Verwaltung, Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechtsschutz in der Deutschen Demokratischen Republik [1 ed.] 9783428509478, 9783428109470

Der Verfasser zeichnet die Entwicklungslinien des Verwaltungsrechts in der SBZ/DDR nach, wobei er die nunmehr zugänglich

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Verwaltung, Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechtsschutz in der Deutschen Demokratischen Republik [1 ed.]
 9783428509478, 9783428109470

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JOACHIM HOECK

Verwaltung, Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechtsschutz in der Deutschen Demokratischen Republik

Schriften zur Rechtsgeschichte Heft 103

Verwaltung, Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechtsschutz in der Deutschen Demokratischen Republik

Von Joachim Hoeck

Duncker & Humblot . Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität zu Heidelberg hat diese Arbeit im Jahre 2002 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

D 16 Alle Rechte vorbehalten Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany

© 2003 Duncker &

ISSN 0720-7379 ISBN 3-428-10947-3 Gedruckt auf aIterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@

Nichts ist so entscheidend für den Stil eines Rechtszeitalters wie die Auffassung vom Menschen, an der es sich orientiert. Gustav Radbruch, Der Mensch im Recht, Heidelberger Antrittsvorlesung 1927

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 20011 2002 von der Juristischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg als Dissertation angenommen. All denen, die mir bei der Fertigstellung der vorliegenden Arbeit geholfen haben, möchte ich an dieser Stelle herzlich danken. Mein besonderer Dank gilt Herrn Professor Dr. Dr. h.c. Adolf Laufs für die hilfreiche und wohlwollende Betreuung der Arbeit. Herrn Professor Dr. Klaus-Peter Schroeder danke ich für die rasche Erstellung des Zweitgutachtens, Herrn Prof. Dr. h.c. Norbert Simon für die Aufnahme in das Verlagsprogramm von Duncker & Humblot. Dank schulde ich auch den Mitarbeitern des Bundesarchivs in BerlinLichterfelde sowie des Brandenburgischen Landeshauptarchivs in Potsdam für die kenntnisreiche und geduldige Unterstützung meiner Arbeit. Schließlich bedanke ich mich bei meinen Eltern für die vielfältige Unterstützung. Berlin, im Januar 2003

Joachim Hoeck

Inhaltsverzeichnis Einleitung .............................................................

19

Erster Teil

Die Sowjetische Besatzungszone 1. Abschnitt

Justizpolitische Rahmenbedingungen und Institutionen der Rechtssetzung

24

I.

Der Alliierte Kontrollrat ............................................

24

11.

Die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) .........

27

III. Die Deutsche Zentralverwaltung für Justiz (DJV) ....... . . . . . . . . . . . . . .. 1. Entstehungsgeschichte ........................................... 2. Aufgaben und Kompetenzen ..................................... 3. Justizpolitische Ausrichtung ...................................... a) Justizreform durch Justizabbau - Der Einfluß Eugen Schiffers .... aa) Justizpolitiker in der Weimarer Republik. . . . . . . . . . . . . . . . . .. bb) Präsident der Deutschen Zentralverwaltung für Justiz. . . . . . .. b) Die Justizkonzeption der Kommunisten und ihre Umsetzung. . .. .. aa) Justizpolitischer Einfluß der KPD/SED in der DJV ......... bb) Ideologische Grundzüge einer kommunistischen Justizkonzeption ................................................... cc) Grundsätze der Gesetzgebung und Gesetzesanwendung (1946) dd) Erste Äußerungen zur Frage der Verwaltungsgerichtsbarkeit

31 31 33 38 40 41 47 49 49 56 62 67

2. Abschnitt

Wiedereinführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Thüringen

70

I.

Die thüringische Landesverwaltungsordnung .......................... 70 1. Entstehungsgeschichte ........................................... 70 2. Regelung des Verwaltungsrechtsschutzes ........................... 72 3. Gerichtsorganisation und Stellung des Richters ..................... 73

11.

Die Rechtsprechung des thüringischen OVG ..........................

76

10

Inhaltsverzeichnis 3. Abschnitt Ansätze zur Wiedereinführung der VerwaItungsgerichtsbarkeit im Zonenmaßstab

81

I.

Das Kontrollratsgesetz Nr. 36 über Verwaltungsgerichte

81

11.

Umsetzung des Kontrollratsgesetzes Nr. 36 in der SBZ ................ 1. Vorbereitung einer Verwaltungsgerichtsordnung auf der Justizländerkonferenz am 28.11.1946 ........................................ a) Verwaltungsgerichtsstaat oder Justizstaat? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Generalklausei oder Enumerationsprinzip? ...................... c) Die "Lehre vom justizfreien Hoheitsakt" ....................... d) Einbeziehung eines "Vertreters des öffentlichen Interesses" ....... e) Gesamtbewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Übergang der Gesetzgebungsinitiative auf die Kommunisten ......... a) Rechtspolitischer Kurswechsel der SMAD ...................... b) Verwerfung der DJV-Entwürfe durch die SMAD ................ c) Steuerung des Gesetzgebungsvorhabens durch das Zentralsekretariat der SED . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

88 89 90 99 102 107 110 111 111 112 117

III. Zusammenfassung des ersten Teils ................................... 126

Zweiter Teil Niedergang des Verwaltungsrechts und Substituierung der VerwaItungsgerichtsbarkeit in der Ära U1bricht 1. Abschnitt Verwaltung und Verwaltungsrechtsschutz in der Gründungsverfassung I.

11.

Der Verwaltungsrechtsschutz gemäß Artikel 138 der Gründungsverfassung ............................................................. 1. Entstehung und Wesen der Gründungsverfassung ................... 2. Verfassungssystematischer Kontext der Regelung ................... a) Das Prinzip der Gewalteneinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Der Grundsatz der Einheit von Beschlußfassung, Durchführung und Kontrolle ................................................... c) Das Dogma der Interessenidentität und Konsequenzen für das Grundrechtsverständnis ....................................... d) Das Prinzip der sozialistischen Gesetzlichkeit ...................

129

129 129 135 136 138 143 149

Die sozialistische Verwaltung der DDR ............................... 154 1. Theoretische Grundlagen ......................................... 154 2. Revision der territorialen Verwaltungsstrukturen .................... 157

Inhaltsverzeichnis

11

Verwaltungsrechtsschutz durch andere Staatsorgane .................... 1. Rechtsschutz gegen hoheitliche Maßnahmen durch die Zivilgerichtsbarkeit ......................................................... 2. Die Gesetzlichkeitsaufsicht durch die Staatsanwaltschaft ............ . 3. Das förmliche Rechtsmittelverfahren ..............................

160 163 168 171

IV. Ansätze der Verwaltungsrechtswissenschaft zur Schaffung eines Systems des öffentlichen Rechtsschutzes ..................................... 1. Der Gegenstand des sozialistischen Verwaltungsrechts .............. . 2. Rechtsnormen und Verwaltungsanweisungen ....................... 3. Möglichkeiten der Kontrolle von Individualakten ...................

174 174 177 179

III.

V.

Die Babelsberger Konferenz und die Liquidierung der Verwaltungsrechtswissenschaft ...................................................... 185 2. Abschnitt

Theoretische Grundlagen des Eingabenwesens

194

I.

Wurzeln des Eingabenrechts ........................................ 194 1. Das Eingabenwesen als Petitionsrecht in historischer und vergleichender Sicht ...................................................... . 194 2. Die marxistisch-leninistische Tradition des Eingabenrechts ........... 198

11.

Entwicklung der gesetzlichen Grundlagen des Eingabenwesens .......... 1. Überblick ...................................................... 2. Die "Verordnung über die Behandlung der Vorschläge und Beschwerden der Bürger" ................................................ a) Entstehungshintergrund und Einfluß der sowjetischen Verwaltungsrechtswissenschaft ........................................... b) Regelungsgehalt ............................................. aa) Der Eingabenbegriff der Beschwerdeordnung . . . . . . . . . . . . . . . bb) Politische Funktion des Eingabenrechts .................... cc) Vorschlags- und beschwerdeberechtigter Personenkreis ...... dd) Zuständigkeit ........................................... ee) Verfahren der Eingabenbearbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Entscheidungsfristen ..................................... gg) Dokumentation und Analyse ............................. c) Stellungnahme .............................................. 3. Der Eingabenerlaß des Staatsrates von 1961 ....................... . a) Entstehungshintergrund ....................................... aa) Praktische Bewährung der Beschwerdeordnung ............. bb) Interne Reformüberlegungen auf der Ebene des ZK der SED . . cc) Die "Programmatische Erklärung" des Staatsratsvorsitzenden vom 4. Oktober 1960 ....................................

201 201 204 204 205 205 207 209 210 211 213 213 214 217 217 217 225 237

12

Inhaltsverzeichnis b) Inhaltliche Veränderungen des Eingabenerlasses von 1961 ........ aa) Neuausrichtung des Eingabenrechts ....................... bb) "Rechtsweggarantie" .................................... cc) Zuständigkeit ........................................... dd) Verfahren der Eingabenbearbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Eingabenanalyse ........................................

240 241 242 244 244 246

3. Abschnitt Zur Praxis des Eingabenwesens 1.

11.

Das Eingabenrecht auf der Ebene der "örtlichen Organe der Staatsmacht" und Volkseigenen Betriebe ......................................... . 1. Funktionärsversagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Willkürliche Eingabenerfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Mangelnde Einbindung der Volksvertretungen in die Eingabenbearbeitung ........................................................... 4. Ungenügende Verallgemeinerung positiver Erfahrungen .............. 5. Vorsätzliche Manipulation bei der Eingabenanalyse ................. 6. Zusammenfassung: Wirksamkeit des Eingabenrechts ................

248 254 256 259 260 261 261 263

Das Eingabenrecht auf der Ebene des Staatsrats ...................... . 1. Vorzugsbehandlung der Eingaben an zentrale Staatsorgane .......... . 2. Staatspolitische Funktionen des Eingabenwesens ... . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Erziehungsfunktion .......................................... b) Signalisierungs- und Legitimierungsfunktion ....................

265 266 269 270 276

III. Das Eingabenrecht aus der Perspektive der Bürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Inhaltliche Schwerpunkte der Eingaben ........................... . a) Eingaben mit überwiegend eigennützigem ("egoistischem") Charakter ...................................................... aa) Wohnraumversorgung ................................... bb) Reiseverkehr ........................................... cc) Handel und Versorgung ................................. . b) Eingaben mit überwiegend gesamtgesellschaftlichem ("kollektivistischem") Charakter ....................................... 2. Eingaben als Instrument der lustizkontrolle ........................ a) Eingaben an das Oberste Gericht (OG) ........................ . aa) Strafrecht .............................................. bb) Andere Rechtsgebiete ................................... b) Eingaben an die Staatsanwaltschaft ............................ aa) Eingaben gegen Entscheidungen und Maßnahmen der Staatsanwaltschaft und der Untersuchungsorgane .................

278 279 279 282 286 290 291 297 297 299 301 302 303

Inhaltsverzeichnis bb) Eingaben gegen Entscheidungen und Maßnahmen anderer Staats- und Wirtschaftsorgane, Einrichtungen, Betriebe und Genossenschaften ....................................... c) Eingaben an das Ministerium der Justiz ........................ aa) Kritik am Verhalten der Mitarbeiter der Justizorgane ........ bb) Eingaben zur Vermeidung von Rechtskonflikten ............ cc) Eingaben zur Rechtsanwendung und zu rechtlichen Regelungen .................................................... dd) Einzelfallkontrolle durch das Ministerium der Justiz nach Beendigung des Instanzenzugs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Eingaben zur Überprüfung von Verwaltungsakten .......... .

13

305 307 309 310 311 313 318

4. Abschnitt Experimente mit Formen externen Verwaltungsrechtsschutzes in der Ära mbricht I.

11.

320

Rechtspolitische Grundlagen ........................................ I. VII. Parteitag der SED - Neubestimmung der Rolle des Staates und des Rechts ..................................................... 2. Die Verfassung vom 6. April 1968 ................................ a) Der Charakter der Staatsratsverfassung ......................... b) Aussagen der Verfassung zum Verwaltungsrechtsschutz ... . ......

321

Entstehung des Eingabenerlasses von 1969 ........................... l. Die Tätigkeit der Kommission Gerlach ............................ 2. Erfahrungsaustausch mit der Sowjetunion ......................... . a) Rechtsgrundlagen des Eingabenwesens in der Sowjetunion ....... b) Eingabenpraxis in der Sowjetunion ............................

329 329 331 332 333

321 324 324 327

III. Veränderungen im Bereich des klassischen Eingabenwesens (§§ 1-18) ... 336 IV. Das Verfahren vor den Beschwerdeausschüssen (§§ 19 ff.) .............. l. Erste Modelle Ende der fünfziger Jahre ............................ 2. Rechtsentwicklung im Flächenversuch - Die Tätigkeit der Experimentalausschüsse ................................................... 3. Konzeptionelle Ausgestaltung der Beschwerdeausschüsse ............ a) Die Beschwerdeausschüsse als Organe der örtlichen Volksvertretungen ...................................................... b) Entscheidungskompetenzen der Beschwerdeausschüsse ........... c) Kriterien der Rechtmäßigkeitskontrolle ......................... d) Verhältnis des Beschwerdeverfahrens zum Rechtsmittelverfahren .. 4. Praxis der Beschwerdeausschüsse ................................ . a) Juristische Qualifikation der Ausschußmitglieder ................ b) Umfang und Schwerpunkte der Inanspruchnahme ................

340 341 343 344 344 347 349 351 355 355 358

14

Inhaltsverzeichnis c) Mißachtung der Zuständigkeitsvorschriften ..................... 362 d) Aufdeckung von Verstößen gegen die sozialistische Gesetzlichkeit . . 364 5. Das Ende der Beschwerdeausschüsse .............................. 366

V.

Stellungnahme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 Dritter Teil

Renaissance des Verwaltungsrechts 1. Abschnitt

Rehabilitierung der Verwaltungsrechtswissenschaft

371

I.

Die Situation nach der Babelsberger Konferenz ....................... 371

11.

Wiederkehr des Verwaltungsrechts als Organisations- und Leitungsrecht .. 374

III. Ausgestaltung des Verwaltungsrechts als "Besonderer Teil" des Staatsrechts 376 2. Abschnitt

Intensivierung der verwaltungsrechtswissenschaftlichen Diskussion in der Ära Honecker

383

I.

Auswirkungen des Machtwechsels auf die Verwaltungsrechtswissenschaft . . 383

11.

"Kanonisierung" des Verwaltungsrechts durch das Lehrbuch von 1979 ... 385

III. Gegenentwürfe und weiterführende Ansätze der Verwaltungsrechtswissenschaft ............................................................ 1. Abgrenzung des Verwaltungsrechts von andern Rechtszweigen ....... 2. Vereinheitlichung des Verwaltungsverfahrens ....................... a) Rege1norrnen und Aufgaben .................................. b) Rechtsanwendung und Rechtsverwirklichung .................... c) Gewährleistung subjektiver Rechte der Bürger durch das Verwaltungsverfahren .............................................. 3. Gerichtlicher Verwaltungsrechtsschutz .............................

387 387 390 391 394 396 399

3. Abschnitt

Das Gesetz über die Zuständigkeit und das Verfahren der Gerichte zur Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen vom 14.12.1988 (GNV) I.

402

Entstehungshintergrund .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 1. Rechtsvergleichende Impulse ..................................... 403 2. Außenpolitische Zwänge ......................................... 412

Inhaltsverzeichnis 11.

15

Die Vorbereitung des Gesetzeserlasses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417

III. Probleme bei der gerichtlichen Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen .............................................................. 1. Zuständigkeit der Kreisgerichte und fehlender Instanzenzug .......... 2. Gegenstände gerichtlicher Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen ............................................................ 3. Logistische Probleme bei der Erweiterung des Justizapparats ......... a) Prognostizierter Verfahrensanfall ............................... b) Auswirkungen auf die Juristenausbildung .......................

421 421 423 425 426 427

IV. Wirkungslosigkeit des GNV in der Praxis ............................ 429 V.

Ausstrahlungswirkung des GNV auf die Gesamtrechtsordnung der DDR .. 432

VI. Revolution und Harmonisierung ................................. . ... 437 Zusammenfassung .................................... : ................. 440 Literatur- und Quellenverzeichnis ...................................... 444 Personenverzeichnis ................................................... 481 Sachverzeichnis ....................................................... 483

Abkürzungsverzeichnis 1 ABI ABI. KR. AdW AKR ASR AWG BArch BLHA BVerfGE CDU(D) DDP DDR DKP DP DWK FDGB FDJ FS GBI. GNV GVG GVGV HO KPD KPdSU KRG KSZE LDPD LPG LVO MdJ MEGA

Arbeiter-und-Bauern-Inspektion Amtsblatt des Alliierten Kontrollrats in Deutschland Akademie der Wissenschaften (der DDR) Alliierter Kontrollrat Akademie für Staat und Recht (in Potsdam-Babelsberg) Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft Bundesarchiv Brandenburgisches Landeshauptarchiv Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Christlich Demokratische Union (Deutschlands) Deutsche Demokratische Partei Deutsche Demokratische Republik Deutsche Kommunistische Partei Deutsche Post Deutsche Wirtschaftskommission Freier Deutscher Gewerkschaftsbund Freie Deutsche Jugend Festschrift Gesetzblatt (der DDR) Gesetz über die Zuständigkeit und das Verfahren der Gerichte zur Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen Gerichtsverfassungsgesetz siehe GNV Handelsorganisation Kommunistische Partei Deutschlands Kommunistische Partei der Sowjetunion Kontrollratsgesetz Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Liberal-Demokratische Partei Deutschlands Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft Landesverwaltungsordnung (von Thüringen) Ministerium der Justiz (der DDR) Marx-Engels-Gesamtausgabe

1 Aufgeführt sind ausschließlich spezielle, mit dem Thema der Arbeit in Zusammenhang stehende Abkürzungen. Die allgemeinen Abkürzungen richten sich nach loset Werlin, "Duden - Wörterbuch der Abkürzungen", 4. Auflage, Mannheim 1999.

Abkürzungsverzeichnis NAW NJ

17

Nationales Aufbauwerk Neue Justiz (Zeitschrift für Recht und Rechtswissenschaft, herausgegeben vom Ministerium der Justiz der DDR) Neues Ökonomisches System NÖS NÖSPL Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NVA Nationale Volksarmee Oberstes Gericht (der DDR) OG OVG Oberverwaltungsgericht Reichsgesetzblatt RGB!. Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen RGZ RLG Reichsleistungsgesetz ROW Recht in Ost und West (Zeitschrift für Rechtsvergleichung und internationale Rechtsprobleme, herausgegeben von der Vereinigung Freiheitlicher Juristen) SAPMO BArch Stiftung der Parteien und Massenorganisationen im Bundesarchiv SBZ Sowjetische Besatzungszone SED Sozialistische Einheitspartei Deutschlands SKK Sowjetische Kontrollkommission Sowjetische Militäradministration SMA Sowjetische Militäradministration in Deutschland SMAD Sowjetische Militäradministration in Thüringen SMATh Sozialdemokratische Partei Deutschlands SPD Sozialistische Republik SR Gesetz über die Staatsanwaltschaft der Deutschen Demokratischen StAG Republik (vom 23.5.1952) Strafgesetzbuch StGB Strafprozeßordnung StPO Verwaltungsarchiv VA Volkseigener Betrieb VEB Verwaltungsgerichtsgesetz VGG Verwaltungsgerichtshof VGR Verordnung VO Verordnungsblatt VOBl. Volkspolizei VP Volksrepublik VR Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer VStRL Vereinigung Volkseigener Betriebe VVB Vaterländischer Verdienstorden VVO Weimarer Reichsverfassung WRV Zivilgesetzbuch (der DDR) ZGB Zentralkomitee ZK Zentrale Kontrollkommission ZKK 2 Hoeck

Einleitung Die vorliegende Arbeit soll unter Berücksichtigung der nunmehr zugänglichen Archivbestände für den gesamten Zeitraum von der Kapitulation bis zur Wiedererlangung der deutschen Einheit die Entwicklung des Verwaltungsrechts in der SBZ und der DDR nachzeichnen. Als Arbeit im Bereich der Zeitgeschichte des Rechts sollen Rechtsentstehung, Rechtsvermittlung und Rechtsdurchsetzung im Kontext der jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Lage erforscht werden. I Die Arbeit soll untersuchen, welche Bedeutung dem Individualrechtsschutz im Verwaltungsrechtssystem in unterschiedlichen Entstehungsphasen zugebilligt wurde und welche - juristischen und historisch-politischen - Faktoren seine Entwicklung jeweils förderten oder hemmten. Die Betrachtung der Entwicklung des Verwaltungsrechts in der DDR geht von den ideologischen und rechtspolitischen Prämissen der Rechtsordnung des SED-Staats aus und soll deren Besonderheiten berücksichtigen und hervorheben. Von grundlegender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, daß die politische Führung der DDR den für das Verwaltungsrecht des liberalen Rechtsstaat elementaren Grundsatz der Gewalteneinheit als Instrument zur Verschleierung des jeweiligen Klassen- und Ausbeutungscharakters des Rechts im kapitalistischen Staat ablehnte und statt dessen die Sicherung der Rechte der Werktätigen durch "materielle Garantien", d.h. durch die politische, ökonomische und ideologische Gestaltung der sozialistischen Wirklichkeit, anstrebte. Die ideologische Rechtfertigung hierfür barg das marxistisch-leninistische Dogma der Interessenidentität und Interessenharmonie. Dieser Grundsatz besagte, daß in der sozialistischen Gesellschaft individuelle und gesellschaftliche Interessen grundsätzlich gleichgerichtet seien und Konflikte nur dann auftreten könnten, wenn das Individuum aufgrund mangelnder sittlicher Reife noch nicht in der Lage ist, seine "wohlverstandenen" (mit den gesamtgesellschaftlichen Erfordernissen identischen) Interessen zu artikulieren und wahrzunehmen. Nach der Theorie wären Konflikte dieser Art folglich nicht im Rahmen eines kontradiktorischen Verfahrens, sondern durch Erziehung und moralischen Zwang zu lösen. Ein kompletter Verzicht auf jegliches Instrumentarium zur Gewährleistung von Verwaltungsrechtsschutz hätte indes weder dem Rechtsbewußtsein der DDR-Bürger ausreichend Rechnung getragen noch die aus anderen I 2*

Vgl. Michael Stolleis, Rechtszeitgeschichte - Ein neues Fach?, S. 12.

20

Einleitung

(z. B. volkswirtschaftlichen) Gründen gebotene Kontrolle der objektiven Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns hinlänglich gewährleistet. Die Staats- und Parteiführung mußte also funktionale Äquivalente zur traditionellen Verwaltungsgerichtsbarkeit zur Verfügung stellen. Um veränderten gesellschaftlichen Grundlagen und Zielsetzungen gerecht zu werden, wurde das Instrumentarium zur Ausfüllung des "Rechtsschutzvakuums" in den unterschiedlichen Entwicklungsphasen der DDR jeweils unterschiedlich ausgestaltet und variiert. So läßt sich eine Zirkelbewegung beschreiben, welche in der SBZ mit dem durchaus ernsthaften und engagierten Bestreben bürgerlich-liberaler Rechtspolitiker zur Wiederanknüpfung an das verwaltungsgerichtliche System der Vorkriegszeit ihren Anfang nahm. Diese Entwicklung wird im ersten Teil dieser Arbeit dargestellt und in den historischpolitischen Kontext eingeordnet. Trotz des verhältnismäßig kurzen Bestehenszeitraums der SBZ verdient die Rechtsentwicklung in dieser Phase deswegen besondere Aufmerksamkeit, da sich in dieser Zeit aus der Abgrenzung zu bürgerlich-restaurativen Tendenzen erstmals ein originär kommunistischer Standpunkt in der Frage des subjektiv-öffentlichen Rechtsschutzes herausbildete, der für die weitere Entwicklung bestimmend werden sollte. Im Sinne der Formulierung von Joachim Rückert, Gegenstand der Rechtszeitgeschichte seien "die geronnenen Werte", also "die zu Recht, Gesetz, Dogmatik oder Rechtskritik gewordenen Werte im Zeitraum der neuesten Rechtsgeschichte,,2, soll in diesem Teil ein besonderer Schwerpunkt auf der Herausbildung der sozialistischen Justizkonzeption auf der Grundlage der marxistisch-leninistischen Ideologie liegen. Nachdem die Bemühungen um eine Anknüpfung an die deutsche Rechtstradition mit der Zementierung der Zweistaatlichkeit 1949 scheinbar endgültig vereitelt wurden, sah sich die Staats- und Parteiführung zu Beginn der fünfziger Jahre vor die Aufgabe gestellt, neue, der sozialistischen Ordnung entsprechende Instrumente der Verwaltungskontrolle zu etablieren. Neben der aus der Sowjetunion übernommenen "Gesetzlichkeitsaufsicht" durch die Staatsanwaltschaft wurde nunmehr das Eingabenrecht mehr und mehr zu einem universellen, die Rechtskultur der DDR im Bereich der öffentlichen Verwaltung prägenden Rechtsschutzinstrument ausgestaltet. Die Entwicklung des Eingabenrechts soll zunächst anhand seiner mehrfach geänderten gesetzlichen Grundlagen untersucht werden. Unter Berücksichtigung von Rechtstraditionen, deren Entstehung dem Betrachtungszeitraum vorgelagert sind (z.B. dem Petitionsrecht) sollen die jeweiligen Eingabengesetze3 in ihrem jeweiligen verfassungsmäßigen Kontext dargestellt werden. Ziel der Etablierung des Eingabenrechts war es, die überlieferte 2 Joachim Rückert, Juristische Zeitgeschichte, in: Stolleis, Juristische Zeitgeschichte - Ein neues Fach?, S. 25.

Einleitung

21

Frontstellung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren, die eine "Waffengleichheit" zwischen Bürger und Staat zu schaffen bestrebt ist, aufzulösen. Bereits die Beschwerdeordnung von 1953 stellte Vorschläge und Beschwerden, also konsultative und kontradiktorische Elemente gleichberechtigt (d. h. auch: ohne eine Differenzierung im Verfahren) nebeneinander. Immer wieder unternahm die Führung von Staat und Partei jedoch unterschiedlich ambitionierte Anläufe, dem Bürger subjektive Rechte auch gegen den Staat zuzubilligen und den Individualrechtsschutz durch Elemente externen Rechtsschutzes zu stärken. Erste Ansätze hierzu finden sich in internen Studien der Staatsführung in den fünfziger Jahren. Erstmals realisiert wurden derartige Pläne mit den Beschwerdeausschüssen bei den örtlichen Volksvertretungen, welche aufgrund des Eingabenerlasses von 1969 eingeführt wurden. Seit Beginn der achtziger Jahre wurde dann offen die Rückkehr zur Verwaltungsgerichtsbarkeit diskutiert, welche dann kurz vor dem Niedergang des SED-Regimes mit dem "Gesetz über die Zuständigkeit und das Verfahren der Gerichte zur Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen vom 14.12.1988" (GNV) ihren Abschluß fand. Unter Zugrundelegung der für die DDR verbindlichen marxistisch-leninistischen Theorie ist diese Art der Rechtsentwicklung insofern erstaunlich, als der Historische Materialismus eine "gesetzmäßige Gesellschaftsentwicklung" beschreibt, an dessen Ende der Staat "absterben" und die antagonismenfreie kommunistische Zukunftsgesellschaft entstehen sollte. 4 Für den Bereich des Verwaltungsrechts ließe sich somit der Theorie nach annehmen, daß kontradiktorische Elemente im Bereich des Verwaltungsrecht (also Verwaltungsrechtsschutzinstrumente wie die verwaltungsgerichtliche Klage, das förmliche Rechtsmittel, die Beschwerde) zunehmend an Bedeutung verloren hätten und durch konsultative Elemente (vor allem die Eingabe in den Formen des Vorschlags, der Anregung, der Selbstverpflichtung) verdrängt worden wären. Wie bereits angedeutet, nahm die Verwaltungsrechtsentwicklung jedoch die entgegengesetzte Richtung. Dies läßt darauf schließen, daß sich die von der Staats- und Parteiführung vorgegebene verwaltungsrechtliche Konzeption unter Zugrundelegung ihrer eigenen Kriterien zumindest zeitweise als dysfunktional erwies und dies im Einzelfall den Interpretationsrahmen der marxistisch-leninistischen Lehrsätze beeinflußte. Ein Grund für die mangelnde Funktionsgerechtigkeit könnte darin gelegen haben, daß sich das gesellschaftliche Bewußtsein der Bürger nicht in dem von der Parteiführung vorausgesetzten Sinne veränderte. Dies soll anhand der internen Eingaben3 Zu nennen sind die Vorschlags- und Beschwerdeordnung von 1953, die Eingabenerlasse des Staatsrats von 1961 und 1969 sowie das Eingabengesetz von 1975. 4 Erk Volkmar Heyen, Vorn Zugang zur Verwaltungsrechtsgeschichte der DDR (1989), in Ulrich Mohnhaupt (Hrsg.): Rechtsgeschichte in den beiden deutschen Staaten (1988-1990) - Beispiele, Parallelen, Positionen (1991) S. 536 (540).

22

Einleitung

berichte und -analysen der obersten Staatsorgane empirisch untersucht werden. Darüber hinaus ist im Hinblick auf die "gesetzmäßige" Entwicklung des Verwaltungsrechts die Frage zu untersuchen, inwieweit in der Praxis auch externe Faktoren (z. B. Stand der Deutschlandpolitik, politische Entwicklung in den anderen Blockstaaten, Zustand der Volkswirtschaft) die Interpretation der marxistisch-leninistischen Grundsätze beeinflußten, mit anderen Worten, inwieweit die Staatsführung bei der Erkenntnis der jeweiligen "gesetzmäßigen Entwicklungsbedingungen" zum Zwecke des Machterhalts subjektive Elemente in ihre Feststellungen einfließen ließ. Bei der Betrachtung der Wechselwirkungen zwischen politischen Rahmenbedingungen, verwaltungsrechtswissenschaftlichen Vorgaben und der Ausgestaltung des verwaltungsrechtlichen Normenmaterials werden Konstanten und wiederkehrende Phänomene deutlich. So läßt sich - ganz abseits aller ideologischen und dogmatischen Erwägungen - erkennen, daß die Haltung der SED zur Institution der Verwaltungsgerichtsbarkeit offenbar ganz maßgeblich von den Beziehungen zum westlichen Teil Deutschlands beeinflußt wurde. Je angespannter die deutschlandpolitische Situation war, desto stärker war offenbar das Bedürfnis der SED-Führung, sich von der Bundesrepublik auch institutionell abzugrenzen. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der Babelsberger Konferenz von 1958. In einer besonders angespannten Situation des Systemwettbewerbs erklärte Walter Ulbricht, daß die Verwaltungsrechtswissenschaft der DDR bürgerlich-restaurative Tendenzen aufweise, und richtete sein bekanntes Verdikt gegen sie. Auch in der Folgezeit war die DDR stets darauf bedacht, Verbesserungen im Bereich des Verwaltungsrechtsschutzes keinesfalls als Annäherung an das westliche System erscheinen zu lassen. Das Abgrenzungsbedürfnis gegenüber der Bundesrepublik und die Verfemung der verwaltungsrechtswissenschaftlichen Forschung hatten zur Folge, daß die DDR gegenüber anderen sozialistischen Staaten im Hinblick auf die Gewährung von Individualrechtsschutz zunehmend in Rückstand geriet und die Reformoptionen des marxistischleninistischen Systems nicht ausschöpfte. In liberaleren Entwicklungsphasen war die SED-Führung dagegen durchaus bereit, Zugeständnisse an den Individualrechtsschutz zu machen. Ein Beispiel hierfür sind die aufgrund des Eingabenerlasses von 1969 eingerichteten Beschwerdeausschüsse. Bei ihrer Konzeption rächte sich die Auslöschung der Verwaltungsrechtswissenschaft. Die SED-Führung war nun gezwungen, den "Verwaltungsrechtsschutz aus der Retorte" (Begriff von Klaus Westen) zu entwickeln und erschuf eine halbherzige Institution des externen Verwaltungsrechtschutzes. Interne Kontrollberichte insbesondere der Abteilung "Staat und Recht" des Zentralkomitees der SED belegen, daß die konzeptionellen Mängel in der Praxis zur nahezu vollständigen Wirkungslosigkeit der Ausschüsse führten.

Einleitung

23

Der dritte Teil der Arbeit stellt die "Renaissance des Verwaltungsrechts" in den siebziger und achtziger Jahren dar. Schrittweise unternahm die seit Anfang der siebziger Jahre wieder offiziell zugelassene Verwaltungsrechtswissenschaft den Versuch der Errichtung eines sozialistischen Verwaltungsrechtssystems der DDR. Die Tatsache, daß die Staatsführung diese Diskussion zwar zuließ, die Forschungsergebnisse jedoch keinen Eingang in die Gesetzgebung fanden, kennzeichnet die Rolle der Verwaltungsrechtswissenschaft in der DDR. Diese ging zwar häufig über die Reflexion und wissenschaftliche Rechtfertigung rechtspolitischer Maßnahmen hinaus und lieferte durchaus eigenständige Ergebnisse. Diese hatten jedoch kaum Aussicht auf Realisierung. Auch als sich die Staatsführung der DDR 1988 auf internationalen Druck hin entschloß, die Verwaltungs gerichtsbarkeit wiedereinzuführen, schlug daher nicht die Stunde der Verwaltungsrechtswissenschaft. Die wissenschaftlichen Entwürfe blieben unrealisiert. Statt dessen wurde mit dem GNV eine höchst lückenhafte normative Grundlage geschaffen, die unter dem Gesichtspunkt des Rechtsschutzes vor allem daran krankte, daß die nunmehr vorgesehene Kontrolle von Verwaltungsakten ohne gesetzliche Normierung des Verwaltungsverfahrens weitgehend ins Leere lief. Aufschlußreich sind die Materialien zum GNV auch insofern, als sie die These nahelegen, daß zumindest in der Endphase der DDR weniger ideologische als wirtschaftliche Aspekte den Umfang des Verwaltungsrechtsschutzes in der DDR limitierten. So kam die Gesetzgebungskommission in einer internen Studie zu dem Ergebnis, daß der Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit in der DDR die Anzahl der Gerichtsverfahren bei den Kreisgerichten verdreifachen würde. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten verhinderte die Realisierung der zum Teil bereits eingeleiteten organisatorischen und auch ideologischen Umwälzungen an den Hochschulen und im Bereich der Justiz.

Erster Teil

Die Sowjetische Besatzungszone 1. Abschnitt

Justizpolitische Rahmenbedingungen und Institutionen der Rechtssetzung I. Der Alliierte Kontrollrat Nach der Niederlage des Deutschen Reichs im Zweiten Weltkrieg übernahmen die alliierten Großmächte die oberste Regierungsgewalt in Deutschland. Die Prinzipien der alliierten Besetzung Deutschlands beruhten auf den Beschlüssen der Konferenzen von Teheran (November/Dezember 1943), Jalta (Februar 1945) und Potsdam (Juli/August 1945). Als Teil der von ihnen in Anspruch genommenen umfassenden Souveränitätsrechtel kam den vier Siegermächten auch das Gesetzgebungsrecht zu, welches fortan "für I Unmittelbar nach Kriegsende herrschte zunächst Unklarheit über den völkerrechtlichen Charakter des durch die Kapitulation geschaffenen Status. Diese "Souveränitätsdiskussion" welche um die Anwendbarkeit der Begriffe occupatio bellica, debellatio und occupatio interveniens kreiste, wurde vor allem im Hinblick auf die Geltung der Haager Landkriegsordnung geführt. Hätte man eine schlichte occupatio bejaht, wären beispielsweise bleibende Rechtsänderungen gemäß Art. 43 der Haager Landkriegsordnung verboten gewesen. Ursprünglich gingen die USA (Hans Kelsen) vom Verlust der deutschen Souveränität aus, später setzte sich die Ansicht durch, daß die deutschen Länder Souveränitätsträger seien. In der UdSSR nahm man zunächst an, daß das deutsche Volk der Souverän sei, dieser Standpunkt wurde jedoch später mit der Argumentation revidiert, daß keine "Souveränität ohne Staat" möglich sei. Sodann bildete sich unter Staatsrechtlern die These vom "originären Rechtscharakter" der Besetzung Deutschlands heraus, der dadurch gekennzeichnet sei, daß die das Besatzungsrecht regelnde Haager Konvention von 1907 aufgrund der bedingungslosen Kapitulation (unconditional surrender) keine Anwendung finde. (Vgl. Jan Foitzik, Sowjetische Militäradministration in Deutschland 1945-1949 Struktur und Funktion, S. 31 f., m. w. N.) Der Völkerrechtler Alfons Steiniger prägte hierfür den Begriff der occupatio interveniens als "Revolution von außen", also nicht als politisches Mittel zum militärischen Zweck, sondern als eigentliches Kampfziel. Für den völkerrechtlichen Status der Siegerrnächte in bezug auf Deutschland ergab sich hieraus, daß sie nicht als condomini (als einstweilige Kolonialherren neuen Stils), sondern als concuratores (als "gemeinschaftliche Gebrechlichkeitspfleger" mit der Einheit eines demokratisch erneuerten Deutschlands als

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alle Deutschland als ein Ganzes betreffende Angelegenheiten,,2 gemeinschaftlich durch den von ihnen am 5. Juni 1945 gebildeten Alliierten Kontrollrat ausgeübt wurde. In Hinsicht auf die Reorganisation des Justizwesens enthielt das Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 konkrete Festlegungen zur Entwicklung des Rechts und der Rechtspflege in Deutschland, deren Verwirklichung durch Befehle, Gesetze und Proklamationen dem Alliierten Kontrollrat auf der Grundlage jeweils einstimmiger Beschlüsse der vier in ihm vertretenen Oberbefehlshaber oblag. Neben Bestimmungen, die sich auf die Entnazifizierung des Normenbestandes 3 und des Justizpersonals4 bezogen, normierte das Potsdamer Abkommen folgende Vorgaben in bezug auf die Restrukturierung des Gerichtswesens: "Das Gerichtswesen wird entsprechend den Grundsätzen der Demokratie und der Gerechtigkeit auf der Grundlage der Gesetzlichkeit und der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz ohne Unterschied der Rasse, Nationalität und der Religion organisiert werden."

In der Rechtspraxis war es bereits bei Kriegsende zu einem faktischen Stillstand der Rechtspflege gekommen, die formelle Schließung erfolgte dann auf der Grundlage der Proklamation Nr. 1 des Kontrollrats. 5 Bis zur Neuregelung des Gerichtswesens in den besetzten deutschen Gebieten galt das Gesetz Nr. 2 der Militärregierung, welches in seinem Artikel 1 jegliche Rechtsprechungstätigkeit deutscher Gerichte bis auf weiteres unterband. Ausdrücklich suspendiert wurden die Oberlandesgerichte und das Reichsverwaltungsgericht sowie alle diejenigen Gerichte, welche ihnen als Rechtsmittel- oder Aufsichtsinstanz unterstanden. Mit der Proklamation Nr. 3 vom 20. Oktober 1945 erließ der Alliierte Kontrollrat "Grundsätze für die Umgestaltung der Rechtspflege,,6. Die Proklamation ging von der Feststellung aus, daß es sich bei der nationalsozialistischen Justiz um ein Terrorsystem gehandelt habe, das mit dem Sieg der alliierten Mächte abgeschafft worden sei. An die Stelle der faschistischen Terrorjustiz müsse eine Rechtspflege "endgültigem Pflegschaftsziel") ihre Herrschaft ausübten. (Vgl. Alfons Steiniger, in: Neue Justiz 1947, S. 146-150, 148). 2 So die Formulierung in den gemeinsamen "Feststellungen" der militärischen Oberbefehlshaber der in Deutschland stehenden Streitkräfte der vier Mächte, abgedruckt im Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland, hrsg. vom Alliierten Sekretariat Berlin 1945, S. 10. 3 In Abschnitt A ("Politische Grundsätze") bestimmte Ziffer 4) die Abschaffung aller Gesetze, welche die Grundlagen für das Hitlerregime geliefert hatten oder als Grundlage einer Diskriminierung auf Grund der Rasse, Religion oder politischen Überzeugung gedient hatten. 4 Ziffer 6) der "Politischen Grundsätze" legte fest, daß alle aktiven NSDAP-Mitglieder aus öffentlichen Ämtern zu entfernen seien. 5 Vgl. Amtsblatt der Militärregierung Nr. I S. 1. 6 ABI. KR Nr. 1 S. 22.

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treten, "die sich auf die Errungenschaften der Demokratie, Zivilisation und Gerechtigkeit gründet". Die Proklamation verbot die weitere Anwendung nationalsozialistischer Rechtsprinzipien und verhalf rechtsstaatlichen Grundsätzen wieder zur Geltung: Gleichheit vor dem Gesetz, Gewährleistung der Rechte des Angeklagten, Bestrafung nur auf gesetzlicher Grundlage, Verbot der Analogie im Strafrecht, Sicherung der Unabhängigkeit des Richters in der Rechtsprechung und Zugang zum Richteramt ohne Rücksicht auf Rasse, gesellschaftliche Herkunft oder Religion für alle Personen, sofern sie die Grundsätze der Demokratie anerkennen. Auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung erging am 30. Oktober 1945 das Gesetz Nr. 47 , worin der Kontrollrat bestimmte, daß die Umgestaltung der deutschen Gerichte grundsätzlich in Übereinstimmung mit dem alten Gerichtsverfassungsgesetz in der Fassung vom 22. März 1924 erfolgen sollte. Die Gliederung der ordentlichen Gerichte in Amts-, Land- und Oberlandesgerichte wurde wiederhergestellt. Jedoch wurde weder das Reichsgericht erwähnt, noch ging das Gesetz auf das weitere Schicksal der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland ein. Erst am 10. Oktober 1946 schuf der Alliierte Kontrollrat mit dem Gesetz Nr. 36 die Grundlage für die Reinstallation der Verwaltungsgerichtsbarkeit8 und setzte damit den Schlußstein seines umfassenden Programms zur Erneuerung der deutschen Justiz. Die Einzelgesetze wurden zwar mit dem Geltungsanspruch für ganz Deutschland erlassen, zu ihrer Wirksamkeit bedurften sie jedoch der Transformation durch die jeweiligen Zonenbefehlshaber. Dieser Umstand fiel um so mehr ins Gewicht, als vor dem Hintergrund zunehmender ideologischer Rivalität und machtpolitischer Divergenzen lediglich in Hinblick auf die Grundzüge der Deutschlandpolitik Einigkeit zwischen den Besatzungsmächten herrschte. 9 Da über die konkreten Maßnahmen, mit deren Hilfe diese Ziele verwirklicht werden sollten, eine Einigung nicht erzielt werden konnte, spiegelten die Ausführungsbestimmungen zu den vom AKR erlassenen Gesetzen die Präferenzen der jeweiligen Besatzungsmacht in bezug auf die Neugestaltung Deutschlands wider. Für die Sowjetunion standen die Erweiterung ihres Macht- und Einflußbereiches sowie die Sicherstellung umfangreicher Reparationen im Vordergrund. Eine zentrale Rolle bei der Verwirklichung der sowjetischen Deutschlandpolitik sollte dabei den deutschen Kommunisten unter Führung ihrer in Moskau geschulten und auf einen KPdSU-konformen Kurs eingeschworenen Eliten (sog. Moskau-Kader) zukommen. Zunächst behielt die Sowjetrnacht indes die Macht in eigenen ABI. KR Nr. 2 S. 26. Hierzu die Ausführungen im dritten Abschnitt unter Ziffer I. 9 Hierzu zählten: Demilitarisierung, Entnazifizierung, Entflechtung der Konzerne sowie Dezentralisierung und Demokratisierung der Macht (vgl. Klaus Schroeder, Der SED-Staat - Geschichte und Strukturen der DDR, S. 7). 7

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Händen. Dort sollte sie so lange verbleiben, bis sich die Möglichkeiten einer langfristigen ökonomischen und politischen Einflußnahme der Sowjetunion auf Gesamtdeutschland geklärt hatten. 1O Instrument der Durchsetzung des politischen Willens der Sowjetunion in ihrem Territorium war die SMAD.

11. Die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) Durch den am 9. Juni 1945 ausgegebenen Befehl Nr. 1 des Marschalls Georgi Schukow ll wurde die "Sowjetische Militäradministration in Deutschland" (SMAD) errichtet. Schukow leitete die SMAD bis zu seiner Ablösung durch Marschall Wassili Sokolowsky, der selbst wiederum im März 1949 von Armeegeneral Wassili Tschuikow abgelöst wurde. 12 Die SMAD bestand bis zur Gründung der DDR im Jahre 1949, in deren Nachgang sie in die Sowjetische Kontrollkommission (SKK) umgewandelt wurde. 13 Befehlsgemäß hatte die SMAD die Aufgabe, die Einhaltung der Bedingungen, die sich aus der bedingungslosen Kapitulation für Deutschland ergaben, zu kontrollieren, die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) in Deutschland zu verwalten und die vereinbarten Beschlüsse des Kontrollrats zu grundsätzlichen, militärischen und ökonomischen Fragen durchzusetzen. 14 Damit übernahm sie die nach der deutschen Kapitulation am 8. Mai \0 Maximalziel der Sowjets war die Kontrolle über Gesamtdeutschland. In diesem Sinne weist Schroeder (wie vorangehende Anmerkung) darauf hin, daß Stalin noch am 9. Mai 1945 offiziell keinen Anlaß sah, "Deutschland zu zerstückeln oder zu zerteilen", intern jedoch (bereits 1944 gegenüber dem Stellvertreter Titos) erklärt hatte: "Dieser Krieg ist nicht wie in der Vergangenheit; wer immer ein Gebiet besetzt, erlegt ihm auch sein eigenes gesellschaftliches System auf. Jeder führt sein eigenes System ein, soweit seine Armee vordringen kann. Es kann gar nicht anders sein." II Marschall Georgi Konstantinowitsch Schukow wurde fernmündlich bereits am 7. Mai 1945 durch Marschall (später Generalissimus) Jossif Wissarionowitsch Stalin zum Obersten Chef der sowjetischen Militärverwaltung in Deutschland bestimmt, am 6. Juni 1945 erfolgte die Bestätigung durch eine Anordnung des Rates der Volkskommissare der UdSSR über die Bildung der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland, welche die inhaltliche Grundlage des Befehls Nr. 1 bildete. 12 Vgl. Thomas Lorenz. Die Deutsche Zentralverwaltung der Justiz (DJV) und die SMAD in der Sowjetischen Besatzungszone 1945-49, in: Hubert Rottleuthner (Hrsg.), Die Steuerung der Justiz in der DDR, S. 135-165 (142). 13 Der Kriegszustand zwischen der Sowjetunion und Deutschland wurde erst am 25. Januar 1955 durch den Obersten Sowjet der UdSSR für beendet erklärt. Der IV. Haager Konvention (von 1907), die grundlegende völkerrechtliche Bestimmungen über das Besatzungsrecht enthielt, war die Sowjetunion nie beigetreten. (Foitzik. wie Anm. 1, S. 31 f.). 14 Schroeder (Anm. 9), S. 18 f. (m. w. N.).

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1945 vakant gewordene oberste Regierungsgewalt in der sowjetisch besetzten Zone zunächst selbst. 15 Das Recht, "die Funktion der obersten Gewalt in der Sowjetischen Besatzungszone auszuüben", delegierte Marschall Schukow durch seinen Befehl Nr. 110 vom 22.10.1945 auf die Landesbzw. Provinzialregierungen l6 , welche fortan "in Anbetracht des gegenwärtigen Fehlens einer zentralen deutschen Regierung" in vollem Umfange die Gesetzgebungsgewalt ausüben sollten. 17 Die Landesregierungen waren somit befähigt, im Rahmen der Gesetze und Befehle des Kontrollrats und der SMAD Gesetze sowie Verordnungen mit Gesetzeskraft, auf den Gebieten der gesetzgebenden, richterlichen und vollstreckenden Gewalt zu erlassen. 18 Infolge dieses nach Art und Ausmaß als "Diktaturgewalt" bezeichneten Machtpotentials 19 unterstand der gesamte Gesetzgebungsprozeß in dieser Zeit den Präsidenten der Landes- bzw. Provinzialverwaltungen20 , freilich in Ebenda. Im Juli 1945 hatte die SMAD die in Mecklenburg-Vorpommem, Sachsen, Thüringen, der Mark Brandenburg und der Provinz Sachsen gegründeten Landes- und Provinzialverwaltungen bestätigt, bei denen eigene Justizverwaltungen und später Justizministerien entstanden. Präsidenten der Landesverwaltungen wurden die Sozialdemokraten Rudolf Friedrichs (Sachsen) und Wilhelm Höcker (Mecklenburg) sowie der parteilose Rudolf Paul (Thüringen). Den Provinzialverwaltungen saßen in Brandenburg der Sozialdemokrat Karl Steinhoff vor und in Sachsen-Anhalt der Liberaldemokrat Erhard Hübener. Bei der personellen Besetzung der neuen Verwaltungen schien die SMAD insgesamt das Parteienspektrum weitgehend zu berücksichtigen, wobei die bürgerlichen Parteien freilich unterrepräsentiert blieben. (V gl. im einzelnen Hermann Weber, Geschichte der DDR, S. 55 f.). 17 "Rechtsgutachten des Präsidenten des Thüringischen Oberverwaltungsgerichts, Dr. Hellmuth Loening an den Ministerpräsidenten des Landes Thüringen Dr. Rudolf Paul" (6. Februar 1947), BArch DP 1, BI. 361. 18 Ebenda. 19 Vgl. Hans-Andreas Schänfeldt und Heinz Mohnhaupt, Grundzüge der Entwicklung von Gesetzgebung und Rechtsprechung im Prozeß der gesellschaftlichen Transformation der SBZ/DDR von 1945 bis 1960 - Einführung in die Rechtsentwicklung mit Quellendokumentation, in: Mohnhaupt u. a. (Hrsg.): Normdurchsetzung in osteuropäischen Nachkriegsgesellschaften, S. 3-187 (38). 20 Die Differenzierung in Landes- und Provinzialregierungen, die der SMAD geläufig war und von ihr bei der Formulierung ihrer Befehlen auch berücksichtigt wurde, erklärt sich aus dem Sonderstatus der ehemals preußischen Provinzen: Die 1815 auf Druck Napoleons an Preußen abgegebenen Gebiete bildeten zunächst zusammen mit der Altmark die Provinz Sachsen, einen preußischen Landesteil. Hierin lag Anhalt, das 1863 zu einem eigenständigen Herzogtum avancierte. Unter der Herrschaft der Nationalsozialisten wurde dann der Freistaat Anhalt zusammen mit Braunschweig verwaltet. Aus der Bildung der Landes- und Provinzial verwaltungen im Juli 1945 ging dann der in der SBZ liegende Teil als "Provinz Sachsen" hervor. Somit bestanden in der SBZ ursprünglich die Länder Sachsen, Mecklenburg und Thüringen sowie die Provinzen Brandenburg und Sachsen-Anhalt. Im Zusammenhang mit der Erörterung der Landesordnungen wurde 1946 von Walter Ulbricht angeregt, "die Liquidierung Preußens abzuschließen und die früheren preußischen Pro15

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den Grenzen der Vorgaben der Okkupationsmacht. Zwar beschlossen die Landes- und Provinzialregierungen beispielsweise mit der Bodenreform und der entschädigungslosen Enteignung von Nazi- und Kriegsverbrechern Gesetze, die einen tiefgreifenden Strukturwandel einleiteten; dennoch blieben sie als "Vollzugsorgane der Besatzungsmacht" in ihren politischen Entscheidungsmöglichkeiten durch die Vorgaben der Besatzungsmacht beschränktY Nachdem Ende 1946 die ersten und einzigen halbwegs freien Wahlen nach dem Verhältniswahlrecht auf dem Gebiet der SBZ stattgefunden hatten, gingen die Gesetzgebungsbefugnisse auf die gewählten Landtage über. 22 Zunächst mußte indes eine Notverwaltung in der sowjetischen Okkupationszone installiert werden. Die wichtige Aufgabe der Koordinierung und Angleichung von Gesetzgebung und Verwaltungspraxis in den ihr zugehörigen Ländern und Provinzen mußte auch institutionell sichergestellt werden und zwar grundsätzlich ohne daß damit zugleich eine politische Vorentscheidung getroffen werden sollte. Leitlinie der Politik der Sowjetunion war es, eine eindeutige Zuordnung zumindest der Ostzone zum kommunistisch beherrschten Osteuropa vorzunehmen, gleichzeitig aber den sowjetischen Einfluß auf Gesamtdeutschland zu erweitern23 und insofern die deutsche Frage zunächst offenzuhalten. Man kann mit einiger Sicherheit davon ausgehen, daß der sowjetischen Führung an einem zentralisierten Deutschland lag?4 Um dieses Ziel zu erreichen, wurde von sowjetischer Seite zunächst darauf verzichtet, die marxistische Programmatik als Grundlage der politischen Umgestaltung der SBZ zu deklarieren. 25 Statt dessen entschloß sich Stalin bereits am 26. Mai vinzen als Länder zu bezeichnen". Die Provinzen Mark Brandenburg und SachsenAnhalt sollten entsprechend in "Land Brandenburg" und "Land Mitteldeutschland" umbenannt werden. (V gl. Gerhard Braas, Die Entstehung der Länderverfassungen in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, S. 60, m. w.N.) Die SMAD machte de facto keinen Unterschied in der Behandlung von Ländern und Provinzen, sondern erkannte beide als gleichwertige Gebietskörperschaften an. Das Kontrollratsgesetz Nr. 46 vom 25. Februar 1947 erklärte dann, daß der Staat Preußen aufgehört habe zu bestehen - mit der Folge, daß aus der (preußischen) Provinz Sachsen das Land Sachsen-Anhalt wurde, während aus der anderen in der SBZ belegenen Provinz, der Mark Brandenburg, das Land Brandenburg hervorging. (V gl. Lorenz [Anm. 12], S. 139, sowie Weber [Anm. 16], S. 55). 21 Braas (vorangehende Anmerkung), S. 41. 22 So bestimmte es der SMAD-Befehl Nr. 332 vom 27.11.1946. Bei den vorhergehenden Landtagswahlen erhielt die SED durchschnittlich 47% der Stimmen. Dagegen erzielte sie bei den gleichzeitigen Wahlen in Groß-Berlin lediglich knapp 20%. Nach diesem Ereignis wurde nur noch über "Blocklisten" abgestimmt. 23 Schroeder (Anm. 9), S. 23. 24 Vgl. Braas (Anm. 20), S. 15. 25 Wenngleich die Installation des eigenen Systems in Deutschland als Fernziel fortbestand und sich die sowjetische Deutschlandpolitik diesbezüglich "alle Alternativen offenhalten" wollte, blieb sie doch in den ersten Jahren nach 1945 bemüht,

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1. Teil: Die Sowjetische Besatzungszone

1945, zur Überraschung der Westalliierten und der deutschen Politiker6 , "antifaschistische Parteien" sowie "freie Gewerkschaften und Organisationen" zuzulassen. 27 Ulbricht erläuterte die hinter diesem Vorgang stehende Strategie mit den Worten: "Es muß demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben. ,,28 Folgerichtig verzichtete die sowjetische Besatzungsmacht auch zunächst darauf, den Grundsatz der "Diktatur des Proletariats", verkörpert in der Alleinherrschaft der Partei der Arbeiter- und Bauemklasse, offen zu Tage treten zu lassen. Als Camouflage (Klaus Schroeder) diente der SMAD ein sogenanntes "antifaschistisch-demokratisches Bündnis", welches auch nichtkommunistische Parteien einbezog, namentlich die LDP, die CDU und die SPD?9 Wilhelm Pieck stellte in einem "eine Deutschlandlösung im Einvernehmen mit den Siegermächten mindestens nicht zu verbauen". (Vgl. Weber, wie Anm. 16, S. 21 f.) Hierbei dürfte in Anbetracht der Schwere der sowjetischen Kriegsverluste die Erwartung von Reparationsleistungen aus dem Ruhrgebiet eine vorrangige Rolle gespielt haben. (Weber, a. a. 0.). 26 Weber (Anm. 16), S. 37. 27 Umgesetzt wurde diese Entscheidung durch Befehl Nr. 2 der SMAD, den diese unmittelbar nach ihrer Gründung am 10. Juni 1945 erließ. Hierin heißt es: ,,1. Auf dem Territorium der Sowjetischen Okkupationszone in Deutschland ist die Bildung und Tätigkeit aller antifaschistischen Parteien zu erlauben, die sich die endgültige Ausrottung der Überreste des Faschismus und die Festigung der Grundlage der Demokratie und der bürgerlichen Freiheiten in Deutschland und die Entwicklung der Initiative und Selbstbetätigung der breiten Massen der Bevölkerung in dieser Richtung zum Ziel setzen. 2. Der werktätigen Bevölkerung der Sowjetischen Okkupationszone in Deutschland ist das Recht zur Vereinigung in freien Gewerkschaften und Organisationen zum Zweck der Wahrung der Interessen und Rechte der Werktätigen zu gewähren. 3. Alle in den Punkten 1 und 2 genannten antifaschistischen Parteiorganisationen und freien Gewerkschaften sollen ihre Vorschriften und Programme der Tätigkeit bei den Organen der städtischen Selbstverwaltung und beim Militärkommandanten registrieren lassen und ihnen gleichzeitig eine Liste der Mitglieder ihrer führenden Organe geben. 4. Es wird bestimmt, daß für die gesamte Zeit des Okkupationsregimes die Tätigkeit aller in Punkt 1 und 2 genannten Organisationen unter der Kontrolle der Sowjetischen Militäradministration und entsprechend den von ihr gegebenen Instruktionen vor sich gehen wird." (Zit. nach Weber [Anm. 16], S. 37). 28 Wolfgang Leonhardt, Das kurze Leben der DDR, S. 24. 29 Die Ost-SPD wurde als zweite Partei in der SBZ konzessioniert. Die Initiative zu einer Verschmelzung mit der KPD zu einer "Einheitspartei der Arbeiterklasse" ging ursprünglich von der SPD selbst aus, die hiermit eine strikte Abgrenzung gegenüber dem "bürgerlichen" Teil des Parteienspektrums manifestieren wollte. Diesem Bestreben konnte sich die Führung der KPD zunächst nicht anschließen, da dies der intendierten Sowjetisierungspolitik inhaltliche und organisatorische Hemmnisse entgegengesetzt hätte. Zu einer Verbindung entschloß sich die KPD erst dann - gegen den erbitterten Widerstand der West-SPD - als sie ihre Suprematie durch den wachsenden Einfluß der Ost-SPD bedroht sah. Die formelle Vereinigung erfolgte dann auf einem gemeinsamen Parteitag am 21.122. April 1946.

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von der sowjetischen Führung initiierten programmatischen Aufruf fest, daß "der Weg, Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen, falsch wäre, denn dieser Weg entspricht nicht den gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen in Deutschland"?O Statt dessen erklärten die Kommunisten ihre Bereitschaft zur Aufrichtung eines "antifaschistischen, demokratischen Regimes, einer parlamentarisch-demokratischen Republik mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das Volk"?! Ziel der Bildung dieser sogenannten "Einheitsfront" war die Vorspiegelung einer ausdifferenzierten pluralistischen Parteienlandschaft, deren freiheitliche Ausstrahlung die Akzeptanz gerade auch im Westen Deutschlands erhöhen sollte, um somit die Chance auf eine Gesamtdeutschland unter sozialistischer Führung zu erhalten. 32 Hoffnungen der "bürgerlichen" Blockparteien, eigenen Vorstellungen innerhalb des Bündnisses aufgrund des Konsensprinzips Geltung verschaffen zu können, zerschlugen sich jedoch sehr bald, sei es durch die obligatorische Vorabstimmung zwischen KPD und SPD in politischen Grundsatzfragen, sei es durch direktes zensorisches Eingreifen der SMAD bei Parteiaktivitäten jeglicher Art?3

111. Die Deutsche Zentralverwaltung für Justiz (DJV) 1. Entstehungsgeschichte

Bereits sechs Tage vor Abschluß der Potsdamer Gipfelkonferenz der Alliierten, am 27. Juli 1945, zeichnete sich ab, daß das Ziel einer deutschen Zentralregierung auf absehbare Zeit nicht zu realisieren sein würde. 34 Hierauf reagierte Schukow, indem er ungeachtet der Vorbehalte der westlichen Siegermächte35 in Befehl Nr. 17 der SMAD die Einrichtung von insgesamt 30 Zit. nach Schroeder (Anm. 9), S. 23. In diesem Sinne äußerte sich später auch Walter Ulbricht, indem er bestätigte, daß "das Politbüro der KPdSU uns ausdrücklich darauf aufmerksam machte, daß wir in Deutschland nicht die Formen der Sowjetrnacht und andere sowjetische Formen einfach übernehmen können." (Zit. nach Weber [Anm. 16], S. 38). 31 Zit. nach Schroeder, (Anm. 9), S. 33. 32 Schroeder, ebenda. 33 Schroeder, ebenda. 34 Reike Amos, Kommunistische Personalpolitik in der lustizverwaltung der SBZIDDR (1945-1953) - Vom liberalen lustizfachmann Eugen Schiffer über den Parteifunktionär Max Fechner zur kommunistischen luristin Hilde Benjamin, in: Gerd Bender und Ulrich Falk (Hrsg.), Recht im Sozialismus - Analysen zur Normdurchsetzung in osteuropäischen Nachkriegsgesellschaften (1944/45-1989), Band 11: lustizpolitik, S. 109-145 (110). 35 Diese Vorbehalte waren im einzelnen unterschiedlich motiviert: Frankreich war dagegen, da es den Gedanken einer Zentralisierung schon grundsätzlich ablehnte. England und die USA befürchteten, daß das einem gemeinsamen Beschluß voraus-

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1. Teil: Die Sowjetische Besatzungszone

elf Zentral verwaltungen anordnete. 36 Die Zentral verwaltungen arbeiteten nach den Direktiven der SMAD, waren dieser verantwortlich und hatten grundsätzliche keine eigenen Gesetzgebungsbefugnisse. 37 Ihre wichtigste Aufgabe bestand in der Koordinierung der Tätigkeit der Landes- und Provinzialverwaltungen. Befehlsgemäß wurden die Leiter der einzelnen Fachabteilungen der sowjetischen Militäradministration instruiert, den Verwaltungsaufbau in personeller und inhaltlicher Hinsicht zu konzipieren. 38 Für die Justiz fiel diese Aufgabe somit J. N. Karrassew zu, der als Jurist und Universitätsprofessor gleichzeitig als Vertreter der Sowjetunion im Rechtsdirektorium des Alliierten Kontrollrats fungierte. 39 Die auf der Grundlage des Befehls Nr. 17 am 27. Juli 1945 gegründete Deutsche Zentralverwaltung für Justiz (DJV) hatte als eine Art Mittlerin zwischen Besatzungsmacht und örtlichen Verwaltungsorganen einerseits die Aufgabe, die Oberaufsicht über das gesamte Justizwesen auszuüben, und sollte andererseits die koordinierte Ausübung des auf die Landes- und Provinzialregierungen delegierten Gesetzgebungsrecht im Bereich der Justiz gewährleisten. Die Organisationsstruktur der Justizverwaltung wurde ebenso wie ihr Aufgabenbereich in einem "Vorläufigen Statut" festgelegt, welches von der SMAD bestätigt wurde. 4o Das Primärziel aller Zentralverwaltungen41 bestand jedoch zunächst in der Errichtung einer Notverwaltung.

eilende Engagement der Sowjets zu deren Beherrschung der selbstkonzipierten Gremien führen würde. Diese Befürchtung bestand wohl nicht zu Unrecht. Wahrscheinlich entsprach es der sowjetischen Strategie, bis zum Ende der Konferenz funktionierende Zentralverwaltungen vorzuweisen, um ein fait accompli zu schaffen und die Westalliierten zur Anerkennung einer stark kommunistisch beeinflußten Institution zu bewegen. So war es zuvor bereits beim Aufbau des Berliner Magistrats im Mai 1945 geschehen. (Vgl. Weber, wie Anm. 16, S. 56). 36 Nach anderer Auffassung sollten die Zentralverwaltungen den Grundstock für die erst einige Tage später (im Potsdamer Abkommen) beschlossenen "zentralen deutschen Verwaltungsabteilungen" bilden. Gegen diese Auffassung spricht, daß sie bereits erheblich differenzierter ausgelegt waren und vor allem als Hilfsorgane der zentralen Sowjetischen Militäradministration agierten. (V gl. Braas, wie Anm. 20, S. 15). 37 Faktisch nahm indes gerade die Zentralverwaltung der Justiz ein solches Gesetzgebungsrecht im Einzelfall in Anspruch, hierzu im einzelnen sogleich. 38 Amos, wie Anm. 34. 39 Amos (Anm. 34), S. 11l. 40 BArch DP 1 Nr. 2 (VA), S. 1-7. Danach gliederte sich die DJV in das Zentralbüro mit Kanzlei, die Abteilungen sowie das Justizprüfungsamt. Hauptabteilungen bestanden für die Ressorts Organisation und Statistik (Abt. I), Tätigkeit der Gerichte, Presse und Rundfunk (Abt. III), Staatsanwaltschaft (Abt. IV), Strafvollzug (Abt. IV a), Gesetzgebung (Abt. V), Ausbildung und Prüfungswesen (Abt. VI) und allgemeine Aufgaben (Abt. VII).

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2. Aufgaben und Kompetenzen Die Aufgabe, in den Nachkriegswirren ein Mindestmaß an Rechtsfrieden zu gewährleisten, stellte sich für die Justizverwaltung vor dem Hintergrund folgender Ausgangssituation als ebenso sensibel wie schwierig dar. Am 4. September 1945 hatte die SMAD die Neugestaltung des Gerichtswesens in den Ländern und Provinzen der von den Sowjettruppen besetzten Zone Deutschlands in Übereinstimmung mit der vor dem 1. Januar 1933 herrschenden Gesetzgebung gefordert. 42 Dementsprechend sollten in allen Provinzen und Ländern Amtsgerichte (Bezirksgerichte), Landgerichte und Oberlandesgerichte eingerichtet werden. 43 Gleichzeitig sollten jedoch sämtliche ehemaligen Mitglieder der NSDAP aus dem Justizdienst entlassen werden. 44 Zwar war der SMAD im Interesse einer wirtschaftlichen und politischen Stabilisierung ihrer Besatzungszone grundsätzlich daran gelegen, eine Wiedereingliederung von lediglich nominellen bzw. minderbelasteten Mitglieder der NSDAP (im Gegensatz zu sog. "Aktivisten") in das gesellschaftliche Leben der SBZ zuzulassen. 45 Dies galt jedoch ausdrücklich nicht bei der Stellenbesetzung in Verwaltung und Justiz. Diese Anordnung sollte sich als folgenschwer erweisen, da in der Folge ihrer Ausführung etwa 80 % der ehemaligen Richter ausfielen. Hieraus resultierte ein empfindlicher Personalmangel, der nicht ohne Auswirkung auf Struktur und Qualität der Rechtspflege in der SBZ blieb und auch konzeptionelle Entscheidungen beeinflusste, soweit sie der DJV überhaupt zugestanden wurden. Ein diesbezügliches Eingeständnis gab Hilde Benjamin46 in ihrer "Denkschrift zum Justizaufbau" vom 11.12.1947, welche sich im Bestand der DJV im Bundesarchiv befindet: "Die mir vorliegenden Zahlen ergeben, daß die Gerichte mit dem jetzt zur Verfügung stehenden Richterbestand in Gang gehalten werden können, jedoch nur unter weitgehender Zurückstellung minderwichtiger Rechtssachen und unter Vereinfachung der gesetzlich vorgesehenen Verfahrensvorschriften. Ich rechne damit, daß durch die Zusammenlegung der Gerichte (... ) ermöglicht werden kann, mit 50% des Bestandes an Richtern und Staatsanwälten auszukommen, die vor dem Krieg zur Verfügung standen. Hierbei berücksichtige ich die starke Wirtschaftsschrumpfung infolge des Zusammenbruchs. Dieser jetzige Sollbestand ist jedoch in keinem Fall auch nur annähernd erreicht worden. So hat "beispielsweise im 41 Neben der DJV bestanden Zentralverwaltungen für Finanzen, Industrie, Handel und Versorgung, Nachrichtenwesen, Landwirtschaft, Gesundheitswesen, Arbeit und Sozialfürsorge, Verkehrswesen, Brennstoffindustrie sowie für Volksbildung. 42 Ziffer 1, S. 1 des Befehls Nr. 49. 43 Ebenda, Ziffer 1, S. 2. 44 Ebenda, Ziffer 3. 45 Schönfeldt. (Anm. 19), S. 33. 46 Biographie Hilde Benjamins aus neuerer Zeit: Heike Wagner. Hilde Benjamin und die Stalinisierung der DDR-Justiz, Berliner Diss. iur. (HU) 1999.

3 Hoeck

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1. Teil: Die Sowjetische Besatzungszone

Lande Thüringen dem von dem Oberlandesgerichtspräsidenten errechneten Sollbestand von 121 Richtern am 22. September 1945 ein tatsächlicher Bestand von nur 89 Richtern entsprochen, während einem errechneten Sollbestand von 21 Staatsanwälten ein tatsächlicher Bestand von 10 Staatsanwälten entsprach. Der tatsächliche Bestand ist zwar bis zum 1. Oktober und weiterhin durch NeueinsteIlungen ständig vermehrt worden. Es läßt sich jedoch voraussehen, daß für die Errechnung des Soll-Bestandes, das heißt des tatsächlichen Bedarfs an Richtern und Staatsanwälten, wirklich leistungsfähige Kräfte nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen werden. ( ... ) Ob die Zahlen im Hinblick auf die starke Bevölkerungszunahme durch Flüchtlinge und die Notwendigkeit, zurückgestellte und durch den Krieg unterbrochene Verfahren wiederaufzunehmen, zu niedrig gegriffen sind, kann einstweilen außer Betracht bleiben. In jedem Falle werde ich einen erheblichen Fehlbestand an leistungsfähigen Richtern durch eine Verminderung der Gerichtstätigkeit im Gesetzeswege ausgleichen müssen. Endgültiges hierüber wird erst gesagt werden können, wenn die Zahlen über die Anstellung von Kräften des mittleren und gehobenen Bürodienstes (Sekretäre, Inspektoren) vorliegen, die spätestens bis Ende Oktober 1945 entlassen werden, soweit sie Angehörige der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen gewesen sind.,,47

Die Möglichkeiten der DN, die Gerichtstätigkeit "im Gesetzwege" zu steuern, waren freilich sehr beschränkt. Zwar verfügte die DJV satzungsgemäß über eine eigene Gesetzgebungsabteilung, die Abteilung V. Deren Aufgabe erschöpfte sich jedoch zunächst darin, alle grundlegenden Gesetze auf einen nationalsozialistisch geprägten Normenbestand hin zu überprüfen48 sowie die Tätigkeit der Gerichte, Staatsanwaltschaften, Rechtsanwälte und Notare zu kontrollieren49 . Im Bereich der Legislative lag die Initiative bei den Landesregierungen. Die DJV hatte hier zumindest formal nur eine koordinierende Funktion. Sie sollte sicherstellen, daß die Landes- und Provinzialregierungen ihre auf dem Befehl Nr. 110 des Chefs der SMAD vom 22.10.1945 beruhende umfassende Gesetzgebungsgewalt in untereinander abgestimmter Art und Weise gebrauchten. Hierzu heißt es im "Vorläufigen Statut": "Um auf dem Gebiet der laufenden Gesetzgebung die Einheitlichkeit in den für alle Provinzen (Länder) gemeinsamen und aktuellen Fragen zu sichern, 47 Hilde Benjamin, Denkschrift zum Justizautbau vom 11.12.1947, BArch DP 1 (VA) Nr. 3. Hervorhebung des Verfassers dieser Arbeit. 48 Jedenfalls soweit diese Aufgabe nicht bereits durch den Alliierten Kontrollrat selbst wahrgenommen wurde, wie es in der Regel in bezug auf die Reichsgesetzgebung der Fall war. 49 Hierzu vermerkte Ziffer 3 des "Vorläufigen Statuts": "Die Justizverwaltung leitet und kontrolliert die Tätigkeit der Gerichte, Staatsanwaltschaften, Notariate und Rechtsanwaltschaften entsprechend den Aufgaben, die vom Kontrollrat und von der Militäradministration in Deutschland zur Wiederherstellung und Entwicklung eines wahrhaft demokratischen Gerichtswesens, einer gerechten Rechtsprechung und der gesetzlichen Ordnung gestellt sind und durchgeführt werden.", BArch DP 1 (VA) 2, BI. 1-7.

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a) erteilt die Justizverwaltung den Präsidenten der Provinzen (Länder) Ratschläge und Empfehlungen und nimmt an der Ausarbeitung von Entwürfen der einzelnen Gesetze auf Einladung der Präsidenten der Provinzen und der föderalen Länder teil; b) erhebt die Justizverwaltung Einspruch beim obersten Chef der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland gegen Gesetze und Verordnungen der Selbstverwaltungen der Provinzen und der föderalen Länder, wenn sie mit den Grundsätzen der Demokratie oder den Maßnahmen, die vom Kontrollrat und der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland durchgeführt werden, nicht in Einklang stehen. ,,50

Dagegen kam ihr ein selbständiges Gesetzgebungs- und Verordnungsrecht auf der Grundlage des geltenden Besatzungsrechts prinzipiell nicht zu, schon weil mit diesem Zugeständnis eine Festlegung hinsichtlich der Herausbildung einer separaten Zonengesetzgebung verbunden gewesen wäre. 51 Dennoch nahm die DJV im weiteren Verlauf, ebenso wie andere Zentralverwaltungen auch, wiederholt das Recht zur Gesetzgebung für sich in Anspruch, so zum Beispiel durch den Erlaß der "Provisorischen Zulassungsordnung für die Rechtsanwaltschaft in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands", welche am 18. Juni 1946 in Kraft trat. Ein weiteres Beispiel stellt der Erlaß einer "Verordnung über die gerichtliche Regelung der Fälligkeit alter Schulden", welche die DJV am 6. Juli 1946 gemeinsam mit der Zentralen Finanzverwaltung erließ. Freilich ließ die DJV es zunächst nicht darauf ankommen, Entwürfen kraft eigener Autorität Geltung zu verschaffen. So trug die Zulassungsordnung den ausdrücklichen Bestätigungsvermerk des Marschalls Sokolowski, während im Falle der Fälligkeitsverordnung sogar eine spezielle Ermächtigung der SMAD vorlag. Nach Inkrafttreten der Landesverfassungen bestritten die Landesregierungen im Konfliktfall zunehmend selbstbewußter das Verordnungs- und Weisungsrecht der - doch immerhin von der SMAD eingesetzten - deutschen Zentralverwaltungen. Selbst wenn Gesetze, Verordnungen oder Anweisungen der Zentralverwaltungen mit dem Bestätigungsvermerk einer Dienststelle der SMAD versehen wurden oder auf einer allgemeinen Ermächtigung der SMAD beruhten, lehnten die Länder und Provinzen es ab, hierin verbindliche Befehle der SMAD zu sehen. Statt dessen waren die Regierungen bestrebt, den Aufbau und die Befugnisse der Zentralverwaltungen in Zukunft den Landesverfassungen anzupassen, indem sie durch Vereinbarungen der Länder festgelegt und von den Landtagen in Gesetzesform verabschiedet werden sollten52 . Den Widerstand der Länder gegen ein Zentral50 "Vorläufiges Statut der Deutschen Justizverwaltung" (BI. 1-10), Ziffer 3, BArch DP 1 Nr. 2 (VA). 51 Denkschrift von Dr. Karl Schultes "Probleme der Gesetzgebung" vom 15. August 1946, BArch DY 30 IV 2/13/19. 3*

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I. Teil: Die Sowjetische Besatzungszone

verordnungsrecht mußte DJV-Präsident Eugen Schiffer bereits bei dem Versuch der zoneneinheitlichen Einführung einer "Verordnung über die Zuständigkeit der Rechtspfleger vom 20.6.1947,,53 erfahren. Dieses Vorhaben scheiterte im Land Thüringen daran, daß der dortige Justizminister nach Verkündung der Verordnung mitteilte, ihre Geltung in Thüringen hänge davon ab, daß sie erst noch von den Landesinstanzen in Kraft gesetzt werde. Dem lag die von der Landesregierung vertretene und in förmlichen Kabinettsbeschlüssen niedergelegte Haltung zugrunde, daß die den Ländern in der sowjetischen Besatzungszone verliehene Autonomie ihrer Natur nach keine Einschränkungen durch Rechtsverordnungen der in der Zone errichteten deutschen Verwaltungen vertrage. Schon an sich bemerkenswert und Zeugnis gebend vom Rechtsverständnis der Landesregierung insbesondere in Thüringen ist die Tatsache, daß die thüringische Landesregierung zur Frage des Verordnungsrechts der Zentralverwaltungen ein umfassendes Rechtsgutachten beim Oberverwaltungsgericht in Jena54 in Auftrag gab. Es war demnach keineswegs so, daß die Landesregierungen bereit waren, aus der Entstehungsgeschichte der Deutschen Zentralverwaltung der Justiz und ihrer engen Vernetzung mit der sowjetischen Besatzungsmacht den Schluß zu ziehen, diese sei gewissermaßen legibus soluta. Und auch die Gerichte ließen sich von der Autorität der DJV keineswegs einschüchtern, wie insbesondere das Ergebnis in der Frage des Zentralverordnungsrechts demonstriert. Hierzu stellte das OVG Jena fest: "a) Durch die Befehle Nr. 110 vom 22. Oktober 1945 und Nr. 332 vom 27. November 1946 ist den Landtagen der fünf Länder der sowjetischen Besatzungszone die volle Gesetzgebungsgewalt für das Gebiet der einzelnen Länder übertragen worden. Einschränkungen dieser Gesetzgebungsgewalt ergeben sich nur aus der auf Völkerrecht beruhenden Befehlsgewalt der Besatzungsmacht. b) Da die Besatzungszonen in Deutschland keine staatsrechtlichen Gebilde darstellen, sind die in der sowjetischen Besatzungszone errichteten deutschen Zentralverwaltungen nicht befugt, mit Wirkung für die Länder der Zone Rechtsverordnungen zu erlassen. Es könnte ihnen wohl im Einzelfall durch ausdrücklichen Befehl der SMAD der Erlaß einer für die Länder der Zone verbindlichen Rechtsverordnung aufgetragen werden; derartige Befehle liegen aber nicht vor, wenn die SMAD dem Erlaß einer Rechtsverordnung ,nur' zu52 Eugen Schiffer, Denkschrift zur Frage der Rechtsverbindlichkeit der Anordnungen der Deutschen Justizverwaltung, BArch DP 1 VA 3, BI. 103 ff. (lOS) vom 16.10.1947 unter Hinweis auf den Beschluß der Landesregierung von Thüringen vom 10. Februar 1947 und den der Regierung von Sachsen-Anhalt vom 21. Januar 1947. 53 Vgl. BI. 6 des Zentralverordnungsblattes vom 28.6.1947. Hiermit wollte er seinen langgehegten Plan der sog "Kleinen Justizreform" verwirklichen, vgl. hierzu die Ausführungen unter Ziffer II.1.b und c. 54 Zu dessen Wiederbegründung und Tätigkeit ausführlich die Ausführungen im zweiten Abschnitts dieses Teils der Arbeit.

1. Abschn.: Rahmenbedingungen und Institutionen der Rechtssetzung

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stimmt oder die betreffende Verordnung ,nur' mit einem Bestätigungsvermerk versieht. c) Hiernach ist auch die Verkündung einer Verordnung einer deutschen Zentralverwaltung im Zentralverordnungsblatt ohne unmittelbare praktische Bedeutung. d) Eine Anerkennung der Rechtswirksamkeit der von den deutschen Verwaltungen, insbesondere der Deutschen Justizverwaltung, erlassenen Verordnungen würde mit demokratischen Grundsätzen schlechthin unvereinbar sein, da in einem demokratischen Staatswesen nicht bürokratisch organisierten Behörden ohne parlamentarische Verantwortlichkeit Gesetzgebungsbefugnisse eingeräumt werden können."

Die Argumentation des Thüringischen Oberverwaltungsgerichts gründete auf der Tatsache, daß die SMAD durch den Befehl Nr. 110 den Ländern in der SBZ das Recht verliehen hatte, für ihr Landesgebiet Rechtsvorschriften mit Gesetzeskraft zu erlassen. Das Gesetzgebungsrecht der Länder konnte als aus der Gesetzgebungsbefugnis des Obersten Chefs der SMAD abgeleitetes Recht jedoch nur insoweit wirksam werden, als es nicht zu den Befehlen des Kontrollrats oder denen der SMAD in Widerspruch stand. Das Recht der SMAD, für das gesamte Gebiet der SBZ Rechtsvorschriften zu erlassen, konnte hierdurch insofern nicht tangiert sein. Selbstverständlich hatte der Oberste Chef der SMAD grundSätzlich weiterhin das volle inhaltliche und formelle Recht zu zentraler Zonengesetzgebung. Hierin war er nur durch die unter maßgeblicher Mitwirkung der Sowjetunion zustande gekommenen Vorgaben des Alliierten Kontrollrats beschränkt, nicht jedoch durch Normativakte der Länder und Provinzen. Entgegen den Feststellungen des OVG Jena ließe sich demnach schlußfolgern, daß jede Rechtsverordnung einer deutschen Zentral verwaltung, die mit Wissen und Willen der SMAD ergeht, als dieser zurechenbare zentrale Gesetzgebung anzusehen und dementsprechend von den Ländern zu befolgen sei. Denn das Recht der Besatzungsmacht, Befehle zu erlassen, gründete, wie das Gericht zutreffend hervorhob, auf Völkerrecht und war an keinerlei unmittelbare demokratische Legitimation (und schon gar nicht an eine Zustimmung der Landesparlamente ) gebunden. Diesen Standpunkt vertrat auch der DJV-Präsident Eugen Schiffer, indem er in einer "Denkschrift zur Frage der Rechtsverbindlichkeit der Anordnungen der Deutschen Justizverwaltung,,55 anmerkte, die Länder würden "die tatsächliche und rechtliche Stellung der SMAD" verkennen und die "zu erstrebende Einheit Deutschlands durch Überbetonung partikularer Sonderinteressen,,56 unterminieren. Die Situation ließ sich indes auch anders interpretieren: Nicht die Länder mißachteten den Herrschaftsanspruch der 55 56

BArch DP 1 (VA) NT. 3, Bi. 103 ff. (105). Denkschrift (Anm. 52), Bi. 11.

