf Landesebene bereits aus Anlass eines Events kennengelernt, als da waren: die Vertreter der Religionsgemeinschaften, wichtige Politiker, Vertreter der Wirtschaft, der Gewerkschaften, der Kulturszene und der Universität. Jede dieser Persönlichkeiten nahm oder nimmt eine hohe, wenn nicht die höchste Stellung in ihrem speziellen System ein, und genau in dieser Eigenschaft wurde er oder sie geladen. Wir konnten alle diese Persönlichkeiten unschwer ihrem System zuordnen, denn jede und jeder zeichnete sich durch einen ganz speziellen Habitus aus, der für die Angehörigen des jeweiligen Systems typisch ist, sei es der Lutherrock und die milde Sprache des evangelischen Geistlichen oder die schwarze Lederjeans und die coole Attitüde des Popstars. Wäre Olivia Jones, die berühmte Drag Queen, ebenfalls erschienen, hätte man auch sie aufgrund ihrer Aufmachung, Sprache und Gebärden gleich erkannt und zuordnen können. Und dennoch, trotz des charakteristischen, für die gesellschaftliche Herkunft typischen Habitus, haben die Geladenen des Events eines gemeinsam: Sie haben sich alle feingemacht. Obwohl man die

1Es

handelt sich natürlich um eine Anspielung auf den Film von Luis Buñuel mit dem Titel Der diskrete Charme der Bourgeoisie (Originaltitel: Le charme discret de la bourgeoisie ) aus dem Jahr 1972.

384     I. Wunn

soziale Herkunft nicht verleugnet, eint doch alle diese Alphas das Bestreben, auch äußerlich als Alpha erkannt zu werden, und dazu dient sowohl die edle und teure Garderobe im Stil des Herkunftssystems (das bedeutet eventuell auch mal, ein kariertes oder gar schwarzes Hemd tragen zu müssen!) als auch das Bemühen um eine gepflegte Sprache und einen zur Schau gestellten Kulturgeschmack, der sich am adligen oder großbürgerlichen Habitus orientiert. Manchmal allerdings bleibt es beim ehrenwerten Versuch, wenn zum Beispiel ein als durch und durch anständig bekannter Politiker seine eigene Ehefrau als „meine Gattin“ bezeichnet. Trotzdem: Auf den genannten Events sind die Reichen, die Schönen und die Einflussreichen versammelt (das wussten wir bereits), und jeder (m/w/und Olivia Jones) ist hier entweder Herr über ein ansehnliches Vermögen, besitzt einen seltenen Titel (Hinweis für meinen Kollegen: Professor reicht nicht!), ist Repräsentant eines wichtigen Systems oder scheint ein solcher Repräsentant zu sein, weil er dessen Qualitäten bis hin zur Karikatur verkörpert (Beispiel war der Vertreter einer erzkonservativen jüdischen Sondergemeinschaft)! Kurz und gut: Jeder hat es in seinem sozialen Feld zu Macht und Ansehen gebracht oder konnte zumindest der Öffentlichkeit suggerieren, es zu Ansehen gebracht zu haben. Daraus folgt für die egoistische Überlebensmaschine unseres egoistischen Gens, dass sie sich, wenn sie nicht im Besitz eines ansehnlichen Vermögens ist, ein System aussuchen muss, in dem sie ihren Aufstieg in die Alphaposition am leichtesten schaffen zu können meint. Das kann eine kleine, aber im Zweifelsfall mächtige Gewerkschaft wie die Eisenbahnergewerkschaft sein. Für einige der hier bereits ausführlich diskutierten Persönlichkeiten waren die geeigneten Systeme die politischen Parteien. Philipp Rösler, Angela Merkel oder Sigmar Gabriel hatten sich mit Erfolg an die Spitze ihrer jeweiligen Partei kämpfen können, und Angela Merkel hat es zuletzt auch an die Spitze des Systems Staat geschafft. Eine andere tüchtige und ehrgeizige Frau, Margot Käßmann, schaffte es im System EKD bis ganz an die Spitze, während ein Mann wie Martin Winterkorn im System Volkswagen AG aufsteigen und zum Alphamännchen werden konnte. Ist man erst einmal oben angelangt, wird man dort auch für eine Weile bleiben, denn das System mit seiner Notwendigkeit, die Steuerungsfunktionen aufrechtzuerhalten, wird auch ein zweitklassiges Alphatier stützen. Aber nicht jeder hat die Energie, das Können und das gewisse Quäntchen Rigorosität, den Aufstieg in einem der etablierten Systeme, zu denen auch gemeinnützige Organisationen, Vereine oder Verbände gehören, zu schaffen.

15  Der Kampf um Macht und Anerkennung     385

Was tut also zum Beispiel eine gescheiterte Jungunternehmerin mit großen Ambitionen oder ein Politrentner mit Geltungsdrang? Sie stellen sich an die Spitze derjenigen, die noch gar kein richtiges System bilden. Sie stellen sich an die Spitze der Ungehörten, der Unzufriedenen und der gefühlten Verlierer und kämpfen sich hier in einer Phase der Systementstehung, wenn aus communitas Struktur wird, an die Spitze der Bewegung. Und hier sind wir bei der AfD. In jeder Gesellschaft, so wissen wir von unserem Gewährsmann für die Ritualtheorie, Victor W. Turner, gibt es die Marginalisierten: diejenigen, die sich in keine der Strukturen einfügen können oder wollen, und diejenigen, die einfach mit den bestehenden Verhältnissen unzufrieden sind. In jeder Gesellschaft gibt es, um sprachlich von Turner (Ritualtheorie) zu Bourdieu (Habitustheorie) zu wechseln, die sogenannten Häretiker! Unzufriedenheit ist normal in einem jeden System, denn die Strukturen, die das System schafft, engen notwendigerweise die Bewegungsfreiheit der egoistischen Überlebensmaschine ein und sorgen so für mehr oder weniger Ärger – je nachdem, an welchem Ende der Hackordnung man steht oder zu stehen vermeint. Der Karneval oder das große Festival, also das gelegentliche Auflösen von Strukturen und das Ausleben von communitas, schaffen für eine Weile Erleichterung! Aber nicht immer ist das ausreichend; vor allem dann nicht, wenn eine Gruppe tatsächlich an den Rand der Gesellschaft gedrängt wird. Dann begehren die unzufriedenen Individuen auf, sei es, dass sie sich wie die Schwulen und Transvestiten des Stonewall-Aufstandes nicht den Normen des Systems Staat unterwerfen wollten, sei es, dass das System Staat sie wie die Linken und Anhänger der Ökologiebewegung mit ihren unbürgerlichen politischen Auffassungen nicht integrieren wollte. Entweder schafft es der Staat dann dennoch, diese Unzufriedenen über ein Ritual mit Verweis auf allerhöchste gemeinsame Werte wieder einzufangen und das System auf diese Weise zu konsolidieren, oder das System verändert sich, indem es den Unzufriedenen gelingt, das System in seiner momentanen Form infrage zu stellen und langfristig zu verändern. In unseren bisherigen Beispielen schlossen sich die Genannten zusammen, bildeten zunächst eine strukturlose Gemeinschaft von Protestlern, in der absolute Gleichheit, also communitas, herrschte und gelebt wurde und fanden dann zu Strukturen. Sie bildeten somit zuletzt jeweils ein eigenes System – die Schwulen in Form von inzwischen oft wieder erloschenen, weil nicht mehr notwendigen Interessenvertretungen, die Linken und Ökobewegten von einer Partei –, wurden so Subsysteme im großen System Staat und konnten auf diese Weise an der Macht teilhaben. Ihr jeweiliges Alphatier (d/w/m) rückte damit in die Riege der

386     I. Wunn

s­ taatstragenden Alphas auf und genoss und genießt damit das entsprechende Ansehen, die Privilegien und die kostenlosen Eintrittskarten zu Festspielen, deren Genuss eigentlich den Besitz nicht nur des landläufig üblichen kulturellen Kapitals voraussetzt, sondern auch eine intensive Beschäftigung mit der Musikavantgarde. Oder glauben Sie tatsächlich, der Gewerkschaftsfunktionär oder der Selfmade-Unternehmer hätten Freude an der auch mir bis dato nicht bekannten Oper „Kopernikus – Opera-rituel de mort“ von Claude Vivier (die einem Vertreter der oft kunstsinnigen Schwulenbewegungen aber vermutlich bekannt sein dürfte)? Ein solches Aufbegehren der Unzufriedenen gab es in Deutschland ab 2006 nach langer Zeit wieder einmal sehr deutlich. Eine Gruppe Häretiker (in Bourdieu’scher Terminologie) gründete eine neue Partei, die PIRATEN, die ganz in Sinne von communitas vor allem die Systemstruktur der etablierten Parteien angriff und stattdessen das Ziel einer Liquid Democracy, also einer direkten Demokratie, verfolgte (Paulin 2014). Die Kritik der meist jungen und häufig computeraffinen Anhänger der Bewegung und jungen Partei (die Theorie der Liquid Democracy beruht nicht zuletzt auf Theoriekonzepten von Informatikern) machte sich zunächst an der Kritik der Netzpolitik der Bundesrepublik fest, erweiterte sich dann jedoch auf Kritik am Systemcharakter der Parteien, wodurch die neue Partei den Charakter einer Protestpartei erhielt. Als Protestpartei konnte sie bei den anschließend anstehenden Wahlen zwar nicht sofort, aber doch recht bald (nämlich im Jahre 2011/2012) bis zu 8 % der Wählerstimmen auf sich vereinigen. Mit dem Höhenflug war es allerdings vorbei, nachdem sich die PIRATEN ein Programm gegeben hatten und deutlich geworden war, dass sie den zahlreichen Angstwählern aus der konservativen Ecke keine geeignete Plattform bieten würden. Die Unzufriedenen mit rechtslastigem Potenzial oder auch nur diejenigen, die in der Globalisierung und ihren Folgen das Problem sahen, mussten sich also eine andere Heimstatt suchen. Und diese Heimstatt fanden sie denn auch – bei der AfD. Die Partei Alternative für Deutschland wurde 2013 von Eurokritikern um den Professor für Makroökonomie Bernd Lucke, den konservativen Journalisten Konrad Adam (FAZ, Die Welt) und den erzkonservativen ehemaligen CDU-Politiker Alexander Gauland gegründet. Auslöser für die Parteigründung war die Eurokrise, manifest geworden durch die drohende Zahlungsunfähigkeit Griechenlands, und der nach Ansicht Luckes und anderer Finanzexperten falschen Maßnahmen, um der Krise zu begegnen (Wihlborg et al. 2011). Der Parteiname Alternative für Deutschland war denn auch als Reaktion auf eine Aussage Angela Merkels gedacht, die ihr und Mario Draghis (bis 2019 Chef der EZB) Programm zur Eurorettung einschließlich N ­ iedrigzinspolitik

15  Der Kampf um Macht und Anerkennung     387

und Ankauf von Staatsanleihen überschuldeter Länder der Eurozone als alternativlos bezeichnet hatte (und die damit den notwendigen Kontakt zwischen System und Umwelt empfindlich gestört hatte). Luckes Reaktion war also durchaus angemessen und spiegelte das Empfinden vieler Bundesbürger, politisch nicht gefragt und überdies übertölpelt worden zu sein, bedeuteten doch die Maßnahmen, dass besonders der typische deutsche Sparer für Jahrzehnte um seine Zinsen geprellt und somit zum eigentlichen Finanzier der Staatsschulden südeuropäischer Länder werden würde. Lucke, selbst ein Wirtschaftsliberaler Erhard’scher Couleur und aufgrund seines Fachwissens ein Kritiker der Europolitik, hatte allerdings übersehen, dass bei seinen neuen Parteifreunden nicht nur finanzpolitische Vorbehalte gegen die Politik Merkels zu einer Abwendung von ihrer ursprünglichen Partei, der CDU, geführt hatten, sondern dass da immer auch noch ein nationales bis völkisches Element mitschwang, das zu einer Ablehnung der Europäischen Union führte. Dieses Element kam zum Tragen, als sich 2014, also ein Jahr nach Gründung der bis dato in erster Linie eurokritischen und wirtschaftsliberalen AfD, zum ersten Mal eine Facebook-Gruppe zusammenfand, die gegen die Demonstrationen von Anhängern unterschiedlicher kurdischer und arabischer Gruppen (Ergebnis des gescheiterten Arabischen Frühlings) Stellung bezog: Deutschland dürfe nicht zu einem Ersatzkriegsschauplatz für Muslime werden. Aus dieser Gruppe entstanden die Pegida-Demonstrationen, unter deren Fahne sich alles versammelte, was in irgendeiner Weise Probleme mit dem weltoffenen Kurs der gewählten Bundesregierung hatte. Und weltoffen bedeutete eben eine gemeinsame Währung in einem gemeinsamen europäischen Binnenmarkt, sie bedeutete Freizügigkeit für Arbeitnehmer innerhalb der EU, und sie bedeutete auch, dass sowohl Deutsche mit Migrationshintergrund als auch Arbeitsmigranten zu der politischen Situation in ihren Heimat- und Herkunftsländern öffentlich Stellung beziehen konnten. Genau diese Entwicklung überforderte jedoch vor allem (wenn auch nicht nur) solche Bürger, die bis zur Wiedervereinigung abgeschottet gelebt und wegen der Isolation der DDR keinen Kontakt zu irgendwelchen Nichtdeutschen – Deutsche hier im ethnischen Sinn – gehabt hatten. Man fühlte sich offensichtlich im eigenen Land marginalisiert, was nicht den Fakten entsprach, denn der Durchschnitt der Pegida-Teilnehmer gehörte der Mittelschicht an, hatte einen guten Schulabschluss und eine sichere Arbeitsstelle. Dennoch waren Pegida-Teilnehmer der Ansicht, dass ihr Land einer krisenhaften Entwicklung entgegengehe. (Weil sie, als Teil der Gesellschaft die Umwelt des Staates bildend, das Gefühl hatten, nicht mehr gehört zu werden. Anders ausgedrückt: Sie waren