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1. Teil: Die Sowjetische Besatzungszone

SMAD, vielmehr verzichtete die Besatzungsmacht darauf, ihre Macht zur Absegnung der legislativen Vorhaben der Zentralverwaltungen zu gebrauchen. Denn zweifellos stand der SMAD die Möglichkeit offen, den Weisungen der DJV grundsätzlich Befehlscharakter zu geben bzw. ihre Verordnungen im Einzelfall als eigenen Befehl auszugestalten, so daß diese dann an jener auf Völkerrecht basierenden Befehlsgewalt als Besatzungsmacht hätten partizipieren können. Sie verzichtete bewußt hierauf, da sie vor dem Hintergrund der unklaren deutschlandpolitischen Situation zunächst noch keine auf ihren Sektor beschränkte politische Zentralgewalt schaffen wollte, auch nicht in Form von gesetzgebungsbefugten Zentralverwaltungen. Hinsichtlich der tatsächlichen Machtbefugnisse blieb es bei dem im vorläufigen Statut der DJV gesteckten Rahmen. Die DJV sollte demnach in zweierlei Richtung ein Regulativ gegen die legislatorische Allmacht der Länder und Provinzen bilden: Einerseits war es erforderlich, die Vereinbarkeit der jeweiligen gesetzlichen Regelungen (einschließlich der Verordnungen mit Gesetzescharakter) mit den Vorgaben des AKR und der SMAD sicherzustellen. Daneben sollte sie nach dem Willen der Besatzungsmacht verhindern, daß der strategisch motivierte Verzicht auf die Etablierung einer starken politischen Zentralmacht zur Rechtszersplitterung führt. In diesem Gesamtzusammenhang kam ihr somit die Rolle des anleitenden Moderators zu. Einerseits oblag ihr im Vorfeld eine Beratungsfunktion, gewissermaßen als zentrale Stabsstelle, der sich die Länder- und Provinzialregierungen bedienen konnten. Sie konnte ihre Hilfe den Regierungen aber nicht aufdrängen, sondern blieb auf kooperatives Zusammenwirken angewiesen. Selbst bei Feststellung eines eindeutigen Verstoßes gegen höherrangiges (Besatzungs-)Recht hatte sie keine eigenen Handhabe gegenüber den Landes- und Provinzialregierungen. In diesem Fall oblag es ihr, den Vorgang der Rechtsabteilung der SMAD anzuzeigen, die dann entschied, welche Stelle (Zentrale in Karlshorst oder SMA auf Landes- bzw. Provinzialebene) in welcher Weise tätig werden sollte. Eigene Eingriffskompetenz besaß die DJV ebensowenig wie ein eigenes Recht zur Gesetzesinitiative. Die schwache Stellung der DJV sollte in der Frage der Etablierung eines zoneneinheitlichen Verwaltungsrechtsschutzes maßgebliche Bedeutung erlangen.

3. Justizpolitische Ausrichtung Die personelle Besetzung der DJVerfolgte wie bei sämtlichen Zentralverwaltungen nach dem Prinzip des Parteienproporzes, ohne den Kommunisten die Vorherrschaft einzuräumen. Diese Vorgehensweise stellte eine Konzession dar mit dem Ziel, durch die Pflege demokratischer Formen die Kooperationsbereitschaft der Alliierten zu erhalten und das Vertrauen der west-

1. Abschn.: Rahmenbedingungen und Institutionen der Rechtssetzung

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deutschen Bevölkerung zu erwerben. Vor diesem Hintergrund scheute sich die sowjetische Besatzungsmacht auch nicht, justizpolitisch erfahrene bürgerliche Politiker mit Leitungsaufgaben in der DJV zu betrauen. Das eindrucksvollste Beispiel hierfür bot der erste Präsident der Deutschen Zentralverwaltung für Justiz, Eugen Schiffer, selbst. Es ist kennzeichnend für die Offenheit der justizpolitischen Situation in der unmittelbaren Nachkriegszeit, daß Schiffer seine Position als von Ulbricht ausgewählter und von der SMAD eingesetzter DJV-Präsident als Chance begriff, sein als Justizminister der Weimarer Republik begonnenes, von rechtsliberalem Geist geprägtes Reformwerk fortzusetzen. Wären die unter seiner Leitung ausgearbeiteten Entwürfe einer Verwaltungsgerichtsordnung wirksam geworden, hätte die SBZ ihren Bürgern im Zonenmaßstab einen Verwaltungsrechtsschutz gewährleistet, der dem in den Westzonen in keiner Weise nachgestanden hätte. Dagegen bezogen die wenigen kommunistischen Juristen in der DJV, allen voran Hilde Benjamin und Ernst Melsheimer57 , gerade in 57 Dr. Ernst Karl Melsheimer wurde am 9.4.1897 in Nieder-Neunkirchen/Saar als Sohn eines Hüttendirektors des Stumm-Konzerns geboren und diente im Ersten Weltkrieg als Freiwilliger. Studium der Rechtswissenschaften in Marburg und Bonn, 1918 Erstes Juristisches Staatsexamen und Promotion. Ab 1922 Assessor im Berliner Justizdienst, zunächst als Hilfsarbeiter, dann Justizrat und ab 1932 Oberjustizrat im Preußischen Justizministerium (Reichsministerium), ab 1924 Landgerichtsrat in Berlin. Von 1928 bis 1932 Mitglied der SPD und des "Reichsbanners". 1932 Austritt aus der SPD, 1933 Landgerichtsdirektor beim Landgericht III von Berlin. 1933 wegen seiner SPD-Mitgliedschaft vom preußischen Justizdienst in den 1. Zivilsenat des Kammergerichts versetzt, jedoch weiterhin als Landgerichtsdirektor in Berlin tätig. Als er 1937 zum Kammergerichtsrat ernannt wurde, "stellten ihm seine Vorgesetzten das beste Zeugnis aus, auch über seine positive Einstellung zum NSStaat". Melsheimer, befreundet mit Roland Freis1er, war Mitglied des NS-Rechtswahrerbundes und Rechtsberater der NS-Volkswohlfahrt (NSV). Vorschlag zum Reichsgerichtsrat 1944 (konnte vor Kriegsende nicht mehr bestätigt werden). 1945/ 46 trat er in die KPD/SED ein und wurde Staatsanwalt in Berlin-Friedenau und Mitte. 1946 bis 1949 war er Vizepräsident der DJV. Seit dem Eid auf die DDRVerfassung am 7.12.1949 bis zu seinem Tod im März 1960 war er Generalstaatsanwalt der DDR und Oberster Ankläger beim Obersten Gericht der DDR. Organisation von Schauprozessen u. a. gegen die "Harich-Gruppe", gegen Leo Herwegen, Leonhard Moog und Walter Janka. Seit 1952 gehörte er der Akademie der Wissenschaften in Ost-Berlin an, Mitglied der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung Demokratischer Juristen, Mitglied des Redaktionskollegiums der Zeitschrift "Neue Justiz". Nach seinem Tod am 27.2.1960 wies die Frankfurter Allgemeine Zeitung auf die Widersprüche in Melsheimers Biographie hin: "Wer jemals E. M. vor dem obersten Tribunal der Sowjetzone erlebt hat, wie er jähzornig mit den Fäusten trommelnd, die Angeklagten unflätig anschrie, der kann sich nicht vorstellen, daß dieser Mann einst zu den brillantesten Juristen der Weimarer Republik gehört haben soll. Der korpulente Choleriker, der auf die Angeklagten niederbrüllte: ,Sie Schmeißfliege, sie widerliches, dreckiges Subjekt' - dieses erschreckende Zerrbild eines Staatsanwalts war einmal mit, 27 Jahren, der jüngste Landgerichtsrat in Preußen, ein Mann, dem seine Vorgesetzten bescheinigt hatten, er sei ein Richter mit hervorragender Befähigung und glänzenden Kenntnissen, überaus fleißig und

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1. Teil: Die Sowjetische Besatzungszone

der Frage des Verwaltungsrechtsschutzes einen den Ansichten ihres Präsidenten diametral entgegengesetzten Standpunkt. Freilich sahen die deutschen Kommunisten die Justizpolitik nicht als das dringendste Feld der von ihnen angestrebten Umwälzung an und entwickelten erst allmählich, unter maßgeblicher Anleitung ihres "Kronjuristen" Karl Polak eine eigenständige Justizkonzeption. Bis zur Entmachtung des DJV im Zeichen des Ausbruchs des Kalten Krieges konkurrierten somit zwei entgegengesetzte Justizkonzeptionen miteinander. Dies entsprach ganz der Strategie der SMAD, da durch das hieraus entstandene Kräftegleichgewicht endgültige Festlegungen zunächst vermieden wurden. a) Justizrejorm durch Justizabbau - Der Einfluß Eugen Schiffers

Das Bild der Deutschen Zentralverwaltung für Justiz bliebe unvollständig, wenn neben den formalen Entwicklungsbedingungen und den statuarisch festgelegten Kompetenzen nicht auch der beherrschende Einfluß ihres Präsidenten Schiffer dargestellt werden würde. Seine persönliche Autorität war es, die in wichtigen Einzelfragen zu einer Verschiebung des oben skizzierten Kräfteverhältnisses zwischen den drei die Rechtsentwicklung der SBZ bestimmenden Instanzen SMAD, DJV und Landesregierungen führte. Inhaltlich tragen wesentliche konzeptionelle Vorgaben der DJV, gerade ihre Entwürfe zur gesetzlichen Regelung des Verwaltungsrechtsschutzes, die Handschrift ihres Präsidenten. Eugen Schiffer wurde am 1. August 1945 offiziell durch Marschall Schukow mit dem Aufbau und der Leitung der Zentralverwaltung für Justiz betraut. Dem im Zeitpunkt seiner Ernennung bereits 85-jährigen ehemaligen Reichsminister und Vizekanzler war zunächst das Amt des Präsidenten des Obersten Gerichts angetragen worden. Schiffer zog indes das Amt des Chefs der DJV vor, da er hierin am ehesten die Möglichkeit sah, seine bereits 1932 als Lebenswerk bezeichneten umfassenden Justizreformpläne endlich in die Realität umsetzen zu können. Obwohl er dem Kommunismus nach Herkunft und Geisteshaltung distanziert gegenüberstehend58 , war er der Wunschkandidat Walter Ulbrichts gewesen. Diesem gegenüber erklärte er sich auch im Vorfeld seiner Berufung bereit, zu versuchen, "ein Stück des Weges gemeinsam zu gehen,,59. Dabei verleugnete er seinen politischen von nicht zu überbietender Gründlichkeit - ein fester Charakter mit anständiger Gesinnung .. .'. (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28.3.1960, zit. nach Helge Dvorak, Biographisches Lexikon der Deutschen Burschenschaft, Band I: Politiker, Teilband 4: M-Q, S. 76 f.; vgl. auch Falco Werkentin, Recht und Justiz im SED-Staat, S. 100, m.w.N.). 58 In diesem Sinne kennzeichnend sind seine 1951 verfaßten Lebenserinnerungen, welche den Titel "Ein Leben für den Liberalismus" trugen.

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Standpunkt nicht, sondern betonte ihn Ulbricht gegenüber mit den Worten: "Wir haben einen verschiedenen Weg gehabt, und wir haben sehr verschiedene Ziele. ,,60 Letztlich komme es ihm jedoch darauf an, "den Karren wieder aus dem Dreck zu ziehen,,61. Die Betrachtung der bisherigen politischen Laufbahn Schiffers läßt seine Ernennung gerade auf Betreiben des Chefs der deutschen Kommunisten zunächst sehr ungewöhnlich erscheinen. Seine Vorstellungen zur Reform des Justizwesen aus den zwanziger und beginnenden dreißiger Jahren lassen jedoch - zweifellos ungewollt - Anknüpfungspunkte mit Desideraten sozialistischer Justizpolitik erkennen. Insofern erscheint es geboten, im folgenden kurz den politischen Werdegang Dr. Eugen Schiffers zu beschreiben und gleichzeitig den geistigen Boden darzustellen, in dem die justizpolitischen Vorstellungen wurzeln, welche nach seiner Auffassung für die SBZ maßgeblich werden sollten. Gerade die Diskussion um die Wiederaufrichtung und Neugestaltung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in der SBZ, einer Institution, die von Schiffer selbst als "Schlußstein" des Rechtsstaates bezeichnet wurde, wird erst auf dem Hintergrund der in einem langen und wechselvollen politischen Leben gereiften rechtspolitischen Vision des Präsidenten recht verständlich. aa) Justizpolitiker in der Weimarer Republik Schiffer, 1860 als Sohn einer begüterten Kaufmannsfamilie in Breslau geboren, studierte Jura und Volkswirtschaft in Breslau, Leipzig und Tübingen. Nachdem er 1885 das Assessorexamen mit "gut" bestanden hatte, schlug er die Justizlaufbahn ein. Zunächst arbeitete er als Amtsrichter im oberschlesischen Zabrze, dem späteren Hindenburg. Seine jüdische Herkunft ließ unter den damaligen gesellschaftlichen Umständen eine Karriere im Justizdienst nur ganz ausnahmsweise zu, so war einem Juden beispielsweise die Laufbahn des Staatsanwaltes völlig versperrt. Doch wohl nicht deswegen konvertierte Schiffer 1896 zum Protestantismus. 62 Vielmehr deuten nicht zuletzt seine eigenen Aussagen in seinen nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Lebenserinnerungen63 darauf hin, daß er nie eine innere Affinität zum Judentum entwickelte und der Protestantismus als religiöser Aspekt des Preußentums sein Lebensgefühl determinierte. Nicht von der Hand zu weisen ist indes, daß diese Entscheidung sich förderlich auf seine Lorenz (Anm. 12), S. 138. Zit. nach Weber (Anm. 16), S. 27. 61 Weber, ebenda. 62 Joachim Ramm, Eugen Schiffer (1860-1954) - Wegbereiter der Justizreform, in: Helmut Heinrichs u. a. (Hrsg.): Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, S. 455467, S. 456. 63 Eugen Schiffer, Ein Leben für den Liberalismus, S. 100. 59

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Laufbahn auswirkte: 1906 avancierte er zum Kammergerichtsrat, 1910 wurde er zum Oberverwaltungsgerichtsrat ernannt. Als Nationalliberaler nahm er von 1903 bis 1918 ein Mandat im preußischen Abgeordnetenhaus wahr, zugleich war er 1912-1917 Mitglied des Reichstags. 64 1916 wurde Schiffer Leiter der Rechtsabteilung im Kriegsamt unter Generalleutnant Wilhelm Groener. Seine Hauptaufgabe in dieser Funktion bestand darin, ein Gesetz über die Heranziehung von Arbeitskräften zum ..Vaterländischen Hilfsdienst" parlamentarisch durchzusetzen. Charakteristisch für Schiffers Arbeitsstil war, daß er versuchte, die Gesetzesvorlage auf lediglich vier Paragraphen zu beschränken, die Ermächtigungen zu weiteren Ausgestaltungen enthielten. 65 Auch wenn der Reichstag seiner Konzeption letztendlich nicht folgte, da er die Richtlinien dann doch wieder in das Gesetz inkorporierte, wird hieran die für Schiffers legislatorisches Wirken bezeichnende Trennung von politischen Grundsatzentscheidungen und Ausführungsbestimmungen66 deutlich, die er in der gesamten Zeit seines justizpolitischen Wirkens verfechten sollte. Auch nach der Novemberrevolution blieb Schiffer im Amt, wobei er allerdings seinen parteipolitischen Standpunkt leicht veränderte: Nachdem der Zentralvorstand der Nationalliberalen Partei gegen eine Fusion mit der Deutschen Demokratischen Partei und für die Organisation unter dem Namen und mit dem Programm der Deutschen Volkspartei entschieden hatte 67 , gehörte Schiffer zu den Unterzeichnern des ..Aufrufes der sechzig", die am folgenden Tag zum Anschluß an die innerhalb des bürgerlichen Spektrum links von der DVP angesiedelte Deutsche Demokratische Partei aufforderten. 68 Schiffer amtierte als letzter Staatssekretär des Reichsschatzamtes und wurde im Kabinett Scheidemann für die DDP Finanzminister und zugleich .. stellvertretender Präsident des Ministerrats,,69. 64 Seinen politischen Standpunkt als Reichstagsabgeordneter beschrieb Schiffer selbst wie folgt: "Ich galt als Prototyp des Preußentums, als Borusse, und war dadurch der Mehrzahl der Mitglieder der Reichstagsfraktion, die mehr den süddeutschen und demokratischen Anschauungen zuneigte, dringend verdächtig und unheimlich." ("Ein Leben für den Liberalismus", S. 22). 65 Ramm (Anm. 62), S. 458. 66 Ramm, ebenda. 67 Die konstituierende Sitzung der Deutschen Volkspartei fand am Nachmittag des gleichen Tages statt. 68 Zu den "Sechzig" gehörten 14 der insgesamt 45 nationalliberalen Reichstagsabgeordneten, sowie 13 der 73 nationalliberalen preußischen Landtagsabgeordneten, daneben zahlreiche prominente Einzelpersönlichkeiten:, Wissenschaftler (Albert Einstein, Hugo Preuß, Alfred Weber), Verleger und Redakteure (z. B. Rudolf Mosse, Theodor Wolff), Bankiers und Industrielle (Hja1mar Schacht, Otto Schott, später auch earl Friedrich von Siemens), vgl. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band VI: Die Weimarer Reichsverfassung, S. 976 ff. 69 Das Amt des Vizekanzlers existierte zunächst nicht, da Hugo Preuß den Titel des Reichskanzlers zunächst als der Lage nicht angemessen abgeschafft hatte.

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Diese Position ennöglichte ihm, die von den Sozialisten nach Kriegsende geforderte Sozialisierung der deutschen Wirtschaft weitgehend einzudämmen. 70 Statt dessen proklamierte er die volle Entfaltung der "Elemente der Individualwirtschaft" zur unabdingbaren Voraussetzung eines funktionierenden Staatswesens, ebenso, wie er eine "tätige Wirtschaft" als Grundlage für eine mögliche Veränderung der Wirtschaftsordnung ansah. 71 Die große Finanzrefonn, die Erzbergers Namen trägt, wurde von Schiffer vorbereitet. 72 Den Vertrag von Versailles lehnte Schiffer mit seiner Fraktion entschieden ab und nannte ihn "das größte Verbrechen, daß je an einem Volke begangen wurde". Im Oktober 1919 wurde Schiffer Justizminister und Vizekanzler im Kabinett Bauer, eine zweite Amtszeit folgte als Justizminister im Kabinett Wirth von Mai bis Oktober 1921.73 Maßgeblich beteiligt war Schiffer an der Gründung der ersten Verwaltungsakademie in Berlin, deren Präsident er 1920 wurde. 74 Übereinstimmend wurde Schiffer attestiert, sowohl in Hinblick auf seine überragenden juristischen Fähigkeiten als auch in bezug auf Qualitäten in der parlamentarischen Debatte, vortreffliche Arbeit zu leisten. 75 Allein parteipolitisch galt er als unzuverlässig, da er stets die pragmatische Erledigung der Tagesaufgaben in den Vordergrund stellte und Parteiraison für ihn eine untergeordnete Rolle spielte. Im Oktober 1924 erklärte der bis dato dem rechten Flügel seiner Partei angehörige Schiffer seinen Austritt aus der an Ansehen und Einfluß rasch verlierenden DDp76 und gründete im Dezember gleichen Jahres die sog. Liberale Vereinigung, die er zusammen mit dem Großindustriellen earl Friedrich von Siemens und anderen kurz vor den Dezemberwahlen ausgetretenen Deutschdemokraten führte und deren Ziel es war, die Einigung der beiden liberalen Parteien zu einer neuen Mittelpartei vorzubereiten. 77 Schiffers Rückzug aus der parlamentarischen Arbeit führte indes keineswegs dazu, daß er die Augen vor der Krise der Weimarer Demokratie verschloß. Statt dessen setzte er sich als einer der Träger der Verfassungsrefonnbewegung für die Rettung der Republik ein. Noch im Jahre 1932 forderte er unter dem Titel "Stunn über Deutschland" größere Transparenz und Volks verbundenheit zur Rettung der parlamentarischen Demokratie: Huber (Anm. 68), S. 861. Huber (Anm. 68), S. 863. 72 Ramm (Anm. 62), S. 459. 73 In dieser zweiten Amtszeit setzte sich Schiffer besonders für eine stärkere Betonung des Laienelementes in der Rechtsprechung ein, wobei er - für die damalige Zeit 'revolutionär - auch Frauen zum Richteramt zulassen wollte. 74 Ramm (Anm. 62), S. 460. 75 Ramm (Anm. 62), S. 459. 76 Hintergrund war die ablehnende Haltung der DDP gegenüber einer Koalition mit den Deutschnationalen. 77 Huber (Anm. 68), S. 988. 70

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"Denn der Parlamentarismus, das Wunschkind des Liberalismus, das zugleich das Adoptivkind der Sozialdemokratie und das Lieblingskind beider war, kränkelt. Er hat seinen Kern, Diskussion als Mittel der Überzeugung unabhängiger Volksvertreter, eingebüßt. Sie rallt als treibende Kraft zur Herbeiführung einer Mehrheitsentscheidung aus. Da die Parteien für ihre Mitglieder die Art ihrer Abstimmung fixieren, so daß von der Herbeiführung einer Überzeugung durch Reden und Gegenreden außerhalb ihrer nicht mehr gesprochen werden kann, werden Reden und Gegenreden in der ,Halle der Wiederholungen', wie Naumann den Reichstag nannte, nur zum Fenster hinaus gehalten, nicht um die zu treffende Entscheidung zu beeinflussen, sondern um die bereits getroffenen Entscheidung nachträglich vor der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. An dieser Nachträglichkeit hat aber die Öffentlichkeit, der mehr an der Entscheidung als an ihrer Begründung liegt, wenig Interesse; nicht bloß le ridicule, sondern auch I'ennuyant tue.,,78

Auch Schiffers Wirken im Bereich der Justiz war von dem Gedanken geprägt, den verlorenen Rückhalt im Volk durch Hebung der Effizienz und Steigerung der Transparenz zurückzugewinnen. So machte er in seinem im Jahre 1928 verfaßten "Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des deutschen Rechtswesens,,79 nach Inhalt und Umfang ungewöhnlich weitreichende Vorschläge bezüglich einer Vereinfachung und Rationalisierung des Justizwesens. Nicht aus ideologischen Erwägungen, sondern aus Gründen der Effizienz und insbesondere auf die Akzeptanz und den Geltungsanspruch des Rechts im Volke bedacht, entschloß sich Schiffer, der von ihm so bezeichneten "Hypertrophie des Rechts" den Kampf anzusagen, um den Rechtsstaat zu wahren. In seinem 1932 erschienenen Buch "Sturm über Deutschland", einer Bestandsaufnahme des Verfassungs- und Rechtslebens dieser Zeit, in welchem er konkrete Reformvorschläge in bezug auf die Weimarer Reichsverfassung unterbreitete, erläuterte der Reichsminister a. D. die Motive seines Strebens nach rechtlicher Vereinfachung8o • Seiner Ansicht nach habe eine übertriebene positivistische Tendenz den Normenbestand ausufern lassen, so daß der Entwicklung eines gesunden Rechtsgefühls in der Bevölkerung zu wenig Raum bleibe. Auch der Bereich der Rechtsanwendung erschien ihm nicht mehr funktionsgerecht ausgestaltet. Eine Überdehnung der Rechtsweggarantie habe zu einer Fehlgewichtung geführt, welche die Akzeptanz des Rechtsstaates in der Bevölkerung schwinden lasse. Eindringlich appellierte er: "Hauptsächlich wird aber die Verminderung richterlicher Arbeit überhaupt, die Bekämpfung der Hypertrophie der Rechtspflege ins Auge zu fassen sein. Sie hängt aufs engste mit der Hypertrophie des Rechts und vor allen Dingen der GeSchiffer, Sturm über Deutschland (1932), S. 350. Eine Ausgabe dieser Broschüre befindet sich unter den Archivalien der Deutschen Justizverwaltung im Bundesarchiv. (BArch DP 1 Nr. 3: Neuaufbau der Justizorgane in der SBZ 1945-46). 80 Eugen Schiffer, Sturm über Deutschland, XV. Kapitel: Rechtspflege und Richtertum, S. 329. 78

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setzgebung zusammen. Wir ersticken im Recht. Seine Massenhaftigkeit beseitigt seine Zugänglichkeit und macht die geistige Beherrschung seines Inhalts, die selbst dem Juristen schwer wird, dem Laien unmöglich. Trotzdem gilt für ihn: ignorantia juris nocet. Er hat die Empfindung, so behandelt zu werden, wie einstmals die Bürger von Syrakus, denen einer ihrer Dionisiusse eine schriftliche Verfassung versprochen hatte: Er hielt sein Versprechen, arbeitete seine Verfassung aus und brachte sie zu Papier, ließ aber die Urkunde an die Zinne eines hohen Turmes hängen, so daß niemand sie lesen konnte. Auch wir haben ein jus scripturn, ein geschriebenes Recht; aber auch uns nützt es nichts: Wir haben zu viel davon, um es durchsetzen zu können. Wir haben aber auch zu viel Rechtspflege, Rechtsprechung, Prozesse, Verfahren, Entscheidungen. Die Justiz wird zum großen Fabrikbetrieb. ,,81

Ausgehend von der Idee, den in der Wirtschaft vorherrschenden Rationalisierungsgedanken auf die Justiz zu übertragen, hatte Schiffer bereits im Jahre 1928 in seiner Denkschrift "Die Deutsche Justiz - Grundzüge einer durchgreifenden Reform" die seiner Ansicht nach zur Verschlankung des Justizapparats konkret zu ergreifenden Maßnahmen dargelegt. Als Quintessenz leitete er hieraus seinen lediglich 48 Paragraphen umfassenden "Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des deutschen Rechtswesens" ab. Um "das Übermaß an Gesetzen, die Überfülle der Rechtsprechung, die Überzahl der Rechtsbehörden und besonders auch der Richter", welche zu "Massenhaftigkeit, Unübersichtlichkeit, Unklarheit und Zweifelhaftigkeit der gesetzlichen Normen, Verworrenheit der Zuständigkeiten, zur Überfülle der gerichtlichen Tätigkeit in Prozessen und Anklagen" sowie zur Widersprüchlichkeit der Entscheidungen führe, in den Griff zu bekommen, sah Schiffer "mit logischer Folgerichtigkeit und zwingender tatsächlicher Notwendigkeit" die Durchführung eines "durchgreifenden und umfassenden Rechtsabbaus" als notwendig an. Der Fülle der Gesetze sollte das Reich nach den Vorstellungen Schiffers auf dem Wege Herr werden, daß die Reichsregierung ermächtigt werden sollte, eine Sammlung und Sichtung des gesamten geltenden Rechts vorzunehmen und dabei das ungültige Recht zu entfernen. Vermögensrechtliche Ansprüche mit Bagatellecharakter etwa sollten nach dem Willen Schiffers weder mit der Klage, noch mit der Widerklage verfolgt werden können, es sei denn, daß an der Entscheidung ein öffentliches oder grundSätzliches Interesse bestünde. Die Privatklage sollte eingeschränkt, die Schiedsgerichtsbarkeit ausgeweitet werden. Im Rahmen der sog. "kleinen" Justizreform sollten richterliche Aufgaben - soweit vertretbar - auf Rechtspfleger übertragen werden. Überhaupt stellte Schiffer den Richterstand in seiner herkömmlichen Gestalt nahezu vollkommen in Frage. Er ging davon aus, daß unter dem gegebenen Gebot der Sparsamkeit eine "Hebung des Richtertums und des Richteramts" nur dann erzielt werden könne, wenn die Zahl der Richter erheblich vermindert und ihr Aufga81

Schiffer, ebenda.

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benkreis einschneidend verengt wird, da nur auf diesem Wege eine notwendige fachliche Auslese erfolgen könne. 82 Auch die Frage, ob die Träger dieses so um- und ausgestalteten Amtes noch als Beamte zu gelten hätten, sei "der Überlegung wert,,83. In bezug auf die Auswahl der Richter forderte er, wiederum im Zeichen einer breiten Akzeptanz der Rechtsordnung, praktische Lebenserfahrung und Volksverbundenheit der formalen juristischen Qualifikation mindestens gleich zu achten: "Niemals mehr darf es mit dem Examen allein, auch mit dem besten, abgetan sein. Zu der juristischen Prüfung müssen sich die Prüfungen des Lebens gesellen, und aus äußeren wie aus inneren Gründen wird man darauf sehen müssen, daß der Richter nicht in einem jugendlichen Alter den kurulischen Sessel besteigt, von dem aus er über die höchsten Güter seiner Mitbürger urteilt, sie um die intimsten Dinge ihres Lebens befragt, in ihre wichtigsten Angelegenheiten hineinleuchtet und hineingreift. ,,84 Ausdrücklich betonte Schiffer, daß der vollkommene Richter neben der notwendigen juristischen Qualifikation eine große Menschlichkeit aufweisen müsse, und daß, soweit sich beide Komponenten nicht zusammen antreffen ließen, der Menschlichkeit sogar der Vorrang gegenüber der Beherrschung der juristischen Technik eingeräumt werden müsse. Nach seiner Ansicht erfordere das Richteramt mehr als durch die Ablegung zweier juristischer Prüfungen vermittelt werden könne. Schon die Römer hätten die iurisprudentia als die scientia rerum humanarum et divinarum bezeichnet. Hieran teil zu haben erfordere "mehr, als die Ablegung der zwei in § 2 GVG vorgesehenen juristischen Prüfungen.,,85 Diese kritische Distanz zum Richterstand mag einer der Gründe gewesen sein, welche die sich von einer "Klassenjustiz" verfolgt fühlenden Kommunisten für Schiffer einnahm. Auch in anderen grundsätzlichen Fragen wirkte Schiffer aus linker Perspektive "progressiv". So konstatierte er, daß auch das Rechtswesen die Züge gesellschaftlicher Bedingtheit in sich trage und sprach sich gegen die "absolute" Herrschaft des Rechts aus: "Der Absolutismus des Rechts ist genauso unverträglich wie jeder andere Absolutismus. Das Recht kann nun einmal nicht verlangen, daß seine Anforderungen allen anderen unbedingt vorgehen. Es kann nicht beanspruchen, daß es sich auf Kosten aller anderen materiellen und ideellen Interessen durchsetzt. ,,86 Vielmehr sei das gesamte Recht, einschließlich des Verfassungsrechts, durch die gesellschaftlichen Verhältnisse determiniert. Selbst die Verfassung Eugen Schiffer, Sturm über Deutschland, S. 336. Schiffer, vorangehende Anmerkung, S. 337. 84 Schiffer, ebenda. 85 Schiffer, ebenda. 86 Eugen Schiffer, Die Deutsche Justiz - Grundzüge einer durchgreifenden Reform (1928), S. 223. 82

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sei einem dynamischen Prozeß unterworfen und unterliege insofern der "Wandelbarkeit allen Rechts". Dabei könne eine Änderung des Verfassungstextes auf sehr verschiedene Weise eintreten. Sie sei nicht bloß durch absichtliche Willensakte herbeigeführte Änderung des Verfassungstextes, sondern auch diejenige Änderung, die diesen Text unverändert bestehen lasse und durch Tatsachen hervorgerufen werde, die nicht von der Absicht oder dem Bewußtsein einer solchen Änderung begleitet werden müssen. "Metajuristisch" nennt er (gemeint ist Georg Jellinek, d. Verf. dieser Arbeit) diese Tatsachen, durch die die Verfassungen nicht brüsk gebrochen, sondern langsam gebogen werden. Damit ist auch hier die Axt an die Herrschaft und die Herrlichkeit des ius scriptum gelegt, dessen Ruhm überhaupt im Verblassen ist. Der Satz "scripta manent" - wat schriewt, bliewt - gilt nur noch für den Privatmenschen, den Privatrechtsverkehr des einzelnen, der an das gebunden ist, was in dem Vertrags-, der Verpflichtungs-, der Schuldurkunde enthalten ist, weil dahinter die Macht des Staates steht. Der souveräne Staat selbst aber ist an keine Urkunde gebunden, auch an keine Verfassungsurkunde. Sein Wille, nicht ihr Inhalt, verleiht ihr Macht. Nach ewigen, ehernen, großen Gesetzen muß er seines geschichtlichen Daseins Kreise vollenden. Ob diese Gesetze übereinstimmen mit denen, die er selbst sich gesetzt, darauf kommt es für letztere an. Nicht das geschriebene, sondern das gelebte Recht ist Recht. ,,87 Auf dem Hintergrund dieser Gesamtkonzeption stellte Schiffer selbst das urliberale Postulat der Gewaltenteilung zur Disposition. Im Rahmen einer Erörterung der Befassungskompetenz des Reichsgerichts in Hinsicht auf Gegenstände staats- und verwaltungsrechtlicher Natur, merkte er an, daß diese Art der Tätigkeit des Reichsgerichts ganz fraglos das Prinzip der Gewaltenteilung verletze. Anstatt hieraus den Schluß zu ziehen, daß damit allein die Zuständigkeit eines (zum Zeitpunkt der Verfassung der Schrift noch neu zu schaffenden) Reichsverwaltungsgerichts in Betracht komme, argumentierte Schiffer gerade entgegengesetzt indem er betonte, daß das Prinzip der Gewaltenteilung "in der Jetztzeit ohnedies mehr und mehr durchlöchert" werde und "so deutlich den Stempel geschichtlicher Bedingtheit an sich (trage), daß sachlich gerechtfertigte praktische Maßnahmen vor ihm nicht zurückzustehen brauchen". Immerhin hielt er mit Gustav Radbruch "dem immer noch spukenden Geist Montesquieus" zugute, daß er "wenigstens den Vorzug hat, unter Ungeistern ein Geist zu sein".88 bb) Präsident der Deutschen Zentralverwaltung für Justiz

1928 war Eugen Schiffer der Ansicht, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse den materiellen Normenbestand bereits weit hinter sich gelassen hätten. Da der Prozeß der Umbildung jedoch noch nicht seinen Abschluß gefunden habe, sei auch die Stunde des Umbaus der materiellen Rechtsord87 88

Schiffer, ebenda. Eugen Schiffer, Sturm über Deutschland, S. 338.

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nung noch nicht gekommen. Hierzu fehle der sprichwörtliche "Beruf unserer Zeit": "Der Beruf unserer Zeit zu einer positiven Rechtsgestaltung ist schwerlich vorhanden; sind doch beinahe alle dem Recht zugrunde liegenden materiellen und ideellen Begriffe in einem Zustand der Umbildung und Umwertung, der sich erst zu einer gewissen Läuterung durchringen muß, ehe man es wagen kann, ihn zur Grundlage gesetzlicher Vorschriften zu machen."

Knapp zwanzig Jahre später schien der Zivilisationsbruch der nationalsozialistischen Herrschaft und der Niedergang des deutschen Rechtswesens die Grundlage für die Umsetzung seiner radikalen Reformvorstellungen geschaffen zu haben. Gleichzeitig erfüllte er viele der Voraussetzungen und Wünsche der in der SBZ maßgeblichen Kräfte: Schiffer wurde zunächst dadurch zu Ulbrichts Wunschkandidaten, da er als Opfer des NS-Regimes die Gewähr dafür bot, daß er die Entnazifizierung des Personalbestandes der Justiz mit der nach Ansicht der Kommunisten erforderlichen Unbedingtheit durchführen würde. Das diese personelle Säuberung von einem dem konservativen Establishment der Weimarer Zeit angehörigen Reichsminister ausging, ersparte den Kommunisten den Vorwurf, unter dem Deckmantel der Entnazifizierung selbst Rache für erlittenes Justizunrecht unter der NS-Herrschaft nehmen zu wollen. Doch auch in inhaltlicher Hinsicht bot das von Schiffer entworfene Reformwerk, wenn auch einer durchaus unterschiedlichen Intention verpflichtet, Anknüpfungspunkte mit fundamentalen Rechtsansichten der deutschen Kommunisten. Maßnahmen, die nach Schiffers Reforrnkonzept auf der Grundlage einer bürgerlich-liberalen Gesellschaftsauffassung eigentlich dazu dienen sollten, die Autorität des Rechtsstaates wiederherzustellen, erschienen den Kommunisten in der Anfangsphase der SBZ insofern willkommen, als sie geeignet waren, die Verkrustung und Abgeschlossenheit der Justiz aufzubrechen. Somit durften die deutschen Kommunisten davon ausgehen, daß Schiffer von einem nahezu entgegengesetzten ideologischen Standpunkt her kommend, im Rahmen seiner Präsidentschaft die spätere Verwirklichung ganz wesentlicher Grundentscheidungen der sozialistischen Justizfunktionäre nicht vereiteln würde. Auch wenn dem Wirken der Deutschen Justizverwaltung nur provisorischer Charakter zukommen sollte, wollten die deutschen Kommunisten an ihrer Spitze einen Mann sehen, der die Türen zu einer späteren Umgestaltung des Justizwesens in wesentlichen Fragen nicht verschließt. Es waren hier drei wesentliche Kriterien, die Schiffer auch aus Sicht der Kommunisten für die Position des Chefs der DJV prädestinierten: Sein Wunsch nach Eindämmung des positiven Rechts ("Justizreform durch Justizabbau, s.o.), seine Ansicht, daß das Gewaltenteilungsprinzip nicht unabdingbare Voraussetzung eines geordneten Staatswesens sei und ganz wesentlich sein Standpunkt, ein guter Richter müsse mehr sein als ein guter Jurist. 89 Gerade der letztgenannte Aspekt ließ die Kommunisten hoffen, daß er ihrem

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zentralen Anliegen, der Heranziehung nicht akademisch ausgebildeter Werktätiger zum Dienst als "Volksrichter" im Zeichen der Überwindung der von ihm selbst monierten "Entfremdung von Volk und Justiz", nicht grundsätzlich feindlich gegenüberstehen würde. 90 Die SMAD folgte dem kommunistischen Vorschlag gern, da Schiffers Leitungserfahrung, seine Fachkunde in Fragen der Justizpolitik und die weit über die Zonengrenzen hinaus anerkannte Autorität, die ihm sein Lebenslauf verlieh, die Gewähr dafür boten, daß auch angesichts der dürftigen personellen und logistischen Möglichkeiten die Errichtung einer funktionierenden juristischen Notverwaltung baldmöglichst vollzogen sein würde. b) Die Justizkonzeption der Kommunisten und ihre Umsetzung

aa) Justizpolitischer Einfluß der KPD/SED in der DJV Die Gesetzesentwürfe der DJV spiegelten gerade in Hinblick auf Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechtsschutz keine marxistisch-leninistischen Positionen wider. Hierfür gab es zwei Ursachen: Einerseits waren die justizpolitischen Vorstellungen der deutschen Kommunisten gerade in Spezialgebieten des Rechts wenig ausgereift. Die Übernahme sowjetischer Vorstellungen auf diesem Gebiet hätte unter den gegebenen Umständen bedeutet, sich gegen den ausdrücklichen Befehl der SMAD zu stellen, der die Wiederherstellung der Gerichtsverfassung entsprechend dem Zustand vor dem 1. Januar 1933 gebot. Eigene Vorstellungen zu entwickeln hätte grundlegender justizpolitischer Arbeit bedurft, zu der sich zunächst kaum einer der ohnehin nicht zahlreichen Juristen in den eigenen Reihen berufen fühlte. Der andere Grund war, daß die Sowjets ihren deutschen Genossen keine Vormachtstellung in der DJV einräumen wollten und sie sich eine solche gegen die Autorität des Präsidenten auch nicht erwerben konnten. Bei 104 Mitarbeitern, über welche die DJV bei ihrer Gründung verfügte91 , umfaßte die Parteigruppe der SED in der DJV nicht mehr als 11 Mitglieder92 , worin 89 Daß die Parallelität auch in diesem Falle auf grundlegend unterschiedlichen Erwägungen beruht, liegt nahe. Eugen Schiffers Engagement für die Laienbeteiligung in der Vorkriegszeit - publizistisch wie auch (erfolglos) praktisch im Rahmen seiner Tätigkeit als Justizminister - folgte natürlich ganz anderen Prämissen als der "Demokratisierung der Justiz" im kommunistischen Sinne. Schiffer sah sich hier eher in der Tradition eines Lord Lyndhurst, den er in "Sturm über Deutschland" mit dem Ausspruch zitiert: Lorsque j'ai a nommer un juge, je cherche un gentleman. C'est tant mieux, s'il sait un peut de droit. (S. 337). 90 Tatsächlich sollten ihre Erwartungen nicht enttäuscht werden, vg1. Autorenkollektiv (Leitung: Hilde Benjamin), Zur Geschichte der Rechtspflege in der DDR, Band 1: 1945-1949, S. 93 f. 91 BArch DP 1 BI. 169, bis 1947 erhöhte sich ihre Zahl geringfügig auf 110. Zur kommunistischen Personalpolitik in der DJV vg1. umfassend Heike Amos im zweiten Band "Justizpolitik" des von Gerd Bender und Ulrich Falk herausgegebenen 4 Hoeck

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Nichtjuristen (z. B. Fahrer und Sekretärinnen) eingerechnet sind. Eine Schlüsselposition hatte, neben dem Vizepräsidenten Paul Bertz, lediglich Ernst Melsheimer als Leiter der Abteilung Gesetzgebung inne. 93 Der Nichtjurist Bertz konnte Schiffer im Konfliktfall nicht viel entgegensetzen. Die beiden der KPD angehörenden "gelernten" Juristen Karl Gentz und Ernst Melsheimer wurden zunächst als Leiter der Abteilungen für Staatsanwaltschaften (IV) bzw. Gesetzgebung (V) eingesetzt, da deren Führung aus der Natur der Sache heraus nur von ausgebildeten Juristen wahrgenommen werden konnte. Ein vertraulicher Bericht der Parteigruppe an Walter Ulbricht schilderte die Situation mit einem resignierenden Unterton: "Geht die Entwicklung in der Auswahl der Mitarbeiter in der Zentral verwaltung so weiter, so wird die Summe ihrer Lebensjahre bald astronomische Zahlen erreichen. Daß aber bei diesen alten, verbrauchten Menschen einfach die Fähigkeit nicht mehr besteht, in neuem Geiste Neues aufzubauen, braucht wohl nicht betont zu werden. (... ) Wir halten uns für verpflichtet, mit allem Ernst und Nachdruck darauf hinzuweisen, daß eine Fortsetzung dieser Personalpolitik unweigerlich dahin führen muß, daß der Aufbau eines einwandfrei antifaschistischen Justizapparats unmöglich gemacht wird." Diese Situation ennöglichte es dem Präsidenten, die DJV letztendlich vollkommen zu dominieren. In Anbetracht der Kürze der ihm verbleibenden Lebenszeit nahm Schiffer die Aufgabe, sein aus der Vorkriegszeit stammendes Refonnwerk in die Tat umzusetzen und dem Rechtsstaat wieder Geltung zu verschaffen, nun um so energischer in Angriff. Konflikte mit den Kommunisten in seinem Amt waren insofern bereits vorgezeichnet, als Schiffer keineswegs eine Entrechtlichung des Staatswesens aus Gründen politischer Opportunität hinzunehmen bereit war. Schiffer wollte den Rechtsstaat entschlacken, um seine Effizienz und Akzeptanz zu erhöhen, die Kommunisten wollten das Recht politisch instrumentalisieren. Hierzu war der Präsident grundsätzlich nicht bereit. Auch zog er - anders als die Kommunisten - keine Entwicklungslinie von den Grundlagen der Vorkriegsjustiz zu den Ereignissen der NS-Herrschaft. Die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur, deren Repressionen er aufgrund seiner jüdischen Abstammung ausgesetzt war, schien er nahezu ausgeblendet zu haben. 94 So mußten die Kommunisten auch bald erkennen, daß Schiffer nicht der Mann war, der ihnen sein Renommee für ihre politischen Bestrebungen lieh. Dies zeigte Werks "Recht im Sozialismus - Analysen zur Normdurchsetzung in Osteuropäischen Nachkriegsgesellschaften (1944/45-1989)", dort S. 109-145. 92 Stand Oktober 1947, vgl. Hilde Benjamin (Anm. 90), S. 60. 93 Die Anzahl hinreichend qualifizierter Juristen war in den Reihen der KPD gering. Selbst Bertz, immerhin der zweite Mann in der DJV, verfügte über keine juristische Ausbildung. 94 In seinen Lebenserinnerungen "Ein Leben für den Liberalismus" (1951) spricht er von einem "Zwischenspiel".

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sich bereits bei der Besetzung der Abteilungsleiterposten, bezüglich derer der Präsident ein Mitwirkungsrecht hatte (wenn auch die endgültige Entscheidung bei der SMAD lag). Aufgrund der zentralen Bedeutung der Abteilung 11 (des Personalressorts)95 sollte deren Leitung nach dem Wunsch der KPD-Funktionäre dem DJV-Mitglied Hilde Benjamin anvertraut werden. Dieses Bestreben stieß indes auf den erbitterten Widerstand Schiffers; der es kategorisch ablehnte, den Direktorenposten der Personalabteilung mit einer Kommunistin zu besetzen, da in der Person des Vizepräsidenten Paul Bertz bereits einem Kommunisten ressortmäßig die Oberaufsicht über die Justizabteilung zukam. 96 Schiffer verfügte daraufhin zunächst97 unwidersprochen die Besetzung der Stelle mit dem parteilosen Justizverwaltungsfachmann Dr. Winkelmann. 98 Durch Schiffers unabhängigen und dominanten Führungsstil wurde die Justizverwaltung für die Kommunisten zu einem schwierigen Terrain. So vermerkte ein an Walter Ulbricht gerichteter vertraulicher Bericht über die Personalsituation in der DJV99 , Schiffers Personalpolitik sei "völlig selbstherrlich". Über die von ihm getroffenen Personalentscheidungen pflegte Schiffer seinen satzungsgemäß mit der Aufsicht über die Personalabteilung betrauten Stellvertreter Bertz häufig nicht einmal zu informieren. Dessen Direktionsrecht wurde offensichtlich in einem solchen Ausmaß mißachtet, 95 Die Stelle war für die Kommunisten insbesondere deswegen von Bedeutung, da hier über die Besetzung der Richter- und Staatsanwaltsstellen sowie die Entnazifizierung aller Justizangehörigen ab gehobenem Dienst einschließlich der Rechtsanwälte und Rechtsbeistände entschieden wurde. 96 SAPMO BArch NY 4182 Nr. 1118, BI. 51 (Bericht Ernst Melsheimers an Walter Ulbricht). Melsheimer äußert hierin auch die Ansicht, daß es die eigentliche Intention Schiffers sei, nach Möglichkeit keine einzige Abteilung der Justizverwaltung mit einem KPD-Mitglied zu besetzen; in diesem Sinne auch der (kommunistische) Vizepräsident der DJV Paul Bertz in einem Bericht vom 23. August 1945 (SAPMO BArch DY 4182 Nr. 1118 [BI. 49)]. Sowohl Melsheimer als auch Hilde Benjamin kündigten für diesen Fall an, auf eine weitere Mitarbeit in der zentralen Verwaltung verzichten zu wollen, da sie dann ihrer Ansicht nach als Staatsanwälte zweckmäßigere Arbeit zu leisten vermochten. 97 Im Sommer 1946 gelang es Hilde Benjamin - vermutlich auf Verlangen der SMAD - doch noch (wenn auch zunächst nur kommissarisch) den Abteilungsleiterposten zu erhalten, so daß sie vor allem entscheidenden Einfluß auf die Durchführung der Volksrichterlehrgänge - einem kommunistisches Lieblingsprojekt - nehmen konnte. 98 Winkelmann repräsentierte das genaue Gegenteil eines im kommunistischen Sinn fortschrittlichen Justizfunktionärs. In seinem Lebenslauf bekannte er: "Politisch bin ich entsprechend meiner Auffassung. daß der Richter, will er wirklich unabhängig sein, sich nicht einseitig binden darf, parteilos. Meine Grundauffassung ist demokratisch und liberaL", Bericht an Walter Ulbricht "Über die Personalsituation in der DJV" (anonym), SAPMO BArch NY 4182 Nr. 1185, BI. 9. 99 Bericht an Walter Ulbricht "Über die Personalsituation in der DJV", wie vorangehende Anmerkung. 4*

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daß dieser in einem offiziellen Schreiben an den Ressortleiter Winkelmann jede Verantwortung für die Personalpolitik, auch gegenüber den Behörden der Besatzungsmacht, ablehnte. lOo Der Streit zwischen Schiffer und seinem Vizepräsidenten Bertz verdeutlicht exemplarisch die in der DJV herrschende lähmende Zwietracht, die eine effektive Arbeit am Wiederaufbau des sowjetzonalen Justizwesens verhindern mußte. Den Kommunisten kam es vor allem darauf an, Kaderpolitik zu betreiben und die Justiz zu einem politischen Brückenkopf auszubauen. Dies wußte der DJV-Präsident - mit der Rückendeckung der SMAD - zu verhindern, wie beispielhaft der von Vizepräsident Bertz an die Leitung der KPD weitergeleitete Bericht eines von Kommunisten protegierten Mannes namens Kahane belegt lO1 : "Vor einigen Tagen hatte mich Genosse Bertz zu einer Besprechung eingeladen, die am Dienstag, dem 21.8. unter dem Vorsitz des Herrn Dr. Schiffer stattfinden sollte und die zukünftigen Mitarbeiter seines Ressorts vereinigen sollte. Herr Dr. Schiffer machte gegen diese Einladung Einwendungen und bestellte mich schließlich auf Veranlassung des Genossen Bertz zu einer persönlichen Aussprache am Montag zu sich. Herr Dr. Schiffer empfing mich mit der Aufforderung, ihm zu sagen, was ich wolle. Ich erklärte, daß ich von Herrn Bertz veranlaßt worden sei, mich bei ihm vorzustellen. Darauf Dr. S. ironisch, er vermute, daß ich im Justizapparat ,Arbeit suche'. Ich möchte ihm kurz meinen Lebenslauf sagen. Indem ich ihn berichtigte, gab ich ihm einige meiner Daten. Er stellte daraufhin fest, daß ich der gegebene Mann für die Pressearbeit wäre. Er fügte jedoch hinzu, daß es bei ihm keine Pressearbeit geben werde und daß ich daher meine ,gewiß bemerkenswerten Talente woanders' anbringen sollte. Das Gespräch bewegte sich nun um die Frage der Zweckmäßigkeit der Einrichtung einer Pressestelle. S. erklärte, ein Pressereferat, für ihn, für die ,Excellenz Schmitz,102 oder seine Vertreter sei unnötig. Keine Begründung. Ferner: Eine agitatorische Bearbeitung der Presse sei unnötig, das vertrage sich nicht mit den Aufgaben der Justiz und er würde eine solche Tätigkeit nicht zulassen. Begründung: Seine Erfahrung als Minister. Was schließlich die Redaktion gelegentlicher Berichtigungen und dergI. anbelangt, so wolle er das selbst in der Hand haben. Da die Unterhaltung für Herrn S. offenbar nur den einen Sinn hatte zu demonstrieren, ,daß die Empfehlungen des Herrn Bertz weit entfernt davon sind, eine Entscheidung zu bedeuten' (mehrfache Unterstreichung seiner Autorität etc.), widersprach ich seiner Auffassung von der Bedeutung der Popularisierung der Justiz. Ich hatte ihm allerdings erklärt, daß ich nicht Mitglied der KPD bin, nicht unbedingt für sie spreche. Hieraus zog S. zwei neue Gründe gegen meine ,Beschäftigung': 1. sei ich nicht seiner Meinung, 2. nicht Mitglied einer Partei (letzteres in einer Andeutung)! Ebenda. SAPMO BArch NY 4182 Nr. 1118, BI. 53. 102 Hiermit ist vermutlich der ursprünglich dem Zentrum angehörige ehemalige preußische Staats- und Justizminister Hermann Schmidt gemeint, der zunächst als dritter Vizepräsident vorgeschlagen war, sein Amt jedoch nie antrat. 100 101

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Meinen ,elastischen Widerstand' quittierte er schließlich mit der Frage, welches Gehalt ich beanspruchen würde, ,da er einen früheren höheren Beamten im Auge habe, der selbstverständlich ein gewisses gesellschaftliches Niveau repräsentieren müsse'. Ich antwortete ihm entsprechend und er ,konzedierte' mir gnädig, mich damit zu beschäftigen, ihm seine Bibliothek in Ordnung zu bringen. Er habe nämlich keinen ausreichenden Etat für Pressearbeit. Schließlich eröffnete er mir, daß die von den Russen ihm vorgelegten Pläne der Organisation und des Aufbaus ihm heute noch unverständlich und ,unerquicklich' seien, daß er sie adoptiere, jedoch nur, um sie in seinen Plan aufgehen zu lassen. Ich möchte mich in einigen Tagen bei ihm melden, um ihm zu sagen, ob ich bereit wäre, sein Angebot anzunehmen."

Vizepräsident Bertz personalisierte für Schiffer gewissermaßen das Gegenteil seiner eigenen justizpolitischen Haltung. Er verfügte über keinerlei juristische Vorbildung und verspürte demnach auch wenig Neigung, die Aufgaben der DJV juristisch zu bewältigen. 103 Statt dessen ließ er sein Bestreben klar erkennen, die Position des Vizepräsidenten, dem das Personalreferat mittelbar unterstand, im Sinne kommunistischer "Kaderpolitik" zu nutzen. Persönliche Minderwertigkeitskomplexe ließen ihn unbotmäßig gegenüber seinem in den Umgangsformen dem Vorkriegskomment verhafteten Chef auftreten. All dies zusammengenommen führte dazu, daß sich Eugen Schiffer bereits am 3.12.1945 entschloß, in einem Schreiben "an das Zentralkomitee der KPD, z. Hd. Herrn Wilhelm Pieck" auf "die fernere Mitarbeit des Herrn Vizepräsidenten Paul Bertz zu verzichten".I04 Bei der Berufung in das Amt des Chefs der DJV hatte Schiffer die Verpflichtung übernommen, je ein Mitglied der KPD und der SPD zu seinen Stellvertretern zu bestellen, wobei ihm das Recht zugestanden wurde, diese Stellvertreter zu benennen. Von dieser Befugnis hatte der Präsident zunächst jedoch keinen Gebrauch gemacht, kam aber nun rückwirkend hierauf zurück, indem er Bertz die persönliche Vertrauenswürdigkeit und dienstliche Integrität ab103 In einem Schreiben an das Zentralkomitee seiner Partei räumte er dies auch unumwunden ein (SAPMO BArch NY 4182 Nr. 1118, BI. 193). Darin hieß es: "Noch bevor Schiffer meine Arbeit kannte, hat er sich einmal, es war am Beginn der Organisierung der Zentral verwaltung, gegenüber dem Genossen Melsheimer geäußert, daß ich ja, da ich kein Jurist sei, ihm wenig helfen könne. Ich habe mir nie eingebildet, daß ich besondere juristische Fähigkeiten besitze, aber so viel kann ich wohl heute, nach drei Monaten Tätigkeit in der Zentralen Justizverwaltung, sagen, daß, wenn ich so lange wie Schiffer auf diesem Gebiet gearbeitet hätte, ich mehr leisten würde als dieser Mann, dessen juristisches Können selbst von seinen engsten Mitarbeitern in der Justizverwaltung sehr stark angezweifelt wird. (... ) Was Schiffer mit seinem Urteil über meine Mitarbeit bezwecken will, ist wohl nicht so schwer zu erraten. Man braucht nur an die Absägung der 5 Berliner Staatsanwälte, die ebenfalls keine Volljuristen sind, zu denken, und schon hat man die Lösung des ,Rätsels'. Weil wir ,Nichtjuristen , die vorgesehene ,Vorbildung' nicht besitzen, deshalb versucht die Reaktion mit allen Mitteln, die von uns besetzten Positionen wieder zurückzugewinnen. " 104 Nachlaß Walter Ulbricht, SAPMO BArch NY 4182 Nr. 1118, BI. 172 ff.

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sprach. Darüber hinaus konstatierte er bei seinem Vizepräsidenten das Fehlen der Fachkenntnisse, die für die Justizverwaltung besonders notwendig seien. Er hob ausdrücklich hervor, daß das Richteramt auch seiner Meinung nach ohne justiztechnische Kenntnisse ausgeübt werden könne lO5 , das gleiche für die eigentlichen Geschäfte der Justizverwaltung hingegen nicht gelte. "Ohne Fachkenntnisse", so heißt es in dem Schreiben weiter, "oder die besondere Fähigkeit, sie sich durch die Teilnahme an den Geschäften anzueignen, geht es bei ihr nicht ab. Mangels solcher Kenntnisse ist Herr Bertz stets ein Fremdkörper in meinem Amt gewesen und geblieben. Er ist nicht in der Lage, den auf fachlichem Gebiet notwendigen Anforderungen seines Amtes zu genügen, so daß ich mich schließlich darauf beschränken mußte, ihm Vorlagen aus den ihm unterstellten Abteilungen zuleiten zu lassen und ihn über die von mir gefertigten Gesetzentwürfe und gesetzgeberischen Pläne zu unterrichten. Seine wirkliche Tätigkeit beschränkte sich auf die politische Untersuchung der in Betracht kommenden Personen - eine Tätigkeit, die gewiß von Wert und Bedeutung ist, indes nicht wohl für das hohe Amt ausreicht, das Herr Bertz in der Justizverwaltung bekleidet. Soweit sich seine Nachforschungen gegen einzelne Mitglieder des Amtes richteten, haben sie im Amte eine Beunruhigung hervorgerufen, die in keinem Verhältnis zu dem erzielten Ergebnis steht." Aus diesem vernichtenden Zeugnis zog Schiffer die Konsequenz, indem er Pieck aufforderte, einen geeigneten, den Kommunisten angehörenden oder nahestehenden Nachfolger für Bertz vorzuschlagen, um dadurch "Raum für die Möglichkeit zu schaffen, den notwendigen Schritt in einer schonenden, alles Aufsehen vermeidenden Form vorzunehmen". Bertz hingegen versuchte seine Position zu retten, indem er in seiner Stellungnahme an das Zentralkomitee seiner Partei - wie bereits zuvor, wenn auch nicht in dieser Schärfe - Behauptungen aufstellte bzw. weitertrug, um Schiffer persönlich zu desavouieren. Neben der Anschuldigung, Schiffer habe seine Amtsstellung zur persönlichen Vorteilsnahme mißbraucht, warf er ihm, der im Zeitpunkt der "Machtergreifung" immerhin im dreiundsiebzigsten Lebensjahr stand, vor, sich nicht hinreichend im antifaschistischen Widerstand engagiert zu haben. 106 "Das ist also der Mann, der heute an der Spitze der Zentralen Justizverwaltung steht, der in seinen Verfügungen usw. nur die Worte benutzt: ,In meinem Amte', ,Ich bestimme', ,Ich ordne an'. Mit einem Wort, der in allem, was er tut, den Versuch unternimmt, mit den Methoden eines kaiserlichen Staatssekretärs zu ,regieren'. Es wäre auch zweckmäßig, einmal die Frage zu prüfen, was Schiffer 105 In diesem Sinne votierte er durchaus "fortschrittlich" im Sinne der Sozialisten, indem er die von ihnen forcierte "Volksrichterausbildung" trotz ihrer fachlichen Unzulänglichkeiten, die schließlich zu ihrer Revision führten, öffentlich guthieß. (Vg1. Referat von Hilde Benjamin auf der ersten Juristenkonferenz der SED). 106 Schreiben von Bertz an das ZK der KP, SAPMO BArch NY 4182 Nr. 1118, BI. 195.

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überhaupt im Kampf gegen den Hitlerfaschismus getan hat. Was hat er hier als positive Fakten aufzuweisen? Daß ihn die Nazis anders behandelt haben wie Hunderttausende seiner Glaubensgenossen, das beweist allein die Tatsache, daß er die 12 Jahre, unbehelligt von den Nazis, in Deutschland verbleiben durfte, ja man spricht sogar davon, daß Schiffer unter dem persönlichen Schutz Himmlers gestanden hat, daß er nur dazu ,verurteilt' wurde, seine Villa zu verlassen und in ein Altersheim umzusiedeln. \07 Das alles ist, so kann man wohl annehmen, der Dank für Schiffers Tätigkeit während des Kapp-Putsches \08, wo er sogar dem Putschisten Erhardt Straffreiheit zugesichert haben soll, wenn dieser Berlin verlassen würde. \09 Und dieser Schiffer glaubt, einen aktiven Antifaschisten, der unter den schwierigsten Bedingungen im Reich und im Ausland den Kampf gegen das Hitlerregime geführt hat, während er, Schiffer selbst, ein geruhsames Leben in Berlin führen konnte und erst nach dem Sturz Hitlers wieder in der Öffentlichkeit in Erscheinung trat, damit drohen zu können, daß er eventuell weitere Maßnahmen gegen mich ergreifen will. Aber ebenso wie seine Schulmeisterei machen auch seine Drohungen auf mich nicht den geringsten Eindruck. Wenn ich privat mit Schiffer zu tun hätte, dann würde ich ihm die Worte eines Götz von Berlichingen als Antwort geben. Von Schiffer wird jetzt die Frage so gestellt, daß ich aus der Deutschen Justizverwaltung entfernt werde. Auch ich bin der Ansicht, daß es keine andere Lösung gibt als die, entweder ich oder Schiffer, einer von uns beiden muß weichen. Daß ich einem Kampf mit Schiffer bzw. seiner Klique 107 Das ist im Ergebnis wohl sogar zutreffend. Der preußische Finanzminister Johannes Popitz, ein persönlicher Freund Eugen Schiffers, hatte sich bei Heinrich Himmler für ihn verwandt, so daß er während der gesamten Zeit des Naziregimes relativ unbehelligt in Berlin bleiben konnte. In dieser Zeit verließ er nie seine Wohnung, um den Judenstern nicht tragen zu müssen. Das Kriegende erlebte er im jüdischen Krankenhaus in Berlin. (Vgl. Ramm, wie Anm. 62, S. 463). Johannes Popitz gehörte der deutschen Widerstandsgruppe um von Hasse!, Beck und Goerdeler an. Im Zusammenhang mit dem Attentat vom 20. Juli 1944 wurde er verhaftet und am 2. Februar 1945 in Plötzensee hingerichtet. Zu seiner eigenartigen und nicht in allen Einzelheiten geklärten Rolle im Widerstand - "Opfer einer Intrige innerhalb der Reihen der Prätorianergarde" (Rothfe!s) - vgl. Lutz Arwed Bentin, Johannes Popitz und earl Schmitt, S. 69 ff. Über Popitz Verbundenheit mit Schiffer gibt seine Laudatio "Eugen Schiffer, dem Siebzigjährigen", Deutsche Juristen-Zeitung 1930, S. 253 ff., Auskunft. 108 Zu Schiffers Rolle beim Kapp-Putsch vgl. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VII, S. 61. Danach hat Schiffer, der nach der "Flucht" der Reichsregierung nach Stuttgart am 13. März 1920 in Berlin blieb, um als Vizekanzler gegenüber den Aufrührern das legale Reichskabinett an seinem amtlichen Sitz zu repräsentieren und dessen Machtbefugnisse zu behaupten, gerade verhindert, daß die "Regierung" Kapp die Leitung der Zivilbehörden des Reichs in der Reichshauptstadt übernehmen konnte. 109 In seinem Bemühen um eine unblutige Liquidation des Staatsstreichs versprach Schiffer den Putschisten, sich als Reichsjustizminister für den Erlaß eines Amnestiegesetzes durch den Reichstag einzusetzen (vgl. Huber, wie vorangehende Anmerkung, S. 91). Schiffers Engagement bei den Verhandlungen wurde ihm nach dem Putsch von der Linken verübelt. Insbesondere die freien Gewerkschaften forderten seinen Rücktritt, indes war die DDP nicht bereit, seine Ausschaltung hinzunehmen. (Huber, S. 123).

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nicht ausweiche, das dürfte den Genossen des Sekretariats klar sein. Aber Genosse Ulbricht hat in der eingangs erwähnten Besprechung mit Recht auf die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit der Partei Schiffers hingewiesen und damit ist wohl auch die Entscheidung Bertz-Schiffer bereits gefallen. Ich bitte deshalb, mir den von Euch gefaßten Entschluß bald zu übermitteln."

Durch die Zuspitzung der Situation unter Zugzwang gesetzt, ging die KPD den Weg, der auf interzonaler Ebene das geringere Aufsehen verursachte, und ersetzte Bertz durch Ernst Melsheimer. 110 Für die erste Phase der SBZ läßt sich also konstatieren, daß der Einfluß der deutschen Kommunisten entgegen der von ihnen in der Zeit des Kampfes gegen die NS-Herrschaft gehegten Vorstellung, nach Hitler würden ihre Zeiten anbrechen, im Bereich der Justizverwaltung ausnehmend gering war. Bemühungen der Kommunisten, den Apparat der Justizverwaltung und damit letztlich die Justiz in der SBZ selbst zu unterwandern, scheiterten am energischen Widerstand des überaus leitungserfahrenen Präsidenten Schiffer, der hinsichtlich der Besetzung der juristischen Stellen der Zentralen Justizverwaltung weitgehend souverän entschied. Daraus erklärt sich, daß eine relative Vielzahl von Juristen bürgerlich-liberaler und christlich-demokratischer Herkunft Führungspositionen in der DJV einnehmen konnten, die von der Prämisse eines demokratischen Gesamtdeutschlands ausgehend aus dem Fundus der Reformdiskussionen der Weimarer Zeit schöpften. 111 bb) Ideologische Grundzüge einer kommunistischen Justizkonzeption Die deutschen Kommunisten entwickelten erst verhältnismäßig spät pointierte Gedanken zur Justizpolitik, die über die Regelung einzelner Sachgebiete hinauswiesen. Dies lag vor allem daran, daß die Anzahl von Juristen - insbesondere von Rechtslehrern - in ihren Reihen von jeher gering war. Eine der frühesten Versuche einer grundlegenden justizpolitischen Standortbestimmung stellt die 1947 in der Zeitschrift "Einheit" erschienene Arbeit Karl Polaks 112 mit dem Titel "Gewaltenteilung, Menschenrechte, Rechts110 Bertz wurde fortan mit vergleichsweise unbedeutenden Verwaltungsposten außerhalb der Justizverwaltung betraut. Unter dem Verdacht des ZK der SED, "die Befehle der amerikanischen Imperialisten befolgt zu haben", nahm er sich 1950 das Leben. (Vgl. Lorenz, wie Anm. 12, S. 135). 111 Schönfeldt (Anm.19), S. 39. 112 Karl Polak, geboren 1905 in Oldenburg, studierte Rechtswissenschaften in Frankfurt am Main (wo er einer sog. "roten" Studentengruppe angehörte), Heidelberg und München. Er promovierte bei Erik Wolf über das Thema "Studien zu einer essentialen Rechtslehre". Da ihn das Kammergericht 1933 wegen seiner jüdischen Abstammung aus dem Referendardienst entließ, legte er nie das Assessorexamen ab. Er emigrierte in die Sowjetunion, wo er als wissenschaftlicher Mitarbeiter zunächst am Rechtsinstitut bei der Generalstaatsanwaltschaft der UdSSR und später am Rechtsinstitut der Akademie der Wissenschaften der UdSSR arbeitete, wo er Wy-

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staat"l13 dar, welche auch eine ideologische Referenz für die SED-Juristenkonferenzen bildete. In dieser Arbeit grenzte Polak justizpolitische Konzeption der Kommunisten scharf von der Justizverfassung der Weimarer Republik ab. Der Weimarer Reichsverfassung warf er die "geradezu erschreckende Verkennung der realen gesellschaftlichen Kräfte in Deutschland" vorY4 Indem die Väter der Reichsverfassung den seit 1848 als "demokratisch" anerkannten Begriffen Gewaltenteilung, Grundrechte und Rechtsstaat zu verfassungsmäßiger Geltung verhalfen, hätten sie letztlich einem ,,juristischen Formalismus" gehuldigt. 115 Denn trotz der Etablierung dieser "ehernen Freiheitsprinzipien" habe sich auf der Grundlage dieser Verfassung im Ergebnis die Restauration des wilhelminischen Staatsapparates vollzogen, womit die "Frage der Staatsrnacht gegen die Volksrnassen entschieden und der Weg zu einer demokratischen Entwicklung abgeschnitten" worden sei. 116 Nach Polaks Auffassung seien die "alten Freiheitsprinzipien des Verfassungsrechts" deshalb ungeeignet als Schutzinstrumente gegen die aufsteigende Barbarei gewesen, da sie "ihren realen geschichtlichen schinskij kennenlernte. 1941 wurde er nach Taschkent evakuiert, wo er als Dozent arbeitete. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland wurde er Mitglied der KPD. Von 1946 bis 1948 war er Leiter der Abteilung Justizfragen beim Parteivorstand der SED, ab 1947 auch Vorsitzender des rechtspolitischen Ausschusses beim ZK der SED. 1948 bis 1949 Mitglied des Verfassungsausschusses des "Deutschen Volksrates" (des zentralen Organs der sog. "Volkskongreßbewegung"); 1948 bis 1952 Professor für Staatsrecht und -theorie an der Leipziger Juristenfakultät; 1953-1963 politischer Mitarbeiter der Abteilung Staats- und Rechtsfragen beim ZK der SED. Professor an der Humboldt-Universität. 1960 bis 1963 Mitglied des Staatsrates; 1963 Leiter des Instituts für staats- und rechtswissenschaftliehe Forschung an der Deutschen Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften, Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR. (Quellen: Thomas Heil, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Thüringen 1945-1952, Hubert Rottleuthner, Steuerung der Justiz in der DDR, S. 568 f., Karl August Mollnau in: Michael Stolleis u. a. (Hrsg.), Juristen. Ein biographisches Lexikon - Von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, S. 491 f.). Aus der Gruppe der Rechtswissenschaftler der DDR ragte Polak in Hinblick auf Geltung und intellektuellen Anspruch weit heraus. Seine wissenschaftliche Vielseitigkeit wird an der Unterschiedlichkeit seiner Veröffentlichungen deutlich: Bereits 1935 veröffentlichte er in "Sowjetstaat" seine Arbeit "earl Schrnitt als Staatstheoretiker des deutschen Faschismus". Hobbes und Spinoza waren Gegenstände seiner Veröffentlichungen in der Zeitschrift "Sinn und Form". 1947 veröffentlichte er einen Beitrag zu "Wesen und Wert der Rechtsgeschichte". (Vgl. Eberhard Poppe und Wolfgang Weichelt, Karl Polaks Beitrag zur Herausbildung einer marxistisch-leninistischen Staats- und Rechtswissenschaft der DDR, Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Jahrgang 1986, Nr. 11, S. 18). Polak starb 1963. 113 Karl Polak, Gewaltenteilung, Menschenrechte, Rechtsstaat - Begriffsformalismus und Demokratie - Zur Kritik der Weimarer Verfassung, in: Einheit 1947, S.385-401. 114 Polak (vorangehende Anmerkung), S. 387. 115 Polak, ebenda. 116 Polak, ebenda.

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Sinn" verloren hätten und nicht mehr als Ausdruck realer gesellschaftlicher Kräfte hätten gelten können. Gewaltenteilung, Menschenrechte und Rechtsstaat seien in der - aus marxistischer Sicht - Spätphase der bürgerlichen Gesellschaft sinnentleert gewesen, da hinter ihnen "kein Interesse der Massen mehr, keine geschichtliche Notwendigkeit" standY7 Zu leeren Schlagworten geworden, seien diese drei zentralen Begriffe nun um so gefährlicher, da sich "die Feinde der Demokratie ihrer bemächtigten, um das Streben der Massen des Volkes nach Freiheit zu erdrosseln". Aus dieser historischen Perspektive griff Polak die seiner Ansicht nach "bürgerlichen" Rechtsbegriffe an: So brachte er gegen das Prinzip der Gewaltenteilung als "dem Kernstück der klassischen deutschen Staatslehre des 19. Jahrhunderts" vor, daß es dem Geiste des Konstitutionalismus entsprungen sei und auch nur in dieser konkreten historischen Situation seine Existenzberechtigung gehabt habe. In der historischen Phase des "absolutistischen Polizeistaates" sei es gut und sinnvoll gewesen, die Willkür der Staatsgewalt dadurch zu begrenzen, daß die Gesetzgebung dem König entzogen und in die Hände einer vom Volk gewählten Versammlung gelegt wird. Ebenso sei es zeitgemäß gewesen, die unabhängigen und unabsetzbaren Richter nur diesem Gesetz zu unterwerfen und allein die Verwaltung, die Exekutive, in die Hand des Königs und seiner Beamten zu legen. 118 Eine geschichtliche Existenzberechtigung besitze der Grundsatz der Gewaltenteilung jedoch nur so lange, wie es zur staatsrechtlichen Ordnung eines Kompromisses zwischen absolutistischer Gewalt und Bürgertum erforderlich sei, also dort, wo noch ein nicht mit dem Volke selbst identischer Staatsapparat bestehe und das Volk nicht selbst und unmittelbar Richtung und Inhalt der staatlichen Gewalt bestimme. Wo hingegen das Volk selbst zum Träger und Vollstrecker der Staatsgewalt erhoben worden sei, erscheine die Selbständigkeit des Verwaltungs- und Justizapparates schädlich. Insbesondere habe die Geschichte der Weimarer Republik gezeigt, daß die durch den Grundsatz der Gewaltenteilung abgesicherte Unabhängigkeit der Justiz sich als einer demokratischen Entwicklung hinderlich darstelle. Die geschichtliche Entwicklung habe hier deutlich gezeigt, daß sich die Justiz als "Säule der Staatsgewalt" vom Volke isoliert habe und zu einem "selbstherrlichen, autokratischen Apparat" herangewachsen sei. 1l9 Dabei sei die "Unverantwortlichkeit des Richters vor dem Volke" dadurch begünstigt worden, daß die Verfassung ihre lebenslange Anstellung und Unabsetzbarkeit garantiert habe. Als schlichtweg reaktionär brandmarkte Karl Polak das Recht des Reichsgerichts, die vom demokratisch gewählten Reichstag beschlossenen Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu überprüfen und 117 118 119

Polak, ebenda. Polak, (Anm. 113), S. 388. Polak, (Anm. 113), S. 392.

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damit dessen Gesetzgebungstätigkeit zu kontrollieren. 120 Im Hinblick auf das Schicksal des Gewaltenteilungsgrundsatzes zog Polak für die weitere Rechtsentwicklung im Einflußbereich seiner Partei folgendes Fazit: "Die Entmachtung der Reaktion und der volksfeindlichen Elemente erfordert, daß nicht nur die Gesetzgebung, sondern in gleicher Weise auch die Ausführung der Gesetze in Justiz und Verwaltung in die Hand des Volkes übergeht. Man wende nicht ein, die Ausführung der Gesetze sei eine sekundäre Angelegenheit, das Gesetz binde (... ) den Ausführenden. Die letzten zwei Jahrzehnte in Deutschland haben gezeigt, zu welchen ungeheuerlichen Gesetzesverdrehungen eine entartete Bürokratie in Justiz und Verwaltung fähig ist. Wir wollen eine saubere, unabdingbare und gerechte Durchführung der Gesetze. Dafür gibt es aber nur eine Garantie: daß sie unter breitester Mitwirkung und ständiger Kontrolle des Volkes selbst geschieht. Wir wollen die Wiederherstellung des Rechts und der Gesetzlichkeit, die eine entmenschte Kaste zerstörte und in den Schmutz schleifte. Wir lehnen daher das Prinzip der Gewaltenteilung in der alten Form ab. (... ). Wenn wir den Grundsatz der Gewaltenteilung aufgeben, so ist damit keineswegs gesagt, daß wir aufhören, scharf zwischen den drei verschiedenen Staatsfunktionen Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz zu unterscheiden. Jede modeme Verwaltung wird auf dieser Unterscheidung aufbauen. Aber was wir verhüten wollen und verhüten müssen, das ist, daß diese Funktionen, vor allem die Verwaltung und die Justiz, dadurch zum Spielball reaktionärer Kräfte werden, daß diese sich - mit Hilfe der Theorie der Gewaltenteilung - zu ,Staaten im Staate', zu selbstherrlichen Apparaten entwickeln, zum Schaden des Rechts und zum Schaden des Volkes."

Folgerichtig lehnte Karl Polak den Rechtsstaat im formalen Sinne, der als "Gesetzesstaat" neben dem Prinzip der Gewaltenteilung die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und die Institution einer Verwaltungsgerichtsbarkeit voraussetzt 121 , für seine Kommunistische Partei ab. Dagegen nahmen die Kommunisten für sich in Anspruch, einen Rechtsstaat im materiellen Sinne, der also auf Gerechtigkeit gegründet ist, begründen zu wollen. 122 Daher Polak, (Anm. 113), S. 392 f. Vgl. Horst Tilch (Hrsg.), Deutsches Rechtslexikon, Band III. 122 Diesen Aspekt verdeutlichte der thüringische Ministerialdirektor Dr. Karl Schultes in seiner Arbeit "Rechtsstaat und Gerichtsbarkeit im Verfassungssystem der realen Demokratie (in: Neue Justiz, 1948, S. 1-10, 4), worin es heißt: "Es ist (. .. ) weder zutreffend noch zulässig, so zu tun, als gäbe es ,unwandelbare Rechtsstaatsprinzipien an sich' oder als gäbe es nur ,den Rechtsstaat', worunter meist lediglich der formale Rechtsstaat verstanden wird. Wenn z. B. Thoma (... ) definiert: ,Ein Staat ist Rechtsstaat in dem Maße, in dem seine Rechtsordnung die Bahnen und Grenzen der öffentlichen Gewalt normalisiert und durch unabhängige Gerichte, deren Autorität respektiert wird, kontrolliert', so handelt es sich stets nur um den Begriff staatlicher Gesetzmäßigkeit und ihrer Kontrolle. Es gilt jedoch auch einen inhaltlichen, ,materiellen' Rechtsstaatsbegriff zu beachten, der den Forderungen der sozialen Demokratie entspricht. Thoma selbst hat schon 1909 in seinem berühmten Vortrag über ,Rechtsstaatsidee und Verwaltungsrechtswissenschaft' erklärt, daß die individualistische Rechtsstaatsidee ,durch die schöpferischen Kräfte der nationalen und sozialen Ideen überwunden wurde (... )' und anschließend eine politische und 120 121

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verwehrte sich Polak besonders dagegen, daß die Liberaldemokraten im Wahlkampf - "nicht ohne Spitze gegen unsere Partei" - den Rechtsstaat proklamierten. 123 Nach seiner Ansicht verwechselten damit "die Ritter vom Rechtsstaat" eine Vorstellung vom Recht mit dem Wesen des Rechts überhaupt. Die Existenz von über der konkreten gesellschaftlichen Ordnung stehenden, für alle Epochen und politischen Systeme gleichermaßen verbindlichen Rechtssätze erkannte der Autor nicht an. Statt dessen gelte: "Die Norm oder die Ordnung, auf die der jeweilige Staat sich gründet, das ist sein Recht." (Hervorhebung im Original). Aus der Marxschen "Grunderkenntnis" des Rechts als zum Gesetz erhobenen Willen der herrschenden Klasse ergebe sich die Möglichkeit eines antiken Rechtsstaats, eines feudalen Rechtsstaats, eines Polizeirechtsstaats, eines bürgerlichen Rechtsstaats und eines sozialistischen Rechtsstaats. Der Begriff des Rechtsstaates sei somit "an sich völlig inhaltsleer", denn "jede politische und historische Formation kann ihn für sich in Anspruch nehmen und hat ihn für sich in Anspruch genommen" - selbst die NS-Juristen hätten ihren Staat als einen nationalsozialistischen Rechtsstaat bezeichnet. Mehr als das sei er jedoch nicht nur konturenlos und damit obsolet, sondern gefährlich in der politischen Debatte, da das Recht "zu einem bloßen Propagandatrick entwürdigt" dem Bürgertum im Kampf "gegen jede entscheidende Umgestaltung unseres gesellschaftlichen und politischen Lebens diene".124 Der "formale Rechtsstaat der Liberalen" bedeute ein politisch reaktionäres "Zurück zu einem sinnlosen Gesetzesformalismus".125 Dagegen umfasse das Wesen des sozialistischen Rechts "die Sicherung der Grundlagen der gesellschaftlichen Entwicklung und damit der Gesellschaft als Ganzes und der einzelnen Gesellschaftsmitglieder und so die Sicherung der ganzen Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft".126 Im Gegensatz zum bourgeoisen Recht sei das sozialistische nicht nur Reflex der bestehenden und als unveränderlich hinzunehmenden gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern als eine die Entwicklungsgesetze der Gesellschaft durchsetzende Kraft "Hebel und Motor der Entfaltung der sozialistischen Gesellschaftsbeziehungen".127 In diesem Sinne forderte Polak, das Recht in den Dienst der gesellschaftlichen Entwicklung zu stellen. Nur ein Recht, eine formal-juristische Rechtsstaatsidee gegenübergestellt. In der Evolution der politischen Rechtsstaatsideen komme das auf Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit gerichtete sittliche Ideal zum Ausdruck, welches in Angesicht verschiedener Aufgaben verschiedene politische Tendenzen habe: bei der Emanzipation des dritten Standes ziele es auf formale Rechtsgleichheit ab, bei der Emanzipation des vierten Standes dagegen fordere es materielle Rechtsgleichheit, d. h. soziale Gerechtigkeit." 123 Polak (Anm. 113), S. 398. 124 Polak (Anm. 113), S. 399. 125 Polak, ebenda. 126 Karl Polak, Zur Dialektik in der Staatslehre, S. 431.

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daß alle politischen, sozialen und wirtschaftlichen Errungenschaften in sich trage und sie schütze, habe noch eine Existenzberechtigung. Dazu sei es indes erforderlich, mit dem Grundsatz "Vor dem Gesetz sind alle gleich." zu brechen und zu fragen, "wer in concreto der Handelnde ist". Die Parteilichkeit sollte fortan wesentliches Merkmal der sozialistischen Rechtspflege sem: "Es ist an der Zeit, daß wir der Göttin der Justiz die Binde von den Augen nehmen und die Justiz sehend machen. Sollen Justiz und Recht heute wieder sinnvoll sein und sich ihre Existenzberechtigung im gesellschaftlichen Ganzen wieder erwerben, so haben sie den Gesetzesformalismus abzuschütteln, um den Blick freizumachen für die Erkenntnis der realen Tatsachen des gesellschaftlichen Lebens und für das Entwicklungsnetz der Geschichte. Sie werden dann erkennen, daß ihre Funktion im gesellschaftlichen Ganzen eine politische ist, und hier hat sie sich zu entscheiden: Für oder gegen den Fortschritt.,,128

Die Ablehnung des liberalen Rechtsstaates bedingte die Forderung nach einem neuen Richtertyp. Ebenso wie das Recht selbst nicht mehr dem Prinzip der fonnalen Gleichheit aller Rechtsunterworfenen folgen dürfe, müsse auch Abschied genommen werden von dem Ideal des "unpolitischen" Richters. Demnach dürfe der Richter auch nicht länger das geschriebene Gesetz, den Gesetzesbefehl, mit dem Recht selbst gleichsetzen. Rechtsprechung müsse mehr sein als glatte und logisch einwandfreie Gesetzesanwendung. Wiederum diente die Verkehrung des Rechts unter der NS-Herrschaft als argumentative Stütze. Karl Polak berief sich auf Gustav Radbruch, von ihm selbst als "Altmeister der deutschen Jurisprudenz" verehrt 129 , der nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes festgestellt habe: "Mittels zweier Grundsätze wußte der Nationalsozialismus seine Gefolgschaft, einerseits die Soldaten, andererseits die Juristen, an sich zu fesseln: ,Befehl ist Befehl' und ,Gesetz ist Gesetz. '"

Der "berufenste deutsche Jurist" sei hier zu der Erkenntnis der verhängnisvollen Rolle des Grundsatzes der formalen Gerechtigkeit gekommen. So habe die strenge Bindung des Rechts an den Gesetzesbegriff und der Justiz an die Gesetzesbefehle der Staatsrnacht den deutschen Richter entmachtet und ihn ganz unter die Botmäßigkeit des Hitler-Regimes gebracht. Hierin sah Karl Polak die zwingende Konsequenz des unpolitischen Richters, einer rein "objektiven", "unpolitischen Justiz". Gustav Radbruch, "diesem bürgerlichen Gelehrten", sei "das Wesen dieser ,Objektivität' und ,Gesetzlichkeit' 127 Vgl. Eberhard Poppe und Wolfgang Weichelt, Karl Polaks Beitrag zur Herausbildung einer marxistisch-leninistischen Staats- und Rechtswissenschaft der DDR, Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Jahrgang 1986, Nr. 11, S. 13. 128 Polak (Anm. 113), S. 401. 129 Polak, ebenda.

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erst klar geworden, als es sich in den Bestialitäten des Hitler-Regimes manifestierte". Auf dieser gedanklichen Grundlage fordert Polak für den sozialistischen Richter, daß er die ..politische Funktion des Rechts" im Auge behalten müsse. Niemals mehr dürfe er sich unter die ..formale Gerechtigkeit" und die ..Phrase vom Rechtsstaat" begeben und damit ..zum blinden Werkzeug der Politik" werden. 130 cc) Grundsätze der Gesetzgebung und Gesetzesanwendung (1946) Auf ihren ..Juristenkonferenzen" nahm die SED die Aufgabe in Angriff, die vorerst noch etwas vagen justizpolitischen Vorstellungen der SED zu konkretisieren und für die weitere Parteiarbeit in der DJV und auf Ebene der Landesverwaltungen nutzbar zu machen. Eine erste inoffizielle Juristenkonferenz l3l fand am 3. August 1946 im Parteihaus der SED in Berlin statt. Karl Polak, der die Grundsätze der künftigen Justizpolitik der SED erarbeitet hatte und nun ..gleichsam wie ein Dissertant zu ihrer Verteidigung" 132 erschien, hatte seinen Thesen eine Präambel vorangestellt, welche die Richtung der Reformbestrebungen der SED definierte: "Unsere Refonnarbeit auf dem Gebiete der Justiz hat sich von dem Bestreben leiten zu lassen, die Justiz aus ihrer Abgeschlossenheit und verhängnisvollen Isoliertheit von dem gesellschaftlichen Leben herauszulösen und sie in den Dienst des demokratischen Aufbaus zu stellen."

Das Recht, welches der Justizausübung zugrunde liegt, solle fortan ..kein abstraktes, übergesellschaftliches Phänomen mehr" sein, ..da alle Rechtsprinzipien ihren Grund in der gesellschaftlichen Entwicklung haben, und das erheben wir eben zum Rechtsprinzip" (Herv. d. Verf.) ...Formalistischen" Rechtsbestimmungen, die sich ..notwendigerweise bei den heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen zum Schaden der Entwicklung unserer Demokratie auswirken müssen", werde damit ..ein Riegel vorgeschoben". Aufgabe des Richters sollte es nunmehr sein, gegebenenfalls in Abweichung vom geschriebenen Recht sein Urteil so zu fallen, ..wie es das anständige antifaschistisch-demokratische und sozialistische Gewissen" von ihm verlangt und dabei ..das, was am Gesetz unzulänglich ist, zu überwinden,,133. Polak, ebenda. Stenographische Niederschrift über die parteiinterne "Juristen-Konferenz am 3. und 4. August im Parteihause zu Berlin NO", SAPMO BArch DY 30/IV 2/1.01/ 13. 132 Protokoll der Juristenkonferenz (wie vorangehende Anm.), Referat Polak, BI. 4. 133 Protokoll der Juristenkonferenz (Anm. 131), Referat Polak, S. 40. Diesen Prozeß bezeichnet Polak als "Umwertung des Rechts" (!). Da zunächst indes noch keine auf dem sozialistischen Rechtsbegriff basierenden Kodifikationen der Rechtsanwendung zugrunde gelegt werden konnten, sollte seine Etablierung zunächst vor130

I3I

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Die Aufgabe der Rechtsprechung sollte aus dieser Perspektive früher ansetzen, als das nach der bisherigen Auffassung der Fall war. Sie sollte sich nicht mehr auf die Subsumtion eines Lebenssachverhaltes unter eine als verbindlich anerkannte Norm beschränken, sondern bereits die Norm in der Weise auslegen, daß volle Kongruenz zwischen den gesellschaftlichen Erfordernissen beim Aufbau des Sozialismus und individueller Rechtsposition geschaffen wird. Dabei sollten die Richter in ihrer Bestimmung der gesellschaftlichen Erforderlichkeit keineswegs frei, sondern der Prärogative des Parlamentes unterworfen werden. Neben der Verabschiedung der Gesetze sollte der Volksvertretung also darüber hinaus die Aufgabe zukommen, verbindlich über ihre Anwendung entscheiden zu können. Keinesfalls sollte der Justiz eine Verwerfungskompetenz gegenüber den Gesetzen der Volksvertretung zukommen. Auf der Konferenz führte Walter Ulbricht hierzu aus: "Im neuen demokratischen Verfassungsrecht wird davon ausgegangen, daß die Justiz nicht mehr ein selbständiges Machtorgan ist, das mehr oder weniger unabhängig vom Parlament und von den Volksinteressen handelt. Sie hat sich in den Dienst des Volkes und des demokratischen Aufbaus zu stellen. Das Parlament als Vertreter des Volkes ist der Schöpfer des Rechts. Seine Gesetze sind unmittelbar bindend für alle Richter. Diese haben die Aufgabe, die Gesetze des Parlaments durchzuführen. Ordnungsgemäß verkündete Gesetze sind für jeden Richter bindend. Er hat über ihre Verfassungsmäßigkeit nicht zu entscheiden." Der Justiz sollte mithin ihre die Staatsmacht kontrollierende und regulierende Funktion genommen werden. Im Mittelpunkt der "volksdemokratischen Ordnung" sollte die dominierende Rolle der Volksvertretungen stehen, so wie sie in den Anfang 1946 erlassenen Länderverfassungen unter dem bestimmenden Einfluß der SED bereits zementiert worden war. Der Justiz kam in diesem Zusammenhang lediglich die Aufgabe eines Exekutivausschusses des Parlamentes zu. Insbesondere die unmittelbare Verantwortlichkeit der Gerichte gegenüber der Volksvertretung hob Walter Ulbricht als wertvolle demokratische Errungenschaft hervor: "Was ist nun das Charakteristische der gegenwärtig im Aufbau befindlichen volksdemokratischen Ordnung? (. .. Ein wesentliches) Merkmal ist die Rolle der rangig auf die Generalklausein gestützt werden. Für den Bereich des Zivilrechts hob Polak hervor: "Es gibt eine Fülle von Paragraphen im geschriebenen Gesetz, die es erlauben, das richtige Urteil zu finden. Ich weise nur auf die Paragraphen 242, 147 usw. des BGB hin. Nach § 242 sollen die Prinzipien jedes anständigen Menschen Richtschnur bei der Vertragsauslegung für die richterliche Entscheidung sein. Es gibt eine Generalklausei, eine clausula rebus sic stantibus; es gibt Prinzipien im Gesetz, die besagen: wenn die Umstände sich geändert haben, muß auch der Richter diesen veränderten Umständen Rechnung tragen. Erst der ist ein wahrhafter Richter, der ein Urteil so begründet: Es steht zwar so im Gesetz, aber das Gesetz gibt mir auch die Möglichkeit, anhand von zahlreichen Generalklausein eine richtige und anständige Entscheidung zu fällen."

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Volksvertretungen als der höchsten demokratischen Körperschaft. Die Staatsgewalt geht nicht nur vom Volke aus, indem es seine Abgeordneten in das Parlament wählt, sondern das Volk hat das Recht der Mitwirkung in der Verwaltung und Rechtsprechung und in der Kontrolle der öffentlichen Verwaltungsorgane. Während also in der Weimarer Republik die Volksvertreter nur formales gesetzgebendes Recht hatten und unter der faschistischen Herrschaft das Führerprinzip herrschte, ist jetzt das Parlament die höchste Körperschaft, die nicht nur für die Gesetzgebung, sondern auch für die richtige Durchführung der Gesetze verantwortlich ist." 134

Die parlamentarische Verantwortlichkeit der Richter stellte mithin einen Dreh- und Angelpunkt der sozialistischen Justizkonzeption dar, da durch sie die einheitliche Leitung der Volksdemokratie gewährleistet werden sollte. Mit ihrer Verwirklichung sollte ein uraltes sozialistisches Postulat verwirklicht werden. 135 In diesem Sinne stellte die konsequente Entnazifizierung für Walter Ulbricht nur den ersten Schritt zu einer grundlegenden Neubewertung der Rolle der Justiz im Staat dar: "Von den Gegnern der Demokratie ist der Einwand erhoben worden, daß durch die Errichtung des Parlaments zur höchsten Instanz die Unabhängigkeit der Richter in Frage gestellt ist. Dieser Einwand trifft indes nicht zu, denn der Richter ist in seiner Rechtsprechung unabhängig gegenüber der Verwaltung und anderen Organen, aber er ist an das Gesetz gebunden, das vom Parlament erlassen wird. (... ) Die Aufrechterhaltung jener ,Unabhängigkeit', wie sie in der Weimarer Republik bestand, hieße die Aufrechterhaltung der Sonderrechte einer Kaste und ihrer staatlichen Vollmachten, die Unabhängigkeit der Richter von der Demokratie. Die Justiz hat in der Weimarer Republik unter der Maske der Unabhängigkeit dem Wiederaufkommen der Reaktion gedient und hat sogar mitgeholfen, die Demokratie zu erdrosseln und dem Faschismus den Weg zu bereiten. Ich darf daran erinnern, daß das Reichsgericht sich in der Weimarer Republik das Recht herausnahm, vom Parlament beschlossene Gesetze für null und nichtig zu erklären. (... ) Es wäre ein Irrtum, zu glauben, daß die Umgestaltung der Justiz mit ihrer Säuberung schon abgeschlossen sei. Wir müssen uns bewußt sein, daß die Lösung der Probleme des demokratischen Aufbaus eine demokratische Umgestaltung des Rechts erfordert, ebenso der Methoden der Arbeit des Justizapparates. (... ) An die fortschrittlichen, demokratischen Gesetze darf nicht mit dem alten Geist der formalen Jurisprudenz herangegangen werden, denn mit solchen Methoden können (die) auftauchenden Probleme nicht gelöst werden. Ihnen ist bekannt, daß in allen Verfassungen der Schutz des Eigentums gewährleistet ist, und doch muß der fortschrittliche Richter berücksichtigen, daß unter den Bedingungen der Katastrophe, 134 Protokoll der Juristenkonferenz (Anm. 131), Referat Ulbricht, SAPMO BArch DY 30/IV 2/1.01/13. 135 So bemerkte bereits im Jahre 1899 Franz Mehring in der sozialdemokratischen "Neuen Zeit" unter Berufung auf den preußischen Abgeordneten Franz Ziegler (1803-1876): "In absoluten Staaten ist die Unabsetzbarkeit der Richter ein Korrigens der Tyrannis, in freien Staaten setzt sich diese Unabhängigkeit selbst als Tyrannis." (Neue Zeit, 17. Jg. 1898/99, S. 737-740, zit. nach Detlef Joseph, Rechtsstaat und Klassenjustiz, S. 261).

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die durch Hitler hervorgerufen wurde, die Not der Umsiedler, der Ausgebombten, der Kriegsopfer oftmals nur gelöst werden kann, wenn der Schutz des Eigentums nicht die Hilfe für jene verhindert, die in größter Not sind."l36

In diesem Kontext stand der von Polak vorgelegte Katalog von sozialistischen Fundamentalprinzipien, der als Leitlinie für die Herausarbeitung und Kodifizierung eines den "real existierenden Kriterien revolutionärdemokratischer Macht" entsprechenden Verfassungsrechts dienen sollte. "Aus der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation" ergaben sich für die SED im Jahre 1946 demnach die folgenden "höchsten Rechtsprinzipien": "Die Sicherung und Entwicklung unseres demokratischen Gemeinwesens erfordert insbesondere: 1. schonungslosen Kampf gegen alle Versuche der faschistischen oder militaristischen Reaktion, sich zu reorganisieren, um ihre früheren Privilegien wieder herzustellen, die Enteignung der aktiven Nazis und Kriegsinteressenten rückgängig zu machen oder auf andere Weise den demokratischen Aufbau zu sabotieren. 2. Schutz der Freiheit der Person, insbesondere Abwehr aller Versuche, durch die rassistische oder nationale Verhetzung die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz sowie im politisch-gesellschaftlichen Leben zu beeinträchtigen oder den Einzelnen in Bildung und Fortkommen zu hemmen.

3. Gewährung der Freiheit der Meinungsäußerung, der Freiheit der Wissenschaft und der Religionsausübung, insbesondere durch die Abwehr aller Versuche der Reaktion, unter Ausnutzung ihrer Besitzprivilegien die öffentliche Meinung im Sinne antidemokratischer Tendenzen zu beeinflussen. 4. Schutz der Arbeitskraft der Werktätigen, Verhinderung rechtswidriger Ausbeutung, Sicherung des Mitbestimmungsrechts der Betriebsräte bei der Festlegung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie bei der Produktionsgestaltung. 5. Schutz der Bauern vor allen Versuchen der Großgrundbesitzer, der Junker und anderer Reaktionäre, ihre Privilegien wiederherzustellen und die Bodenreform zu sabotieren. 6. Schutz des gewerbetreibenden Mittelstandes sowie der Inhaber mittlerer und größerer Betriebe vor allen Versuchen, durch Monopol- und Konzernbildung die deutsche Wirtschaft aggressiven Kriegsinteressen unterzuordnen und so eine freie und friedliche Entfaltung der deutschen Wirtschaft, die den Interessen der Gesamtheit des deutschen Volkes dient, zu verhindern. 7. Schutz der arbeitenden Jugend vor Ausbeutung. Förderung der Entfaltung ihrer körperlichen und geistigen Fähigkeiten. Förderung ihres geselligen Lebens. Schaffung eines einheitlichen Jugendrechts."l37

Auffällig an dieser Bestimmung der Staatsziele ist, daß hier - im übrigen viel deutlicher als später in den Verfassungsentwürfen - allgemeinpolitische 136 137

5 Hoeck

Protokoll der Juristenkonferenz (Anm. 131), Referat Ulbricht. Protokoll der Juristenkonferenz (Anm. 131), Referat Polak, BI. 22.

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Desiderate wirtschaftlicher, staatlicher, rechtlicher, kultureller und geistigmoralischer Natur im Gewand von subjektiven (Abwehr-)Rechten erscheinen. Dem einzelnen werden zwar einige fundamentale - teils neuartige Freiheiten zugebilligt, zugleich werden sie jedoch jeweils unter einen Vorbehalt gestellt. Die Freiheiten sind inhaltlich so ausgestaltet, daß ihre Abwehrfunktion nur nach einer Richtung hin ausgebaut ist. Der einzelne soll in seinem spezifischen Freiheitsbereich unter staatlichem Schutz stehen, freilich nicht schlechthin, sondern nur insoweit der Angriff auf das Individualrecht einem Angriff auf die gesamtgesellschaftliche Entwicklungstendenz gleich zu achten ist. Dies zeigt sich besonders klar in Ziffer 5, wo mit dem "Schutz" der Bauern vor "Versuchen der Großgrundbesitzer ... ihre Privilegien wiederherzustellen" im Ergebnis weniger ein klassisches Abwehrrecht konstituiert als eine politische Maßnahme (die Bodenreform) zementiert wird. Dieser Befund wirft bereits ein Licht auf das Grundrechtsverständnis im kommunistischen Staat, nach welchem die Grundrechte weniger Kompetenzverteilungs- bzw. Abgrenzungsnormen gegenüber dem Staat darstellen als vielmehr Instrumente zur Hervorbringung und Absicherung eines zentral gesteuerten politisch-gesellschaftlichen Prozesses. l38 Letztlich ging es hier nicht um den Schutz individueller Rechtspositionen nach freiem Belieben, also um Ausgrenzung des Staates aus einer bestimmten Freiheitssphäre, sondern um den Schutz gesellschaftlicher Institutionen. Noch deutlicher wird dieser ideologische und rechtspolitische Ansatz in einer Schulungsbroschüre, die Polak 1947 unter dem Titel "Marxismus und Staatslehre" veröffentlichte. l39 Hierin hieß es, daß die bestehenden "rechtlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse (... ) bürgerliche" seien und daß es ein "verhängnisvoller Fehler" sei zu glauben, mit der "gesetzgeberischen Fixierung" u. a. der "Überführung wichtiger Wirtschaftsbetriebe in die Hand der Selbstverwaltungskörper" und der "Bodenreform" sei die "demokratische Umgestaltung" bereits durchgeführt. Würde man diese Reformen als einzelne Maßnahmen in das herrschende Rechtssystem einbauen", würde man sie als isolierte Reformen betrachten und damit das alte Rechtssystem als in seiner Ganzheit unverändert fortbestehend anerkennen" und sich als Restaurateur der bürgerlichen Staatlichkeit erweisen. Denn man müsse wissen, daß die Bourgeoisie, wenn es um die Rettung ihres Staates gehe, bereit sei, "weitestgehende Konzessionen zu machen und die größten Opfer zu bringen"; selbst "Sozialisierungen" könnten als "Stützen einer morsch gewordenen bürgerlichen Staatlichkeit dienen". Abhilfe könne nur die "Eroberung der Staatsgewalt durch das Volk selbst" 138 Vgl. hierzu im einzelnen die diesbezüglichen Ausführungen im Abschnitt über die Gründungsverfassung der DDR im ersten Abschnitt des zweiten Teils dieser Arbeit. 139 Vgl. Gerhard Eraas, Die Entstehung der Länderverfassungen in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, S. 20, m. w. N.

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bringen. Wo "formale Bestimmungen oder Prinzipien des alten Rechts in der Praxis in Konflikt mit den demokratischen Entwicklungstendenzen" gerieten, sei "den breiten Massen begreiflich zu machen, welche politische Bewandtnis es mit diesem ,Rechtsprinzip' " habe; so werde man die politische Aktivität der Massen zum Schutze ihrer Rechte entfachen. "Die Kritik der Massen an den alten Rechtsinstitutionen" heiße zugleich "die Überwindungen dieser Institutionen im Bewußtsein der Massen". Otto Grotewohl relativierte die ideologischen Ausführungen im Geleitwort zu Polaks Aufsatz dahingehend, daß die in der Auseinandersetzung Polaks mit der bürgerlichen Staatsrechtslehre angesprochenen Marxschen Erkenntnisse den Menschen "erst noch bewußt werden" müßten, und deutet damit an, daß der Zeitpunkt für eine Transformation des bestehenden Zustands als noch nicht erreicht angesehen wurde, sondern daß es sich um theoretische Problematisierungen handele, wie sie "in der deutschen Arbeiterbewegung seit eh und je üblich" gewesen seien. 140 dd) Erste Äußerungen zur Frage der Verwaltungsgerichtsbarkeit Auch die Haltung der SED zur Frage der Verwaltungsgerichtsbarkeit auf Zonenebene wurde auf der internen Juristenkonferenz der SED am 3. und 4. August 1946 thematisiert. l4l Die Aussagen der Konferenzteilnehmer, insbesondere Ernst Melsheimers, zeugen davon, daß sich die SED zunächst noch scheute, in dieser Frage eindeutigen Festlegungen zu treffen. Offenbar war der Meinungsbildungsprozeß innerhalb der SED in dieser Frage noch nicht abgeschlossen. Die Justizfunktionäre wollten an der Praxis überprüfen, welches Konzept sich mit Rücksicht auf eine Ausdehnung auf die gesamte Zone oder sogar für Gesamtdeutschland als tragfähiger erwies. Lediglich eine Grundtendenz wurde erkennbar, welche dahin ging, Justiz und Verwaltung zu trennen 142 und einer selbständigen Verwaltungsgerichtsbarkeit den Vorzug zu geben. 143 Die Parteifunktionäre verhielten sich jedoch abwartend und wollten zunächst nicht "durch Referate, Resolutionen usw. der Entwicklung vorgreifen". Hintergrund war, daß die Justizfunktionäre zunächst die diesbezügliche Kontrollratsgesetzgebung abwarten wollten. Darüber hinaus hatte die sowjetische Besatzungsmacht in dieser Frage auch gegenüber den deutschen Kommunisten noch keine eindeutigen Signale Braas, ebenda. Diese sollte der Vorbereitung einer offiziellen SED-Juristenkonferenz im Herbst des gleichen Jahres dienen. SAPMO BArch DY 30/IV 2/1.01./13 BI. 35. 142 Juristenkonferenz (Anm. 131), Referat Melsheimer, DY 30/IV 2/1.01113, BI. 35. 143 Juristenkonferenz (Anm. 131), Diskussionsbeitrag Polak, DY 30/IV 2/1.011 13, BI. 44. 140

141

5*

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1. Teil: Die Sowjetische Besatzungszone

ausgesandt. Melsheimer berichtete auf der Konferenz 144, die Sowjets seien zunächst von dem Gedanken der Verwaltungsgerichtsbarkeit "begeistert" gewesen und wollten ihn allgemein für ganz Deutschland im Kontrollrat durchsetzen, dann hätten sie jedoch "ein Haar darin gefunden" und seien "wohl davon abgekommen,,145. Karl Polak befürchtete gar, man könne sich im Falle einer zur Kontrollratsgesetzgebung widersprüchlichen Festlegung in der Frage der Verwaltungsgerichtsbarkeit "blamieren" 146. Nachdem der Alliierte Kontrollrat mit dem Gesetz Nr. 36 vom 10. Oktober 1946 zwar die Einrichtung von Verwaltungsgerichten verbindlich vorgesehen, die weitere Ausgestaltung jedoch den jeweiligen Zonenbefehlshabern überlassen hatte 147, mußten die SED-Justizfunktionäre in Art. 104 ihres Verfassungsentwurfs zumindest grundsätzlich Stellung nehmen. Hierin hieß es: "Zum Schutze des einzelnen gegen Anordnungen und Verfügungen der Verwaltungsbehörden sind von den Ländern Verwaltungsgerichte einzurichten."

Diese Fassung war durchaus nicht unumstritten. So lehnte Wilhelm Koenen 148 die verfassungsmäßige Garantie der Verwaltungsgerichtsbarkeit vollständig ab und wollte statt dessen lediglich ein Beschwerderecht vorsehen: "Es genügt vollkommen, wie das auch an anderer Stelle schon ausgeführt ist, wenn jemand, der glaubt, die Zulässigkeit einer Maßnahme bestreiten zu können, sich an das Ministerium wendet. Wenn er dort nicht Recht bekommt, ist weiter die Berufung an einen Landtagsausschuß möglich - das kann noch ausgeführt werden -, indem das Verwaltungs gericht in Form eines Landtagsausschusses konzipiert wird.,,149

Otto Grotewohl hielt diesem Vorschlag entgegen, daß er hinter dem zurückbleibe, was vom Kontrollrat gesetzlich gefordert werde l50, wohingegen Koenen darauf bestand, daß ein Verwaltungsgericht auch in Form eines 144 Juristenkonferenz (Anm. 131), Diskussionsbeitrag Melsheimer, DY 30/IV 2/ 1.01113, BI. 44. 145 Leider führte Melsheimer nicht aus, welcher Umstand konkret zu dem Gesinnungswandel führte. 146 Juristenkonferenz (Anm. 131), Diskussionsbeitrag Polak, DY 30/IV 2/1.011 13, BI. 44. 147 Hierzu im einzelnen sogleich (im folgenden Abschnitt). 148 Wilhelm Koenen (1886-1963), 1919-1920 Mitglied der Nationalversammlung, Sekretär des Zentralkomitees der USPD, 1920 Mitglied der KPD, 1921 stellvertretender Vorsitzender der Kommunistischen Internationale, 1920-32 Mitglied des Deutschen Reichstages, Emigration 1933-1945, 1946-1949 SED-Landesvorsitzender in Sachsen, ab 1949 Mitglied des Parteivorstands bzw. des Zentralkomitees der SED. Maßgebliche Mitwirkung am Volksentscheid für die Enteignung der "Kriegs- und Naziverbrecher". (Biographische Hinweise bei Gabriele Baumgartner und Dieter Hebig, "Biographisches Handbuch der SBZ/DDR 1945-1990", Band I, S. 413 f.). 149 Ausarbeitungen zum Entwurf einer Verfassung für die Deutsche Demokratische Republik, SAPMO BArch DY 30 IV 2113/230 (FBS 178/8840).

1. Abschn.: Rahmenbedingungen und Institutionen der Rechtssetzung

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Landtagsausschusses denkbar sei. Politische Rücksichtnahmen verbaten eine derart offensichtliche Realisierung des Prinzips der Gewalteneinheit in Hinblick auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Daß mit der endgültig in den Entwurf der Republikverfassung übernommenen Formulierung indes nicht die unumschränkte Gewährung von Individualrechtsschutz gegen jegliche Akte hoheitlicher Gewalt normiert werden sollte, verdeutlicht der wohl bewußt weit formulierte Art. 108 des Verfassungsentwurfes, in dem es hießt: "Die Berufung auf persönliche Rechte, deren Geltendmachung zu den bürgerlichen Freiheiten und den bestehenden demokratischen Einrichtungen im Widerspruch steht, ist unzulässig.'.J51

Diese etwas kryptische (und im übrigen auch nicht in die Gründungsverfassung übernommene) Formulierung wurde lapidar damit begründet, daß hierdurch "jeder Rechtsmißbrauch durch eine formalistische Gesetzesanwendung" ausgeschlossen werden sollte. 152

150 Das Kontrollratsgesetz Nr. 36 vom 10. Oktober 1946 sah die Einrichtung von Verwaltungsgerichten in allen Zonen Deutschlands verbindlich vor, vgl. Kapitel III, Ziffer 111.3. 151 Ausarbeitungen zum Entwurf einer Verfassung für die Deutsche Demokratische Republik, wie Anm. 131. 152 Ausarbeitungen ... , ebenda.

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1. Teil: Die Sowjetische Besatzungszone

2. Abschnitt

Wiedereinführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Thüringen I. Die thüringische Landesverwaltungsordnung "Der demokratischen Regierung dieses Landes (nämlich Thüringens, d. Verf. dieser Arbeit) gebührt der Ruhm, alsbald nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Staates aus eigener Einsicht und kraft eigener Verantwortung den Rechtsschutz des Staatsbürgers auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts sichergestellt und innerhalb ihrer örtlichen Zuständigkeit das Fundament dessen gelegt zu haben, was wir als modemen Rechtsstaat bezeichnen."!

Dieses anerkennende Resümee in der "Neuen Justiz", der Juristenzeitschrift der Ostzone, war zum Zeitpunkt seiner Niederschrift Anfang 1948 schon von der politischen Entwicklung überholt. Das durch die thüringische Landesregierung gelegte "Fundament", nämlich die liberale Landesverwaltungsordnung (L VO) war schon durch die Verabschiedung der Landesverfassung ins Wanken geraten, nun stand der Genera1angriff unmittelbar bevor. Thüringen konnte sich zunächst aufgrund einer Besonderheit seiner besatzungsrechtlichen Situation im Bereich des gerichtlichen Verwaltungsrechtsschutzes von der Rechtsentwicklung in der Sowjetischen Besatzungszone abkoppeln. Der thüringische Sonderweg im Bereich des subjektiv-öffentlichen Rechtsschutzes wird an dieser Stelle wegen seiner Ausstrahlungswirkung auf die Beratungen zur zoneneinheitlichen Umsetzung des Kontrollratsgesetzes Nr. 36 skizziert. 2 1. Entstehungsgeschichte

Unabhängig von einem Gesetzesauftrag des Kontrollrats bzw. einem Befehl der SMAD war in Thüringen die Verwaltungs gerichtsbarkeit in der 1945 neu gefaßten Landesverwaltungsordnung vorgesehen und geregelt worden. Hintergrund dieses in der SBZ einzigartigen Vorgangs war, daß Thüringen ursprünglich der amerikanischen Besatzungsmacht unterstand. Der von den Amerikanern Anfang Juni 1945 zum Regierungspräsidenten ernannte Hermann Brill beschäftigte sich unmittelbar nach Kriegsende mit der Ausarbeitung eines Plans für den Aufbau der Verwaltung Thüringens, in welchem der Aufbau einer Verwaltungsgerichtsbarkeit bereits vorgesehen ! Ulrich von Dassei, Die neue Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: Neue Justiz 1948, S. 27-33 (27). 2 Vgl. umfassend Thomas Heil, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Thüringen 1945-1952 - Ein Kampf um den Rechtsstaat, Frankfurter Diss. iur. 1995.

2. Abschn.: Wiedereinführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Thüringen

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war? Diese Vorgaben wurden aufgegriffen von dem mit dem Entwurf einer Landesverwaltungsordnung betrauten ehemaligen Vizepräsidenten des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Jena, Rudolf Knauth, der seinen Entwurf umfassend am Vorbild der in der Praxis bewährten und in der Wissenschaft anerkannten Landesverwaltungsordnung von 1926 ausrichtete. 4 Zuständig für die Genehmigung des Entwurfs war die bis zu den Truppenumgruppierungen im Juli 1945 herrschende amerikanische Besatzungsmacht, welche die von Brill im Juni 1945 im Frankfurter Hauptquartier vorgetragene Konzeption billigte. Nach dem Wechsel der Besatzungsmacht Anfang/Mitte Juli 1945 setzte eine umfassende personelle und organisatorische Restrukturierung der Landesverwaltung ein, deren Zentralinstanz jedoch der Landespräsident blieb, dem, ebenso wie in allen anderen Ländern und Provinzen der SBZ auch5 , bis zur Bildung der Landtage Ende 1946 umfassende quasi-diktatorische Befugnisse zukamen. Diese Position besetzte die Sowjetische Militäradministration für Thüringen mit dem früher der DDP angehörigen und nunmehr parteilosen Rudolf Paul6 , der weit über das Gebiet Thüringens hinaus auf die Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in der SBZ Einfluß nehmen sollte7 . Paul, der sich durch ein mit Billigung der BesatzungsHeil, S. 8 f. Heil, S. 9 f. 5 Vgl. hierzu die Ausführungen im ersten Abschnitt des ersten Teils dieser Arbeit. 6 Rudolf Paul wurde 1893 als Sohn eines Baumeisters in Gera geboren. Nach dem Studium der Staats- und Rechtswissenschaft promovierte er und legte 1923 das Assessorexamen ab. Paul profilierte sich bereits als junger Staatsanwalt dadurch, daß er im März 1923 durch die Verhaftung von NSDAP-Mitgliedern einen von Ritler für den 22.3.1923 geplanten Putsch in Thüringen vereitelte und - nach eigenem Bekunden - anschließend die NSDAP in Thüringen liquidierte. Darüber hinaus entließ er gegen den Widerstand seiner Vorgesetzten sämtliche von der "Schwarzen Reichswehr" verhafteten Funktionäre von KPD und SPD aus der Raft. Im Anschluß an die Gründung einer Rechtsanwaltskanzlei in Gera erwarb er sich den Ruf eines "Spitzenstrafverteidigers", bis ihn die Nationalsozialisten 1933 mit einem Berufsverbot belegten und 1938 sein gesamtes Vermögen konfiszierten. Sein Amt als Vorsitzender der Deutschen Demokratischen Partei in Ostthüringen übte er von 1925 bis 1933 aus. Im April 1945 setzte ihn die amerikanische Militärregierung in Thüringen als Oberbürgermeister von Gera ein; es folgte seine Ernennung zum Landespräsidenten durch die SMATh im Juli gleichen Jahres. Anläßlich des Vereinigungsparteitages von SPD und KPD zur SED (April 1946) trat er der neu gegründeten Partei bei, ohne indes seine bürgerlichen Positionen aufzugeben. Die hieraus resultierenden Konflikte und gegen ihn gerichtete restriktive Maßnahmen der SMAD bewogen ihn im September 1947 zur Flucht in den Westen, worautbin er eine renommierte Rechtsanwalts- und Notarkanzlei in Frankfurt am Main eröffnete. Paul, der später auch als Juraprofessor wirkte, starb am 28.2.1978. (Quelle: Heil, S. 282). 7 Der DDP-Mann Paul verdankte seiner Karriere unter den Sowjets einer Eigentümlichkeit der Blockpolitik. Vor dem Vereinigungsparteitag waren nicht etwa LDP oder CDU die wirklichen Rivalen der Kommunisten, sondern die SPD. Deren Ver3

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1. Teil: Die Sowjetische Besatzungszone

macht ergangenes entsprechendes Landesgesetz im August 1946 das Recht hatte zusichern lassen, grundsätzliche Rechtsvorschriften in eigener Machtvollkommenheit durch Gesetz oder Verordnung zu erlassen, forcierte die Novellierung der Landesverwaltungsordnung von 1926, welche bereits vor Übernahme der Hoheitsgewalt durch die sowjetische Besatzungsmacht im Juli 1946 vor ihrem unmittelbaren Abschluß gestanden hatte. 8 Zur Ausübung seiner Gesetzgebungskompetenz berief Paul ein ihm direkt unterstelltes Expertengremium ein, dem er die eigenverantwortliche Bearbeitung aller Gesetzgebungsvorhaben unter Ausschluß der Landesämter anvertraute. 9 Maßgeblichen Einfluß auf die Rechtsentwicklung in Thüringen sollte der von ihm zum Leiter der Gesetzgebungsabteilung berufene ehemalige Oberverwaltungsgerichtsrat Hellmuth Loening nehmen, der sich unmittelbar nach seinem Amtsantritt im August 1945 des von Brill eingeleiteten Gesetzgebungsprojektes annahm. lo Es war Loenings Bestreben, die thüringische Landesverwaltungsordnung von 1926 (nachfolgend: LVO 1926) möglichst umfassend wieder in Geltung zu setzen. Zur Überführung des Normenbestands arbeitete er im Spätsommer 1945 ein Anpassungsgesetz zur LVO aus, welches nach Billigung des Landespräsidenten der SMATh zur Genehmigung vorgelegt wurde. Zuvor hatte er bei der Militärregierung um die Genehmigung der Wiedereröffnung des seit 1912 bestehenden, außerordentlich renommierten OVG Jena nachgesucht, die er zu einer "wesentlichen Forderung des Rechtstaates" deklariert hatte. I I 2. Regelung des Verwaltungsrechtsschutzes Mit ganz marginalen Änderungen wurde die LVO 1926 in Form des Anpassungsgesetzes Anfang Mai 1946 verkündet, so daß der Eindruck entstand, daß von gesetzgeberischer Seite keinerlei Konzessionen an die gewandelten gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse gemacht wurden. 12 Der von Grund auf liberalen Konzeption des Gesetzes entsprach die Rechtswegeröffnung nach dem Prinzip der Generalklausei wie auch die für den Entstehungszeitpunkt fortschrittliche Ausgestaltung des verwaltungsgerichtlichen Vorverfahrens, in dessen Rahmen dem Bürger zunächst die Möglichkeit gegeben wurde, mittels Einspruch gegen jede behördliche Verdrängung aus einer Führungsposition in Thüringen erschien zu diesem Zeitpunkt unter taktischen Gesichtspunkten notwendiger als die Ausrichtung der Personalpolitik an politischen Grundsatzfragen (vgl. Heil a. a. 0., S. 59). 8 Heil, S. 12 f. 9 Heil, S. 13 f. 10 Heil, S. 14 f. 11 Heil, S. 17. 12 Heil, S. 18.

2. Abschn.: Wiedereinführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Thüringen

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fügung vorzugehen und gegen eine ablehnende Entscheidung sodann unmittelbar Anfechtungsklage vor dem OVG zu erheben. 13 Die einschneidendste Änderung in der Rechtsschutzkonzeption nach dem Anpassungsgesetz stellte die Abschaffung des Instanzenzuges dar. Geld- und Personalmangel waren ausschlaggebend für die Abschaffung der noch in der Fassung von 1926 vorgesehenen Kreisverwaltungsgerichte, so daß letztendlich als einzige Spruchbehörde für Verwaltungsrechtsschutzsachen das OVG Jena übrigblieb, welches fortan von der Tatsachenermittlung bis zum höchstrichterlichen Rechtsentscheid die Gesamtheit der verwaltungsgerichtlichen Aufgaben auf sich konzentrierte. 14 Den Ursprungszustand der L VO 1926 reflektierend, war in Hinblick auf die sachliche Zuständigkeit des OVG die verwaltungsgerichtliche Generalklausei normiert. 15 Danach konnte jegliches Verwaltungshandeln, auch ohne daß es die Erfordernisse eines Verwaltungsakts erfüllte, nach vorherigem Durchlaufen des Vorverfahrens zum Gegenstand einer Anfechtungsklage vor dem OVG werden. Eine sich in eigenartiger Weise von der liberalen Gesamtkonzeption abhebende Bestimmung enthielt § 126 a S. 2 der LVO 1945. Hierin war als Neuerung der Ausschluß des Rechtsweges für den Fall vorgesehen, daß der Landespräsident nach Anhörung des Vizepräsidenten eine Verfügung "ausdrücklich zum Regierungsakt bezeichnet hat oder bezeichnet,,16. 3. Gerichtsorganisation und Stellung des Richters Auch hinsichtlich der personellen Besetzung des nunmehr als einziges Gericht Verwaltungsrechtsschutz vermittelnden OVG Jena adaptierten die Verfasser der L VO Thüringen weitgehend das Vorbild von 1926, mit der Folge, daß das OVG in Verwaltungsrechtsstreitsachen in der Besetzung mit dem Vorsitzenden (Präsident, Vizepräsident oder Senatspräsident) und regelmäßig zwei OVG-Räten zu entscheiden hatte. 17 Zum Oberverwaltungsgerichtsrat ernannt werden konnte nach wie vor nur derjenige, dem die Befähigung zum Richteramt nach § 2 GVG oder zum höheren Verwaltungsdienst zukam bzw. der Professor für Rechtswissenschaften an einer deutschen Universität war. 18 Die außergewöhnliche letztgenannte Alterna§§ 126, 127 i. V. m. § 134 LVO 1926. Heil, S. 23. Hinzu kam eine Art Stabsfunktion, indem es dem OVG oblag, den obersten Landesbehörden auf Verlangen Rechtsgutachten zu erstatten, wie bereits oben am Beispiel der Frage des Gesetzgebungs- und Verordnungsrechts der Zentralverwaltungen dargestellt (vgl. oben unter Ziffer I.3.b). 15 Diese Festlegung sollte Vorbildcharakter im Rahmen der die Entwurfsgestaltung zur Umsetzung des KRG NR. 36 vorbereitenden Justiz-Länderkonferenzen der DJV gewinnen, hierzu sogleich unter Ziffer 11.1. 16 Heil, S. 27. 17 § 20 Abs. 3, S. 1 LVO 1945. 13

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1. Teil: Die Sowjetische Besatzungszone

tive sollte dem Zweck dienen, die Symbiose zwischen den Jenenser Obergerichten und der Universität aufrechtzuerhalten, die sich in der Vergangenheit als sehr fruchtbar erwiesen haUe. 19 Entsprechend der von Loening vertretenen Ansicht, daß Laien zwar in den unteren Instanzen sinnvoll seien, nicht aber beim ova, da dieses über reine Rechtsfragen zu entscheiden habe, wurde aus der personellen Ressourcenknappheit nicht der Schluß einer Betonung des Laienelements gezogen, sondern - durch den Wegfall der unteren Instanzen - der Primat der Berufsrichter noch verstärkt.

§ 22 Hs. 2 i. V. m. § 12 Abs. 1 S. 2 LVO 1926; § 22 Abs. 1 LVO 1945. Im Archivbestand des Ministeriums der Justiz der DDR (BArch DP 1 VA 614, BI. 6) kündet von dem gedeihlichen Zusammenwirken von Universität und Obergerichten in Jena ein Bericht des DJV-Präsidenten Schiffer an Major Nicolaj von der Justizabteilung der SMAD über die Durchführung des Befehls Nr. 49. Hintergrund war das Bekanntwerden eines auf die Kommunisten zurückgehenden Planes, den Sitz des OLG von Jena in die Arbeiterstadt Gera zu verlegen. In diesem Schreiben heißt es: "Die enge Verbindung von Oberlandesgericht und Universität seit deren Gründung im Jahre 1558 hat den Entscheidungen des Jenaer Oberlandesgerichts von jeher ein besonderes Gewicht gegeben. Es war allgemein anerkannt, daß die enge geistige Verbindung der Theoretiker und Praktiker dem Fortschritt der Rechtsentwicklung dient. Die Mitwirkung der sogenannten akademischen Räte, nämlich der Professoren der juristischen Fakultät, die stets als Richter am Oberlandesgericht in Thüringen tätig geworden sind, (wird) durch Verlegung des Gerichts nach Gera in Frage gestellt (... ). Auf diese Personalunion von Richtern und Universitätsprofessoren, die sich gleich vorteilhaft für die Rechtsprechung wie für den Universitätsunterricht ausgewirkt hat, kann bei dem gegenwärtigen Mangel an Richtern nicht verzichtet werden. Auch bei Heranziehung von Rechtsanwälten zur Besetzung von RichtersteIlen ist Jena als Sitz des Oberlandesgerichts vorzuziehen, da gerade unter den dort ansässigen Anwälten solche zu finden sind, die den Sonderanforderungen eines Oberlandesgerichts am ehesten entsprechen. (Darüber hinaus ist die) oberlandesgerichtliehe Bibliothek die drittgrößte juristische Bibliothek Deutschlands und gerade wegen ihres gleichzeitigen Wertes für die Universität und das Oberlandesgericht mit sehr erheblichen Geldmitteln ausgestattet worden. Die wichtige Frage eines geeigneten Nachwuchses kann bei der Verbindung von Oberlandesgericht und Universität auf das beste dadurch gelöst werden, daß die Studenten durch den Besuch und die Besprechung von Gerichtsverhandlungen, an denen ihre Rechtslehrer als Richter teilgenommen haben, eine vorbildliche Einführung in die praktischen Fragen der Justiz erhalten. Aus der Zahl der Oberlandesgerichtsräte sind übrigens immer Lehrbeauftragte für die Universität gewonnen worden, so daß auch seitens der juristischen Fakultät die dringende Bitte um Zurückverweisung des Oberlandesgerichts nach Jena laut wird. Das im wesentlichen erhalten gebliebene Oberlandesgerichtsgebäude wird dem Vernehmen nach jetzt vorübergehend von den sowjetischen Besatzungstruppen in Anspruch genommen. In der Annahme, daß die Unterstützung der Justizabteilung bei der Sowjetischen Militärverwaltung die Wiederinanspruchnahme des Gebäudes ermöglichen wird, habe ich mich daher entschlossen, Jena als Sitz des Oberlandesgerichts für Thüringen beizubehalten, und werde unverzüglich die für die Rückverlegung erforderlichen Maßnahmen treffen." 18

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2. Abschn.: Wiedereinführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Thüringen

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Die LVO gewährleistete die volle sachliche und persönliche Unabhängigkeit der Richter des OVG?O Danach waren die Richter nicht nur in ihrer Rechtsprechung unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen, sondern aufgrund der fortbestehenden Gleichstellung mit den ordentlichen Richtern zusätzlich durch die Privilegien der lebenslangen Anstellung sowie der Unversetzbarkeit und Unabsetzbarkeit in ihrer Amtsstellung geschützt. 21 Die Aufsicht über das Oberverwaltungsgericht wurde - entgegen der traditionellen Zuordnung zum Innenressort - unmittelbar durch den Präsidenten des Landes Thüringen ausgeübt22, der sie per Erlaß vom 28. Juni 1946 an das neu errichtete Landesamt für Justiz delegierte. Hierbei betonte Landespräsident Paul ausdrücklich, daß "durch diese Delegation der Charakter des Oberverwaltungsgerichts als eines der Verwaltung eingegliederten Gerichts nicht verändert und hierdurch insbesondere nicht eine Eigenschaft des Oberverwaltungsgerichts als Justizbehörde oder als einer einem ordentlichen Gericht einzugliedernden Behörde begründet" werden würde. 23 Gleichzeitig bestimmte Paul, daß nach Möglichkeit alle hauptamtlichen Richter des Oberverwaltungsgerichts, zumindest aber ihre Mehrzahl ,,- unbeschadet der von LVO § 22 verlangten Fähigkeit (nämlich der zum Richteramt - der Verfasser dieser Arbeit) - aus der Verwaltung des Reiches, eines deutschen Landes oder einer Körperschaft des öffentlichen Rechts hervorgegangen sein" müßten?4 Die Übertragung der Aufsichtsgewalt an das Landesamt für Justiz erscheint als folgerichtige Fortentwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit von der Administrativjustiz hin zu einer unabhängigen Gerichtsbarkeit über die Verwaltung. 25

§ 28 Abs. 1 LVO. Heil, S. 29. 22 Art. § 28 Abs. 2 der LVO 1945 lautete: "Hinsichtlich seiner Einrichtung und seiner allgemeinen Geschäftsführung im Sinne des § 26 untersteht es (das Oberver20

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waltungsgericht) unmittelbar dem Präsidenten des Landes Thüringen." 23 "Erlaß betreffend Beauftragung des Landesamts der Justiz, die Aufsicht über das Oberverwaltungsgericht nach LVO § 28 Abs. 2 S. 1 auszuüben" vom 28. Juni 1946, BArch DP1, VA 6928, BI. HO. 24 Erlaß des Präsidenten des Landes Thüringen vom 28. Juni 1946, wie vorangehende Anmerkung. 25 Wenn auch die Vermutung naheliegt, daß eher pragmatische Erwägungen der beiden Liberalen Paul und Loening zu dem Entschluß führten, die Aufsichtsgewalt für die Übergangszeit nicht etwa beim Landesamt des Innem zu belassen, sondern auf den ohnehin schon mit nahezu diktatorischen Vollmachten ausgestatteten Landespräsidenten zu übertragen. Der als Exponent des Bürgertums geitende Landespräsidenten Paul schien eher geeignet, die Aufsicht nach traditionell-rechtsstaatlichen Prinzipien auszuführen, als das kommunistisch dominierte Landesamt des Innem, vgl. Heil, S. 31.

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1. Teil: Die Sowjetische Besatzungszone

11. Die Rechtsprechung des thüringischen OVG Jena Die Richterschaft des am 22. Juni 1946 im Rahmen einer feierlichen Zeremonie wieder eröffneten OVG Jena stand unter der Leitung des von Rud01f Paul zum Präsidenten ernannten, ehemals der Deutschen Volkspartei nahestehenden Hellmuth Loening und war durchweg dem liberalen bis rechtskonservativen Spektrum der Weimarer Parteienlandschaft zuzuordnen. 26 Aufgrund der restaurativen Personalpolitik des Landespräsidenten war die Grundlage geschaffen für eine Rechtsprechung, die - ausgehend von einer positivistischen Grundhaltung - die Ideale der bürgerlichen Bewegung: Rechtsstaat, Schutz der bürgerlichen Freiheitsrechte vor staatlichem Eingriff, Gewaltenteilung und richterliche Unabhängigkeit verfochten und zu ihrer rechtlichen Verteidigung bereit waren. 27 Die Rechtsprechung des OVG Thüringen vollzog sich zunächst unbehelligt von politischer Einflußnahme nach strikt rechtsstaatlichen Grundsätzen. Offenbar stand die Spruchtätigkeit des OVG nicht einmal unter besonders argwöhnischer Kontrolle der SMAD. Hierfür spricht auch, daß sich auf der von Schiffer einberufenen Besprechung mit Vertretern der Justizabteilungen der Länder und Provinzen zur Wiedereinführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit auf Zonenebene am 28. November 1946 der zuständige Oberstleutnant Jakupow von der Rechtsabteilung der SMAD Karlshorst erstmals beim Gerichtspräsidenten Loening nach Umfang und Gegenständen der Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichts Jena erkundigte. 28 Die von Loening daraufhin gegebene Auskunft läßt allerdings auch nicht darauf schließen, daß sich das OVG Jena im ersten Halbjahr seines Bestehens mit Fragen von besonderer politischer Brisanz oder besatzungsrechtlicher Relevanz auseinandersetzte. Als Gegenstände der Gerichtsverfahren nannte der Gerichtspräsident Fragen der Kirchensteuer, die Schließung von Einzelhandelsgeschäften, die Rechtmäßigkeit der polizeiliche Vorbeugungshaft zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten, Patronatssachen sowie Fragen in bezug auf das Wohnungssachen regelnde Kontrollratsgesetz Nr. 18. Allein die Entscheidung über die Beschlagnahme von Personenkraftwagen nach dem Reichsleistungsgesetz sollte sich zum Politikum auswachsen und letztlich mit dazu führen, daß sich das OVG den Haß der thüringischen SED zuzog?9 In den fünf Monaten seit der Wiedereröffnung des OVG seien 45 Streitsachen soHeil, S. 34. Heil, ebenda. 28 Protokoll der Justizländerkonferenz S. 16, BArch DP 1, VA 6928, BI. 93. Anlaß von Jakupows Erkundigung war hier die mit Verve diskutierte Frage, ob die grundsätzliche Anerkennung der GeneralklauseI, für die man sich in Thüringen ja vollumfänglich entschieden hatte, zu einer Überlastung der Gerichte führe. Loenings Antwort wurde als Beleg gegen diese These gewertet. 29 Hierzu sogleich. 26 27

2. Abschn.: Wiedereinführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Thüringen

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wie 45 Beschlußsachen anhängig gewesen. 30 Insgesamt, so schätzte Loening, seien bis dato 15 Urteile gefällt worden. 3l Vor dem Hintergrund der kurzen Bestehenszeit und der knappen Besetzung der Richterstellen erscheint die Auslastung damit durchaus hoch, indes relativiert sich dieser Eindruck etwas, wenn man die vielfältigen rechtlichen Unklarheiten der unmittelbaren Nachkriegszeit sowie die Tatsache in Betracht zieht, daß mit der Abschaffung des Instanzenzugs das OVG nicht nur die letzte, sondern vielmehr die einzige Instanz der Verwaltungs gerichtsbarkeit im ganzen Land geworden war. Exemplarisch für die schwierige Position des OVG Jena zwischen selbstauferlegter rechtsstaatlicher Gebundenheit und dem Sog der von den (seit Ende 1946 den Landtag zu ihrer Bastion ausbauenden) Kommunisten eingeleiteten "antifaschistisch-demokratischen Umwälzung,,32 steht die Auseinandersetzung um das Reichsleistungsgesetz 33 : Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Notsituation der Nachkriegszeit wurden verschiedentlich Verwaltungsakte erlassen, um private Kraftfahrzeuge zu enteignen. In Ermangelung einer durch den neuen Landtag erlassenen Rechtsnorm für diese Enteignungen stützte sich die Landesregierung hierbei auf das Reichsleistungsgesetz (RLG) vom 1. September 1939. Das RLG stellte eine Ermächtigungsgrundlage für Enteignungen zur Erfüllung von Reichsaufgaben dar. Die Enteignungen waren Anlaß für das OVG, ein Grundsatzurteil zu erlassen, indem es die grundSätzliche Fortgeltung des Reichsleistungsgesetz mangels nationalsozialistischen Inhalts zwar bejahte, den Anwendungsbereich indes restriktiv auslegte. Der Begriff der "Reichsaufgaben" wurde anhand des Kompetenzkatalogs der WRV bestimmt, mit der Folge, daß die Inanspruchnahme für laufende Verwaltungszwecke der Landesverwaltung für unzulässig erklärt wurde. 34 Darüber hinaus müsse der Begriff der "Reichsaufgaben" auf dem Entstehungshintergrund des Gesetzes ausgelegt werden, woraus sich ergebe, daß eine Enteignung nur insofern in Betracht komme, als "dringende Erfordernisse der Kriegsführung und die Beseitigung öffentlicher Notstände" dies erforderten. Keinesfalls könne das RLG jedoch als Ermächtigungsgrundlage zur Abwicklung "normaler friedensmäßiger Verwaltungsaufgaben des Deutschen Reiches" dienen. 35 Folgerichtig wurde die Landesregierung durch Urteil verpflichtet, ihre EntscheiBAreh, Protokoll der Justizländerkonferenz (Anm. 28). BAreh, ebenda. 32 Wolfgang Bemet, Gerichtliche Nachprüfbarkeit von Verwaltungsakten für die DDR? in: Friedrich-Schiller-Universität zu Jena (Hrsg.), Bürger im sozialistischen Recht, Gemeinschaftsarbeit der Sektion Staats- und Rechtswissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena und der Juristischen Fakultät Tbilissi, Jena 1983, S.48-62. 33 Vgl. hierzu detailliert Heil, S. 115 ff. 34 Vgl. Heil, S. 120 f. 35 Heil, ebenda. 30 31

I. Teil: Die Sowjetische Besatzungszone

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dungen wieder rückgängig zu machen. In der Folge sah sich das OVG einer umfassenden Urteilsschelte seitens der unterlegenen Behörden ausgesetzt, die bis hin zum Vorwurf der "antistaatlichen Einstellung" ging. 36 Selbstbewußt setzte sich das OVG gegen die Kritik zur Wehr und verwahrte sich gegen jede Einschüchterung. In einer Erklärung an den Ministerpräsidenten legte es noch einmal ganz grundsätzlich seine Auffassung von der Unabhängigkeit der Rechtsprechung dar: "Ein solcher Druck auf das Oberverwaltungsgericht ist mit dem Grundsatz der Unabhängigkeit der Gerichte unvereinbar. Er verkennt aber auch die Bedeutung und das Wesen der Verwaltungsgerichtsbarkeit überhaupt. Wenn das Oberverwaltungsgericht eine andere Rechtsauffassung als ein Ministerium im Einzelfalle vertreten sollte, dann tut es das nicht aus antistaatlicher Einstellung, sondern als Staatsorgan, das vom Staat gesetzlich zur Rechtsfindung bestellt ist. ,,37 Der eingeforderte Respekt vor der Unabhängigkeit der Verwaltungsrechtsprechung blieb indes aus. Statt dessen ging die Regierung nunmehr den Weg, jede einzelne Inanspruchnahme zum unanfechtbaren Regierungsakt im Sinne des § 126 a LVO zu erklären. Der erhebliche zeitliche und organisatorische Aufwand wurde aber schon bald zu einer so starken Belastung, daß die Regierung am 21. Mai 1947 kurzerhand beschloß, einen Gesetzentwurf "über die Anwendung des Reichsleistungsgesetzes" im Landtag einzubringen, der bereits eine Woche später vom Landtag beschlossen wurde. 38 Hierbei handelte es sich um ein reines Maßnahmengesetz, durch das die vom OVG aufgestellten Beschränkungen beseitigt werden sollten?9 Gleichzeitig wurde in dem Gesetz festgelegt, daß gegen bereits rechtskräftig gewordene Urteile des OVG, die im Widerspruch zu dem neu erlassenen Gesetz standen, eine Wiederaufnahme des Verfahrens zulässig sein sollte. 4o Widerwillig fügte sich das OVG unter den "Machtspruch in Gesetzesform" (Thomas Heil), jedoch nicht ohne im Rahmen einer Urteilsbegründung in einem Wiederaufnahmeverfahren41 zu implizieren, daß der Landtag mit dem Erlaß des vom Gericht gezwungenermaßen als Entscheidungsgrundlage akzeptierten Gesetzes endgültig den Boden der Rechtsstaatlichkeit verlassen habe. Diese Vorgehensweise kam den Kommunisten gerade recht, ließ sie sich doch zur Unterlegung ihrer These einer reaktionären Blockadepolitik unter dem Deckmantel rechtspositivistischen Gesetzesgehorsams instrumentalisieren.42 Aus kommunistischer Perspektive Heil, S. 130. Zit. nach Heil, S. 131. 38 Heil, S. 136, m. w.N. 39 Heil, ebenda. 40 Bemet (Anm. 32), S. 57. 41 Urteil A 133/47 v. 2.7.1947, in: Archiv des Öffentlichen Rechts, 74. Bd. (1948),93 ff., Jahrbuch 18. Bd., S. 128 ff. (132). 42 V gl. Heil, S. 138. 36 37

2. Abschn.: Wiedereinführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Thüringen

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stellte das obiter dictum nicht nur einen Affront, sondern einen klaren Rechtsbruch dar. In der Rückschau kommentierte Wolfgang Bernet die Kritik des OVG wie folgt: "Das (... ) OVG verließ seine angeblich loyale Position und kritisierte das Gesetz des Landtages scharf, was ihm nicht einmal formell zustand, da der Landtag in Ausübung der in der Thüringer Landesverfassung definierten Souveränität gehandelt hatte. Das OVG war zu einem Anachronismus in der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung geworden." 43

Zusammenfassend läßt sich die These formulieren, daß die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Thüringen durch das Zusammenspiel einer Vielzahl unterschiedlicher Faktoren - Beibehaltung der normativen Grundlagen durch Übernahme der fortschrittlichen Landesverwaltungsordnung der Vorkriegszeit, personelle Kontinuität und fachliche Orientierung der Richter an der Weimarer Verwaltungsrechtslehre, Gerichtsorganisation und -sitz - an der überlieferten Rechtstradition anknüpfte und dort ihre Entwicklung wieder aufnahm, wo sie durch die schleichende Aushöhlung unter der NS-Herrschaft zum Erliegen gekommen war. 44 Im Ergebnis wurde damit ein Rechtsschutzniveau erreicht, welches dem in den Westzonen durchaus ebenbürtig war und Thüringen in der SBZ als "Oase der Verwaltungsgerichtsbarkeit" (Begriff von Ernst Meyer) erschienen ließ. 45 Insofern gebührte Thüringen die Vorreiterrolle als erstes deutsches Land, das die gesetzlichen Grundlagen der Verwaltungsgerichtsbarkeit überhaupt wiederherstellte. Möglich wurde diese Ausnahmeentwicklung freilich nur aufgrund der besonderen besatzungsrechtlichen Situation Thüringens und durch den beherzten und raschen Eintritt seiner liberalen Politiker und Juristen. Daß gerade dies den Kommunisten von Beginn an ein Dom im Auge sein mußte, ist evident. So bewertete Hilde Benjamin den thüringischen Sonderweg wie folgt46 : "Landesverwaltung und Abteilung Justiz in Thüringen gingen einen anderen Weg. Der Personal bestand wurde mit allen nur irgend erreichbaren, formell unbelasteten Juristen aufgestockt und erreichte im September 1945 wieder 102 Richter und 15 Staatsanwälte. Diese formelle Entnazifizierung und Aufstockung des Kaderbestandes bedeutete ein Anknüpfen an die unter amerikanischer Besatzung betriebene reaktionäre und konservative Kaderpolitik. Sie führte zu einer Anhäufung überalterter und konservativer Juristen in der Thüringer Justiz. Sie erschwerten über Jahre hinaus weitgehend die klassenmäßige Veränderung der Justizkader. Nicht wenige krasse Fehlurteile in den folgenden Jahren hatten in dieser Kaderpolitik ihren Ausgangspunkt." Bernet, a. a. O. (Anm. 32), S. 57. Vgl. Heil, S. 40. 45 Ernst Meyer, Die Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Ostzone, Deutsches Verwaltungsblatt 1948, S. 561-564 (561). 46 Benjamin, 1945-1949, S. 57. 43

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1. Teil: Die Sowjetische Besatzungszone

Nach Erlaß der thüringischen Landesverfassung geriet die thüringische Verwaltungsgerichtsbarkeit in das Spannungsfeld zweier sich widersprechender nonnativen Grundlagen. Es ergab sich nunmehr die eigenartige Situation, daß eine zeitlich dem einfachen Gesetz nachfolgende Verfassung hierzu in Widerspruch geriet. Auch hier zeigt sich der Versuch der Volksvertretung, sich der Gesetzesbindung zu entziehen. Dieses Bestreben deutete die offizielle Rechtsgeschichtsschreibung in der DDR im marxistischen Sinne, wenn es hierzu heißt: "Im Land Thüringen spielte sich um die theoretische Auffassung und die Praxis der Verwaltungsgerichtsbarkeit ein erbitterter Klassenkampf ab.,,47 Die Frage der Gewährung verwaltungsrechtlichen Rechtsschutzes wurde mehr und mehr zur Machtfrage, welche letztlich die Kommunisten mittels der Ersetzung der LVO durch ein restriktives Verwaltungsgerichtsgesetz48 und die Umwandlung des traditionsreichen OVG Jena in ein Landesverwaltungsgericht für sich entscheiden konnten.

47 48

Bernet (Anm. 32), S. 56. Hierzu sogleich im dritten Abschnitt unter Ziffer 11. 2.

3. Abschn.: Verwaltungsgerichtsbarkeit im Zonenrnaßstab

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3. Abschnitt

Ansätze zur Wiedereinführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit im Zonenmaßstab I. Das Kontrollratsgesetz Nr. 36 über Verwaltungsgerichte Auf der Ebene des Alliierten Kontrollrats traten erstmals im Oktober 1945 Bestrebungen zutage, ein neues Verwaltungsgerichtsgesetz auszuarbeiten. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit ist in diesem Zusammenhang als Bestandteil eines umfassenden Programms des Alliierten Kontrollrats zu sehen, welches den Wiederaufbau des Rechtsstaats in Deutschland gewährleisten sollte. In der Frage der konkreten Ausgestaltung der Verwaltungsgerichtsbarkeit bestanden tiefgreifende Divergenzen, die einerseits auf machtpolitische Erwägungen, andererseits auf die unterschiedlichen Rechtstraditionen der Besatzungsmächte zurückzuführen waren. Letztere wirkten sich vor allem in der Frage nach der Eigenständigkeit der zu etablierenden Verwaltungsgerichtsbarkeit aus: Dem amerikanischen Modell entsprach die Orientierung am Vorkriegszustand, also die Einrichtung einer separaten Gerichtsbarkeit. Dagegen war den Sowjets der Gedanke einer außerhalb des Verwaltungsapparats stehenden justitiellen Kontrolle von jeher nahezu völlig fremd. In der gesamten - auch vorrevolutionären - russischen Rechtsgeschichte war dem Institut der Verwaltungs gerichtsbarkeit, wie es die europäische Rechts- und Staatswissenschaft im Verlauf des 18. Jahrhunderts hervorgebracht hatte, allenfalls akademische Bedeutung zuteil geworden. Unter der autokratischen Herrschaft der Zaren ließen sich höchstens Ansätze eines subjektiv-öffentlichen Rechtsschutzes verwirklichen. l Zwar gab es zu BeI

Die historische Entwicklung des Verwaltungsrechtsschutzes in Rußland stellt

Klaus-Jürgen Kuss (Gerichtliche Verwaltungskontrolle in Osteuropa, S. 66 ff.) dar.

Danach sei die vorrevolutionäre russische Staatstheorie von jeher beherrscht gewesen "vom Grundsatz der aus genuinen einheimischen Wurzeln, mongolischem Despotismus und byzantinischem Staatsdenken hervorgegangenen Selbstherrschaft (samoderzavie) des Zaren". Trotz vielfacher Versuche, im Zeichen der Rezeption aufklärerischer Ideen die Macht des Zaren an eine Konstitution zu binden, gelang es nicht, eine echte Machtbeschränkung zugunsten der Volksvertretung durchzusetzen. Andererseits verhalf die mit dem Namen Katharinas 11. verbundene Aufklärungsära in Rußland dem Grundsatz der Gesetzesbindung des Imperators (zakonnost) zur Geltung im Rahmen der offiziellen Staatstheorie, die fortan auf einer Verbindung der Maximen der Selbstherrschaft und der Gesetzlichkeit gründete. Als Mittel der Gewährleistung der Gesetzlichkeit in der Verwaltung waren das Petitionsrecht (pravo peticij), die Verwaltungsjustiz (administratinaja justicija) und die - zivilrechtliche, strafrechtliche und disziplinarische - Verantwortlichkeit der Amtspersonen vorgesehen. Der russische Begriff der Verwaltungsjustiz bezog sich indes nicht auf unabhängige und gerichtsförrnig organisierte Spruchkörper, welche der einzelne Untertan 6 Hoeck

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1. Teil: Die Sowjetische Besatzungszone

ginn des 19. Jahrhunderts im Zuge der Rezeption der in Preußen, Österreich und Frankreich publizierten Schriften Bestrebungen zur Etablierung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit, die in der Folge der Februarrevolution von 1917 zu einem Gesetz über die Verwaltungsgerichtsbarkeit führten, doch wurden diese Bemühungen durch die unmittelbar nachfolgenden revolutionären Ereignisse zunichte gemacht. Im ideologischen Koordinatensystem des Marxismus-Leninismus blieb für die externe Kontrolle staatlichen Handelns wenig Raum. Statt dessen stand dem Bürger in der Sowjetunion ausschließlich das allgemeine Beschwerde- und Antragsrecht sowie die staatsanwaltliche Kontrolle als allgemeine Gesetzlichkeitsaufsicht zum Schutz gegen hoheitliche Übergriffe zur Verfügung. 2 Die Rechtsschutzfunktion der staatsanwaltlichen Kontrolle wurde dadurch stark eingeschränkt, daß ein Tätigwerden zur Wiederherstellung der Rechte eines sich verletzt wähnenden Bürgers allein von der persönlichen Einsicht des Staatsanwalts abhing 3 , ohne daß der Beschwerdeführer Einfluß auf die staatsanwaltliehe Tätigkeit gehabt hätte. 4 Auch das sowjetische Beschwerderecht5 war weit davon entfernt, eine Rechtsschutzgarantie gegen belastendes Verwaltungshandeln darzustellen. Als Hauptinstrument des Rechtsschutzes des sowjetischen Bürgers gegenüber rechtswidrigen Entscheidungen der Verwaltungsorgane litt es vor allem daran, daß die staatlichen Organe in diesem Bereich in eigener Sache entschieden, mithin eine typische Selbstentscheidung vorlag. 6 Aus rein pragmatisch-besatzungspolitischer Sicht kam die Befürchgegen Entscheidungen der Kreis- und Stadtvorsteher (ispravniki) sowie der Gouverneure (gubematory) hätte anrufen können. Einerseits war die Möglichkeit zu Privatbeschwerden nur in den - seltenen - Fällen gegeben, in denen dies in der Zuständigkeitsordnung der streitentscheidenden Senate ausdrücklich vorgesehen war. Darüber hinaus genügten weder die Rechtsstellung des Senates noch das von ihm praktizierte Verfahren rechtsstaatlichen Anforderungen. So wurden die Senatoren nach "freier Wahl des Monarchen aus militärischen und zivilen Diensträngen der ersten drei Klassen" berufen und konnten von ihm jederzeit abberufen werden. Juristische Ausbildung oder Praxis war nicht Ernennungsvoraussetzung. Privatbeschwerden wurden im geheimen, schriftlichen Aktenverfahren erledigt, wie es auch in den deutschen Staaten bis in das 19. Jahrhundert hinein praktiziert wurde. Insgesamt erscheint für das zaristische Rußland die Aussage gerechtfertigt, daß der vom regierenden Staat gewährte Schutz subjektiv-öffentlicher Rechte im Rahmen seiner über die Verwaltung ausgeübten Aufsicht nur eine untergeordnete Rolle spielte. 2 Zur Entwicklung des Verwaltungsrechtsschutzes in der Sowjetunion von der Oktoberrevolution bis zur Gegenwart vgl. Kuss (Anm. 1), S. 167 ff. 3 Lothar Schultz. Die gerichtliche Kontrolle von Verwaltungsakten in der sowjetischen Rechtstheorie, S. 6l. 4 Schultz. ebenda. 5 Das Beschwerderecht fand seine gesetzliche Grundlage in der Verordnung des Zentralvollzugsausschusses der Sowjetunion vom 13.4.1933 "Über die Durchsicht der Beschwerden der Werktätigen und die Ergreifung der erforderlichen Maßnahmen in diesem Zusammenhang".

3. Abschn.: Verwaltungsgerichtsbarkeit im Zonenmaßstab

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tung hinzu, die Einrichtung der Verwaltungsgerichtsbarkeit könnte zu einer Abmilderung der disziplinarischen Verantwortlichkeit der Hoheitsträger gegenüber den Organen der SMAD führen? Vor diesem Hintergrund nahmen die Sowjets eine distanzierte und zögerliche Haltung zur Frage der Verwaltungsgerichtsbarkeit ein und blockierten die Bemühungen des Rechtsdirektorats mit der Begründung, die Wiedereröffnung der Verwaltungsgerichtsbarkeit habe für sie keine Priorität. 8 Ganz anders wurde die Dringlichkeit des Vorhabens dagegen von den Westmächten eingeschätzt. So wollte die amerikanische Besatzungsmacht mit dem Erlaß eines Kontrollratsgesetzes über die Wiedererrichtung von Verwaltungsgerichten vor allem ein Zeichen für den Neuaufbau einer an demokratischen Grundsätzen orientierten Selbstverwaltung setzen. 9 Auch die Briten drängten auf die baldige Schaffung einer gesetzlichen Grundlage mit dem Hinweis auf das faktische Bestehen der Verwaltungsgerichte in den Westzonen und Berlin. lO Da der Dissens in den interalliierten Verhandlungen somit Schuttz (Anm. 3), S. 63. In diesem Sinne schrieb der Chef der Rechtsabteilung der SMAD, Karassew, am 14.11.1945 an den zur Eile mahnenden DN-Präsidenten Schiffer: "Was die Ausarbeitung von Gesetzentwürfen anbetrifft, so wäre es wünschenswert, wenn die Rechtsabteilung der Sowjetischen Administration rechtzeitig über die grundlegenden Bestimmungen dieser Gesetze informiert würde, damit es möglich ist, volle Klarheit und Übereinstimmung zu erzielen. Insbesondere beachten Sie, inwieweit die Wiedererrichtung von Verwaltungsgerichten wirklich zweckmäßig erscheint, und ob dies nicht zu einer Abschwächung der Verantwortung der Beamten gegenüber den von ihnen begangenen Rechtsverstößen führt." (BArch DP I Nr. 11 [VA], S. 3). 8 Matthias Etzet, Die Aufhebung von nationalsozialistischen Gesetzen durch den Alliierten Kontrollrat (1945-1948), S. 103. 9 So Etzet, ebenda, der in diesem Zusammenhang das Mitglied der US-Delegation im Rechtsdirektorat des Kontrollrats Alvin John Rockwell mit der gegenüber dem amerikanischen Oberbefehlshaber General Clay geäußerten Bemerkung zitiert, der Erlaß eines Verwaltungsgerichtsgesetzes stelle "a step toward the reestablishment of the selfgovernment according to democratic principles and toward the strengthening of the development of local responsibility in accordance with principles laid down in Potsdam agreement (paragraph 9)" dar. 10 Ohne einen entsprechenden Gesetzesauftrag des AKR abzuwarten, hatten die Zonenbefehlshaber die Verwaltungsgerichtsbarkeit in den Westzonen bereits im Laufe des Jahres 1946 wiedereingeführt. Zunächst erließen die Länder der amerikanischen Besatzungszone (im wesentlichen gleichlautende) Gesetze über die Verwaltungsgerichtsbarkeit (VGG). Da diese nicht aufgrund eines interalliierten Gesetzes erlassen worden waren, stellten sie Gesetze der Länder Bayern, Hessen und Württemberg-Baden dar. Im Unterschied zu der weitgehend einheitlichen Regelung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in den Ländern der amerikanischen Besatzungszone wurde in den Ländern der britischen Zone zunächst keine inhaltliche Übereinstimmung erzielt. Die dort vorhandenen früheren preußischen Provinzen und Länder des Reiches setzten die vor 1933 geltenden Bestimmungen wieder in Kraft. Überall galt nun aber hinsichtlich der Zulässigkeit des Rechtsweges die fast unbeschränkte Generalklausel statt des bisherigen Enumerationsprinzips. Die französische Besatzungs6

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1. Teil: Die Sowjetische Besatzungszone

zunächst zu einem Stillstand geführt hatte, entschlossen sich die von der Unentbehrlichkeit des Verwaltungsgerichtsgesetzes überzeugten Amerikaner, die Grundlage hierfür notfalls im Alleingang auf Zonenebene zu kreieren. Zur Vorbereitung eines entsprechenden Entwurfs sollten die zuständigen Offiziere der Legal Division und der Abteilung für Inneres Fühlung mit deutschen Stellen aufnehmen. 11 Sie beauftragten den Heidelberger Rechtslehrer Walter Jellinek mit der Ausarbeitung eines Entwurfs, der später Grundlage der Beratungen im Rechtsausschuß des Länderrats werden sollte. 12 Damit war der Versuch der Herbeiführung einer zonenübergreifenden Regelung freilich noch nicht aufgegeben, wenn er sich auch aufgrund ideologischer Divergenzen und der in der spezifischen Beschaffenheit des deutschen Verwaltungsrechts wurzelnden Sachproblemen als sehr schwierig darstellte. Klarheit und Übereinstimmung herrschte jedoch insofern, als es um die "Dekontamination" des überlieferten reichseinheitlichen Normenbestandes ging. Dieser Begriff bezeichnet die Schaffung einer rechtlichen Regelung mittels derer diejenigen verwaltungsrechtlichen Regelungen ausgeschieden werden sollten, weIche unter der NS-Herrschaft erlassen worden waren und zu deren Ideologie einen inneren Konnex aufwiesen. 13 Bei der Überprüfung der nationalsozialistischen Gesetzgebung wurden "Ambivalenz und Indifferenz der Nationalsozialisten gegenüber der Verwaltungs gerichtsbarkeit" deutlich. 14 Zwar ließ der nationalsozialistische Gesetzgeber die Verwaltungsgerichtsbarkeit institutionell zunächst weitgehend unangetastet. 15 Vom Kriegsanbruch an wurden jedoch verschiedene Normen erlasmacht ließ für die Länder in ihrer Zone durch Verfügung Nr. 76 vom 23. Juli 1946 die Verwaltungsgerichtsbarkeit wieder zu. In Baden, dem Land, welches 1863 als erstes mit der Errichtung eines unabhängigen Verwaltungsrechtsschutzes begonnen hatte, wurde danach die Verwaltungs gerichtsbarkeit durch Landesverordnung 30. März 1947 wiederhergestellt. Damit wurde im wesentlichen der am 30. Januar 1933 herrschende Rechtszustand wiederhergestellt, der auf das Verwaltungsgesetz vom 5. Oktober 1863 zurückging. (Vgl. hierzu Georg-Christoph von Unruh, Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: Kurt leserich, Hans Pohl und Georg-Christoph von Unruh, Deutsche Verwaltungsgeschichte, Band V, S. 1178-1196). In Thüringen hatte die Regierung, begünstigt durch die besatzungsrechtliche Sondersituation, kurzerhand die liberale Thüringische Landesverwaltungsordnung von 1926 wieder in Kraft gesetzt, hierzu sogleich ausführlich im nächsten Abschnitt. 11 Etzel, S. 103. 12 Ebenda. Auch den Reformarbeiten in der britischen Besatzungszone lag dieser sog. "Heidelberger Entwurf' zugrunde. 13 V gl. Art. V des späteren Gesetzes. 14 Wolfgang Kohl, Das Reichsverwaltungsgericht - Ein Beitrag zur Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland, S. 402. 15 Ebenda. Befürworter und Gegner der Verwaltungsgerichtsbarkeit hielten sich auch in den Reihen der Nationalsozialisten ungefähr die Waage, wobei sich die Gegner der Verwaltungsgerichtsbarkeit von Anfang an zumindest literarisch in der

3. Abschn.: Verwaltungsgerichtsbarkeit im Zonenrnaßstab

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sen, die zu einer sukzessiven Aushöhlung des Verwaltungsrechtsschutzes führen sollten. Hierzu zählte zunächst der "Erlaß des Führers und Reichskanzlers über die Vereinfachung der Verwaltung" vom 28. August 1939 16 , der in seinem vierten Abschnitt die Rechtsschutzgarantien der Bürger weitgehend durch ein Selbstentscheidungsrecht der Verwaltung im Konfliktfalle ersetzte l7 und damit denjenigen, der Rechtsschutz gegenüber Maßnahmen der Verwaltung suchte, von der Initiierung des verwaltungs gerichtlichen Verfahrens ausschloß. 18 Die Stoßrichtung dieser Gesetzesbestimmung war vor allem in der Beseitigung des für die Nationalsozialisten von jeher suspekten Rechtsschutzgedankens der Verwaltungsgerichtsbarkeit (im Gegensatz zu der auch von den Nationalsozialisten grundsätzlich anerkannten Funktion der Wahrung der objektiven Rechtsordnung) zu erblicken. Weiterhin aufgehoben werden sollte die auf der Grundlage von Ziffer VI des Erlasses ergangene "Zweite Verordnung über die Vereinfachung der Verwaltung" vom 6. November 1939 der Generalbevollmächtigten für Reichsverwaltung und Wirtschaft l9 , welche den Prozeß der Entrechtlichung des Verwaltungs verfahrens fortsetzte?O Darüber hinaus war dem von den Minderheit befanden. Insgesamt sah man die Frage aber nicht als essentiell an. So sprach Otto Kollreuther 1938 in diesem Zusammenhang von "einem ,Modeproblem' der Verwaltungsrechtswissenschaft". (Vgl. Kohl, wie vorangehende Anmerkung, S. 404). Reichsinnenminister Frick erklärte das Problem der Anerkennung subjektiv-öffentlicher Rechte schlicht zu einer "akademische(n) Frage" (Kohl, vorangehende Anmerkung, S. 407). 16 Reichsgesetzblatt Nr. 153 (Teil 1) vom 30. August 1939, S. 1535 ff., dazu die Durchführungsverordnung vom 29. April 1941, S. 224 ff. 17 Insbesondere die Regelungen in den Ziffern 2) und 3) stellten die Zulässigkeit des Rechtsweges weitgehend in das Ermessen der Verwaltungsbehörden: ,,(2) An die Stelle der Anfechtung einer Verfügung im verwaltungsrechtlichen Verfahren tritt die Anfechtung im Beschwerdewege bei der vorgesetzten Behörde oder der Aufsichtsbehörde. Die Beschwerdebehörde kann im Hinblick auf die grundsätzliche Bedeutung oder die besonderen Umstände des Einzelfalles statt der Beschwerde das verwaltungsrechtliche Verfahren zulassen. Geht nach den geltenden Vorschriften der Anfechtung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren die Entscheidung einer Beschwerdebehörde voraus, so entscheidet diese über die Zulassung des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens. (3) Eine Berufung, Revision oder ein gleichartiges Rechtsmittel gegen eine verwaltungsgerichtliche Entscheidung findet nur statt, wenn das erkennende Verwaltungsgericht im Hinblick auf die grundsätzliche Bedeutung oder die besonderen Umstände des Einzelfalles die Berufung oder Revision ausdrücklich für zulässig erklärt." 18 Kohl, S. 441. 19 RGBI. 1939 Teil 1 S. 2168 f. 20 Art. I § I der Verordnung ordnete die Aufhebung der Stadt- und Kreisverwaltungsgerichte und der entsprechenden Verwaltungsgerichte der außerpreußischen Länder an. An ihre Stelle sollten die unteren Verwaltungsbehörden treten, deren Entscheidung mit der Beschwerde angefochten werden konnte.