388     I. Wunn

der Meinung, dass das System Staat mit seiner Umwelt in keiner Beziehung mehr stehe.) Die Rettung aus der empfundenen Krise konnte nur auf einem Wege stattfinden: zurück zum ethnisch und kulturell einheitlichen Staat! Pegida ging also auf die Straße und wurde laut! Und Pegida wählte: Man wählte Protest – Protest gegen eine Politik, die mit ihrer Öffnung überforderte und ängstigte, die den Sparern ihre Zinsen und damit einen Teil ihrer Altersversorgung nahm, die ihnen aber vor allem das Gefühl der Heimat raubte und den Eindruck hinterließ, man sei Fremder im eigenen Land. Und alles das sollte alternativlos sein – beschlossen von einer Großen Koalition, die ihre Politik als die einzig mögliche verkaufte und den Eindruck vermittelte, sich um den Wählerwillen nicht zu scheren. Die Protestwähler waren zunächst zu den PIRATEN gegangen, die in der Öffentlichkeit als Protestpartei firmierten, aber mit den Zielen der Pegida-Protestler letztlich nichts zu tun hatten. Und dann gab es ab 2013 eine weitere Protestpartei, die AfD. Die war zwar zu diesem Zeitpunkt weder besonders rechts noch gar völkisch, sondern wirtschaftsliberal, wertekonservativ und europakritisch, aber immerhin hatten einige ihrer Spitzenfunktionäre mehr als deutlich durchblicken lassen, dass sie neben der Finanzpolitik der Bundesregierung auch deren Öffnung für Zuwanderer und Flüchtlinge aus dem islamischen Raum nicht gutheiße. Die nach eigener Eischätzung Marginalisierten, alles „irgendwie“ ganz normale Bürger, hatten also endlich eine politische Heimat gefunden.2 Sie brauchten auch keine Strukturen mehr auszubilden: Die Strukturen waren durch die Gründung der AfD bereits vorgezeichnet, und man musste sie nur noch ausfüllen. Genau das geschah in den folgenden Jahren. Die Unzufriedenen drängten in die Partei und wurden von einer sehr konservativen bis tendenziell rechtslastigen Wählerschaft bestätigt (Häusler 2016). Die ursprünglich wirtschaftsliberale bis wertekonservative Führungsriege (Bernd Lucke und Hans-Olaf Henkel) wurde nach und nach an den Rand gedrängt und abgelöst. Mit den Worten der Verhaltensbiologie ausgedrückt, wurde unser Alphamännchen Bernd Lucke weggebissen und entthront, und zwar nachdem es sich bereits zuvor beim Display im direkten Streit mit einem ehrgeizigen Weibchen heftige Kämpfe geliefert hatte. Dieses Weibchen war Frauke Petry.

2Die Wochenzeitung Die Zeit (Hähnig et al. 2014) nennt „Gebrauchtwagenhändler und Natursteinhändler, Busunternehmerinnen und Bundeswehrsoldaten. Manche sind Nationalkonservative, andere Ex-Liberale, wieder andere Verschwörungstheoretiker oder CDU-Aussteiger.“

15  Der Kampf um Macht und Anerkennung     389

Zwei Dinge sind nun zu berücksichtigen: einmal der unbedingte Aufstiegswille Frauke Petrys, und dann die Richtung, die die Partei im Zuge des Streites um die Alphaposition einnahm. Zunächst zu Frauke Petry. Frauke Petry wurde 1975 als Frauke Marquardt in Dresden geboren und wuchs bei Cottbus auf, bis ihre Eltern 1989 nach Bergkamen in die BRD übersiedelten. Nach dem Abitur studierte Petry als Stipendiatin der Studienstiftung des Deutschen Volkes Chemie und wurde zuletzt in Göttingen promoviert. Damit hatte sich der Ehrgeiz der jungen Frau, die noch während des Studiums bei Bayer und Schering als Werkstudentin gearbeitet hatte und Vorstandsmitglied des Jungchemikerforums der Gesellschaft Deutscher Chemiker gewesen war, noch nicht erschöpft. Im Jahre 2007 gründete sie ein eigenes Unternehmen, das jedoch, obwohl mehrfach mit Innovationspreisen ausgezeichnet, 2013 in Konkurs ging. Die Gründung einer neuen Partei kam daher für die vorläufig gescheiterte Jungunternehmerin gerade recht. Hier, in einem sich gerade formierenden System mit noch volatilen Machthierarchien konnte sie von Anfang an eine Position bekleiden, die ihr im System Wirtschaft versagt worden war. Petry ergriff ihre Chance und begann, im jungen System AfD die Alphaposition anzustreben. Dabei griff sie auf eine Taktik zurück – und nun sind wir bei der Frage der Richtung der jungen Partei – die Pierre Bourdieu in Zusammenhang mit der Mode (Habitus) beschrieben hatte und die wir in Zusammenhang mit Verhalten, Signalen und Übertreibungen (Kap. 3) bereits aus biologischer Warte diskutiert haben. Und zwar geht es um die Möglichkeit der Distinktion (Abgrenzung), Alleinstellung und Inszenierung. Es ist mehr als fraglich, ob die aufstiegsbesessene Politikerin jemals Bourdieu gelesen hat oder unseren Finken mit der Extrafeder auf dem Kopf kennt; die daraus resultierenden Maßnahmen hat sie jedoch so perfekt umgesetzt, dass sie als Vorlage für jedes Handbuch für aufstiegswillige Politiker gelten könnten. Petry musste sich, um an der Seite des islamfeindlichen ­Ex-CDU-Politikers Gauland bestehen, aber Mitbewerber wie Henkel und Lucke aus dem Feld räumen zu können, inszenieren. Und sie musste sich so inszenieren, dass ihre Inszenierung ein Alleinstellungsmerkmal darstellen und sie gleichzeitig von ihren hochrangigen Konkurrenten deutlich abheben würde. Da der Tenor der sich noch formierenden Partei – zu dem Zeitpunkt kaum mehr als eine zu Strukturen findende Gruppe von teilweise wirren Unzufriedenen – zwar ein wirtschaftsliberaler, in gesellschaftlicher Hinsicht aber ein ultrakonservativer war, blieb Petry für ihren Vorstoß nur eine Richtung: der Weg nach rechts. Frauke Petry schwang sich also zur Repräsentantin des nationalkonservativen Flügels der AfD auf und hatte

390     I. Wunn

damit Erfolg. Auf einem außerordentlichen Bundesparteitag in Essen fand das uns bereits bekannte Ritual statt, mit dessen Hilfe ein System verändert werden kann. Im üblichen Rahmen der parteiinternen Diskussion und der Vorstellung der Kandidaten gelang es Petry, die Delegierten auf einen neuen, nun nationalistischen Kurs einzuschwören. So wurde sie neben dem schwer einzuschätzenden, aber sicherlich nicht mehr einer liberalen Mitte zuzuordnenden Jörg Meuthen als Bundessprecherin (das entspricht einer Parteivorsitzenden) gewählt und verdrängte den Parteigründer Bernd Lucke, der sich daraufhin aus der ins rechte Lager abgerutschten Partei zurückzog. Was Petry allerdings nicht bedacht hatte: Der von ihr eingeschlagene Weg war auch für Nachahmer gangbar. Was für sie eine Möglichkeit der Distinktion, ein Alleinstellungsmerkmal und der Inszenierung war, galt auch für ihre Konkurrenten um die Alphaposition. Und so blieb es nicht aus, dass die ehrgeizige junge Frau schon bald auf der rechten, nun eindeutig völkisch-nationalistischen Spur überholt wurde. Völkisch-nationalistisch und fremdenfeindlich ist auch bedauerlicherweise deshalb immer gut geeignet, wenn es ums Inszenieren geht, da die bekannten egoistischen Überlebensmaschinen schon rein instinktiv immer positiv reagieren, wenn es darum geht, einen Konkurrenten um Ressourcen, also Nahrung, Territorium und mating-Partner, auszuschließen oder gar zu eliminieren! In der Zwischenzeit waren Alexander Gauland, der Verharmloser des Nationalsozialismus („Vogelschiss in der Geschichte“) und ethnischer Säuberer der deutschen Politiklandschaft („Aydan Özoğuz in Anatolien entsorgen“) sowie Jörg Meuthen, geistiger Herzensfreund des Rechtsaußen Björn Höcke, Bundessprecher der Partei, die heute nach Ansicht führender Sozialwissenschaftler für einen „autoritären Nationalradikalismus“ steht und „destabilisieren, Verängstigungsdruck erzeugen und einen Systemwechsel in Gang setzen“ will (Heitmeyer 2019). Inzwischen schielt man aber, ganz Überlebensmaschine egoistischer Gene, nach der Macht, arbeitet also an seiner Koalitionsfähigkeit und muss sich daher wieder einen bürgerlicheren Anstrich geben. Ob die AfD mit der Wahl ihrer neuen Bundessprecher, den schwer einzuschätzenden Jörg Meuthen und Tino Chrupalla tatsächlich den Schritt Richtung bürgerliche Mitte getan hat, ist sehr zu bezweifeln.

15  Der Kampf um Macht und Anerkennung     391

Ein Fazit oder: Wie vier Theorien ineinandergreifen und die gesellschaftliche Wirklichkeit erklären Ein Lebewesen ist, so der Biologe Richard Dawkins, nichts weiter als die Überlebensmaschine seiner egoistischen Gene, die danach trachten, sich möglichst oft identisch zu reproduzieren. Dies gelingt auf dem Wege der Paarung zum Zwecke der erfolgreichen Fortpflanzung. Der Sinn des Lebens ist daher nichts anderes als die Fortpflanzung, die erfolgreiche Weitergabe eigenen genetischen Materials. Das Sinnen und Trachten der Überlebensmaschinen egoistischer Gene ist daher auf das Finden des oder der optimalen mating-Partner und die optimale Versorgung des Nachwuchses mit überlebenswichtigen Ressourcen gerichtet. Um die geeigneten Sexualpartner zu erobern und die eigene Überlebensmaschine und die Überlebensmaschinen des Nachwuchses optimal mit jenen Ressourcen versorgen zu können, kann sich die eigene Überlebensmaschine nur um sich selbst und um ihren Nachwuchs kümmern. Jede andere Überlebensmaschine der gleichen Art ist ein Konkurrent und damit ein potenzieller Feind. Das gilt sogar für diejenigen Individuen, die irgendwann einmal mating-Partner waren, aber inzwischen ausgedient haben (siehe die gar nicht so seltene Feindschaft zwischen langjährigen Ehepartnern). Die natürliche Folge des Genegoismus ist also eine innerspezifische Aggression. Allerdings erzwingt die Paarung bekanntermaßen das Unterdrücken der Aggression zumindest für die Zeit des Sexualaktes; bei sozial lebenden Spezies auch dauerhaft. Sollte es sich bei der fraglichen sozialen Gemeinschaft um verwandte Individuen handeln, ist das Unterdrücken der Aggressionen vergleichsweise leicht, denn immerhin teilt man dieselben Gene, verhält sich also im Sinne des Genegoismus immer noch egoistisch. Anders ist es, wenn Gruppen sich aus nicht verwandten Individuen zusammensetzen. Spätestens hier, im Allgemeinen aber bereits im Vorfeld und während der Paarung, kommt ritualisiertes Verhalten ins Spiel. Der Grund sind gegenläufige Triebe – der Sexualtrieb auf der einen und Aggression auf der anderen Seite –, die zu einer spezifischen Kombination von solchen Signalen führen, die bestimmte, voraussehbare Verhaltensantworten geradezu erzwingen, diese Antworten also triggern. Diese Verhaltensantworten bedeuten, dass ein potenzieller Sexualpartner weiß, dass nun ein Liebesspiel gewünscht wird und nicht etwa die Verteidigung der eigenen Reviergrenzen angesagt ist.