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Alliierten verfolgten Dezentralisierungsprogramm21 insbesondere der "Erlaß des Führers und Reichskanzlers über die Errichtung des Reichsverwaltungsgerichts" vom 3. April 1941 22 im Wege. Hierin war die "Vereinigung" des Preußischen Oberverwaltungsgerichts und des Verwaltungs gerichtshofs in Wien sowie einiger besonderer Verwaltungsgerichte zu einem Reichsverwaltungsgericht bestimmt, über das der Reichsminister des Innern die Aufsicht führen sollte. 23 Dieses Gesetz hatte seinerzeit einen vernichtenden Schlag gegen den Rechtsstaat bedeutet, da die sachliche Unabhängigkeit der Reichsverwaltungsgerichtsräte fortan unter den Generalvorbehalt der Vereinbarkeit mit der "nationalsozialistischen Weltanschauung" gestellt wurde?4 Was die weitere Behandlung des verwaltungsrechtlichen Normenbestandes anbelangte, sahen sich die Mitglieder des Rechtsdirektoriats jedoch schon bald mit dem Problem konfrontiert, daß die deutsche Entwicklung des Verwaltungsrechts und der Verwaltungsgerichtsbarkeit in den Ländern uneinheitlich verlaufen war und 14 verschiedene Systeme auf diesem Gebiet hervorgebracht hatte, so daß eine vollständige "Dekontaminierung" hier schon aus praktischen Gründen ausschied. 25 Nach langwierigen und fruchtlosen Verhandlungen wurde von französischer Seite ein Schlichtungsversuch unternommen. Der Delegierte Leonon hob hervor, daß im Rechtsdirektoriat Einigkeit darüber herrsche, daß der Unterschiedlichkeit des deutschen Verwaltungsrechts durch die Zubilligung eines großzügigen Spielraums bei der Berücksichtigung lokaler Verhältnisse Rechnung getragen werden solle. 26 Auch sei es unumstritten, daß die Zonenbefehlshaber das Recht hätten, lokales Recht aufzuheben, so daß im wesentlichen alle Beteiligten zustimmen könnten. 27 Hiermit war bereits vorgezeichnet, daß die Vorgaben des Kontrollrats zu einem Verwaltungsgerichtsgesetz sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner beschränken würden und die mancherorts gehegten Erwartungen an ein perfekt durchdekliniertes System des subjektiv-öffentlichen Rechtsschutzes enttäuschen mußten. Vgl. Etzel, S. 104. RGBl. 1941, Tei11, S. 201 ff. 23 Vgl. § 7 Abs. I der Durchführungsverordnung. Das Reichsverwaltungsgericht blieb im übrigen als Gericht zweiter Instanz bedeutungslos, auch hier war vorgesehen, daß es nur dann tätig werden durfte, wenn ein nachgeordnetes Verwaltungsgericht ein Rechtsmittel gegen seine eigene Entscheidung ausdrücklich zugelassen hatte. 24 Vgl. § 7 des Erlasses, von Roland Freisler geradezu euphorisch gefeiert als "Geschenk an die ganze Rechtspflege" (vgl. Kohl, S. 459). 25 Etzel, S. 104. 26 Etzel, ebenda. 27 Etzel, ebenda. 21

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Die Bestimmungen des am 10. Oktober 1946 erlassenen Kontrollratsgesetzes Nr. 36 über Verwaltungsgerichte28 fielen entsprechend karg aus. Artikellbestimmte lediglich, daß in den einzelnen Zonen und in Berlin wieder Verwaltungsgerichte zu errichten seien. Fragen der näheren Ausgestaltung, also insbesondere der Organisation und Zuständigkeit, wurden ausdrücklich den Zonenbefehlshabern vorbehalten. Aufs ganze betrachtet kam dem Kontrollratsgesetz über Verwaltungsgerichte damit nicht viel mehr als Bekenntnischarakter zu: Die Wahl des Kontrollratsgesetzes als des in der Normenhierarchie am höchsten angesiedelten Instrumentes dokumentierte den besonderen Stellenwert, den die Besatzungsmächte der Wiederherstellung der Verwaltungsgerichtsbarkeit beimaßen. Das Einstimmigkeitserfordernis beim Gesetzeserlaß verpflichtete die Sowjetunion darauf, sich ausdrücklich für die Wiedereinrichtung einzusetzen. Bezahlt wurde diese Einigkeit allerdings mit dem Preis inhaltlicher Unbestimmtheit. Definitiv fällte das Gesetz zunächst lediglich die Vorentscheidung, daß die Verwaltungsgerichtsbarkeit jedenfalls nicht in den Apparat der herkömmlichen inneren Verwaltung zu integrieren sei. Schon die logisch nachfolgende, praktisch weitreichende Frage, ob die Verwaltungsgerichtsbarkeit in die ordentliche Gerichtsbarkeit eingegliedert werden oder einen eigenständigen Zweig der Gerichtsbarkeit bilden sollte, blieb bereits offen. Der Gesetzeswortlaut legte bei enger Auslegung letzteres nahe29 , ließ aber auch die Eingliederungsvariante zu. Den gesamten Regelungskomplex der konkreten Ausgestaltung der Gerichtsverfassung sowie der Zuständigkeits- und Verfahrens vorschriften überließ der 28 Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland 1946, S. 183; nachfolgend als KRG 36 bezeichnet. 29 In diesem Sinne argumentierte der die Autonomie des Thüringischen Oberverwaltungsgerichts verteidigende Präsident Dr. Hellmuth Loening in seinem Schreiben an die DJV vom 5. März 1947, daß das KRG 36, indem es von der Wiedererrichtung der "Verwaltungsgerichte" spricht, nur die Einrichtung eines eigenständigen Zweiges der Justiz im Blick gehabt haben kann, da die Bezeichnung "Verwaltungsgerichte" in der deutschen Rechts- und Gesetzesspraehe "von jeher" ein terminus technicus für besondere Verwaltungsgerichte gewesen sei. Für diese Auffassung stritt immerhin die Formulierung im führenden Staatsrechtslehrbueh der späten Weimarer Republik. Genvner vertritt im "Handbuch des Deutschen Staatsrechts" von Anschütz/Thoma (1930) zur Terminologie folgende Ansicht (a.a.O., Bd. 11, S. 508): "Verwaltungsgerichtsbarkeit ohne weiteren Zusatz bedeutet immer die Verwaltungsgerichtsbarkeit der Form nach; handelt es sich um die Zuweisung verwaltungsrechtlieher Streitigkeiten an die ordentlichen Gerichte, so spricht man nicht von Verwaltungsgerichtsbarkeit, sondern eben von der Zulässigkeit des ordentlichen Rechtsweges in Verwaltungs streitsachen." Ob jedoch die im AKR vertretenen Besatzungsmächte konkrete organisatorische Vorstellungen mit dem Begriff der "Verwaltungsgerichte" verbanden, ist nicht bekannt. Schließlich hätte es ihnen in diesem Falle ohne weiteres freigestanden, dies explizit und für alle Besatzungszonen gleichermaßen verbindlich im Gesetz zum Ausdruck zu bringen. Vgl. zu diesem Problem im einzelnen die Ausführungen unter Ziffer 1I.1.a.

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Gesetzgeber somit den Zonenbefehlshabern und in Berlin dem Alliierten Kontrollrat. 30

11. Umsetzung des Kontrollratsgesetzes Nr. 36 in der SBZ Durch das Kontrollratsgesetz Nr. 36 wurden die deutschen Behörden in der SBZ somit verpflichtet, die Verwaltungsgerichtsbarkeit in ihrem Bereich wieder einzuführen und Verwaltungsgerichte zu unterhalten. Der sowjetischen Besatzungsmacht oblag dagegen, die Einführung und Beibehaltung der Verwaltungsgerichtsbarkeit zU kontrollieren und - falls erforderlich Ausführungsbestimmungen zu diesem Gesetz zu erlassen. Der Zonenbefehlshaber hatte grundsätzlich zwei Möglichkeiten, das Gesetz umzusetzen: Entweder er schuf mit Hilfe der Zentralverwaltungen eine zoneneinheitliche Regelung, oder er überließ den Aufbau einer eigenen Verwaltungsgerichtsbarkeit den autonomen Ländern und Provinzen. 3l Die erstgenannte Alternative hatte den Vorzug, daß Justizspezialisten im Einvernehmen mit Vertretern der Landesverwaltungen zunächst alle für die Situation in der SBZ relevanten Aspekte herausarbeiten könnten, die abschließende Beschlußfassung aber der Besatzungsmacht überlassen bleiben würde. Im Falle einer Entscheidung für eine zoneneinheitliche Regelung hätte sich die Frage gestellt, ob einer umfassenden Neukonzeption oder einer schlichten Wiederbelebung der Verwaltungsgerichtsbarkeit der Vorzug zu geben wäre. Schließlich hätte auch eine Regelung mit dem Inhalt, den Zustand der Verwaltungsgerichtsbarkeit vom 30. Januar 1933 wiederherzustellen, den Forderungen des Kontrollratsgesetzes genügt. Einer Revision hätten insofern allein die bereits erwähnten, aus der Zeit des Dritten Reichs stammenden Gesetze und sog. "Führererlasse" bedurft. Doch dieser in den Westzonen teilweise praktizierten Vorgehensweise standen SMAD wie DJV skeptisch gegenüber. Zum einen strebten sie nach wie vor ein einheitliches deutsches Wirtschaftsgebiet an, welches auch ein einheitliches Rechtsgebiet bedingte. Daneben sprach für eine einheitliche Neukonzeption der Gedanke der Sparsamkeit, nicht nur an Geld, sondern vor allem an Personal. 32 Vor diesem Hintergrund legte sich die SMAD in der Frage der Verwaltungsgerichtsbarkeit zunächst nicht fest, sondern wartete die weitere politische Entwicklung ab. Um jedoch dem ausdrücklichen Auftrag des Kontrollratsgesetz Nr. 36 zu genügen, delegierte sie die Aufgabe des Gesetzesentwurfs an Vgl. Art. 2 des Kontrollratsgesetzes vom 10.10.1946. Ernst Meyer, Die Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Ostzone, Deutsches Verwaltungsblatt 1948, S. 561-564 (561). 32 Meyer, ebenda. 30

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die Deutsche Zentralverwaltung für Justiz. Dieser erteilte sie am 5. November 1946 den, so Schiffer, "ehrenvollen" Auftrag, zwei alternative Entwürfe einer Verwaltungsgerichtsordnung anzufertigen, welche "den Gegenstand sowohl in formaler und prozessualer wie auch in materieller Hinsicht erschöpfen" sollten?3 Der eine Entwurf sollte von der Einordnung der Verwaltungsgerichte in die ordentliche Gerichtsbarkeit ausgehen, während der andere den Aufbau selbständiger Verwaltungs gerichte ins Auge fassen sollte, wobei sich die SMAD in letzterem Falle die Entschließung vorbehielt, ob diese Gerichte in das Ressort der Justizverwaltung oder in das der Verwaltung des Innern fallen sollte. 34 1. Vorbereitung einer Verwaltungsgerichtsordnung auf der Justizländerkonferenz am 28.11.1946

Zur Vorbereitung einer zoneneinheitlichen Regelung lud Schiffer Vertreter der Landes- und Provinzialregierungen zu einer Konferenz über die Verwaltungsgerichtsbarkeit, die am 28. November 1946 stattfand?5 Offiziell diente die Konferenz dem Erfahrungsaustausch und Interessenausgleich zwischen der SMAD, deren Order zur Erstellung der Alternativentwürfe keine weiteren Beschränkungen enthielt, der DJV und den Ländern. Eingangs betonte ein Vertreter der DJV, daß die Einheitlichkeit beim kompletten Neuaufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit bereits deswegen erforderlich sei, da "im Recht das Spiegelbild der Wirtschaft zu sehen sei" und demnach das "proklamierte einheitliche deutsche Wirtschaftsgebiet auch ein einheitliches Rechtsgebiet gerade auch im Verwaltungsprozeß" erfordere. 36 33 Das Ersuchen wurde DJV-Präsident Schiffer auf der Länderkonferenz vom 1./2. November 1946 zunächst mündlich von Vertretern der SMAD-Rechtsabtei1ung mitgeteilt (Protokoll der Länderkonferenz, BArch DP 1 Nr. 6928 [VA], Bl. 86). 34 Vgl. "Aktennotiz des Chefs der DJV, Dr. Schiffer, vom 5. November 1946", sowie "Verfügung V 936.46 des Chefs der Deutschen Justizverwaltung" vom 12. November 1946. (BArch DP 1 Nr. 6928 [VA], Bl. 39, 40). 35 Protokoll der Sitzung vom 28. November 1946, BArch DP 1 VA 6928, Bl. 84-96. Anwesend waren seitens der DJV deren Präsident Dr. Schiffer, die Vizepräsidenten Dr. Melsheimer und Kleikamp, sowie die Direktoren Dr. Winkelmann und Rosenthal-Pelldram; seitens der SMAD Berlin-Karlshorst Oberstleutnant Jakupow und Major Shitomirsky, für die Länder und Provinzen Vizepräsident Dr. Uhle (Land Sachsen), Ministerialdirektor Dr. Ulrich (Land Sachsen), Ministerialrat Dr. Ebert (Land Sachsen), Ministerialdirektor Heinrich (Land Mecklenburg-Vorpommern), Landesverwaltungsgerichtsdirektor Klien (Land Mecklenburg-Vorpommern), Oberverwaltungsgerichtspräsident Dr. Loening (Land Thüringen), Oberlandesgerichtspräsident Dr. Löwenthal (Provinz Mark Brandenburg), Präsidialdirektor Dr. Heine (Provinz Sachsen), Oberregierungsrat Dr. Niethammer (Provinz Sachsen). 36 Protokoll der Sitzung vom 28. November 1946, BArch DP 1 VA 6928, Bl. 84-96, S. 3. An anderer Stelle brachte Schiffer diese Überlegung auf die Formel: "Paragraphenschlagbäume sind dem Wirtschaftsverkehr ebenso hinderlich wie höl-

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Eugen Schiffer räumte der Schaffung einer einheitlichen Verwaltungsgerichtsorganisation auch als Grundlage für ein zu schaffendes einheitliches materielles Verwaltungsrecht absolute Priorität ein. Beim Aufbau der neuen Verwaltungsgerichtsbarkeit müsse man dem Gesichtspunkt "Rechnung tragen", daß auch das preußische Verwaltungsrecht erst durch die prozessuale Tätigkeit des Oberverwaltungsgerichts entwickelt worden sei?7 Die Vertreter einzelner Landesverwaltungen, allen voran der Präsident des Thüringischen Oberverwaltungsgerichts Hellmuth Loening, wollten eine umfassende gesetzliche Regelung für die Gesamtzone vermeiden und statt dessen lediglich eine Rahmenverordnung, in der "die allgemeinen und wichtigsten Prinzipien" niedergelegt sein sollten, gelten lassen?8 Nachdem Schiffer dieses Ansinnen mit Hinweis auf den klaren Wortlaut des ihm von der Sowjetischen Militäradministration erteilten Auftrags zurückgewiesen hatte 39 , widmeten sich die Konferenzteilnehmer unter Einbeziehung der bestehenden landesgesetzlichen Regelung und den damit gegebenenfalls gemachten praktischen Erfahrungen zunächst der Organisation der Verwaltungsgerichte. a) Verwaltungsgerichtsstaat oder Justizstaat?

Das am stärksten umstrittene Problem der Justizländerkonferenz bestand in der Frage, ob die Verwaltungsgerichtsbarkeit im Falle ihrer Wiedereinrichtung einen eigenständigen Justizzweig bilden oder organisatorisch der ordentlichen Gerichtsbarkeit inkorporiert werden sollte. Die Kontroverse wurde schlagwortartig auf die Formel "Justizstaat oder eigenständige Verwaltungsgerichtsbarkeit" gebracht. 4o Dabei handelte es sich keineswegs um ein ausschließlich von ideologischen Vorbehalten geprägtes spezifisch sowjetzonales Problem. Vielmehr läßt sich behaupten, daß der Streit darum, zerne." (Eugen Schiffer, Gedanken über die deutsche Rechtszersplitterung, in: Neue Justiz 1947, S. 145 f.). 37 "Protokoll ... ", a.a.O. (wie vorangehende Anmerkung), S. 2. 38 Hintergrund war, daß die Landesregierung in Thüringen bestrebt war, das durch seine LVO verbürgte hohe Niveau des Verwaltungsrechtsschutzes wirksam zu sichern. Das Kontrollratsgesetz schien wegen seiner inhaltlichen Unbestimmtheit und Anspruchslosigkeit den hohen Standard des subjektiv-öffentlichen Rechtsschutzes in Thüringen zu gefahrden. 39 Es müsse, so Schiffer, davon ausgegangen werden, "daß nur die Gesetzgebung im ganzen hier zu erledigen sei, aber die Möglichkeit offenge1assen werden, einzelne Punkte den Ländern zu überlassen, die mit der Verwaltung zusammenhängen (wie z.B. das Beschwerdeverfahren)". 40 So beispielsweise der Präsident des Thüringischen Oberverwaltungsgerichts Loening in seinem Antwortschreiben auf den von Schiffer zur Vorbereitung der Konferenz versandten Fragenkatalog vom 21.11.1946. (BArch DP 1 Nr. 6928, BI. 71).

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welcher Alternative der Vorzug zu geben sei, fast so alt ist wie das Verwaltungsrecht selbst. 41 Das Problem war stets einer geschichtlichen Bedingtheit unterworfen. Mitte des 19. Jahrhunderts waren es vor allem Liberale, die unter dem Eindruck der obrigkeitlichen Gängelung des Vormärzes mit zunehmender Vehemenz eine Entscheidung zugunsten des justizstaatlichen Modells forderten. Gerade im Falle der Verletzung von privaten Freiheitsrechten erschien die ordentliche Justiz im Vergleich zum aristokratisch dominierten Verwaltungsapparat der berufenere Garant für eine faire Behandlung. 42 Der Durchbruch zugunsten einer eigenständigen Verwaltungsgerichtsbarkeit erfolgte Ende des 19. Jahrhunderts und wurde theoretisch vorbereitet durch das Werk Rudolf von Gneists43 . Die ordentlichen Gerichte hielt Gneist deshalb für ungeeignet zur Erfüllung dieser Aufgabe, da sie aufgrund ihrer Ausbildung nur unzureichende Kenntnisse in Verwaltungssachen aufwiesen und es im übrigen nach der Struktur der zu behandelnden verwaltungsrechtlichen Materie eher auf Fragen der Verhältnismäßigkeit ("Maßfragen") als auf reine Rechtsfragen ankomme, aber auch, da er hier die "Korruption des Beamtentums durch die Parteien" und mit ihr die Gefahr der "parteipolitischen Zersetzung" drohen sah. Als Vorbild für die Ausgestaltung diente ihm das englische Vorbild des selfgovernment, welches innerhalb der Administration für die Entscheidung individueller Streitigkei41 Vgl. Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 11, S. 240 ff. 42 Dagegen war die Gruppe der Befürworter einer Administrativjustiz zahlenmäßig gering. Zu ihr gehörten neben einigen Konservativen, die Handlungsfähigkeit und Flexibilität der Verwaltung durch die "Statik" der Rechtskontrolle gefährdet sahen, vor allem vom revolutionären französischen Vorbild inspirierte Liberale, welche die ordentliche Justiz freihalten wollten von administrativen und im weiteren Sinne politischen Entscheidungen (Stolleis, wie vorangehende Anmerkung). 43 Rudolf (von) Gneist (1816--1895) stammte aus einer preußischen Juristen- und Beamtenfarnilie, studierte Jura 1833-36 in Berlin (u. a. bei Savigny), wurde 1838 mit einer Dissertation zum römischen Obligationenrecht promoviert und 1839 habilitiert. Er wurde sogleich Privatdozent in Berlin und 1845 außerordentlicher Professor. Gneist hielt bis zu seinem Tode in großem Umfang Vorlesungen in fast allen Rechtsgebieten, zunächst vorwiegend Privat- und Prozeßrecht, seit den fünfziger Jahren zum Staats- und Verwaltungsrecht. Aufgrund seines Engagements 1848 und mangelnder Anerkennung seitens seiner Fakultätskollegen wurde Gneist erst 1848 mit einer ordentlichen Professur betraut. Gneist war langjähriges Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses sowie des Reichstages. Zunächst war er Wortführer der Opposition im Verfassungskonflikt, dann aber nationalliberaler Gefolgsmann Bismarcks und Befürworter der Jesuiten- und Sozialistengesetzgebung. Gneist nahm als Parlamentarier und als Wissenschaftler bestimmenden Einfluß auf die preußischen Verwaltungsreformen. Auch hatte er langjährig Führungspositionen im Deutschen Juristentag sowie in mehreren sozialpolitischen Vereinen inne. 1875 wurde Gneist stellvertretender Vorsitzender des neu gegründeten Preußischen Oberverwaltungsgerichts. (Michael Stolleis, Juristen. Ein biographisches Lexikon - Von der Antike bis zum 20. Jahrhundert", S. 238 f.).

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ten spezielle Kontrollorgane vorsah. 44 Gneists Konzeption verlügte in der auf Ausgleich ausgelegten Phase des Konstitutionalismus über den Vorzug, liberale und konservative Gestaltungsansätze miteinander zu versöhnen: Konservativ war der Grundsatz, die Verwaltungskontrolle auch weiterhin als ausschließliche Angelegenheit des Staates aufzufassen; den liberalen Bestrebungen wurde sie insofern gerecht, als überhaupt eine Kontrollinstanz etabliert und herrscherlicher Willkür damit Zügel angelegt wurden. Von den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts an bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs wurde die Verwaltungsgerichtsbarkeit in fast45 allen monarchischen46 Ländern institutionalisiert. Somit sah es zunächst danach aus, daß der Streit zugunsten einer selbständigen Verwaltungsgerichtsbarkeit entschieden worden sei; und Richard Thoma konnte bei seiner Berichterstattung für den Juristentag 1910 feststellen, daß sich zugunsten des Justizstaats in der Frage der Verwaltungsgerichtsbarkeit keine Stimme mehr erhebe. Tatsächlich schwelte der Streit jedoch weiter, überdauerte den Wechsel von der Monarchie zur Republik und entfachte wieder in der Reichsreformdiskussion der Weimarer Republik. Zwar hatte die Nationalversammlung in Artikel 107 WRV normiert, daß "im Reiche und in den Ländern ... nach Maßgabe der Gesetze Verwaltungsgerichte zum Schutze der einzelnen gegen Anordnungen und Verlügungen der Verwaltungsbehörden bestehen" müssen und sich damit den Standpunkt des Jahres 1848, welches in der Verwaltungsgerichtsbarkeit eine Exemtion des Staates von den ordentlichen Gerichten und damit ein Privileg gegenüber den Untertanen sah, nicht zu eigen gemacht. 47 Ein Blick auf die Entstehungsgeschichte der Verlassungsnorm erhellt indes, daß die Verlassungsgeberin anders, als der Wortlaut des Artikels 107 auf den ersten Blick nahezulegen scheint, die Eigenständigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit gerade nicht zum Verlassungsgrundsatz erheben wollte. Die Bestimmung ging zurück auf einen Antrag des Abgeordneten Beyerle, an die Stelle des Art. 113 der Regierungsvorlage48 folgende Worte zu setzen: "Im Reich und in den Ländern dienen nach Maßgabe der Gesetze besondere 44 Vgl. hierzu Rudolf von Gneist, Verwaltung, Justiz, Rechtsweg - Staatsverwaltung und Selbstverwaltung nach englischen und deutschen Verhältnissen (1869). Eine übersichtliche Zusammenfassung der Gneistschen Konzeption findet sich bei Dieter Weber, Die Lehre vom Rechtsstaat bei Dtto Bähr und Rudolf von Gneist, Kölner Diss. iur. 1968, insbes. S. 54 ff. 45 Eine Ausnahme bildeten nur die beiden mecklenburgischen Staaten, Waldeck und Schaumburg-Lippe. 46 In den drei Hansestädten waren verwaltungsgerichtliche Streitigkeiten dagegen in größerem Umfang den ordentlichen Gerichten zugewiesen. 47 Gerhard Lassar, Heft 2 der Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (VStRL) 1925, S. 95. 48 Diese hatte den Wortlaut: "Ein Reichsgesetz regelt die Verwaltungsrechtspflege in Fragen des Reichsrechts sowie die Einsetzung von Verwaltungsgerichten des Reichs."

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Verwaltungsgerichte zum Schutze der einzelnen gegen Anordnungen und Verfügungen der Verwaltungsbehörden. Wo solche Verwaltungsgerichte noch nicht bestehen, sind sie einzuführen. ,,49 Der Antrag wurde bis auf das Wort "besondere" in erster Lesung angenommen, der Wortlaut auch in zweiter Lesung nicht geändert. Daß das Wort "besondere" gestrichen wurde, ist offenbar einem justizstaatlichen Vorstoß des Reichsministers Hugo Preuß zuzuschreiben, der nach Verlesung des Antrags Beyerles erklärte: "Dann möchte ich noch eins betonen, ... das ist die ausdrückliche, verfassungsmäßige Festlegung besonderer Verwaltungsgerichte. Ich bin natürlich ein Anhänger der Verwaltungsgerichtsbarkeit, aber die Fassung ... verbietet verfassungsmäßig etwa eine Entwicklung dahin, daß die Verwaltungsrechtspflege mit der ordentlichen Rechtspflege vereinigt wird. Das scheint mir aber gerade das Ideal in der Entwicklung des Rechtsstaates zu sein. Die besondere Verwaltungsrechtspflege im Gegensatz zur ordentlichen Rechtspflege zu einem verfassungsmäßigen Grundsatz zu erheben, der also die Trennung von Verwaltungsgerichten und anderen Gerichten als Verfassungsvorschrift hinstellt, das würde ich deshalb für sehr unerwünscht halten. Die Bestimmungen, wie sie über Verwaltungsgerichte bestehen, sind gut. Es steht aber nichts im Wege, daß sie in der weiteren Entwicklung in die gesamte Justiz einbegriffen werden. Die Betonung besonderer Verwaltungsgerichte in den Anträgen Dr. Beyerle kann doch nur den Sinn haben, daß sie geschieden sein sollen von den übrigen Gerichte. Sie werden es ja vorläufig sein, aber das zum Verfassungsgrundsatz zu erheben, möchte ich nicht empfehlen. "so Diese Vorgänge im Verfassungsausschuß legen nahe, daß es jedenfalls nicht in der Absicht der Väter der Verfassung lag, die Übertragung der Verwaltungsgerichtsbarkeit auf die ordentlichen Gerichte zu verbieten. 51 Auf der Grundlage dieser Feststellung beschäftigte sich die damals noch junge, aber renommierte Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten gleich zweimal (1925 und 1931) mit der Frage nach "Justizstaat oder Verwaltungsgerichtsstaat".52 Im Zuge ihrer Verhandlungen kam die Vereinigung zu keinem einheitlichen Ergeb49 Protokolle des Verfassungsausschusses, 31. Sitzung v. 27. Mai 1919, S. 11 und 20 f. (Buchausgabe S. 358 und 363). 50 Prot., S. 359. 51 Walter lellinek, Der Schutz des öffentlichen Rechts durch ordentliche und durch Verwaltungs gerichte (Fortschritte, Rückschritte und Entwicklungstendenzen seit der Revolution), in: Verhandlungen der Tagung der deutschen Staatsrechtslehrer zu Leipzig am 10. und 11. März 1925 (Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 2), S. 14. Anderer Ansicht war z.B. Gerhard Anschütz, der in der Diskussion anmerkte, die in Art. 107 Reichsverfassung genannte Verwaltungsgerichtsbarkeit bedeute nicht ordentliche Gerichtsbarkeit; die Bezeichnung Verwaltungsgerichtsbarkeit habe einen bestimmte historischen Sinn; der "Justizstaat" werde durch Art 107 abgelehnt. (Protokoll der Verhandlungen der Tagung der deutschen Staatsrechts lehrer 1925, a. a. 0., S. 117). 52 Den konkreten Hintergrund der Verhandlungen bildete die Frage, ob das künftige Reichsverwaltungsgericht (dessen Einrichtung Art. 107 gebot) dem Reichsgericht eingegliedert werden sollte. (lellinek, wie vorangehende Anmerkung, S. 8).

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nis. Die deutschen Staatsrechtlehrer waren 1925 zwar mehrheitlich für den Erhalt separater Verwaltungsgerichte und gegen den Justizstaat, sahen hierin jedoch überwiegend eine organisatorische Frage ohne rechts staatliche Bedeutung. Die Auseinandersetzung, merkte Otto Kollreuther an, sei aufgebaut auf die Gegensätze von Justiz- und Verwaltungsrechtsstaat, ohne daß aber die Begriffe definiert seien. Das Problem des Justizstaates sei die Stellung des Richters zur Verfassung. 53 Gerade in den kleineren Staaten bestanden häufig begründete Zweifel an der persönlichen und sachlichen Unabhängigkeit der Richter, die unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten eine justizstaatliche Lösung angeraten erscheinen ließen. 54 Dagegen war das von Gneist gegen den Justizstaat gerichtete Argument, in Ermangelung eines ausgebildeten öffentlichen Rechts würden die Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit zu leicht alles über den Leisten des Zivilrechts schlagen, durch eine das öffentliche Recht stärker beachtende Juristenausbildung mittlerweile gegenstandslos geworden. All dies ließ Walter Jellinek zu einer differenzierten Einschätzung gelangen: "Im geschichtlichen Sinne, die Betrachtung beschränkt sich auf die Zeit von 1848 bis 1918, steht der lustizstaat am Anfang, der Staat mit selbständiger Verwaltungsgerichtsbarkeit am Ende der Entwicklung. Im Sinne einer kritischen Bewertung dagegen würde die Rückkehr zum reinen oder angenäherten lustizstaat nicht notwendig einen Rückschritt bedeuten. Vor der Verwaltungsgerichtsbarkeit hat die ordentliche zurzeit jedenfalls die überlegene Organisation voraus. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts, des Kammergerichts und insbesondere noch des Hanseatischen Oberlandesgerichts in öffentlichrechtlichen Angelegenheiten ist der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung durchaus ebenbürtig.,,55

Seine Haltung zur Daseinsberechtigung des Justizstaats faßte Jellinek in drei Leitsätzen zusammen: ,,1. Der Rechtsschutz durch ordentliche Gerichte ist besser als gar kein gericht-

licher Rechtsschutz. 2. Der Rechtsschutz durch ordentliche Gerichte ist besser als der Rechtsschutz durch mangelhaft organisierte Verwaltungsgerichte, insbesondere Schein-Verwaltungsgerichte. 3. Wenn die Kleinheit eines Landes oder geldliche oder bundesstaatlich-politische Gründe die Einführung wohl organisierter selbständiger Verwaltungsgerichte 53 Protokoll der Verhandlungen der Tagung der deutschen Staatsrechtslehrer 1925 (Anm. 51), Diskussionsbeitrag Kollreuther, S. 110. 54 So konnte beispielsweise das Landesverwaltungsgericht in Mecklenburg-Strelitz so besetzt sein, daß an der Entscheidung ein Geheimer Ministerialrat, ein Ministerialrat, ein Bürgermeister, ein Obertelegrapheninspektor und ein Ministerialreferent mitwirkten. In Sachsen-Meiningen mußten sogar Mitglieder des Staatsministeriums dem OVG angehören. 55 Jellinek (Anmerkung 51), S. 8.

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verbieten, und deshalb Anlehnung an die ordentlichen Gerichte gesucht wird, so wäre es angesichts der trefflichen, von den ordentlichen Gerichten auf dem Gebiete des öffentlichen Rechts geleisteten Arbeit eine Undankbarkeit gegenüber den ordentlichen Gerichten, dies unter allen Umständen als Rückschritt zu bezeichnen. ,,56

Auf der Justizländerkonferenz arn 28. November 1946 kehrten eine Vielzahl der nunmehr schon klassisch zu nennenden Positionen wieder. Vor dem Hintergrund des noch ungewissen Schicksals des Rechtsstaats in der SBZ gewannen die Argumente jedoch eine neue Bedeutung. Insofern ähnelte die politische Ausgangssituation für die Beantwortung der Frage nach dem Justizstaat etwas derjenigen Mitte des 19. Jahrhunderts. Zwar wurde die vermeintliche Unvereinbarkeit der zivilistischen und der publizistischen Rechtspraxis betont, die eigentlich die Separierung der Rechtszweige erforderte. Die Trennung barg jedoch die Gefahr, daß überhaupt keine justizförmige Kontrolle des Verwaltungshandelns mehr stattfindet, sondern der Schutz des subjektiv-öffentlichen Rechts dem salus publicae, gewissermaßen in einem Akt der Staatsraison, untergeordnet wird. Aufgrund dieser Erwägung verkündete DN -Präsident Eugen Schiffer auf der Konferenz, daß die Einrichtung eines separaten Zweiges der Verwaltungsgerichtsbarkeit neben der ordentlichen Gerichtsbarkeit nicht angebracht sei. Die Begründung seines Votums hatte er bereits zuvor in Form in seiner "Denkschrift zur Frage der Wiedereinrichtung von Verwaltungsgerichten" niedergelegt. 57 Danach sei die Einrichtung einer separaten Verwaltungsgerichtsbarkeit derzeit schon aus wirtschaftlichen Gründen abzulehnen. Darüber hinaus seien auch die historischen Bedingungen entfallen, welche den Justizstaat unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten rückständig erscheinen ließen. Zutreffend führte er die Verwirklichung der Idee einer eigenständigen Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland auf die Verwaltungsreform des Abgeordneten und Professors von Gneist zurück. Ihrer Einrichtung habe die Erwägung zugrunde gelegen, daß Gneist als einer der ersten großen Lehrer des Verwaltungsrechts zu seiner Zeit die Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit nach ihrer Ausbildung und Erfahrung nicht für geeignet gehalten habe, Fragen des öffentlichen Rechts zu behandeln. 58 Die ForJellinek (Anmerkung 52), S. 120. Eugen Schiffer, Denkschrift zur Frage der Wiedereinrichtung von Verwaltungsgerichten, 5. Dezember 1945, BArch DP 1 Nr. 6928 (VA), BI. 23 ff. 58 Schiffers rechtshistorische Argumentation zu diesem Punkt findet sich ausführlich in seinem Werk "Die Deutsche Justiz - Grundzüge einer durchgreifenden Reform" (1928), S. 283 f. Der von Schiffer herangezogene Gedanke der mangelnden Eignung von Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit zur Entscheidung von Verwaltungsstreitsachen ist indes - wie bereits gezeigt - wesentlich älter und findet sich unter anderem in den Ausschußdebatten der Paulskirche, dort etwa bei Robert von MohI. 56

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derung nach einer neben der ordentlichen Gerichtsbarkeit stehenden Verwaltungsgerichtsbarkeit sei also "ausschließlich" personellen Erwägungen gefolgt, welche gegenwärtig nicht mehr begründet seien. Die Bedenken Gneists gegen die Verwendung der ordentlichen Zivilgerichte als Verwaltungsgerichte hätten die Ausbildung und Schulung der Richter seiner Zeit betroffen, die damals noch ganz im Geiste des römischen Rechts, "also auf der Grundlage eines individualistisch-egoistischen Privatrechts und privaten Interesses erfolgte, während das öffentliche Recht eine soziale Einstellung verlangt, die den Interessen der Gemeinschaft den Vorrang gibt,,59. Dieser Ausgangpunkt sei nun durch die Rechtsentwicklung überholt, insbesondere habe sich gezeigt, daß die bei der Besetzung der Verwaltungsgerichte verwandten Ziviljuristen (und hier insbesondere diejenigen, die in preußische OVG übernommen wurden), sich in der Praxis hervorragend bewährt und entscheidend an der Schaffung des materiellen Verwaltungsrechts mitgewirkt hätten, welches sich organisch aus der Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte entwickelt habe. 60 Im übrigen habe durch die Loslösung des Privatrechts von seiner ehemals römisch-rechtlichen Grundlage und infolge der wechselseitigen Durchdringung von öffentlichem und privatem Recht der Gegensatz beider Rechtsgebiete seine Schärfe verloren. 61 Auf dieser Grundlage kam Schiffer zu der Schlußfolgerung, daß es im Rahmen einer Neuregelung am zweckdienlichsten sei, innerhalb der ordentlichen Gerichte besondere Abteilungen (Kammern, Senate) für verwaltungsrechtliche Streitigkeiten zu errichten und die gesamte Materie einheitlich in einem Gesetz zu erfassen. 62 Den Instanzen der bisherigen Verwaltungsgerichtsbarkeit in Preußen (Kreis- oder Stadtausschuß, Bezirksausschuß, Oberverwaltungsgericht) würden dann die ordentlichen Gerichte (Amtsgericht, Landgericht, Oberlandesgericht) in ihrem Aufbau entsprechen. 63 Die Auswahl der zur Teilnahme an der Rechtsprechung berufenen Laien (Verwaltungsschöffen) würde zweckmäßig den gleichen Selbstverwaltungsorganen überlassen bleiben, denen bisher die Wahl der Beisitzer der Verwaltungsgerichte zustand. 64 Schiffers Argumentation war auch politisch motiviert. Das Innenressort galt von jeher als vorrangiges Zielobjekt kommunistischer Kaderpolitik. Eine eigenständige Verwaltungs gerichtsbarkeit stand viel stärker in der Gefahr, in eine kommunistisch dominierte Verwaltung integriert zu werden, als dies bei einer justizstaatlichen Lösung der Fall gewesen wäre. Deshalb 59

60 61

62 63 64

Schiffer, Schiffer, Schiffer, Schiffer, Schiffer, Schiffer,

Denkschrift (Anm. 57), S. 1. ebenda. ebenda. ebenda. ebenda. ebenda.

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erschien ihm die Kontrolle des Verwaltungshandelns im Einflußbereich der ordentlichen Gerichtsbarkeit sicherer aufgehoben. Schiffers Rekurrieren auf die von Gneist bereits zuvor konstatierte "Wesensunterschiedlichkeit" des Zivil- und des Verwaltungsrichters ist zwar nicht unrichtig, geht aber im Ansatz an Gneists umfassender Argumentation vorbei. Bei Gneist bildet dieser Gesichtspunkt eher ein Nebenmotiv, denn auch dieser setzt in Wahrheit viel früher, nämlich bei der Zweckbestimmung des Verwaltungsrechts an, die auch er in der objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle sieht, während er dem Parteiinteresse des die Rechtsverletzung rügenden Bürgers eher subsidiäre Bedeutung beimißt. Dies dürfte auch seinem Biographen65 Schiffer nicht entgangen sein, doch läßt sich leicht nachvollziehen, daß er diese Ebene der Gneistschen Argumentation für die eigenständige Verwaltungs gerichtsbarkeit unerwähnt läßt, denn gerade dieses Argument wäre Wasser auf den Mühlen der zentralistisch orientierten Kommunisten gewesen wäre. Widerstand begegnete Schiffer in der Frage des Justizstaats von zwei Seiten. Einzelne Ländervertreter kämpften für den Erhalt ihrer auf Grundlage der föderalistischen Vorkriegsgesetzgebung errichteten Verwaltungsgerichte. Vor allem der thüringische OVG-Präsident Dr. Hellmuth Loening machte als selbstbewußter Verteidiger des traditionsreichen OVG Jena den Versuch, die Position der DJV zu widerlegen.66 Die thüringische Landesregierung sah in der Proklamation des Justizstaates die Abkehr von der seit über 80 Jahren im überwiegenden Teil von Deutschland bestehenden gewachsenen Tradition der Verwaltungsgerichte als besonderer, der Justiz nicht eingegliederter Gerichte. 67 Des weiteren berief sie sich unter Betonung der Tatsache, daß sich alle Länder der amerikanischen Zone für separate Verwaltungsgerichte entschieden hätten, auf die "Rechtseinheit Deutschlands in einer Grundsatzfrage,,68. Die Argumentation Schiffers bezüglich der Wandlung der Juristenausbildung seit den Zeiten Gneists, welche die organisatorische Trennung der Rechtszweige fortan entbehrlich mache, verwarf Loening zwar nicht grundsätzlich, hob aber hervor, daß "Imponderabilien des verwaltungsmäßigen Denkens" bestünden, welche es erforderlich machten, daß der Verwaltungsrichter die praktische Verwaltung auch in ihren Interessen, Sorgen und Nöten erlebt, "am eigenen Leib" erfahren hat, und leitete hieraus ab, daß die Richter eines Verwaltungsgerichts zumindest in überwiegender Zahl aus dem Verwaltungsdienst hervorgegangen sein müßten. 69

Eugen Schiffer, Rudolf von Gneist, Berlin 1929. Vgl. das bereits im Vorfeld der Konferenz abgesandte Schreiben Loenings an Schiffer vom 21. November 1946, BArch DP 1 VA 6928. 67 Loening (Anm. 66). 68 Loening, ebenda. 69 Loening, ebenda. 65

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Ebenso stritten die Kommunisten zunächst gegen den Justizstaat und für eine separate Verwaltungsgerichtsbarkeit. Sie sahen im Falle einer Kontrolle VOn Verwaltungsakten durch die ordentliche Gerichtsbarkeit die Handlungsfähigkeit der Notverwaltung bedroht. Aus diesem Grunde hatte Dr. Ernst Melsheimer als Leiter der Hauptabteilung Gesetzgebung in der DJV bereits vor der Länderkonferenz dafür votiert, daß die Kontrolle des Verwaltungshandelns aus dem Bereich der unabhängigen Justiz herauszunehmen sei. Unter den gegebenen politischen Umständen bevorzugte er zunächst die separate Verwaltungsgerichtsbarkeit als "geringeres Übel". Die Gründe hierfür erläuterte er in seiner parteiintern zur Diskussion gestellten Denkschrift "Verwaltungsmaßnahmen und Gerichtsurteile": "Die Nachprüfung von Verwaltungsanordnungen durch die ordentlichen Gerichte mit dem Ziele der Aufhebung einer solchen Anordnung ist (... ) aus einem grundsätzlichen Gesichtspunkt nicht möglich: Gerade die Zeit, in der wir gegenwärtig leben, zeigt mit besonderer Eindringlichkeit, daß der Prozeßrichter und der Verwaltungsbeamte bei ihrer Tätigkeit von ganz verschiedenen Gesichtspunkten auszugehen, ganz andere Ziele zu verfolgen haben. Hat der Zivilrichter bei Interessenkollisionen von Privatpersonen post Jestum auf Grund ruhiger Prüfung der Rechtstitel der Parteien die Rechtssphäre des einen von der des anderen zu sondieren, so hat der Verwaltungsbeamte die Aufgabe, im Augenblick auftretende soziale Notstände in möglichst schneller und wirksamer Weise zu beheben, und das ist besonders heute nicht immer ohne Eingriff in die private Rechtssphäre anderer möglich. Ist für den Prozeßrichter der Schutz der privaten Rechtsbelange durch die Anwendung der formalen Gesetze oberster Leitstern, so steht der Verwaltungsbeamte ganz unter dem Zwang der Notwendigkeit, die der Augenblick erfordert, für ihn ist der Zweckgedanke, das pflichtgemäße Ermessen maßgebend. Hier gilt der Satz: Summa iustitia res publicae salus. 7o Selbstverständlich hat sich der Verwaltungsbeamte im Rahmen der geltenden Rechtsvorschriften zu bewegen, aber der Schutz der privaten Sphäre und das formelle Gesetz dürfen für ihn nicht Selbstzweck sein. Er hat nicht nur private Interessen zu wahren, sondern auch öffentliche, gesellschaftliche Interessen zu vertreten. Neben den sozialen Aufgaben haben die Verwaltungsbeamten auch noch andere, ihnen besonders übertragene Aufgaben zu erfüllen, sie haben insbesondere die politische Aufgabe, die noch vorhandenen Reste von Nazismus und Militarismus zu vernichten. Bei allem aber muß der Gedanke der Zweckmäßigkeit über den Privatinteressen und über dem formellen Gesetz stehen.,,7l

Entsprechend der Weisung der SMAD sahen die von der DJV auf der Grundlage der Beratung auf der Justizländerkonferenz erstellten Entwürfe 70 Hier bringt Melsheimer die Grunddivergenz zwischen dem Rechtsverständnis der bürgerlichen Parteien und dem der Kommunisten auf den Punkt. Der Gründungsaufruf der CDU vom 26.6.1945 erhob die entgegengesetzte Aussage zur Maxime. Dort hieß es: "An Stelle der Lüge: ,Recht ist, was dem Deutschen Volke nützt', muß die ewige Wahrheit treten: ,Dem Volk nutzt nur, was Recht ist. '" (Zit. nach Benjamin, 1945-1949, S. 33). 7l Nachlaß Dr. Ernst Melsheimer, SAPMO BArch NY 4105/3, S. 181 ff. (183).

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einer Verwaltungsgerichtsordnung zwei alternative Lösungen vor: Entsprechend Entwurf I sollte die Verwaltungsgerichtsbarkeit durch die ordentliche Gerichtsbarkeit ausgeübt werden. Zu diesem Zwecke seien bei den Oberlandesgerichten Verwaltungssenate einzurichten, denen neben dem Senatspräsidenten zwei weitere richterliche Mitglieder sowie zwei Laienbeisitzer (Verwaltungsschöffen) angehören sollten. Dagegen sah Entwurf 11 die Einrichtung unabhängiger, nur dem Gesetz unterworfener Verwaltungsgerichte vor, welche der Justizverwaltung unterstellt werden sollten. 72 Für den Bezirk eines jeden Landes sollte lediglich ein Verwaltungs gericht eingerichtet werden, welches die Bezeichnung "Verwaltungsgerichtshof,73 tragen sollte. b) Generalklausel oder Enumerationsprinzip? Die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte nur in gewissen, gesetzlich aufgeführten Angelegenheiten galt allgemein als überkommen, wenig demokratisch und unzweckmäßig. 74 Diesem Enumerationsprinzip stand als von der Wissenschaft ganz überwiegend gefordertes "Zuständigkeitsideal" die Generalklausel gegenüber. Begründet wurde diese Präferenz insbesondere mit der Beachtung der Trennung von Justiz und Verwaltung. Bestehe nämlich bei Zugrundelegung der Enumerationsmethode keine explizite Sonderzuweisung, so bleibe lediglich der Weg der Beschwerde, auf welchem die jeweils vorgesetzte Dienststelle über die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes entscheide, so daß die Beschwerdeinstanz als Richter in eigener Sache fungiere und somit die Trennung zwischen Justiz und Verwaltung ad absurdum führe. 75 Um der "seit langem (gehegten) Forderung und der demokratischen Neuordnung" zu entsprechen (Eugen Schiffer), wäre es allerdings erforderlich gewesen, die bisher in den Provinzen und Ländern der sowjetischen Okkupationszone herrschenden abweichenden Regelungen gesetzlich anzugleichen. 76 Auch die Thüringische LVO, deren Mustercharakter in Hinblick auf eine zoneneinheitliche Regelung im Rah72 73

§ 1 Abs. 2 des Entwurfs I. § 1 Abs. 3 des Entwurfs H.

74 "Denkschrift über die Notwendigkeit alsbaldiger Ingangsetzung des Reichsverwaltungsgerichts" von dem mit der Geschäftsführung des Reichsverwaltungsgerichts betrauten Senatspräsidenten Dr. Franz Scholz, dem späteren Präsidenten des Bezirksverwaltungsgerichts des britischen Sektors von Berlin. Demnach sei die Enumerationsmethode, im monarchischen Staat im Ringen zwischen Justiz und Verwaltung als zweier feindlicher Gewalten entstanden, führe zu einem Chaos von zufällig entstandenen Bruchstücken, systemlos und zersplittert, daß in dieser Geheimwissenschaft der Kompetenzen auch der Jurist nicht Bescheid wisse. Daher erführe es auch in der Wissenschaft keinerlei Fürsprache mehr und werde, so Scholz, wohl nur noch von "schriftstellernden Verwaltungsbeamten" vertreten. (Seite 2 der Denkschrift, BArch DP 1 VA 6928, Bi. 7). 75 Scha/z, wie vorangehende Anmerkung. 7*

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men der Justizländerkonferenz stillschweigend anerkannt wurde77, sah die verwaltungsgerichtliche GeneralklauseI vor, und zwar in der Weise, daß grundsätzlich jede hoheitliche Verfügung, die nicht die Qualität eines Verwaltungsaktes haben mußte, nach Durchlaufen eines verwaltungsinternen Einspruchsverfahrens direkt beim OVG angefochten werden konnte. 78 Gegen die GeneralklauseI wurde vorgebracht, sie berge die Gefahr der Überflutung der unter Richtermangel leidenden Gerichte und sehe keinen wirksamen Schutz gegen Klagen von Querulanten VOr. 79 Dem hielt der Präsident des Thüringischen Oberverwaltungsgerichts Loening auf der Länderkonferenz zur Verwaltungsgerichtsbarkeit entgegen, der Einwand, durch die GeneralklauseI werde die Aktivität der Verwaltung beeinträchtigt, sei ,,80 Jahre alt und längst durch Anschütz und die Praxis widerlegt"so. Schiffer vermittelte, indem er hervorhob, daß GeneralklauseI wie auch Enumerationsprinzip letztlich bloß Idealtypen darstellten, welche in der Praxis niemals in Reinform, sondern stets in einem Mischverhältnis auftreten würden. Einerseits ließen sich Einschränkungen beim Generalklauselsystem ebenso erzielen wie mit der Enumerationsmethode. Enge der Gesetzgeber dagegen den Katalog bei der Aufzählungsmethode zu sehr ein, so könne die Verwaltungsgerichtsbarkeit ebenso zur leeren Fassade werden, wie wenn er beim Generalklauselsystem die Ausnahmen unangemessen ausdehne. Andererseits gewähre gerade das die Enumerationsmethode praktizierende Preußen durch einen umfangreichen Aufzählungskatalog und ein beinahe kunstvoll zu nennendes Verweisungssystem einen beinahe lückenlosen Rechtsschutz, der die Anrufung der Verwaltungsgerichte weniger beschränke als das Generalklauselsystem in manch anderem Lande. Die GeneralklauseI fand letztlich nach thüringischem Vorbild Eingang in die von der DJV angefertigten Entwürfen, allerdings mit folgenden ausdrücklichen Einschränkungen: 1. Nach § 6 des Entwurfs I bzw. § 9 des Entwurfs 1181 konnte die Anfechtung nur darauf gestützt werden, daß der Anfechtende durch den Verwaltungsakt in 76 In Preußen galt zwar das Enumerationsprinzip, zumindest aber eine Generalklausei für Polizeiverfügungen (v gl. Gesetz über die allgemeine Landesverwaltung vom 30.7.1883 und das Polizeiverwaltungsgesetz vom 1.6.1931), Thüringen herrschte sie ganz allgemein und im Lande Sachsen in abgeschwächter Form. 77 Dies läßt sich daraus schließen, daß bei den meisten Regelungspunkten die Diskussion damit eröffnet wurde, daß der thüringische OVG-Präsident Loening zunächst die Regelung der Thüringischen LVO vorstellte, deren jeweilige Übertragbarkeit auf die Gesamtzone dann von den Konferenzteilnehmern diskutiert wurde. 78 §§ 126, 127 der LVO von 1926/1930 in der Fassung des Anpassungsgesetzes von 1945. 79 So der Vortragende Rat Meyer (DJV) in seinem Einleitungsreferat auf der Länderkonferenz, Protokoll, BArch DP 1 Nr. 6928 (VA), BI. 92, S. 4. 80 Protokoll der Länderkonferenz, BArch DP 1 Nr. 6928 (VA), BI. 92.

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seinen Rechten verletzt wird. Bloße Interessenverletzungen vermittelten insofern noch keine Klagebefugnis. 2. Verwaltungsakte, welche auf behördlicher Ermessensbetätigung beruhten, sollten nach § 7 des Entwurfs I bzw. nach § 10 des Entwurfs 11 einer gerichtlichen Nachprüfung entzogen sein, es sei denn, es läge ein Fall des Ermessensmißbrauchs vor. 3. Das Verwaltungsgericht sollte nach § 4 (E I) bzw. § 7 (E 11) nur tätig werden, sofern nicht anderweitiger Rechtsschutz, z. B. durch die seinerzeit ruhenden Finanzgerichte, auch nur vorgesehen ist; auf tatsächliche Gewährung sollte es insofern nicht ankommen. 4. Ein Verwaltungsgerichtsverfahren sollte nach § 5 (E I) bzw. § 8 (E 11) dann nicht stattfinden, wenn ihm eine Anordnung des Kontrollrats oder der Besatzungsmacht entgegensteht.

Dem schwierigen Problem der gerichtlichen Nachprüfung von Ermessensentscheidungen wurde in der Entwurfsdiskussion keine so große Aufmerksamkeit gewidmet. Dies ist auf den ersten Blick erstaunlich, handelte es sich hierbei doch immer noch um "das große Freiheitsproblem des öffentlichen Rechts" (Georg Jellinek). Freilich kann sich die in einem Verwaltungsgerichtsgesetz zu treffende abstrakte Bestimmung des Verhältnisses der Verwaltung zum Rechtssatz nur auf die Frage der richtigen Rechtsanwendung beschränken, so daß den Verwaltungsgerichten die Überprüfung des Ermessensgebrauchs grundsätzlich entzogen ist. 82 Sie findet nur dann statt, wenn von dem Ermessen nicht im Sinne des Gesetzes (also rechtlich fehlerhaft) Gebrauch gemacht wird. 83 Versuche, die Ermessensfehler zu spezialisieren und systematisch zu ordnen, sind gelegentlich unternommen worden, ohne daß ihnen ein nachhaltiger Erfolg beschieden gewesen wäre. 84 Somit entspricht die in den Entwürfen getroffene Regelung zur Nachprüfbarkeit von Ermessensentscheidungen durchaus dem, was zu diesem Zeitpunkt im Wege der Gesetzgebung zu leisten war. Das Augenmerk ist jedoch darauf zu richten, daß eine derartige gesetzliche Regelung unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nur so lange als unproblematisch angesehen werden kann, als eine unabhängige Gerichtsbarkeit gewährleistet wird, der die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Ermessensausübung mit RückVgl. auch Thüringische LVO, §§ 126a, 128. Ernst Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, S. 83. 83 Forsthoff (vorangehende Anmerkung), S. 84. Schließlich gestattet auch § 114 der bundesdeutschen Verwaltungsgerichtsordnung eine verwaltungsgerichtliche Überprüfung von Ermessensentscheidungen nur dahingehend, ob "die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind und von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist." 84 Vgl. Forsthoff, S. 99, m. w.N. Walter Jellinek unterschied in seiner Arbeit "Gesetz, Gesetzesanwendung und Zweckmäßigkeitserwägung" (1913) neun typische Fehler, kam darauf später aber nicht mehr zurück. 81

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sicht auf das Rechtsschutzbedürfnis obliegt. Die Unmöglichkeit, des Problems der Gerichtskontrolle von Ermessensentscheidungen in abstracto auf dem Gesetzgebungswege Herr zu werden, stellt somit hohe Anforderungen an Kompetenz und Autonomie der Gerichte, die berufen sind, Ermessensentscheidungen auf Verwaltungswillkür zu überprüfen und die diesbezüglichen Kriterien dogmatisch auszuformen. 85 Somit zeigt sich an diesem Beispiel in besonderem Maße das Eingebundensein der einfachgesetzlichen Regelung in die Gesamtrechtsordnung. Auch wenn die Regelung der gerichtlichen Ermessenskontrolle an sich unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht zu beanstanden ist, setzt sie entsprechende Verfassungsgarantien (Gewaltenteilung, Unabhängigkeit der Rechtsprechung) voraus. Wo diese Verfassungsgarantien nicht mehr gewährleistet sind, geht auch die einfachgesetzliche Regelung ins Leere. Insofern waren durch die Verabschiedung der Landesverfassungen zum Zeitpunkt der Entwurfserstellung schon vollendete Tatsachen geschaffen worden, an denen auch ein von der Konzeption her fortschrittliches und rechtsstaatliches Verwaltungsgerichtsgesetz nichts zu ändern vermocht hätte. c) Die "Lehre vom justiifreien Hoheitsakt"

Auf der Ebene der Länder und Provinzen existierten bereits rechtliche Regelungen, welche den Rechtswegausschluß hinsichtlich bestimmter Verwaltungsmaßnahmen der unmittelbaren Nachkriegszeit normierten. Als Vorreiter hatte die sächsische Landesregierung das Problem umfassend in Form einer Verordnung geregelt. Hintergrund war, daß zahlreiche Bürger gerichtlich gegen Notverwaltungsmaßnahmen (insbesondere gegen die Umverteilung von Vermögensgegenständen) aus der sog. "Umbruchszeit" vorgehen wollten. Da Sachsen, anders als Thüringen, seine Landesverwaltungsgerichtsordnung noch nicht wieder in Kraft gesetzt hatte, wurden diese Ansprüche zivilrechtlich verfolgt. So waren Anfang 1946 bei sächsischen Gerichten eine Vielzahl von Prozessen anhängig, durch die vom Bundesland Sachsen oder von Gemeinden die Herausgabe von Sachen begehrt wurde, die von Landräten oder Bürgermeistern in Ausübung ihrer öffentlichen Gewalt beschlagnahmt worden waren. 86 Um die Durchführung solcher Prozesse unmöglich zu machen, beschloß das Präsidium der Landesverwaltung 85 Dieser Aufgabe war das Reichsgericht stets in beispielhafter Weise nachgekommen. In späterer Zeit erweiterte es die Prüfung sogar, indem es der Willkür gleich geachtet hat "ein in so hohem Maße fehlsames Verhalten der Verwaltungsbehörde, daß es mit den an eine ordnungsgemäße Verwaltung zu stellenden Anforderungen schlechterdings unvereinbar ist". (RGZ 121, 225 (233); wiederholt in RGZ 147, 179). 86 Schreiben von Ministerialdirektor Dr. Ulrich (Landesjustizverwaltung Sachsen) an die Rechtsabteilung der SMAD vom 24. Okt. 1949, BArch DP 1 Nr. 473 (VA).

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Sachsen am 14.3.1946 die sog "Verordnung über die Geltendmachung von Ansprüchen aus Maßnahmen der öffentlichen Gewalt", die nach Genehmigung durch die Sowjetische Militäradministration in Sachsen am 8. Mai 1946 veröffentlicht wurde. 87 Durch diese Verordnung wurden die Ansprüche der Entscheidung durch die Gerichte entzogen und auf den Verwaltungsweg verwiesen. Die damals anhängigen Prozesse dieser Art fanden dadurch ihre Erledigung.

In der Folgezeit wurde diese Regelung noch erweitert: Durch die Rundverfügung Nr. 245 der Landesverwaltung Sachsen vom 31. August 194688 , welche Bezug nahm auf eine Verfügung des Generalstaatsanwalts vom 12.6.1946 an die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Bautzen, wurde der Anwendungsbereich dieser Verordnung auf solche Ansprüche ausgedehnt, die nicht unmittelbar gegen Behörden oder Beamten gerichtet waren, sondern gegen Privatpersonen, denen durch behördliche Anordnung beschlagnahmte Sachen überwiesen worden waren. Diese Ergänzung wurde als notwendig erachtet, um auch die Maßnahmen der Roten Armee oder der Besatzungsmacht als Akte öffentlicher Gewalt dem Rechtsweg zu entziehen. Weiterhin sah die Verfügung vor, daß die Entscheidung über die rechtliche Zuordnung von Sachen, die dem früheren Besitzer ohne behördliches Dazwischentreten (z. B. in Form der Requisition) im Zusammenhange mit den Kriegsereignissen, d. h. in Folge seiner Flucht, abhanden gekommen und in den Besitz anderer gelangt waren, der zuständigen unteren Verwaltungsbehörde obliegen sollte. Diese sollte dann entscheiden, "ob im öffentlichen Interesse eine Regelung im Verwaltungswege entsprechend den Grundsätzen des Reichsleistungsgesetzes erfolgen soll". Die rasche, möglichst außergerichtliche Klärung sei "im Interesse der Volkswirtschaft namentlich dann geboten ( ... ), wenn es sich um Vieh und Kraftfahrzeuge handelt". Halte die untere Verwaltungsbehörde eine solche Entschließung nicht für erforderlich, so sollten die Gerichte versuchen, eine Erledigung solcher Streitigkeiten "durch gütliche Einigung der Parteien" zu erreichen. Auch Thüringen ließ sich vom sächsischen Beispiel inspirieren. So erlaubte § 126 a S. 2 der novellierten Thüringischen Landesverwaltungsordnung in der Fassung von 1945 als "Konzession" an die neuen Machthaber und gleichsam als "Korrektiv gegen eine Überspannung der Generalklausei" ganz allgemein die Deklaration von Verwaltungsmaßnahmen zum Regierungsakt. Unter einem "Regierungsakt" verstand der Gesetzgeber Verfügungen, die sich nicht als Verwaltungs-, sondern als "Maßnahmen der Staatsführung" darstellten und daher nicht der Anfechtbarkeit unterliegen. Mittels dieses Instruments wäre es bereits möglich gewesen, hoheitliche 87 88

Gesetzessammlung der Landesverwaltung Sachsen 1946, S. 133. BArch DP 1 Nr. 473 (VA).

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Maßnahmen aus der unmittelbaren Kriegsfolgezeit wie auch Übergriffe der Besatzungsmacht von der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle im Einzelfall freizustellen. Darüber hinaus erließ der neugewählte Landtag am 20. November 1946 durch ein "Gesetz betreffend Maßnahmen gegen Nazismus und Militarismus", welches sich inhaltlich an die Regelung in Sachsen anlehnte, bzw. noch darüber hinausging. Hierin hieß es: "Maßnahmen, welche von Behörden oder von Beauftragten der Landesverwaltung oder der kommunalen Verwaltung in Ausübung öffentlicher Gewalt in der Zeit vom 8. Mai 1945 bis zum 20. November 1946 zur Bekämpfung des Nazismus und Militarismus, zur Versorgung der Opfer des Faschismus, der Bombengeschädigten, Neusiedler und Neubürger und zum Aufbau der neuen demokratischen Ordnung im Land Thüringen getroffen worden sind, unterliegen nicht einer Anfechtung im ordentlichen Rechtsweg oder im Verwaltungsstreitverfahren. Über gesetzlich vorgesehene Einsprüche (Beschwerden) entscheidet die zuständige obere Verwaltungsbehörde oder die zuständige Landeskommission endgültig. Dies gilt insbesondere für die Maßnahmen zur Durchführung der Bodenreform, der Sequestrierung nazistischen und militaristischen Vermögens, der Zuteilung von Wohnraum und der Verteilung von Mobiliar an Opfer des Faschismus, Bombengeschädigte, Neusiedler und Neubürger.,,89 Insbesondere die Kommunisten in der DJV suchten nach einer Regelung, die es ermöglichen sollte, Umverteilungsmaßnahmen aufgrund von Kriegsfolgen der Kontrolle durch eine unabhängige Justiz im Zonenmaßstab zu entziehen. Dies galt sowohl hinsichtlich einer Restitution des Betroffenen als auch bezüglich der Gewährung kompensatorischen Rechtsschutzes. In seiner Denkschrift "Verwaltungsmaßnahmen und Gerichtsurteile" skizziert Melsheimer den rechtspolitischen Standpunkt seiner Partei in dieser Frage wie folgt: "So sehr vom antifaschistischen und demokratischen Standpunkt die Rechtsstaatlichkeit betont werden muß, und so wenig dieser Gesichtspunkt für die Zukunft durch polizei staatliche Gesichtspunkte ersetzt werden soll, so darf doch die nach dem geschriebenen Gesetz zulässige Schadenersatzklage wegen ,Amtspflichtverletzung' heute ebenso wenig zur ,Anprangerung , von aus der Notzeit geborenen Verwaltungsakten mißbraucht werden, wie etwa die erörterten - unzulässigen Klagen vor dem ordentlichen Gericht auf Aufhebung solcher Verwaltungsakte. Welchen Ausgleich die von den verschiedenen Betroffenen verschieden schwer getragenen Lasten des Hitlerkrieges und seiner Nachwirkungen später einmal erfahren wird, ist heute noch nicht abzusehen. Das ein solcher Lastenausgleich einmal kommen wird, ist mit Bestimmtheit zu erwarten. Der deutsche Gesetzgeber wird sich, wenn er erst wieder einmal vorhanden sein wird, dieser Frage mit der nötigen Gründlichkeit annehmen, und es ist durchaus denkbar, daß er dann für den, der von den Notmaßnahmen der Verwaltungsbehörde betroffen wurde, nicht mehr übrig haben wird als für den, der durch die Bomben des hitlerschen Luft89 § 1 des Gesetzes "betreffend Maßnahmen gegen Nazismus und Militarismus" vom 20. November 1946, BArch DP 1 VA 6928, BI. 111.

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krieges alles verloren hat. Heute aber vor dem ordentlichen Gericht durch Schadenersatzklage gegen die Behörde sich rechtzeitig von jeder Last befreien wollen, das geht doch selbst für das strengste rechtsstaatliche Denken zu weit. ,,90

Tatsächlich bestand in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine wirtschaftliche Notstandssituation, die mit dem herkömmlichen rechtsstaatlichen Instrumentarium nur schwer beherrschbar erschien. Hinzu kam eine erhebliche Rechtsunsicherheit, gerade im Bereich der Zuordnung von Vermögensgegenständen. Hier wirkten einerseits die Requirierungen der Kriegszeit nach, andererseits war die Vermögenszuordnung im Einzelfall schwierig, da ebenso eine Flucht aus der SBZ in die Westzonen einsetzte. 91 Diese Ausgangslage hatte zunächst einmal zur Konsequenz, daß der Einfluß der Verwaltung erheblich zunahm. Kreise und Gemeinden mußten fast allein die Last der öffentlichen Aufgaben tragen. An klaren Vorgaben, auf welche Weise die Folgen von Krieg und Niederlage solidarisch verteilt werden sollten, fehlte es. Melsheimers Hinweis auf das Bedürfnis eines gesamtdeutschen Lastenausgleichsgesetzes verdeutlicht dies. 92 Das Bedürfnis, die Verwaltung in ihrem Bestreben, existentielle Gefahren für den einzelnen zu vermeiden, zu schützen, erscheint von daher politisch nachvollziehbar. Es ist auch nicht zu bestreiten, daß aus der Krisensituation der unmittelbaren Nachkriegszeit gerade im Bereich des öffentlichen Rechts eine solche Vielzahl streitiger Rechtsverhältnisse resultierte, daß die ohnehin ressourcenknappe Justiz mit ihrer umfassenden gerichtlichen Kontrolle völlig überfordert gewesen wäre. Dies galt um so mehr, als auch die übrigen Zweige der Justiz unter Überlastung litten93 und die durch die konsequente Entnazifizierung ohnehin erheblich geschmälerten Personalreserven banden. Unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten bedrohlich erscheint die Lehre vom justizfreien Hoheitsakt freilich vor dem Hintergrund, daß Vertreter der Landesregierungen unverblümt für die Perpetuierung dieses Instruments, gewissermaßen als verwaltungsrechtlicher Normalzustand, eintraten.

In diesem Sinne empfahl der Vizepräsident der Landesverwaltung Sachsen Uhle die in seinem Lande geltende Regelung als Beispiel für die Ge90 Nachgelassenes Schriftgut von Dr. Ernst Melsheimer, SAPMO BArch NY 4105/3, BI. 181 ff. (185), S. 5 der Denkschrift. 91 Bis 1950 verließen rund 1,4 Millionen Menschen, die Ostzone, worunter sich allerdings auch Vertriebene aus den Ostgebieten befanden. 92 Erst mit den alliierten Gesetzen zur Währungsreform wurde aus dem politischen Begriff eines "Lastenausgleichs" ein - wenn auch vager - Rechtsbegriff, vgI. Karl-Heinz Schaefer, Lastenausgleich für Vertriebene, Flüchtlinge und sonstige Kriegs- und Kriegsfolgengeschädigte, in: Kurt Jeserich u. a. (Hrsg.): Deutsche Verwaltungsgeschichte, Band V, S. 608-623 (609). 93 Dies wird deutlich, denkt man beispielsweise an die notwendige strafrechtliche Ahndung des Schwarzhandels und die Inanspruchnahme der Zivilgerichte in Scheidungssachen, die nach dem Kriege einen Höhepunkt erreichte.

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samtzone. Für den Regierungsakt spreche nicht allein der wirtschaftliche Zwang zur Aufrechterhaltung der Notstandsmaßnahmen, sondern ebenso das politische Kalkül. In vielen Fällen sei nämlich versucht worden, auf dem Umweg über die Ziviljustiz die politische Leitung des Staates anzugreifen. Darin sei "ein Angriff reaktionärer Kräfte auf den neuen staatsrechtlichen Aufbau" zu erblicken. Diesen Tendenzen müsse mit aller Entschiedenheit entgegen getreten werden. Durch den Rechtswegausschluß solle auch vermieden werden, "daß eine unnötige Bloßstellung der Verwaltung in den Gerichten und in der Öffentlichkeit" erfolge. 94 Auch grundsätzlich sei er nicht der Auffassung, daß die Justiz gegenüber der Verwaltung die übergeordnete Instanz sei. Vielmehr sei es Sache der politisch höchsten Instanz, Willkürakte zu beseitigen. Mißtrauen ihr gegenüber sei nicht am Platze. Vor diesem Hintergrund "könne man darüber streiten, ob die Regelung nur als Übergangsmaßnahme zu gestalten" sei. 95 In der Diskussion zeigte sich, daß die Vorgehensweise, Maßnahmen der Übergangszeit einer verwaltungsexternen Kontrolle zu entziehen, dem Wunsch nahezu sämtlicher Vertreter der Landes- bzw. Provinzialregierungen entsprach. 96 Dennoch scheute die DJV davor zurück, das Instrument des "Regierungsakts" - wie verschiedentlich vorgeschlagen - in den Entwürfen für eine zoneneinheitliche Verwaltungsgerichtsordnung zu verankern, denn es überwog die Befürchtung, daß hierdurch das Vertrauen der Bevölkerung in die Rechtssicherheit Schaden nehmen könnte. Auch weckte die Möglichkeit, hoheitliche Maßnahmen für justizfrei zu erklären, ungute Erinnerungen an die Nazizeit. 97 94 Protokoll der Justiz-Länderkonferenz, Einleitungsreferat Meyer (DJV), BArch DP 1 Nr. 6928 (VA), Bi. 89, S. 6. 95 Protokoll der Justiz-Länderkonferenz vom 3.5.1946, BArch DP 1 VA 22, Bi.

25.

96 Protokoll über die Besprechung mit Vertretern der Ländern und Provinzen zur Wiedereinführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit vom 28. November 1946, BArch DP 1 VA 6928, Bi. 83. 97 § 7 des Gesetzes über die Geheime Staatspolizei vom 10. Februar 1936 bestimmte: "Verfügungen und Angelegenheiten der Geheimen Staatspolizei unterliegen nicht der Nachprüfung durch die Verwaltungsgerichte" (zit. nach Ingo von Münch [Hrsg.], Gesetze des NS-Staates, Nr. 34, S. 75). Es wäre allerdings falsch anzunehmen, daß der Regierungsakt im vorbezeichneten Sinne etwa ausschließlich in Diktaturen zu finden wäre. So kennt auch die französische Verwaltungsrechtsprechung ein Pendant, den sog. "acte de gouvernement". Auch hier handelte es sich um exekutive Maßnahmen, denen der Staatsrat (conseil d'etat) ursprünglich wegen des ihnen zugrunde liegenden politischen Zweckes (mobile politique) die Justitiabilität absprach. Freilich engte er ihren Bereich unter dem Eindruck zunehmender Kritik der Rechtswissenschaft weitgehend ein, so daß das Instrument in der Praxis lediglich eine marginale Rolle spielt. (Vgi. Klaus-Jürgen Kuss, Gerichtliche Verwaltungskontrolle in üsteuropa, S. 50 f.) Auch in der Vorkriegsdiskussion war die Legitimität des Instruments grundsätzlich anerkannt, wobei es freilich an einer klaren Definition, Fallgruppen usw. fehlte. So merkte Kaufmann auf der Staatsrechts-

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Um die Durchbrechung der Rechtsschutzgarantie nicht zu augenfällig zu gestalten, löste die Zentralverwaltung das Problem letztlich eleganter, wenn auch nicht weniger radikal. Eher unscheinbar fand sich in Schluß- und Übergangsbestimmungen die Vorschrift, daß für die Maßnahmen der Übergangszeit dann keine Möglichkeit der Klage oder des Rechtsbehelfes mehr gegeben sein sollte, soweit die Fristen bei Inkrafttreten der Verordnung bereits abgelaufen seien. 98 Damit war gewährleistet, daß die Verwaltungsgerichte und die Verwaltungen nicht gegen ihren Willen mit Klagen aus der "Umbruchzeit" überhäuft wurden. Formal wurde diese Regelung damit begründet, daß die Anfechtbarkeit erst einsetzen könne, wenn die Verwaltung wisse, daß sie mit der Verwaltungsgerichtsbarkeit zu rechnen habe und sich darauf einstellen könne. 99 Nur in dem Fall, daß die Landesregierung selbst eine Überprüfung für geboten hält, sollte die Wiedereröffnung neuer Einspruchs-, Beschwerde- und Klagefristen möglich sein. Damit war zumindest der Perpetuierung der Möglichkeit justizfreier Hoheitsakte ein Riegel vorgeschoben.

d) Einbeziehung eines" Vertreters des öffentlichen Interesses" Als Zugeständnis an die SED-dominierten Landesregierungen 100 sahen die Entwürfe vor, von den Landesregierungen bestellte sog. "Vertreter des öffentlichen Interesses" bei den Verwaltungssenaten lOI bzw. bei den Verwaitungsgerichtshöfen 102 zuzulassen. Die Bestellung der Vertreter des öffentlichen Interesses sollte Schutz "vor leichtfertigen und böswilligen Klagen" bieten. 103 Aufgaben und Befugnisse dieses "Vertreters des öffentlichen Interesses" waren in den Entwürfen nicht definiert. Aus dem Protokoll der vorbereitenden Länderkonferenz wird indes klar, daß hiermit ein staatsanwaltliches lO4 Eingriffsrecht in jeder Phase des Verfahrens begründet werden lehrertagung 1925 in Leipzig an, der Ausbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit sei "möglich und notwendig, vor allem durch die Gewährung einer Generalklausei, welche die Seele der Verwaltungsgerichtsbarkeit" sei. Daß "gewisse Ausnahmen von der Generalklausel nötig seien für actes de gouvernement" verstehe sich andererseits "von selbst". (vgl. Heft 2 der Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer [1925], S. 116). 98 § 34 des Entwurfs I, § 48 des Entwurfs 11. 99 OLG-Präsident Dr. Löwenthai als Vertreter der Provinz Mark Brandenburg auf der Länderkonferenz. (BArch DP 1 VA 6928, Bl. 10). 100 So Eugen Schiffer wörtlich in seinem Schreiben an den Chef der Rechtsabteilung der SMAD, Karrasew, vom 12. Februar 1947. ("Verwaltungsgerichtsbarkeit 1945-54", BArch DP 1 Nr. 6928 [VA]). 101 § 11 Abs. 1 des Alternativentwurfs Nr. l. 102 § 15 Abs. I des Alternativentwurfs Nr. 2. 103 Schiffer (Anm. 100).

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sollte, um zum Schutze der Verwaltung im Einzelfall regulierend eingreifen zu können, ohne daß dieser Eingriff an spezifische Voraussetzungen gebunden sein sollte. I05 In diesem Sinne hatte sich Ernst Melsheimers bereits zuvor in seiner Denkschrift "Verwaltungsmaßnahmen und Gerichtsurteile" zur Frage des "politischen" Eingriffsrechts des Staatsanwaltes in das Verwaltungsstreitverfahren geäußert: "Im übrigen wird aber auch der Staatsanwalt in Fällen dieser Art und in jenen, in denen etwa ein Richter unter Verkennung der Unzulässigkeit des Rechtsweges sich sachlich auf eine Klage einläßt, die die Aufhebung eines Verwaltungsaktes zum Ziele hat, dem Richter helfen und sein Wort mitsprechen können. Hier greift nämlich das Gesetz über die Mitwirkung der Staatsanwaltschaften in bürgerlichen Rechtssachen vom 15.7.41 Platz, wonach die Staatsanwaltschaft auch bei Zivilprozessen mitwirken, Anträge stellen, Beweismaterial beibringen und Einreden geltend machen kann, falls die besonderen Umstände des Falles das erfordern. Ob dieses Nazi-Gesetz heute noch anwendbar ist? Ja, es ist noch anwendbar. Sicherlich hat dieses unmittelbar nach dem Angriff auf die Sowjetunion erlassene Gesetz den Zweck verfolgt, auch die Rechtsprechung der deutschen Gerichte einzuordnen in die Militarisierung des gesamten Staats- und Wirtschaftswesens. Das aber kann doch wohl von fast allen während der Nazi-Herrschaft und besonders während der Kriegszeit ergangenen Gesetzen gesagt werden. Das Motiv des Gesetzgebers kann aber nicht allein entscheidend sein. Es handelt sich bei dem genannten Gesetz um eine verstärkte Einwirkung der Staatsorgane auf die Rechtsprechung. Eine solche wirkt sich in der Nazizeit natürlich im nazistischen Sinne aus, im demokratischen Staat aber im demokratischen Sinne. Und diese Einwirkung ist in der heutigen Notlage des deutschen Volkes nicht nur wünschenswert, sondern unumgänglich, heute, wo es sich darum handelt, zu verhindern, daß dem erfolgreichen Wirken der Verwaltungsorgane bewußt oder unbewußt durch die Justiz entgegengearbeitet wird." I 06

Somit lag ein Ansatz zur Verwirklichung ihrer etatistischen Verwaltungsrechtsschutzkonzeption in der Stärkung der Rolle Staatsanwalts. Dessen Tätigkeit als Vertreter des öffentlichen Interesses im Verfahren sollte ein politisch steuerbares Regulativ zur Eindämmung des Verwaltungsrechtsschutzes bilden. Die Diskussion um die Mitwirkung des sog. "Vertreters des öffent104 Oberlandesgerichtspräsident Dr. Löwenthal erläuterte auf der vorbereitenden Länderkonferenz, er denke sich den Vertreter des öffentlichen Interesses als Generalstaatsanwalt, dem ein Vertreter aus der Verwaltung beigegeben werden müsse, BArch DP 1 Nr. 6928 (VA), BI. 91. 105 Im späteren Gegenentwurf der SMAD wurde den von der Landes- bzw. Provinzialregierungen zu ernennenden Vertretern des öffentlichen Interesses dagegen nur zugebilligt, nach Weisungen ihrer Regierungen Anträge zu stellen, sich zu den zu fällenden Entscheidungen zu äußern und neue Tatsachen und Beweise einzuführen (Ziffer. 7). Allerdings sahen die Bestimmungen der SMAD so weitgehende Maßnahmen zur Beschneidung der richterlichen Unabhängigkeit vor, daß ein umfassendes staatsanwaltliches Eingriffsrecht ohnehin nicht mehr notwendig erschien. 106 Denkschrift: Verwaltungsmaßnahmen und Gerichtsurteile, Nachgelassenes Schriftgut von Dr. Ernst Melsheimer, SAPMO BArch NY 4105/3, BI. 181 ff. (185).

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lichen Interesses" ließ erneut das tiefe Ressentiment der kommunistisch dominierten Landesregierungen gegenüber dem Institut der Verwaltungsgerichtsbarkeit erkennen. In diesem Sinne forderte Oberlandesgerichtspräsident LöwenthaI als Vertreter der Provinz Mark Brandenburg zunächst sogar, daß der Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit "mit der allergrößten Vorsicht" erfolgen müsse und es daher unbedingt notwendig sei, die Verwaltungsgerichte der Kontrolle des Landtages zu unterstellen, da diese dazu neigten, "die Gewaltenteilung zu überspitzen" 107. Zu Zeiten der Weimarer Republik habe dies dazu geführt, daß sich eine "reaktionäre Tendenz" in die Verwaltungsgerichtsbarkeit eingeschlichen habe, wodurch die Arbeit des Verwaltungsapparates erschwert und teilweise gehemmt worden sei, so daß schließlich nur noch eine "formale Demokratie" in Deutschland geherrscht habe. Um dem vorzubeugen, dürfe die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der SBZ nicht "der Kontrolle durch das Volk" entzogen werden. Diese solle durch die Landtage ausgeübt werden. Schiffer hielt dem als Versammlungsleiter entgegen, daß es unzweideutig dem Rechtsstandpunkt der SMAD entspräche, "daß die Unabhängigkeit die Grundlage aller Rechtsprechung sei, doch wohl auch nach Meinung der Regierung der Mark Brandenburg" . Kontrolle sei nur insoweit zulässig, als sie in uneingeschränkter Kritik bestehe, in welcher die Stimme des Volkes zum Ausdruck komme. Die Grenzen dieses Rechts lägen jedenfalls in der Unabhängigkeit der Rechtsprechung. IOS Somit manifestierten sich in der Frage der Mitwirkungsbefugnis des "Vertreters des öffentlichen Interesses" noch einmal die tiefe Gegensätzlichkeit von bürgerlich-liberaler Justizverwaltung und kommunistisch dominierten Landes- und Provinzialregierungen bei der Umsetzung des Kontrollratsgesetzes Nr. 36. Die SED-Vertreter scheuten sich nicht, ihre Maximalforderung, nämlich die völlige Aushöhlung der Gewaltenteilung durch Unterstellung der Verwaltungsgerichtsbarkeit unter die Volksvertretung im Zeichen des Postulats der "Einheit der Staatsmacht" offen zu vertreten. Dies wußte Schiffer zunächst zu verhindern. Sein Hinweis auf den - mutmaßlichen - Rechtsstandpunkt der SMAD, der die Unabhängigkeit der Gerichte erfasse, belegt, daß bis zum Zeitpunkt der Entwurfserstellung keinerlei inhaltliche Vorgaben im Sinne einer Sowjetisierung der Justiz von der Besatzungsmacht gemacht wurden. Anhand der Archivlage ist nicht eindeutig festzustellen, ob die Zurückhaltung der Besatzungsmacht auf deren Bereitschaft hinwies, bei veränderter deutschlandpoliseher Situation auch die Rückkehr zu bürgerlich-liberalen Positionen im Bereich des Verwaltungsrechts zu gestatten, oder ob sie von vornherein nicht gedachte, einen der beiden in Auftrag gegebenen Entwürfe in Kraft zu setzen. 107 108

Protokoll der Länderkonferenz, BArch DP 1 Nr. 6928 (VA), BI. 91. Protokoll, ebenda.

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e) Gesamtbewertung

Die auf der Grundlage der Erkenntnisse der Länderkonferenz von der DJV erarbeiteten Entwürfe waren von verhältnismäßig geringem Umfang: Der eine Eingliederung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in die ordentliche Justiz vorsehende EntwurflO9 umfaßte 35, der auf eine eigenständige Verwaltungsjustiz hinauslaufende Verordnungsentwurf11O 49 Paragraphen. Wie im einzelnen dargestellt, war es vor allem dem maßgeblichen dirigierenden Einfluß Schiffers zu verdanken, daß sie, von gewissen Konzessionen an die Landesregierungen und an die Besatzungsmacht abgesehen, insgesamt vom Geist des bürgerlich-liberalen Rechtsstaates geprägt waren und an die überlieferte deutsche Rechtstradition anknüpften. Dem postulierten Primärziel, die angestrebte deutsche Wirtschaftseinheit durch die Rechtseinheit zu stützen, kamen die Entwürfe insofern entgegen, als die durch sie auf dem Gebiet der Verwaltungsgerichtsbarkeit getroffenen Regelungen in dem durch sie garantierten Rechtsschutzstandard wie auch in der Ausgestaltung den in den Westzonen geltenden Bestimmungen weitgehend entsprachen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß der auf Geheiß der amerikanischen Militärregierung mit der Erstellung eines eigenständigen Entwurfs für die westlichen Besatzungszonen beauftragte Heidelberger Ausschuß unter der Leitung von Professor Walter Jellinek im Rahmen der Beratungen des später sog. "Heidelberge~ Entwurfs" fast identische Schwerpunkte setzte. Auch hier wurde die Diskussion dominiert von den Kontroversen um eigenständige Verwaltungsgerichte oder deren Eingliederung in die ordentliche Gerichtsbarkeit, um die Zulässigkeit des Rechtsweges (insbesondere in Ermessensfragen) und von der Diskussion um Generalklausei oder Enumerationsprinzip, hier allerdings noch ergänzt um die Erörterung der Einführung neuer Klagearten, wie der Feststellungsklage und der abstrakten Normenkontrolle. 111 Dies belegt, daß der Weg zur deutschen Rechtseinheit in der Frage des Verwaltungsrechtsschutzes bis zum Beginn des Jahres 1947 noch nicht versperrt war, wenn sich auch bereits Entwicklungstendenzen abzeichneten, welche unter veränderten Machtverhältnissen einen fundamentalen Bruch erwarten ließen.

BArch DP 1 VA 6928, BI. 119-128. BArch DP 1 VA 6928, BI. 129-141. 111 VgI. Matthias Etzel, Die Aufuebung von nationalsozialistischen Gesetzen durch den Alliierten Kontrollrat (1945 bis 1948), S. 146. 109

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2. Übergang der Gesetzgebungsinitiative auf die Kommunisten

a) Rechtspolitischer Kurswechsel der SMAD Das weitere Schicksal des Verwaltungsrechtsschutzes in der SBZ wurden von der zunehmenden Schärfe der Auseinandersetzung zwischen den Siegermächten diktiert. Im Verlauf des Jahres 1946 hatte sich das spätestens seit der Potsdamer Konferenz vorhandene gegenseitige Mißtrauen zunehmend in ideologische Feindschaft verwandelt. Den Hauptgrund für die krisenhafte Verschlechterung bildete das ausgeprägten Sicherheitsinteresse der UdSSR, welches sich mit dem Anspruch paarte, als Trägerin der Hauptlasten des Weltkrieges nunmehr gleichberechtigt neben den USA die Weltpolitik mitbestimmen zu wollen. 112 Atombombenmonopol und Wirtschaftspotential der USA weckten in der UdSSR die Befürchtung, von den Vereinigten Staaten um die "Früchte des Sieges" gebracht werden zu können. l13 Hieraus entstand ein "nachgerade traumatischer Argwohn" (Hermann Weber), welcher fortan das Verhältnis der UdSSR zu den anderen Siegermächten bestimmte. Ausdruck dieses Argwohns war eine Art Verschwörungstheorie, die unter dem Schlagwort des "Kosmopolitismus" die westlichen Staaten verdächtigte, einen kapitalistischen Weltstaat unter amerikanischer Führung aufrichten zu wollen. Ein konkretes Datum für den Ausbruch des "Kalten Krieges - und damit mittelbar auch für die endgültige Spaltung Deutschlands - läßt sich schwer bestimmen." 4 Am 5. März 1946 hatte Winston Churchill in seiner Fultoner Rede das Bestehen eines "Eisernen Vorhangs" konstatiert und behauptet, die Russen wollten in ihrem Besatzungsgebiet ein kommunistisches Deutschland errichten. Im Verlauf des Jahres 1946 entschloß sich die UdSSR vermutlich auch, ihre Strategie in bezug auf die Deutschlandpolitik schrittweise zu ändern. 115 Die Schaffung der amerikanisch-britisch verwalteten Bizone im Jahr 1947 ließ die Wahrscheinlichkeit der Schaffung eines gesamtdeutschen Verwaltungsapparates erheblich sinken und wurde seitens der SMAD mit der Gründung der "Deutschen Wirtschaftskommission" quittiert, in welcher alle wirtschaftsleitenden Zentralverwaltungen zusammengefaßt wurden, so daß fortan allein die Zentral verwaltungen für Justiz, Inneres und Volksbildung ein eigenständiges Dasein führten. Zur kontinuierlichen Verschlechterung des Ost-WestVerhältnisses trugen dann der Mißerfolg der Außenministerkonferenz der Großmächte im April/März 1947 ebenso bei wie die erheblichen Differen112 113 114 115

Hermann Weber, Geschichte der DDR, S. 92. Weber, ebenda. Weber, ebenda. Weber, ebenda.

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zen auf der Pariser Konferenz der Außenminister im Juni und Juli des gleichen Jahres. Die Durchführung des Marshallplans auf der ideologischen Grundlage der Doktrin der Eindämmung besiegelte dann endgültig die offene Systemfeindschaft. b) Verwerfung der DJV-Entwürfe durch die SMAD

Vor diesem politischen Hintergrund war das Schicksal der DJV-Entwürfe besiegelt. Trotzdem leitete Schiffer die Entwürfe auftragsgemäß am 12. Februar 1947 der SMAD zu. In seinem Begleitschreiben wies er nochmals auf die seines Erachtens erforderliche Wahrung der Rechtskontinuität hin. "Die Verwaltungsgerichtsbarkeit muß - wenn sie überhaupt eingeführt wird dem rechtsstaatlichen (Hervorhebung im Original) Gedanken entsprechen, der unter den Vorwehen der französischen Revolution schon in den absoluten deutschen Territorien zu keimen begann und schließlich zu dem Grundsatz führte, daß die Verwaltung ihre Tätigkeit in den Schranken des Gesetzes zu halten habe. Zur Kontrolle der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung schuf man allenthalben in Deutschland - wie schon vorher in England und in den kontinentalen Staaten Europas - unabhängige, nur dem Gesetz unterworfene Verwaltungsgerichte. In unserer Zone (im übrigen Deutschland war man zum Teil schon viel früher am Werk) ging damit Preußen in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts voran. Es folgte Anhalt 1888, der Raum Sachsen-Thüringen 1900, als letztes Land im Jahre 1922 Mecklenburg. Der Zweck der Verwaltungsgerichtsbarkeit beschränkt sich nun nicht darauf, dem einzelnen, der von einem gesetzwidrigen Verwaltungsakt betroffen ist, zu seinem Recht zu verhelfen. Zwar ist das Recht des einzelnen der Motor, der die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Bewegung setzt, ihr Zweck geht aber weiter. Er liegt in der Feststellung und Weiterentwicklung des Verwaltungsrechts, indem für stetige, gleichmäßige, gerechte und von Willkür freie Handhabung der Verwaltungsgesetze gesorgt wird und Lücken ausgefüllt werden. Mit Recht hat man deshalb die Verwaltungsgerichtsbarkeit ,das Gewissen der Verwaltung' genannt. Während die Kontrolle der Verwaltung durch das Parlament die Zweckmäßigkeit der Verwaltungsakte vor der Rechtmäßigkeit in den Vordergrund stellt, kontrolliert die Verwaltungsgerichtsbarkeit - und das ist wichtig - nur unter dem letzten Gesichtspunkt. .. 116

Eugen Schiffers Hoffnung darauf, die SMAD könnte einer der deutschen Rechtstradition entsprechende Fortentwicklung des Verwaltungsrechts eine Chance einräumen, sollte sich bald zerstreuen. Zwei Monate nahm sich die Rechtsabteilung der SMAD in Berlin-Karlshorst Zeit für die Prüfung der Entwürfe und die Erarbeitung eines Gegenentwurfes. Diese als "Bestimmungen über die deutschen Verwaltungsgerichte der sowjetisch besetzten Zone" bezeichnete Ausarbeitung, welche der DJV zunächst in russischer

116 Schreiben Dr. Schiffers an die SMAD vom 12. Februar 1947, S. 2. (BArch DP 1 Nr. 6928 (VA), BI. 143).

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Sprache am 7. April 1947 zuging, konnte nur als schroffe Abfuhr an die rechtsstaatlichen Leitgedanken der Vorschläge der DJV aufgefaßt werden: 1. Entgegen der eindeutigen Präferenz der DJV sahen die "Bestimmungen" nunmehr hinsichtlich der Rechtswegeröffnung das Enumerationsprinzip vor, überdies in seiner schärfsten Form. 117 In dieser apodiktischen Ablehnung der Generalklausel ging der Entwurf sogar noch wesentlich über das hinaus, was früher in Ländern mit ausgesprochenem Enumerationsprinzip als selbstverständlich angesehen wurde. 118 Die gesamte Argumentation der DJV, die darauf gerichtet war, der Generalklausei eine Bresche zu schlagen, hatte nicht verfangen. Überdies war vorgesehen, die Aufstellung des jeweiligen Zuständigkeitskataloges den Ländern bzw. Provinzen zu überlassen 1l9, eine Vorgehensweise, welche bei der Deutschen Zentralverwaltung für Justiz die Befürchtung aufkommen ließ, daß die Frage der Rechtswegeröffnung innerhalb der SBZ zu "größter Buntscheckigkeit" führen würde. 120 Nicht zuletzt deswegen protestierte der Chef der DJV in scharfem Ton gegen die vermeintliche Verbesserung der SMAD. Neben der Wiederholung seiner materiell-rechtlichen und pragmatischen Bedenken (hier insbesondere unter Bezugnahme auf das Ziel der deutschen Wirtschaftseinheit, die einheitlichen Rechtsschutz erfordere) argumentierte Schiffer auch mit einem formalen Argument: Die in reichsrechtlichen Vorschriften vorgesehenen Klagemöglichkeiten seien nicht etwa aufgehoben, aufgrund der Suspendierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit ruhten sie zur Zeit nur. Es dürfe demnach auch nicht in das Belieben der Länder gestellt werden, vollendete Tatsachen zu schaffen, indem sie reichsrechtlich vorgeschriebene Klagemöglichkeiten durch Nichtaufnahme in den Katalog ausschalten. 121 So müsse z. B. der in der Reichsgewerbeordnung vorgesehene Rechtsschutz durch Verwaltungsgerichte unbedingt in der gesamten Zone erhalten bleiben, das gebiete der immer noch in Geltung befindliche Grundsatz, daß Reichsrecht dem Länderrecht vorgehe. 122 Zumindest für die reichsrechtlich vorgesehenen Klagemöglichkeiten forderte der Präsident 117 Vg1. § 10 der "Bestimmungen", BArch DP 1 Nr. 6928 (VA), BI. 225: "Klagen vor dem Verwaltungsgericht sind nur in denjenigen verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten zugelassen, die klar im Gesetz aufgeführt sind (Enumerationsprinzip)." 118 SO Z. B. in Preußen hinsichtlich der Anfechtung von Polizeiverfügungen. 119 So die mündliche Erläuterung eines Vertreters der SMAD-Rechtsabteilung gegenüber Schiffer, Aktennotiz von Schiffer, BArch DP 1 Nr. 6928 (VA), BI. 2. 120 Stellungnahme Schiffers gegenüber der Rechtsabteilung der SMAD BerlinKarlshorst anläßlich der Übersendung der in die deutsche Gesetzessprache übersetzten "Bestimmungen über die deutschen Verwaltungsgerichte in der SBZ", BArch DP 1, Nr. 6928 (VA), BI. 231 ff. 121 Schiffer (vorangehende Anmerkung), BI. 231 (Seite 2 des Schreibens). 122 Schiffer (Anm. 121), BI.. 232 (Seite 3 des Schreibens).

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daher die Rechtswegeröffnung nach der beschränkten GeneralklauseI. Dies müsse ferner auch in Hinblick auf die Anfechtung von Polizeiverfügungen gelten, welche erst durch die Gesetzgebung der Nazi-Zeit beschränkt wurde. Den Ländern mochte Schiffer bloß das Recht zubilligen, Ergänzungskataloge in Hinblick auf ihre eigene Gesetzgebungsgewalt zu schaffen. 2. Endgültig verließen die SMAD-Bestimmungen die rechts staatliche Basis, indem sie die gegen den mehrheitlichen Wunsch der Ländervertreter mühsam aus den Entwürfen der DJV herausgehaltene Möglichkeit des Rechtswegausschlusses im Einzelfall durch das Mittel des "Regierungs akts" nun doch vorsahen. Hierzu bestimmte Ziffer 9 der SMAD-Bestimmungen: "Ein Verfahren kann nicht stattfinden, wenn ihm ein Gesetz, ein Befehl oder eine Verfügung der Besatzungsmacht entgegensteht. Eine Klage vor dem Verwaltungsgericht ist nicht zulässig gegen Verfügungen, die von der Regierung der Provinz(en) bzw. Länder zu einem Regierungsakt erklärt sind. Erfolgt eine Erklärung im Laufe des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens, so wird das Gerichtsverfahren eingestellt. "

Mit dieser Bestimmung ging der Entwurf der SMAD noch über den sehr weitgehenden Vorschlag der Provinz Sachsen-Anhalt hinaus. Danach wäre für die Erklärung einer Maßnahme zum Regierungsakt immerhin noch die Zustimmung des Landtages erforderlich gewesen. 123 Allein diese Bestimmung hätte ein Verwaltungsgerichtsgesetz unter dem Aspekt der Rechtsschutzgarantie bereits weitgehend entwertet. Die gleiche Tendenz zu einer Aushöhlung der VerwaItungsgerichtsbarkeit kam in Ziffer 12 der Bestimmungen der SMAD zum Ausdruck. Hierin war über die in § 34 bzw. § 48 der Entwürfe vorgesehene Fristenlösung hinausgehend bestimmt, daß der Verwaltungsrechtsweg in Hinblick auf die Anfechtung von vor dem Befehl 123 Wie gering entwickelt die Einsicht der Rechtsabteilung der SMAD in den spezifischen Charakter des deutschen Verwaltungsrechtsschutzes war, geht aus einer späteren Aktennotiz Schiffers hervor (BArch DP 1 Nr. 6928 [VA)], BI. 266). Als Reaktion auf seine Stellungsnahme vom 13. Mai wurde der Präsident am 6. Juni 1947 zu Major Nikolajew von der SMAD Karlshorst gerufen, um seine Standpunkte näher zu erläutern. Hierbei wurde auch über die in dem Entwurf der SMAD vorgesehen Beschränkung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Anfechtungssachen durch Erklärbarkeit von Verwaltungsakten zu Regierungsakten gesprochen. Schiffer erinnerte sich hieran wie folgt: "Herr Major N. regte auch den Gedanken an, statt auf die Erklärung zum Regierungsakt auf die Tatsache, daß es sich faktisch um einen Regierungsakt handele, abzustellen. Ich sprach mich dagegen aus, weil der Ausdruck Regierungsakt vieldeutig ist. Bei der Erklärung zum Regierungsakt bedeutet er eine hochpolitischen und deshalb zweckmäßig nicht zur Erörterung beim Verwaltungsgericht zu stellenden Verwaltungsakt. Sonst ist es einfach ein Akt, der von der Regierung ausgeht. Soweit dieser nicht Verwaltungsakt ist, kommt er für eine Anfechtung im Verwaltungsrechtswege überhaupt nicht in Frage, soweit er Verwaltungsakt ist, wäre es ungerechtfertigt, ihn allgemein der Anfechtung zu entziehen."

3. Abschn.: Verwaltungsgerichtsbarkeit im Zonenrnaßstab

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liegenden Verwaltungsakten grundsätzlich ausgeschlossen sein sollte. Die in den DJV-Entwürfen vorgesehene Befugnis der Landesregierung, im Einzelfall den Rechtsweg durch ausdrückliche Einwilligung zu eröffnen, wurde gestrichen. 3. Die von der SMAD hinzugefügten Bestimmungen hinsichtlich Qualifikation und Status der Verwaltungsrichter hatten zwar nichts mehr gemein mit dem von der DJV angestrebten Ideal einer unabhängigen Verwaltungsrechtsprechung, korrespondierten dafür jedoch exakt mit den entsprechenden Bestimmungen der meisten Landesverfassungen. 124 Ziffer 6 der "Bestimmungen" sah vor, daß die Besetzung der Senate in der Weise erfolgen sollte, daß neben dem Vorsitzenden und einem Berufsrichter drei Laienrichter stehen sollten. Die Folge wäre gewesen, daß den Laien bei Meinungsverschiedenheiten zwischen Vorsitzendem und Berufsrichter stets die Rolle des "Züngleins an der Waage" zugekommen wäre. Darüber hinaus sahen die Bestimmungen der SMAD vor, daß sämtliche Richter, also Präsident, Vizepräsident, die Senatspräsidenten, die Verwaltungsgerichtsräte und die Verwaltungsschöffen von den Landtagen der Provinzen und Länder auf 3 Jahre gewählt werden sollten. 125 Hierzu hieß es wörtlich: "Die Berufsrichter werden aus der Zahl der demokratischen Kräfte gewählt, die die Befähigung zum Richteramt oder (die Fähigkeit) zum höheren Verwaltungs( dienst) besitzen. Falls die genannten Personen zum Zeitpunkt ihrer Wahl durch den Landtag zu Richtern des Verwaltungsgerichtes die Richterfähigkeit noch nicht besitzen, so erlangen sie diese (mit dem) Zeitpunkt ihrer Wahl. Die Verwaltungsschöffen werden vom Landtag der Provinzen oder der Länder aus der Zahl der demokratischen Kräfte gewählt, die Kenntnisse oder durch ihre Arbeit Erfahrungen in VerwaItungsangelegenheiten haben. Richter des Verwaltungs gerichts, die durch Verstoß gegen die demokratischen Grundsätze oder durch Mißbrauch ihrer DienststeIlung sich des Vertrauens nicht würdig erwiesen haben, können vom Landtag abberufen werden."

Gerade die letztgenannte Bestimmung stellte sich aufgrund ihrer Unbestimmtheit als gefährliche Bedrohung der richterlichen Unabhängigkeit dar. Hingegen konzedierte selbst Schiffer an anderer Stelle, daß nicht unbedingt an der überlieferten Auffassung festzuhalten sei, daß der Richter nur dem Gesetz und seinem Gewissen verantwortlich sei. 126 Die Erfahrungen des Faschismus hätten gezeigt, daß der Richter nicht völlige Freiheit genießen 124 Vgl. hierzu Gerhard Braas, Die Entstehung der Länderverfassungen in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, insbesondere S. 191 ff. 125 Ziffer 5 Abs. I i. V. m. Ziffer 3 (im Entwurf wohl irrtümlich "Ziffer 4") der "Bestimmungen". 126 Im Rahmen der Erörterungen des Entwurfs eines neuen Gerichtsverfassungsgesetzes (25.3.48), BArch DP 1 Nr. 7164 (VA), BI. 21.

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1. Teil: Die Sowjetische Besatzungszone

könne. Dies leitete ihn zu der Schlußfolgerung, daß die Frage der Verantwortlichkeit des Richters in zweierlei Weise geregelt werden könne: Entweder sei die Forderung, daß der Richter auf dem Boden demokratischer Gesinnung zu stehen habe, zur Voraussetzung der Fähigkeit zum Richteramt zu erklären mit der Folge, daß die Wahl bei Feststellung nichtdemokratischer Gesinnung kassiert wird. Vorzugswürdig sei indes, die Fälle der zulässigen Enthebung vom Richteramt über die bisherigen Voraussetzungen hinaus um den Tatbestand der "undemokratischen Handhabung der Rechtspflege" zu ergänzen, wobei ein einziges Urteil genügen könne, um die Enthebung zu rechtfertigen. 127 Als undemokratisch in diesem Sinne definierte Schiffer eine Amtsführung, "die mit den demokratischen, antifaschistischen und antimilitaristischen Grundlagen des Staates nicht in Einklang steht" 128. Auf den ersten Blick schienen die Positionen von SMAD und DJV somit gar nicht weit auseinander zu liegen. Es ist indes davon auszugehen, daß gerade in dieser Frage von gegensätzlichen Prämissen ausgegangen wurde: Die Rechtsabteilung der SMAD wollte mittels der Bestimmung eine Subordination des Richters unter die Volksvertretung erreichen. Dies sollte zunächst durch Auswahl politisch gewogener Kandidaten geschehen und fortan durch die Abberufungsmöglichkeit bei Feststellung eines politischem Regelverstoßes gewährleistet werden. Dies war sicher nicht das Bestreben Schiffers, der fest auf dem Boden des Grundsatzes der Unabhängigkeit der Justiz stand. Ihm schwebte eine Art gerichtsförmiger Feststellung eines Verstoßes gegen Verfassungsgrundsätze vor, welche die Enthebung rechtfertigen sollte. Auffällig ist auch die Bestimmung des zweiten Absatzes, durch welche normiert werden sollte, daß Kandidaten, welche die Befähigung zum Richteramt nicht besitzen, diese mit ihrer Ernennung erhalten sollen. Hintergrund dieser merkwürdigen Formulierung war die Frage der Fortgeltung des GVG, dessen § 2 den Richtern und Staatsanwälten neben einem Hochschulstudium die Ablegung beider juristischer Staatsprüfungen abverlangte. Hieraus hatten sich in der Vergangenheit Konflikte in bezug auf das immer stärkere Vordringen der Absolventen der Volksrichterlehrgänge ergeben. Teilweise wurden volksrichterliche Urteile mit der Begründung angefochten, das Gericht sei nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen. Die Regelung in den SMAD-Bestimmungen sollte die Richterschaft in Hinblick auf dieses Kriterium dispensieren. 129 Vgl. § 6 des GVG-Entwurfs (vorangehende Anmerkung), BI. 28. BArch DP 1 Nr. 7164 (VA), BI. 24. 129 Die drei nördlichen Länder hatten den Volksrichtern die geforderte Befahigung zum Richteramt per Verordnung ausdrücklich zugesprochen. Später stellte die SMAD die Rechtslage dadurch klar, daß sie die rechtliche Gleichstellung der Richter mittels einer eigenen Anordnung vornahm. (SMAD-Befehl Nr. 193 v. 6.8.1947). 127 128

3. Abschn.: Verwaltungsgerichtsbarkeit im Zonenmaßstab

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4. Im übrigen war der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten gemäß Ziffer 10 der SMAD-Bestimmungen nur dann gegeben, wenn sich der durch eine Verwaltungsmaßnahme in seinen Rechten verletzt wähnende Bürger binnen 2 Wochen mit einer schriftlichen Eingabe an die Verwaltungsstelle, welche die betreffende Verfügung erlassen hat. Hierzu hieß es in Ziffer 11 Abs. I der "Bestimmungen" der SMAD: "Über die Eingabe entscheidet diejenige Instanz, an die sie gerichtet ist. Hält das Verwaltungsorgan die Eingabe für unbegründet, so legt es diese mit seinem Gutachten dem übergeordneten Organ zur weiteren Durchsicht vor. Verweigert das übergeordnete Organ die Eingabe, so kann binnen 2 Wochen nach Empfang der betreffenden Entscheidung des Verwaltungsorgans in der in § 10 dieser Verordnung vorgesehenen Angelegenheit eine Klage an das Verwaltungsgericht eingereicht werden." Offensichtlich wurde der Begriff "Eingabe" ursprünglich als Synonym für den verwaltungsrechtlichen "Widerspruch" verwandt. Durch die "Eingabe" sollte der Verwaltung somit die Möglichkeit zur Selbstkontrolle gegeben werden. Gleichzeitig sollte die Erfolglosigkeit der Eingabe (der also auch durch die übergeordnete Behörde nicht stattgegeben wurde) Zulässigkeitsvoraussetzung für das verwaltungs gerichtliche Verfahren sein. Daß der Begriff der Eingabe freilich zunächst im verwaltungsrechtlichen Kontext ungebräuchlich war, zeigen die handschriftlichen Korrekturen Schiffers am Rande der Übersetzung des Bestimmungsentwurfs: Er strich jeweils das Wort "Eingabe" und ersetzte es durch den Begriff "Einspruch". Dies legt die Vermutung nahe, daß das Eingabenwesen zunächst als nichts anderes konzipiert war als das verwaltungsrechtliche Widerspruchsverfahren. In diesem Sinne läßt sich das in der DDR allgegenwärtige Instrument der "Eingabe" im Hinblick auf seine Verwaltungsrechtsschutzfunktion auch als ein Rudiment des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens begreifen, welches auf der Stufe der durch den Widerspruch des Bürgers initiierten Selbstkontrolle der Verwaltung stehenblieb. c) Steuerung des Gesetzgebungsvorhabens

durch das Zentralsekretariat der SED

Auf die Deutsche Justizverwaltung und vor allem auf ihren Präsidenten Schiffer wirkte die Reaktion der SMAD desillusionierend. Ging die Justizverwaltung zunächst noch davon aus, daß ihr seitens der Besatzungsmacht freie Hand bei der Ausgestaltung des Gesetzgebungsentwurfs gelassen werden würde und daß sie einer Anknüpfung an den Vorkriegszustand keine Steine in den Weg legen würde, erschien es nunmehr so, als habe die SMAD durch die Entwurfsvorbereitung lediglich Zeit gewinnen wollen. Die letzte Hoffnung auf eine Regelung im Sinne des Rechtsstaates bestand nun

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1. Teil: Die Sowjetische Besatzungszone

in einer gesamtdeutschen Regelung. Ihr gab Schiffer in seinem Antwortschreiben an die SMAD in bezug auf die ihm zugesandten "Bestimmungen über die deutschen Verwaltungsgerichte in der SBZ" abschließend Ausdruck: "Zusammenfassend ist zu sagen, daß in den vorliegenden ,Bestimmungen' der Grundsatz der ,Gesetzmäßigkeit der Verwaltung' eine Ausgestaltung erfahren hat, die infolge der weitgehend durchgeführten und der Durchführbarkeit zugänglich gemachten Einschränkungen völlig von der Ausgestaltung in den übrigen Zonen Deutschlands abweicht. Das Ziel der deutschen Wirtschaftseinheit fordert aber selbstverständlich, daß die Wirtschaft mit gleichem Verwaltungsrechtsschutz im ganzen deutschen Wirtschaftsgebiet muß rechnen können. Es wäre deshalb die Frage aufzuwerfen, ob nicht ein Aufschub der Wiedereinrichtung der Verwaltungsgerichte in der hiesigen Zone bis zu einer zu erhoffenden interalliierten Einigung über die Grundsätze für die Wiederherstellung der deutschen Wirtschaftseinheit am Platze ist, um die Zäsur zwischen dem Rechtszustand hier und dem übrigen Deutschland nicht noch zu vertiefen.,,13o

Der Vorschlag legt die Vermutung nahe, daß dem hervorragenden Juristen Schiffer am Ende des Stückes "gemeinsamen Weges" die politische Übersicht abhanden gekommen war. Zumindest ging der DJV-Präsident am Ende seiner Amtszeit von Prämissen aus, welche zu diesem Zeitpunkt von der SMAD so keineswegs mehr mitgetragen wurden. Es waren dies vor allem: 1. Das Beharren auf der zonenübergreifenden deutschen Einheit (zumindest in Form der Wirtschaftseinheit).

2. Die Unterstellung frei gewählter Volksvertretungen mit der Möglichkeit oppositioneller Betätigung inklusive der Kritik der jeweiligen Landesregierung auch für die Zukunft. 3. Die auch forthin bestehende Möglichkeit zur Herstellung politischer Öffentlichkeit, gegebenenfalls auch gegen den Standpunkt der Exekutive.

4. Die Beibehaltung der föderativen Ordnung in der SBZ.

Daß alle genannten Positionen zum Zeitpunkt seiner Stellungnahme gegenüber der SMAD zumindest bereits stark gefährdet waren, wird deutlich, stellt man den Vorarbeiten zum Erlaß des Verwaltungsgerichtsgesetzes die rasante politische Entwicklung in dieser Zeit gegenüber. Zwischen dem Erlaß des Kontrollratsgesetzes Nr. 36 über Verwaltungsgerichte und der Zustellung der "Bestimmungen" der SMAD am 7. April 1947 hatten sich die Rahmenbedingungen für eine liberale Gesetzgebung dramatisch, nämlich in dem Maße verschlechtert, in dem die Chancen für eine interalliierte Einigung über Gesamtdeutschland schwanden und damit der Gedanke an die deutsche Wirtschafts- und Rechtseinheit in weite Feme rückte. Schließlich fiel ein guter Teil der Eskalation der Spannungen zwischen den Sieger130

Hervorhebungen im Original.

3. Abschn.: Verwaltungsgerichtsbarkeit im Zonenrnaßstab

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mächten zum Kalten Krieg in den Zeitraum der Bearbeitung bzw. Ersetzung!3! der Entwürfe der DJV durch die SMAD. 132 Im Zeitpunkt des Zugangs der "Bestimmungen über die Verwaltungsgerichte" bei der DJV am 7. April 1947 und der überrascht 133 wirkenden Stellungnahme des Präsidenten Schiffer hierzu vom 13. Mai 1947 war die SMAD in Hinblick auf ihre gesamte Deutschlandpolitik vermutlich bereits umgeschwenkt auf den Kurs der umfassenden Eingliederung der SBZ in ihre Herrschaftssphäre und die Oktroyierung des Sowjetsystems. Vor diesem Hintergrund erscheinen einzelne Festlegungen in den SMAD-Entwürfen in einem ganz anderen Licht. So war etwa Schiffers Befürchtung, die Aufstellung der Kataloge für die Rechtswegeröffnung durch die Landesparlamente könnte zu "größter Buntscheckigkeit" führen, durchaus unbegründet. Vielmehr entsprach es der Strategie der Besatzungsmacht nach den für die Kommunisten erfolgreichen Landtagswahlen vom 20.10.1946, diesen umfassende Machtbefugnisse einzuräumen. Dieser Vorgang führte indes keineswegs zur "Buntscheckigkeit", sondern im Gegenteil zur strikten Zentralisierung der Entscheidungskompetenz und Führung durch das Zentralsekretariat der SED. Wann sich die SMAD endgültig entschloß, die Möglichkeit der zoneneinheitlichen Wiedererrichtung der Verwaltungsgerichtsbarkeit zu verwerfen, bleibt unklar. Schiffer gegenüber gab man sich noch am 6. Juni 1947 gesprächsbereit und versprach, den Entwurf der "Bestimmungen" im Sinne der DJV zu überarbeiten. 134 Definitiv vom Ziel einer einheitlichen 13J Ob die "Bestimmungen über die Verwaltungsgerichte in der SBZ" tatsächlich auf den Entwürfen der DJV basieren, konnte anhand der Quellenlage nicht geklärt werden. Denkbar ist auch, daß diese intern bereits zuvor erstellt wurden. Dafür spricht die inhaltliche Verschiedenheit ebenso wie die Tatsache, daß den Länderkonferenzen der DJV - also auch derjenigen über die Verwaltungsgerichtsbarkeit - immer auch hochrangige Vertreter der SMAD-Rechtsabteilung beiwohnten. Die SMAD war somit stets über den Meinungsstand in den inhaltlichen Streitfragen wie auch über die technischen Probleme informiert und mithin auch in der Lage, bereits vor Zugang der DJV-Entwürfe eigenständige Alternativen zu erarbeiten. Die Anpassung an die in Deutschland übliche Gesetzessprache wurde ohnehin von der DJV übernommen. (Vgl. Schreiben Schiffers an die Rechtsabteilung der SMAD vom 13. Mai 1947). 132 Nachdem am 1. März 1947 der Aufruf der SED zu einem "Volksentscheid über die Einheit Deutschlands" ohne die erhoffte Resonanz geblieben war, fand vom 10. März bis zum 24. April 1947 die Moskauer Außenministerkonferenz statt, die in ihren Kernpunkten von weitgehender Uneinigkeit geprägt war. Am 12. März fand die Konfrontation unter den alliierten Siegermächten in der sog. "Truman-Doktrin" (der Ankündigung, die sowjetische Expansionspolitik einzudämmen) einen weiteren Höhepunkt. 133 Hierfür spricht auch, daß Schiffer zu der doch bereits im Vorfeld als sehr maßgeblich empfundenen Frage Generalklausei oder Enumerationsprinzip noch Erkundigungen in Form einer "mündlich gegebene(n) Erläuterung" der SMAD einholen mußte.

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1. Teil: Die Sowjetische Besatzungszone

Regelung abgerückt war die SMAD am 8. Juli 1947. An diesem Tag erließ der Oberste Chef der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland den Befehl Nr. 173 mit folgendem Wortlaut: "Gemäß dem Gesetz Nr. 36 des Kontrollrats ,über Administrativgerichte' befehle ich 1. Dem Ministerpräsidenten der Regierungen der Provinz Mecklenburg, der Provinz Brandenburg, der Provinz Sachsen und des Landes Sachsen, die Ausarbeitung der Gesetzesprojekte über Wiederherstellung und Reorganisation der Administrativgerichte zu gewährleisten und sie dem Landtag zur Prüfung vorzustellen. 2. Festzusetzen, daß die Administrativgerichte in genannten Ländern und Provinzen ihre Tätigkeit nicht später als am 1. Oktober 1947 beginnen müssen. 3. Die Kontrolle der Erfüllung dieses Befehls den Verwaltungen der SMA der zuständigen Länder und Provinzen aufzuerlegen."

Mit diesem Befehl waren die Entwürfe der Deutsche Zentralverwaltung für Justiz endgültig gegenstandslos geworden. Auch eine koordinierende Tätigkeit der Deutschen Justizverwaltung kam nach deren eigener Einschätzung 135 nicht mehr in Frage, nachdem die Länder, die dem Befehl nachgekommen waren 136, die Verwaltungsgerichtsbarkeit der Aufsicht der Innenverwaltung unterstellt hatten. Im Zuge der Verschärfung des politischen Klimas war nun die Initiative auf die Landesebene verlagert worden. In Ermangelung einer kommunistischen Zentralregierung sollte mit Hilfe der SED-dominierten Landtage unter dem Deckmantel demokratischer Legitimation eine Regelung im Sinne des neuen Kurses der Sowjetisierung der SBZ in Geltung gesetzt werden. Der entsprechende Entwurf wurde zentral erstellt und den Landesvorständen der SED am 1.9.1947 vom Zentral sekretariat der SED 137 übersandt. 138 134 Aktennotiz von Schiffer vom 7. April 1947, BArch DP 1 Nr. 6928 (VA), BI. 2. m Schreiben der Deutschen lustizverwaltung an das lustizministerium des Landes Thüringen vom 5. April 1948. 136 Dies waren alle adressierten Länder bis auf Sachsen-Anhalt. I37 Obwohl das Zentral sekretariat seinem Statut zufolge der "Durchführung der Politik der Partei" dienen sollte, stellte es realiter deren Machtzentrum dar. Seine Beschlüsse wurden vom Parteivorstand in aller Regel einstimmig ohne Änderungen verabschiedet. (vgl. Klaus Schroeder, Der SED-Staat - Geschichte und Strukturen der DDR, S. 60 f.) Das Zentralsekretariat war überwiegend besetzt mit ehemaligen KPD-Mitgliedern, die in der NS-Zeit nach Moskau emigriert waren. Die Beschlüsse des Zentral sekretariats waren gemeinhin abgestimmt mit der SMAD, soweit sie nicht ohnehin auf deren Initiative hin ergingen. (Schroeder, ebenda). 138 Im Hinblick auf die demokratische Legitimität der Landtage entlarvend ist das Anschreiben des Zentralsekretariats an die Landesvorstände. Es lautet: "In der Anlage übermitteln wir Euch den Entwurf zur Ausführungsverordnung des Kontrollratsgesetzes Nr. 36 über Verwaltungsgerichte. Wir bitten, mit dem Präsidenten des Landtages und mit den Blockparteien zu vereinbaren, wann der Text im Landtag

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Der Entwurf des Zentralsekretariats der SED folgte im wesentlichen den von der SMAD erarbeiteten "Bestimmungen über die Verwaltungsgerichte in der SBZ". Über den politischen Geist, in welchem der Entwurf geschaffen wurde, ließen die "Motive" keinen Zweifel aufkommen: "Die Verwaltungsgerichtsbarkeit ist ihrer Natur nach ein Kontrollorgan über die öffentlichen Verwaltungsorgane. Reaktionäre und dem Aufbau feindlich gesinnte Elemente werden alsbald den Versuch unternehmen, die Verwaltungsgerichte gegen die demokratischen Verwaltungsorgane auszuspielen, ihre Maßnahmen und ihre Tätigkeit zu hemmen und gegebenenfalls für rechtswidrig erklären zu lassen. Andererseits kann an der Tatsache nicht vorbeigegangen werden, daß sich der Bürger in dem derzeitigen demokratischen Staatswesen gegen widerrechtliche Übergriffe der Verwaltung geschützt wissen will. (... ) Die Länder stehen nunmehr vor folgenden Punkten: Wie kann es rechtlich vermieden werden, daß die Verwaltungsgerichte und ihre Rechtsprechung zu einer Waffe der Reaktion gegen die demokratischen Verwaltungsorgane werden, oder in anderen Worten: Wie bauen wir die Verwaltungsgerichte so auf, daß sie dem Schutze der Bürger und gleichzeitig der Demokratisierung des Landes dienen und in Verfolgung dieses Zweckes die von den Landesorganen getroffenen Maßnahmen nicht hemmen, sondern fördern. Andererseits ergeben sich Schwierigkeiten für den Einbau von Verwaltungsgerichten dadurch, daß unsere Behörden, im Gegensatz zu früher, strikt nach dem Prinzip der demokratischen Selbstverwaltung aufgebaut sind. Die demokratischen Gemeinde- und Kreisordnungen garantieren im weitesten Sinne des Wortes den Rechtsschutz des von einer Verwaltungsmaßnahme Betroffenen im Rahmen des Allgemeininteresses. Verwaltungsgerichte sind deshalb genau genommen im System der jetzt herrschenden Neuordnung und ihrer umfassenden demokratischen Kontrolle über die Verwaltungsorgane überflüssig und muten wie die Reste eines vergangenen Obrigkeitsstaates inmitten einer neuen Welt an. Mithin entsteht das Problem, das Verwaltungs gericht und seine Funktion derart in die neue Staatsund Rechtsschutzkonzeption einzubauen, daß in möglichst geringstem Maße die demokratische Kontrolle, wie sie von der Gemeinde, vom Kreise und vom Landtage ausgeübt werden, empfindliche Einbuße erleidet.,,139

Im einzelnen sah der Entwurf des Zentralsekretariats vor, Verwaltungsgerichte als selbständige Gerichte zu etablieren und nicht den ordentlichen Gerichten einzugliedern. Gedanklicher Ausgangspunkt für die Entscheidung zugunsten selbständiger Verwaltungsgerichte und damit gegen den Justizstaat war es, eine Kontrolle der ordentlichen Gerichtsbarkeit über die Verwaltungsorgane auszuschließen, da ihr eine solche "weder aufgaben- noch funktionenmäßig zustehe. 14O Folgerichtig sah der Entwurf die Unterstellung beschlossen werden soll. Wir machen darauf aufmerksam, daß es einen Befehl der SMAD gibt, der besagt, daß die Verwaltungsgerichte am 1. Oktober 1947 ihre Tätigkeit beginnen sollen. Mit sozialistischem Gruß! Zentralsekretariat der SED" (Nachlaß Walter Ulbricht, SAPMO BArch NY 418211090, BI. 59). 139 Nachlaß Walter Ulbricht, SAPMO BArch NY 418211090, BI. 60-65 (60).

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des Gerichtshofs in eigenen Angelegenheiten unmittelbar unter das Ministerium des Inneren vor (§ 1 S. 2). Hinsichtlich der Stellung des Richters entsprach der Einheitsentwurf den von der SMAD in ihren "Bestimmungen" gemachten Vorgaben. So sah er das Überwiegen des Laienelements bei der Besetzung des Spruchkörpers im Verhältnis 3 zu 2 (§ 3 S. 2) sowie die Wahl 141 und Absetzbarkeit (im Falle eines "Verstoßes gegen die Grundsätze der Demokratie") durch den Landtag vor (§ 3 Abs. 11). Die Rechtswegeröffnung war nach dem strengen Enumerationsprinzip ausgestaltet (§ 7 Abs. I) und zusätzlich vom gerichtlichen Ermessen abhängig gemacht. 142 In den Motiven wurde diese Entscheidung wie folgt begründet: "Dieses sogenannte ,Aktionenprinzip'- im Gegensatz zu der sogenannten ,Generalklausel' - ist gerade heute ein wichtiger Regulator, um ein Lahmlegen der Verwaltungsbehörden durch Störenfriede und feindliche Elemente zu verhindem.,,143

Dabei war sich das Zentralsekretariat durchaus bewußt, daß gerade die Entscheidung für das strenge Enumerationsprinzip in der Bevölkerung Zweifel an der rechtsstaatlichen Ausrichtung des Gesamtentwurfs wecken könnte, wie dies seit jeher in der Fachdiskussion moniert wurde. Diesen hypothetischen Einwand meinte die Führung der SED indes mit Hinweis auf die Neuregelung der demokratischen Selbstverwaltung entkräften zu können: "Verletzt, so wird man fragen, die Anwendung des Aktionenprinzips den Bürger in seinem Anspruch auf Rechtsschutz? Durchaus nicht. Die weitgehende Kontrolle der Verwaltung durch die demokratischen Volksvertretungen schafft bereits eine umfassende Sicherung gegen Übergriffe der Verwaltung. Nach der Gemeindeverfassung ist der Landtag in Gemeinde- und Kreisverwaltungsangelegenheiten oberste Instanz, soweit es sich um Sachen der Selbstverwaltung und nicht um Auftragsangelegenheiten handelt. Es ist untragbar und allen demokratischen Grundsätzen widersprechend, daß der Landtag als höchstes Willensorgan des Volkes der Judikatur der Verwaltungsgerichte unterworfen wird. Eine Generalklausei mit fallweisem Ausschluß der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist in der Methode undemokratischer, als die fallweise Zulässigkeitserklärung des Verwaltungs gerichts. Die Anwendung der Generalklausei könnte sich praktisch zu einer Störung der Selbstverwaltung auswirken, wie sie in den demokratischen Gemeinde- und Kreisordnungen zum Ausdruck kommt. Bei der Gesamtregelung ist immer die Tatsache im Auge zu behalten, daß der Bürger auf Grund der neuen Gemeinde- und Kreisordnungen eine völlig neue Art des Dienstaufsichtsverfahrens zur Gewährlei140 So explizit die "Motive" zum "Entwurf zur Ausführungsverordnung des Kontrollratsgesetzes NI. 36 über Verwaltungsgerichte", SAPMO BArch NY 418211090, Bi. 61. 141 § 3 Abs. 1 S. 1. 142 § 7 Abs. 2 des Entwurfs lautete: " Das Verwaltungsgericht muß die Klage zurückweisen, falls nicht die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verwaltungsmaßnahme bezweifelt wird." 143 SAPMO BArch NY 4182-1090, Bi. 62.

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stung seines Rechtsschutzes zur Verfügung hat. Die Gemeindevertretung überwacht die ordnungsgemäße Durchführung der von der örtlichen Verwaltungen getroffenen Maßnahmen. Gegen Entscheidungen der Gemeindevertretung kann sich der Beschwerdeführer bei kreisangehörigen Gemeinden an den Kreistag und bei kreisfreien Städten an den Landtag wenden. Analog ist bei Beschwerden gegen die Kreisverwaltung zu verfahren. Bei Beschwerden gegen die Landesregierung ist der Landtag das aufsichtsführende Organ. Diese umfassende Regelung, die dem einzelnen Bürger voll ausreichenden Rechtsschutz gewährt, macht eine Generalklausel für die Zuständigkeit des Verwaltungs gerichtes vollkommen überflüssig und erheischt die Einführung des Aktionenprinzips. "

Auch im Falle des Rechtswegausschlusses im Einzelfall folgte der Entwurf des Zentralsekretariats der Maximalforderung, indem er sowohl dem Landtag als auch der Landesregierung das Recht gab, eine Verfügung ausdrücklich zum Regierungsakt zu erklären (§ 10 Abs. 1) und indem er bestimmte, daß die Erklärung innerhalb des laufenden Verfahrens zur Erledigung in der Hauptsache führt (§ 10 Abs. 2). Hinsichtlich der Behandlung von Verwaltungsmaßnahmen der sog. "Umbruchzeit" schloß der Entwurf zwar nicht die Zulässigkeit wohl aber die Begründetheit der Klage aus. 144 Nahezu zeitgleich wurden im September und Oktober 1947 auf dem Einheitsentwurf basierende Verwaltungsgerichtsgesetze in Brandenburg l45 , Mecklenburg l46 und Sachsen l47 erlassen. 148 Die als Ergebnis der jeweiligen parlamentarischen Debatte entstandenen inhaltlichen Abweichungen waren marginal und änderten am Charakter der Vorlage des SED-Zentralsekretariats nichts. 149 Obwohl im SMAD-Befehl Nr. 173 zunächst nicht benannt, sah sich nun auch Thüringen veraniaßt, die Landesverwaltungsordnung durch ein neues Verwaltungsgerichtsgesetz zu ersetzen. Der am 21. April 1948 zu diesem 144 § 11 des Entwurfs lautete: "Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts kann nicht darauf gestützt werden, daß ein zwischen dem Zusammenbruch und dem Inkrafttreten dieses Gesetzes erlassenes Gesetz oder eine in Ausübung der öffentlichen Gewalt getroffene Maßnahme der Rechtswirksamkeit entbehrt." 145 Gesetz vom 12. Oktober 1947, Gesetz- und Verordnungsblatt der Landesregierung Brandenburg 1947, S. 27. 146 Gesetz vom 18. September 1947, Regierungsblatt für Mecklenburg 1947,

S.250.

147 Gesetz vom 30. Oktober 1947, Gesetze, Befehle, Verordnungen, Bekanntmachungen, veröffentlicht durch die Landesregierung Sachsen 1947, S. 509. 148 In Nichtachtung des Kontrollratsgesetzes Nr. 36 sind Verwaltungsgerichte in der Sowjetzone überhaupt nur in Thüringen, Brandenburg und Mecklenburg tätig gewesen; Sachsen erließ zwar das auf den Entwurf des Zentral sekretariats der SED zurückgehende Gesetz und ernannte einen Präsidenten, das Gericht wurde aber niemals tätig, und Sachsen-Anhalt beließ es bei der Veröffentlichung des Gesetzes. 149 Zu den unterschiedlichen Regelungen im Detail vgl. im einzelnen Ulrich von Dassei, Die neue Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: Neue Justiz 1948, S. 27-33 (30).

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1. Teil: Die Sowjetische Besatzungszone

Zweck in den Landtag eingebrachte Entwurf der SED-Fraktion entsprach zu weiten Teilen dem des Zentral sekretariats: Enumerationsprinzip statt Generalklausei, prinzipieller Ausschluß gerichtlicher Kontrolle von Verwaltungsermessen und eine Verlagerung der Entscheidungskompetenz über den Erlaß von "Regierungsakten" von der Regierung auf die Volksvertretung waren nun auch hier normiert. 15o Darüber hinaus wurde in § 11 Abs. 2 des Verwaltungsgerichtsgesetzes ein Evokationsrecht des Landtages festgeschrieben, wonach sich das Landesverwaltungsgericht für unzuständig zu erklären habe, wenn der Landtag oder ein Landtagsausschuß mit dem Streitgegenstand befaßt ist und die Entscheidungskompetenz in dieser Sache in Anspruch nimmt. Die formal fortbestehende sachliche Unabhängigkeit des Richters 15l, der anstatt der Befahigung zum Richteramt nur noch über "besondere Erfahrungen im Verwaltungsdienst" verfügen mußte 152, wurde entwertet durch das Recht des Landtags zur Wahl 153 und Abberufung l54 der Richter, d.h. also durch das Fehlen der aus Unversetzbarkeit und Unabsetzbarkeit bestehenden persönlichen Komponente richterlicher Unabhängigkeit. So sah sich der Entwurf zunächst durchgreifenden Bedenken sowohl des Schöpfers der Thüringischen LVO und OVG-Präsidenten Loening l55 als auch der rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der FriedrichSchiller-Universität l56 ausgesetzt, welche neben der grundsätzlichen Unvereinbarkeit der Entwurfsbestimmungen "mit dem Wesen des demokratischen 150 Die zeitgenössische rechtswissenschaftliche Literatur in der gerade gegründeten Bundesrepublik kommentierte diese Entwicklung wie folgt: "Dem gleichen Muster (gemeint ist die Einbringung der Gesetzentwürfe in den anderen Landesparlamenten durch die SED) entspricht ( ... ) das Gesetz von Thüringen über die Verwaltungsgerichtsbarkeit vom 7.10.1948 (Reg. BI. I S. 103), das der Sonderstellung des Landes im Verwaltungsgerichtswesen ein Ende macht, dieses dem von Brandenburg, Mecklenburg und vorzüglich Sachsen anpaßt, insbesondere die Generalklausei durch ein sehr beschränktes Aufzählungssystem ablöst. Der Präsident des OVG Jena ging außer Landes, ihm vom Westen aus Epiloge widmend (gemeint ist Loening, der seiner Verhaftung knapp entkam und im Westen das Buch "Kampf um den Rechtsstaat" verfaßte, d. Verf. dieser Arbeit). In vier Ländern der Ostzone ist also die Verwaltungsgerichtsbarkeit fast ebenso übereinstimmend geregelt wie von Anfang an in der amerikanischen Zone." (Ernst Meyer, Die Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Ostzone, DVBI. 1948, S. 561-564, 562). 151 § 1 Abs. 2 S. 1. 152 § 3 Abs. 1 S. 2. 153 § 3 Abs. 1 S. 1 normierte die Wahl der Richter durch den Landtag für die Dauer von fünf Jahren. 154 Nach § 3 Abs. 2 konnte der Landtag jedem Mitglied des Gerichts mit 2h-Mehrheit das Vertrauen entziehen. 155 VgI. Thomas Heil, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Thüringen 1945-1952 Ein Kampf um den Rechtsstaat, S. 210. 156 Heil, S. 213 ff.

3. Abschn.: Verwaltungsgerichtsbarkeit im Zonenmaßstab

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Rechtsstaates,,157 auch den (gleich mehrfachen) Verstoß gegen die thüringische Landesverfassung anprangerten. 15S Nach der ersten Lesung des Gesetzesentwurfes im thüringischen Landtag lehnten die Fraktionen der beiden bürgerlichen Parteien den Entwurf auch rundherum ab, was um so bedeutsamer war, als das VGG als verfassungsänderndes Gesetz einer Zweidrittelmehrheit bedurft hätte. 159 Pointiert kritisierte der eDU-Abgeordnete und Vizepräsident des Oberlandesgerichts Magen den Entwurf des Verwaltungsgerichtsgesetzes mit den Worten: "Was Sie, meine Damen und Herren von der SED, aus dem Verwaltungsgericht machen wollen, ist unseres Dafürhaltens überhaupt kein Gericht mehr, sondern eine in den Rahmen der Verwaltung eingebaute und von den jeweiligen politischen Machtverhältnissen völlig abhängige Beschwerdeinstanz, die dem Bürger des Landes keinerlei Gewähr dafür bietet, daß er vor Willkürakten geschützt ist. ,,160

Mit den Bestimmungen der SMAD und dem darauf basierenden Einheitsentwurf zu einem Verwaltungsgerichtsgesetz des Zentralsekretariats der SED, der zur Grundlage der entsprechenden Landesgesetze wurde, hatte die Entwicklung den Boden der Rechtsstaatlichkeit verlassen. In der Entwicklungslinie der Verwaltungsgerichtsordnungen (Thüringische LVO 1926, LVO 1945, DIV-Entwürfe) stellten sie demnach auch keine organische Fortentwicklung, sondern ein aliud dar. Die von den Kommunisten eingebrachten Gesetzesentwürfe griffen nur noch formal einzelne Regelungsgegenstände der vorherigen ehrgeizigen Bemühungen der Exponenten des bürgerlichen Lagers auf, um sie letzten Endes vollends auszuhöhlen. So stellte das Verwaltungsgerichtsgesetz weniger ein Gesetz zur Etablierung als zur Eliminierung verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes dar. Das vorgesehene Überwiegen des Laienelements in der Rechtsprechung verdeutlicht, daß es seinen Schöpfern um eine möglichst weitgehende "Entrechtlichung" des Verfahren im Sinne einer Abschaffung der überlieferten justizförmigen Kontrolle ging. Die Entscheidung für die Enumerationsmethode (oder, wie es in dem Entwurf hieß, das "Aktionenprinzip") bei der Rechtswegeröffnung war zwar an sich rechtsstaatlieh vertretbar. Das allgemeine Unbehagen, das die kommunistischen lustizfunktionäre aus ihrer Ablehnung des Gewaltenteilungsgrundsatzes heraus bei dem Gedanken an die Verwaltungsgerichtsbarkeit überfiel, ließ jedoch bereits erahnen, daß die diesbezüglichen Kataloge nicht eben üppig ausfallen würden. Mit der Normierung Heil, S. 212. So verstieß bspw. die im Entwurf vorgesehene Richterwahl auf Zeit gegen den Wortlaut des Art. 47 Abs. 2 LV, der die Ernennung der Berufsrichter durch die Landesregierung normierte, selbst wenn man die - umstrittene - vorrangige Anwendbarkeit des GVG (§ 47 Abs. 3) einmal außer Betracht ließe. 159 Heil, S. 226, m. w. N. 160 Zit. nach Heil, S. 227, m. w. N. 157

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1. Teil: Die Sowjetische Besatzungszone

des Evokationsrechtes des Landtages in Mecklenburg und Thüringen wurde eine Art Prärogative der Volksvertretung geschaffen, der man immerhin zugute halten muß, daß sie dem Wesen nach demokratischer ist als die Deklaration zum "Regierungsakt" durch die Exekutive selbst, wie sie auch verschiedentlich diskutiert wurde. In Ermangelung freier und gleicher Wahlen verblaßte freilich auch dieser Vorteil schnell und unterstützte ebenso die Zementierung der Machtverhältnisse zugunsten der SED.

111. Zusammenfassung des ersten Teils Die Vorarbeiten zum Erlaß einer Verwaltungsgerichtsordnung fanden in einem von der Sowjetischen Militäradministration beherrschten justizpolitischen Kräftefeld zwischen der Deutschen Zentralverwaltung für Justiz und den nach den Landtagswahlen des Jahres 1946 kommunistisch dominierten Landesorganen statt. Die Sowjetische Militäradministration machte Intensität und Umfang ihrer justizpolitischen Steuerung von den Chancen einer Zusammenführung der Zonen unter bestimmendem sowjetischem Einfluß abhängig. In der Wahl der Mittel zur Transformation ihres rechtspolitischen Willens blieb sie flexibel, indem sie einerseits den kommunistischen Einfluß in zentralen Verwaltungsorganen der Lage anpasste (Verstärkung des Einflusses der SED in der DJV) und andererseits, gerade im Bereich der Gesetzgebung, einzelne Organe gegeneinander ausspielte (Verlagerung der gesetzgeberischen Vorarbeiten von der DJV auf die SED-dominierten Landtage durch den SMAD-Befehl Nr. 173). An der Einflußnahme der Besatzungsmacht auf den Prozeß der Reinstallation der Verwaltungsgerichtsbarkeit in ihrer Okkupationszone wird deutlich, wie flexibel die Sowjets auf konkrete Ereignisse in Deutschland (z.B. Ausgang von Wahlen, Verhalten der Westalliierten) reagierten und den Transformations- bzw. Sowjetisierungsprozeß je nach Einschätzung der aktuellen Lage entsprechend verlangsamten oder beschleunigten. So verhielten sich die Sowjets zunächst abwartend, um nach dem Weltkrieg ihre eigene wirtschaftliche Regeneration voranzutreiben. Vor allem im Hinblick auf die zu erwartenden Reparationsleistungen erschien ein geeintes Deutschland hilfreicher als ein geteiltes. Für Deutschland bedeutete dies, daß so lange eine begründete Aussicht auf ein politisch paralysiertes, wirtschaftlich den sowjetischen Interessen dienlich zu machendes Gesamtdeutschland bestand, ideologische Missionsinteressen in den Hintergrund traten und in Fragen des Aufbaus von Verwaltung und Justiz denjenigen Fachleuten Raum zur Betätigung gegeben wurde, welche die größte Gewähr für den Aufbau einer reibungslosen und zur Entwicklung in den Westzonen kompatiblen Notverwaltung boten.

3. Abschn.: Verwaltungsgerichtsbarkeit im Zonenmaßstab

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Die hieraus resultierende anfangliche justizpolitische Zurückhaltung der Besatzungsmacht im Zeichen koordinierten Zusammenwirkens der alliierten Siegermächte zum Erhalt einer zonenübergreifenden justizpolitischen Basis schien zunächst die Verwirklichung von für den Rechtsstaat konstitutiven Prinzipien, welche unter den bürgerlichen Mitgliedern der DJV vorherrschend waren, zu begünstigen. Hierzu gehörten insbesondere der Gewaltenteilungsgrundsatz und die Zubilligung subjektiv-öffentlicher Rechte auch gegen den Staat und seine Verwaltung. Dies zeigt sich exemplarisch an dem Versuch des DJV-Präsidenten Dr. Eugen Schiffer, die ihm weitgehend mustergültig erscheinende Thüringische Landesverwaltungsordnung als Vorbild für eine zoneneinheitliche Regelung durchzusetzen. Nach ihrem Statut wurde der Deutschen Zentralverwaltung für Justiz jedoch bewußt nicht die Machtposition eingeräumt, ihren Standpunkt gegen den Willen der Länder und Provinzen zoneneinheitlich zu verwirklichen. Die im Zusammenwirken mit Vertretern der Landes- und Provinzialregierungen entstandenen Entwürfe dokumentieren den mühsamen Versuch, einen Ausgleich zu finden zwischen liberal-rechts staatlichen Positionen, der Notwendigkeit von Verfahrensvereinfachung und Rationalisierung auf dem Hintergrund einer von Personalmangel geprägten Notverwaltung sowie ideologischen Zugeständnissen an die mit realer politischer Macht versehenen Länder- und Provinzialregierungen. Wären die Entwürfe in Form einer Verordnung oder eines Gesetzes umgesetzt worden, so hätten sie ein für den Normalfall rechtsstaatliches Verfahren normiert, welches jedoch im Einzelfall, insbesondere im Konflikt zwischen individuellen und gesamtgesellschaftlichen Interessen, dem Anspruch, eine Rechtsschutzgarantie darzustellen, nicht hätten gerecht werden können. Dies gilt für die Anfechtung von Verwaltungsakten der sog. "Umbruchszeit", deren Justitiabilität gegebenenfalls von einer Zustimmung der jeweiligen Landesregierung abhängig gewesen wäre, genauso wie für die im Einzelfall "elastische" Verfahrens gestaltung nach der insofern verbindlichen Ansicht des Gerichts. Nachdem sich das deutschlandpolitische Blatt im Frühjahr 1947 gewendet hatte, wurde der Verwaltungsrechtsschutz als bürgerliches Relikt abgetan. Von diesem Zeitpunkt an goß die SMAD Wasser auf die Mühlen der SED. Die Kehrtwendung von der an rechtsstaatlichen Idealen ausgerichteten Justizpolitik hin zur Unterordnung des Individualrechtsschutz unter die Bedürfnisse des Aufbaus der sozialistischen Gesellschaft vollzog sich dabei in verschiedenen sich ergänzenden Schritten, die in großer Geschwindigkeit aufeinander folgten. Zunächst wurde die DJV entmachtet und verlor ihre Position als impulsgebende und koordinierende Stelle. Dem Drängen der Kommunisten nach einer personellen Umgestaltung in ihrem Sinne wurde nun stattgegeben.

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l. Teil: Die Sowjetische Besatzungszone

Das Gesetzgebungsrecht ging voll auf die SED-dominierten Landtage über, deren Gesetzesinitiative auch in der Frage des Verwaltungsrechtsschutzes vom Zentralsekretariat der SED gesteuert wurde. Die SED mußte nun in der Frage der Verwaltungsgerichtsbarkeit Farbe bekennen. Gerade im politisch sensiblen Bereich der Verwaltungsgerichtsbarkeit kristallisierten sich aus der Perspektive der SED-Justizfunktionäre antibürgerliches Ressentiment und Furcht vor der Restauration der Weimarer "Klassenjustiz". Eine unabhängige Verwaltungsrechtssprechung mußte der SED als Gefährdung und Hemmschuh der von ihr geführten gesellschaftlichen Entwicklung erscheinen. Dies galt um so mehr, als mit Maßnahmen wie der Bodenreform revolutionäre Wege beschritten wurden, welche um jeden Preis der justitiellen Kontrolle entzogen werden sollten. Die von den Bestimmungen über Verwaltungsgerichte der SMAD inspirierten Gesetzesvorlagen des Zentralsekretariats, welche dann von Landtagen verabschiedet wurden, waren folglich weit davon entfernt, eine Garantie des subjektiv-öffentlichen Rechtsschutzes des Bürgers zu verbürgen. Das als demokratische Neuerung im Bereich des Rechtsschutzes angepriesene Dienstaufsichtsverfahren nach der Gemeinde- und Kreisordnung stellte keine Kompensation für eine auf dem Grundsatz der Gewaltenteilung basierende justizförmige Kontrolle dar. Somit bot die SBZ in ihrer Endphase ein Bild der Zerrissenheit: Nicht nur, daß die Rechtsentwicklung eine ganz andere Richtung als in den Westzonen nahm, auch innerhalb der SBZ konnte von einem einheitlichen Rechtszustand nicht die Rede sein. So galt das von der SED eingebrachte Verwaltungsgerichtsgesetz in allen Ländern bis auf Thüringen. Dessenungeachtet wurde jedoch in einem Land (Sachsen-Anhalt) ein Verwaltungsgericht nicht einmal errichtet (geschweige denn eröffnet). Thüringen verfügte zwar über seine liberale Landesverwaltungsordnung und über sein funktionierendes OVG Jena, allerdings war die LVO mit der mittlerweile in Kraft gesetzten Landesverfassung nicht mehr vereinbar. Dieser Aspekt wies auf den provisorischen Charakter der gefundenen Regelung hin, die einschneidende Veränderungen in der Zukunft bereits erwarten ließ.

Zweiter Teil

Niedergang des Verwaltungsrechts und Substituierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Ära Ulbricht 1. Abschnitt

Verwaltung und Verwaltungsrechtsschutz in der Gründungsverfassung I. Der Verwaltungsrechtsschutz gemäß Artikel 138 der Gründungsverfassung "Wann ist eine geschriebene Verfassung eine gute und dauerhafte? Nun offenbar nur in dem einen Falle, wenn sie der wirklichen Verfassung, den realen, im Lande bestehenden Machtverhältnissen entspricht. Wo die geschriebene Verfassung nicht der wirklichen entspricht, da findet ein Konflikt statt, dem nicht zu helfen ist, und bei dem unbedingt auf die Dauer die geschriebene Verfassung, das bloße Blatt Papier, der wirklichen Verfassung, den tatsächlich im Lande bestehenden Machtverhältnissen erliegen muß.,,1

1. Entstehung und Wesen der Gründungsverfassung Auf dem Territorium der SBZ hatten sich bis zum Herbst 1949 wesentliche gesellschaftliche und staatliche Veränderungen vollzogen: Mit Hilfe der sowjetischen Besatzungsmacht hatten die Blockparteien unter Führung der SED damit begonnen, eine revolutionär-demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern zu errichten und die sich aus ihrer Sicht hieraus ergebenden "Aufgaben der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus" auf politischem, ökonomischem und geistig-kulturellem Gebiet zu lösen. 2 Der marxistisch-leninistischen Lehre folgend, wurde zunächst die KollektiI Materialsammlung "Verfassungsentwürfe der SED", SAPMO BArch NY 4182 Nr. 1103, Untertitel "Ferdinand Lassalle im fortschrittlich-liberalen Bezirksverein der Friedrichstadt zu Berlin". 2 Karl-Heinz Schöneburg, Die Errichtung des Arbeiter-und-Bauem-Staates der DDR, S. 270.

9 Hoeck

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

vierung der wichtigsten Bereiche der Wirtschaft in Angriff genommen; hierdurch wurden neue Eigentumsverhältnisse geschaffen3 , die der staatsrechtlichen Absicherung und Perpetuierung bedurften. 4 Indes blieben die Versuche der SED, Einfluß auf die verfassungsrechtliche Gestaltung Gesamtdeutschlands zu nehmen, ohne Anklang in den Westzonen. Die ursprüngliche Strategie der Sowjets und ihrer deutschen Genossen, mittels eines gemäßigt sozialistischen Verfassungskonzepts Sympathien im Westen zu erwerben und damit vor allem auch die volkswirtschaftliche Überlebensfähigkeit eines neu entstehenden Deutschlands sicherzustellen, erwies sich als nicht tragfähig. Nachdem bereits die Reaktion auf einen frühen Verfassungsentwurf (vom 17.11.1946) der SED vor Augen geführt hatte, daß sie bei der westdeutschen Bevölkerung mit ihren verfassungspolitischen Vorstellungen nicht würde reüssieren können, mußte sie auf einer vom bayerischen Ministerpräsidenten Dr. Hans Ehard am 6.6.1947 in München ausgerichteten Konferenz die Erfahrung machen, daß sie auch bei den Ministerpräsidenten der deutschen Länder mit ihren zentralistischen Vorstellungen nicht durchdrang. 5 Um sich nicht dem Vorwurf des Separatismus auszusetzen und um ihren verfassungspolitischen Bestrebungen den Anschein einer gesamtdeutschen Legitimation zu geben, rief die SED am 26.11.1947 alle deutschen Parteien und Organisationen zur Abhaltung eines "Deutschen Volkskongresses für Einheit und gerechten Frieden" auf, dem von westdeutscher Seite freilich nur die KPD sowie eine geringe Anzahl von Einzelpersönlichkeiten Folge leisteten. 6 Der Kongreß trat am 6. Dezember 1949 zusammen, um die Ein3 Seit 1948 wurden annähernd zwei Drittel der industriellen und annähernd zehn Prozent der landwirtschaftlichen Produktion in den volkseigenen Betrieben bzw. Gütern erzeugt, vgl. Schöne burg, wie vorangehende Anmerkung. 4 Schöneburg, ebenda. S Siegfried Mampel, Die sozialistische Verfassung der DDR: Text und Kommentar, S. 57. Das Scheitern der Konferenz (und damit das Verstreichenlassen der letzten bedeutenden Chance zur Verhinderung der Spaltung) war seitens der SED offenbar von vornherein beabsichtigt. So äußerte sich Otto Grotewohl im Vorfeld dahin gehend, man müsse zur Konferenz fahren, "um sie zu sprengen". Walter Ulbricht führte diesen Gedanken aus, indem er forderte, die Frage nach der Bildung einer deutschen Zentralverwaltung auf die Tagesordnung zu setzen. "Im Falle der Ablehnung dieses Vorschlags solle man eine Erklärung verlesen und die Konferenz verlassen." Genauso verfuhr die Delegation dann auch. (Hermann Weber, Geschichte der DDR, S. 94, m. w. N.). 6 Daneben gestattete die "Volkskongreßbewegung" die umfassende Verwirklichung der politischen Vorstellungen der SED, ohne durch weitere Eingriffe in das Parteiensystem den Widerstand von CDU und LDP zu forcieren (Hermann Weber, wie vorangehende Anmerkung, S.101). Bezeichnend für die im Zeichen des beginnenden Kalten Krieges zunehmend restriktiver werdende Blockpolitik erscheint die

1. Abschn.: Verwaltung in der Gründungsverfassung

131

setzung einer gesamtdeutschen Regierung zu fordern. Diese sollte so zusammengesetzt werden, daß die in der SBZ geschaffenen Verhältnisse auf ganz Deutschland übertragen werden konnten. Am 17. und 18. März 1948 trat ein "Zweiter Deutscher Volkskongreß" zusammen, der ähnlich wie der erste zusammengesetzt war. Dieser wählte einen "Deutschen Volksrat" mit dem Auftrag, eine gesamtdeutsche Verfassung auszuarbeiten. Inzwischen hatten sich die Spannungen zwischen den Besatzungsmächten so weit gesteigert, daß der Alliierte Kontrollrat sich am 20.3.1948 auf unbestimmte Zeit vertagte und fortan nicht mehr zusammentrat. 7 Die konsensuale Ausübung der obersten Gewalt durch die vier Besatzungsmächte in Deutschland war damit praktisch beendet. Der "Deutsche Volksrat" schickte sich nun an, das entstandene Machtvakuum auszufüllen, und bezeichnete sich in seiner Sitzung vom 22.10.1948 als die einzige legitime Repräsentation des deutschen Volkes. Mit diesem Repräsentationsanspruch verabschiedete er am 19. März 1949 den zuvor geringfügig abgeänderten Verfassungsentwurf der SED und legte ihn einem "Dritten Deutschen Volkskongreß" zur Billigung vor. Die Zusammensetzung des "Dritten Volkskongresses" wurde durch eine Wahl bestimmt, die am 15. und 16. Mai 1949 anband von Einbeitslisten durchgeführt wurde. Diese Listen enthielten zwar Namen von Kandidaten aus allen in der SBZ zugelassenen Parteien (SED, LDPD, CDUD, NDPD, DBD) und Massenorganisationen (FDGB, DFD, FDJ, Kulturbund), allerdings bedurfte die Nominierung der Zustimmung aller im antifaschistisch-demokratischen Block zusammengeschlossenen Parteien, insbesondere also der SED. Die Sitzverteilung innerhalb der Liste war von vornherein festgelegt. 8 Die Stimmabgabe war nicht geheim, auch kam es zu schweren Wahlfälschungen. 9 Vor diesem Hintergrund fiel das Wahlergebnis denkbar knapp aus: Bei einer Wahlbeteiligung von 92,5% hatten nur 66,1 % der Stimmen auf "Ja" gelautet, in Ostberlin sogar nur 51,6%. Nachdem der auf diese Weise zustande gekommene "Dritte Deutsche Volkskongreß" den Verfassungsentwurf am 30. Mai 1949 bestätigt hatte, konstituierte sich der "Deutsche Volksrat" am 7. Oktober 1949 als provisorische Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik und setzte die Verfassung in Kraft. 1O Gleichzeitig bildete dieses Gremium eine provisorische Regierung. 11 Am 10. Oktober 1949 wählten Abberufung des Vorsitzenden der CDUD Jakob Kaiser durch die SMAD, nachdem dieser sich geweigert hatte, sich mit seiner Partei der Volkskongreßbewegung anzuschließen. 7 Siegfried Mampel (Anm. 5), S. 58. 8 Klaus Schroeder, Der SED-Staat - Geschichte und Strukturen der DDR, S. 78. 9 Schroeder, ebenda, sowie Mampel (Anm. Nr. 5). 10 "Gesetz über die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik" vom 7.10.1949. (GBL. 1949, S. 4). 9*

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

die Landtage die Vertreter für die provisorische Länderkammer. Diese konstituierte sich am 11. Oktober desselben Jahres. Zu ihrem Präsidenten wurde am gleichen Tage das SED-Mitglied Wilhelm Pieck gewählt. Im Anschluß daran wurde die provisorische Regierung bestätigt, die sich aus dem Ministerpräsidenten Otto Grotewohl (SED), drei stellvertretenden Ministerpräsidenten (Walter Ulbricht - SED, Otto Nuschke - CDU und Wilhelm Külz - LDPD) sowie 14 Fachministern zusammensetzte. Gleichzeitig war damit das offizielle Ende der SMAD gekommen, die gleichermaßen am 10.10.1949 ihre Funktionen auf die Provisorische Regierung übertrug und in die Sowjetische Kontroll-Kommission (SKK) umgewandelt wurde. Am 12. Oktober 1949 beschloß die Provisorische Volkskammer ein Gesetz zur Überleitung der Verwaltung. 12 Darin wurde bestimmt, daß die Verwaltungsaufgaben des Vorsitzenden und des Sekretariats der Deutschen Wirtschaftskommission (DWK) auf die Provisorische Regierung der Deutschen Demokratischen Republik übergingen (§ 1 Abs. 1). Mit dem Überleitungsgesetz wurden die Hauptverwaltungen der Deutschen Wirtschaftskommission in die Ministerien mit dem jeweils entsprechenden Geschäftsbereich eingegliedert (1 Abs. 2); ebenso wurde mit der "Deutschen Verwaltung des Innem" und der "Deutschen Zentralverwaltung für Justiz" verfahren (§ 1 Abs. 3). Die Verwaltungsorgane der Provisorischen Regierung, der Länder und der Selbstverwaltungskörperschaften wurden angewiesen, ihre Geschäfte zunächst nach den bisherigen Bestimmungen im Sinne der Verfassung weiterzuführen (§ 2 Abs. 1). Die allmähliche, schrittweise Umgestaltung der SBZ zur DDR spiegelte sich im Charakter der Gründungsverfassung 13 wider, welche gleichzeitig den "Höhepunkt der Blockpolitik" darstellte (Joachim Türke).14 Formal und inhaltlich war die Gründungsverfassung inspiriert von den auf Verständi11 "Gesetz über die provisorische Regierung der Deutschen Demokratischen Republik" vom 7.10.1949. (GBl. 1949, S.2). 12 "Gesetz zur Überleitung der Verwaltung" vom 12.10.1949. (GBl. 1949, S. 17). 13 Der Begriff "Gründungs verfassung" ist zur Unterscheidung von der nachfolgenden "Staatsratsverfassung" von 1968 üblich geworden und wird im Rahmen dieser Arbeit nachfolgend in diesem Sinne verwandt. Eine andere, etwas weniger gebräuchliche Bezeichnung für die Verfassung vom 7. Oktober 1949 lautet "Volksratsverfassung" . 14 Prägnantester Ausdruck dessen war die Entscheidung des Verfassungsgebers für die Republik als spezifisch deutsche Form der "Diktatur des Proletariats" (und damit gegen das russische Sowjetsystem). Wolfgang Weichelt merkte in diesem Zusammenhang an, es sei "keineswegs so, daß die Sowjets die einzige Form des sozialistischen Staates, die einzige staatliche Form der Diktatur des Proletariats sind". (Weichett, Lenin über die Sowjets als staatliche Form der Diktatur des Proletariats, in: Staat und Recht 1957, S. 1090) Bereits Lenin sah in den Sowjets nur "die russische Form der Diktatur des Proletariats" und räumte ein, daß "der Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus ... eine ungeheure Fülle und Mannigfaltigkeit der

1. Abschn.: Verwaltung in der Gründungsverfassung

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gung mit den Westzonen ausgelegten Verfassungsentwürfen der SED. 15 Wie diese lehnte sie sich in ihrer Ausgestaltung stark an die Weimarer Reichsverfassung an, der auch die kommunistischen Verfassungsgeber konzedierten, trotz erheblicher Mängel einen bedeutsamen Schritt auf dem Wege politischen Formen" hervorbringe, unter denen das Wesentliche nur das eine sei: die Diktatur des Proletariats. (Lenin, Staat und Revolution, S. 50). 15 In dieser Entwicklungslinie sind zunächst die "Grundrechte des Deutschen Volkes" zu nennen, welche vom Zentral sekretariat der SED am 27. August 1946 im Rahmen einer erweiterten Sitzung zum ersten Mal verhandelt und nach einer weiteren Erörterung durch den Parteivorstand am 18./19. September 1946 beschlossen wurden und den Torso der sozialistischen Verfassungskonzeption bildeten. Die kurze, weniger als 20 Artikel umfassende Programmschrift hatte den Zweck, die staatspolitischen Grundanschauungen der SED in Hinblick auf die Gestaltung der von ihr angestrebten zukünftigen gesamtdeutschen Republik pointiert darzustellen, um im Wahlkampf als Diskussionsgrundlage in politischen Grundsatzfragen zu dienen. In den "Grundrechten" vermischten sich staatsorganisatorische Vorstellungen mit Garantien demokratischer Rechte und Freiheiten. Eingangs wurde manifestartig die nationale Einheit als Grundvoraussetzung für eine "deutsche Demokratie" gefordert und Deutschland als "eine unteilbare demokratische Republik" bezeichnet. Auch wenn den "Grundrechten des deutschen Volkes", deren Titel nicht zufällig liberale Assoziationen weckte, rückblickend die Bedeutung einer Keimzelle der Verfassungen der SBZ/DDR zukommt, stand zunächst ihre "publizistisch-propagandistische Funktion" im Zusammenhang mit dem "Kampf um die demokratisch-antifaschistische Entwicklung" im Vordergrund. (Vgl. Gerhard Braas, Die Entstehung der Länderverfassungen in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, S. 50 ff.) Parallel zur Arbeit an den "Grundrechten des Deutschen Volkes" erarbeitete das Zentralsekretarlat eine zentrale Vorlage für ein Muster einer Landesverfassung und entwarf damit erstmals ein zur realen rechtlich-politischen Umsetzung gedachtes Verfassungskonzept. Den unmittelbaren Vorläufer der Gründungsverfassung stellt der "Verfassungsentwurf für eine Deutsche Demokratische Republik" vom 14. November 1946 dar. Den Funktionären der SED lagen zu diesem Zeitpunkt Hinweise darauf vor, daß der frühere Reichskanzler Dr. Joseph Wirth von den Amerikanern beauftragt sei, eine Verfassung mit bundesstaatlichem Charakter auszuarbeiten und daß diese Arbeit vermutlich ihrem Abschluß nahe sei. Otto Grotewohl ging davon aus, daß Wirths Verfassungsentwurf, der "vermutlich auch der der Engländer sein" werde, die Grundlage für die internationale Diskussion bilden würde. Aus Sicht der deutschen Kommunisten stand zu befürchten, daß sie den Westalliierten im östlichen Teil Deutschlands die Initiative überlassen müßten, wenn sie den erwarteten Verfassungsentwurf Wirths nicht "auffangen" könnten. Erklärtes Ziel der Verfassungskampagne der SED war es somit, "dafür zu sorgen, daß die kommende Verfassungsdebatte so aufgezäumt wird, daß wir die übrigen Teile Deutschlands zwingen, sich mit unseren Gedankengängen zu beschäftigen", woraus die SED die Notwendigkeit ableitete, sich "schnell und grundsätzlich" zu Fragen der künftigen Verfassung im sozialistischen Sinne zu äußern. Um als ernsthafte Diskussionsgrundlage zonen- und parteiübergreifend anerkannt zu werden, mußten formale und inhaltliche Konzessionen, gerade im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gewalteneinheit ("Einheitsstaat mit dezentralisierter Verwaltung") gemacht werden. (Protokoll der Sitzung des Verfassungsausschusses der SED am 11. November 1946, SAPMO BArch DY 30 IV 2/1.01123).

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

Deutschlands zu einer einheitlichen demokratischen Republik dargestellt und wesentliche Ansätze für den Ausbau eines demokratischen Staatswesens enthalten zu haben. 16 In diesem Sinne enthielt die Gründungsverfassung nicht nur eine Präambel, welche die Freiheit und die Rechte des Menschen als obersten Wert an die Spitze stellte, sondern in den Artikeln 6 ff. auch einen umfassenden Grundrechtekatalog, der die Formulierungen des Weimarer Vorbildes teilweise wörtlich übernahm. Hier fanden sich Formulierungen klassischer Freiheitsrechte neben "sozialen" Grundrechten und Gleichheitsverbürgungen: So garantierte die Verfassung die Gleichberechtigung aller Bürger (Art. 6 Abs. 1), die Gleichberechtigung von Mann und Frau (Art. 7), den Schutz der persönlichen Freiheit, die Unverletzlichkeit der Wohnung, das Postgeheimnis und die Niederlassungsfreiheit an jedem beliebigen Ort (Art. 8).17 Artikel 9 dekretierte die Meinungsfreiheit und die Versammlungsfreiheit ganz im Sinne der Weimarer Reichsverfassung und des Grundgesetzes. 18 Darüber hinaus war die Freiheit der Gründung von Vereinen und Gesellschaften (Art. 12) sowie die Koalitionsfreiheit (Art. 14) vorgesehen. Artikel 14 Abs. 2 konzedierte: "Das Streikrecht der Gewerkschaften ist gewährleistet." Gemäß Art. 34 sollten Kunst, Wissenschaft und ihre Lehre frei sein. Art. 25 garantierte die Freiheit der Berufswahl bei gleichzeitiger Verbürgung des Rechtes auf Arbeit in Art. 15 Abs. 2. Der Abschnitt über "Religion und Religionsgemeinschaften" (Art. 41-48) enthielt eine umfassende Regelung im Sinne der Weimarer Reichsverfassung. Art. 22 enthielt die klassische Eigentumsgarantie, die korrelierende Enteignungsvorschrift in Art. 23 entsprach den Regelungen in Art. 153 des Weimarer Vorbildes. 19 Art. 10 Abs. 3 berechtigte sogar jeden Bürger auszuwandern, soweit nicht durch Gesetz eine Beschränkung erfolgte. Abgerundet wurde das Bild einer bürgerlich-liberalen Konstitution durch die Wesensgehaltsgarantie des Art. 49, die versprach: "Soweit diese Verfassung die Beschränkung eines der vorstehenden Grundrechte durch Gesetz zuläßt, muß das Grundrecht als solches unangetastet bleiben. ,,20 16 Otto Grotewohl im Bericht des Verfassungsausschusses des Deutschen Volksrates am 22.10.1948, zit. nach Mampel, wie Anm. 5, S. 60. 17 Thomas Friedrich, Das Verfassungslos der DDR - die verfassungslose DDR, in dem von Gerhard Dilcher herausgegebenen Sammelband: Rechtserfahrung DDR Sozialistische Modernisierung oder Entrechtlichung der Gesellschaft?, S. 41-67 (49). 18 Joachim Rottmann, Die Entwicklung der Grundrechte in der DDR, in: Die Deutsche Demokratische Republik im Lichte der Grundrechte und der Rechtsstaatsidee, herausgegeben von der Deutschen Sektion der Internationalen Juristen-Kommission (Red. Joachim Rottmann), S. 13-49 (16). 19 Rottmann, ebenda. 20 Rottmann, ebenda. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, daß die Verfassung auch negative, anti-rechtsstaatliche Momente enthielt, wie etwa den berüchtigten Artikel 6 Abs. 11 - "Boykotthetze". Im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist für deren Darstellung indes kein Raum.

1. Abschn.: Verwaltung in der Gründungsverfassung

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Formal betrachtet trug die Gründungsverfassung somit nicht den Charakter einer sozialistischen Verfassung im Sinne des Marxismus-Leninismus, sondern führte bürgerlich-parlamentarische Entwicklungslinien fort. Das rechtsstaatliehe Gepräge des Verfassungswerks wurde bei genauerem Hinsehen jedoch schnell in Frage gestellt. Mit dem Grundsatz der Gewalteneinheit und der sozialistischen Wirtschaftsverfassung wurden zwei Strukturprinzipien von so beherrschender Strahlkraft in die Verfassung lanciert, daß eine sinngemäße Entfaltung formell gültiger Verfassungsprinzipien von vornherein ausgeschlossen war. Ähnlich wie bei den Landesverfassungen war der Verfassungsgeber hier also nach der Strategie verfahren, hinsichtlich der Formulierung der Verfassungsnormen nur so weit nachgiebig zu sein, wie grundlegende marxistisch-leninistische Prinzipien unangetastet blieben. Somit läßt sich feststellen, daß der "Deutsche Volksrat" bei der Formulierung der Gründungsverfassung bewußt an das in der Weimarer Verfassung von 1919 angestrebte Konzept eines demokratischen Sozialismus auf parlamentarischer Grundlage anknüpfte, zugleich aber dessen Weiterentwicklung im leninistischen Sinne offenhielt. 21 Zum ambivalenten Charakter der Gründungsverfassung trug auch Artikel 138 bei, welcher die institutionelle Garantie der Verwaltungsgerichtsbarkeit normierte. Im Vergleich zum "Republikentwurf' vom 14. November 1946 führte die Gründungsverfassung die Bestehensgarantie sogar noch aus und ergänzte sie um zwei Absätze: Artikel 138 (1) Dem Schutz der Bürger gegen rechtswidrige Maßnahmen der Verwaltung die-

nen die Kontrolle durch die Volksvertretungen und die Verwaltungsgerichtsbarkeit. (2) Aufbau und Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte werden durch Gesetz geregelt. (3) Für die Mitglieder der Verwaltungsgerichte gelten die Grundsätze über die Wahl und Abberufung der Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit entsprechend.