392     I. Wunn

Gleiches gilt für den Menschen. Auch hier führt der Egoismus des Individuums als Folge des Genegoismus dazu, dass der Mensch eigentlich ein unleidlicher und tendenziell mörderischer Genosse ist. Lediglich sein Wunsch, sich fortzupflanzen und seinem Nachwuchs optimale Überlebenschancen einzuräumen, lässt ihn temporär auf feindselige Akte zuungunsten seiner Mitmenschen verzichten. Optimale Überlebenschancen hat der menschliche Nachwuchs jedoch nur in der Gruppe. Daher müssen auch in einer Gruppe aggressive Gefühle unterdrückt und in unschädliche Bahnen gelenkt werden, und hier hilft ritualisiertes Verhalten, welches sich im kulturellen Kontext zu regelrechten Ritualen auswächst. Das Ritual bewältigt also Konflikte innerhalb einer Gruppe, und es tut dies, indem es sich auf höchste, nicht mehr hinterfragbare Werte bezieht. Diese höchsten Werte haben ihren Ursprung häufig in einer sinnstiftenden Ursprungserzählung, die sich auf als existenziell empfundene historische Ereignisse oder aber auf einen religiösen Mythos beziehen können. Ein Ritual findet daher immer dann statt, wenn konfliktträchtige Situationen wie jahreszeitliche oder lebenszeitliche Übergänge stattfinden (vgl. Makonde), die Gruppe also kurzzeitig destabilisiert ist. Aber auch im Vorfeld gefährlicher Ereignisse wie zum Beispiel vor Kriegen oder bei gesellschaftlichen Konflikten kommen Rituale ins Spiel, die die Gruppe oder die Gesellschaft durch das Beschwören sogenannter ultimate values konsolidieren. Rituale und hier vor allem Übergangsrituale weisen eine typische Gliederung in drei Phasen, die Trennungsphase, die eigentliche Übergangsphase und die Integrationsphase, auf. Diese Phasen dienen dazu, die Gesellschaft von einem Zustand in den anderen zu überführen, ohne dass sichtbare Verwerfungen auftreten. Der eigentliche Übergang, also die gesellschaftliche Veränderung, findet in der mittleren Phase, der marge, statt. Hier gelten kurzfristig keine gesellschaftlichen Regeln, es gibt keinerlei soziale Strukturen. Stattdessen wird communitas, absolute Gleichheit gelebt. Um den Druck von Seiten der Gesellschaft und ihre Ordnung ertragen zu können, braucht das egoistische Gen hier und da eine Auszeit mit gelebter communitas im Rahmen eines Rituals wie zum Beispiel den Karneval. Dann lässt sich die Einschränkung egoistischer Regungen wieder für eine Weile aushalten. Aber auch gesellschaftlicher Wandel findet über Rituale statt: In der Trennungsphase löst sich die ursprüngliche Struktur der Gesellschaft bzw. der Gruppe auf, in der marge herrschen Strukturlosigkeit und absolute Gleichheit, und in der Integrationsphase findet die Gesellschaft oder Gruppe wieder zu neuen Strukturen. Auf diese Weise gelingt ein

15  Der Kampf um Macht und Anerkennung     393

gesellschaftlicher Wandel, ohne dass es zu Verwerfungen innerhalb der fraglichen Gemeinschaft kommt. Das bedeutet, dass jede Gesellschaft zwischen Struktur und Antistruktur pendelt. Antistruktur mit gelebter communitas wäre zwar ideal und gerecht, aber sie kann schon allein wegen des Genegoismus nicht bestehen – aus communitas muss sich also wieder Struktur entwickeln; vor allem, wenn die fragliche Gruppe als solche handlungsfähig sein soll. Selbst sogenannte akephale Gesellschaften haben daher immer irgendein Ordnungssystem entwickelt, welches das Miteinander regelt. Die Anpassung an die Umwelt über Rituale führt also dazu, dass Strukturen, dass eine gesellschaftliche Ordnung, dass Systeme entstehen. Systeme sind demnach strukturierte soziale Einheiten, die selbst wieder aus Elementen bestehen, die miteinander verbunden und voneinander abhängig sind. Systeme – außer gesellschaftlichen Systemen oder Systemen dritter Ordnung gibt es im Bereich der belebten Natur noch Systeme erster Ordnung (die Zelle) und Systeme zweiter Ordnung (das Individuum) – funktionieren jedoch nach eigenen Gesetzmäßigkeiten und verhalten sich anders als die Summe ihrer Teile. Um Bestand zu haben und ihre innere Ordnung aufrechterhalten zu können, bedürfen die Systeme der ständigen Zufuhr von Energie. Gleichzeitig muss das System jedoch Steuerungsfunktionen ausbilden, damit das System als Einheit arbeiten kann. Steuerungsfunktionen bedeuten jedoch, dass zunächst verbindliche Sitten, bei umfangreicheren und komplexeren Systemen jedoch Hierarchien entstehen müssen, gegen die das egoistische Gen gelegentlich aufbegehrt. Nicht alle egoistischen Überlebensmaschinen können oder wollen sich einbinden lassen, sondern stellen als sogenannte Häretiker das bestehende System immer wieder infrage. Um überleben zu können, muss das System diese Häretiker irgendwie integrieren, und das tut es letztlich über Rituale, die die Gemeinschaft einschließlich der Häretiker auf gemeinsame ultimate values einschwören. Handelt es sich um einzelne oder wenige Häretiker, wird das System diese Individuen mithilfe seines Machtapparates zwangsweise integrieren (z. B. über Gerichtsverfahren). Handelt es sich bei den Häretikern jedoch um eine starke Gruppe, kann das übergeordnete System diese Gruppe nur integrieren, indem diese Gruppe an der Macht beteiligt wird oder Einfluss gewinnt, wobei sich vermutlich die ultimate values zumindest tendenziell ändern werden. Lässt sich eine solche Integration nicht bewerkstelligen, kommt es zum Bruch, der im schlimmsten Falle in eine Revolution oder in einen Krieg aller gegen alle mündet. Solch ein Zustand ist derzeit (Dezember 2019) in Hongkong zu beobachten.

394     I. Wunn

Aber so schlimm kommt es im Allgemeinen nicht. Das System Staat funktioniert meist, und im System Staat funktionieren die Subsysteme. Allerdings, und das sei noch einmal betont, funktionieren Systeme nach ihren eigenen, systemspezifischen Gesetzmäßigkeiten, die mit den Gesetzmäßigkeiten der Umwelt nicht übereinstimmen müssen. Damit ein Subsystem in einem übergeordneten System nicht dissoziativ wirkt oder schädlich ist (z. B. die Abgaswertemanipulation in der Autoindustrie, die umstürzlerischen Ziele radikaler Parteien oder das bewusst unabhängig von jeder staatlichen Ordnung agierende System der Hells Angels), bedarf es daher stets der Kontrolle durch das übergeordnete System! Auch hier müssen also die systemeigenen Kontrollfunktionen ausgeprägt sein und funktionieren! Innerhalb der einzelnen Systeme und Subsysteme wirkt und arbeitet jedoch unverdrossen die egoistische Überlebensmaschine unseres egoistischen Gens und will immer noch nur das eine: sich erfolgreich reproduzieren. Dazu benötigt sie ideale und/oder viele mating-Partner, und die bekommt sie, wenn sie in der sozialen Hierarchie ganz oben ist und obendrein noch auf sich aufmerksam machen kann. Ganz oben zu sein, bedeutet aber, einen Platz unter denen zu besetzen, die die Steuerungsfunktionen der Systeme innehaben. Um hier nach oben zu kommen, muss man innerhalb des eigenen Systems konkurrenzfähig sein, und das ist man nur, wenn man systemtypische Eigenschaften, also einen bestimmten Habitus, hat. Ein System ist somit nichts anderes als ein soziales Feld, also eine distinkte soziale Einheit, innerhalb derer um Macht und Anerkennung gekämpft wird und auf dem jeder Aufmerksamkeit erregen will. Macht und Anerkennung sind interessant, weil der Mächtige, das Alphaweibchen oder -männchen, das erste Verfügungsrecht über paarungswillige Sexualpartner hat. Die paarungswilligen Sexualpartner wiederum müssen auf sich aufmerksam machen, damit man ihren Paarungswillen überhaupt zur Kenntnis nimmt. Und hier hilft nur eines: versuchen, den anderen zu übertrumpfen, um Aufmerksamkeit zu generieren. Da war doch die Sache mit dem über der Kleidung getragenen Korsett, dem hochpreisigen und unpraktischen Auto und der zusätzlichen Feder auf dem Kopf … Auch beim Kampf um eine obere Stellung in der Hackordnung geht es also um Auffallen, Abgrenzen, Inszenieren. In einer Gruppe, die sich über Körperlichkeit und Muskeln definiert, ist eben der mit den dicksten Muskeln der Oberschimpanse, in einer Gruppe von Intellektuellen ist es die oder der mit den kompliziertesten Sätzen, der verstiegensten Theorie oder bestenfalls den höchsten Buchauflagen, unter den Hausfrauen (aussterbende menschliche Varietät) ist es die mit den köstlichsten Torten und den

15  Der Kampf um Macht und Anerkennung     395

s­piegelblank geputzten Fenstern. Und unter den Populisten sind es dann diejenigen mit den simpelsten und dümmsten Programmen, die mit der ordinärsten Sprache, die alle anderen in Sachen Simplizität und Aggressivität toppen und hier den Oberschimpansen geben. Und nun noch eine kleine, aber wichtige Ergänzung: Jedes System ist zwar gleichzeitig ein soziales Feld, auf dem um Macht und Aufmerksamkeit gekämpft wird, aber nicht jedes soziale Feld ist auch ein System. Im Gegenteil: Turners liminale gesellschaftliche Ränder sind soziale Felder, auf denen ebenfalls um Aufmerksamkeit, Anerkennung und letztlich um Macht gerungen wird. Wenn es hier gelingt, gemeinsame Werte zu finden und entsprechende Strukturen zu bilden, wird ein neues Subsystem entstehen, welches das alte übergeordnete System entweder integrieren muss – damit tut es sich schwer, denn die „Neuen“ haben nicht den richtigen Habitus, gelten also zunächst einmal als unfein – oder gnadenlos unterdrücken und zerschlagen wird.

Literatur Hähnig A, Machowecz M, Schirmer S (2014, 4. September). Frauke und die 13 Zwerge. DIE ZEIT Nr. 37. https://www.zeit.de/2014/37/afd-sachsen-landtagfrauke-petry Häusler A (Hrsg) (2016) Die Alternative für Deutschland. Programmatik, Entwicklung und politische Verortung. Springer VS, Heidelberg Heitmeyer W (2019). Autoritär, national, radikal. Süddeutsche Zeitung, 19. April. https://www.sueddeutsche.de/politik/afd-populismus-extremismus-1.4407594. Zugegriffen: 22. Okt. 2019 Paulin A (2014). Through liquid democracy to sustainable non-bureaucratic government. J e-Democracy 6(2) Pohl Manfred (1999) Philipp Holzmann – Geschichte eines Bauunternehmens 1849–1999. Beck, München Wihlborg C, Willett TD, Zhang N (2011) The euro crisis: It isn’t just fiscal and it doesn’t just involve Greece, 8. September 2010, Claremont McKenna college robert day school of economics and finance research Paper No. 2011-03

Teil V Eine fünfte Theorie – nur für Damen

16 Bourdieus vergessenes Kapital oder: Das Kamasutra

Weibliche Überlebensstrategien Dieses Kapitel ist nur für Damen oder höchstens noch für das Gender Divers mit weiblichem Habitus bestimmt. Denn immerhin geht es jetzt und hier darum, welche Schlüsse Frauen aus den Erkenntnissen der vorangegangenen Kapitel ziehen sollten und ob es vielleicht noch eine fünfte Theorie gibt, die speziell den Frauen zur Macht verhilft. In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal daran erinnern, dass es hier um eine Sachdiskussion geht – es geht also um nackte und vielleicht sogar brutale biologische und soziale Tatsachen; immer in Zusammenhang mit unseren bisherigen vier Theorien, und das heißt auch, in Zusammenhang mit dem Wissen um die Wirkung unserer egoistischen Gene. Manches empfindsame Gemüt wird sich vielleicht mit dem Verweis auf große, romantische Liebesgeschichten oder gar auf die reine Liebe der religiösen Mystik enttäuscht abwenden. Wir können hier leider nur rein ­biologisch-endokrinologisch antworten: Das, was zum Beispiel Romeo und Julia oder dem Mystiker Dschalal ad-Din Muhammad Rumi widerfuhr, ist letztlich nichts weiter als das Resultat der Wirkungsweise egoistischer Gene, die ihre Überlebensmaschinen so programmiert haben, dass subjektive Liebessehnsucht sie dazu bringt, alles, aber auch alles zu versuchen, damit die Paarung mit dem als optimal empfundenen Liebespartner klappt. Dieses Programm der Überlebensmaschinen ist übrigens so stabil, dass es auch dann noch funktioniert, wenn die eigentliche Paarungsphase vorbei ist oder der erwählte mating-Partner gleichgeschlechtlich oder gar ein transzendentes © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Wunn, Vier Theorien, um die Welt zu beherrschen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61376-4_16

399

400     I. Wunn

Wesen wie der himmlische Jesus oder al-haqq, die letzte Wahrheit, ist. Der Satz aus dem Korintherbrief (1. Korinther 13) „Die Liebe höret nimmer auf“ bekommt so einen ganz anderen, und wie ich finde, tieferen Sinn! Rekapitulieren wir in diesem Zusammenhang unser Fazit noch einmal aus weiblicher Sicht: Ein Lebewesen ist, so der Biologe Richard Dawkins, nichts weiter als die Überlebensmaschine seiner egoistischen Gene, die sich möglichst erfolgreich replizieren möchten. Das bedeutet für den Menschen mit seiner neunmonatigen Gravidität (Schwangerschaft), dass das weibliche Geschlecht hinsichtlich seiner Reproduktionsmöglichkeiten eingeschränkt ist. Darüber hinaus gilt für die Art Homo sapiens, dass der Erfolg der Fortpflanzungsbemühungen nicht unbedingt mit häufiger Paarung und zahlreichen Geburten identisch ist. Im Gegenteil: Die Aufzucht von Nachwuchs ist meist dann erfolgreich, wenn die Anzahl der Geburten beschränkt wird und die Eltern umso mehr Energie in die Aufzucht und Versorgung des einzelnen Kindes investieren können. Das Sinnen und Trachten der weiblichen Überlebensmaschinen egoistischer Gene ist daher zunächst auf das Finden eines hochklassigen long-term mating-Partners gerichtet. Dementsprechend sorgfältig wählt frau ihren Lebenspartner aus, wenn immer sie die Möglichkeit dazu hat. Um diese Möglichkeiten und deren Optimierung wird es unter anderem in diesem Kapitel gehen. Um den geeigneten Sexualpartner und im Anschluss daran vielleicht auch den bestmöglichen Lebensgefährten zu erobern und die eigene Überlebensmaschine und die Überlebensmaschinen des Nachwuchses mit Ressourcen versorgen zu können, gilt die Fürsorge von Frauen ausschließlich den Trägern ihres eigenen genetischen Materials, also ihren Kindern und vielleicht auch noch engen Blutsverwandten. Jede andere Überlebensmaschine der gleichen Art ist ein Konkurrent und damit ein potenzieller Feind. Das gilt sogar für den mating-Partner, wenn er nicht genügend Ressourcen in die Aufzucht des gemeinsamen Nachwuchses steckt oder wenn er sich als unzulänglicher oder unzuverlässiger Gefährte erweist. Die natürliche Folge des Genegoismus ist also auch unter weiblichen Vertretern der Art Homo sapiens Aggressivität – Aggressivität gegen ein konkurrierendes Weibchen und ihren Nachwuchs, aber auch Aggressivität gegenüber einem long-term mating-Partner, der ihre Anforderungen hinsichtlich der optimalen Versorgung des Nachwuchses nicht erfüllt. Bei allen Paarungen im Tierreich (und Menschen gehören biologisch nun einmal zum Tierreich) geht es also letztlich nur um die optimalen Reproduktionsmöglichkeiten, und das heißt, es geht um den Sexualakt selbst und die anschließende Versorgung des Nachwuchses, um auch diesem wieder optimale Startmöglichkeiten mitzugeben. Dabei haben die

16  Bourdieus vergessenes Kapital oder: Das Kamasutra     401

verschiedenen Tierspezies entsprechend ihrer jeweiligen Umwelt und ihrer besonderen Lebensverhältnisse unterschiedliche Strategien eingeschlagen. Bei der Schwarzen Witwe (Spinne) braucht der Nachwuchs nur noch eine ordentliche Mahlzeit, um anschließend selbst durchs Leben zu kommen und das genetische Material der Mutter weiterzugeben. Also bietet sich die Spinnenmutter der Einfachheit halber selbst als diese Mahlzeit an. Tigerinnen dagegen greifen zum ritualisierten Verhalten, um den starken Aggressionstrieb gegenüber dem Sexualpartner zu unterdrücken. Das reicht aber gerade einmal für den Paarungsakt. Danach macht sich die Tigerin selbstständig und hofft, die Wege des mating-Partners oder gar eines Konkurrenten möglichst nicht mehr zu kreuzen, um sich und die Jungtiere nicht zu gefährden. Die Löwin dagegen setzt auf den Schutz durch ein Rudel und den männlichen Rudelchef und ist bereit, für diesen fragwürdigen Schutz regelmäßig auf einen Teil ihrer Jagdbeute zu verzichten. Weibliche Elefanten haben ihrerseits gar kein Interesse an dem aggressiven Gebaren der Elefantenbullen und verbannen sie aus der Herde. Als starke, große und ausgesprochen wehrhafte Tiere sind Elefantenweibchen auf den Schutz durch männliche Artgenossen auch nicht angewiesen. Nur zu Paarungszwecken darf sich daher ein erwachsener männlicher Elefant den Weibchen nähern. Merke: In diesem Falle ist Solidarität unter Frauen zielführender als eine Dauerbeziehung zu einem männlichen Exemplar der eigenen Art! Damit wäre das Spektrum möglicher weiblicher Verhaltensweisen zur Sicherung der Überlebenschancen ihres Nachwuchses und damit das Erfüllen der Forderungen der eigenen egoistischen Gene umrissen: Von der Selbstaufopferung (geht leider nur einmal) über das pragmatische Unterwerfen unter ein Alphatier bis zur reinen Frauengesellschaft ist im Tierreich alles möglich. Werfen wir nun einen Blick auf eine uns nahe verwandte Art, die Schimpansen. Auch hier erzwingt die Paarung das Unterdrücken der Aggression nicht nur für die Zeit des Sexualaktes. Da es sich bei den Schimpansen um eine sozial lebende Spezies handelt, müssen die natürlichen Aggressionen des egoistischen Gens bzw. seiner Überlebensmaschine sogar dauerhaft in unschädliche Bahnen gelenkt werden. Dies gilt insbesondere für Weibchen, da sie sich auch nach der Geburt für eine bestimmte Zeitspanne um ihren Nachwuchs kümmern müssen, indem sie ihn säugen, herumtragen und ihn beschützen. Ohne die Fürsorge und den Schutz der Mutter würde ein Schimpansenjunges kaum überleben. Daraus folgt, dass die Mutter hinsichtlich des Auslebens natürlicher Aggressionen gehandicapt ist, denn sollte sie bei einer Auseinandersetzung ernsthaft

402     I. Wunn

v­ erletzt oder gar getötet werden, würde auch der Nachwuchs unweigerlich sterben. Die Anstrengungen des egoistischen Gens in Sachen Reproduktion wären vergeblich gewesen. Gleiches gilt für mögliche Versuche, eine Alphaposition zu erringen. Auch hier liefe sie Gefahr, verletzt zu werden und damit für den Nachwuchs nicht mehr zur Verfügung zu stehen. Die Schimpansin muss also einen anderen Modus Vivendi finden, um das Überleben ihres Nachwuchses zu sichern. Bliebe noch die Elefantinnenstrategie, das heißt das Vertreiben männlicher Tiere aus der Gruppe. Auch das kommt jedoch für die Schimpansinnen aufgrund ihrer körperlichen Konstitution nicht in Frage. Als vergleichsweise wenig wehrhafte Art mit aufwendig zu umsorgendem Nachwuchs sind Schimpansen auf den Schutz durch die Gruppe einschließlich der Männchen angewiesen, um rechtzeitig vor beutesuchenden Leoparden oder vor mörderischen konkurrierenden Gruppen gewarnt zu werden oder sie zu vertreiben. Innerartliche Aggressionen müssen hier also zurückstecken. Damit in der Gruppe Ordnung herrscht und die natürliche Aggressivität einschließlich möglicher sexueller Übergriffe auf Weibchen in Grenzen gehalten wird, gibt es ein Ranking. Ein Alphamännchen beherrscht die Gruppe und sorgt für stabile soziale Verhältnisse. Die Weibchen, so haben wir festgestellt, können sich am Kampf um die Alphaposition nicht beteiligen, wenn sie den Nachwuchs nicht gefährden wollen. Also bleibt für sie nur eine Strategie: Sie bilden als Weibchen eine eigene Gemeinschaft, die untereinander um Nivellierung möglicher Unterschiede und eine annähernd gleiche Verteilung der Ressourcen bemüht ist. Selbst Weibchen mit gruppenschädigenden Eigenschaften werden integriert – möglicherweise auch mit mehr oder weniger deutlicher Gewalt. Die Schimpansinnen können sich also, wenn sie ihre Jungtiere heil über die kritischen ersten Lebensmonate bringen wollen, nicht in internen Rangkämpfen verzetteln und erschöpfen. Die Chancen für ihren Nachwuchs sind im Gegenteil größer, wenn sie mit den übrigen weiblichen Tieren so etwas wie eine Allianz schmieden und aggressive Auseinandersetzungen minimieren (Abb. 16.1). Zwar gibt es auch innerhalb der Schimpansinnengruppe ein Ranking, das aber weniger ausgeprägt ist als bei den Männchen und nicht in Form von regelrechter Herrschaft zutage tritt. Alphatier der gesamten Schimpansenhorde können Weibchen übrigens auch nicht werden!

16  Bourdieus vergessenes Kapital oder: Das Kamasutra     403

Abb. 16.1  Schimpansenweibchen mit Jungem. (© Konrad Wothe/imageBROKER/ picture alliance)

Weibliche Strategien bei Homo sapiens Das, was für unser Verwandten, die Schimpansen gilt, gilt mit bestimmten Abstrichen auch für Menschen. Ein Beispiel: Ein großer deutscher DAX-Konzern, SAP, hatte überraschend eine Frau, Jennifer Morgan, als Co-Chefin an die Spitze berufen. Der Ausschnitt aus dem folgenden Interview zeigt, vor welchen Problemen Frauen selbst heute in einem westlichen Land stehen, das sich die Gleichberechtigung auf die Fahnen geschrieben hat: „Ich werde nie vergessen, wie mich Bill McDermott (der damalige ­SAP-Vorstandsvorsitzende) das erste Mal anrief. Das war fünf Tage nach der Geburt meines zweiten Sohnes, ich war gerade wieder zu Hause. Den Säugling auf dem Arm, ein Kleinkind am Bein, ich war erschöpft. Ich sagte ihm: Das klingt toll, aber ich habe gerade ein Kind bekommen und möchte den Sommer freinehmen.“ (Schießl 2019, S. 70 f.)