2. Verfassungssystematischer Kontext der Regelung

Die Gründungsverfassung schien somit die deutsche Rechtstradition aufzugreifen und an die entsprechende Regelung in Artikel 107 der Weimarer Reichsverfassung anzuknüpfen. Allerdings machte bereits die formale Gleichsetzung der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle mit der Aufsicht 21 Herwig Roggemann, Die DDR-Verfassungen - Einführung in das Verfassungsrecht der DDR - Grundlagen und neuere Entwicklung, S. 43.

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

durch die Volksvertretungen im ersten Absatz deutlich, daß der Verfassungsgeber bestrebt war, die Idee einer außerhalb der Legislative stehenden gerichtsförmigen Instanz zu relativieren. Tatsächlich wurde Artikel 138 der Gründungsverfassung niemals verwirklicht, und die Einrichtung von Verwaltungsgerichten in der DDR unterblieb. 22 Statt dessen bemühte sich die Staatsführung um eine systemkonforme Lösung der Frage der Verwaltungskontrolle und des Verwaltungsrechtsschutzes im Rahmen eines neu zu schaffenden sozialistischen Verwaltungsrechts. Mit der Verankerung des Instituts der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Artikel 138 der Gründungsverfassung ging der Verfassungsgeber eine Verpflichtung ein, die er von Anfang an nicht erfüllen konnte. Dies verdeutlicht eine Gegenüberstellung der Norm mit grundlegenden, verfassungsimmanenten Prinzipien der marxistisch-leninistischen Staatslehre. Als solche sind zu nennen: das Prinzip der Gewalteneinheit (1), das Dogma der Interessenidentität (2) und das Prinzip der sozialistischen Gesetzlichkeit (3). a) Das Prinzip der Gewalteneinheit Nachdem Karl Polaks in seinem grundlegenden Aufsatz über "Gewaltenteilung, Menschenrechte, Rechtsstaat - Begriffsformalismus und Demokratie,,23 das seit Montesquieu in den westlichen Demokratien etablierte Prinzip der Gewaltenteilung als bourgeoisen "Trick" zur Verdeckung der Herrschaft der kapitalistischen Ausbeuterklasse "entlarvt" hatte, setzten die Kommunisten an seine Stelle das Prinzip der Gewaltenkonzentration. Die Grundmaxime des Prinzips der Gewaltenkonzentration - bzw. der Gewalteneinheit, wie es in der Staatslehre des Marxismus-Leninismus in Anleh22 Bis zum Jahre 1968 wurde hieraus jedoch nicht die Konsequenz gezogen, die Verfassung der Realität anzupassen. Überhaupt wurde die Verfassung lediglich einmal durch Gesetz ergänzt (Gesetz vom 28.9.1955, GBL I S. 653, Verpflichtung zum Wehrdienst), nur einmal geändert (Gesetz über die Auflösung der Länderkammer vom 8.12.1958 - GBL I 1958, S. 853), oft durchbrochen, vor allem durch die Gesetze vom 23.7.1952 (GBL I 1952, S. 613 - De-facto-Abschaffung der Länder) und vom 17.1.1957 (GBL I 1957, S. 65 - endgültige Beseitigung der Selbstverwaltung der Gemeinden), im übrigen aber nur "weiterentwickelt". Die marxistisch-leninistischen Verfassungstheorie erkannte diese Vorgehensweise als zulässig an, da ihr zufolge Verfassungssätze bereits vor ausdrücklicher Änderung durch den Verfassungsgeber ihren Sinngehalt entscheidend verändern könnten. In den Augen von Vertretern der DDR-Rechtswissenschaft gereichte dieser Umstand der Verfassung sogar zum Vorteil. So erklärte Alfons Steiniger kurzerhand, die Verfassung der DDR sei eben keine "erstarrte Programrnkulisse" und "kein verworrenes Paragraphengestrüpp", sondern die "gesetzmäßig und in Gesetzesform sich weiterentwickelnde Grundlage des gesamten gesellschaftlichen Lebens". (Wem mißfällt unsere Verfassung?, in: Die Arbeit 1956, S. 6). 23 Einheit 1947, S. 385--401, vgl. hierzu die Ausführungen oben im ersten Teil dieser Arbeit unter Ziffer I. 3. b. bb.

1. Abschn.: Verwaltung in der Gründungsverfassung

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nung an eine Arbeit Andrej J. Wyschinskis über den Staatsaufbau in der UdSSR aus dem Jahre 1936 bezeichnet wurde - besagte, daß alle Gewalt auf das Volk lÜckführbar sein müsse und ausschließlich durch die vom Volk gewählten Vertretungskörperschaften ausgeübt werden dürfe. Mit der GlÜndung der DDR wurden die staatstheoretischen Erörterungen Polaks auf eine neue Grundlage gestellt, da nunmehr die verfassungsrechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen zur Entfaltung der "Suprematie"Z4 der SED geschaffen worden waren. So verblieb die Inhaberschaft der Staatsgewalt zwar formal beim Volk, ihre Ausübung sollte fortan indes nur noch unter der Führung der kommunistischen Partei erfolgen können. Deren Selbsteinschätzung als "bewußter und organisierter Vortrupp der Arbeiterklasse"z5 und "höchste Form aller gesellschaftlich-politischen Organisationen" entsprach es, die Schlüsselpositionen der staatlichen Verwaltung mit Parteimitgliedern zu besetzen, die ihrerseits verpflichtet waren, "die Arbeit in den staatlichen und wirtschaftlichen Organen (... ) entsprechend den Beschlüssen der Partei", d.h. nach Weisung, auszuführen?6 DalÜber hinaus erhob 24 Der Begriff der "Suprematie" der SED geht auf Siegfried Mampel zurück ("Die SED im materiellen Verfassungsrecht in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands", in: Recht in Ost und West 1963, S. 51) und soll zum Ausdruck bringen, daß die SED den Staat beherrschte, ohne ihn jedoch unmittelbar zu führen. "Suprematie" bedeutet demnach mehr als "Hegemonie", das bloße Übergewicht einer Partei über im Prinzip wesensgleiche andere. In der politische Realität manifestierte sich die Suprematie der SED im Verhältnis zum Staat und seinen Organen vor allem in folgenden Formen der Einflußnahme: - Politische Richtliniensetzung in Parteibeschlüssen, Parteitags- und ZK-Dokumenten, Programm und Statut, - unmittelbare, organschaftliche Anleitung und Unterstützung der Staatsorgane auf den verschiedenen (kommunalen, regionalen, zentralen) Ebenen durch die entsprechenden örtlichen oder zentralen Parteiorgane, - mitgliedschaftliche Einflußnahme in der Weise, daß die Parteimitglieder (Parteigruppen) innerhalb der Volksvertretungen, Verwaltungsbehörden und Wirtschaftseinheiten den Parteiwillen als Mandatsträger mit imperativem Mandat der Partei in den jeweiligen Staatsorganen zur Geltung brachten, - Personalpolitik und Kaderverwaltung durch die Partei, wobei durch eine umfassende Personaldatei, Klassifizierung und Laufbahnplanung eine weitgehend parteigemäße Stellenbesetzung bis hinab auf die bezirkliche und kommunale Ebene erreicht wurde, - Kontrolle und Sanktion durch Parteiorgane. (Vgl. Rechtsgutachten Roggemann in Hubert Rottleuthner [Hrsg.], Das Havemann-Verfahren - Das Urteil des Landgerichts Frankfurt [Oder] und die Gutachten der Sachverständigen Prof. Herwig Roggemann und Prof. Hubert Rottleuthner, S. 216, sowie Herwig Roggemann, Die DDR-Verfassungen, wie Anm. 21, S. 206 f.). 25 Autorenkollektiv (unter Leitung von Kar! Bönninger), Das Verwaltungsrecht der Deutschen Demokratischen Republik - Allgemeiner Teil (l957), S. 45. 26 Martin Bullinger, Das Verwaltungsrecht in der DDR (SBZ), in Albrecht-Ludwigs-Universität zu Freiburg (Hrsg.), Die Lage des Rechts in Mitteldeutschland, S. 101-120 (l03).

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

die SED den Anspruch, den Staatsapparat im ganzen zu beherrschen, indem sie die Tätigkeit der Organe des Staatsapparates "lenke,m. Da die sozialistische Staatspartei ihre politische Legitimation aus "metastaatlicher, historischer Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung" ableitete 28, war sie insofern auch nicht den Restriktionen unterworfen, die im Staat als Teil des gesellschaftlichen Überbaus herrschten. Aufgrund ihrer besonderen historischen Stellung nahm die Partei für sich in Anspruch, dem Recht, welches der Staat zu seinen Zwecken setzt, vorgeordnet zu sein?9 Ihre Machtausübung durfte grundsätzlich keiner Kontrolle und keinen Hemmnissen ausgesetzt werden. Jede rechtliche Kontrolle über die Parteiführung wäre ein Mißtrauensvotum gegen ihre Fähigkeit, die objektiven Gesetzmäßigkeiten der Geschichte zu erkennen, ihnen entsprechend stets die richtigen Entschlüsse zu fassen und danach zu handeln. 3o Folglich wurde der Führungsanspruch der Staatspartei SED mit der Berufung auf die "allgemeingültige Gesetzmäßigkeit jeder sozialistischen Revolution" jeder "rechtswissenschaftlichen sowie rechtsanwendenden Diskussion und Kritik" entzogen. 31 Bereits hieraus erhellt, daß in der politischen Praxis für die Etablierung des in Artikel 138 der GfÜndungsverfassung vorgesehenen gerichtlichen Verwaltungsrechtsschutzes in einer der deutschen Rechtstradition entsprechenden Weise kein Raum war.

b) Der Grundsatz der Einheit von Beschlußfassung, Durchführung und Kontrolle Das Prinzip der Gewalteneinheit wurde flankiert von dem "Grundsatz der Einheit von Beschlußfassung und Durchführung (und Kontrolle),,32. Dieser Grundsatz besagte, daß nicht nur jegliches Staatshandeln auf den Beschluß einer volksgewählten Vertretungskörperschaft fÜckführbar sein müsse - dies hätte ein arbeitsteiliges Wirken verschiedener entsprechend legitimierter Institutionen gestattet (sog. "Gewaltendifferenzierung") -, sondern daß darAutorenkollektiv (Anm. 25). Rechtsgutachten Roggemann in Hubert Rottleuthner (Hrsg.), "Das HavemannVerfahren" (Anm. 24), S. 213 f., m. W.N. 29 Siegfried Mampel beschreibt dieses Phänomen wie folgt: "Da das Recht nicht nur Erzeugnis des Staates ist, sondern zu seinen Zwecken gesetzt und angewendet wird und damit dem Syndrom der Staatszwecke unterstellt ist, kann eine Diskrepanz zwischen staatlicher Tätigkeit und dem Recht nicht eintreten. Der Staat ist Herr des Rechts, untersteht ihm aber nicht." (Das Recht in Mitteldeutschland, S. 90 f., RN 411). 30 Mampel, ebenda. 31 Roggemann (Anm. 24), S. 219. 32 Letzteres stellt eine von Lenin vorgenommene Erweiterung des Marxschen Grundsatzes dar. 27

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über hinaus die entscheidende Stelle ihre Beschlüsse in eigener Machtvollkommenheit umsetzen sollte, ohne dabei einer externen Kontrolle unterworfen zu sein. Zurückgeführt wurde dieses Prinzip auf die Schlußfolgerungen, die Karl Marx aus der Erfahrung der Pariser Kommune 1871 gezogen hatte. In seinem Werk "The Civil War in France", das unmittelbar während der revolutionären Ereignisse in Paris entstand, verallgemeinerte Marx die Lehren der Kommune und erschloß sie der internationalen Arbeiterbewegung?3 In der Form einer Adresse des Generalraths abgefaßt, wandte sich Marx mit dieser politischen Kampfschrift an alle Mitglieder der Internationalen Arbeiterassoziation in Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika. Bildung und Schicksal der Pariser Kommune gaben Marx die Möglichkeit, seine an der französischen Politik geschulten staats- und revolutionstheoretischen Erkenntnisse zu konkretisieren. So sah er in dem historischen Verlauf der Erhebung vor allem die Bestätigung der in seiner Schrift "Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte" aufgestellten These, daß das Proletariat die Macht nur ergreifen könne, indem es die bürgerliche Staatsmaschinerie zerschlage. 34 Die Vernichtung des bürgerlichen Staatsapparates dürfe jedoch nicht als einmalige und sofortige Liquidierung aller und jeglicher Funktionen und Institutionen, als Zerbrechung aller Formen des bisherigen Staates aufgefaßt werden. Vielmehr werde die siegreiche Arbeiterklasse allgemein nützliche 35 und traditionelle demokratische Einrichtungen beibehalten. Diese sollten freilich nach dem Pariser Vorbild umgestaltet werden, wobei die Vermeidung bürokratischer Strukturen zur Absicherung der revolutionären Errungenschaften dienen sollte. In einer verhältnismäßig kurzen Passage umriß Karl Marx grob die wichtigsten Merkmale der staatlichen Funktionen in der sozialistischen Gesellschaft, wie sie in der Kommune als dem ersten Versuch zur Errichtung der Diktatur des Proletariats zum Ausdruck kamen:

33 "Karl Marx, The Civil War in France (First Draft, Second Draft and Adress of the General Council - Entstehung und Überlieferung"; Karl Marx, Friedrich Engels: Gesamtausgabe (MEGA), herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (Hrsg.), (Leitung der Redaktionskonunission: Ralf Dluhek), Apparat zu Band XXII, S. 789-804 (789). 34 Kar! Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Karl Marx, Friedrich Engels: Gesamtausgabe (MEGA) - herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Konununistischen Partei der Sowjetunion und vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Erste Abteilung - Werke, Artikel, Entwürfe, Juli 1851 bis Dezember 1852, Band 11, S. 96-189. 35 Im Original: "necessitated by the general and conunon wants of the country", vgl. Karl Marx, The Civil War in France (Second Draft), MEGA, Bd. XXII, S. 106.

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

"Der gerade Gegensatz des Kaiserthums war die Kommune. Der Ruf nach der ,sozialen Republik', womit das Pariser Proletariat die Februarrevolution einführte, drückte nur das unbestimmte Verlangen aus nach einer Republik, die nicht nur die monarchische Form der Klassenherrschaft beseitigen sollte, sondern die Klassenherrschaft selbst. Die Kommune war die bestimmte Form dieser Republik. (... ) Die Kommune bildete sich aus den durch allgemeines Stimmrecht in den verschiedenen Bezirken von Paris gewählten Stadträthen. Sie waren verantwortlich und jederzeit absetzbar. Ihre Mehrzahl bestand selbstredend aus Arbeitern oder anerkannten Vertretern der Arbeiterklasse. Die Kommune sollte nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und gesetzgebend zur gleichen Zeit. 36 Die Polizei, bisher das Werkzeug der Staatsregierung, wurde sofort aller ihrer politischen Eigenschaften entkleidet und in das verantwortliche und jederzeit absetzbare Werkzeug der Kommune verwandelt. Ebenso die Beamten aller anderen Verwaltungszweige. Von den Mitgliedern der Kommune an abwärts mußte der öffentliche Dienst für Arbeiterlohn37 besorgt werden. Die erworbenen Anrechte und die Repräsentationsgelder der hohen Staatswürdenträger verschwanden mit diesen Würdenträgern selbst. Die öffentlichen Aemter hörten auf, das Privateigenthum der Handlanger der Centralregierung zu sein. Nicht nur die städtische Verwaltung, sondern auch die ganze, bisher durch den Staat ausgeübte Initiative wurde in die Hände der Kommune gelegt. (... ) Die richterlichen Beamten verloren jede scheinbare Unabhängigkeit, die nur dazu gedient hatte, ihre Unterwürfigkeit unter alle aufeinander folgenden Regierungen zu verdecken, deren jeder sie, der Reihe nach, den Eid der Treue geschworen und gebrochen hatten. Wie alle übrigen öffentlichen Diener, sollten sie fernerhin gewählt, verantwortlich und absetzbar sein. ,,38

Marx hob hervor, daß die politische Organisation "selbstverständlich allen großen gewerblichen Mittelpunkten Frankreichs zum Muster dienen" sollte39 : "Sobald die kommunale Ordnung der Dinge einmal in Paris und den Mittelzentren zweiten Ranges eingeführt war, hätte die alte centralisierte Regierung auch in den Provinzen der Selbstregierung der Produzenten weichen müssen. In einer kurzen Skizze der nationalen Organisation, die die Kommune nicht die Zeit hatte, weiter auszuarbeiten, heißt es ausdrücklich, daß die Kommune die politische Form selbst des kleinsten Dorfes sein (... ) sollte.,,4o 36 Hervorhebung des Verfassers dieser Arbeit. Der Satz lautet im Original: "It was to be a working, not a parliamentary body, executive and legislative at the same time." (The Civil War in France [Second Draft], MEGA, Bd. XXII, S. 105/ 31-32.). 37 Hervorhebung im Original. 38 Kar! Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich: Adresse des Generalraths der Internationalen Arbeiter-Assoziation an alle Mitglieder in Europa und den Vereinigten Staaten (Übersetzung aus dem Englischen von Friedrich Engels), Karl Marx, Friedrich Engels: Gesamtausgabe (MEGA), Bd. XXII, S. 179-226 (S. 201 f.). 39 Marx, ebenda, S. 202/30-33. 40 Marx, ebenda, S. 202/25-39.

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Die Landgemeinden eines jeden Bezirks sollten ihre gemeinsamen Angelegenheiten durch eine Versammlung von Abgeordneten in der Bezirkshauptstadt verwalten und diese Bezirksversammlungen dann wieder Abgeordnete zur Nationalversammlung nach Paris schicken. Die Abgeordneten sollten jederzeit absetzbar und an die bestimmten Instruktionen ihrer Wähler gebunden sein. Die "wenigen, aber wichtigen Funktionen, welche dann noch für eine Centralregierung übrig blieben", sollten an "kommunale, d. h. streng verantwortliche Beamte" übertragen werden. 41 Somit sollte "die Einheit der Nation (... ) nicht gebrochen, sondern im Gegentheil organisirt werden durch die Kommunalverfassung,,42. Der Grundsatz der Einheit von Beschlußfassung, Kontrolle und Durchführung diente der DDR zeit ihres Bestehens als das zentrale "wissenschaftliche" Argument für die Unvereinbarkeit einer Verwaltungsgerichtsbarkeit mit den marxistisch-leninistischen Grundlagen des Staates. Bei näherer Betrachtung erscheint es allerdings fraglich, ob hierin wirklich ein unüberwindliches Dogma zu sehen war, oder ob der Grundsatz nicht vielmehr taktisch als Argument vorgeschützt wurde. Hierfür spricht, daß der Grundsatz später in anderen, nicht minder prinzipientreuen sozialistischen Staaten kein Hindernis für die Einführung verwaltungsgerichtlicher Kontrolle darstellen sollte. Folglich scheint dem Grundsatz der Einheit von Kontrolle und Durchführung unter den auf das Werk von Karl Marx zurückzuführenden Gesetzmäßigkeiten eine eher geringere Bedeutung zuzukommen. Hierfür spricht bereits, daß er außerhalb der Schilderung der Kommune keine Erwähnung findet. Inwieweit die Einrichtungen der Kommune maßstabsgetreu auf ein ganzes Staatswesen zu übertragen waren, das überdies einen ganz anderen Entstehungshintergrund aufwies, erscheint durchaus fraglich. Schließlich stellte die Pariser Kommune ein organisatorisches Provisorium dar, welches nur zwei Monate existierte und darüber hinaus fast die ganze Zeit über einen Bürgerkrieg führen mußte. 43 Es läßt sich mutmaßen, daß die StadtverMarx, ebenda, S. 203/4-6. Marx, ebenda, S. 203/6-8. 43 Im übrigen kann aus historischer Perspektive bezweifelt werden, ob die Kommune tatsächlich dem Anspruch standhielt, Prototyp einer "Diktatur des Proletariats" gewesen zu sein. Dagegen spricht, daß etwa von einer Sozialisierung der Pariser Industrieunternehmen niemals die Rede war. Auch Lenin sah in der Kommune alles andere als ein Vorbild für den kommunistischen Staat. 1905 schrieb er, die Kommune sei eine Arbeiterregierung gewesen, "die damals nicht verstand und nicht vermochte, die Elemente der demokratischen und der sozialistischen Umwälzung auseinanderzuhalten, die die Aufgaben des Kampfes für die Republik und die Aufgaben des Kampfes für den Sozialismus verwechselte, die nicht imstande war, die Aufgaben einer energischen militärischen Offensive gegen Versailles zu lösen, die den Fehler beging, sich nicht der Bank von Frankreich zu bemächtigen usw. 41

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

ordneten zunächst eher notgedrungen fürs erste zugleich als ihre eigenen Verwaltungsbeamten fungierten. Es wird berichtet, daß die hieraus resultierende Überarbeitung, welche die Kommune ihren Mitgliedern zumutete, so stark gewesen sei, daß die Kommune sich bei weiterem Fortbestand zweifellos nach und nach ihren eigenen Beamtenkörper zugelegt hätte. 44 Marx selbst vertrat in seinem "donnernden Anklagewerk" (Sebastian Haffner) zwar grundsätzlich die Ansicht, daß die Lehren der Pariser Kommune allgemeine Gültigkeit für die Orientierung der gesamten internationalen Arbeiterbewegung beanspruchen könnten. 45 Andererseits räumte er an anderer Stelle selbst ein, daß die von der Kommune gewählte Organisationsform bis zu einem gewissen Grade situationsabhängig gewesen ist: "Die Arbeiterklasse verlangte keine Wunder von der Kommune. Sie hat keine fix und fertigen Utopien durch Volksbeschluß einzuführen. Sie weiß, daß, um ihre eigne Befreiung und mit ihr jene höhere Lebensform hervorzuarbeiten, der die gegenwärtige Gesellschaft durch ihre eigene ökonomische Entwicklung unwiderstehlich entgegenstrebt, daß sie, die Arbeiterklasse, lange Kämpfe, eine ganze Reihe geschichtlicher Prozesse durchzumachen hat, durch welche die Menschen wie die Umstände gänzlich umgewandelt werden. Sie hat keine Ideale zu verwirklichen; sie hat nur die Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit zu setzen, die sich bereits im Schooß der zusammenbrechenden Bourgeoisgesellschaft entwickelt haben. ,,46

Auch die Entstehungsgeschichte der "Generalrathadresse", legt die Vermutung nahe, daß Marx mit dem Grundsatz der Einheit von Beschlußfassung und Durchführung kein ehernes Gesetz begründen wollte: So findet er in der ersten Fassung, die Marx wahrscheinlich am 13. Mai 1871 abschloß47 , noch überhaupt keine Erwähnung. Erst im zweiten Entwurf, den er kurz vor dem 23. Mai 1871 beendete48 , analysierte er die Organisationsprinzipien der Kommune im einzelnen und hob unter ihnen den "Grundsatz der Einheit von Beschlußfassung und Durchführung" hervor. Letztlich ist darauf hinzuweisen, daß auch die Autoren der Gründungsverfassung das Beispiel der Kommune in durchaus schwerwiegenden PunkKurzum - ob ihr euch auf die Pariser oder auf irgendeine andere Kommune beruft - eure antwort wird sein: Das war eine solche Regierung, wie es unsere nicht sein darf." Wladimir I. Lenin, Werke, Band 9, S. 70. 44 Vgl. Sebastian Haffner, Die Pariser Kommune, in: Historische Variationen", S. 83-134, 110 f. 45 So charakterisierte er am 12. April 1871 in einem Brief an Louis Kugelmann die Pariser Kommune als eine Form der Diktatur des Proletariats und als Prototyp des proletarischen Staates, den die siegreiche Arbeiterklasse nach der Zerschlagung der bürgerlichen Staatsmaschinerie zu errichten habe. Institut für Marxismus-Leninismus (Hrsg.), wie Anm. 33, S. 790. 46 Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich (wie Anm. 38), S. 205 f. 47 Institut für Marxismus-Leninismus (Hrsg.), wie Anm. 33, S. 792. 48 Ebenda.

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ten offenbar als unverbindlich angesehen hatten. So entschied die Republik nach Art. 1 Abs. 11 alle Angelegenheiten, "die für den Bestand und die Entwicklung des deutschen Volks in seiner Gesamtheit wesentlich sind", während alle übrigen Angelegenheiten von den Ländern entschieden werden. Verstand man mit Maunz unter "Entscheidung" Zuständigkeit schlechthin49 , so ergab sich unter Einbeziehung des umfassenden Zuständigkeitskatalogs gemäß Art. 112 und der weiteren Generalklausei gemäß Art. 111, wonach die Republik auf allen Sachgebieten einheitliche Gesetze erlassen kann, eine umfassende Kompetenzzuweisung zugunsten der Republik. 5o Somit konnte beispielsweise nicht die Rede davon sein, daß der Zentralregierung nach der Verfassung nur wenige Funktionen oblegen hätten. Es läßt sich somit behaupten, daß es sich bei dem Grundsatz von Beschlußfassung, Durchführung und Kontrolle mithin - im Gegensatz zur Frage der Gewalteneinheit - nicht um ein Dogma aus dem Kernbestand der marxistisch-leninistischen Lehre handelte. Später sollte sich auch in der DDR zeigen, daß eine - dem Grundsatz widersprechende - Gewaltendifferenzierung unter der Überschrift der "sozialistischen Arbeitsteilung" zwischen den verschiedenen Organen der Staatsmacht systemkonform darstellbar war. 51 Einstweilen jedoch ließ sich dieses Argument in der verwaltungsrechtlichen Diskussion vielseitig verwenden. Unter Berufung auf den "Grundsatz der Einheit von Beschlußfassung und Durchführung" sollte Ulbricht später die Auflösung eines eigenständigen Rechtszweigs Verwaltungsrecht fordern, da nach seiner Vorstellung diesem Prinzip rechtssystematisch die Einheit von Staats- und Verwaltungsrecht entsprechen müsse. Somit diente das Postulat auch dazu, die in der Gründungsphase politisch unerwünschte Diskussion über eine externe verwaltungsgerichtliche Kontrolle kategorisch auszuschließen. c) Das Dogma der Interessenidentität und Konsequenzen

für das Grundrechtsverständnis

In jeder Staatsform werden Art und Ausmaß des Individualrechtsschutzes determiniert durch die jeweils herrschenden Anschauungen über Stellung und Rolle des einzelnen in der Gesellschaft. 52 Die sozialistische Staatsideo49 50

Theodor Maunz, Deutsches Staatsrecht, S. 226. Joachim Türke, Staat, Verfassung und Verwaltung in der DDR,

in: Verwaltungs-Archiv 1960, S. 283-315 (307). Maunz bezeichnete die DDR folglich auch "in ihrer heutigen Gestalt" (1951/52) als "dezentralisierten Einheitsstaat", der aber die Entwicklung zum zentralisierten Einheitsstaat jederzeit offenhalte (wie Anm. 49, S. 227). 51 Vgl. hierzu die Ausführungen im dritten Teil dieser Arbeit (2. Abschnitt, Ziffer I. 1. b).

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logie ging davon aus, daß die sozialistische und später die kommunistische Gesellschaft von einem neuen Menschentypus, nämlich der sozialistischen Persönlichkeit, beherrscht sein würden. 53 Der "Gesetzmäßigkeit" des historischen Materialismus entsprach es, den Idealtypus der "sozialistischen Persönlichkeit" und nicht den autonom zwischen Handlungsvarianten wählenden Menschen zum Ausgangspunkt und zum Maßstab seiner Staatskonstruktion zu machen. Der kommunistischen Staat sah seine Bürger, wie Valentin Petev feststellt, nicht als "die Mitglieder der Gesellschaft, so wie sie sind oder sich unter den neuen sozialen und politischen Umständen entwickeln werden, sondern [als] Individuen mit präformierter und im vorhinein angebbarer Persönlichkeitsstruktur,,54. Nach dem etatistischen Konzept der alle gesellschaftlichen Institutionen durchdringenden Staatspartei sollte die Stellung des Individuums vollständig in der allgemeinen Gesellschaftlichkeit aufgehen. Gegenüber dem allgewaltigen Staat konnten individuelle Rechte nur insoweit Geltung beanspruchen, als sie sich im Gleichklang mit den gesamtgesellschaftlichen Zielen befanden. 55 Sollte ausnahmsweise ein Konflikt zwischen persönlichen und gesellschaftlichen Interessen auftreten, so handele es sich hierbei um einen nicht-antagonistischen Widerspruch, der darauf zurückzuführen sei, daß das Individuum seine eigenen Interessen noch nicht richtig erkannt habe. Von Karl Polak stammt die folgende idealtypische Beschreibung: "Das Individuum wird eins mit der gesellschaftlichen Entwicklung, und seine persönlichen Energien entfalten sich in der Richtung der Entwicklung seiner Gesellschaft. Für die sozialistische Gesellschaft gilt es also nicht, den einzelnen vom Staate abzugrenzen. Die Grundlage des Staatsrechts kann nicht die Konstituierung von Individualrechten gegenüber dem Staat sein. In der sozialistischen Gesellschaft, in der Staat und Volk, Gesellschaft und Individuum eins geworden sind, kommt für das Staatsrecht alles darauf an, diese Einheit zu entwickeln, die Tätigkeit des Staates zu einer solchen Entfaltung zu bringen, wie sie den Entwicklungsgesetzen des Volkes selbst sowie des Individuums entspricht. Die Wissenschaft muß als ihre Grundlage die Entwicklung selbst durch die proletarische Staatsrnacht herausarbeiten. Bei der Herausarbeitung dieser Grundsätze tappt der Forscher nicht im dunkeln, diese Grundsätze sind erkannt. Auf ihnen baut unsere staatliche Praxis auf. Durch die Orientierung auf unsere revolutionäre sozialisti52 Valentin Petev, Rechtstheoretische Aspekte des Schutzes individueller Rechte und Interessen in der sozialistischen Gesellschaft, in: Klaus Westen u. a. (Hrsg.): Der Schutz individueller Rechte und Interessen in sozialistischen Staaten, S.1l-33 (12). 53 Petev, ebenda. 54 Petev, ebenda. 55 Die Gründungsverfassung setzte dies zwar voraus, sprach es jedoch noch nicht offen aus. Erst die Staatsratsverfassung von 1968 stellte in ihrem Artikel 2 Absatz IV fest, daß die "Übereinstimmung der politischen, materiellen und kulturellen Interessen der Werktätigen und ihrer Kollektive mit den gesellschaftlichen Erfordernissen ... die wichtigste Triebkraft der sozialistischen Gesellschaft" sei.

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sche Praxis bekommt auch unsere sozialistische Wissenschaft den festen Boden des Marxismus-Leninismus, der materialistischen Dialektik unter die Füße."

Anders als in der liberalen Demokratie, der das theoretische Konzept einer "offenen, antinomischen, von permanenten (Interessen-)Gegensätzen und möglichen Machtmißbräuchen sowie entsprechenden Rechtsschutzmechanismen gekennzeichneten Gesellschaft" zugrunde liegt56, ging die marxistisch-leninistische Ideologie vom Idealbild einer konfliktfreien bzw. konfliktarmen, von wirtschaftlicher und sozialer Deklassierung und staatlicher Machtausübung befreiten, solidarischen Gesellschaft aus. 57 Diese Überlegung trug weitreichende Implikationen für den Bereich des öffentlich-rechtlichen Rechtsschutzes in sich, da sich unter Zugrundelegung des Dogmas der Interessenidentität die Lesart der in den Art. 6 ff. der Gründungsverfassung niedergelegten "Freiheitsrechte" veränderte. Auch wenn diese Grundrechte teilweise wörtlich der Weimarer Reichsverfassung 56 Rechtsgutachten Roggemann in: Hubert Rottleuthner (Hrsg.), Das HavemannVerfahren (Anm. 24), S. 213 f., m. w. N. 57 Mit dieser Vorstellung eng verwobenen ist die - ambivalente - marxistischleninistische These vom "Absterben des Staates", welche im Verlaufe der Entwicklung der marxistisch-lenistischen Theorie vielfachen Wandlungen unterworfen war. Ursprünglich (1873) prophezeite Friedrich Engels, "daß der politische Staat und mit ihm die politische Autorität im Gefolge der nächsten sozialen Revolution verschwinden werden, und das bedeutet, daß die politischen Funktionen ihren politischen Charakter verlieren und sich in einfache administrative Funktionen verwandeln werden, die die wahren sozialen Interessen hüten". Diese Position konkretisierte er 1880 wie folgt: "An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht abgeschafft, er stirbt ab." Lenin interpretierte die Engels'sche These 1917 so: Der bürgerliche Staat stirbt nach Engels nicht ab, sondern er wird in der Revolution vom Proletariat aufgehoben. Nach dieser Revolution stirbt der proletarische Staat oder Halbstaat ab." Stalin kehrte ihren Sinn 1933 anläßlich der Erörterung der Ergebnisse des ersten Fünfjahresplans geradezu um, indem er bemerkte: "Die Aufhebung der Klassen wird nicht durch das Erlöschen des Klassenkampfes, sondern durch seine Verstärkung erreicht. Das Absterben des Staates wird nicht durch Schwächung der Staatsrnacht erfolgen, sondern durch ihre maximale Verstärkung, die notwendig ist, um die Überreste der sterbenden Klassen zu vernichten und die Verteidigung gegen die kapitalistische Umkreisung zu organisieren, die noch bei weitem nicht beseitigt ist und noch nicht so bald beseitigt sein wird." Auch für die Verfasser des (zweiten) Verwaltungsrechtslehrbuchs der DDR (von 1979) war die Überwindung des Staates kein aktuelles Thema. Hierin hieß es: "Das Verwaltungsrecht als Zweig des einheitlichen sozialistischen Rechts der DDR ist untrennbar mit dem Wirken des Staatsapparats verbunden. Mit der gesetzmäßig wachsenden Rolle des sozialistischen Staates, der das Hauptinstrument des von der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei geführten werktätigen Volkes bei der weiteren Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft und damit der Schaffung grundlegender Voraussetzungen für den allmählichen Übergang zum Kommunismus darstellt, ergeben sich folgerichtig auch immer höhere Anforderungen an die Tätigkeit des Staatsapparates." 10 Hoeck

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

entsprachen (und manche sogar auf das Werk der Paulskirche zurückgingen), war ihr Charakter dennoch ein ganz anderer, da sich die jeweiligen Verfassungsgeber von einer geradezu entgegengesetzten Grundrechtstheorie 58 leiten ließen. Im Bereich der Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation entfaltete das Dogma der Interessenidentität ein erhebliches Wirkungspotential, was zur Folge hatte, daß die Tauglichkeit der Grundrechte als Abwehrrechte gegen den Staat weitgehend aufgehoben wurde. Ein Vergleich der liberalen Grundrechtstheorie, wie sie der formal als Vorbild dienenden Weimarer Reichsverfassung zugrunde gelegt wurde, mit der für die Gründungsverfassung maßgeblichen sozialistischen Grundrechtstheorie verdeutlicht diesen Aspekt: Die liberale Grundrechtstheorie begreift die Grundrechte in erster Linie als Freiheitsrechte des einzelnen gegenüber dem Staat. 59 In diesem Sinne stellen die Grundrechte als Freiheitsrechte Normen der Kompetenzverteilung zwischen Individuen (Gesellschaft) und Staat dar: "Sie grenzen den Bereich, in dem die einzelnen und ihre sozialen Gebilde selbst für die Verhaltensregulierung und Leistungsorganisation zuständig sind, ab und [gehen] aus von dem Bereich herrschaftlich-politischer Verhaltensregulierung und Leistungsorganisation durch den Staat in den Formen staatlichhoheitlichen Handeins; sie enthalten negative Kompetenznormen (Ausgrenzungen) für die Betätigung der Staatsgewalt. ,,60 Ideengeschichtlich findet diese Auffassung ihre Grundlage in der Überzeugung, daß die grundrechtliche Freiheit durch den Staat nicht konstituiert werde, sondern ihm, rechtlich gesehen, voraus liege. 61 Hieraus leitet sich ab, daß die Befugnis des Staates zum Eingriff in diese "vor-staatliche" Freiheitssphäre prinzipiell begrenzt sei und nur in Hinblick auf die Gewährleistungs-, Regulierungs- und Sicherungsaufgaben des Staates für die Freiheit und nur soweit diese Zwecke reichen, bestehe. 62 58 Vgl. zum Begriff Emst- Wolfgang Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, NJW 1974, S. 1529-1538 (1529): "Grundrechtstheorie bedeutet (... ) eine systematisch orientierte Auffassung über den allgemeinen Charakter, die normative Zielrichtung und die inhaltliche Reichweite der Grundrechte. (... ) Es ist ihre Funktion, die Interpretation der einzelnen Grundrechtsbestimmungen nicht allein einer an detaillierten Gesetzesregelungen ausgebildeten juristischen Technik zu überlassen, sondern in den Gesamtzusammenhang einer Staatsauffassung (bzw. einer) Verfassungstheorie zu stellen. (... ) Die Interpretation der Grundrechte von einer Grundrechtstheorie her ist so nicht eine ,ideologische' Zutat des jeweiligen Interpreten, die bei korrekter Anwendung der juristischen Interpretationsmittel vermeidbar wäre. Sie hat ihre Grundlage in dem dargelegten lapidaren und, gesetzestechnisch gesehen, durchaus fragmentarischen Charakter der Grundrechtsbestimmungen. " 59 Emst-Wolfgang Böckenförde (vorangehende Anmerkung), S. 1530. 60 Böckenförde, ebenda. 61 Böckenförde, ebenda. 62 Böckenförde, ebenda.

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Ob andererseits der Grundrechtsträger von seinem Recht Gebrauch macht, auf welche Art und Weise und zu welchen Zwecken er dies tut, bleibt ihm selbst überlassen und ist jedenfalls nicht Sache des Staates. 63 "Die durch die einzelnen Grundrechte gewährleistete Freiheit ist Freiheit schlechthin, nicht Freiheit zu bestimmten Zwecken (Förderung des demokratisch-politischen Prozesses, Werteverwirklichung, Integration des politischen Gemeinwesens u. ä.).,,64 Eine (durch den Staat vorzunehmende) Differenzierung des Freiheitsumfanges nach der jeweiligen Intention des Grundrechtsträgers verbietet sich nach der liberalen Grundrechtstheorie "Was Freiheit ist, kann nämlich in letzter Instanz nur derjenige entscheiden, der frei sein soll. Sonst ist es nach allen menschlichen Erfahrungen mit der Freiheit schnell zu Ende.,,65 Als logische Folge aus dem Abwehr- und Ausgrenzungscharakter der Grundrechte bleibt die tatsächliche Realisierung der grundrechtlichen Freiheit der individuellen und gesellschaftlichen Initiative überlassen: Die Grundrechte schützen den einen - vorstaatlichen - Bereich individueller und gesellschaftlicher Freiheit vor staatlicher Beeinträchtigung und Eingriffsreglementierung, wohingegen die Aktualisierungskompetenz bei den einzelnen und der Gesellschaft selbst verbleibt. 66 Ganz anders verhält es sich dagegen mit dem Charakter und der Reichweite der Grundrechte nach der sozialistischen Grundrechtstheorie. Ausgangspunkt für die Inhaltsbestimmung der Grundrechte ist hier die Überlegung, daß nicht mehr der normative Inhalt der einzelnen Grundrechte das Grundverhältnis zwischen Bürger und Staat bestimme, sondern umgekehrt das neue (sozialistische) Grundverhältnis von Bürgern und Staat den normativen Inhalt der Grundrechte. 67 An dieser Stelle entfaltet das Dogma der Interessenidentität seine ganz wesentliche Wirkung, indem es an die Stelle des "bürgerlichen" Antagonismus die Hypothese eines von objektiver Übereinstimmung der Interessen geprägtes Grundverhältnis zwischen Bürger und Staat setzt und die Notwendigkeit der grundrechtlichen Abwehrfunktion mit der Begründung verneint, daß die Entfremdung zwischen dem einzelnen und dem Staat seit der proletarischen Revolution aufgelöst sei. 68 "Infolgedessen ist nicht mehr die Trennung des einzelnen von der Gesellschaft, d.h. die rechtliche Sicherung einer staatsfreien Privatsphäre, sondern die bewußte Einfügung in die Gesellschaft und die aktive Mitwirkung am gesellschaftlichen Prozeß der Inhalt der Entfaltung des individuellen MenschBöckenförde, ebenda. Böckenförde, ebenda. 65 earl Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 167. 66 Emst-Wolfgang Böckenförde (Anm. 58), S. 1531. 67 Emst-Wolfgang Böckenförde, Die Rechtsauffassung im kommunistischen Staat, S.44. 68 Böckenförde, ebenda. 63

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seins. Die Wirklichkeit der menschlichen Freiheit liege in der Einsicht und aktiven Realisierung der gesellschaftlichen Notwendigkeit.,,69 Nach der sozialistischen Grundrechtstheorie haben die Grundrechte somit ihren Charakter als "negative Ausgrenzungsnormen" verloren und erhalten eine den sozialistischen Gesellschaftszweck fördernde, partizipative und integrative Funktion. Nicht mehr Freiheit schlechthin garantieren die Grundrechte, sondern Freiheit zu einem bestimmten sanktionierten Zweck verbürgen die Grundrechte, etwa zur Bewußtmachung der Interessenübereinstimmung zwischen Individuum und Gesellschaft, zur Beteiligung des einzelnen an der Leitung der Wirtschaft, der Kultur und des Staates oder zur Optimierung der Leistung des Bürgers im Reproduktionsprozeß. 7o Die Annahme eines vorstaatlichen Freiheitsraumes ist dem historischen Materialismus naturgemäß wesensfremd, überhaupt gilt ihm eine "staatsfreie Sphäre, in der der einzelne seiner privaten Willkür nachgehen kann", als "kleinbürgerliche Vorstellung und Illusion,,7]. Statt dessen vollziehe sich ein Wandel im Grundrechtsverständnis von der Annahme einer konservierenden, individuelle staatsfreie Räume bewahrenden Funktion hin zu einer freisetzenden und gestalterischen Zweckbestimmung im Sinne des Aufbaus der sozialistischen Gesellschaft. In diesem Sinne formulierte Walter UIbricht: "Die Mitwirkung an der bewußten Gestaltung des gesamten wirtschaftlichen, kulturellen und vor allem politisch-staatlichen Lebens unserer Republik ist daher das entscheidende, grundlegende Recht der Bürger unserer Republik. ,,72 In diesem Sinne dienten die Grundrechte nicht mehr in erster Linie dem einzelnen zur Durchsetzung seiner Ansprüche gegen den Staat, sondern umgekehrt als Anspruchsgrundlage der sozialistischen Gesellschaft für Inanspruchnahme des einzelnen zur Festigung ihrer Grundlagen. Folgerichtig wurde später versucht, die Verschmelzung von Grundrechten und Grundpflichten auch begrifflich klarzustellen: Auf der Tagung der Sektion Staatstheorie und Staatsrecht am 6. Juni 1961 wurde erwogen, den Begriff "Grundrechte" durch den Terminus "sozialistische Persönlichkeitsrechte" zu ersetzen, um die Überwindung des Gegensatzes zwischen dem Böckenförde, ebenda. Böckenförde (Anm. 67), S. 45, m. w.N. 71 Hermann Klenner, Studien über Grundrechte, S. 52. 72 Walter Ulbricht in einer Erklärung gegenüber der Volkskammer der DDR, zit. nach Willi Büchner-Uhder und Eberhard Pappe, Die weitere Entfaltung der Grundrechte der Bürger im Kampf um die Sicherung des Friedens durch Stärkung der ökonomischen Grundlagen der DDR, in: Staat und Recht 1962, S. 1045 ff. (1057). Folgerichtig sah später die Staatsratsverfassung von 1968 ein allgemeines Mitbestimmungs- und Mitgestaltungsrecht in gesellschaftlichen und staatlichen Angelegenheiten vor, das als eine Art sozialistisches Muttergrundrecht angesehen wurde, aus dem alle übrigen Grundrechte abgeleitet werden können. 69

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einzelnen und dem Staat sowie den Funktionsgehalt der Grundrechte - Bildung sozialistischer Persönlichkeiten - zum Ausdruck zu bringen. 73 Andere Vertreter der DDR-Rechtswissenschaft versuchten die "Denaturierung der Grundrechte" (Georg Brunner) gar so weit voranzutreiben, daß den Grundrechten der Rechtscharakter an sich abgesprochen wurde?4 Zwar konnten sich derartig weitgehende Überlegungen letztendlich nicht durchsetzen. Vorherrschend blieb indes ein Grundrechtsverständnis, das nicht mehr durch den einer Verfassung mit ausgesprochen liberalem Gepräge zugrunde liegenden Gedanken eines polaren Verhältnisses des einzelnen zum Staat bestimmt war, sondern davon ausging, daß "die Tätigkeit des Staates die Grundrechte verwirkliche und daß dabei der Gemeinschaft das Primat zuerkannt wurde" (Siegfried Mampel).

d) Das Prinzip der sozialistischen Gesetzlichkeit Obschon die "sozialistische Gesetzlichkeit" als explizites Verfassungsprinzip erst in der Staatsratsverfassung75 Anklang fand, befand sich auch Artikel 138 der Gründungsverfassung in ihrem Gravitationsfeld, wie auch die verschiedenartigen Ansätze zur Etablierung einer Verwaltungskontrolle - sei sie nun gerichtsförmig oder nicht - maßgeblich von ihren Vorgaben als "parteilicher, klassenkämpferischer Generalvorbehalt der SED-Diktatur,,76 geprägt waren. EntstehungsgeschichtIich ging das Institut zurück auf die "revolutionäre Gesetzlichkeit", welche in der Oktoberrevolution ihre erste Ausprägung erfuhr und fortan ständiger Wandlung unterworfen war. 77 Im Zuge der Oktoberrevolution wurden, die traditionelle Rechtsfeindschaft des zaristischen Rußlands ausnutzend, bestehende rechtsstaatIiche Formen und Anschauungen in beispielloser Weise ausgerottet: "Das überkommene Recht wurde in einem gigantischen und in der Rechtsgeschichte einmaligen Akt totaliter aufgehoben und an seiner Stelle das ,sozialistische Rechtsbe73 Georg Brunner, Die Schranken der Grundrechte in der Bundesrepublik und in der Sowjetzone, Jahrbuch für Ostrecht 1964, S. 83-96 (9i). 74 Vgl. hierzu etwa die Feststellung Gerhard Haneys in seinem Artikel "Das Recht der Bürger und die freie Entfaltung der Persönlichkeit" (Staat und Recht 1962, S. 1063-1080, 1069): ,,(Die Grundrechte) als Rechte des einzelnen gegenüber der Gesellschaft oder gegenüber einem bestimmten engeren Kollektiv oder gar gegenüber einzelnen anderen Personen aufzufassen, würde die Stellung der Bürger falsch interpretieren." 75 Dort Art. 3 Abs. 2 S. 2. 76 Adolf Laufs, Ein Jahrhundert wird besichtigt, Juristische Schulung 2000, Heft 1, S. 1-10 (9). 77 earl Hermann UZe, Gesetzlichkeit in der Verwaltung durch Verwaltungsverfahren und gerichtliche Kontrolle in der DDR, Deutsches Verwaltungsblatt 1985 (Heft 19), S. 1029-1041 (1029).

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wußtsein' zur Richtlinie für die Entscheidungen der Gerichte und damit zur Rechtsquelle gemacht.,,78 Ursprünglich bedeutete der Begriff, daß alle Gesetze und Verordnungen nur insoweit Anwendung finden, als sie im konkreten Falle mit den Zielen des revolutionären Sowjetstaates übereinstimmen. 79 Im Zuge der stärkeren wissenschaftlichen Durchdringung der Rechtsmaterie aus marxistisch-leninistischer Perspektive und der stetigen Anpassung des Rechts an die gesellschaftlichen und ökonomischen Erfordernisse ging aus der "revolutionären" später die "sozialistische Gesetzlichkeit" hervor, welche als "Grundbegriff der marxistisch-leninistischen Rechtslehre" (earl Hermann Ule) den ideologischen Rahmen der Rechtsordnung der DDR wie auch aller anderen sozialistischen Staaten bilden sollte. 8o Die Grundlage des Begriffs der "sozialistischen Gesetzlichkeit" bildete die auf Karl Marx und Friedrlch Engels zurückgehende Interpretation des Rechts als "zum Gesetz erhobenen Willen der herrschenden Klasse,,81. Nach den Anschauungen der marxistisch-leninistischen "Gesetzmäßigkeit" besaß das Recht keinen Eigenwert (und schon gar keinen eigenen Gerechtigkeitswert) und war auch nicht dazu bestimmt, dauerhaft eine gesellschaftliche Aufgabe zu erfüllen. Vor dem Hintergrund der "These vom Absterben des Staates" beruhte das Recht seinem Wesen nach auf dem Gegenleistungsprinzip und verwirkte damit seine Existenzberechtigung, sobald die sich in der Endphase des Kommunismus gesetzmäßig einstellende Verteilung des Sozialproduktes nach den Bedürfnissen erreicht werden würde. 82 Solange die historischen Gesetzmäßigkeiten für die Etablierung der konfliktfreien kommunistischen Zukunftsgesellschaft jedoch noch nicht vorlagen, hatte das Recht auch im sozialistischen Staat seine Legitimation als Hebel der gesellschaftlichen Entwicklung. Somit tat sich bereits unter Lenin ein Widerspruch zwischen dem utopischen Entwurf von Marx und Engels und der

Ule, ebenda. Ule, ebenda. 80 Ule, ebenda. 8! Die Fonnel wurde später durch die berühmte Definition des Generalstaatsanwalts der UdSSR und Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR Andrej J. Wyschinski präzisiert. Seine Definition lautete (1937): "Recht ist die Gesamtheit der Verhaltensregeln, die den Willen der herrschenden Klasse ausdrücken und auf gesetzgeberischem Wege festgelegt sind, sowie der Gebräuche und Regeln des Gemeinschaftslebens, die von der Staatsgewalt sanktioniert sind. Die Anwendung dieser Regeln wird durch die Zwangsgewalt des Staates gewährleistet zwecks Sicherung, Festigung und Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse und Zustände, die der herrschenden Klasse genehm und vorteilhaft sind." (Zit. nach EmstWolfgang Böckenförde, Die Rechtsauffassung im kommunistischen Staat, S. 27 f.). 82 Vgl. Friedrich-Christian Schroeder, Die Übernahme der sozialistischen Rechtsauffassung in ihrer Stalinschen Ausprägung in der SBZIDDR, in: Neue Justiz 1991, S. 201-205 (201). 78

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kommunistischen Rechtstheorie und -praxis auf, der auch für die Rechtsauffassung in der DDR mitbestimmend werden sollte. 83 Der sozialistische Staat brauchte das Recht, um es für eine Übergangsperiode unbestimmt langer Dauer - solange das Verhalten der einzelnen und ihrer Kollektive dem utopischen Entwurf konfliktbefreiter, klassenloser Gesellschaft noch nicht entsprach - als Mittel zur zwangsweisen Durchsetzung von Staatsgewalt mit dem Ziel "nachholender, beschleunigter Gesellschaftsumgestaltung" einzusetzen. 84 Als "Mittel und Hebel zur bewußten Gesellschaftsgestaltung mit dem Ziel der Durchsetzung von sozialistischen Gesellschaftsverhältnissen" kam dem Recht die Funktion zu, den revolutionären Prozeß von sich aus voranzutreiben. 85 Der sich hieraus ergebende Instrumentalcharakter des Rechts zur Realisierung des politischen Führungsanspruchs der Staatspartei und zur Verwirklichung ihrer politischen Zielsetzungen führte zu der Formel, im Rechtsstaat herrsche das Primat des Rechts über die Politik, im sozialistischen Staat dagegen das Primat der Politik über das Recht. 86 83 Unter der Herrschaft Josef Stalins sollte dieser Widerspruch für die wissenschaftlichen Verkünder der These des Absterbens des Staates sogar tödliche Folgen haben. Im Zuge der Reinigungswelle von 1937/38 wurden sie wegen "Sabotage" angeklagt und hingerichtet, da sie versucht hätten, dem Sowjetstaat mit der Propagierung ihrer Auffassung das Rechts als seine schärfste Waffe zur Bekämpfun~. von Gegnern aus der Hand zu schlagen. (Vgl. Friedrich-Christian Schroeder, Die Ubernahme der sozialistischen Rechtsauffassung in ihrer Stalinschen Ausprägung in der SBZIDDR, in: Neue Justiz 1991, S. 201-205 (202). 84 Rechtsgutachten Roggemann in: Hubert Rottleuthner (Hrsg.), Das HavemannVerfahren (wie Anm. 24), S. 214. 85 Ebenda. 86 Herwig Roggemann billigt dieser Formel in seinem den Forschungsstand zu den Grundlagen der Justiz der DDR zusammenfassenden Gutachten im HavemannProzeß zu, zwar vereinfachend, im Kern jedoch zutreffend zu sein, da das sozialistische Recht "seinem Wesen nach nicht - wie jedes Recht - auch Mittel und Moment der Politik", sondern dies ganz überwiegend gewesen sei. "Seine zentrale, die Politik begrenzende Funktion war schwach und fehlte weithin ganz." Dagegen wurde die Differenzierung in "Rechtsstaat" und "Machtstaat" von DDR-Wissenschaftlern überwiegend für unzulässig gehalten. In diesem Sinne merkt Karl August Mollnau in seinem Aufsatz "Sozialistischer Rechtsstaat (Versuch einer Charakterisierung)" an: "Wenn wir die Dinge so betrachten, dann begreifen wir auch, daß der Begriff ,Rechtsstaat' keine Alternative zum Begriff ,Machtstaat', sondern eine Unterkategorie von Machtstaat ist. Insofern ist auch die von bürgerlichen Ideologen immer propagierte These von der Souveränität des Rechts über den Staat falsch und demagogisch. Daß es sich hier um politisch sensible Probleme handelt, wird klar, wenn wir bedenken, daß die gegnerische Strategie darauf aus ist, die Machtfrage auf dem Wege über die Rechtsstaatlichkeit aus dem Recht des Sozialismus und darüber hinaus aus der sozialistischen Staats- und Rechtsordnung möglichst zu eliminieren, mindestens aber doch in ihrer Bedeutung mächtig zurückzuschneiden. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Rechtsstaat weist auf die enge Verzahnung von Staat und Recht, Macht und Recht auf gleichgewichtiger Ebene hin und macht eine differen-

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Als Teil des Überbaus reflektierten die Rechtsnormen lediglich die objektiven Gesetzmäßigkeiten der ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung und dienten gleichermaßen als Instrument, diese objektiven Gesetzmäßigkeiten zu verwirklichen. 87 Da das Erkenntnismonopol hinsichtlich der Feststellung des erreichten Stadiums im gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß nach der marxistisch-leninistischen Staatslehre der Partei der Arbeiterklasse zufiel, standen Rechtsnormen von vornherein unter dem Vorbehalt einer konformen Auslegung zu den Beschlüssen der SED. Nicht zuletzt hieraus ergab sich das "Fehlen von Beständigkeit, Dauer, Gewißheit und Vorhersehbarkeit", welches Ernst-Wolfgang Böckenförde bereits 1966 als Strukturmerkmal des sozialistischen Rechts konstatierte. 88 Während das Recht sich korrespondierend zur gesellschaftlichen Entwicklungslage automatisch umbildete, bedurfte das Gesetz als dessen "starre Fixierung" hierzu der fortwährenden Interpretation. 89 Ziel war, dabei stets die "Synthese aus Gesetzesregel und konkreter gesellschaftlicher Lage" herbeizuführen. 9o Das "Prinzip der sozialistischen Gesetzlichkeit" diente hierzu als Mittel. Für den Rechtsschutz des Bürgers ergab sich zunächst, daß sich sozialistische Gesetzlichkeit und Rechtssicherheit zumindest prinzipiell nicht ausschlossen. 91 Vielmehr sollte die sozialistische Gesetzlichkeit auch Individualrechtsschutz gewähren, jedoch nur insoweit das Rechtsbegehren des Bürgers mit den Erfordernissen der sozialistischen Gesellschaft in Einklang gebracht werden konnte. 92 Funktion des Rechtsschutzes sollte es demnach nicht sein, den Schutz persönlicher Interessen gegen Beeinträchtigungen ziertere Betrachtung dieser Verzahnung unter den konkreten Bedingungen des Sozialismus, der sich auf seinen eigenen Grundlagen entwickelt, notwendig." (Neue Justiz 1989, S. 393-397, 397). 87 Mollnau, ebenda. 88 Emst-Wolfgang Böckenförde, Die Rechtsauffassung im kommunistischen Staat, S.41. 89 Böckenförde, ebenda. 90 Böckenförde, ebenda. 91 Später sollte die Staatsratsverfassung beide Begriffe sogar ausdrücklich miteinander verbinden. So normierte Artikel 19 Absatz I der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 6. April 1968 (in der Fassung des Gesetzes zur Ergänzung und Änderung der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1974): "Die Deutsche Demokratische Republik garantiert allen Bürgern die Ausübung ihrer Rechte und ihre Mitwirkung an der Leitung der gesellschaftlichen Entwicklung. Sie gewährleistet die sozialistische Gesetzlichkeit und Rechtssicherheit. " 92 In diesem Sinne auch die Definition Hilde Benjamins, (Neue Justiz 1958, S. 437, sowie dies. Neue Justiz 1958, S. 368): "Das Wesen der sozialistischen Gesetzlichkeit besteht in der dialektischen Einheit der Gesetze und Parteilichkeit ihrer Anwendung (... ) Das Gesetz parteilich anwenden heißt, es so anzuwenden, wie es der Auffassung der Mehrheit der Werktätigen und damit den Zielen der Partei der Arbeiterklasse und der Regierung entspricht".

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durch die öffentliche Gewalt zu gewährleisten, sondern die Integration der persönlichen in die gesellschaftlichen Interessen vorzunehmen. 93 In diesem Sinne sollte dem Rechtsschutz die erzieherische Aufgabe zukommen, den Bürger in den Stand zu versetzen, seine Interessen richtig zu erkennen. Hieraus ließen sich im einzelnen folgende Charakteristika des sozialistischen Rechtsschutzes ableiten: ,,1. Der Rechtsschutz ist ein Bestandteil des revolutionären Umgestaltungsprozesses der Gesellschaft, der sich unter der Führung der SED den objektiven Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung entsprechend vollzieht. 2. Der Rechtsschutz ist keine negative, konservierende und absichernde, sondern eine positive, gestaltende und freisetzende Tätigkeit. 3. Der Rechtsschutz ist in erster Linie ein Vorgang der Vergesellschaftung des Menschen. Aus dieser gesellschaftlichen Funktion wird gefolgert, daß der Rechtsschutz unter keinen Umständen einen Rechtsschutz des einzelnen gegenüber dem sozialistischen Staat und der Gesellschaft darstellen könne, sondern den einzelnen an seine gesellschaftliche Aufgabe heranführen müsse.,,94

Im Unterschied zu der überlieferten deutschen Rechtstradition, das Recht im Grunde nicht als schöpferisch, sondern als bewahrend und abwehrend anzusehen95 , wurde ihm in der kommunistischen Staatslehre dann eine ausschließlich schöpferische Rolle zugeschrieben, wenn es sozialistisch geworden ist. 96 Aus diesem Grunde konnte die Rechtsverwirklichung auch nicht mehr als Privatsache aufgefaßt, noch die Geltendmachung einer Rechtsverletzung allein dem Belieben des einzelnen überlassen werden. Denn eine solche Auffassung über den Schutz der Rechte der Bürger wäre nicht genügend auf die Überwindung der Spontaneität gerichtet gewesen und hätte die Ausübung der Rechte der Bürger als Privatangelegenheit des einzelnen erscheinen lassen. 97 "Spontanes" Handeln galt aber im sozialistischen Staat als bürgerlich-anarchisch, daher mußte eine "sozialistische Ordnung" dem Wirksamwerden spontaner Elemente "den Weg verlegen,,98. Dagegen sollte die sozialistische Ordnung Raum geben "für die bewußte schöpferische Tätigkeit der Massen", wobei unter "bewußtem Handeln" die disziplinierte Mitarbeit an der Verwirklichung der objektiven Gesetzmäßigkeiten, wie sie in den Beschlüssen der Arbeiterpartei und der von ihr gelenkten Staats93 Georg Brunner, Das System des öffentlich-rechtlichen Rechtsschutzes in der DDR, S. 101. 94 Vgl. Günter Baranowsky, Der Schutz der Rechte der Bürger und die Formung der sozialistischen Persönlichkeit, Jenaer Diss. iur. 1965, S. 113 f. 95 Georg lellinek, Allgemeine Staatslehre (1905), S. 250. 96 Siegfried Mampel, Über die Bedeutung der Staatslehre des Marxismus-Leninismus für die verfassungsrechtliche Entwicklung in Mitteldeutschland, Recht in Ost und West 1960, S. 45-51 (46). 97 Mampel, ebenda. 98 Bullinger (Anm. 26), S. 101-120 (104).

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organe offengelegt wird, zu verstehen ist. 99 Auf diese Weise wurde der einzelne vom Subjekt zum Objekt des Rechtsschutzes und der Rechtsschutzgedanke in sein Gegenteil verkehrt.

11. Die sozialistische Verwaltung der DDR Im Rahmen der Verwirklichung der "Diktatur des Proletariats" fiel der Staatsverwaltung naturgemäß eine Schlüsselrolle zu. Das in den fünfziger Jahren maßgebliche Lehrbuch des sowjetischen Verwaltungsrechts definierte die sozialistischen Verwaltung formelhaft als "die vollziehend-verfügende Tätigkeit der staatlichen Organe auf der Grundlage und in Durchführung der Gesetze, die unter der Leitung der Partei der Arbeiterklasse die Aufgaben der Vollendung des Aufbaus des Sozialismus und des allmählichen Übergangs vom Sozialismus zum Kommunismus praktisch löSt."IOO Der Terminus der vollziehend-verfügenden Tätigkeit wurde in der DDR fortan als Synonym für den - im Unterschied zu anderen sozialistischen Staaten gemiedenen - Begriff der Staatsverwaltung verwandt. Die Paraphrase "vollziehend- verfügend" suggeriert zweierlei: Das Element ,,vollziehen" betonte die rechtlich-politischen Bindungen hoheitlichen Handeins, besonders bei der Vornahme von Realakten. 101 "Verfügen" deutete dagegen auf einen größeren Handlungsspielraum hin und galt vor allem für Rechtsakte. 102 Im Verlauf der fünfziger Jahre wurde der Verwaltungsapparat der DDR konsequent auf der Grundlage des Prinzips des "demokratischen Zentralismus" umgestaltet. 1. Theoretische Grundlagen

Eine ähnlich beherrschende Funktion, wie sie im Bereich der Justiz das Prinzip der sozialistischen Gesetzlichkeit innehatte, kam im Bereich der Verwaltung dem Prinzip des demokratischen Zentralismus zu. Diese Grundnorm der sozialistischen Verwaltungstheorie wurde bei allen verwaltungstheoretischen Überlegungen vorausgesetzt und diente als Generalvorbehalt wie als Generalrechtfertigung gleichermaßen. Auch der Begriff des demokratischen Zentralismus läßt sich bis auf die Zeit unmittelbar vor der Oktoberrevolution zurückverfolgen, wo er erstmals in Lenins Schrift "Staat und Ebenda. S. S. Studenikin, W. A. Wlassow, I. I. Jewtichijew, Sowjetisches Verwaltungsrecht - Allgemeiner Teil in der Übersetzung des Deutschen Instituts für Rechtswissenschaft (1954), S. 13. 101 Georg Brunner, Die Verwaltung in der SBZ und DDR, in: Kurt Jeserich u. a. (Hrsg.): Deutsche Verwaltungsgeschichte, Band V, S. 1219-1282 (1222). 102 Brunner, ebenda. 99

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Revolution" als demokratitscheskij zentralism Erwähnung fand. 103 Lenin wies dem demokratischen Zentralismus die Aufgabe zu, als zentrales Bindeglied die "Einheit im Grundlegenden, im Wichtigsten, im Wesentlichen (... ) nicht gestört, sondern gesichert durch die Mannigfaltigkeit der Einzelheiten, der lokalen Besonderheiten, der Methoden des Herangehens an die Dinge, der Methoden der Durchführung der Kontrolle" herbeizuführen. 104 In der politischen Praxis sollte das Prinzip des demokratischen Zentralismus gewährleisten, daß das Gesamtgeschehen in Staat und Gesellschaft mit den sogenannten objektiven Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung in Einklang steht, die von der Partei der Arbeiterklasse erkannt, bewußtgemacht und über die Regierung als ihr Instrument planmäßig durchgesetzt werden. 105 Wesentliche Merkmale des demokratischen Zentralismus waren a) Wählbarkeit und Absetzbarkeit der Funktionäre des Staatsapparates; b) Unterordnung und Rechenschaftspflicht des unteren Apparates gegenüber dem übergeordneten und Rechenschaftspflicht der Organe der staatlichen Verwaltung gegenüber den Sowjets; c) unbedingte Verbindlichkeit der Akte der übergeordneten Organe für die unteren. 106

Vom sog "bürokratischen" unterschied sich der "demokratische Zentralismus" zumindest in der sozialistische Rechtstheorie dadurch, daß "die Zentralisierung der Verwaltung mit der größtmöglichen Entfaltung der örtlichen Initiative und der schöpferischen Tätigkeit der breiten Massen der Werktätigen" einhergehe 107, daß also mit anderen Worten nicht einfach von oben nach unten kommandiert wird, sondern die werktätigen Massen zur aktiven Verwirklichung der zentral gesetzten Ziele mobilisiert werden sollten. 108 Das Verhältnis von den zentralen zu den örtlichen Organen des Staatsapparats wurde dadurch charakterisiert, daß den zentralen Organen die Planung 103 Vgl. Alfons Galette, Der demokratische Zentralismus als Strukturprinzip der Verwaltung im kommunistisch beherrschten Teil Deutschlands, Jahrbuch für Ostrecht 1960, S. 41-67 (42) mit einer detaillierten Einordnung in die Ideengeschichte des Marxismus-Leninismus. 104 Wladimir I. Lenin, Werke, Bd. 26, S. 374 (zit. nach StudenikinlWlassow, wie Anm. 100, S. 94). 105 Bullinger (Anm. 26), S. 104. Das "Gesetz über die Vervollkommnung und Vereinfachung der Arbeit des Staatsapparates" von 1958 (GBI. I 1958, S. 117) bringt den Inhalt auf die prägnante Kurzformel: "Einheit von straffer zentraler Planung und Leitung und größtmöglicher Teilnahme der Werktätigen an der Leitung von Staat und Wirtschaft". 106 Diese Prinzipien gelten im übrigen für Staat und Partei gleichermaßen, vgl. etwa Ziffer 23 des auf dem VI. Parteitag der SED beschlossenen Statuts. 107 StudenikinlWlassow (Anm. 100), S. 94. 108 Bullinger (Anm. 26), S.105.

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und Leitung in den grundlegenden Fragen obliegen und deren operative Lösung den örtlichen Organen überlassen werden sollte. 109 Dabei wurden beide, der zentrale wie der örtliche Apparat als Teil des einheitlichen Staatsapparates angesehen. 110 Nach der marxistisch-leninistischen Rechtstheorie standen sie nicht im Gegensatz zueinander, sondern divergierten allein im unterschiedlichen Umfang ihrer Rechte und in dem unterschiedlichen Charakter ihrer Pflichten. 111 Die gesellschaftliche Fortentwicklung sollte dort ihren Ausgangspunkt nehmen, wo das jeweils höhere Organ in seiner Arbeit Impulse erhielt aus der wachsenden Initiative und Eigentätigkeit der unteren Organe und die Erfahrungen aus der staatlichen Arbeit verallgemeinert werden konnten. 112 In verwaltungstechnischer Hinsicht sollte der demokratischen Zentralismus durch das Organisationsprinzip der "doppelten Unterstellung" verwirklicht werden, welches erstmals unter Stalin Eingang in die sowjetische Verfassung von 1936 gefunden hatte. ll3 Demnach sollten die örtlichen Organe einerseits - vertikal zum Zwecke der Sicherung der einheitlichen Arbeit aller gleichartigen örtlichen Organe und zur Realisierung der Unterordnung ihrer Tätigkeit unter einen einheitlichen Plan und unter die Weisungen der zentralen Stellen und gleichermaßen - horizontal zum Zwecke der unmittelbaren Verbindung der Verwaltungen (Ministerien, Abteilungen, Räte) mit den Volksvertretungen

angeleitet werden. 114 Diese doppelte Unterstellung sollte nach der Doktrin die einheitliche Leitung eines bestimmten Verwaltungsbereichs durch ein zentrales Staatsorgan sichern und zugleich die Beachtung örtlicher Bedingungen und Erfordernisse durch Wahrnehmung staatlicher Machtorgane in den Territorien gewährleisten. 115 § 5 des Gesetzes über die örtlichen Organe der Staatsmacht bildete die entsprechenden Bestimmungen der StalinVerfassung sorgfältig nach. Somit wurde normiert, daß jede Volksvertretung

109 Vgl. den Beschluß der XVI. Konferenz der KPdSU: "Die systematische Untergliederung des Apparates muß auf der Linie der Dezentralisierung der operativen Hauptfragen vor sich gehen." (zit. nach. StudenikinlWlassow, wie Anm. 100, S. 95, m.w.N.). 110 Folgerichtig wurden die Selbstverwaltungskörperschaften durch das "Gesetz über die weitere Demokratisierung ... " vom 23.7.1952 (GBI. S. 613) aufgelöst und die zuvor mit dem Selbstverwaltungsrecht begabten Gemeinden und Kreise auch terminologisch auf "örtliche Organe der Staatsrnacht" reduziert. (Hierzu sogleich.). 111 StudenikinlWlassow (Anm. 100), S. 95. 112 StudenikinlWlassow, ebenda. 113 Klaus König, Zum Verwaltungssystem der DDR, in: ders. (Hrsg.), Verwaltungsstrukturen der DDR, S. 9-44, (29). 114 Bullinger (Anm. 26), S. 105. 115 König (Anm. 113), m.w.N.

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zunächst der Volksvertretung der übergeordneten Verwaltungsstufe untergeordnet ist. 2. Revision der territorialen Verwaltungsstrukturen Nachdem anläßlich der 11. Parteikonferenz der SED (9.-12. Juli 1952) der Eintritt der DDR in die Phase des "Aufbaus des Sozialismus" festgestellt worden war, erließ die Volkskammer am 23. Juli 1952 das "Gesetz über die weitere Demokratisierung des Aufbaus und der Arbeitsweise der staatlichen Organe in den Ländern der Deutschen Demokratischen Republik,,116. Ziel des nur sechs Paragraphen umfassenden Gesetzes sollte es nach dessen Präambel sein, "das Volk zur ständigen, systematischen, aktiven und entscheidenden Teilnahme an der Leitung des Staates" heranzuziehen. 117 Aus diesem Grunde sollte "das noch vom kaiserlichen Deutschland stammende System der administrativen Gliederung in Länder mit eigenen Landesregierungen"IIS überwunden und der "territoriale Wirkungsbereich der örtlichen Organe der Staatsrnacht so bestimmt werden, daß diese Organe die Leitung des wirtschaftlichen und kulturellen Aufbaus vollauf verwirklichen können,,119. Dabei sollte "die wirksame Anleitung und Kontrolle der unteren Organe durch die übergeordneten sowie durch das Volk selbst" gesichert werden. 12o In Wirklichkeit war indes ausschlaggebend, daß die Einrichtung der fünf Länder den ideologischen Postulaten der Gewalteneinheit und des demokratischen Zentralismus widersprach. Das Gesetz schaffte hier insoweit Abhilfe, als es die Länder zur Neugliederung ihrer Gebiete in Kreise und zur Zusammenfassung in Bezirke, die sich mit den Ländergrenzen nicht mehr deckten, verpflichtete. l2l Entgegen Art. 1 Abs. 1 der Verfassung, der behauptete, die Deutsche Demokratische Republik baue "auf den Ländern auf', wurde nunmehr eine territoriale Neugliederung vorgenommen mit den Verwaltungsebenen der Bezirke, Kreise, Städte und Gemeinden. Auf jeder Ebene bestand jeweils eine örtliche Volksvertretung (Bezirkstag, Kreistag, Stadtverordnetenversammlung, Gemeindevertretung) als "oberstes Organe der Staatsrnacht" in ihrem Zuständigkeitsbereich soGBI. I 1952, S. 613. Präambel, Absatz 5. 118 Präambel, Absatz 2. 119 Präambel, Absatz 7. 120 Ebenda. 121 Diese Bestimmung führte zu folgendem äußeren Strukturbild: Es entstanden 14 Bezirke, die mit einer Durchschnittsfläche von 7.673 qkm und einer durchschnittlichen Einwohnerzahl von 1,2 Millionen an Größe etwa dem Durchschnitt der westdeutschen Regierungsbezirke entsprachen. Anstelle der früheren 126 Kreise mit durchschnittlich 850 qkrn Fläche wurden 193 Landkreise mit durchschnittlich 545 qkrn und ca. 67.000 Einwohnern gebildet. 116 117

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wie hierzu jeweils korrespondierend ein örtlicher Rat (Rat des Bezirks, des Kreises usw.) als "vollziehendes und verfügendes Organ". Beide Organe zusammen genommen ließen sich somit als oberste Organe der Staatsrnacht in ihrem Zuständigkeitsbereich klassifizieren, so daß es fortan möglich wurde, "die staatlichen Strukturen radikal (zu) vereinfachen und in ein klares System des zentralen Willensvollzugs" zu bringen. 122 Bisher von den Landesregierungen wahrgenommene Aufgaben wurden gemäß § 4 lit. a) auf die Organe der Bezirke übergeleitet. Tatsächlich folgte aus dem Gesetzesauftrag zwingend die Mediatisierung der ehemaligen Selbstverwaltungskörperschaften. Für die Rechtspflege im allgemeinen ergaben sich aus den gesetzlichen Anordnungen weitreichende, für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in den Ländern sogar existentielle Konsequenzen, welche der Staatsleitung auch vor dem Hintergrund der Verwirklichung des Prinzips der Gewalteneinheit keineswegs unwillkommen waren. Bereits vor Erlaß des neuen Gerichtsverfassungsgesetzes vom 2. Oktober 1952 123 wurde die ordentliche Gerichtsbarkeit unter Übertragung einzelner Zuständigkeitsbereiche auf die Verwaltung 124 der neuen Territorialstruktur angepaßt. 125 Dagegen wurden die bereits vor Inkrafttreten der Gründungsverfassung eingerichteten und teilweise in Betrieb genommenen Verwaltungsgerichte in Thüringen, Brandenburg und Mecklenburg nach offizieller Lesart als Institutionen der Länder klassifiziert, so daß sie auch deren Schicksal teilten. 126 Zwar sah § 4 lit. a) vor, daß für den durch die Auflösung der Länder bedingten Wegfall jeglicher Institutionen auf Ebene des Bezirks Ersatz geschaffen werden sollte, doch unterblieb dies im Hinblick auf die Verwaltungsgerichte, ohne daß dieser Vorgang zunächst in Politik und Rechtswissenschaft kommentiert worden wäre. 127 Seine vorerst endgültige Ausgestaltung erfuhr der Verwaltungsaufbau erst durch das "Gesetz über die örtlichen Organe der Staatsrnacht" vom 23.7.1957, dem Karl Polak den Rang zusprach, "das wichtigste staatsorga122 Gottfried Zieger, Die Organisation der Staatsgewalt in der Verfassung der DDR von 1968, Archiv des Öffentlichen Rechts 1968, S. 185-223 (193). 123 GBl. I 1952, S. 983. 124 "Verordnung über die Übertragung der Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit" vom 15. Oktober 1952, GBl. I 1952, S. 1057. 125 Zieger (Anm. 122), S. 193. 126 Die spätere interne Anweisung des Ministers des Innern zu ihrer Liquidation stellte dann nur noch einen Gnadenstoß dar. 127 Auch im offiziellen Verwaltungsrechtslehrbuch von 1957 findet sich lediglich die lapidare Bemerkung Hans-Ulrich Hochbaums: "Die Verwaltungsgerichte sind als Landesorgane nach dem Gesetz über die weitere Demokratisierung des Aufbaus und der Arbeitsweise der staatlichen Organe in den Ländern der DDR vom 23.7.1952 (GBl. S. 613) weggefallen."

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nisatorische Gesetz" der DDR neben der Verfassung zu sein. 128 Danach bildete der Ministerrat die Spitze der Staatshierarchie. Ihm waren die Bezirke, welche sich in Kreise und kreisfreie Städte gliederten, unmittelbar subordiniert. Die zentrale Institution bildete auf jeder Ebene die jeweilige Volksvertretung, welche innerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs den Rang des "obersten Organs der Staatsrnacht" beanspruchte. 129 Ihr zur Seite stand nach dem Vorbild der Sowjets jeweils ein gewählter Rat als vollziehendes und verfügendes Organ 130, der seinerseits nach einem einheitlichen Strukturplan Fachorgane für die einzelnen Verwaltungsorgane bestellte. 13l Der Rat unterstand der Volksvertretung, die Fachorgane unterstanden dem Rat. Neben die horizontale Unterstellung trat nun zusätzlich eine vertikale, welche darin bestand, daß jede Volksvertretung der "Anleitung" aller jeweils höheren Volksvertretungen unterlag 132 , was in der Praxis bedeutete, daß sie diesen weisungsunterworfen war. Diese Konzeption brachte ein durchgängiges System der hierarchischen Unterstellung und Anleitung hervor. Somit war z.B. eine Gemeindevertretung nicht nur dem Kreistag, sondern darüber hinaus ebenso dem Bezirkstag und letztlich der Volkskammer unterstellt. 133 Das gleiche System galt für die Räte und die Fachorgane, d.h. der Gemeinderat war dem Kreisrat, dem Bezirksrat und schließlich dem Ministerrat unterstellt, während das jeweilige Fachorgan regelmäßig gegenüber den höheren Fachabteilungen und am Ende dem Fachminister gegenüber weisungsgebunden war. 134 Für Bereiche wie das Gesundheits- oder Sozialwesen ergab sich hieraus eine von oben bis unten durchgehende Fachverwaltung. 135 Die ideologisch und politisch erwünschte Folge des Systems der 128 GBI. I 1957, S. 65. Das Gesetz stellte sich als Folge einiger politischer Kurskorrekturen dar, zu denen sich die SED auf der 3. Parteikonferenz im März 1956 als Reaktion auf den anläßlich des XX. Parteitags der KPdSU eingeleiteten Entstalinisierungsprozeß und zur Bekämpfung einiger durch die Überzentralisierung auftretender Mißstände entschloß (vgI. Brunner, wie Anm. 101, S. 1249). 129 § 1 Abs. 1 des Gesetzes über die örtlichen Organe der Staatsrnacht. 130 Dritter Teil, Abschnitt I "Rechtliche Stellung und Bildung der örtlichen Räte" (§§ 28-31). 131 Dritter Teil, Abschnitt IV, "Die Fachorgane der örtlichen Räte" (§§ 44--47). 132 VgI. insbesondere § 5 Abs. 3. 133 Diese wiederum übertrug ihre Anleitungsbefugnis am 20.6.1961 per Gesetz auf den Staatsrat ("Gesetz zur Änderung des Gesetzes vom 17. Januar 1957 über die Rechte und Pflichten der Volkskammer gegenüber den örtlichen Volksvertretungen", GBI. I 1961, S. 178). 134 § 44 des Gesetzes über die örtlichen Organe der Staatsrnacht. 135 Bullinger (Anm. 26), S. 106 ff. In der Praxis trat freilich der zweite Aspekt klar hinter dem ersten zurück. Nur pro fonna war die jeweilige Volksvertretung mit ihren Organen für den "umfassenden Aufbau des Sozialismus in ihrem Bereich" zuständig. Tatsächlich blieb sie darauf beschränkt, "die von oben kommenden Beschlüsse und Weisungen auf ihrer Ebene zu verwirklichen, ergänzend nach Kräften die zentralen und Verwaltungsziele zu fördern und dafür die örtlichen Hilfsquellen

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sogenannten doppelten Unterstellung bestand zum einen in der Schaffung einer straffen Verwaltungsdisziplin, welche "die reibungslose Durchsetzung zentraler Beschlüsse bis auf die Ortsebene" gewährleistete und zum anderen - zumindest in der Theorie - in der "engen Verbindung jeder Stufe mit den werktätigen Massen,,136.

111. Verwaltungsrechtsschutz durch andere Staatsorgane Nachdem feststand, daß Artikel 138 der Verfassung unerfüllt bleiben würde und auch die vorkonstitutionellen Errungenschaften auf dem Gebiet der Verwaltungsgerichtsbarkeit auf Länderebene mit dem "Gesetz über die weitere Demokratisierung des Aufbaus und der Arbeitsweise der staatlichen Organe in den Ländern der Deutschen Demokratischen Republik" zunichte gemacht worden waren, stellte sich die Frage, wie dem hieraus resultierenden Rechtsschutzvakuum zu begegnen sei. Denn das Bedürfnis nach rechtsstaatlichen Strukturen und rechtsförmigen Verfahren auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts bestand in den fünfziger Jahren in weiten Teilen der Bevölkerung fort. Die Diskrepanz zwischen Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit wurde durchaus nicht nur von Juristen und Wissenschaftlern bemerkt. 137 Der hier zu vernehmende Ruf nach der Einrichtung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit war keineswegs gleichzusetzen mit oppositioneller Systemkritik. Vielmehr galt die Verwaltungsgerichtsbarkeit vielen gerade als geeignetes Mittel, den Aufbau des Sozialismus in der DDR zu beschleunigen. Allen Beteuerungen der Staatsleitung zum Trotz wurde die Institution der Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Öffentlichkeit nicht ohne weiteres als überlebter Formalismus abgetan. Über Gründe hierfür gibt ein ebenso mutiger wie klarsichtiger Artikel Auskunft, den der Schriftsteller Stefan Heym am 25.11.1956 unter der Überschrift "Ein Vorschlag" in der Berliner Zeitung veröffentlichte. 138 "Jeder halbwegs erfahrene Arbeiter weiß, daß man im Klassenkampf in eine schiefe Lage gerät, wenn man sich vom Gegner das Gesetz des Handeins vorzu mobilisieren". So sehr die enge Verzahnung der Volksvertretungen mit den werktätigen Massen erwünscht war, durfte sie nicht dazu führen, daß örtlichen Sonderinteressen der Vorrang gegeben wurde. Somit bestand die Hauptaufgabe der örtlichen Volksvertretungen weniger darin, die Bevölkerung in ihrem Territorium an der politischen Willensbildung zu beteiligen, als vielmehr darin, "sie von der Richtigkeit der staatlichen Politik zu überzeugen und für die Verwirklichung der Plan- und Verwaltungsziele einzusetzen". 136 Bullinger, ebenda. 137 Vgl. hierzu die Ausführungen im folgende Abschnitt. 138 Berliner Zeitung vom 25.11.1956, Nachdr. in Stefan Heym, Stalin verläßt den Raum - Politische Publizistik, S. 92-95.