Jennifer Morgan hatte Glück. McDermott hatte Verständnis und wartete, bis die junge Mutter in der Lage war, ihre Energien wieder auf ihr berufliches Fortkommen zu konzentrieren, also den Kampf um eine Alphaposition wieder aufzunehmen. Wie Tausende Frauen auch, hatte sich Jennifer Morgan entscheiden müssen, ob sie ihrem Nachwuchs optimale Startchancen verschaffen oder eine Alphaposition anstreben sollte – bzw. sie hatte aus der Warte des egoistischen Gens die Frage beantworten müssen, ob ihr Nachwuchs bessere Chancen hätte, wenn sie auf eine Alphaposition verzichtete, um sich um die beiden Kleinen zu kümmern, oder ob für die

404     I. Wunn

Kleinen eine Alphaweibchen-Mutter letztendlich vorteilhafter wäre. Zum Glück stellte sich diese Frage für die SAP-Chefin damals nicht mit ganzer Härte, sondern es ließ sich ein gangbarer Kompromiss finden. Dieses Glück haben aber nicht alle Frauen. Viele stehen vor der Wahl, Alphaweibchen zu werden und wie die Jungfrau von Orléans oder Angela Merkel ganz auf Nachwuchs zu verzichten (im Sinne der egoistischen Gene eine Fehlentscheidung) oder Alphaweibchen zu werden und sich um den Nachwuchs nicht optimal kümmern zu können (der dann möglicherweise scheitert – wie Mark Thatcher, der Sohn von Großbritanniens ehemaliger Premierministerin Margaret Thatcher) oder aber letztlich den Kampf um die Alphaposition zugunsten der Kinder ganz aufzugeben (Tausende Frauen). Nun sind Menschen hinsichtlich der Gestaltung ihres Zusammenlebens viel weniger auf starre Programme festgelegt als Tiere. Sie besiedeln unterschiedliche Lebensräume in verschiedenen Klimazonen und haben sich den wechselnden Anforderungen unter anderem auch durch das Herausbilden verschiedener sozialer Systeme angepasst. Einige dieser Systeme haben wir bereits kennengelernt. Die Mbuti in den Regenwäldern des Ostkongo leben in kleinen, hinsichtlich ihrer Zusammensetzung wechselnden Gruppen, sind in der Regel monogam, jagen und sammeln gemeinsam und verteilen die Erträge gerecht unter alle Gruppenmitglieder, wobei auch die Kinder ein Anrecht auf Versorgung haben (Kap. 6). Die Chancen von Männern und Frauen auf Weitergabe ihrer egoistischen Gene sind also trotz des physiologischen Nachteils der Frauen gleich, und auch hinsichtlich ihrer sozialen Stellung sind Frauen gegenüber den Männern nicht benachteiligt. Der Wald mit seinen reichen Ressourcen macht eine solche Lebensweise möglich. Die Makonde haben eine andere Strategie gewählt. Sie sind sesshafte Ackerbauern in einem Gebiet, dass über Jahrhunderte von Sklavenjägern und konkurrierenden Völkern heimgesucht wurde. Wollte frau also überleben und gleichzeitig ihren Nachwuchs sicher großziehen, musste ein Teil der Gruppe zu Verteidigungszwecken freigestellt werden – optimalerweise der Teil der Gruppe, der nicht unmittelbar in die Fürsorge für den Nachwuchs eingebunden und damit unabkömmlich war, also die Männer. Für die Makondefrauen bot sich daher an, den körperlich schweren Ackerbau zu übernehmen, der ihnen jedoch erlaubte, gleichzeitig einen Säugling oder ein Kleinkind zu versorgen. Idealerweise unterstützten sich die Frauen dabei gegenseitig. Während die Großmütter im Dorf häusliche Arbeiten verrichteten und auf die schon etwas größeren Kinder aufpassten, arbeiteten die Mütter mit dem Säugling auf dem Rücken im Kollektiv auf den Feldern; gelegentlich unterstützt von liebessehnsüchtigen oder auch

16  Bourdieus vergessenes Kapital oder: Das Kamasutra     405

einfach nur hungrigen Männern (nur wer als Mann etwas leistet, hatte und hat bis heute Anspruch auf Versorgung). Der Ertrag der Felder, und das ist wichtig, gehört jedoch den Frauen. Sie stellen damit das wirtschaftlich stärkere Geschlecht dar, und wie wir gelernt haben, hat der Besitzer des ökonomischen Kapitals auch die Macht. Genau dieser Tatsache war sich im 7. Jahrhundert n. Chr. auch der Prophet Muhammad bewusst, als es darum ging, die rechtliche Willkür und den ständigen Machtkampf egoistischer Gene auf der Arabischen Halbinsel zu beenden. Rituale mit dem Bezug auf höchste Werte, auf den Willen Gottes selbst, ermöglichten endlich das Unterdrücken von Genegoismus und unterbanden die ständigen Kämpfe zwischen den arabischen Clans, wobei ein Clan eben auch nichts anderes ist als eine Gruppe miteinander verwandter Überlebensmaschinen, die denselben Genpool teilen. Nun galt es nur noch, die Möglichkeit der Weitergabe des genetischen Materials zu regeln und damit Konflikten vorzubeugen. Dies bedeutete zunächst einmal, dass die vorhandenen fortpflanzungsfähigen Frauen gerecht auf die Männer verteilt würden. Dies bedeutete jedoch auch, dass eine jede Frau nur so viele Mit-Frauen haben sollte, dass sie immer noch realistische Chancen hatte, genügend oft ins Kopulationsgeschäft einbezogen zu werden, um ihr eigenes genetisches Material zu kopieren. Wenn nämlich ein Mann 30 Frauen hat und jede Nacht bei einer anderen verbringt, ist die Chance, schwanger zu werden, für die einzelne Frau recht gering (diesbezüglich wäre beim saudischen König al-Aziz angesichts seiner annähernd 100 Söhne und weiteren 50 Töchter ein gewisser Zweifel hinsichtlich der biologischen Vaterschaft durchaus am Platze (Kap. 5))! Andererseits hätte zu Muhammads kriegerischen Lebzeiten mit ihren regelmäßigen Verlusten an Menschenleben (m) auf den Schlachtfeldern ein Gebot strikter Monogamie bedeutet, dass etliche Frauen gar keinen Mann gefunden hätten, also sich nicht hätten fortpflanzen können. Der Prophet empfing daher pragmatischerweise die göttliche Botschaft, dass ein Muslim bis zu vier Ehefrauen gleichzeitig haben dürfe – vorausgesetzt, er behandele alle absolut gleich. Letzteres diente natürlich dazu, unter den Frauen die voraussehbaren Aggressionen der egoistischen Gene gegenüber den Konkurrentinnen in Grenzen zu halten. Aber die Frauen wurden auch anderweitig gut bedacht, da dem Propheten völlig klar war, was Bourdieu leider vergessen hatte: Gerade weil die Reproduktionsmöglichkeiten der Frauen begrenzt, die Männer aber auf Frauen angewiesen sind, wenn sie ihr eigenes genetisches Material weitergeben wollen, ist eine fruchtbare Frau ein kostbares und nur begrenzt verfügbares Gut. Die Frau besitzt daher ein seltenes und somit wertvolles Kapital: ihr sexuelles Kapital. Ist sie bereit, dieses Kapital zu investieren,

406     I. Wunn

indem sie für eine Paarung zur Verfügung steht, hat sie im Islam laut Scharia-Recht Anspruch auf eine entsprechende Rendite. Genau diese Rendite gewährt der Islam der Frau in Form des Brautpreises. Und hier ist der Islam ganz deutlich: Der Brautpreis steht der Frau und nur ihr zu, und zwar wegen der sexuellen Dienste, die sie dem Mann leistet. Daher darf sich die verheiratete Muslimin ihrem Mann auch sexuell nicht verweigern. Immerhin hat er für Sex und Reproduktionsmöglichkeit ein Vermögen ausgegeben. Oft hat sogar die ganze Familie zusammenlegen müssen, damit sich die egoistischen Gene aus dem Genpool der Familie des Mannes erfolgreich replizieren können. Solange die Musliminnen sich dieser Tatsache bewusst waren, bewahrten sie ihre Unabhängigkeit und hatten Macht wie zum Beispiel die Frauen des Propheten selbst. Khadija, Muhammads erste und Zeit ihres Lebens einzige Propheten-Ehefrau, führte selbstständig ein Handelsunternehmen. Muhammad war ihr Karawanenführer gewesen, als sie ihm die Heirat antrug – sie wählte natürlich einen jungen Mann mit mutmaßlich guter Spermienqualität, der sich überdies als tüchtig und loyal erwiesen hatte. Kurz und gut, sie wählte klug hinsichtlich der Kombinationsmöglichkeiten für ihre egoistischen Gene. Übrigens kennt auch das Judentum einen ganz ähnlichen Ehevertrag, der die Frau und ihren Nachwuchs absichert, sollte der Ehemann sich von ihr scheiden lassen oder sterben. Demgegenüber nehmen sich die Regeln im Christentum geradezu erbärmlich aus. Zwar soll hier das strikte Monogamiegebot für Verheiratete und das Keuschheitsgebot für Ledige die Frau und ihren Nachwuchs vor den Egoismen der männlichen egoistischen Gene schützen, aber da im Christentum Sexualität, hier ganz der griechischen, platonischen Einschätzung folgend, negativ bewertet wird, verbot sich die Umrechnung des weiblichen sexuellen Kapitals in ökonomisches Kapital. Und damit hatten die Frauen bereits verloren! Zwar war es ihnen gelungen, mit der Jesusmutter Maria den Grundstein für ein enormes und von keiner anderen Religion jemals erreichtes symbolisches Kapital zu legen; da aber Maria trotz der Jesusgeburt zeitlebens jungfräulich geblieben sein soll, galt dieses symbolische Kapital in erster Linie für ewige Jungfrauen, war also im Sinne des kopierfreudigen egoistischen Gens verloren. Immerhin, als Jungfrau und Abbild der Maria konnte frau in höchste Machtpositionen aufsteigen: Im Mittelalter wurden Frauen Äbtissinnen und Gelehrte, deren Stimmen gehört wurden und in der Politik eine wesentliche Rolle spielten, so zum Beispiel Hildegard von Bingen (1098–1179) oder die gelehrte, nicht mehr jungfräuliche, sondern wegen ihrer Mesalliance in ein Kloster verbannte Heloisa

16  Bourdieus vergessenes Kapital oder: Das Kamasutra     407

(1095–1164), heimliche Geliebte und dann Ehefrau des Gelehrten Petrus Abaelardus. Immerhin versuchte das säkulare christliche Recht, einen Ausgleich für die geringeren Chancen der verheirateten Frauen zu schaffen. Eine verheiratete Frau hatte bis zur Reform des Eherechts in Deutschland auch im Falle einer Scheidung ein lebenslanges Anrecht auf Unterhalt, wenn ihr kein eheliches Vergehen wie außerehelicher Geschlechtsverkehr nachgewiesen werden konnte. Inzwischen geht man von der Gleichberechtigung der Ehepartner aus und verpflichtet beide, für ihren eigenen Unterhalt sowie für den Unterhalt gemeinsamer Kinder zu sorgen. Dass hier aufgrund des bedeutend höheren Aufwands der Frauen in Sachen Fortpflanzung und der Notwendigkeit der Fürsorge für den Nachwuchs massive Ungerechtigkeiten entstehen und die Frauen benachteiligt werden, wird erstaunlicherweise nicht wahrgenommen. Aber sei’s drum! Dies hier ist keine feministische Kampfschrift! Eines nur ist nach diesem kleinen Diskurs festzuhalten: Frauen verfügen über ein enormes, nur ihnen eigenes Kapital, dessen sie sich leider nur allzu wenig bewusst sind und über das sie oft nicht einmal frei verfügen können: ihre Reproduktionsfähigkeit! Und gerade die Tatsache, dass diese Reproduktionsfähigkeit im Gegensatz zu der Fortpflanzungsfähigkeit der Männer begrenzt ist, macht das sexuelle Kapital der Frauen zu einem seltenen und damit ungemein kostbaren Gut. Merke: Einen Mann für ein short-term mating findet frau überall! Eine Frau zum Zwecke der Fortpflanzung findet man(n) nur unter günstigen Umständen und mit höchstem Einsatz (Abb. 16.2)! Frau muss das nur klar erkennen! Und die entsprechenden Schlüsse daraus ziehen!