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schreiben läßt. Da hauen sie drüben auf die Propagandapauke, daß es nur so kracht. Unsere Pflicht aber ist es, trotz des Lärms kühl abzuwägen, was zu tun ist, um die Arbeiterklasse - und damit die Sache der Demokratie, der Einheit Deutschlands und des Friedens - auch und gerade heute voranzubringen. Natürlich gibt es auf unserer Seite bei gutwilligen, aber kleinherzigen Leuten Stimmungen und Stimmen, die sagen: Nur um Gottes willen stillehalten! Nur um Gottes willen nichts anrühren und nichts ändern, bis wieder einigermaßen Ruhe ist! ... Ach, ich habe den Verdacht, daß das die gleichen Leute sind, die auch in ruhigen Zeiten auf der Stelle treten. Man kann auch durch Nichtstun dem Feind in die Hände arbeiten! Wird nicht von drüben so stark gedrückt, gerade damit wir kopfscheu werden? Ist es nicht gerade der Klassenfeind, der wünscht, daß wir nicht ändern, was geändert werden, was verbessert werden muß? ( ... ) Was für den Arbeiter gilt in bezug auf seinen Betrieb, gilt für den Staatsbürger überhaupt in bezug auf seinen Staat. Damit komme ich auf eine weitere ernste Frage: Haben wir alles getan, um den Menschen das jahrhundertealte Gefühl zu nehmen, daß der Staat irgendeine Macht hoch oben ist, unrührbar, fern und oft sogar furchterregend? Es nützt uns nicht viel, immer wieder zu proklamieren, daß unser Staat ein Staat der Arbeiter und Bauern ist - solange der Arbeiter und der Bauer und jeder Bürger nicht tagtäglich spüren, daß sie in diesem Staat ihre Rechte haben, an denen niemand rütteln kann. Zu diesen Rechten gehören das Recht auf Arbeit und Erholung, auf Bildung je nach Begabung und Möglichkeiten, auf Schutz in Krankheit und Not - kurz, alle jene Rechte, die kein kapitalistischer Staat je garantiert. Dazu gehört aber auch das Recht auf Schutz gegen Willkür von seiten amtlicher Stellen. Ich glaube, daß wir allzu lange allzu idealistisch gedacht haben. Wir haben uns vorgestellt, daß unsere Behörden, einfach deshalb, weil sie Behörden eines Arbeiter-und-Bauern-Staates sind, kein Unrecht mehr tun könnten. Ein Arbeiter, dachten wir, ist doch ein anständiger Mensch - und wird er jetzt Amtsvorsitzender, so wird er auch weiterhin anständig handeln. Aber er kann sich doch irren! - um so mehr, als er es sehr schwer hat als ehemaliger Arbeiter. Und ist es nicht oft genug vorgekommen, daß ein früher recht brauchbarer und anständiger Mensch sich zu seinen Ungunsten veränderte, sobald er sich vom Polster des Amtssessels getragen fühlte? Und daraus ergeben sich das Unrecht, die falschen Entscheidungen, die mechanisch ausgelegten Verordnungen, die kleine und die große Willkür, der Ärger, die Verbitterung. Und die Beschwerden - manchmal begründete, manchmal unbegründete (... ). Ich weiß, daß beim Präsidenten und beim Ministerpräsidenten und beim Volkskammerpräsidenten und bei der Staatsanwaltschaft und bei allen möglichen Stellen viele, viele Beschwerden eintreffen. Dann werden sie bearbeitet. In Tausenden von Fällen wird Abhilfe geschafft und durchgegriffen; aber andere Tausende werden unbefriedigend erledigt oder kommen überhaupt nicht zur Kenntnis der Menschen, die eingreifen und helfen können. Ein Teufelskreis! Wie können wir ihn durchbrechen? Merkwürdigerweise ist das Mittel zur Abhilfe seit Jahren bekannt. Man kann es gedruckt finden in Artikel 138 der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik:

,Dem Schutz der Bürger gegen rechtswidrige Maßnahmen der Verwaltung dienen die Kontrolle durch die Volksvertretungen und die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Aufbau und Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte werden durch Gesetz geregelt. ...• 11 Hoeck

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

Ein Verwaltungsgericht ist ein Gericht, vor dem ich eine Verwaltungsstelle verklagen kann. Solche Gerichte müßte es geben; es gibt sie aber nicht. Statt dessen hat sich die Praxis herausgebildet, daß der Staatsanwalt sich um Rechtsverletzungen seitens der Verwaltungsstellen kümmert. Das ist aber kein Ersatz für ein Verwaltungsgericht. Der Staatsanwalt arbeitet hinter verschlossenen Türen - das Gericht im Lichte der Öffentlichkeit. Der Bürger selbst kann heute nicht mitsprechen, nur seine stumme Klage liegt dem Staatsanwalt vor. Und es fehlen die heiden Laienrichter, die Vertreter des Volkes, es fehlt der Zusammenprali der lebendigen Aussagen vor Gericht, aus denen sich Recht und Unrecht einer Sache oft erst ergeben. Und außerdem ist es mehr als wahrscheinlich, daß sich so manches in der Verwaltungspraxis ändern würde, wenn der Staatsbürger sagen könnte: ,Gut, werte Kollegen, wir sprechen uns vor Gericht wieder!' Geben wir dem Bürger, der glaubt, daß ihm von einer Behörde unrecht getan wurde, seinen Tag vor Gericht! Es kann uns nichts schaden - es kann uns nur nützen! Wie erfahren auf diese Weise sehr schnell, wo etwas in der Verwaltung stinkt. Wir stützen und schützen Recht und Gesetzlichkeit. Und wir stärken den Arbeiter-und-BauernStaat, indem wir das Vertrauen seiner Bürger zu ihrem Staat stärken. Wie die Arbeitsgerichte des sozialistischen Staates in anders nicht lösbaren Konflikten zwischen Arbeitern und Betriebsleitungen entscheiden, so müssen die Verwaltungsgerichte dieses Staates entscheiden in Konflikten zwischen Bürgern und Behörden. Ich appelliere an die Fraktionen der Parteien unserer Volkskarnrner, schnellstens ein Gesetz einzubringen zu der längst fälligen Durchführung des Artikels 138 unserer Verfassung."

Stefan Heyms Forderung blieb unerhört, obwohl gerade sein klarsichtiger Hinweis auf die bestehende Arbeitsgerichtsbarkeit - er sollte in der Reformdiskussion der achtziger Jahre wiederkehren - einen ideologischen Widerspruch zu der apodiktischen Ablehnung der Verwaltungsgerichte aufzudecken schien. Statt dessen versuchte die Staatsführung die Funktionen der Verwaltungsgerichtsbarkeit auf andere Staatsorgane aufzuteilen. Dabei wurde der von Heym angesprochenen Staatsanwaltschaft die Aufgabe des Schutzes der objektiven Rechtsordnung, also der gesetzmäßigen Erfüllung der Amtspflichten der Verwaltungsfunktionäre, zugewiesen ("Gesetzlichkeitsaufsicht" statt "Rechtsschutz,,).139 Dagegen diente das Eingaben- und Beschwerdewesen vorrangig der Integration des Individuums in den Prozeß des Aufbaus der sozialistischen Gesellschaft. Daneben boten förmliche Rechtsmittel Schutz im - zunächst nicht einheitlich kodifizierten - Verwaltungsverfahren.

139 Eine ähnliche Funktion kam später der "Arbeiter-und-Bauern-Inspektion" (ABI) vor allem im Bereich der volkswirtschaftlichen Kontrolle zu. Das "Komitee der Arbeiter-und-Bauern-Inspektion" wurde 1963 aus der Zentralen Kommission für Staatliche Kontrolle unter Einbeziehung der Parteikontrolle gebildet und wirkte fortan als Organ des Ministerrats und des Zentralkomitees der SED. Ihr Wirken kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht untersucht werden.

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1. Rechtsschutz gegen hoheitliche Maßnahmen durch die Zivilgerichtsbarkeit

Zunächst stellt sich jedoch die Frage, inwieweit der Bürger in Ennangelung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit subjektiv-öffentlichen Rechtsschutz auf dem Zivilrechtsweg erlangen konnte. Diese Frage wurde bereits vor Inkrafttreten der Gründungsverfassung intensiv diskutiert und stellte sich insbesondere immer dann, wenn ein Zivilgericht im Rahmen der Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen des Amtshaftungsanspruch gemäß § 839 BGB i. V.m. Art. 131 der Weimarer Reichsverfassung inzident die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts zu prüfen hatte. Vor dem Hintergrund des, wie bereits oben 140 dargestellt, auf Landesund Provinzialebene häufig anzutreffenden Ausschlusses des Amtshaftungsanspruchs durch Landes- bzw. Provinzialverordnung stellte sich oftmals die Frage, ob ein derartiger Rechtswegausschluß in bezug auf Fragen der Amtshaftung rechtlich überhaupt zulässig sei. Die ordentlichen Gerichte bejahten dies überwiegend 141, während in der Rechtswissenschaft mit dem Hinweis darauf, daß zumindest Artikel 131 der Weimarer Reichsverfassung bis 1945 unbestritten in Kraft gewesen sei, auch die Gegenposition vertreten wurde. Die Frage nach der Fortgeltung des Artikel 131 im volksdemokratischen Staat versuchten Teile der Rechtswissenschaft vom Standpunkt des historischen Materialismus aus zu lösen. 142 So merkte Alfons Steiniger143 in Hinblick auf die Gültigkeit der von der Ländern erlassenen Verordnungen an:

140 Vgl. hierzu die Ausführung im dritten Abschnitt des ersten Teils dieser Arbeit unter Ziffer H. 1. c. 141 Vgl. zur Gültigkeit der brandenburgischen Verordnung "Über die Geltendmachung von Ansprüchen aus Maßnahmen der öffentlichen Gewalt" vom 19.10.1946 das Urteil des Amtsgerichts Rathenow vom 19.2.1947 (Neue Justiz 1947, S. 161), in dem es im Hinblick auf die Fortgeltung des Artikels 131 der Weimarer Reichsverfassung hieß, daß den Provinzialverwaltungen und den Verwaltungen der föderativen "Länder" durch Befehl des Obersten Chefs der SMA in Deutschland vom 22.10.1945 das Recht eingeräumt worden sei, Gesetze und Verordnungen mit Gesetzeskraft zu erlassen, selbst wenn diese im Einzelfall "von dem geltenden Reichsrecht abweichen". Zwar erscheine es im allgemeinen Interesse wünschenswert, wenn sie hiervon nur im äußersten Notfalle Gebrauch machen, "weil jede Rechtszersplitterung unermeßlichen Schaden nach sich ziehen kann". Jenseits dieser Zweckmäßigkeitserwägungen sei die brandenburgische VO vom 19.10.1946 jedoch formell und materiell rechtsgültig. "Ein entgegenstehender Verfassungsgrundsatz besteht zur Zeit in Deutschland noch nicht, da es eine allgemeine deutsche Verfassung noch nicht gibt, die Weimarer Verfassung aber - jedenfalls als Ganzes - als nicht mehr in Kraft befindlich anzusehen ist." 142 Wemer Schutz, Die Rechtsprechung des Obersten Gerichts der Sowjetzone zur Zulässigkeit des Rechtsweges bei Verwaltungsakten, Jahrbuch für Ostrecht 1964, S. 83-97 (86). 11"

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"Der Kampf um eine gesicherte Amtshaftung gehört, historisch gesehen, in die Auseinandersetzung fortschrittlicher Staatsbürger mit den Kräften der allmächtigen preußischen Bürokratie, und der Kampf gegen eine Entscheidungsmacht dieser Bürokratie in eigener Angelegenheit war die Spitze der ganzen Auseinandersetzung. Andererseits wäre es unüberlegt, die gewiß persönlich auch nicht unfehlbaren Verwaltungsorgane eines demokratischen Staates mit der antidemokratisch tendierenden Staatsmaschinerie einer früheren Entwicklungsstufe gleichzusetzen. Über dem Vorgesetzten, der bei Amtspflichtverletzungen aus falscher Solidarität dem Betroffenen die Entschädigung verweigern würde, schwebt heute im Lande Brandenburg das Damoklesschwert parlamentarischer Kontrolle. War einst das von der Verwaltung unabhängige Gericht die ultima ratio des bürgerlichen Rechtsstaates in diesem Komplex, so ist heute im Zustand demokratischer Parlamentshoheit die politische Überwachung durch die Volksvertretung die ultima ratio des Volksstaates"l44

Vor diesem Hintergrund beurteilte Steiniger den Rechtswegausschluß, wie er in den Verordnungen zum Ausdruck kam, als rechtmäßig. Freilich betonte er in diesem Zusammenhang gleichermaßen, daß die Regelung im demokratischen Staat nur dann erträglich erscheine, soweit nicht gleichermaßen auch der Verwaltungsrechtsschutz ausgeschlossen bleibe: "Überdies ist ja nur der ordentliche Rechtsweg ausgeschlossen. Sobald die durch Kontrollratsgesetz Nr. 36 und Art. 43 der brandenburgischen Verfassung angekündigte Verwaltungsgerichtsbarkeit auch im Gebiet des Landes Brandenburg in Tätigkeit treten wird, wäre der Verwaltungsrechtsweg ein zusätzliches und unter den Bedingungen der Gegenwart ausreichendes Mittel individueller Rechtssicherung. Ein Landesgesetz, das etwa auch die Verwaltungsgerichte nach deren Eröffnung für unzuständig erklären würde, in Fällen der erörterten Art zu entscheiden, erschiene mir für ein demokratisches Deutschland untragbar und daher als partikulares ,Reichs'recht unzulässig."145

Nach Inkrafttreten der Verfassung der DDR am 7. Oktober 1949 machte sich das auf der Grundlage des "Gesetz(es) über die Errichtung des Obersten Gerichtshofes und der Obersten Staatsanwaltschaft der Deutschen Demokratischen Republik" vom 8. Dezember 1949 146 eingerichtete Oberste Gericht der DDR diese Argumentation zu eigen, ohne jedoch auf die von Steiniger ausdrücklich benannte Bedingung einer funktionierenden Verwal143 Alfons Steiniger (1904-1980) war seit 1946 Professor für Völkerrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin, gleichzeitig Direktor des dortigen Instituts für Völkerrecht. 1947-1952 Präsident der Deutschen Verwaltungsakademie (DVA) in ForstZinna, 1949 Mitglied des Verfassungsausschusses des Deutschen Volksrates, 19551980 Präsident der Liga für die Vereinten Nationen in der DDR. (Gabriele Baumgartner und Vieter Hebig, Biographisches Handbuch der SBZIDDR 1945-1990, Band 11, S. 890 f.). 144 Alfons Steiniger, Ausschließbarkeit des Rechtsweges bei Staatshaftungsklagen durch neues Landesrecht?, in: Neue Justiz 1947, S. 146--150 (150). 145 Steininger, ebenda. 146 GBi. 1949 S. 111.

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tungsgerichtsbarkeit Rücksicht zu nehmen. Statt dessen griff es die in der Argumentation angelegte relativistische Komponente auf, um damit seine Auffassung zu rechtfertigen, daß im Zeichen des Aufbaus des Sozialismus der auf dem Zivilrechtsweg zu verfolgende Amtshaftungsanspruch ebenso wie jegliche Ansprüche des Bürgers gegen den Staat, welche vormals vor den Verwaltungsgerichten geltend gemacht werden konnten, am Dogma der Gewalteneinheit scheitern müßten. Die Auswirkungen des Prinzips der Gewalteneinheit und Gewaltenkonzentration auf die Zulässigkeit gerichtlicher Verwaltungskontrolle im Bereich der Amtshaftung gemäß § 839 BGB i. V.m. Art. 131 WRV machte das Oberste Gericht in einer Entscheidung aus dem Jahre 1954 mustergültig deutlich. 147 Den Tatbestand des Urteils bildete die 1947 erfolgte Beschlagnahme des Lastkraftwagens eines Fuhrunternehmers durch die Volkspolizei. Diese ging dabei davon aus, daß es sich bei dem Wagen um ein Beutefahrzeug der Roten Armee handelte. Der Bezirkspräsident der Volkspolizei stellte das Fahrzeug einer Lungenheilstätte zur Verfügung. Am 1. März 1949 wurde das Fahrzeug auf Veranlassung des Kreispolizeiamtes dem Kläger zurückgegeben. Der Kläger verlangte mit seiner Klage vor dem Landgericht von dem Kreisverband, in dessen Rechtsträgerschaft die Lungenheilstätte stand, den Ersatz eines eingetretenen Sachschadens sowie seines Verdienstausfalls. Der Beklagte hatte Klageabweisung beantragt. Er hatte den Einwand der Unzulässigkeit des Rechtsweges erhoben, da zwischen ihm und dem Kläger zivilrechtliche Beziehungen nicht entstanden seien. Darüber hinaus hatte er seine Passivlegitimation in Abrede gestellt. Das Landgericht verwarf in einem Zwischenurteil vom 23. Januar 1951 den Einwand der Unzulässigkeit des Rechtsweges in Hinblick auf den geltend gemachten Sachschaden, erkannte ihn hingegen bezüglich der geltend gemachten Ansprüche für Verdienstausfall ausdrücklich als begründet an. Das Landgericht war der Meinung, daß sich nur der Anspruch auf Erstattung von Verdienstausfall gegen den Bestand des in der Beschlagnahme des Wagens liegenden Verwaltungsaktes richte, nicht hingegen der Anspruch auf Ersatz des Sachschadens, der sich auf § 839 BGB in Verbindung mit Art. 131 der Weimarer Reichsverfassung gründe, also im Rechtswege geltend zu machen sei. Durch Schlußurteil vom 18. Juni 1952 verurteilte das Landgericht den Beklagten zur Zahlung des Schadenersatzes an den Kläger. Der Generalstaatsanwalt der DDR rügte dieses Urteil im Rahmen eines Kassationsantrages 148 an das Oberste Gericht als Gesetzesverletzung. Der Antrag hatte Erfolg. 147 Urteil des Obersten Gerichts vom 9. Juli 1954 - 1 Zz 185/53. (Neue Justiz 1954, S. 573 f.). 148 Gemäß § 22 des Gesetzes über die Staatsanwaltschaft der DDR war der Generalstaatsanwalt befugt, die Kassation rechtskräftiger Entscheidungen im Zivilrecht

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

Das Oberste Gericht (OG) der DDR begründete seine Auffassung damit, daß ein etwaiger Schadenersatzanspruch "nur auf dem Verwaltungsrechtswege " geltend gemacht werden könne. Dies folge aus Artikel 138 der Verfassung in Verbindung mit § 9 des Gerichtsverfassungsgesetzes. 149 Zu dem Umstand, daß Artikel 138 bisher nicht in Geltung gesetzt wurde und der Verweis auf den - nicht existierenden - Verwaltungsrechtsweg somit einer Rechtsverweigerung gleichkam, nahm das Gericht mit keinem Wort Stellung. Statt dessen legte das OG die staatsrechtlichen Gründe für die fehlende Kompetenz der ordentlichen Gerichtsbarkeit zur Kontrolle des Verwaltungshandelns dar und führte hierfür in den Gründen folgende Argumente an: "Wenn das Landgericht (... ) den Grundsatz der sogenannten Amtshaftung nach § 839 BGB in Verbindung mit Art. 131 der Weimarer Verfassung zur Anwendung bringt, so kann ihm darin nicht beigetreten werden. Die durch diese Vorschrift ermöglichte Nachprüfung von Verwaltungsakten im Wege des Zivilprozesses beruht auf der Lehre von der, Teilung der Gewalten', einer staatsrechtlichen Auffassung, die in der Zeit der Überwindung des Feudalstaates durch den Staat der bürgerlichen Demokratie zur Bekämpfung der absoluten Fürstenmacht entwickelt wurde. Sie gliedert die Staatsgewalt in drei voneinander unabhängige Teilgewalten (Legislative, Exekutive und Rechtsprechung) und entwickelt daraus die Notwendigkeit einer ,Rechtskontrolle' der Verwaltung durch die ordentlichen Gerichte. Diese ehemals fortschrittliche Auffassung kann für das Staatsrecht der Deutschen Demokratischen Republik nicht mehr als gültig erachtet werden. Die demokratische Verfassung unseres Staates erkennt nur eine einheitliche, vom Volk ausgehende Staatsgewalt an (Art. 3 Abs. I der Verfassung). Ihre verschiedenen Äußerungen können daher nicht in einem Verhältnis der Über- und Unterordnung zueinander stehen. Das gilt insbesondere für das Gebiet der Rechtsprechung durch die Gerichte unseres Staates im Verhältnis zur vollziehend-verfügenden Tätigkeit anderer Staatsorgane. In bei den Fällen handelt es sich um Äußerungen der Staatsgewalt, die zwar einen voneinander verschiedenen Charakter tragen, aber nicht in zu beantragen. Das Kassationsverfahren als solches war in Abschnitt III (§§ 12-16) des Gesetzes über die Errichtung des Obersten Gerichtshofes und der Obersten Staatsanwaltschaft der Deutschen Demokratischen Republik vom 8. Dezember 1949 (GBI. 1949, S. 111) geregelt. Danach hatte der Generalstaatsanwalt die Möglichkeit, innerhalb einer Frist von einem Jahr nach Eintritt der Rechtskraft die Kassation eines rechtskräftigen Urteils zu beantragen, wenn dieses auf einer Gesetzesverletzung beruhte oder der Gerechtigkeit gröblich widersprach. 149 Das Gerichtsverfassungsgesetz der DDR vom 2.10.1952 bestimmte, die Rechtsprechung werde durch das Oberste Gericht, die Bezirks- und Kreisgerichte ausgeübt (§ 1), und zwar in Zivil- und Strafsachen, "für die nicht durch Gesetz die Zuständigkeit von Gerichten für bestimmte Sachgebiete oder von Verwaltungsbehörden begründet ist" (§ 9). Über die Zulässigkeit des Gerichtsweges sollten die Gerichte selbst entscheiden (§ 10). Andere als Zivil- und Strafsachen gehörten vor die ordentlichen Gerichte nur, "soweit dies durch ein besonderes Gesetz bestimmt ist" (§ 9).

1. Abschn.: Verwaltung in der Griindungsverfassung

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dem Sinne, daß der einen die Kontrolle über die andere zukommt, sondern die beide, wie dies im Artikel 63 der Verfassung klar zum Ausdruck kommt, gleichmäßig der Überwachung durch die Volkskammer unterliegen. ISO Dieser bleibt es selbstverständlich vorbehalten, die Kontrollpflicht besonderen Staatsorganen zu übertragen. Das ist in unserem Staate in den §§ 10 bis 15 des Gesetzes über die Staatsanwaltschaft der Deutschen Demokratischen Republik vom 29. Mai 1952 (Gbl. S. 408) durch Übertragung der höchsten Aufsicht über die strikte Einhaltung der Gesetze und der Verordnungen der Deutschen Demokratischen Republik auf den Generalstaatsanwalt geschehen. Durch diese gesetzlichen Bestimmungen, insbesondere auch durch § 12 Ziffer 3151, wird jedem Bürger der Deutschen Demokratischen Republik das Recht zugestanden, Beschwerden über die Verletzung seiner Rechte und Interessen dem Generalstaatsanwalt vorzutragen, der verpflichtet ist, sie entgegenzunehmen, ihnen nachzugehen und, falls sie begriindet sind, in dem dafür vorgesehenen Verfahren abzuhelfen. Auf diese Weise ist im Staate der Deutschen Demokratischen Republik eine vollkommene, seinem Wesen entsprechende und wirklich demokratische Kontrolle der Innehaltung der demokratischen Gesetzlichkeit auch gegenüber der vollziehend-verfügenden Tätigkeit der Staatsorgane geschaffen worden. Daneben kann für die Zuweisung von Anspriichen der Bürger, wie sie der auf einer anderen Staatsaufassung beruhende Art. 131 der Weimarer Verfassung vorsah, kein Raum mehr sein.,,152

Auch in mehreren anderen Fällen, in denen das OG über die Zulässigkeit des Rechtsweges in Verwaltungssachen zu entscheiden hatte, beschränkte sich das Gericht darauf, seine eigene Unzuständigkeit zu erklären und im übrigen auf die Gesetzmäßigkeitskontrolle durch die Staatsanwaltschaft sowie - auch nach der Liquidation der Landesverwaltungsgerichte im Juli 1952 - auf Artikel 138 der GTÜndungsverfassung bzw. auf die gleichlautenden Verfassungsnormen der Länderverfassungen hinzuweisen. 153 Der Umstand, daß es sich bei den die Verwaltungsgerichtsbarkeit verbriefenden Normen um ein reines "Phantomrecht" handelte und auch überhaupt keine Anzeichen dafür vorlagen, daß der politische Wille vorlag, ihnen zur Geltung zu verhelfen, blieb unkommentiert. Desungeachtet stellte das OG auch durchaus dogmatische Überlegungen an, um Verwaltungshandeln zu definieren. Diese dienten indes nicht dazu, positiv festzulegen, auf welchem Wege der sich in 150 Artikel 63 der Griindungsverfassung bestimmte u. a.: "Zur Zuständigkeit der Volkskammer gehören: (... ) die Bestimmung der Grundsätze der Verwaltung und die Überwachung der gesamten Tätigkeit des Staates; (... )." 151 § 12 Ziffer 3 des Gesetzes über die Staatsanwaltschaft der Deutschen Demokratischen Republik lautete: "Die Aufsicht über die Gesetzlichkeit wird vom Staatsanwalt dadurch ausgeübt, daß er (... ) Beschwerden der Bürger über die Verletzung ihrer gesetzlichen Rechte und Interessen entgegennimmt und diesen Beschwerden nachgeht." 152 Urteil des OG vom 9. Juli 1954, a.a.O. (Anm. 147), S. 574. 153 Vgl. im einzelnen die Beispiele aus der Rechtsprechung des OG bei Werner Schulz (Anm. 142), S. 89 ff.

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

seinen Rechten verletzt wähnende Bürger zu seinem Recht kommen könnte, sondern ausschließlich dazu, im Falle des Vorliegens der Voraussetzungen die eigene Unzuständigkeit im Sinne von § 13 GVG feststellen zu können. So bestätigte das OG etwa, daß die Zulässigkeit des Rechtsweges als unabdingbare Prozeßvoraussetzung in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen sei, also auch dann, wenn die Parteien diese Einrede nicht vorgebracht hätten. Im Rahmen der Prüfung, ob ein Verwaltungsakt vorliege, könne indes nicht auf die "bürgerlich-kapitalistische" Verwaltungsaktdefinition zurückgegriffen werden. Statt dessen müsse im Einzelfall geprüft werden, inwieweit die Verwaltung "in vollziehend-verfügender Tätigkeit zur Durchführung ihrer wirtschaftlich-organisatorischen Tätigkeit durch Aufgaben, gegebenenfalls mit Hilfe staatlichen Zwanges", die Bürger habe verpflichten wollen und verpflichtet habe. Liege dies vor, so sei der Rechtsweg unzulässig. 154 Die sehr auslegungsfähige Formel der "vollziehendverfügenden Tätigkeit" wurde in der Folgezeit von den Unter- und Mittelgerichten in eklatantem Maße ausgedehnt, so daß der Rechtsweg auch in Fällen verlegt wurde, in denen überhaupt eine Behörde als Vertragspartei, etwa als Vermieter auftrat. 155 Vor dem Hintergrund umfassender Kollektivierung weitreichender Lebensbereiche lief diese Spruchpraxis mehr und mehr auf eine Rechtsverweigerung in breiten Segmenten des gesellschaftlichen Lebens hinaus. 2. Die Gesetzlichkeitsaufsicht durch die Staatsanwaltschaft 156 Die Gründungsverfassung statuierte eine weitreichende Ausdehnung der Aufgaben und Kompetenzen des Staatsanwalts, vor allem in Richtung auf eine allgemeine Kontrolle des Handeins der Verwaltungsorgane. 157 Durch 154 Urteil des OG vom 9.4.1952 (Sammlung Bd. I, S. 303 ff.) sowie vom 30.4.1952 (Sammlung Bd. 11, S. 16 ff), zit. nach Schuh, S. 93. 155 Ebenda. Teilweise wurden diese Entscheidungen indes vom OG verworfen. 156 Die Aufgabe der Staatsanwaltschaft bei der Gesetzlichkeitsaufsicht ist bereits gut erforscht und wird deshalb an dieser Stelle nur kurz umrissen. Vgl. die umfassende Zustandsbeschreibung (1976) von Detlef Stenda, Die Gesetzlichkeitsaufsicht der Staatsanwaltschaft in der DDR, Würzburger Diss. iur., sowie rückblickend die rechtstatsächliche Untersuchung von fan Behlert, Die Generalstaatsanwaltschaft, in dem von Hubert Rottleuthner herausgegebenen Sammelband ,,steuerung der Justiz in der DDR - Einflußnahme auf Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte" (1994), S.287-349. 157 Damit folgte die DDR der sowjetischen Konzeption der Staatsanwaltschaft als einem weisungsgebundenen Institut der Verwaltungskontrolle, die freilich in einem gewissen Widerspruch zur marxistisch-leninistischen Lehre zu stehen schien. So sah Lenin die Rolle des Staatsanwalts als die eines bloßen Zuträgers der Gerichte an: "Der Staatsanwalt hat das Recht und die Pflicht, nur eines zu tun: darüber zu wachen, daß sich eine wirklich einheitliche Auffassung von der Gesetzlichkeit in der

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das "Gesetz über die Staatsanwaltschaft der Deutschen Demokratischen Republik" vom 23.5.1952 158 wurde der Staatsanwaltschaft neben den üblichen staatsanwaltschaftlichen Aufgaben wie Leitung des Ermittlungs- und Untersuchungsverfahrens und Auftreten vor Gericht erstmals die besondere Aufgabe der Aufsicht über die strikte Einhaltung der Gesetze und Verordnungen zugewiesen. Nach dem Gesetz unterlagen der staatsanwaltschaftlichen Aufsicht alle Ministerien, Ämter und die ihnen unterstellten Dienststellen und Einrichtungen, Betriebe, wie auch alle Funktionäre des Staatsapparats und Bürger. 159 Darüber hinaus umfaßte die "Allgemeine Aufsicht" das Recht, Anordnungen, Beschlüsse und sonstige Bestimmungen von Ministerien und anderen Organen der staatlichen Verwaltung auf ihre Gesetzmäßigkeit hin zu überprüfen. 160 Das Instrumentarium zur Durchführung der Aufsicht war ähnlich wie in der UdSSR angelegt. Der Staatsanwalt war berechtigt, von allen Staatsorganen unterhalb der Ministerialebene eine Mitteilung aller Anordnungen, Beschlüsse etc. zu verlangen. 161 Darüber hinaus konnte er die Entbindung der Angestellten von ihrer Pflicht zur Amtsverschwiegenheit verlangen 162 und hatte ein Teilnahmerecht an den Sitzungen des Ministerrats der Republik bzw. an denen der Landesregierungen. Neben weiteren Gelegenheiten, bei denen Ungesetzmäßigkeiten der Staatsanwaltschaft bekannt werden konnten, wie durch Pressemitteilungen 163 oder anläßlich von Gerichtsverhandlungen 164, waren im Gesetz auch Beschwerden der Bürger über die Verletzung ihrer gesetzlichen Rechte und Interessen genannt. 165 Als Durchsetzungsmittel stand der Staatsanwaltschaft bei der Feststellung von Gesetzesverstößen jedoch nur ein eher stumpfes Instrumentarium zur Verfügung. Neben der Einleitung eines Strafverfahrens 166 und dem gesamten Republik durchsetzt, ungeachtet aller örtlichen Unterschiede und entgegen allen wie auch immer gearteten örtlichen Einflüssen. Das einzige Recht und die einzige Pflicht des Staatsanwalts ist es, eine Sache vor das Gericht zu bringen, das sein Urteil zu fällen hat." ("Über doppelte Unterordnung und Gesetzlichkeit", Werke, Bd. 24, Berlin 1962, S. 350) Man überging den Widerspruch, indem man zur doktrinären Begründung der Rolle der Staatsanwaltschaft lediglich den ersten Teil der Äußerung zitierte und die gerichtliche Kontrolle der Verwaltung als Marginalie abtat. Vgl. Siegfried Lammich, Die gerichtliche Kontrolle der Verwaltung in den sozialistischen Verfassungssystemen, in: Verwaltungs-Archiv 1973, S. 246-259, 247). 158 GBI. I 1952, S. 408. 159 § 10 Abs. 2 des Staatsanwaltschaftsgesetzes von 1952 (StAG 1952). 160 § 11 Abs. 2 StAG 1952. 161 § 12 Nr. 1 StAG 1952. 162 § 15 Abs. 2 StAG 1952. 163 § 12 Nr. 2 StAG 1952. 164 § 12 Nr. 4 StAG 1952. 165 § 12 Nr. 3 StAG 1952. Zur Praxis der Eingaben an den Generalstaatsanwalt sogleich. 166 § 13 Abs. 2 S. 3 StAG 1952.

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Verlangen nach Durchführung einer Untersuchung oder Revision 167 kam hier vor allem der Einspruch gemäß § 13 Abs. 2 S. 1 StAG 1952 in Betracht. Analog zu seinem sowjetischen Vorbild, dem "Protest", war der Einspruch bei dem Organ einzulegen, gegen dessen Handlung es sich richtete. 168 Aussetzende Wirkung entfaltete der Einspruch freilich nur dann, wenn das Organ, bei dem er eingelegt wurde, seiner in § 14 Abs. 2 StAG 1952 statuierten Pflicht zur Stellungnahme nicht binnen 2 Wochen nachkam. Die "allgemeine Aufsicht" der Staatsanwaltschaft konnte die ihr zugedachte kompensatorische Funktion 169 im Hinblick auf die ungefähr zeitgleich mit dem Gesetzeserlaß liquidierten Verwaltungsgerichte nur mangelhaft erfüllen. Politisch erschien die Übertragung einer Form der Verwaltungskontrolle insofern sinnvoll, als hierdurch wechselnde Schwerpunkte in der Tätigkeit der Staatsanwaltschaften je nach den aktuellen politischen Zielvorstellungen zentral gesteuert werden konntenPO In der Praxis führten indes die konzeptionelle Unschärfe der allgemeinen Aufsicht einerseits und die chronische Überlastung der Staatsanwaltschaften mit dem klassischen Repertoire der Strafverfolgung andererseits dazu, daß sich die Übertragung verwaltungsgerichtlicher Funktionen auf die Staatsanwaltschaft nur schlecht bewährte. Ein Gleichziehen mit der sowjetischen Staatsanwaltschaft, die nach Hilde Benjamin 80 % ihrer Arbeit der allgemeinen Aufsicht widmete 171 , blieb utopisch. Vor diesem Hintergrund wurden Anfang der sechziger Jahre konzeptionelle Ansätze entwickelt, die allgemeine Aufsicht stärker im Sinne einer "Rechtsaktkontrolle" auszubauen 172, welche jedoch im Zuge einer eindeutig auf die Kriminalitätsbekämpfung orientierten Festlegung der 25. Tagung des Staatsrats im Dezember 1962 endgültig niedergeschlagen wurde. 173

§ 15 Abs. 1 StAG 1952. § 14 Abs. 1 StAG 1952. 169 Vgl. Ernst Melsheimer, Der neue Kurs und die Aufgaben der Staatsanwaltschaft, in: Neue Justiz 1953, S. 576--578 (578). 170 Stenda (Anm. 156), S. 53. 171 Hilde Benjamin, Deutsche Juristen in der Sowjetunion, in: Neue Justiz 1952, S. 345-348 (347). 172 Stenda (Anm. 170). 173 Das novellierte Staatsanwaltschaftsgesetz (von 1963) wies folglich bereits keine den §§ 10 und 11 des StAG 1952 entsprechenden Bestimmungen mehr auf. Zum Wandel der Rolle der Staatsanwaltschaft im Rahmen der Allgemeinen Gesetzlichkeitsaufsicht auch fan Behlen, Die Generalstaatsanwaltschaft (Anm. 156). 167 168

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3. Das förmliche RechtsmiUelverfahren Die DDR gewährte ihren Bürgern keinen umfassenden verwaltungsinternen Rechtsschutz in dem Sinne, daß jegliche Verwaltungsmaßnahme mit einem Rechtsmittel bei der nächsthöheren Verwaltungsbehörde angefochten werden konnte. Dennoch enthielt eine Vielzahl von Gesetzen Rechtsmittelvorschriften. Fast hatte es den Anschein, daß sich hier im Bewußtsein der Legislativorgane Rudimente rechtsstaatlichen Bewußtseins erhalten hatten, welche ein Gesetz ohne einen die Einlegung von Rechtsmitteln regelnden Paragraphen unvollständig erscheinen ließen. Das sich nunmehr ausbreitende Sammelsurium förmlicher Rechtsmittel 174 mutete allerdings ungeord174 Die fönnlichen Rechtsmittel waren in der Rechtsordnung der DDR uneinheitlieh in zahlreichen Einzelgesetzen geregelt. Die wichtigsten Bestimmungen waren: Bauwesen: Beschwerde gemäß § 22 der Wohnraumlenkungsverordnung vom 14.9.1967 (GBI. 11 S. 733), Beschwerde gemäß § 15 des Gesetzes über die Entschädigung bei Inanspruchnahme nach dem Aufbaugesetz vom 25.4.1960 (GBI. I S. 257), Einspruch gemäß § 15 der Verordnung vom 14.5.1964 über die Aufgaben und die Arbeitsweise der staatlichen Bauaufsicht (GBI. 11 S. 405). Finanzen: Beschwerde gemäß § 12 der Verordnung vom 28. Oktober 1955 über die staatlichen Verwaltungsgebühren (GBI. I S. 787), Anrufung des Rates und Beschwerde gemäß § 2 des Gesetzes über die Regelung der Ansprüche gegen Personen, deren Vennögen nach der Verordnung zur Sicherung von Vennögenswerten oder auf Grund rechtmäßiger Urteile in das Eigentum des Volke übergegangen ist (GBI. I S. 1207), Einspruch gemäß § 3 bzw. Beschwerde über die Bescheidung des Einspruchs gemäß § 4 bzw. Berufung gegen die Bescheidung der Beschwerde gemäß § 5 der VO über die Rechte der Bürger im Verfahren der Erhebung der Abgaben (Nachprüfungsverfahren der Abgabenverwaltung) vom 13. November 1952, Beschwerde gemäß der Ersten Durchführungsbestimmung zur VO über die Rechte der Bürger im Verfahren der Erhebung von Abgaben vom 4. Juli 1953 (GBI. S. 867). Volksbildung: Beschwerde gemäß § 52 der Verordnung über die Aufgaben und die Arbeitsweise der Organe der Jugendhilfe vom 3. März 1966 (GBI. 11 S. 215), Einspruch gemäß § 5 Abs. 5 der Anordnung vom 1. Juli 1959 über die Gewährung von Unterhaltsbeihilfen (GBI. I S. 638), Einspruch gemäß § 4 Abs. 2 der Anordnung Nr. 2 über die Ausübung von Tanz- und Unterhaltungsmusik vom 1. November 1962 (GBI. 11 S. 777), Einspruch gern. § 8 der Verordnung über die Beschulung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen mit wesentlichen physischen oder psychischen Mängeln vom 5. Oktober 1951 (GBI. S. 915), Beschwerde gemäß § 3 der Anordnung über die Rückführung zweckentfremdeter Jugendeinrichtungen vom 5. Juni 1957 (GBI. I S. 324). Gesundheits- und Sozialwesen: Einspruch gemäß § 32 der VO über die allgemeine Sozialfürsorge vom 15. März 1968 (OBI. 11 S. 167), Beschwerde gemäß § 20 des Lebensmittelgesetzes vom 30. November 1962 (GBI. I S. 111), Beschwerde gemäß § 43 des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Geschlechtskrankheiten beim Menschen vom 20. Dezember 1965 (GBI. I 1966 S. 29), Beschwerde gemäß § 9 der Verordnung vom 4. Dezember 1952 über die Hygieneinspektion vom 4. Dezember 1952 (GBI. S. 1271), Beschwerde gemäß § 10 der VO über die Bekämpfung von Gesundheitsschädlingen vom 6. Juni 1957 (GBI. I S. 329), Beschwerde gemäß § 26 Abs. 2 der VO zur Verhütung und Bekämpfung der Ge-

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net an, da offensichtlich kein Wert auf eine einheitliche Ausgestaltung hinsichtlich wesentlicher Merkmale wie Fristen, Suspensiveffekt, Beschwerdegegner usw. gelegt wurde. Nicht einmal die Terminologie war einheitlich. Die vielfältigen spezialgesetzlich geregelten Rechtsmittel entzogen sich jeglicher Systematisierung. So wurden die Begriffe "Einspruch" und "Beschwerde" teilweise synonym verwandt 175, teilweise sollte die "Beschwerde" dagegen nur gegen einen zuvor zurückgewiesenen "Einspruch" statthaft sein. 176 An anderer Stelle existierte mit der "Berufung" gegen die zurückgewiesene "Beschwerde" gegen einen erfolglosen "Einspruch" sogar ein dreistufiges Verfahren. l77 Die Fristen für die Einlegung des jeweiligen Rechtsmittels waren ebenso uneinheitlich geregelt l78 wie die Bearbeitungsfristen. 179 Teilweise tritt mit Einlegung des Rechtsmittels ein Suspensiveffekt ein (z. B. § 22 S. 3 Wohnraumlenkungsverordnung), teilweise nicht (z. B. § 32 Abs. 2 der Sozialfürsorgeverordnung), teilweise wird die Entscheidung hierüber in das Ermessen der Behörde gestellt (z.B. § 10 Abs. 3 Gesundheitsschädlingsverordnung). Dies ließe sich fortführen. Insgesamt drängt sich der Eindruck auf, daß nur die hohle Form eines rechtsstaatlichen Instrumentariums gewahrt bleiben sollte. In der Praxis hoffte die kommunistische Führung dagegen, daß die förmlichen Rechtsmittel mit dem Fortschreiten des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses langfristig ohnehin durch das "kollektivistische" und damit im Sinne der kommunistischen Ideologie "demokratischere" Eingabenwesen verdrängt werden würde. 180 schlechtskrankheiten vom 23. Februar 1961 (GBl. II S. 85), Einspruch bzw. Beschwerde gemäß § 14 der Anordnung über die Arbeitsbefreiung bei Arbeitsunflihigkeit vom 9. April 1959 (GBl. I S. 320). Beschwerde (beim Beschwerdeausschuß des Gesundheitsministeriums) gemäß § 11 Abs. 2 der Anordnung über die Fachausbildung und staatliche Anerkennung als Diplom-Lebensmitteltechniker im Hygienedienst vom 28. Mai 1962 (GBl. II S. 382), Beschwerde gemäß § 14 der Ersten Durchführungsbestimmung vom 30. Dezember 1961 zur Verordnung zur Verhütung und Bekämpfung der Tuberkulose vom 30. Dezember 1961 (GBl. II 1962 S. 13). 175 Vgl. etwa § 32 Abs. 4 der Sozialfürsorgeverordnung. 176 Vgl. § 14 Abs. 3 S. 2 der Anordnung über die Arbeitsbefreiung bei Arbeitsunflihigkeit. 177 Vgl. § 5 der Verordnung über die Rechte der Bürger im Verfahren der Erhebung der Abgaben. 178 Vgl. etwa § 22 S. 2 Wohnraumlenkungsverordnung (eine Woche nach Zustellung) gegenüber § 3 Abs. 3 S. 2 der Abgabenverordnung (einen Monat nach Zustellung). 179 Vgl. etwa § 26 Abs. 3 S.l Geschlechtskrankheitenverordnung (1 Woche) gegenüber § 52 Abs. 5 Jugendhilfeverordnung (4 Wochen). 180 In diesem Sinne argumentierte zum Teil auch die DDR-Rechtswissenschaft: "Im Unterschied zum Rechtsmittel bietet die Eingabe die Möglichkeit, in umfassender Weise an der staatlichen Leitung und Planung mitzuwirken und gegen bürokratische Verhaltensweisen von Organen des Staatsapparates oder von Staatsfunktionären vorzugehen. "

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Insbesondere der Umstand, daß nur die Möglichkeit einer individuellen Rechtsverletzung die Beschwerdebefugnis vermittelte, stigmatisierte die förmlichen Rechtsmittel aus der Perspektive der Staatsführung zumindest in den Anfangsjahren. Vom ideologischen Standpunkt der SED aus betrachtet handelte es sich mithin um ein Relikt der bürgerlichen Gesellschaftsordnung, welche das Dogma der Interessenidentität von Individuum und Gesellschaft noch nicht rezipiert hatte. So lange sich die Hoffnung hielt, daß die förmlichen Rechtsmittel mit der zunehmenden Erziehung zum sozialistischen Menschen von selbst an Bedeutung verlieren würden, legten die zuständigen Funktionäre keine Bestrebungen an den Tag, eine Vereinheitlichung durchzuführen. Selbst Staatsratsmitglieder sollten später einräumen, daß kein Mitglied der Staatsführung (und vermutlich auch sonst niemand) einen Überblick über die gesetzlich vorgesehenen formellen Rechtsmittel habe. 181 In den Mittelpunkt des rechtswissenschaftlichen Interesses rückten die Rechtsmittel und die Frage ihrer Vereinheitlichung erst wieder, als sich auch der Staatsrat nicht länger der Einsicht in die Defizite des Eingabenwesens als Leitungs- und Rechtsschutzinstrument verschließen konnte. 182 Mit der Zulassung förmlicher Rechtsmittel erkannte die DDR somit zumindest die - eigentlich systemwidrige - Existenz individueller Rechte in einer Konfliktsituation an. Unter dem Aspekt der Qualität und Intensität des auf diese Weise vermittelten individuellen Rechtsschutzes verwischen sich die Unterschiede jedoch. Dies liegt einerseits darin begründet, daß die förmlichen Rechtsmittel dem Grundsatz der strengen Enumeration unterworfen waren. Dies schloß ihre Einlegung in politisch sensiblen Teilbereichen des gesellschaftlichen Lebens per se aus - gegen die Verweigerung einer Reisegenehmigung in den Westen etwa war ein förmliches Rechtsmittel nicht vorgesehen. 183 Aber auch bei abstrakter Betrachtung ist davon auszugehen, daß selbst wenn einem DDR-Bürger bei jedem Eingriff des Staates in seine subjektiven Rechte ein Rechtsmittel zugestanden hätte, dies Heidrun Pohl und Gerhard Schulze, Hohes Niveau der sozialistischen Gesetzlichkeit bei der Bearbeitung von Anliegen der Bürger sichern, in: Staat und Recht 1978, S. 588-597 (593 0. 181 So der stellvertretende Staatsratsvorsitzende Dr. Manfred Gerlach im Zusammenhang mit der Neuordnung des Eingabenwesens 1968/69. 182 Die - rechtstechnisch umständlich gestaltete - Vereinheitlichung erfolgte durch das "Gesetz zur Neufassung von Regelungen über Rechtsmittel gegen Entscheidungen staatlicher Organe" vom 24. Juni 1971 (GBl. I S. 49); sie hatte ihren Ursprung in den Beratungen der Sachverständigenkommission des Staatsrats zur Neuformierung des Verwaltungsrechtsschutzes im Sinne der Staatsratsverfassung von 1968. Zu erneutem Ruhm gelangten die Rechtsmittel dann in der Reformdiskussion der achtziger Jalrre, da die Verwaltungsrechtswissenschaftler nunmehr in ihnen mögliche Vorläufer der erhofften Verwaltungsrechtsklagen sahen. 183 lnga Markovits, Rechtsstaat oder Beschwerdestaat, in: Recht in Ost und West 1987, S. 265-281 (269).

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seine Rechtsschutzchancen kaum verbessert hätte. 184 Denn letztlich wurde durch das Rechtsmittel kein vom Eingabenrecht wesensverschiedener Kontrollmechanismus ausgelöst. Auch in diesem Fall erfolgte eine Nachprüfung der Entscheidung durch die zuständige Behörde sowie gegebenenfalls nochmalige Überprüfung durch das nächsthöhere Organ. 18S In beiden Fällen hatte der Bürger also einen Anspruch auf ein internes Verwaltungsverfahren, "in dem es keinen neutralen Richter gibt, keine förmliche Verhandlung, keinen Zugang zu den Akten, kein Fallrecht, das die Behörde an ihre eigenen Entscheidungskriterien bände, und in dem daher jeder neue Beschwerdeführer, immer wieder nur auf sich selbst gestellt, der Einsicht und dem Wohlwollen der von ihm kritisierten Verwaltung ausgeliefert ist,,186. Nachteilig im Vergleich zur Eingabe wirkte sich dagegen die Fristgebundenheit der Einlegung des förmlichen Rechtsmittels aus.

IV. Ansätze der Verwaltungsrechtswissenschaft zur Schaffung eines Systems des öffentlichen Rechtsschutzes 1. Der Gegenstand des sozialistischen Verwaltungsrechts

Die Weigerung der Staatsführung, die in Artikel 138 niedergelegten Grundsätze zu realisieren war indes zumindest in der Anfangsphase nicht gleichbedeutend mit einer Unterbindung der wissenschaftlichen Diskussion Markovits, ebenda. Markovits, ebenda. 186 Markovits, ebenda. Freilich ist einzuräumen, daß - wenn auch nur in Ausnahmefalien - im Bereich des förmlichen Rechtsmittelverfahrens Durchbrechungen existierten. Gelegentlich sahen die Vorschriften nämlich die Entscheidung durch Beschluß des Rates der zuständige örtlichen Volksvertretung bzw. sogar einer Beschwerdekommission oder sonstigen Kommission des Rates vor. Hierin läßt sich der Ansatz zu einer Überprüfung durch externe Kontrollgremien erkennen. Die marxistisch-leninistische Ideologie rechtfertigt diese eigentlich systemfremden Ausnah-. men damit, daß die Räte nach dem System der Gewalteneinheit lediglich Vollzugsausschüsse der Volksvertretungen darstellten (wohingegen sie funktionell exekutivische Verwaltungsorgane waren, "welche ihre jeweiligen Volksvertretungen anleiten und beherrschen" (Hannes Kaschkat). In zwei Sonderbereichen ging die Verfahrensformalisierung sogar noch weiter. Im Bereich des Patentrechts und des Sozialversicherungswesens entschieden generell Kollegialorgane aufgrund eines in Anlehnung an die Gerichtsverfahrensgrundsätze stärker formalisierten Verfahrens. Bei Beschwerden im Bereich des Patentrechts war die Zuständigkeit der Beschwerdespruchstellen bei den Patentämtern gegeben, bei den Sozialversicherungsträgern (es sind dies der FDGB für die Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten sowie die Staatliche Versicherung für Genossenschaftsmitglieder und Selbständige) bestanden gar dreistufig aufgebaute Beschwerdekommissionen Geweils auf Ebene des Kreises, des Bezirks und der Republik). Die Bestimmung der Mitglieder der Beschwerdekommissionen oblag beim FDGB den jeweiligen Gebietsvorständen. 184 185

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auf diesem Gebiet. Vielmehr hielt die SED-Führung zunächst an ihrem Bestreben fest, das Verwaltungsrecht für den Aufbau des Sozialismus nutzbar zu machen. Walter Ulbricht selbst trat als Verfasser einer "Lehrbuch" genannten Sammlung von Aufsätzen zu Verwaltungsfragen in Erscheinung, welches er mit fünf Forschungsaufträgen an die Verwaltungsrechtswissenschaft beschloß. 187 Der Verwaltungsrechtswissenschaft gab der "Staatsmann und Staatstheoretiker,,188 folgende Gegenstände zur Untersuchung auf: ,,1. Die Ursachen im kapitalistischen Deutschland unter den Bedingungen der allgemeinen Krise des Kapitalismus und die Wurzeln der faschistischen Wirtschaftspolitik des deutschen Imperialismus in der Vergangenheit.

2. Die ökonomischen Grundlagen der antifaschistisch-demokratischen Ordnung und die neuen Probleme der Struktur und Arbeitsweise der demokratischen Verwaltung; Untersuchung, welche kapitalistischen Gesetze in der sowjetischen Besatzungszone aufgehoben und verändert wurden. 3. Die Besonderheiten der Wirtschaftspolitik und der Wirtschaftsplanung unter den Bedingungen der antifaschistisch-demokratischen Ordnung, wo der volkseigene Sektor die entscheidende Rolle spielt, aber doch verschiedene Wirtschaftsformationen nebeneinander existieren. 4. Das neue Verhältnis zur Arbeit im volkseigenen Sektor der Wirtschaft, die Bedeutung der Aktivistenbewegung und des Wettbewerbs zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität; Systematisierung der neuen Erfahrungen und Aufgaben der Betriebswirtschaftslehre, die aus einer selbständigen Disziplin zu einem Teil der Wirtschaftsplanung geworden ist. 5. Studium des Kampfes um den Sozialismus in der Sowjetunion und der Probleme des Übergangs zum Sozialismus in den volksdemokratischen Ländern.,,189

Dieses "Forschungsprogramm" ließ bereits erkennen, daß die Staatsführung unter Verwaltungsrecht in erster Linie ein Leitungs- und Planungsrecht zur Erfüllung des Wirtschaftsplans verstand. War es Aufgabe der Verwaltung, "die Ziele des Staates zu verwirklichen", so sollte es Aufgabe des Verwaltungsrechts sein, den zur Verwirklichung der Staatsziele führenden Leitungsprozeß rechtlich zu strukturieren. Nach dieser Auffassung gehörten zum Verwaltungsrecht der DDR all diejenigen Normen, die den "organisa187 WaLter Ulbricht, Lehrbuch für den demokratischen Staats- und Wirtschaftsaufbau (1949). 188 So bezeichnete ihn der Professor an der Deutschen Verwaltungsakademie Herbert Kröger in einer byzantinischen Rezension des Werkes, Neue Justiz 1951, S. 270-273 (272). Auf biographische Anmerkungen zur Person des "proletarischen Macchiavellisten" (Begriff von Harald Wessel) wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit verzichtet, da diese in ihrer Kürze der Bedeutung der Person Ulbrichts nicht gerecht werden könnten, und statt dessen auf die Arbeit von Mario Frank, Walter Ulbricht. Eine deutsche Biographie, Berlin 2001, verwiesen. 189 WaLter ULbricht (Anm. 187), S. 273.

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tori sehen Apparat des Staates" reglementieren, dem "die Lenkung, Steuerung und Überwachung der Planverwirklichung obliegt,,190. Fragen des subjektiv-öffentlichen Rechtsschutzes wurden anfangs zwar nicht gerade mit einem Bann belegt. Die Führung von Staat und Partei ließ indes ebensowenig Zweifel daran aufkommen, daß eine wissenschaftliche Beschäftigung auf der Grundlage dieses Ansatzes als rückschrittlich angesehen werden würden. Desungeachtet widmete der damalige Direktor des Instituts für Staatsund Verwaltungsrecht der Universität Leipzig, Karl Bönninger, gerade diesem Aspekt in den fünfziger Jahren eine Reihe von Beiträgen. Ausgangspunkt seiner Überlegungen war der "Gegenstand des demokratischen Verwaltungsrechts der Deutschen Demokratischen Republik", den er 1952 in Anlehnung an die allgemeine Definition Wyschinskijs wie folgt bestimmte: "Das Recht der Deutschen Demokratischen Republik ist die Gesamtheit der Verhaltensregeln, die den Willen der Werktätigen ausdrücken. Es dient dem Zweck, die gesellschaftlichen Verhältnisse der volksdemokratischen Ordnung, die den Werktätigen genehm und vorteilhaft sind, zu schützen, zu stützen und zu entwikkein. Der Gegenstand des Rechts in der Deutschen Demokratischen Republik sind die gesellschaftlichen Verhältnisse der volksdemokratischen Ordnung, die den Werktätigen vorteilhaft und genehm sind.,,191

Innerhalb der "ihrem Wesen nach" einheitlichen Rechtsordnung der DDR erlaube das sozialistische Rechtssystem die Zusammenfassung von geltenden Rechtsnonnen nach einzelnen Gruppen von Nonnen, d.h. nach Rechtszweigen, sowie die Abgrenzung einzelner Gruppen von Nonnen nach ihrem Gegenstand. 192 Der Gegenstand eines bestimmten Rechtszweigs innerhalb einer gegebenen Gesellschaftsordnung habe indes nach der kommunistischen Rechtsauffassung keineswegs stets den gleichen Umfang, sondern könne sich je nach Entwicklung der Basis beliebig ausdehnen oder zusammenziehen. 193 Die Zuordnung konkreter gesellschaftlicher Verhältnisse zu 190 Alfons Steiniger, Zur Systematik des Rechts der antifaschistisch-demokratischen Ordnung, in: Neue Justiz 1951, S. 158-162 (161). 191 Karl Bönninger, Der Gegenstand des demokratischen Verwaltungsrechts der Deutschen Demokratischen Republik, in: Neue Justiz 1952, S. 388-393. 192 In diesem Sinnen stellte der sowjetische Rechtswissenschaftler Michail Arschanow bereits im Jahre 1940 fest: "Die Systematisierung des Rechts nach dem Gegenstand der rechtlichen Normierung entspricht der marxistisch-leninistischen Theorie. Indem sie von dem Inhalt des Rechts, nämlich den realen gesellschaftlichen Verhältnissen ausgeht, ist sie materialistisch. Indem sie die konkreten gesellschaftlichen Zusammenhänge sowie die besonderen und allgemeinen, die inneren und die äußeren Momente der rechtlich erheblichen Tatsachen und Verhältnisse berücksichtigt, ist sie dialektisch." (Zit. nach Seweryn Szer, Begriff und Gegenstand des Zivilrechts, in: Neue Justiz 1952, S. 13-16 [14]). 193 Als Beispiel führte Bönninger (S. 389) die Entwicklung in der Sowjetunion an: "In der Epoche des Kriegskomrnunismus wurden die gesellschaftlichen Verhält-

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einem bestimmten Rechtszweig bestimme sich "notwendigerweise" nach der jeweiligen Klassensituation. 194 Dabei sei der Wille der jeweils herrschenden Klasse ausschlaggebend, welche die Zuweisung jeweils in der Weise treffen solle, daß der Überbaucharakter des Rechts gewahrt bleibe und es seine Funktion zum Schutz, zur Festigung und Entwicklung der jeweiligen Basis voll verwirklichen kann. 195 Hieraus ergab sich insofern zwangsläufig, daß auch die Frage nach dem Gegenstand des Verwaltungsrechts der DDR stets aufs neue nach der jeweiligen Klassensituation zu bestimmen sei: "Auf Grund der Klassensituation entscheidet sich (... ), welche gesellschaftlichen Verhältnisse mit den staatlichen Grundlagen der Gesellschaft in Verbindung stehen und deshalb vom Staatsrecht zu regeln sind, welche mit der Aufbringung und Verteilung der staatlichen Geldmittel durch staatliche Organe in Verbindung stehen und deshalb zum Finanzrecht gehören usw., und wie die Überbaufunktion des Rechts einmal auf die eine Art und Weise, ein andermal auf eine andere Art und Weise am wirksamsten erfüllt werden kann. Aus dieser Feststellung ergibt sich, daß Gegenstand des Verwaltungsrechts in der Deutschen Demokratischen Republik ein bestimmter Komplex gesellschaftlicher Verhältnisse ist, die den Werktätigen genehm und vorteilhaft sind und die in irgendeiner Weise mit der Verwaltungstätigkeit staatlicher Organe des volksdemokratischen Staates in Verbindung stehen müssen. Hiernach ist die Bestimmung des Begriffs der Verwaltungstätigkeit eine Voraussetzung für die Bestimmung des Gegenstandes des Verwaltungsrechts.,,196

2. Rechtsnormen und VerwaItungsanweisungen Ausgehend von diesem Verwaltungsrechtsbegriff unternahmen Rechtswissenschaftler in der DDR in den fünfziger Jahren - zunächst mit Rückendekkung seitens der SED-Führung 197 - den Versuch, ein System des Verwaltungsrechts zu entwerfen. Karl Bönninger trat mit seinem Vorschlag hervor, zwischen "Rechtsnorm und Verwaltungsanweisung" zu differenzieren. 198 Er regte an, die verschiedenen Tätigkeiten staatlicher Organe im sozialistischen Staat nach Tätigkeitsformen gegenüber Bürgern und sozialistischen nisse, die im Zuge der Distribution der erzeugten Güter der Gesellschaft entstanden, zu einem großen Teil durch Normen des Verwaltungsrechts geregelt. Während sie heute meist durch Normen des Zivilrechts geregelt werden." 194 Bönninger (Anm. 191), S. 389 f. 195 Bönninger, S. 390. 196 Bönninger, ebenda. 197 So hatte etwa die 3. Parteikonferenz der SED ausdrücklich angeregt, die Prinzipien der Verordnung über die Prüfung der Vorschläge und Beschwerden der Werktätigen in einem neuen, diese Materie regelnden Gesetz weiterzuentwickeln. 198 Karl Bönninger, Rechtsakt und Verwaltungsanweisung, in: Festschrift für Erwin Jacobi (1957), S. 333-361. 12 Hoeck

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Betrieben einerseits und gegenüber untergeordneten Staatsorganen andererseits zu unterscheiden. Die erste Gruppe werde nach seiner Auffassung durch Rechtsnormen bzw. individuelle Verwaltungsakte - die beide Rechtsverhältnisse begründeten - geregelt. Die zweite Gruppe sei dagegen der Anwendungsbereich der Verwaltungsanweisung, welche grundsätzlich keine Rechtsverhältnisse begründe. Diese "Nichtrechtsverhältnisse" stellte Bönninger auf eine Stufe mit außerstaatlichen gesellschaftlichen Verhältnissen, wie z. B. denen der Mitglieder eines Vereins, einer Genossenschaft, einer Massenorganisation zum Verein, zur Genossenschaft oder zu einer anderen Massenorganisation. 199 Das zentrale Problem in Bönningers Arbeit stellte die Frage der "Unverbrüchlichkeit" staatlicher Akte dar. Grundsätzlich könnten nur unverbrüchliche gesellschaftliche Verhältnisse Rechtsverhältnisse bilden. 200 Sei ein Rechtsverhältnis jedoch unverbrüchlich, so ergebe sich hieraus eine zweiseitig bindende Kraft, die darin bestehe, daß auch das eine Rechtsnorm erlassende und damit Rechtsverhältnisse begründende Organ an seine eigene Regelung gebunden sei und im Einzelfall von der generellen Regelung nicht abweichen könne. Schließlich folge aus dem Merkmal der Unverbrüchlichkeit, daß die Rechte der Beteiligten gegen Verletzungen durch das andere Subjekt oder durch Dritte gesichert sein müßten, und daß die Durchsetzung immer durch zwangsweise Einflußnahme auf die Freiheit oder das Vermögen der verpflichteten Rechtssubjekte erfolge. 201 Im Hinblick auf individuelle Verwaltungsakte entsprach das Merkmal der "Unverbrüchlichkeit" somit praktisch der materiellen Rechtskraft. Diese Erweiterung der Definition des sozialistischen Rechtsverhältnisses begründete der Autor in dem Festschriftbeitrag wie folgt: "Praktisch wird die Unverbrüchlichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse weiterhin dadurch gesichert, daß die Lösung von Konflikten aus diesen gesellschaftlichen Verhältnissen in einem besonderen Verfahren (z. B. in einem Prozeß), in einer besonderen Form (z. B. durch Urteil), von besonderen Organen (z. B. von Gerichten) entschieden wird, was wiederum in unverbrüchlichen Normen festgelegt sein muß. Wäre das nicht so, dann wäre es mit der Unverbrüchlichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht weit her. Wenn das am Rechtsverhältnis beteiligte Subjekt sich nicht darauf verlassen kann, wenn ihm nicht unverbrüchlich garantiert wird, daß bei einer Verletzung seiner Rechte diese wiederhergestellt werden oder dafür ein Ausgleichsrecht gewährt wird, dann gäbe es in der Unverbrüchlichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse praktisch eine Lücke. ,,202

Hiervon ausgehend gelangte Bönninger zu der Schlußfolgerung, daß sich das erlassende staatliche Organ (nur) beim Erlaß von Rechtsnormen als hiernach notwendigen Grundlage aller Rechtsverhältnisse einer starren 199

200 201 202

Bönninger (Anm. Bönninger (Anm. Bönninger (Anm. Bönninger (Anm.

198), 198), 198), 198),

S. S. S. S.

354. 337. 346 ff. 350.

1. Abschn.: Verwaltung in der Gründungsverfassung

179

Selbstbindung unterwerfe. Deshalb sei es eine besonders wichtige verwaltungspolitische Aufgabe, jeweils festzulegen, ob Rechtsnormen oder Verwaltungsanweisungen die richtige Form seien, ein bestimmtes gesellschaftliches Verhältnis staatlich zu regeln. Bei der Entscheidung müsse davon ausgegangen werden, ob im gegebenen Fall eine starre oder eine beweglichere Regelung erwünscht sei, um den demokratischen Zentralismus richtig durchzusetzen. 3. Möglichkeiten der Kontrolle von Individualakten

Da das förmliche Rechtsmittelverfahren offenbar auch im sozialistischen Staat ohne ideologischen Vorbehalt akzeptiert wurde, lag es nahe, hierin die Keimzelle eines Systems des öffentlichen Rechtsschutzes zu erblicken. So brachte Wolfgang Menzel 1956 den Gedanken in die Diskussion ein, gegen alle Individualakte der staatlichen Verwaltung (also unabhängig davon, ob diese bisher mit förmlichen Rechtsmitteln anfechtbar gewesen sind oder nicht) ein einheitliches Rechtsmittelverfahren einzuführen. 203 Dieses skizzierte er als "eine Art kontradiktorisches Verfahren vor einem Kollegium (... ), welches seiner juristischen Qualifikation nach in der Lage sein müsse, in jedem Fall über die streitige Rechtsfrage objektiv zu entscheiden,,204. Zielrichtung dieses Vorstoßes war es vor allem, das Selbstentscheidungsrecht der Verwaltung einzuschränken. "Die Forderung nach einem solchen Verfahren", schrieb Menzel, "wird in erster Linie damit begründet, daß die von Individualakten betroffenen Bürger, in deren Rechte mit diesen Akten der staatlichen Verwaltung zuweilen sehr stark eingegriffen wird, gegen die derzeitige Verfahrensweise häufig den Einwand erheben, die endgültige Entscheidung solle durch das nächsthöhere Organ erfolgen, weil praktisch immer ,dieselben' entscheiden.,,205 Aus Gründen politischer Vorsicht relativierte Menzel seinen Vorschlag alsbald wieder, indem er selbst zu bedenken gab, daß gegen das Verfahren in der vorgeschlagenen Form vorgebracht werden könnte, "daß es, wenn auch nicht von der inhaltlichen Seite, so doch von der formellen der Verwaltungsgerichtsbarkeit des bürgerlichen Staates ähnlich sei; es käme darauf an, der volksdemokratischen Ordnung entsprechende Formen des Rechtsschutzes der Bürger gegenüber Eingriffen der staatlichen Organe zu finden,,206. 203 Wolfgang Menzel, Probleme der Neuregelung des Vorschlags- und Beschwerderechts, in: Demokratischer Aufbau 1956, S. 576-579 (577). 204 Menzel, ebenda. 205 Menzel, ebenda. 206 Menzel, ebenda. Es deutete sich bereits an dieser Stelle an, daß die Frage des Verwaltungsrechtsschutzes weniger aufgrund zwingender Vorgaben der marxistischleninistischen Ideologie politisch tabuisiert wurde, sondern aus dem Bestreben her12'

180

2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

In seiner Replik auf den Beitrag Menzels schloß sich der Jenaer Rechtsprofessor Hans-Ulrich Hochbaum zunächst dem von Menzel dargestellten Befund hinsichtlich der aus der Perspektive der Rechtswissenschaft unbefriedigenden Uneinheitlichkeit der Regelung der förmlichen Rechtsmittelverfahren an und bemerkte, "daß es - mangels einer allgemeinen Rechtsmittelregelung - eine Fülle von spezialgesetzlichen Einzelregelungen des jeweils zulässigen förmlichen Rechtsmittels gibt, bei dem die Unterschiedlichkeit schon bei der Bezeichnung dieser Rechtsmittel beginnt, sich über die verschiedenartigsten Voraussetzungen zur Einlegung des Rechtsmittels bis zu einem in jedem Einzelfall andersartigen Entscheidungsverfahren fortsetzt, um schließlich bei der Frage nach den Rechtswirkungen des förmlichen Rechtsmittels und der Rechtsmittelentscheidung in einer kasuistischen Unübersichtlichkeit zu enden, die es schon dem ,hauptamtlichen Verwaltungsrechtler' ungeheuer schwer macht, hier stets eine klare Linie und sachliche Beweggründe erkennen zu können; ganz zu schweigen von dem Verwaltungsfunktionär, der in der Praxis damit zu arbeiten hat, oder VOn dem Bürger, zu dessen Schutz das Rechtsmittelverfahren ja in erster Linie mit bestimmt ist,,207. Die Vorzüge einer klaren und im Grundsätzlichen einheitlichen Regelung des förmlichen Rechtsmittelverfahrens sah Hochbaum nicht nur in einer erheblichen Erleichterung der Arbeit für die Verwaltungsfunktionäre, sondern ebenso darin, daß sie "bei jedem einzelnen Bürger das Gefühl verstärken (würde), daß seine Rechtsstellung bei Maßnahmen der staatlichen Verwaltung ebenso klar und eindeutig geschützt ist, wie das auf dem Gebiet des Zivil-, Straf- oder Arbeitsrechts der Fall ist,,208. Bei seiner Argumentation ließ der Autor ausdrücklich die "zweifellos ebenfalls sehr wichtige Frage der Eingaben der Bürger" außer Betracht und billigte ihr somit im Rahmen der Rechtsschutzkonzeption - wenn überhaupt - nur einen untergeordneten Stellenwert zu. Dies zeugt angesichts der eindeutigen Präferenz des Eingabenwesens, welches von der Führung von Staat und Partei seit 1953 als universelles sozialistisches Rechtsschutzinstrument propagiert wurde, vom persönlichen Mut des Autors.

Hochbaum hob in seinen Ausführungen insbesondere die Bedeutung des Devolutiv- und des Suspensiveffektes als die maßgeblichen Kennzeichen der förmlichen Rechtsmittel hervor. Diese Merkmale, auf welche das "unaus, die Originalität und Eigenständigkeit des sozialistischen deutschen Gesellschaftsentwurf gegenüber dem westdeutschen Teilstaat zu betonen. In diesem Sinne stellte Menzel in seinem Aufsatz auch fest, daß die "Festigung der Gesetzlichkeit und Entfaltung der sozialistischen Demokratie" nicht gleichbedeutend mit der "Übernahme bürgerlicher Formen" seien. 207 Hans-Ulrich Hochbaum, Zum allgemeinen Rechtsmittelverfahren in der Verwaltung, in: Demokratischer Aufbau 1956, S. 673-676 (674). 208 Hochbaum, ebenda.

1. Abschn.: Verwaltung in der Gründungsverfassung

181

fönnliche" Eingabenwesens bewußt verzichte, seien gerade für den sozialistischen Staat unverzichtbar: ,,(Es) muß jedoch mit allem Nachdruck betont werden, daß nur eine solche suspensive Wirkung des förmlichen Rechtsmittels dem Bürger einen Rechtsschutz gewährt, der unserem sozialistischen Staat der Werktätigen angemessen ist und außerdem auch unsere staatlichen Organe vor übereilten Handlungen bewahrt, die sich nicht nur politisch negativ auf die Festigung des Staatsbewußtseins der Bürger, sondern auch in einer Schädigung ihres persönlichen Eigentums mit der möglichen Folge eines Schadenersatzanspruches auswirken können. Man denke hier nur daran, daß eben auf Grund der aufschiebenden Wirkung des förmlichen Rechtsmittels eine staatliche Verwaltungsmaßnahme erst dann zwangsweise durchgesetzt werden kann, wenn die Rechtsmittelfrist verstrichen oder über das förmliche Rechtsmittel endgültig entschieden worden ist. ( ... ) Dieser Devolutivund Suspensiveffekt scheint mir das wesentlichste Merkmal des förmlichen Rechtsmittels zu sein. Vor allem aus diesen besonderen Rechtswirkungen erklärt sich die ,Förmlichkeit' des Rechtsmittels wie Schriftform oder Rechtsmittelfrist (mit der noch zu regelnden Möglichkeit einer ,Wiedereinsetzung in den vorigen Stand' !), anderenfalls wäre diese Förmlichkeit nichts weiter als eine bürokratische Erschwernis für den Bürger, auf die man dann lieber zugunsten eines ausschließlichen allgemeinen Eingabenrechts verzichten sollte.,,209

Mit dieser Äußerung deutete Hochbaum an, daß er das Eingabenrecht hinsichtlich der von ihm vennittelten Rechtsschutzintensität als minderwertig ansah und es - mangels Devolutiv- und Suspensiveffektes - letztlich gar nicht als Instrument des Verwaltungsrechts anerkannte. Weitergehend als Menzel forderte Hochbaum neben der grundsätzlichen Anfechtbarkeit jeglicher individueller Verwaltungsakte nach dem Prinzip der GeneralklauseI die Einführung der "verwaltungsrechtlichen Feststellungsklage" (auf Vornahme rechtswidrig unterlassener bzw. Änderung unzutreffender Beurkundungen). Als letzten Punkt der Charakterisierung der fönnlichen Rechtsmittel sprach der Autor "die Frage des Personenkreises, der jeweils zur Einlegung solcher fönnlichen Rechtsmittel berechtigt sein soll" (Hochbaum vennied freilich die Bezeichnung "Klagebefugte"), an und stellte fest, daß zu diesem Kreis ausschließlich Bürger und nichtstaatliche Organisationen zählen können, "im Interesse der einheitlichen Durchsetzung des staatlichen Willens und der Festigung der Staatsdisziplin" jedoch keine staatlichen Organe. Auch hier betonte der Autor also die (Individual-)Rechtsschutzfunktion des fönnlichen Rechtsmittelverfahren gegenüber der Indifferenz des Eingabenwesens in der Frage der Beschwerdeberechtigten. Hans-Ulrich Hochbaums Argumentation machte es unausweichlich, die Frage nach der Wiederbelebung der ideologisch stigmatisierten Verwaltungsgerichtsbarkeit zu stellen. In Übereinstimmung mit der überlieferten deutschen Verwaltungsrechtstradition schlug Hochbaum vor, daß das "all209

Hochbaum, ebenda.

182

2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

gemeine Rechtsmittelverfahren" in zwei Stadien vor sich gehen solle, "und zwar: in einem Verwaltungsvorverfahren und im Verwaltungsgerichtsveifahren •.2l0. Das Vorverfahren wollte der Autor dabei nicht - wie zuvor Menzel - auf ein bloßes "Rechtsnachprüfungsverfahren" beschränkt wissen. Vielmehr regte er an, daß das jeweils übergeordnete Verwaltungsorgan von Amts wegen sowohl die rechtliche Fehlerfreiheit als auch die Zweckmäßigkeit der angegriffenen Verwaltungsmaßnahme nachprüfen sollte - allein dies entspreche der sich aus dem System des demokratischen Zentralismus ergebenden Stellung des übergeordneten Organs. Die Ausführungen Hochbaums kulminierten in einem vehementen Plädoyer für die Verwaltungsgerichtsbarkeit im sozialistischen System. Anders als Menzel, der - wie sich später zeigen sollte: nicht ganz unberechtigt - mit großer Vorsicht angebliche Argumente ungenannt bleibender Kollegen vortrug und seine eigene Haltung nur indirekt andeutete, machte Hochbaum aus seiner Position keinen Hehl und stellte seine Forderung nach der Neuerschaffung der offiziell verfemten Verwaltungsgerichtsbarkeit als logische Schlußfolgerung dar: "Gegen die Entscheidung der Rechtsmittelinstanz des "Vorverfahrens" sollte es auf Grund eines weiteren förmlichen Rechtsmittels - der Anfechtungsklage - die endgültige Entscheidung durch ein Verwaltungsgericht geben. Damit wird die Notwendigkeit einer Verwaltungsgerichtsbarkeit bejaht, deren Problematik nicht nur von Menzel öffentlich aufgeworfen wurde (bejaht oder verneint er sie?), sondern die auch in den letzten Wochen und Monaten Gegenstand lebhafter ,interner' Diskussionen im Kreise der Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaftler gewesen ist. ..211

Mit Schärfe wandte er sich gegen die vorherrschenden Argumente gegen Verwaltungsgerichte im volksdemokratischen Staat - auch dies war mutig, bedenkt man, daß Walter Ulbricht selbst sich dieser Argumente bediente: "Welche Argumente werden vor allem gegen eine Verwaltungsgerichtsbarkeit geltend gemacht? 1. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit wäre eine bürgerliche Form, die nicht der volksdemokratischen Ordnung entspräche. Diese Begründung ist ebenso allgemein wie unwissenschaftlich. Entscheidend für den Klassencharakter und die Funktion eines staatlichen Organs ist stets der Klassencharakter des entsprechenden Staates. Im bürgerlichen Staat dienen alle staatlichen Organe, darunter auch die Verwaltungsgerichte, der bürgerlichen Ausbeuterordnung. Im sozialistischen Staat dienen andererseits alle staatlichen Organe dem Aufbau der Grundlagen des Sozialismus. Unbestreitbar ist doch, daß die ,ordentlichen' Gerichte im bürgerlichen Staat bestanden und dort eine Erscheinungsform des bürgerlichen Staates zur Durchsetzung der herrschenden Klassen darstellten. Wollte man den Anhängern der oben angeführten Begründung folgen, dann

210 211

Hochbaum (Anm. 207), S. 675. Hochbaum, ebenda.

I. Abschn.: Verwaltung in der Gründungsverfassung

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dürfte ein sozialistischer Staat zum Beispiel auch keine Zivil- oder Strafgerichte haben, da das eine , bürgerliche' Form wäre. Die Unhaltbarkeit einer solchen Begründung liegt auf der Hand und braucht m. E. nicht weiter bewiesen zu werden. Es kommt nicht darauf an, daß es auch in einigen bürgerlichen Staaten eine Verwaltungsgerichtsbarkeit gibt, entscheidend ist vielmehr, welcher Klasse diese Verwaltungsgerichtsbarkeit im konkreten Staat dient, ob sie der Aufrechterhaltung der bürgerlichen Klassenherrschaft oder der Festigung und Stärkung der sozialistischen Gesetzlichkeit dient.,,212

Überzeugend legte Hochbaum daraufhin in einem zweiten Schritt dar, wie die Institution der Verwaltungsgerichtsbarkeit unter der Prämisse des Grundsatzes der Gewalteneinheit in das volksdemokratische System zu integrieren wäre. Hier argumentierte Hochbaum wie folgt: "Ein weiteres, zwar nicht von Menzel erwähntes, aber ansonsten oft gehörtes Argument gegen die Verwaltungsgerichtsbarkeit besteht darin, daß man summarisch überhaupt eine gerichtliche Kontrolle über die Verwaltung ablehnt, da diese angeblich mit dem Prinzip der Einheit der Staatsgewalt und der Festlegung der verschiedenen Formen der Staatstätigkeit auf bestimmte staatliche Organe unvereinbar sei und einen im sozialistischen Staat nicht vorhandenen Gegensatz zwischen Staat und Bürger konstruiere. Auch dieses Argument fallt bei näherer Betrachtung in sich zusammen. Hier sei nur angedeutet: Gerade das im Gegensatz zur Gewaltenteilungslehre stehende Prinzip der Einheit der Staatsgewalt ermöglicht eine solche Organisation des Staatsapparates und eine Verteilung der Zuständigkeiten auf die verschiedenen staatlichen Organe, wie das im Einzelfall für den Aufbau des Sozialismus zweckmäßig und erforderlich ist, ohne dabei an die gerade von der Gewaltenteilungslehre heiliggesprochene "Unabhängigkeit" der einzelnen "Gewalten", also der Verwaltung gegenüber der Justiz und umgekehrt, gebunden zu sein. Gerade eine gerichtliche Kontrolle über die Tätigkeit der Verwaltung würde keinen Gegensatz zwischen Staat und Bürger konstruieren (sonst dürfte auch keine Zivilklage gegen den Staat zulässig sein!), sondern dazu beitragen, daß Unstimmigkeiten undUngesetzlichkeiten zwischen einem Verwaltungsorgan und einem Bürger beseitigt werden und der Bürger das Vertrauen zu seiner Verwaltung stets aufs neue erhält, das allein die Grundlage für seine aktive Mitwirkung an der Leitung des Staates sein kann. ,,213

Hochbaum versuchte den Gegensatz zwischen externer Kontrolle der Staatsorgane durch Verwaltungsgerichte und dem Grundsatz der Gewalteneinheit also dahin gehend aufzulösen, daß er die gerichtsförmigen Kontrolle als Manifestation der Arbeitsteilung zwischen unterschiedlichen Organen der einheitlichen volksdemokratischen Staatsrnacht darstellte. Zusammenfassend präsentierte er fünf Argumente, die aus seiner Sicht für die Einrichtung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit auch und gerade im sozialistischen (bzw. volksdemokratischen Staat) sprachen: Hochbaum (Anm. 207), S. 676. 213 Hochbaum, ebenda.

212

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

"Es gibt m. E. keine sachlichen Argumente gegen, wohl aber sehr viele Gründe für eine Verwaltungsgerichtsbarkeit. Hier seien nur die wichtigsten kurz erwähnt: 1. Eine Verwaltungsgerichtsbarkeit würde einen exakten Rechtsschutz des Bürgers gewährleisten, das Vertrauen zu seinem Arbeiter-und-Bauem-Staat bedeutend stärken und somit wesentlich zur Entwicklung seines sozialistischen Staatsbewußtseins beitragen. 2. Allein schon die Existenz einer Verwaltungsgerichtsbarkeit und die Möglichkeit einer verwaltungsgerichtlichen Nachprüfung von Verwaltungsakten würde erzieherisch auf die Verwaltungsfunktionäre einwirken und erheblich zur Festigung der sozialistischen Gesetzlichkeit in der Verwaltung und damit zur Durchsetzung der Rechtsnormen des Arbeiter-und-Bauem-Staates beitragen.