Secretum finis Indiae Inzwischen dürfte klar sein, wohin die gemeinsame intellektuelle Reise geht! Es geht um das sexuelle Kapital der Frauen. Und es geht darum festzustellen, welchen Gebrauch Frauen im Laufe der Menschheitsgeschichte von ihrem sexuellen Kapital gemacht haben. Das Ergebnis solcher Überlegungen ist naturgemäß ein ganz anderes als zum Beispiel eine sozialwissenschaftliche Diskussion zum Thema „Männliche Herrschaft“ (Bourdieu 2005). Hier kann man(n) noch so oft betonen, „dass Geschlecht, Nation, ethnische Gruppe oder Rasse soziale Konstruktionen sind“ (Bourdieu 2005, S. 138); an der Tatsache, dass Frauen in der westlichen Welt als das sozial

408     I. Wunn

Abb. 16.2  Blind Date. (© Hartmut Dietrich/dieKLEINERT.de/picture alliance/)

schwächere Geschlecht erscheinen und es hinsichtlich ihrer politischen und ökonomischen Macht leider auch sind, kommt Bourdieu nicht vorbei. Allerdings hat der Soziologe Bourdieu wohl auch nicht verstanden, was dem Biologen Darwin sofort klar war: Dass es letztlich nur um sexuelle Selektion, um das Finden des besten Sexualpartners und vor allem um ein Optimieren der Überlebenschancen des eigenen Nachwuchses geht! Andere hatten jedoch ebenso rasch begriffen wie Darwin: die klugen Rabbinen im Judentum und die ebenso klugen Kadis (Rechtsgelehrten) der muslimischen Welt! Sie hatten erkannt, welches enorme Kapital eine fortpflanzungsfähige Frau besitzt, und darauf ihre für die damaligen Lebensumstände gerechte Sozialgesetzgebung gegründet! Und noch eine Kultur hatte die Zusammenhänge verstanden; eine Kultur, die nicht gerade für ihre Frauenfreundlichkeit bekannt ist: die indische Kultur. Sie hat nicht nur den Wert des weiblichen sexuellen Kapitals erkannt, sondern auf diesem Wert ein komplettes philosophisches Gedankengebäude errichtet. Indien ist nämlich, anders als der landläufige Indienliebhaber und Yoga-Turner annimmt, nicht in erster Linie das Land der Spiritualität und des geheimnisvollen esoterischen Wissens, sondern im Gegenteil. Die indische Kultur zeichnet sich durch eine Tradition des stringenten rationalen Denkens aus, die weltweit nicht ihresgleichen hat. Angefangen von philosophischen Spekulationen über den Aufbau der dinglichen Welt über medizinische Fragen bis hin zu möglichen Erlösungswegen im religiösen Kontext systematisierten die indischen Gelehrten das Wissen

16  Bourdieus vergessenes Kapital oder: Das Kamasutra     409

ihrer Zeit und stützten es durch ein Theoriegebäude, das wiederum genau auf das damalige Weltbild zugeschnitten war. Die alten Inder betrieben also auch nach heutigem Verständnis exakte Wissenschaft. Ihren kühlen wissenschaftlichen Blick richteten sie auf alles, was ihnen lebenswichtig erschien: auf das Verhältnis von politischer Pflicht und moralischer Schuld in der „Bhagavad Gita“, auf die Gesundheit in den Lehren des „Ayurveda“, auf Politik und Ökonomie im „Arthashastra“ des Kautilya und nicht zuletzt auf die Rolle der körperlichen Liebe im Kamasutra des Vatsyayana Mallanaga (um 250 n. Chr.). Und hier sind wir beim Thema. Zwar ist das höchste Ziel eines jeden Inders (Inder hier als kultureller Terminus verstanden) die Erlösung aus dem Kreislauf der Geburten, dem samsara, was letztlich Gleichgültigkeit gegenüber der dinglichen Welt mit ihren Lustbarkeiten und Leiden voraussetzt. Allerdings hätte sich auf dem indischen Subkontinent wohl kaum eine der erfolgreichsten Kulturen des Altertums entwickeln können, wenn sich alle Inder sogleich nach Eintritt der Geschlechtsreife in die Wälder zurückgezogen hätten, um dort das Leben von Asketen zu führen. Im Gegenteil ist das Leben des Einzelnen, dessen Dauer im Kamasutra großzügigerweise mit 100 Jahren angesetzt wird, in vier Phasen aufgeteilt: Bis zum 16. Lebensjahr lernt der Mensch, dann widmet er sich bis zu seinem 70. Lebensjahr seinen Aufgaben als Hausvater, das heißt als Ehe- und Geschäftsmann, und erst dann kümmert er sich um seine religiöse Vollendung, um die allerletzten Lebensjahre als Bettler und Einsiedler im Wald auf seinen Tod und eine vorteilhafte Wiedergeburt oder gar auf moksha, die Erlösung aus dem Geburtenkreislauf, zu warten. In der mittleren und entscheidenden Lebensphase sollte ein Mann sein Sinnen und Trachten jedoch auf wirtschaftlichen und politischen Erfolg richten, aber auch auf Genuss – und hier vor allem auf den Genuss der Liebe (Trautmann 2012). (Die vier Lebensziele sind dharma, das Erfüllen des Gesetzes, artha, der Erwerb von Reichtum und Macht, kama, die Liebe, und moksha, die Erlösung). Genau diesem Thema, dem Liebesgenuss, widmet sich das Kamasutra (Abb. 16.3). Es ist allerdings nicht zu leugnen, dass auch das Kamasutra von einem Mann für Männer geschrieben wurde. Es geht zunächst um den rechten Liebesgenuss für den (heterosexuellen) Mann und wie er ihn erlangen kann: mit seiner Ehefrau, mit seiner noch jungfräulichen Braut, mit einer Witwe, mit einer Hetäre oder auch mit der Gattin eines anderen Mannes. Einer jeder dieser Frauen hat sich der Mann auf eine andere Weise zu nähern, um in ihr die Liebessehnsucht zu entfachen, ihre Leidenschaft zu wecken und damit auch selbst den höchsten Genuss zu finden. Das klingt

410     I. Wunn

Abb. 16.3  Die Kunst, durch Liebe zu herrschen. Szenen aus dem Kamasutra, Juna Mahal, Palast von Dungapur, Rajasthan. (© Olaf Krüger/imageBROKER/picture alliance)

im ersten Moment egoistisch und ausgesprochen männerzentriert. Andererseits ist für den Diener des Kama, also der Liebe, der Liebesgenuss nicht eine reife Frucht, die man(n) sich im Vorübergehen vom Baum pflücken kann, sondern sie ist eine Kunst – eine Kunst, die in erster Linie dazu dient, die Lust der Frauen zu wecken. In der Lesart unserer vier Theorien bedeutet das, dass der Mann eine ganze Menge Energie investieren muss, um sein Ziel, die Paarung, zu erreichen. Zunächst einmal muss er eine Frau finden, die zur Paarung bereit ist. Das kann eine Ehefrau sein, deren Erwerb große soziale und finanzielle Anstrengungen bedeutet. Das kann jedoch auch der ebenfalls kostspielige Besuch bei einer Hetäre oder die lebensgefährliche Affäre mit einer verheirateten Frau sein. Er muss also eine beträchtliche Menge von seinem ökonomischen und sozialen Kapital einsetzen, um entweder die Eltern einer Schönen zu überzeugen, ihm ihre Tochter zur Ehe zu überlassen, eine bereits gebundene Frau zu einer Affäre zu überreden oder aber eine Hetäre zu bezahlen. Hat er dieses Kapital investiert, geht es für den Mann darum, sich die ersehnte Sexualpartnerin durch hoch ritualisiertes Verhalten geneigt zu machen, denn letztlich bedeuten die ausgefeilten Regeln des Liebesspiels nichts anderes als das Beschwichtigen der Aggressivität einer eigentlich feindlichen Überlebensmaschine egoistischer Gene. Nur durch Geschenke, den erfreulichen Anblick eines gepflegten und schönen männlichen Körpers, durch liebevolle und schmeichelhafte Reden, durch das Bereitstellen köstlicher Speisen und durch Zärtlichkeiten wird sich eben jene weibliche Überlebensmaschine bereit finden, ihre natürliche Aggressivität gegenüber der anderen, der männlichen Überlebensmaschine zu unterdrücken

16  Bourdieus vergessenes Kapital oder: Das Kamasutra     411

und seine sexuelle Annäherung zu tolerieren. Nach einem vorbereitenden gemeinsamen Mahl in einem schön geschmückten Raum empfiehlt das Kamasutra als erste Annäherung eine zärtliche Umarmung (Kamasutra 2. Buch, 2. Kap. und 10. Kap., § 20). Zeigt die Frau, das Ziel der männlichen Begierde, Interesse, so kann der Mann einen Schritt weitergehen. Jetzt sind Küsse am Platze, und zwar Küsse „auf die Stirn, das Haar, die Wangen, die Augen, die Brust, den Busen, die Lippen und den Innenmund“. Im Rahmen eines Vorspiels zum eigentlichen Koitus werden dann Küsse auf die Innenseite der Schenkel, in die Achselhöhlen und die Nabelgegend empfohlen. Aggressivere Techniken wie Beißen oder Schlagen sollten, so das Kamasutra, bei Frauen vermieden werden, deren Leidenschaft zu diesem Zeitpunkt noch nicht wirklich entfacht worden ist (Kamasutra 2. Buch, 3. Kap.). Auch über das Maß der zu zeigenden Leidenschaft und das „Feuer“ des Liebhabers lässt sich das Kamasutra aus. Ein zu feuriger und dadurch zu schnell agierender Mann wird die Frau unbefriedigt zurücklassen und daher ihre Liebe nicht gewinnen. Erst wenn die Leidenschaft der Frau erfolgreich geweckt und ihre natürliche Aggressivität überwunden ist, kann das Liebesspiel fortgesetzt werden. Hier wird nun ein ganzes Feuerwerk an verschiedenen Berührungen, Küssen, an leichten Verwundungen durch Kratzen und Schläge bis hin zum kunstvollen Koitus entfacht. Gerade das sich gegenseitige Zufügen von leichten Schmerzen spielt bei den Liebestechniken des Kamasutra eine große Rolle zur Steigerung der Lust. Zur Begründung führt der Autor dieses alten Textes folgende interessante Erklärung an: „Man sagt, der Liebesgenuss sei eine Art Streit, indem die Liebe ihrem Wesen nach ein Streiten und von schlechtem Charakter ist“ (Kamasutra 2. Buch, 7. Kap., § 16). Diese Erklärung deckt sich mit unserer ersten Theorie, nachdem auch der Liebesakt eine Begegnung zwischen zwei egoistischen Überlebensmaschinen ist, die letztlich auf jeden potenziellen Konkurrenten aggressiv reagieren. Auch nach vollendetem Koitus hört das Liebesspiel nicht auf: Zärtliche Brührungen, weitere Küsse und umschlingende Umarmungen setzen die Zärtlichkeiten fort, bis das eigentliche Liebesspiel beendet ist. Aber auch dann geht man nicht auseinander, sondern der Liebhaber reicht der Geliebten angenehme Getränke und Naschwerk, und gemeinsam sitzt man noch beisammen, um vielleicht den Mond zu bewundern. Eine Frau, die von einem in den Lehren des Kamasutra bewanderten Liebhaber verwöhnt wurde, wird diesen Mann lieben und ihm immer wieder den gemeinsamen Liebesakt gestatten. Dem Streben der egoistischen Gene wurde Genüge getan, die natürlichen Aggressionen für die Dauer

412     I. Wunn

des Paarungsaktes ausgeschaltet, und beide, Mann und Frau, sind aus genegoistischer Perspektive mit dem erreichten Ergebnis zufrieden. Anders sieht es aus, wenn es um eine mögliche Alphastellung, wenn es um die Frage von Macht und Einfluss in der Gesellschaft geht. So zufrieden eine nach den Regeln des Kamasutra beglückte Frau auch sein mag und wie sehr ihr sexuelles Kapital auch gewürdigt wurde, kann sie aus diesem Kapital jedoch nicht ohne Weiteres einen Machtanspruch ableiten, denn in der Regel darf sie über dieses Kapital nicht frei verfügen. Sie hat nur zwei Möglichkeiten, dieses sexuelle Kapital gewinnbringend einzusetzen: Entweder ist sie die Gattin eines einflussreichen Mannes und lernt, ihn über die Liebe zu beherrschen, oder sie ist eine Hetäre. In beiden Fällen, so weiß das Kamasutra, kann sie großen Einfluss und Macht erlangen: „Eine Hetäre, die sich durch diese [Kenntnis der Liebestechniken] auszeichnet und mit Charakter, Schönheit und Vorzügen begabt ist, bekommt […] eine hohe Stellung im Kreise der Leute. Geehrt ist sie, stets bei dem Könige und bei den Trefflichen gepriesen; begehrenswert ist sie, des Besuchens würdig und ein Vorbild. Die Tochter eines Königs und ebenso eines hohen Beamten, die sich auf (jene) Praktiken versteht, macht den Gatten sich geneigt, auch wenn er tausend Frauen im Harem hat. Ebenso kann eine Frau während der Trennung von dem Gatten und wenn sie in schweres Mißgeschick geraten ist, sogar im fremden Lande von (diesen) Wissenschaften bequem leben.“ (Kamasutra 1. Buch, 3. Kap., § 3)

Der Autor des Kamasutra hat dementsprechend für Frauen eine ganz klare Empfehlung: Sie sollen sich mit den Lehren des Kamasutra vertraut machen. Sollte ihnen das Buch nicht zur Verfügung stehen oder sollte ihnen das Studium eines so komplizierten und theoretischen Textes nicht liegen, sollen sie sich von einer vertrauten Freundin, von einer Milchschwester oder einer vertrauenswürdigen erfahrenen Frau entsprechend unterweisen lassen und die Praktiken im Geheimen erlernen. Und was lernen wir daraus, meine Damen? Nun, mit dem Wissen um das Geheimnis weiblicher Macht auch in solchen Gesellschaften, in denen Frauen sozial benachteiligt sind und immer wieder an Grenzen stoßen, dürfte Ihrem Aufstieg an die Spitze der Machthierarchien eigentlich nichts mehr im Wege stehen. Sollten sie die für m/w/d üblichen Wege über Ranking, Ritual und System bevorzugen, halten Sie sich an unsere Kap. 2 bis 15. Habe ich Ihr Interesse für den Weg über Ihr einzigartiges, nur Ihnen selbst zugängliches Kapital geweckt, lesen Sie das Kamasutra!

16  Bourdieus vergessenes Kapital oder: Das Kamasutra     413

Literatur Bourdieu P (2005) Die männliche Herrschaft, übersetzt von Jürgen Bolder. Suhrkamp, Frankfurt a. M. (La domination masculine, Seuil, Reihe Liber, Paris 1998) Schießl M (2019) „Ich hasse Dünkel“. Jennifer Morgan, 48, Co-Chefin des Softwarekonzerns SAP, über ihren abrupten Aufstieg an der Spitze des ­Dax-Unternehmens, moderne Führung und Gleichberechtigung im Job. Der Spiegel, 2. November, 45, S 70 f. Trautmann T (2012). Arthashastra. The science of wealth. Penguin, Haryana (India), S XX–XXIII

Anhang: Nachwort

Wir haben uns nun gemeinsam erfolgreich durch 15 beziehungsweise 16 Kapitel gearbeitet und wissen mehr als zuvor, zum Beispiel, welche Fehler in der sozialwissenschaftlichen Systemtheorie gemacht wurden, die deshalb bisher nicht so ganz überzeugen konnte. Diesen kleinen Fehler konnten wir, nicht zuletzt durch den erhellenden Vergleich mit unserem eigenen Körper und seinen möglichen Fehlfunktionen, beheben. Eine solche Erkenntnis ist wunderbar, denn nun können wir uns in den geeigneten soziologieaffinen Zirkeln – in Bourdieus sozialem Feld – mit Hilfe dieses Wissens ganz ausgezeichnet inszenieren und damit Aufmerksamkeit generieren; im besten Falle dient das dann dem erfolgreichen Beeindrucken eines mating-partners! Aber nicht nur das. Wir wissen nun darüber hinaus, wie Menschen gestrickt sind, wie sie ticken und wie ihr Zusammenleben funktioniert. Und wir wissen, wie man an Macht gelangt, nämlich in erster Linie über das Akkumulieren von ökonomischem und sozialem Kapital. Sollte der Weg dahin für Damen zu mühsam und steinig sein, empfiehlt sich die Abkürzung über das eigene sexuelle Kapital. Allerdings wird man es hier vermutlich nur bei angeborener Neigung zu Höchstleistungen bringen. Das aber nur am Rande. Eigentlich wollte ich sagen: Um alle diese Zusammenhänge zu erklären, haben wir – Sie, verehrte Leserinnen (einschließlich m und d) und ich – vier anerkannte biologische Theorien (denn eigentlich ist auch Bourdieus Habitustheorie nichts weiter als die Anwendung der Verhaltensforschung auf die menschliche Gesellschaft) in einen inhaltlichen Zusammenhang gebracht und festgestellt, dass sich die Verstrickungen und © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Wunn, Vier Theorien, um die Welt zu beherrschen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61376-4

415

416     Anhang: Nachwort

­ nerklärlichkeiten im menschlichen Zusammensein wie von Zauberhand U entwirren und geradezu durchsichtig werden, wenn wir sie im Lichte unserer vier maßgeblichen Theorien betrachten. Unsere Sitzungen beim Psychotherapeuten brauchen wir daher nicht mehr, eventuell aber stattdessen einen Coach, der uns auf dem anstrengenden Weg nach oben den Rücken stärkt und die entscheidenden Tipps gibt. Die genannten Theorien sind allesamt überprüft und anerkannt: Die Evolutionstheorie stellt heute die Grundlage der gesamten Biologie dar, Turners Ritualtheorie ist ein Fels in der Brandung der Social Anthropology, die Systemtheorie ist vielleicht gerade ein wenig aus der Mode geraten, bleibt aber ein anerkannter Klassiker in den Sozialwissenschaften, und die Habitustheorie hat das Stadium des Geheimtipps längst hinter sich gelassen. Also, und genau das wollte ich sagen, mit den vier Theorien bewegen wir uns auf einer in wissenschaftstheoretischer Hinsicht ganz sicheren Ebene. Hier kann uns niemand etwas wollen! Angriffsfläche könnten dagegen meine Beispiele bieten, oder genauer: Die von mir gewählten Beispiele aus dem gesellschaftlichen Bereich könnten vielleicht den einen oder anderen der Portraitierten ärgern. Dazu nur so viel: Ich habe keine Geheimnisse ausgeplaudert. Wenn immer ich Namen genannt habe, habe ich auf allgemein zugängliches Wissen zurückgegriffen, d.h. auf allen zugängliches Informationsmaterial wie z. B. WIKIPEDIA, oder ich habe die relevanten Quellen, dann meist Printmedien, genannt. Dementsprechend sind auch nicht die kolportierten Daten und Fakten problematisch oder für den Portraitierten möglicherweise peinlich, denn alles ist ja seit Langem bekannt und öffentlich. Entlarvend wirkt manches nur vor dem Hintergrund der entsprechenden Theorie. Dann ist plötzlich das Tätscheln einer zarten Frauenwange nicht liebenswürdig, sondern offenbart den Anspruch eines Alphamännchens auf alle geschlechtsreifen Weibchen – und das könnte dem Tätschler ein wenig unangenehm sein. Ich habe allerdings die beispielgebenden Personen meist nicht namentlich erwähnt, sondern über etliche Beispiele (m/w/d) den sanften Mantel der Anonymität gebreitet. Das bedeutet, dass ich in diesen Fällen nicht nur auf das Nennen von Namen verzichtet habe, sondern die Beschreibung der fraglichen Persönlichkeiten auch bewusst mehrdeutig oder vage gehalten habe. Fazit: Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig (und möglicherweise das Ergebnis prototypischer Verhaltensweisen, die natürlich einem bestimmten, schichtspezifischen Habitus geschuldet sind).

Anhang: Nachwort    417

Eine Ausnahme gibt es, und das ist meine Familie. Den großzügigen Großvater Moritz und die liebenswürdige und herzliche Tante Anni hat es wirklich und genauso wie geschildert gegeben. Sie und weitere Tanten und Großeltern waren einfach wundervoll. Ihrer gedenke ich mit großer Liebe und Bewunderung für ihre sozialen und emotionalen Leistungen. Möge ihnen der Text ein Denkmal setzen! Meine Familie, inzwischen eine jüngere Generation, war es auch, die den Entstehungsprozess des Buches geduldig und kritisch begleitete, indem sie sich jedes einzelne Kapitel vorlesen ließ. Besonderen Dank schulde ich in diesem Zusammenhang Babara Busch, die das gesamte Skript auf Lesbarkeit und Verständlichkeit überprüfte und zuletzt ihr Placet gab. Freundliche Gedanken hege ich auch gegenüber meinen Studenten (ja, Studenten und nicht Studierenden. Beides ist nämlich dieselbe grammatikalische Form, ein Partizip Präsens, und meint den/die sich um Erkenntnis Bemühenden. Es ist einfach nur albern zu meinen, der Terminus „Studierende“ sei gendergerechter als „Studenten“), denen ich letztlich die Erkenntnis der Zusammenhänge zwischen den vier Theorien verdanke, und das kam so: Vor einigen wenigen Jahren sah ich mich vor die Aufgabe gestellt, eine Vorlesung in Systematischer Religionswissenschaft zu halten, d.h. über die wichtigsten der heute aktuellen religionswissenschaftlichen Theorien zu referieren. Nichts ödet die Studenten (völlig ungerechtfertigterweise) aber mehr an als Theorie. Ich musste also verfahren wie bei meinen Kindern, bei denen ich während unserer Zeit in Ostafrika die bittere Malariaprophylaxe stets in eine Süßigkeit stopfte. Das Bittere waren in meinem Falle die Theorien, vor allem die als ungenießbar geltende Systemtheorie, und das Schmankerl waren die gesellschaftlichen Bezüge, also der „Boulevard“. Und siehe, das Ganze war ein Erfolg! Ich habe die gleiche Vorlesung, dann allerdings auf den neuesten Stand gebracht und mit lokalen Skandälchen unterfüttert, noch einmal in Hannover gehalten und fühlte mich anschließend, beflügelt und unterstützt von der konstruktiven Kritik meiner Hörerinnen und Hörer, ermutigt, das Ganze ohne lokale Bezüge in Buchform zusammenzufassen. Der Springer-Verlag, mein treuer Begleiter seit fünf Jahren, schreckte selbst vor der Veröffentlichung dieser Thematik nicht zurück. Das ist alles andere als selbstverständlich: Das Herausgeben eines Buches, das sich thematisch im Grenzgebiet zwischen Geistes- und Naturwissenschaften bewegt, ist ein verlegerisches Risiko. Dass der Verlag dieses Risiko eingeht,

418     Anhang: Nachwort

verdient meinen ausdrücklichen Dank. Um hier konkret zu werden: Dr. Sarah Koch ließ sich für das Thema begeistern und unterstützte mich nach Kräften. Bettina Saglio verdanke ich, abgesehen von ihrer aufopfernden Betreuung, dass die Bebilderung auch thematisch den gewohnten Qualitätsstandards entspricht, und Regine Zimmerschied übernahm erfolgreich den mühsamen Part des Lektorierens. Allen Damen sei herzlich gedankt! Hannover, im Februar 2020 Ina Wunn

Literatur

Adelberger J (1987) Die Shilluk (Sudan): Sakrales Königtum und politische Macht. Anthropos 82(4–6):216–225 Baacke D (1993) Jugend- und Jugendkulturen. Darstellung und Deutung. Juventa, Weinheim BA Berlin NS 19, Bd 1934, Bl 94–105 u. Bl 109–113, Protokoll über die Führerbesprechung der SS am 13./14.6.1931 Bartley MM (1995) Courtship and continued progress: Julian Huxley’s studies on bird behavior. J Hist Bio 28(1):91–108 Bell C (1997) Ritual. Perspectives and dimensions. Oxford University Press, New York Bellah RN (1967) “Civil Religion in America”. J Am Acad Arts Sci 96(1):1–21. Archiviert am 06.03.2005 Berndorff HR (1966) Das schwarz-weiss-rote Himmelbett. Aus den Memoiren eines rheinischen Schlingels. Ullstein, Frankfurt a. M. Bertalanffy L (1968) General system theory. Geoge Braziller, New York Blakemore S-J, Stephanie BS, Dahl R (2010) The role of puberty in the developing adolescent brain. Hum Brain Mapp 31(6):926–933 Boesch C, Kohou G, Néné H, Vigilant L (2006) Male competition and paternity in wild chimpanzees of the Taï forest. Am J Phys Anthropol 130(2006):103–105 Bonanni R (2017) Simona Cafazzo, Arianna Abis, Emanuela Barillari, Paola Valsecchi, and Eugenia Natoli (2017). Age-graded dominance hierarchies and social tolerance in packs of free-ranging dogs. Behav Ecol 28(4):1004–1020. https://doi.org/10.1093/beheco/arx059 Bourdieu P (1992) Die verborgenen Mechanismen der Macht. In: Steinrücke M (Hrsg) Schriften zu Politik & Kultur. VSA-Verlag, Hamburg

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Wunn, Vier Theorien, um die Welt zu beherrschen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61376-4

419

420     Literatur

Bourdieu P (2005) Die männliche Herrschaft (übersetzt von Jürgen Bolder). Suhrkamp, Frankfurt a. M. (La domination masculine, Seuil, Reihe Liber, Paris 1998) Braun H (1989) Helmut Schelskys Konzept der, nivellierten Mittelstandsgesellschaft‘ und die Bundesrepublik der 50er Jahre. Arch Soz gesch 29:199–223 Burkhardt RW (2005) Patterns of behavior : Konrad Lorenz, Niko Tinbergen, and the founding of ethology. The University of Chicago Press, Chicago Busch W (1974) Tobias Knopp. Diogenes, Zürich Cassirer E (1964) Philosophie der symbolischen Formen, Bd 3, 1. Aufl. Bruno Cassirer 1923–1929, Berlin (Nachdruck: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt) de Waal F, Lanting, F (1997) Bonobo: The forgotten ape. California: University of California Press Dias J, Marwick MG (1961) Portuguese contribution to cultural anthropology. Witwatersrand University Press, Johannesburg Dietloff T (2019) Ziel: Weit weg. Gala, 5. Nov, 27, 22–24 Draper P (1975) ǃKung women: Contrasts in Sexual egalitarianism in foraging and sedentary contexts. Anthropology Faculty Publications 45: #1Lib1Ref Eibl-Eibesfeldt I (1997) Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriss der Humanethologie. Weyarn: Seehamer Verlag. Erfurter Programm (1891) https://www.marxists.org/deutsch/geschichte/deutsch/ spd/1891/erfurt.htm Evans-Pritchard EE (1956) Nuer Religion. Oxford University Press, New York Evans-Pritchard EE (2011) The divine kingship of the Shilluk of the Nilotic Sudan. The Frazer Lecture, 1948. HAU: J Ethnographic Theory 1(1):407–422 (Erstveröffentlichung 1948) Flade M, Schwarz J (2013). Bestandsentwicklung von Vogelarten der Agrarlandschaft in Deutschland 1991–2010 und Schlüsselfaktoren. Tagungsband Fachgespräch „Agrarvögel – ökologische Bewertungsgrundlage für Biodiversitätsziele in Ackerbaugebieten“, 1.–2. März 2013, Kleinmachnow. Julius-Kühn-Archiv 442 Fontane T (2000) Stine. Große Brandenburger Ausgabe, Das erzählerische Werk, Bd 11. Siedler, Berlin. Forsman JT, Mönkkönen M (2003) The role of climate in limiting European resident bird populations. J Biogeogr 30:55–70 Fromm E (1977) Anatomie der menschlichen Destruktivität. Aus dem Amerikanischen von Liselotte u. Ernst Mickel. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg Frutaz AP (1960) Contributo alla storia della riforma del Messale promulgato da san Pio V nel 1570. In: Problemi di vita religiosa in Italia nel cinquecento; Italia Sacra 2; Padova Gennep A Van (1909) Les rites de passage : étude systématique des rites de la porte et du seuil, de l'hospitalité, de l'adoption, de la grossesse et de l'accouchement, de la naissance, de l'enfance, de la puberté, de l'initiation, de l'ordination, du couronnement, des fiançailles et du mariage, des funérailles, des saisons, etc. Nourry, Paris

Literatur    421

Ginzel A, Stoll U (20.08.2019 14:12 Uhr). ZDF. Frontal 21 exklusiv – Alaa S.: “Ich habe ihn nicht angefasst”. Zugegriffen: 20. Aug. 2019 Goldhagen DJ (2009) Schlimmer als Krieg. Wie Völkermord entsteht und wie er zu verhindern ist. Siedler, München Goldman R (1999) The psychological impact of circumcision. BJU International 83(Supplement 1):93–102 Goltz A (1918) Sakralkönigtum. In: Hoops J (Hrsg) Reallexikon der germanischen Altertumskunde, Bd 26. Walter de Gruyter, Berlin, S 234–247 Goodrick-Clarke N (1997) Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus. Leopold Stocker Verlag, Graz Gothaer Programm (1875) https://www.marxists.org/deutsch/geschichte/deutsch/ spd/1875/gotha.htm Graeber D (2011) The divine kingship of the Shilluk On violence, utopia, and the human condition, or, elements for an archaeology of sovereignty. HAU: J Ethnographic Theor 1(1):1–62 Graeber D (2012) Schulden. Die ersten 5000 Jahre. Klett-Cotta, Stuttgart Hamilton C (1998) Terrific majesty: The powers of Shaka Zulu and the limits of historical imagination. Harvard University Press, Cambridge Hänig A, Machowecz M, Schirmer S (2014). Frauke und die 13 Zwerge. Die Zeit, 4. September, 37. https://www.zeit.de/autoren/M/Martin_Machowecz/index.xml Häusler A (Hrsg) (2016) Die Alternative für Deutschland. Programmatik, Entwicklung und politische Verortung. Springer VS, Heidelberg Hein B (2011) Himmlers Orden. Das Auslese- und Beitrittsverfahren der Allgemeinen SS. Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 2011:2–280 Heitmeyer W (2019) Autoritär, national, radikal. Süddeutsche Zeitung, 19. April 2019, Zugegriffen: 22. Okt. 2019 Hinde RA (1982) Ethology. Fontana, New York Hinde RA (1999) Why gods persist. A scientific approach to religion. Routledge, London Hobbes T (1651) Leviathan or the matter, forme and power of a commonwealth ecclesiasticall and civil. Andrew Crooke, London Huber M (2013) Queering Gay Pride: Zwischen Assimilation und Widerstand. Zaglossus, Wien Hügli A, Lübcke P (1991) System. Philosophielexikon. Reinbeck: Rowohlt. Humboldt A von (1803/04). Tagebücher der Amerikanischen Reise IX: Varia. Obs. Astron. de Mexico a Guanaxuato… 27r. http://resolver.staatsbibliothek-berlin. de/SBB0001527C00000000 Infantino G (2017) Vorwort des FIFA-Präsidenten. In: Finanzbericht FIFA 2017. https://resources.fifa.com/image/upload/fifa-financial-report-2017-2933108.pdf? cloudid=ry0xdbw8cero053lqidi. Zugegriffen: 1. Aug. 2019 Jahn I, Sucker U (1998) Die Herausbildung der Verhaltensbiologie. In: Jahn I (Hrsg) Geschichte der Biologie. Jena, Nikol, S 581–600

422     Literatur

Kant I (1797) Die Metaphysik der Sitten. Unveränderter photomechanischer Abdruck von Kants gesammelte Schriften. Herausgegeben von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd VI. Berlin 1907/1914. de Gruyter, Berlin 1968 Kerouac J (1958) About the beat generation. The philosophy of the beat generation. In Esquire, März 1958 (Erstveröffentlichung 1957) Knobloch C, Seligman R (2012) In Deutschland angekommen: Erinnerungen. DVA, München Kühne T (2006) Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Langbein AF (1812) Die Weissagung. In Neuere Gedichte. J. G. Cotta, Tübingen, S 232 Lessing GE (1767) Hamburgische Dramaturgie. Cramer, Bremen (Erstveröffentlichung 1768) Luhmann N (1984) Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Suhrkamp, Frankfurt a. M. Luhmann N (1994) Die Wirtschaft der Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt a. M. Maturana H, Varela F (2009) Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens. Deutsche Übersetzung von Kurt Ludewig. Fischer, Frankfurt a. M. Mauss M (1989) Über die physische Wirkung der von der Gemeinschaft suggerierten Todesvorstellung auf das Individuum (Australien und Neuseeland). In: Mauss M (Hrsg.) Soziologie und Anthropologie 2. Fischer, Frankfurt a. M., S 178–195 Mazák V (2004) Der Tiger. Westarp Wissenschaften, Magdeburg Mofolo T (1988) Chaka Zulu. Manesse, Zürich Natoli E, Maragliano L, Cariola G, Faini A, Bonanni R, Cafazzo S, Fantini C (2006) Management of feral domestic cats in the urban environment of Rome (Italy). Prev Vet Med 77(2006):180–185 Olmsted KS (2011) Real enemies. Conspiracy theories and American democracy, World War I to 9/11. Oxford University Press, Oxford Parker RAC (1998) Das Zwanzigste Jahrhundert, Bd 1. Europa 1918–1945. Weltbild Verlag, Frankfurt a. M. Paulin A (2014). Through liquid democracy to sustainable non-bureaucratic government. J e-Democracy 6(2) Parsons T (1934) Society. In: International Encyclopedia of the Social Sciences, Bd. 14. S. 225–231 Pesch A Symbole gestern und heute: Die Kraft von Bildern. In: Märchen, Mythen und Symbole. MAMUZ Museum, Mistelbach

Literatur    423

Peterson AT (2003) Projected climate change effects on rocky mountain and great plains birds: generalities of biodiversity consequences. Glob Chang Bio 9:647– 655 Pohl M (1999) Philipp Holzmann – Geschichte eines Bauunternehmens 1849– 1999. Beck, München Preuss-Lausitz U (Hrsg) (1990) Kriegskinder, Konsumkinder, Krisenkinder. Zur Sozialisationsgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg. Beltz, Weinheim Pro-Igel. www.pro-igel.de/biologie/fortpflanzung.html. Zugegriffen: 23. Apr. 2019 Rappold E (2016). Mutter und Kind wurden zu Tode geprügelt. Hannoversche Allgemeine Zeitung, 26. April, 28 Rasenberger J (2011) The brilliant disaster. JFK, Castro, and America’s doomed invasion of Cuba’s Bay of Pigs. Scribner, New York Roth G, Strüber N (2018) Wie das Gehirn die Seele macht. Klett-Cotta, Stuttgart Ruhose F, Rainer F (6.6.2019). Die SPD macht Politik für nichtexistente Wähler. IPG Journal. https://thebuzzard.org/2019/06/06/die-spd-macht-politik-fuernichtexistente-waehler/. Zugegriffen: 27. Aug. 2019 Rumney J (2017) Herbert spencer’s sociology: A study in the history of social theory, to which is appended a bibliography of spencer and his work. Transaction Publishers, London Ryle G (1938) Categories. Proceedings of the Aristotelian Society 38(1938):189– 206 Sauerbrei R, Ekschmitt K, Wolters V, Gottschalk TK (2014) Increased energy maize production redu- ces farmland bird diversity. Glob Change Biol Bioenergy 6:265–274. Biogeography 30:55–70 Schwarz (2013) Bestandsentwicklung von Vogelarten der Agrarlandschaft in Deutschland 1991–2010 und Schlüsselfaktoren. Tagungsband Fachge- spräch „Agrarvögel – ökologische Bewertungsgrundlage für Biodiversitätsziele in Ackerbaugebieten“, 01.–2. März 2013, Kleinmachnow. Julius-Kühn-Archiv 442 Shelley M (2017) Frankenstein oder der Moderne Prometheus – Die Urfassung 1818. Aus dem Englischen übersetzt und in neuer Überarbeitung herausgegeben von Alexander Pechmann, mit einem Nachwort von Georg Klein. Manesse Verlag, München (Erstveröffentlichung 1818) Spencer H (1867) First principles. William and Norgate, London Stumpf RM, Boesch C (2006) The efficacy of female choice in chimpanzees of the Taï Forest, Côte d'Ivoire. Behav Ecol Sociobiol 60:749–765 Suter M (2014) Allmen und die Dahlien. Diogenes, Zürich System. Gabler Wirtschaftslexikon. Springer Gabler, Heidelberg Thieme H (2007) Der große Wurf von Schöningen: Das neue Bild zur Kultur des frühen Menschen. In: Thieme H (Hrsg) Die Schöninger Speere – Mensch und Jagd vor 400.000 Jahren. Konrad Theiss Verlag, Stuttgart Turner VW (1957) Schism and continuity in an African society. A study of Nedembu village life. Manchester University Press for Rhodes-Livingstone Institute, Manchester

424     Literatur

Turner VW (1967) The forest of symbols. Aspects of Ndembu Ritual. Cornell Univ. Pr.Turner, Ithaca. Victor W (1969) The ritual process. Structure and antistructure. Aldine Pub. Co., Chicago Turner VW (1974) Dramas, fields, and metaphors. Symbolic action in human society. Cornell University Press, Ithaca Usener H (1985). Götternamen. Versuch einer Lehre von der religiösen Begriffsbildung. Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. (Erstveröffentlichung 1896) Volkman TA (1984) Great performances: Toraja cultural identity in the 1970s. Am Ethnol 11(1):152–169 Waalkes O. Das Wort zum Montag. http://www.sulyswelt.de/ged/OTTO. Zugegriffen: 17. Juli 2019 Warburg A (Abraham Moritz) (1988) Das Schlangenritual. Ein Reisebericht. Mit einem Nachwort von Ulrich Raulff. Wagenbach, Berlin Wihlborg C, Willett TD, Zhang N (2011). The euro crisis: it isn’t just fiscal and it doesn't just involve Greece, 8. September 2010, Claremont McKenna college robert day school of economics and finance research paper No. 2011-03 Woinarski JCZ, Burbidge AA, Harrison PL (2015) Ongoing unraveling of a continental fauna: Decline and extinction of Australian mammals since European settlement. PNAS April 14, 112(15):4531–4540 Wunn I (2002) Naturreligionen. In: Antes Peter (Hrsg) Vielfalt der Religionen. Lutherisches Verlagshaus, Hannover, S 243–284 Wunn I (2018) Barbaren, Geister, Gotteskrieger. Wie wir uns die Evolution der Religionen vorstellen müssen. Springer, Heidelberg Wunn I, Selçuk M (Hrsg) (2013) Islam, Frauen und Europa. Islamischer Feminismus und Gender Jihad – neue Wege für Musliminnen in Europa?. Kohlhammer, Stuttgart Wunn I, Urban O, Klein C (2015) Götter, Gene, Genesis. Die Biologie der Religionsentstehung. Springer, Spektrum Wunn I, Grojnowski D (2016) Ancestors, territoriality, and gods. A natural history of religion. Springer, Heidelberg Wyneken G (1914) Schule und Jugendkultur. Diederichs, Jena Zwanziger T (2015) Die Rolle des Sports im Kampf gegen Diskriminierung. Ina Wunn und Beate Schneider: Das Gewaltpotenzial der Religionen. Kohlhammer, Stuttgart, S 273–282