3. Eine Verwaltungsgerichtsbarkeit würde entscheidend mithelfen, vorhandene Mängel in der Arbeitsweise der Verwaltungsorgane und in der rechtlichen Regelung der Verwaltungstätigkeit aufzudecken und damit wichtige Voraussetzungen zur Verbesserung der Anleitung der Verwaltungsorgane und zur ständigen Vervollkommnung des Verwaltungsrechts schaffen. 4. Durch die zu veröffentlichenden Entscheidungen der Verwaltungsgerichte würde eine generelle Anleitung der Verwaltungsorgane in verwaltungsrechtlichen Fragen gewährleistet und eine einheitliche Durchsetzung der sozialistischen Gesetzlichkeit durch alle Verwaltungsorgane gesichert werden. 5. Die Schaffung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit würde auch wesentlich die gesamtdeutsche Funktion der DDR verstärken helfen, endgültig alle Verleumdungen der westlichen Imperialisten über die angebliche ,Rechtlosigkeit' der Bürger der DDR zerschlagen und damit vor aller Welt demonstrieren, daß ein echter Rechtsschutz der Bürger nur in einem sozialistischen Rechtsstaat möglich ist. ,,214

Da "somit eine gerichtliche Kontrolle über die Verwaltung unbedingt zu bejahen" sei, schlug der Autor konkret vor, entsprechend "den deutschen Rechtstraditionen" besondere Verwaltungsgerichte einzurichten, weIche unter der "Anleitung" eines "Obersten Verwaltungsgerichts" stehen sollten. 215 Der Aufbau einer derartigen Verwaltungs gerichtsbarkeit sollte nach Auffassung des Autors in der Weise erfolgen, daß in den einzelnen Bezirken der Deutschen Demokratischen Republik jeweils ein Bezirksverwaltungsgericht geschaffen werden sollten, weIches als letzte Rechtsmittelinstanz über die Rechtsmittelentscheidungen der Verwaltungsorgane in den Stadt- und Landkreisen sowie in den Bezirken zu entscheiden hätte. Für die gesamte Republik sei ein Oberstes Verwaltungsgericht zu errichten, das einerseits als Rechtsmittelinstanz über die Entscheidungen der zentralen Verwaltungsorgane urteilen und andererseits die Bezirksverwaltungsgerichte im Wege von Richtlinien und im Kassationsverfahren anleiten und somit eine Vereinheitlichung der Verwaltungsrechtsprechung gewährleisten sollte. 214 215

Hochbaum, ebenda. Hochbaum, ebenda.

1. Abschn.: Verwaltung in der Gründungsverfassung

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V. Die Babelsberger Konferenz und die Liquidierung der Verwaltungsrechtswissenschaft Die unter den gegebenen politischen Umständen zunächst recht unbefangen erscheinende wissenschaftliche Diskussion über die Wiederherstellung der gerichtlichen Kontrolle über Verwaltungsmaßnahmen fand 1958 mit der Babelsberger Konferenz ein jähes Ende. 216 Als Motiv mitbestimmend für Konzeption und Verlauf der Parteikonferenz - denn um eine solche handelte es sich ungeachtet des Tagungsortes nach wie vor217 - war die Weigerung der SED-Führung unter Walter Ulbricht, den von der Sowjetunion mit Chrustschows berühmt gewordener Geheimrede anläßlich des XX. Parteitags (Februar 1956) eingeschlagenen Kurs der Abrechnung mit den Auswüchsen der Stalin-Ära zu adaptieren. In diesem politischen Gesamtkontext stellte die Konferenz eine der Gegensteuerungsmaßnahmen der SED-Führung dar, mittels derer die administrativ-bürokratischen Kräfte in der Leitung des Zentralkomitee der SED den Einfluß der reformerischen Kräfte in der Rechtswissenschaft ausschalten wollten. 218 Leitmotiv der Parteikonferenz war die Ausrottung von Rudimenten bürgerlicher und "revisionistischer" Auffassungen im Bereich der Rechtslehre. Mit dieser Zielrichtung übernahm Walter Ulbricht nunmehr selbst die Aufgabe, die DDR-Rechtswissenschaft zu disziplinieren und umfassend in den Dienst seiner Sozialismusinterpretation zu stellen. Zuvor hatte bereits Karl Polak den Stab über die DDR-Rechtswissenschaft gebrochen: "Ungenügende Aneignung des dialektischen und historischen Materialismus. Mangelnde Beachtung der Beschlüsse der Partei. Mangelndes Studium der So216 Die Babelsberger Konferenz gehört vermutlich zu den am besten untersuchten Gegenständen der DDR-Rechtsgeschichte. Deshalb wird im Rahmen dieser Arbeit auf eine detaillierte Darstellung der Hintergründe und des Verlaufs verzichtet. Vgl. hierzu im einzelnen etwa Ulrich Bemhardt, Die Deutsche Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft Walter Ulbricht 1948-1971, Potsdam Diss. iur. 1997, Deutscher Bundestag (Hrsg.), Öffentliche Anhörung zu dem Thema: "Die Babelsberger Konferenz" am 18. Mai 1993 (zugleich Sitzung der Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland"); Jöm Eckert (Hrsg.), Die Babelsberger Konferenz vom 2./3. April 1958 - Rechtshistorisches Kolloquium der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel 1992 (1993), ders., Die Babelsberger Konferenz vom 2. und 3. April 1958 - Legende und Wirklichkeit, in: Der Staat 1994, S. 59-75, Stefan Güpping, Die Bedeutung der "Babelsberger Konferenz" von 1958 für die Verfassungs- und Wissenschaftsgeschichte der DDR (Speyer, Hochschule für Verwaltungswissenschaften, Diss. 1997), Karl August Mollnau, Über die Wyschinski-Rezeption der Babelsberger Konferenz, in: Neue Justiz 1991, S. 94-96. 217 Vgl. Bemhardt, wie vorangehende Anmerkung, S. 119. 218 In diesem Sinne Bemhardt (S. 118): Die Babelsberger Konferenz müsse "als Bestandteil einer umfassenden neostalinistischen Kampagne zur Institutionalisierung des Rechtsverständnisses der SED-Parteispitze" verstanden werden.

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

wjetwissenschaft und Überschätzung der bürgerlichen Rechtswissenschaft" lauteten die Hauptkritikpunkte der von ihm zur Vorbereitung der Konferenz erstellten Materialien?19 Bereits im Vorfeld kam es zu einer Reihe von Unterwerfungsgesten, mittels derer einige Rechtswissenschaftler der Partei ihre bedingungslose Gefolgschaft zusicherten. 22o Für die Verwaltungsrechtswissenschaft bedeutete die Babelsberger Konferenz eine einschneidende Zäsur. Aufgabe der Konferenz sollte eine grundlegende Bewertung der praktischen Wirksamkeit aller Disziplinen der Staats- und Rechtswissenschaft für den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft sein. 221 In diesem Sinne wurde die Staats- und Rechtswissenschaft an den vorherrschenden gesellschaftstheoretischen Grundlagen gemessen, "Erscheinungen formal-juristischen Arbeitens" in der Gesamtwissenschaft angeprangert, "Formalismus" und "Positivismus" kritisiert. 222 Erklärtes Ziel war es, die "demokratischen Elemente beim sozialistischen Aufbau" zu verstärken und den Bürokratismus zu bekämpfen. Gegen das Verwaltungsrecht, das in weitem Maße die Beziehungen zwischen der staatlichen Verwaltung und dem Bürger zum Gegenstand hat, wurde der Angriff mit besonders scharfen Waffen geführt. Von der ideologischen Basis der Identität der Interessen des einzelnen und der Gesellschaft ausgehend, könne es keine Rechte des Individuums gegenüber dem Staat geben. 223 Allein die Möglichkeit einer Interessenkollision zwischen Bürger und Staatsverwaltung, durch welche subjektive Rechte als Abwehrrechte gegen den Staat erforderlich geworden wären, wurde pauschal der bürgerlichen Gesellschaft zugeordnet, der Sozialismus, als die nach Ansicht der Führung höhere Entwicklungsstufe, war in seinem theoretischen Konzept hiervon unberührt. Vor diesem Hintergrund folgerichtig sprach Ulbricht gegen ein dem Rechtsbindungsdenken verpflichtetes Verwaltungsrecht ein Verdikt aus: "Ich halte es für unrichtig, von einem spezifischen ,Verwaltungsrecht der DDR' zu sprechen. Aus dem Beschluß der Volkskammer über die Rechte der Volksvertretungen ergibt sich, daß es nur ein Recht gibt, das von den gewählten Volksvertretungen beschlossen wird. Alle Verordnungen und Durchführungsbestimmungen 219 Vgl. Herwig Roggemann, Zum Verhältnis von Macht und Recht in der DDR, in: Zeitschrift für Recht und Politik, 1996, S. 18-23 (21). 220 Exemplarisch in diesem Zusammenhang die Feststellung von Angehörigen des Lehrkörpers in der Zeitschrift "Kampfgefährte" der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft: "Eine Staats- und Rechtswissenschaft, die von den Klassenbeziehungen abstrahiert, Staat und Recht nicht als Instrumente der herrschenden Klasse faßt, ist in unseren Augen keine Wissenschaft." (Zit. nach Bemhardt, S. 121). 221 Wolfgang Bemet, Von den Anfängen der marxistisch-leninistischen Staatsund Rechtswissenschaft in der DDR - Zur Entwicklung der Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Staat und Recht 1987, S. 759-767 (763). 222 Bemet, ebenda. 223 Karl Polak, Zur Dialektik in der Staatslehre, S. 397 ff.

1. Abschn.: Verwaltung in der Gründungsverfassung

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müssen dem Sinn des Gesetzes oder der Beschlüsse der gewählten Organe entsprechen. Der Begriff des Verwaltungsrechts verleitet direkt zu einem formaljuristischen Verhalten der Mitarbeiter des Staatsapparates gegenüber den Beschlüssen der gewählten Volksvertretungen. Es ist doch bekannt, daß der spezifische Zweig des Verwaltungsrechts mit der Vervollkommnung der bürokratischen Staatsmaschine der Bourgeoisie aufkam, daß er auf das engste verbunden ist mit bürgerlichen Tendenzen, die staatliche Tätigkeit als politisch neutral darzustellen, mit der Trennung der Beschlußfassung und Durchführung. Unser ganzes Streben ist es hingegen, die Einheit von Beschlußfassung und Durchführung herzustellen, die Verwaltungstätigkeit als unmittelbare staatliche Tätigkeit zu verstehen und zu entwickeln. Darum sind eben Staatsrecht und Verwaltungsrecht miteinander auf das engste verbunden und können für das eine und das andere keine verschiedenartigen Prinzipien gelten ...224

Aus dem Ansinnen, "konsequent die Einheit der Staatsrnacht zu wahren und die Volksvertretungen in das Zentrum des Entscheidungsprozesses zu stellen,.225, ergab sich für die Konferenzleitung unter Walter Ulbricht der Schluß, daß die Existenz eines eigenständigen Rechtszweiges Verwaltungsrecht fortan nicht mehr geduldet werden könne: "Die erfolgreiche Durchführung der Verbesserung des Arbeitsstils erfordert die richtige Einsicht in das politische Wesen unserer Staatsrnacht und ihre Aufgaben. So ist die Trennung von Staatsrecht und Verwaltungsrecht ein bürgerliches Prinzip, das wir rasch aufgeben sollten."

Das Verwaltungsrecht sollte demnach unlösbar mit dem Staatsrecht verbunden werden, die von der Verwaltungsrechtswissenschaft untersuchten Gegenstände in einem einheitlichen Rechtszweig aufgehen. Folge war, daß das Verwaltungsrecht als eigenständige Rechtsdisziplin 19 Jahre lang offiziell als Lehrfach an den Universitäten und Hochschulen gestrichen war. 226 Diejenigen Verwaltungsrechtswissenschaftler, die sich im Vorfeld hinsichtlich der Entwicklung einer einheitlichen Dogmatik besonders profiliert hatten - allen voran Karl Bönninger und Hans-Ulrich Hochbaum - wurden infolge der Konferenz zeitweise aus ihren Lehrämtern entlassen und aus der wissenschaftlichen Diskussion ausgeschlossen. 227 Der rechtswissenschaftlichen Diskussion über eine Verdrängung des Eingabenwesens zugunsten förmlicher Rechtsmittel und verwaltungsgerichtlicher Kontrolle war damit in jeder Hinsicht die Grundlage entzogen und dem "aufkeimenden Rechtsbindungsdenken", welches im Verdacht stand, das tradierte "gesamtdeut224 Walter Ulbricht, Die Staatslehre des Marxismus-Leninismus und ihre Anwendung in Deutschland, in: Sozialistische Demokratie, Beilage Nr. 17, vom 25.4.1958, BISS. 225 Polak (Anm. 223). 226 Karl Bönninger, Die Babeisberger Konferenz und das Schicksal der Verwaltungsrechtswissenschaft, S. 205. 227 Wolfgang Bemet, Entwicklung und Zustand der Verwaltungsrechtswissenschaft in der DDR, in: Der Staat 1990, S. 389-405 (405).

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

sehe" Verwaltungsrecht, wie es etwa Walter Jellinek und Ernst Forsthoff vertraten, allein durch Übersetzung von Begriffen in sozialistisches Rechtsgut zu transformieren, der Weg verlegt. 228 In Hinblick auf die Determinanten der Entwicklung des Verwaltungsrechtsschutzes in der DDR erscheint die Babelsberger Konferenz ebenso aus einem anderen Gesichtspunkt bemerkenswert: Mit dem Verdikt gegen die Verwaltungsrechtswissenschaft unternahm Ulbricht genau das Gegenteil dessen, was die Rechtswissenschaft empfohlen hatte. Hieß es in Hochbaums Artikel über das allgemeine Rechtsrnittelverfahren in der Verwaltung noch unter anderem, die Schaffung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit würde auch wesentlich "die gesamtdeutsche Funktion der DDR verstärken helfen, endgültig alle Verleumdungen der westlichen Imperialisten über die angebliche ,Rechtlosigkeit' der Bürger der DDR zerschlagen und damit vor aller Welt demonstrieren, daß ein echter Rechtsschutz der Bürger nur in einem sozialistischen Rechtsstaat möglich" sei, so wurde hier - endgültig und irreversibel - der entgegengesetzte Weg eingeschlagen. Insofern deutet vieles darauf hin, daß die Haltung der DDR zur Frage verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes auch hier in Abhängigkeit zum Verhältnis der beiden deutschen Teilstaaten zueinander gesehen werden muß. Diese These wird gestützt durch die Auffassung an der Konferenz beteiligter Rechtswissenschaftler, die Babelsberger Konferenz sei weniger von der Auseinandersetzung der SED mit der Frage der Entstalinisierung geprägt gewesen, als vielmehr von der Zuspitzung der ideologischen Auseinandersetzung zwischen der Bundesrepublik und der DDR Mitte der fünfziger Jahre, welche wiederum ganz wesentlich unter dem Eindruck des KPD-Verbots durch das Bundesverfassungsgericht gestanden habe?29 228 Ohne namentlich genannt zu werden standen im Kreuzfeuer der Kritik vor allem die Auffassungen Karl Bönningers, dessen Lehrbuch "Das Verwaltungsrecht der DDR - Allgemeiner Teil" ein Jahr zuvor erschienen war. Ebenso wie in seinem Beitrag "Rechtsnorm und Verwaltungsanweisung" in der Festschrift für Ernst Jacobi (1957) versuchte Bönninger hier aufzuzeigen, daß die formalen Begriffe des deutschen Verwaltungsrechts auch für eine sozialistische Ordnung brauchbar seien, wenn sie nur mit einem neuen, sozialistischen Inhalt erfüllt würden. So hieß es in seinem Lehrbuch von 1957 ausdrücklich, die Verwaltungsrechtswissenschaft in der DDR sei "bemüht, auch die fortschrittlichen Traditionen der überkommenen deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft", d.h. "die Lehren der liberalen Begründer des bürgerlichen deutschen Verwaltungsrechts, insbesondere Otto Mayers", für die "Entwicklung einer den Interessen des Volkes dienenden Verwaltungsrechtswissenschaft nutzbar zu machen" (Kar! Bönninger u. a., Lehrbuch, S. 39 f.). Nach der Konferenz war es dann auch ein vorrangiges "wissenschaftliches" Anliegen linientreuer Rechtswissenschaftler, nach Maßgabe von Ulbrichts Ausführungen den "revisionistischen Charakter" insbesondere des Festschriftbeitrags nachzuweisen (vgl. Günter Abelmann und Hans Bemdt, Rechtsnorm und Verwaltungsanweisung? - Kritische Bemerkungen zu der Abhandlung von Prof. Dr. Bönninger in der Festschrift für Erwin Jacobi, in: Staat und Recht 1958, S. 654-668).

1. Abschn.: Verwaltung in der Gründungsverfassung

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Das Bundesverfassungsgericht hatte mit seiner Rechtsprechung aus Sicht der SED-Führung die These des ,Hochverrats in Permanenz' aufgestellt?30 Aufschlußreich sind in diesem Zusammenhang aus der zeitgenössischen Literatur die Ausführungen von Karl August Mollnau, einem führenden Rechtstheoretiker der DDR, der in seinem Buch "Der Mythos vom Gemeinwohl - Zur Kritik der politisch-klerikalen Sozial- und Staatsideologie" die "offizielle klerikale Staatsrechtsdoktrin Westdeutschlands" scharf attakkierte. 231 Die Darstellung der Zuspitzung des Systemkonflikts Ende der fünfziger Jahre aus der Sicht der DDR-Staatsrechtswissenschaft verdeutlicht, weshalb die Staats- und Parteiführung bestrebt war, eine Annäherung an Formen und Methoden der westdeutschen Rechts- und Gerichtspraxis unter allen Umständen zu vermeiden und statt dessen den Abgrenzungskurs noch zu verstärken. Mollnau schrieb: "Der deutsche Imperialismus entfaltete seine Aggressivität als Juniorpartner des USA-Imperialismus. Neue Kriegsverbrechen vorbereitend, um seinen Expansionsdrang durch Unterdrückung anderer Völker zu befriedigen, richtete er zunächst eine Staatsorganisation auf, die eine Barriere abgab gegen die demokratischen Bestrebungen der Volksrnassen, sich aus der imperialistischen Botmäßigkeit zu befreien. (... ) Die hier (im Handbuch der NATO, Frankfurt 1957, S. 394, der Verfasser dieser Arbeit) als ,Untergrundbewegungen' bezeichneten Kräfte sind jene allen voran die KPD -, die für die Demokratie, für das nationale Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes eintraten. Daß sie als ,Untergrundbewegungen', als ,hochverräterisch' etikettiert werden, nimmt nicht wunder, ist doch die impe229 BVerfGE 5, S. 85-393. Das Bundesverfassungsgerichts hatte in seinem Urteil festgestellt, daß bereits die Ideologie des Marxismus-Leninismus verfassungswidrig sei (vgl. insbesondere Teil A, Ziffer V "Die Unvereinbarkeit des Staats- und Gesellschaftsbildes der Diktatur des Proletariats mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung" [So 195-207]). 230 Karl Bönninger, Die Babelsberger Konferenz und das Schicksal der Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Jöm Eckert (Hrsg.), "Die Babelsberger Konferenz vorn 2./3. April 1958 - Rechtshistorisches Kolloquium der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel 1992", S. 204. 231 In dem Buch vertrat Mollnau die These, in Westdeutschland habe sich eine Sonderform der bourgeoisen Klassenherrschaft herausgebildet, die von aggressiven, imperialistischen Tendenzen der USA einerseits und einer ultramontan geprägten katholischen Kommunismusfeindlichkeit andererseits geprägt werde. Die heute (zumindest aus westdeutscher Sicht) etwas seltsam-übertrieben anmutende These vom bestimmenden Einfluß der katholischen Kirche auf die Politik in Westdeutschland war zum Ende der fünfziger Jahre in der DDR-Staatsrechtswissenschaft als Erklärungsmuster gängig und ordnete die Entwicklung der BRD in die Kategorien der marxistischen "Gesetzmäßigkeiten" ein. In diesem Zusammenhang erscheint es aufschlußreich, daß Ulbricht im Vorfeld der Babelsberger Konferenz den Direktor der seinen Namen tragenden Akademie für Staat und Recht, Kröger, mit der Materialbeschaffung u. a. zu dem Thema ,Eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der katholischen Staatslehre in Westdeutschland' beauftragte (vgl. Ulrich Bernhardt, "Die Deutsche Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft ,Walter Ulbricht' 19481971", S. 119).

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

rialistische Bourgeoisie bestrebt, die Entfaltung ihrer Herrschaft als die Entfaltung der Kräfte der Nation hinzustellen. Da die Herrschaft der Imperialisten und Militaristen in Westdeutschland die Verkörperung des nationalen Verrats, der Negation der Demokratie überhaupt ist, verleumdet und verfolgt sie jede wirkliche nationale und demokratische Bewegung als ,Hochverrat'. (... ) Als 1951 der Beitritt Westdeutschlands zur ,Europäischen Verteidigungsgemeinschaft' aktiv betrieben wird, stellt die Bundesregierung den Antrag auf Verbot der KPD, weil sie diese Partei als Hegemon des nationalen Kampfes der Massen um Frieden, Demokratie und sozialen Fortschritt fürchtet. Als die Pariser Verträge ratifiziert werden und damit der Weg für die offen betriebene Remilitarisierung frei ist, wird die KPD verboten. Nachdem im Februar 1958 der Bundestag den Beschluß gefaßt hat, die Bundeswehr mit Atomwaffen auszurüsten, wird von der Bundesregierung der Weg zur offenen klerikalfaschistischen Diktatur beschritten: Sie setzt die Notstandsgesetzgebung auf die Tagesordnung, fordert einen ,aktiven' Verfassungsschutz und Unterbindung ,jeglicher Kontakte' zwischen Bürgern beider deutscher Staaten USW.,,232

Dem angeblich zu konstatierenden "Verfallsprozeß der bürgerlichen Staatslehre in Westdeutschland, ihr Hinabsinken zum Faschismus, der unter den heutigen Bedingungen in Westdeutschland in klerikaler Verkleidung auftritt" wollte die Parteiführung nunmehr mit einer radikalen Abgrenzung gegenüber Formen und Methoden der westdeutschen Rechtspraxis entgegentreten. Es entsprach der aufgeheizten politischen Atmosphäre der Zeit, den westdeutschen Staat in toto, mitsamt seinen Institutionen und rechtlichen Mechanismen, als undemokratisch zu verurteilen. Die in anderen Phasen der Geschichte der DDR, zuvor wie auch danach, zutage tretende Bereitschaft, im Zeichen des "sozialistischen Rechtsstaats" auf Rechtsinstitute zurückzugreifen, die ja keine Erfindung Westdeutschlands waren, sondern der überlieferten gesamtdeutschen Rechtstradition entsprachen, und sie sozialistisch zu interpretieren und anzuwenden, war in diesen Tagen von den politischen Grundlagen her undenkbar. Das Zentralsekretariat der SED vertrat gewissermaßen als Pendant zu der von der Bundesregierung233 geäußerten Ansicht die Auffassung, daß bereits die bürgerliche Ideologie, oder das, was sie dafür hielt, auf Zerstörung der sozialistischen Ordnung in der DDR gerichtet sei. 234 Der "bürgerlichen Ideologie" wurde in diesem Sinne alles zugerechnet, was die Herstellung demokratischer und rechtsstaatlicher Zustände betraf, so vor allem der angeblich extensive Ausbau des westdeutschen "Richterstaats": "Der politische Klerikalismus, der auf allen Lebensgebieten die reaktionärsten Traditionen der deutschen Geschichte im Interesse der aggressiven Bestrebungen

Karl August Mollnau, Der Mythos vom Gemeinwohl", S. 84. Im Verbotsantrag gegenüber dem Bundesverfassungsgericht, vgl. BVerfGE 5, S. 85-393, insbesondere Abschnitt I, Ziffer 11: "Die Anträge und ihre Begründung" (S. 102-104, m. w.N.). 234 Karl Bönninger (Anm. 230). 232

233

1. Abschn.: Verwaltung in der Gründungsverfassung

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des deutschen Monopolkapitals ,fruchtbar' zu machen sucht, tut es auch hier. In die mittelalterlichen Lehren eines Augustinus und Thomas, die wieder aufgezäumt und zur offiziellen Staatsdoktrin erhoben werden, findet alles Reaktionäre Eingang. Die imperialistische Geschichtslehre aktiviert die reaktionäre Abendlandideologie, färbt die Preußenlegende wieder auf und versucht alle preußisch-militaristischen und antidemokratischen Traditionen der Vergangenheit wieder zum Leben zu erwecken. Ebenso ist es in der Staats- und Rechtslehre. Hier wird an die antidemokratischen Traditionen der Justiz und die vorhandenen Illusionen über sie angeknüpft. Das äußert sich in dem von den Vertretern des politischen Klerikalismus (gemeint ist u. a. der Präsident des Bundesverwaltungsgerichts Friedrich Wemer, der Verfasser dieser Arbeit) geprägten Schlagwort vom ,Richterstaat'. Dieser , Richterstaat' ist eine Äußerungsform der aggressiven Bestrebungen des deutschen Monopolkapitalismus, der heute unter Benutzung anderer Formen seine restaurierte Macht ausübt. Wenn von bürgerlichen Ideologen festgestellt wird, daß der Weg vom ,Gesetzesstaat zum Richterstaat' am konsequentesten in Westdeutschland gegangen worden sei und in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg hier die Rechtsprechung ,auffallend stark' entwickelt habe und ,machtvoll hervorgetreten' sei, so spiegelt sich darin wider, mit welch beispielloser Demagogie der westdeutsche Imperialismus die vorhandenen Illusionen an die ,Neutralität' der Justiz, die ,Gläubigkeit' an das ,übergesellschaftliche' Wesen von Recht und Richteramt bei der Restaurierung seiner Macht ausgenutzt hat. Die Demagogie der imperialistischen Ideologen um die Errichtung des ,Richter- oder Rechtsprechungsstaates" hat im Grunde genommen ein Ziel: Sie soll die steigende Bewußtheit und Aktivität der Volksrnassen paralysieren und ausschalten.,,235 Und im Dokument des Nationalrates "Die geschichtliche Aufgabe der Deutschen Demokratischen Republik und die Zukunft Deutschlands" hieß es: "So stehen sich heute zwei deutsche Staaten auf deutschem Boden feindlich gegenüber. Jeder von ihnen verkörpert ein grundSätzlich anderes Deutschland, grundsätzlich verschiedene deutsche Traditionen. ,,236 Dieser "unversöhnliche Gegensatz" müsse in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens vor allem durch die Gesellschaftswissenschaften herausgearbeitet werden?37 Jede Abstraktion von diesem "Grundsatz" bedeute, ihn zu verwischen. 238 Aus dieser Perspektive hatten Autoren wie Karl Bönninger in ihren Aufsätzen "die Rechtsformen durch die Trennung von Form und Inhalt in gewisser Weise absolutiert" und "die Entwicklung des Rechts als eine Art Selbstbewegung, als Wandel seiner Funktion" aufgefaßt und 235 Gerhard Haney, Politischer Klerikalismus und ,Richterstaat', in: Staat und Recht 1961, S. 1663-1686 (1673). 236 Neues Deutschland vom 27.3.1962, S. 1. 237 Gerhard Haney, Das Recht der Bürger und die Entfaltung der sozialistischen Persönlichkeit, in: Staat und Recht 1962, S. 1063-1080 (1064). 238 Haney, ebenda.

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

sich damit dem Vorwurf ausgesetzt, das sozialistische Recht nicht genügend als Mittel des Klassenkampfes zu begreifen" und es nicht "voll zur Waffe (... ) bei der Lösung der nationalen Frage" werden zu lassen. 239 Einer derartigen "Kontinuität der Rechtsformen" (Gerhard Haney) sollte die Babelsberger Konferenz entgegenwirken, indem sie in bewußter Abgrenzung zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung westlicher Prägung die Grundlagen des administrativ-bürokratischen Herrschaftssystems stärkte. In diesem Sinne war Walter Ulbricht zu verstehen, wenn er grundsätzlich bemerkte: "Es wäre völlig falsch, die Unterschiede zwischen den beiden deutschen Staaten auf ein Mehr oder Weniger der Demokratie zu reduzieren. Es geht um tiefgreifende gesellschaftliche und geschichtliche Entwicklungsprozesse, Entwicklungsprozesse von weltgeschichtlicher Bedeutung, und je tiefer wir sie zu analysieren verstehen und sie der Bevölkerung deutlich machen, um so mehr wird sich die gesellschaftliche Bewegung zu unseren Gunsten vollziehen. ,,240 Damit war klar, daß auch Annäherungen an den westdeutschen Standard in Fragen der Verwaltungskontrolle unzulässig werden mußten. Positionen wie diejenigen, die von Hans-Ulrich Hochbaum in Richtung auf eine systemverträgliche Integration der Verwaltungsgerichtsbarkeit geäußert wurden, oder gar die noch weiter gehenden Ansichten Karl Bönningers, denen zufolge die formalen Begriffe des deutschen Verwaltungsrechts auch für eine sozialistische Ordnung brauchbar seien, sofern sie nur mit einem neuen, sozialistischen Inhalt erfüllt würden, kamen fortan nicht mehr in Betracht. Insofern läßt sich behaupten, daß die Niederlage reformorientierter Verwaltungsrechtswissenschaftler zwar indirekt, aber maßgeblich von der Entwicklung der Deutschlandpolitik beeinflußt wurde. Im Ergebnis führte die Babelsberger Konferenz zur Rehabilitierung des aufgrund seiner Wirkungslosigkeit eigentlich auch aus der Sicht der SEDFührung bereits völlig diskreditierten 241 Eingabenwesens aus Mangel an ideologisch zulässigen Alternativen. Die Folge war, daß die Fortentwicklung des Verwaltungsrechtsschutzes lange Zeit ohne maßgeblichen Einfluß der Rechtswissenschaft stattfand. Zwar wurden die Rechtsgrundlagen des Eingabenwesens durch von der Staatsführung eingesetzte Kommissionen, an denen stets auch Rechtswissenschaftler beteiligt waren, modifiziert und fortentwickelt. Jedoch fehlte es fortan an einer alle Bereiche der Verwaltungsrechtswissenschaft erfassenden Dogmatik. So waren es später zumindest nicht nur ideologische Barrieren und Denkverbote, welche das Eingabenwesen in seiner Position als alleiniges Instrument der Reglementierung der Bürger-Staat-Beziehungen erhielten. Vielmehr konnte selbst bei einer 239 240

Haney, S. 1067. Vlbricht (Anm. 224).

241 Aus Gründen der Übersichtlichkeit wird die Entwicklung des Eingabenwesens in den folgenden Abschnitten im Zusammenhang dargestellt.

1. Abschn.: Verwaltung in der Gründungsverfassung

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Zuwendung zu rechtsstaatlichen Maximen, wie sie in der Geschichte der DDR aus unterschiedlichen GlÜnden mehrfach in Erscheinung traten, nicht mehr auf einzelne Bausteine eines verwaltungsrechtlichen Systems zulÜckgegriffen werden. Dies zeigte sich beispielsweise immer dann, wenn die Staatsführung versuchte, die Funktionsfähigkeit der Bürokratie durch die Einführung von Formen externer Verwaltungskontrolle sicherzustellen. Stets blieben diese Versuche erfolglos, sei es, daß sie über das Entwurfsstadium gar nicht hinauskamen, oder daß sie sich in der Realität als wirkungslos erwiesen. Dies lag indes nicht - oder zumindest nicht nur - daran, daß sie nicht hinreichend ernst gemeint waren oder aus Angst vor der eigenen Bevölkerung bewußt wirkungslos ausgestaltet wurden, sondern hing ganz entscheidend damit zusammen, daß die isolierte Betonung einzelner Bestandteile eines Verwaltungsrechtssystems nicht zum gewünschten Ziel führen konnte. So mußten Formen externer Verwaltungskontrolle in Ermangelung eines Verwaltungsverfahrensrechts ins Leere laufen, da insofern schon gar kein Maßstab für "rechtmäßiges" Verwaltungshandeln vorgegeben war. Darüber hinaus fehlte es an einer "Lehre vom Verwaltungsakt" , nach welcher justitiables von gerichtlicher Kontrolle unzugänglichem Verwaltungshandeln geschieden werden konnte. Bis zur Babelsberger Konferenz bestand noch Aussicht darauf, daß die Rechtswissenschaft der DDR ein solches System im Rahmen der ideologischen Vorgaben des Marxismus-Leninismus hervorbringen konnte. Mit der Auslöschung der Verwaltungsrechtswissenschaft als eigenständiger Disziplin begab sie sich dieser Möglichkeiten und geriet auch gegenüber den anderen sozialistischen Staaten in einen nicht wieder aufzuholenden Rückstand.

13 Hoeck

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

Zweiter Abschnitt

Theoretische Grundlagen des Eingabenwesens J. Wurzeln des Eingabenrechts 1. Das Eingabenwesen als Petitionsrecht in historischer

und vergleichender Sicht

Das Eingabenwesen stellte in Art und Ausmaß seiner praktischen Handhabung eine spezifische Eigenart der Rechtskultur der DDR dar und erfüllte gleichermaßen eine Vielzahl unterschiedlicher Zielsetzungen rechtlicher, aber auch allgemein politischer und sogar rein volkswirtschaftlicher Natur. Dabei sind Eingaben, zurückgeführt auf die Grundform der Petitionen oder Bittschriften an den Herrscher freilich keine spezielle Eigenart oder erfinderische Leistung der DDR oder der marxistisch-leninistischen Staats- und Rechtslehre, sondern seit jeher Phänomene in Staatswesen mit unterschiedlichsten Herrschaftsformen. I Das Petitionsrecht entspringt germanischem Rechtsdenken; es leitet sich aus dem Recht der Stände ab, die im Mittelalter das Recht hatten, "gravamina" an die Staatsautorität weiterzuleiten und einen Anspruch auf Antwort auf diese Petitionen hatten. 2 Parallel zur Entwicklung der Stellung des Einzelnen im Staat und der demokratischen Ausbildung der Staatswillensbildung entwickelte sich aus dem korporativen Pe1 So berichtet beispielsweise Hans-Ludwig Rosegger, der das Petitionsrecht als "Urinstitution der staatenbildenden Gesellschaft" bezeichnet, von einer Bittschrift aus dem Volke an Karl den Großen aus dem Jahre 803, die erbat, Geistliche vom Kriegsdienst freizustellen. Der Herrscher ließ die Eingabe untersuchen und beantworten ("Petitionen, Bitten und Beschwerden", Berlin 1908, S. 59). Als besonders fortschrittliche Bestimmung galt die Regelung des Petitionsrechts im Allgemeinen Landrecht für Preußen. von 1794, welche bereits ein bestimmtes Verfahren zur Eingabenbearbeitung vorsah. Darüber hinaus sprach es dem Bürger nicht nur das subjektive Recht zur Petition zu, sondern stellte diesem Recht auch eine damit korrespondierende Pflicht zur Eingabenbearbeitung gegenüber. Wörtlich verbriefte die Bestimmung: "Einem jeden steht frei, seine Zweifel, Einwendungen und Bedenklichkeiten gegen Gesetze und andere Anordnungen im Staat sowie überhaupt seine Bemerkungen und Vorschläge über Mängel und Verbesserungen sowohl dem Oberhaupt des Staates als dem Vorgesetzten des Departments anzuzeigen, und letztere sind dergleichen Anzeigen mit erforderlicher Sorgfalt zu prüfen verpflichtet." (ALR 11, 20, § 156) beziehungsweise: "Alle obrigkeitlichen Personen sind schuldig, einen jeden, welcher sich in Angelegenheiten ihres Amtes bei ihnen meldet, persönlich zu hören und auf schleunige Untersuchungen und Abhelfung begründeter Beschwerden bedacht sein." (ALR 11, 20, § 180) Ausführlich zur Geschichte des Petitionsrechts Walter Eitel, Das Grundrecht der Petition gemäß Artikel 17 des Grundgesetzes, Tübinger Diss. iur. (1960), S. 30-54. 2 Karl Korinek, Das Petitionsrecht im demokratischen Staat, S. 9 f.

2. Abschn.: Theoretische Grundlagen des Eingabenwesens

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titionsrecht das Recht aller physischen und juristischen Personen, die in einem Staat leben bzw. ihren Sitz haben, Petitionen an die staatliche Autorität zu richten? Aus der Sicht des Adressaten (i. d. R. des "Herrschers") dienten Petitionen dazu, mittels verschiedenartiger Wirkungsweisen die Gesellschaft zu stabilisieren. Einerseits dienten Petitionen dem Herrscher gleichsam als "Strohhalme, an denen man sieht, wie der Wind steht" (Robert v. Mohl).4 Auf ganz unmittelbare Weise, gewissermaßen ungefiltert durch einen bürokratischen Apparat, wurde der Herrscher mit den im Volke vorherrschende Stimmungen, Vorbehalten und Bedürfnissen vertraut gemacht. Ebenso konnte sich in Petitionen die individuelle Unzufriedenheit der Bürger abbilden, die im Falle ihrer Verbreitung schnell zu einer revolutionären Strömung werden konnte. Je weniger ein Staatswesen seinen Bürgern die Möglichkeit gab, durch Wahlen oder andere Möglichkeiten zur Bekundung des politischen Willens Veränderungen in der Haltung der Bevölkerung zu ihrem Staat zu artikulieren, desto unentbehrlicher wurde diese ,,signalisierungsfunktion" des Petitionsrechts für eine situationsgerechte Politik. 5 Daneben dienten Petitionen auch stets dazu, den Bürger in das Gemeinwesen zu integrieren, indem ihm durch das Petitionsrecht das Gefühl vermittelt wurde, er werde mit seiner Stimme an maßgeblicher Stelle gehört, und seine Kritik werde Beachtung finden. In diesem Zusammenhang wurde es üblich, zwei verschiedene Ausprägungen des Petitionsrechtes voneinander zu unterscheiden, nämlich das Beschwerderecht des Bürgers gegen die Verletzung subjektiver Rechte einerseits und den Petitionen, die allgemeine Mißstände aufgriffen, andererseits. 6 Sofern das Petitionsrecht zur Durchsetzung subjektiver Rechte dienen sollte, stand es in Konkurrenz zu Formen von rechts staatlicher Verwaltungskontrolle, insbesondere durch eine unabhängige Verwaltungsgerichtsgerichtsbarkeit. Insofern überrascht es nicht, Korinek. ebenda. In diesem Sinne äußerte sich auch Friedrich Murhard wie folgt: "Die Freiheit, seine Stimme gegen jeden Machtmißbrauch zu erheben, ist wie ein Wetterglas, worin sich die Temperatur des Dunstkreises der Gesinnungen allezeit aufs Gewisseste erkennen läßt und eine weise Gesetzgebung und eine rechtliche Verwaltung finden in diesem reinen und klaren Spiegel der öffentlichen Meinung, welcher nur selten trügen kann, die sicherste Richtschnur ihres Betragens." (Friedrich Murhard, Von der Übung des Petitionsrechts durch öffentliche Volksversammlungen und freie Vereine [1833], S. 325). 5 In diesem Zusammenhang erscheint es als bemerkenswerte Koinzidenz, daß die Vorschlags- und Beschwerdeordnung als normative Grundform des Eingabenwesens im Jahre 1953 erlassen wurde - in dem Jahr, in dem der durch eine Normerhöhung hervorgerufene Aufstand vom 17. Juni die Staatsführung nachhaltig traumatisierte. 6 Eitel (Anm. 1), S. 39, Wolfgang Graf Vitzthum, Petitionsrecht und Volksvertretung. Zu Inhalt und Schranken des parlamentarischen Petitionsbehandlungsrechts, S.22. 3

4

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära U1bricht

daß mit der Verfestigung des liberalen Rechtsstaats um die Jahrhundertwende Zweifel an der Unentbehrlichkeit des Rechtsinstituts aufkamen. So war die zeitgenössische rechtswissenschaftliche Literatur der Ansicht, das Petitionsrecht entbehre der juristischen Substanz und sei politisch zumindest unter den gegebenen Machtverhältnissen unbedeutend. Jedenfalls bedürfe es keiner eigenständigen Rechtsgrundlage. In diesem Zusammenhang bemerkte etwa Conrad Bomhak: "Das Petitionsrecht scheidet aus dem Rechtsleben überhaupt aus; es ist die angeborene menschliche Fähigkeit, Mitmenschen um etwas bitten zu können, und steht mit dem Recht zu schlafen auf einer Stufe."?

Diese Ansicht ist eigentlich nicht unverständlich, wenn man bedenkt, daß die Verwaltungsgerichtsbarkeit bereits ihren Siegeszug angetreten hatte und insbesondere die Errichtung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts den Höhepunkt einer justizpolitischen Entwicklung markierte, die dem Individualrechtsschutz gegenüber dem Staat zu immer umfassenderer Geltung verhalf. Ein Recht mit dem Inhalt, von der Obrigkeit etwas zu erbitten, was ebensogut gerichtlich eingefordert werden konnte, erschien nicht mehr zeitgemäß. In diesem Sinne äußerte sich 1911 auch Paul Laband, der die Ansicht vertrat "daß das Recht zu petitionieren ein natürliches Recht ist von ähnlichem Inhalt wie das Recht, Briefe zu schreiben oder Lieder zu singen"s. Die ablehnende Bewertung verstärkte sich nochmals in der Weimarer Republik. Da nun sowohl Regierung als auch Parlament ihre Rechte allein vom Volke herleiteten, erblickten Teile der Rechtswissenschaft im Petitionsrecht bloß noch ein anachronistisches Residuum aus absolutistischen Tagen. So bemerkte Axel von Freytag-Loringhoven im Jahre 1924: "das Petitionsrecht (sei) dem Parlament und der Regierung gegenüber ein Überbleibsel früherer Zeiten, das heute im allgemeinen nur Querköpfen zugute kommt, die einen Vertreter ihrer Wünsche nicht finden,,9.

Das Petitionsrecht stellte somit seit der Jahrhundertwende einen Atavismus dar, dem Politik und Rechtswissenschaft unter Rechtsschutzgesichts7 Conrad Bomhak, Das Petitionsrecht, in: Archiv des öffentlichen Rechts, Band 16, 1901, S. 403. Schon in älteren Zeiten existierte die ironische Wendung: "Supplizieren und Wassertrinken ist jedermann gestattet." (Vgl. Korinek, wie Anm. 2,

S.7).

8 Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reichs, Band I (1911), S. 305. Theodor Eschenburg deutet den zugrundeliegenden Sachverhalt als Bestandteil altliberalen Gedankenguts: Es entspreche den Prinzipien eines freiheitlichen Staates, daß den Bürgern grundSätzlich alles gestattet sei, was ihnen nicht durch die Rechtsordnung ausdrücklich verboten ist (Staat und Gesellschaft in Deutschland, S. 473); 9 Axel Frhr. v. Freytag-Loringhoven, Die Weimarer Verfassung in Lehre und Wirklichkeit, S. 320.

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punkten keine allzu hohe Bedeutung mehr beimaßen. Trotzdem hielten die deutschen Verfassungsgeber in Ost und West auch nach dem Krieg - wohl eher aus Traditionsgründen als aufgrund der Überzeugung von dessen Erforderlichkeit und Zeitmäßigkeit - am Petitionsrecht fest. Im westdeutschen Grundgesetz wurde es - nach anfänglichen Bedenken in der oben angeführten Tradition lO - in Art. 17 des Grundgesetzes verankert, ebenso findet es sich in vielen Landesverfassungen, wie z.B. Art. 115 der Bayerischen Verfassung. 1 1 Dem Wortlaut der Verfassungsnorm nach sind Aufsichtsbeschwerde und Petition ("Bitten und Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die Volksvertretung") gleichberechtigt nebeneinandergestellt. 12 Folglich unterfallen dem Schutzbereich des Artikels 17 GG in der Bundesrepublik auch die nicht formgebundenen Rechtsbehelfe im Verwaltungsverfahren. 13 In der Praxis wurde das Petitionsrecht in der Bundesrepublik vor allem als zusätzliches Ventil des Bürgers für nicht justitiable Anliegen gesehen. 14 Umstritten war im deutschen Staatsrecht von jeher die Frage, 10 Es galt noch dem Redaktionsausschuß zum Bonner Grundgesetz als "antiquiert und deshalb entbehrlich", vgl. Korinek, S. 5, m. w.N. 11 Sepp Klasen, Das Petitionsrecht zum Bayerischen Landtag - Eine Ombudsman-Einrichtung, S. 33. 12 Dies obwohl es sich nach der h. M. um wesentlich verschiedene Sachverhalte handelt. In der Literatur wird der Unterschied in der egozentrischen Natur der Aufsichtsbeschwerde gesehen, durch die der einzelne das Ohr der Behörde für sein Interesse gewinnen wolle, während die Petition mehr, nämlich die öffentliche Meinung für sich in Anspruch nehmen wolle, wie diese im Parlament erscheine, um sie zu einem Handeln für das Sonderinteresse des petitionierenden Bürgers anzuregen (vgl. Eitel, S. 62, m. w. N.). Folgerichtig nehmen etwa die Grundsätze des Petitionsausschusses des Bundestages über die Behandlung von Bitten und Beschwerden (vom 15. Juni 1983) unter Ziffer 3 ("Eingaben") folgende begriffliche Differenzierung vor: "Petitionen sind Eingaben, die ein erkennbares Anliegen enthalten, d.h. ein Vorbringen, mit dem der Einsender Bitten oder Beschwerden in eigenem oder fremdem Interesse mit dem Ziel einer Änderung oder Abhilfe vorträgt. Bitten sind vor allem Vorschläge zur Gesetzgebung. Beschwerden beziehen sich in der Regel auf ein Handeln oder Unterlassen der Verwaltung. Sonstige Eingaben. Keine Petitionen sind Auskunftsersuchen sowie bloße Mitteilungen, Belehrungen, Vorwürfe oder sonstige Meinungsäußerungen ohne materielles Verlangen. (... )". (Zit. nach Graf Vitzthum, wie Anm. 6, S. 146). 13 Eitel weist auf die sich hieraus ergebende Diskrepanz zwischen Verfassungsgebot und Verfassungswirklichkeit hin. Soweit die Behörden kraft Verfassung verpflichtet sind, Eingaben zu bescheiden, sei der verwaltungsrechtlich anerkannte Begriff der "Papierkorbbeschwerde" mit dem verfassungsmäßig gewährleisteten Petitionsrecht nicht mehr in Einklang zu bringen (wie Anm. 1, S. 68). 14 In diesem Sinne etwa Günther Dürig in Maunz-Dürig-Herzog, GrundgesetzKommentar, Art. 17, Rdnr. 1: "Im Wertsystem der Grundrechte anerkennt Art. 17, daß menschliche Nöte, Sorgen, Kümmernisse, Anliegen usw. vom Staat auch außerhalb formaler Rechtsmittel- und Gerichtsverfahren und auch nach deren Abschluß

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wie das Petitionsrecht in das Gesamtsystem der subjektiv-öffentlichen Rechte einzuordnen sei. Im demokratischen Rechtsstaat wird das Petitionsrecht überwiegend sowohl dem status negativus (der Staat hat präventive und repressive Eingriffe in das Petitionsrecht zu unterlassen) als auch dem status positivus (Petent hat Anspruch auf sachliche Prüfung und Verbescheidung der Petition) zugerechnet. 15 Dagegen wird das Petitionsrecht nach bürgerlich-demokratischer Auffassung überwiegend nicht dem Status der aktiven Zivität zugerechnet, durch die dem einzelnen die mit seiner Person verknüpfte Fähigkeit zuteil wird, als Staatsorgan handeln zu können. Zwar nehme der Bürger, der eine Petition an das Parlament richtet, um auf diese Weise auf das Gesetzgebungsorgan einzuwirken, notwendigerweise an der Willensbildung des Staates teil (insbesondere, wenn es ihm gelingt, die Volksvertretung in seinem Sinne zu beeinflussen), dies allein für eine Zurechnung zum status activus ausreichen zu lassen mißverstehe jedoch die primäre Bedeutung des Petitionsrechts, weil sie Nebenerscheinungen zu großen Wert beimesse 16 - "Das Petitionsrecht ist kein politisches Recht des status activus im strengen Sinn des Wortes als Teilnahme an der staatlichen Willensbildung." (Ernst Friesenhahn)17 2. Die marxistisch-leninistische Tradition des Eingabenrechts Den entgegengesetzten Standpunkt in dieser Frage bezog von jeher die marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie. Vor dem Hintergrund des oben 18 beschriebenen Phänomens der Interessenidentität zwischen Staat und Individuum widersprach die marxistisch-leninistische Staatslehre der zur Kenntnis genommen, geprüft und verabschiedet werden müssen. Art. 17 gesteht dem Menschen ein, daß sich der Staat nicht anmaßt, ausschließlich durch sein stringentes Verfahrensrecht darüber zu bestimmen, ob und wann ein menschliches Petitum rechtserheblich sein soll. Menschliche Nöte sind und bleiben menschliche Nöte, auch wenn formale Fristen verpasst wurden, wenn verfahrensrechtlich subjektive Rechtsverletzung nicht dargetan werden konnte, wenn die staatliche Entscheidung rechtskräftig geworden ist, usw." Neben dem nach dem Grundgesetz gewährleisteten lückenlosen förmlichen Rechtsschutzverfahren (Art. 19 IV GG) falle dem Petitionsrecht die Aufgabe zu, "die menschliche Purgationsfunktion des Herzausschüttens zu erfüllen". 15 BVerfGE 2, 225 (230); 13, 54 (90). 16 Vgl. Peter Günther, Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit des Petitionsrechts, Kölner Diss. iur. 1972, S. 10 ff., m. w.N. Anderer Auffassung ist Korinek, S. 38 ff. 17 "Zur neueren Entwicklung des Petitionsrechts in der Bundesrepublik Deutschland" in "Recht als Prozeß und Gefüge", Festschrift für Hans Huber (Bern 1981), S. 353-375 (360) unter Hinweis auf die diesbezügliche höchstrichterliche Rechtsprechung des Staatsgerichthofs für das Deutsche Reich (Urteil vom 19.12.1929) sowie des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 13,54,90). 18 Zweiter Teil, erster Abschnitt, Ziffer I. 2. c.

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Auffassung vom Eingabenrecht als herrscherlichem Gnadenerweis und proklamierte es nunmehr als Instrument der Partizipation und zur Integration des Bürgers in die sozialistische Gemeinschaft. Als "Paten" des Eingabenwesens in seiner sozialistischen Ausprägung lassen sich Lenin ebenso wie Stalin bezeichnen. Beide Sowjetführer postulierten die breite Einbeziehung der Volksrnassen als Mittel zur Stärkung der Staatsrnacht und sahen hierin den Schlüssel zur Freisetzung des in der Bevölkerung vorhandenen Potentials. In diesem Sinne äußerte sich Lenin auf dem 11. Allrussischen Kongreß der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten wie folgt: "Nach bürgerlichen Begriffen kann dann von Stärke gesprochen werden, wenn die Massen den Befehlen der imperialistischen Regierungen gehorchen und blindlings zur Schlachtbank gehen. Die Bourgeoisie hält nur dann einen Staat für stark, wenn er mit der ganzen Macht des Regierungsapparates die Massen dorthin zu dirigieren vermag, wohin es die bürgerlichen Machthaber wollen. Unser Begriff von Stärke ist ein anderer. Nach unseren Begriffen ist es die Bewußtheit der Massen, die den Staat stark macht. Er ist dann stark, wenn die Massen alles wissen, über alles urteilen können und alles bewußt tun.,,19

Ein Lenin-Zitat aufgreifend, wonach die Hebung des Bewußtseins der Massen und ihre enge Verbindung mit dem Staat dem sozialistischen Staat ein "Wundermittel" an die Hand gebe, geeignet, "unseren Staatsapparat sofort, mit einem einzigen Schlage zu vervielfachen, ein Mittel, über das kein einziger kapitalistischer Staat jemals verfügt oder je verfügen kann,,2o, äußerte sich auch Stalin zur Demokratisierung der Verwaltung: "In dieser Weise müssen wir bemüht sein, unseren Staatsapparat ,zu verzehnfachen " indem wir ihn den Millionenmassen der Werktätigen nahebringen und vertraut machen, indem wir die Überreste des Bürokratismus in ihm ausmerzen, ihn mit den Massen verschmelzen ... ,,21

Lenin brachte auch zum Ausdruck, daß die Heranziehung zur praktischen Verwaltungsarbeit "alle möglichen Schritte zur Verwirklichung dieses Zieles - je mannigfaltiger sie sind, desto besser -" erfordere und daß diese "sorgfaltig registriert, studiert, systematisiert, durch größere Erfahrungen erprobt und gesetzlich festgelegt werden" müßten 22 , und gab damit bereits eine recht genaue Beschreibung dessen, was als das Eingabenwesen in der Sowjetunion wie in all ihren Satellitenstaaten institutionalisiert werden sollte. Die Stellungnahmen der führenden SED-Parteifunktionäre knüpften nahtlos an die Äußerungen der sowjetischen Vorbilder an. Bereits anläßlich der ersten Parteikonferenz der SED hatte Walter Ulbricht die Einrichtung von 19 W. I. Lenin, Ausgewählte Werke, S. 263, zitiert nach Karl Hönl, Die Eingaben der Werktätigen als Mittel der Demokratisierung der Arbeitsweise des Staatsapparates, in: Staat und Recht 1953, S. 700-717 (S. 701). 20 W. I. Lenin/J. W. Stalin, Das Jahr 1917, S. 591. 21 Stalin, Werke, Bd. 7, S. 140. 22 Lenin, Ausgewählte Werke, S. 388 ff.

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Beschwerdestellen, bei denen Arbeiter, Intellektuelle und Gewerbetreibende ihre Wünsche und Beschwerden vorbringen konnten, begrüßt. 23 Dabei stand zumindest anfangs die Disziplinierungswirkung gegenüber retardierenden Elementen im Vordergrund, wie sich aus den Worten Wilhelm Piecks auf dem III. Parteitag der SED im Juli 1950 erschließt: "Unsere Partei tritt stets und überall dafür ein, Bürokraten und sture Würdenträger für Mißachtung der Sorgen der Bevölkerung, ohne Ansehen der Person, schonungslos zu bestrafen. Ich möchte von der Tribüne unseres Parteitags aus erklären, daß wir der engen Verbindung des Staatsapparates mit dem Volk, der raschen Erledigung aller Beschwerden und Gesuche der Bevölkerung, der Ausmerzung aller Überreste bürokratischen Verhaltens zur Bevölkerung die allergrößte Bedeutung beimessen. ,,24

Auch Otto Grotewohl betonte diese "konstruktive" Komponente des Eingabenwesens, die Leistungsreserven freisetzen und den einzelnen Bürger in die gesellschaftliche Bewegung zum Aufbau des Sozialismus integrieren sollte. Insofern verfügte das Eingabenwesen der DDR von vornherein über eine Doppelnatur: Die Eingabe sollte einerseits unrechtmäßig belastendes Verwaltungshandeln im Sinne eines individuellen Fehlverhaltens einzelner Staatsfunktionäre kenntlich machen und andererseits als eine Art Detektor in der Bevölkerung verborgener Ressourcen dienen. Beides sind aber aus der Sicht der führenden Parteifunktionäre zwei Seiten der gleichen Medaille, wie Grotewohl in einem Diskussionsbeitrag auf der 11. Parteikonferenz hervorhob: "Deshalb kommt ihre (gemeint ist die Bevölkerung, der Verfasser dieser Arbeit) Kritik am Verwaltungsapparat nicht aus Gegnerschaft, sondern aus dem festen Willen, der Verwaltung zu helfen, den Aufbau zu fördern und da, wo Mängel, Unvermögen und Nachlässigkeit unseren Aufbau hemmen, diese Dinge auszumerzen. Unsere Werktätigen kommen aber nicht nur mit dieser helfenden Kritik zum Verwaltungsapparat. Sie bringen auch eine Fülle von Verbesserungsvorschlägen und Anregungen an ihn heran. ,,25

Das Eingabenwesen sollte dazu dienen, "den gesamten Verwaltungsapparat näher an die Massen heranzubringen und fest mit ihnen zu verbinden,,26. Dies habe "vor allem die Ausmerzung der Methode des nackten Administrierens und den ständigen, schonungslosen Kampf gegen den Bürokratismus" zur Voraussetzung. 27 Nach der Gründung der DDR seien nunmehr die Voraussetzungen dafür geschaffen, "daß die Werktätigen, die durch tausenHönl, S. 702. Protokoll des III. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, S.242. 25 Protokoll der 11. Parteikonferenz der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, S. 345. 26 Zentralkomitee der SED, Der neue Kurs und die Aufgaben der Partei, S. 120. 27 Zentralkomitee, ebenda. 23

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derlei Mittel und Kniffe von der Beteiligung am politischen Leben und vom Gebrauch der demokratischen Rechte und Freiheiten ferngehalten wurden, jetzt zur ständigen, unbedingten und dabei entscheidenden Beteiligung an der demokratischen Verwaltung des Staates herangezogen werden,,28. Mit der Etablierung des Eingabenwesens als Verwaltungsinstrument sollte die Teilnahme der Werktätigen an der staatlichen Verwaltung als "wichtiges Prinzip der Organisation und der Tätigkeit der staatlichen Organe" realisiert werden29 , so daß - wie Karl Hönl es 1953 pathetisch formulierte - "aus einst unterdrückten Menschen heute schöpferische Gestalter des neuen Lebens werden".

111. Entwicklung der gesetzlichen Grundlagen des Eingabenwesens Wie bereits zuvor die Länderverfassungen, normierte die Gründungsverfassung der Deutschen Demokratischen Republik in Art. 3 Abs. 4 ganz allgemein das Recht der Bürger, sich mit Anregungen, Anträgen und Beschwerden an alle staatlichen Institutionen zu wenden, um damit "zur besseren Arbeit auf allen Gebieten des wirtschaftlichen und kulturellen Aufbaus und des Staatsapparates beizutragen" sowie "gegen ungesetzliche Maßnahmen und schlechte Arbeitsweise von Mitarbeitern oder Dienststellen des Staatsapparates" Beschwerde zu führen. Da sowohl die Landesverfassungen als auch die Gründungsverfassung die Garantie der Verwaltungsgerichtsbarkeit enthielten, erschienen die jeweiligen Regelungen zunächst insofern unverdächtig, als nichts darauf hindeutete, daß das Eingabenwesen die Verwaltungsgerichtsbarkeit ersetzen sollte. Nach der Verfassung sollte das Eingabenwesen den gerichtlich gewährleisteten Verwaltungsrechtsschutz lediglich ergänzen, ebenso wie dies in der Bundesrepublik nach wie vor der Fall ist.

1. Überblick Viermal - 1953, 1961, 1968 und 1975 - stellte die Staatsführung der DDR das Eingabenwesen auf eine grundlegend neue gesetzliche Grundlage. Die jeweils unterschiedliche äußere Form (1953: VO des Ministerpräsidenten, 1961 und 1969 Erlaß des Staatsrates, 1975 Volkskammergesetz) reflektierte die jeweiligen staatsorganisationsrechtlichen Veränderungen und dokumentierte, daß das Eingabenrecht stets die Aufmerksamkeit des jeweils machtvollsten Organs genoß. 28

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Hönl (Anm. 19), S. 713. Hönl, ebenda.

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Erstmalig wurde das Verfahren der Eingabenbearbeitung in der "Verordnung über die Behandlung der Vorschläge und Beschwerden der Bürger" vom 6. Februar 1953 30 gesetzlich geregelt. In Hinblick auf den Erlaßzeitpunkt fallt zunächst auf, daß immerhin knapp drei Jahre vergingen, bis sich die Staatsführung überhaupt zum Erlaß einer gesetzlichen Normierung durchrang. Die Vermutung liegt nahe, daß dem Eingabenwesen erst dann die endgültige Form gegeben werden sollte, als feststand, daß sich die deutschlandpolitische Situation so weit verhärtet hatte, daß an eine Umsetzung des Artikels 138 der Gründungsverfassung nicht mehr zu denken war und mit der Auflösung der Landesverwaltungsgerichte im Jahr zuvor vollendete Tatsachen geschaffen worden waren. Nunmehr bedurfte es eines funktionalen Äquivalents, um das Rechtsschutzvakuum, welches durch· die Vorenthaltung verwaltungsgerichtlichen Schutzes in der Bevölkerung entstanden war, auszufüllen. Zwar wurde die Vermittlung von Rechtsschutz seitens der Staatsführung nur als eine Funktion des Eingabenwesens unter mehreren angesehen und in öffentlichen Verlautbarungen im Zeichen der "Interessenidentität" stets heruntergespielt. Dennoch wurde offenbar nicht verkannt, daß die Rechtssicherheit, wie sie etwa eine funktionierende Verwaltungsgerichtsbarkeit vermittelte, auch für ein sozialistisches Staatswesen von erheblicher stabilisierender Bedeutung sein konnte. Das Eingabenwesen sollte seiner Konzeption nach diese gewissermaßen "psychologische" Aufgabe mit übernehmen. Obwohl die DDR-Rechtswissenschaft hier eigene Lösungsansätze erarbeitete, bildete die Beschwerdeordnung weitestgehend den sowjetischen Rechtszustand auf dem Gebiet des Eingabenwesens ab. Die Beschwerdeordnung überdauerte die Babelsberger Konferenz des Jahres 1958 und blieb bis zum Jahre 1961 in Kraft, in dem sie durch den "Erlaß des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik über die Eingaben der Bürger und die Bearbeitung durch die Staatsorgane" abgelöst wurde. 31 Das Inkrafttreten des Staatsratserlasses führte zu einem sprunghaften Anstieg des Eingabenaufkommens, wodurch sich zwei Hauptproblerne des Eingabenwesens, der überproportionale Anteil der Eingaben an die Spitze der Hierarchie von Staat und Partei sowie das Problem der Mehrfacheingaben potenzierten. In Verbindung mit dem ausufernden Berichts- und Analysewesen, welches von Gesetz zu Gesetz eine immer stärkere Ausdehnung erfuhr, wurde bald deutlich, daß es einer grundsätzlichen Neuordnung der Formen des Verwaltungsrechtsschutzes bedurfte, um einem Kollaps der Verwaltung einerseits und einer Verstärkung der Frustration in der Bevölkerung andererseits vorzubeugen. Dies war mit dem herkömmlichen Instrumentarium des Eingabenwesens nicht zu bewerkstelligen, weshalb nunmehr, wenn auch zag30 31

GBI. I 1953, S. 265. Nachfolgend: Beschwerdeordnung von 1953. Nachfolgend: Eingabenerlaß von 1961.

2. Abschn.: Theoretische Grundlagen des Eingabenwesens

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hafte, Experimente mit Fonnen verwaltungsexternen Rechtsschutzes nicht mehr mit einem Tabu belegt waren. Folgerichtig sah die 1968 verabschiedete Staatsratsverfassung neben einer ausführlichen Regelung des Eingabenwesens auch die Einrichtung von Beschwerdeausschüssen bei den örtlichen Volksvertretungen vor. Der "Erlaß des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik über die Bearbeitung der Eingaben der Bürger" vom 20. November 196932 führte beide Instrumente zusammen und regelte das Verfahren vor den Beschwerdeausschüssen neben dem Eingabeverfahren. In der Praxis bewährten sich die Beschwerdeausschüsse nicht, vor allem, da sie in Hinblick auf ihre Kompetenzen gegenüber dem Verwaltungsapparat weit hinter dem Rechtsschutzniveau anderer sozialistischer Staaten zurückblieben. Ihre für die Rechtsgeschichte der DDR wesentliche Bedeutung ist darin zu sehen, daß ihre Billigung eine Durchbrechung des Dogmas der Gewalteneinheit darstellte, welche der Wiedereinführung verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes in den letzten Bestehensjahren der DDR den Weg ebnete?3 Das "Gesetz über die Bearbeitung der Eingaben der Bürger" vom 19. Juni 1975 34 stellt die einzige nonnative Grundlage des Eingabenwesens dar, die von der Volkskammer verabschiedet wurde. Die Veränderungen an den gesetzlichen Grundlagen bildeten die jeweils herrschende rechtspolitische Situation in der DDR in verschiedener Hinsicht unmittelbar ab. Die jeweiligen Präambeln der Eingabengesetze spiegelten das jeweils erreichte Stadium im sozialistischen Entwicklungsprozeß aus der Sicht der Staats- und Parteiführung und in Konkordanz zu den jeweils vorhergegangenen Parteitagsbeschlüssen wider. Dem entsprach jeweils eine unterschiedliche Nuancierung der Funktion des Eingabenrechts in Übereinstimmung mit den politischen Prioritäten der jeweiligen Entwicklungsphase. So stellte die Beschwerdeordnung von 1953 die Integration des Bürgers in den Aufbau des Sozialismus in den Vordergrund, der Eingabenerlaß von 1961 bereitete bereits die volkswirtschaftlichen Experimente der 60er Jahre vor und orientierte das Eingabenwesen mehr in Richtung auf Fragen der Wirtschaftsleitung. Symbolisch einschneidend erschienen die Veränderungen des Eingabenerlasses von 1969, der mit der Einrichtung der externen Beschwerdenausschüsse auf mehr Rechtsstaatlichkeit hindeutete und damit die Impulse des VII. Parteitags der SED aufnahm, welche sich zuvor bereits in der Staatsratsverfassung von 1968 manifestiert hatten. Dagegen stellte das Eingabengesetz von 1975 eher eine Rückbesinnung auf die Grundfonn des Eingabenwesens dar und dokumentierte damit die Unmöglichkeit, aus dem Eingabenwesen die von der Staatsführung proklamierte GBI. I 1969, S. 239. Nachfolgend: Eingabenerlaß von 1969. Hierzu und zu der vorausgehenden diesbezüglichen Diskussion in der DDRRechtswissenschaft vgl. den dritten Teil dieser Arbeit. 34 Nachfolgend: Eingabengesetz. 32 33

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

fortschrittliche, originär sozialistische Rechtsschutzfonn zu entwickeln. Folgerichtig entwickelte das "Gesetz über die Zuständigkeit und das Verfahren der Gerichte zur Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen" vom 14. Dezember 198835 die Möglichkeiten des Bürgers zur Erlangung von Verwaltungsrechtsschutz auch nicht aus dem Eingabenwesen heraus, sondern griff zurück auf den Gedanken des gerichtlichen Verwaltungsrechtsschutzes. Insofern ließ sich an den gesetzlichen Grundlagen stets auch das Verhältnis der Staatsführung zu rechtsstaatlichen Grundsätzen ablesen. 2. Die "Verordnung über die Behandlung der Vorschläge und Beschwerden der Bürger" von 1953 Mit der Beschwerdeordnung von 1953 gab die Staatsführung erstmals einen Hinweis darauf, daß auf dem Gebiet des Verwaltungsrechtsschutzes fortan das Eingabenwesen eine "exorbitant von den politischen Führungsorganen favorisierte Position,,36 einnehmen sollte. Bereits die Präambel der Verordnung wies darauf hin, daß im Vordergrund die Berechtigung des Bürgers stehen sollte, durch sachlich fundierte Kritik und Verbesserungsvorschläge an der Erfüllung der gestellten Aufgaben aktiv teilzunehmen und so auf die Geschicke des Staates und der Gesamtgesellschaft einzuwirken. 37 Ganz im Sinne der noch vorherrschenden strengen stalinistischen Maßstäbe wurde die individuelle Rechtsbetätigung als Ausdruck "anarchischer Spontaneität" gesehen, und folglich fand die Rechtsschutzfunktion in der Präambel keine explizite Erwähnung. a) Entstehungshintergrund und Einfluß der sowjetischen Verwaltungsrechtswissenschaft

Über Entstehungsgeschichte und Motive der Beschwerdeordnung geben die Archive keine Auskunft. Es liegt hier freilich der Gedanke an ein "konzertierte Aktion" im Rahmen des sozialistischen Blocks nahe?8 Auf eigene wissenschaftliche Vorarbeiten scheint überhaupt nicht zurückgegriffen worden zu sein. Vielmehr stellt sich die Beschwerdeordnung von 1953 Nachfolgend: GNV. Das Gesetz ist Gegenstand des dritten Teils der Arbeit. Wolfgang Bemet, Eingaben als Ersatz für Rechte gegen die Verwaltung in der DDR, S. 415. 37 Walter Suermann, Verwaltungsrechtsschutz, S. 328. 38 Beschwerdeordnungen erließen: VR Polen 1950, VR Bulgarien 1951, SR Rumänien 1953, Tschechoslowakische Sozialistische Republik 1955, Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien 1956, Ungarische Volksrepublik 1957 (vgl. im einzelnen Klaus-Jürgen Kuss, Das Beschwerde- und Antragsrecht in der sowjetischen Verwaltungspraxis, in: Recht in Ost und West 1985, S. 128-141). 35

36

2. Abschn.: Theoretische Grundlagen des Eingabenwesens

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als detailgetreue Übernahme der in der Sowjetunion etablierten Form des Vorschlags- und Beschwerderechts dar. Dieses hatten die sowjetischen Rechtswissenschaftler Studenikin, Wlassow und Jetichew in dem von ihnen herausgegebenen Lehrbuch "Sowjetisches Verwaltungsrecht" dargestellt, welches zunächst, mangels eines eigenen verwaltungsrechtswissenschaftlichen Kanons, auch für Gesetzgebungsvorhaben der DDR als Leitlinie diente. 39 Ein Vergleich der Beschwerdeordnung mit dem entsprechenden Kapitel des sowjetischen Verwaltungsrechtslehrbuchs40 ergibt, daß die Rechtsvorschrift - bis in die einzelnen Formulierungen hinein - eine maßstabsgetreue Abbildung des sowjetischen Standardwerks darstellt: Die Verordnung regelte keinen einzigen Gegenstand mehr, als im Lehrbuch vorgegeben, führte indes alle Regelungspunkte des Standardwerks in Gesetzesform aus, bis hinein in die Feststellungen der Präambel und die Fristenregelungen. Insofern kann gerade die Beschwerdeordnung von 1953 als Musterbeispiel für die Sowjetisierung des Rechtssystems der DDR gelten. 41 b) Regelungsgehalt

aa) Der Eingabenbegriff der Beschwerdeordnung Die Beschwerdeordnung von 1953 schuf die Grundlagen für die Ausgestaltung des Eingabenwesens in der DDR, ohne jedoch den Begriff der "Eingabe" als Rechtsterminus einzuführen. Durchgängig ist umständlich von "Anregungen", "Anträgen", "Vorschlägen" und "Beschwerden" die Rede. Immerhin läßt sich aus dem Text der Beschwerdeordnung und aus der zeitgenössischen rechtswissenschaftlichen Literatur erschließen, daß gegenüber dem sowjetischen Rechtszustand, der die Termini "Eingabe" und "Beschwerde" weitgehend gleichsetzte, eine Erweiterung vorgesehen war. Das Lehrbuch von Studenikin und Wlassow definierte den Begriff der Eingabe noch wie folgt:

39 S. Studenikin, W. A. Wlassow, I. I. Jetichew, Sowjetisches Verwaltungsrecht Allgemeiner Teil - in der Übersetzung des Deutschen Instituts für Rechtswissenschaft, Berlin 1954. 40 Nämlich § 6 "Die Beschwerde gegen ungesetzliche Handlungen von Institutionen und Amtspersonen" des Lehrbuchs (wie vorangehende Anmerkung, S. 277-280). 41 Wie allgemein die bedingungslose Ausrichtung am sowjetischen Vorbild gerade in den frühen fünfziger Jahren so stark wie in keinem anderen Zeitraum des Bestehens der DDR gewesen ist. - "Gerade in den hier in Rede stehenden Jahren (gemeint sind die Jahre 1953/54, der Verfasser dieser Arbeit), war die SED in den Augen der Bevölkerung als "Russenpartei" so heillos diskreditiert, weil ihre führenden Männer den sowjetischen Besatzem aus machtpolitischem Kalkül allzu devot, allzu willfährig gegenübertraten." (Karl Wilhelm Fricke)

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"Als Beschwerde wird eine Eingabe in schriftlicher oder mündlicher Form bezeichnet, die auf eine ungesetzliche Handlung, auf Bürokratismus oder Amtsschimmelei hinweist oder den Antrag enthält, eine Abänderung oder Aufhebung des Beschlusses eines staatlichen Organ oder einer Amtsperson vorzunehmen. Grundlage für eine Beschwerde können Mängel in der Arbeit von staatlichen Institutionen auch dann sein, wenn sie nicht unmittelbar mit der Verletzung der gesetzlichen Rechte des Bürgers, der die Beschwerde einreicht, in Zusammenhang stehen.,,42

Die Beschwerdeordnung der DDR von 1953 ging darüber ausdrücklich hinaus, indem sie neben den Beschwerden auch positive, gestalterisch motivierte Vorschläge, die kein obrigkeitliches Fehlverhalten zum Gegenstand hatten, erfaBte. In Ermangelung einer Legaldefinition versuchte Karl Hönl in seiner kommentierenden Beschreibung der Beschwerdeordnung in der Zeitschrift "Staat und Recht" das Wesen der Eingabe im sozialistischen Sinne zu beschreiben: "Unter den Begriff der Eingabe in der Deutschen Demokratischen Republik fallen schriftliche und mündliche Eingaben der Werktätigen aus persönlichem oder gesellschaftlichem Interesse mit dem Ziel der Sicherung der demokratischen Gesetzlichkeit und der Verbesserung der Arbeit der staatlichen Organe. Dabei ist darauf hinzuweisen, daß der Begriff der Eingabe in unserem Verwaltungsrecht all das umfaßt, was nach unserem Sprachgebrauch als Gesuch, Antrag, Bitte, Vorschlag und Beschwerde bezeichnet wird, soweit es keine besondere Regelung für die Bearbeitung gibt. Das bedeutet keine Erweiterung des Gegenstandes der Eingabe gegenüber dem sowjetischen Verwaltungsrecht, welches als Gegenstand der Eingabe jede vom Standpunkt des die Eingabe Einreichenden aus negative Erscheinung in der Tätigkeit des staatlichen oder gesellschaftlichen Apparates oder eines Angestellten eines dieser Apparate bezeichnet, unabhängig davon, ob die persönlichen Rechte dessen, der die Eingabe macht, verletzt worden sind oder nicht. ,,43

Hönl enthielt dabei dem Leser vor, warum die Erstreckung des Eingabenbegriffes auf positive Anregungen gerade keine Erweiterung der sowjetischen Definition darstellen sollte. Verglichen mit den Vorgaben des sowjetischen Verwaltungsrechtslehrbuchs war dies jedenfalls ganz offensichtlich der Fall. Schwerwiegender war indes, daß durch die Erweiterung des Eingabenbegriffes auch dessen Konturen weiter abgeschliffen wurden. Indem die Beschwerdeordnung aber unabhängig von der jeweiligen Interessenlage des Bürgers (gleichgerichtet oder, wie im Falle der Beschwerde, auch entgegen einer konkreten staatlichen Willensäußerung) einheitliche Verfahrensvorschriften vorsah, kamen diejenigen Verfahrens garantien, derer ein Verfahren zur Sicherung subjektiv-öffentlicher Rechte aufgrund der strukturellen Unterlegenheit des Individuums gegenüber der Staatsgewalt bedarf, nicht zum 42

Lehrbuch (Anm. 39), S. 277.

43

Hönl (Anm. 19), S. 705.

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Tragen. Ein derartig weit gesteckter (und damit auch unbestimmter) Rahmen konnte als erstmalige Definition des angeblich so revolutionär neuen und demokratischen Rechtsinstituts auch Teile der DDR-Rechtswissenschaft nicht überzeugen. In seiner - später zurückgenommenen - Replik auf die Arbeit Hönls plädierte Wolfgang Menzel - ebenfalls in der Akademiezeitschrift44 "Staat und Recht" - für eine Einengung und Präzisierung des Eingabenbegriffs. Er gab zu bedenken: "Da die Bezeichnung ,Eingabe' für das Rechtsinstitut, das durch die in der Arbeit Hönls aufgeführten Elemente charakterisiert wird, im Verwaltungsrecht der Deutschen Demokratischen Republik neu ist, und (soweit mir bekannt) bei uns bisher in wissenschaftlichen Arbeiten noch keine Verwendung fand, soll auch hierüber noch gesprochen werden; denn es gilt, für einen neuen Inhalt eine neue Form zu finden. Die Form muß das Wesen der Sache klar widerspiegeln. Das dies für den Begriff ,Eingabe' zutrifft, hätte - bei seiner erstmaligen Verwendung (1) - überzeugend dargelegt werden müssen. Meiner Ansicht nach verbindet sich mit ,Eingabe' gerade die Vorstellung, daß es durchaus fraglich ist, ob die angerufene Stelle dem Vorbringen überhaupt Interesse entgegenbringen und darauf reagieren wird, ganz abgesehen davon, daß an diese Bezeichnung auch stets die Vorstellung der Schriftform geknüpft ist. Es kommt jedoch darauf an, auszudrücken, daß die Formfreiheit ein wesentliches Element dieses Rechtsinstituts ist. Die Bezeichnung ,Beschwerde' dagegen, die auch im sowjetischen Verwaltungsrecht, in dem dieses Rechtsinstitut entwickelt wurde, angewandt wird (... ), spiegelt die Funktionen dieses Rechtsinstituts, nämlich die Kritik an Fehlern und Mängeln sowie die Aufdeckung und Bekämpfung von Ungesetzlichkeiten, besser wider. Da es andererseits unbedingt notwendig ist, die Vorschläge als die Form der Beteiligung der Massen an der Tätigkeit des Staates hervorzuheben, die, verglichen mit den im individuellen Interesse vorgebrachten Beschwerden einen höheren Bewußtseinsstand zum Ausdruck bringen, sollte dieses Rechtsinstitut künftig als Institut der Vorschläge und Beschwerden bezeichnet werden. ,,45

bb) Politische Funktion des Eingabenrechts Die Präambel der Beschwerdeordnung erlegte den Staatsorganen im Zeichen des revolutionären Umgestaltungsprozesses die Pflicht auf, den Vorschlägen und Beschwerden insbesondere dann ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden und Abhilfe zu schaffen, wenn die angeprangerten Mißstände der gesellschaftlichen Entwicklung im Sinne der von den Parteitagen der SED "wissenschaftlich" konstatierten "gesetzmäßigen Entwicklung" widerspre-

44 Die Zeitschrift wurde von der Akademie für Staat und Recht "Walter Ulbricht" in Potsdam-Babelsberg herausgegeben, die aus der "Deutschen Verwaltungsakademie" in Forst-Zinna hervorgegegangen war. 45 Wolfgang Menzel, Die Eingaben der Werktätigen, in: Staat und Recht 1954, S. 381.

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chen. Damit nahm bereits die Präambel im Rahmen der Zweckbestimmung eine Einengung der Rechtsschutzmöglichkeiten vor, indem sie 1. Rechtsschutz nur dann einräumte, wenn die Beseitigung der "Mängel und Entstellungen" dem" weiteren Ansteigen unserer Erfolge dient", also gerade nicht in dem klassischen Fall der Gefährdung von Grundrechtspositionen durch unrechtmäßige Inanspruchnahme des einzelnen für Zwecke der Allgemeinheit46 , 2. den Staatsorganen allein "Vorschläge und Beschwerden der Werktätigen" ans Herz legte - und damit betonte, das etwa das eingeschränkte Eigentumsrecht des "Junkers" keineswegs eine rechtliche "Entstellung" im Sinne der Vorschrift darstellte47, 3. auch bei Erfüllung dieser Kriterien lediglich postulierte, daß die adressierten Staatsorgane der Angelegenheit "ihre besondere Aufmerksamkeit zuwenden" sollten - ohne damit ein subjektives Recht des Bürgers im Sinne einer Rechtsschutzgarantie zu verbinden. 48 Noch klarer trat der rechtspolitische Grundgedanke der Beschwerdeordnung in einer im Januar 1956 erlassenen internen Anweisung der Präsidialkanzlei an die örtlichen Organe der Staatsrnacht zutage, von der sich eine Ausfertigung im Archiv des Bezirkstages Potsdam befindet. Hierin hieß es: "Bei der Bearbeitung der Briefe der Werktätigen muß man davon ausgehen, daß die Kritiken, Anregungen und Wünsche, mit denen sie sich an die staatlichen Organe wenden, eine besondere Form der Mitarbeit der Bevölkerung an der Leitung ihres Staates sind. Sie stellen aber auch gleichzeitig eine wirksame Kontrolle von unten dar. Durch ihre Kritiken weisen die Werktätigen auf Fehler und Mängel, die sich in unserer Wirtschaft und in den Staatsapparat eingeschlichen haben, hin und helfen dadurch bei der Beseitigung von Mißständen. Gleichzeitig sind die Eingaben aber auch eine reichhaltige Quelle, aus der man entnehmen kann, an welchen Fragen die Bevölkerung zur Zeit besonders interessiert ist und wie sie zu den Maßnahmen der Regierung steht (ob sie sie versteht und wie man sie erklären muß). Daher muß die sorgfaltige Beachtung der Briefe der Werktätigen ein wichtiges Prinzip der staatlichen Arbeit in unserer Republik sein. Das Wesen der Eingaben der Werktätigen liegt darin, daß den Massen 1. dadurch die Möglichkeit gegeben ist, auf jeden Fall zu ihrem Recht zu kommen und 2. daß durch ihre Kritik eine wirksame Kontrolle von unten ausgeübt wird. Durch das richtige Anknüpfen an die Sorgen und Nöte der Werktätigen wird eine engere Verbindung zwischen den Massen und dem Staat geschaffen. Die Werktätigen gewinnen dadurch Vertrauen zu ihren Staatsorganen. ,,49

46

47 48

49

Absatz 2 der Präambel der Beschwerdeordnung vom 6. Februar 1953. Ebenda. Ebenda. Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Rep. 401, Nr. 1329, BI. 13.

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Der Nutzen der Eingaben der Werktätigen müsse "vom Standpunkt unserer gesellschaftlichen und staatlichen Entwicklung" nach drei Richtungen hin gesehen werden: ,,1. Als Mittel zur Entfaltung einer echten Demokratie. (D.h., durch ihre Kritiken,

Hinweise und Wünsche nehmen die Werktätigen an der Lenkung ihres Staates teil, sie kontrollieren damit die Tätigkeit des Staates von unten her - sie lenken die praktische Politik auf die Fragen, die sie besonders interessieren - sie wehren sich damit gegen Ungerechtigkeiten und Auswirkungen des Bürokratismus)

2. Als Mittel zur Erziehung der staatlichen Organe und zur Unterstützung der staatlichen Arbeit. (D.h., durch die Analysierung und Auswertung der Eingaben der Werktätigen erhalten die staatlichen Organe Hinweise auf a) Mißstände in der Arbeitsweise der Staatsorgane b) auf Mängel in den gesetzlichen Regelungen c) auf die Wünsche, die die Werktätigen zu Zeit besonders bewegen.) 3. Als Mittel zur Erziehung der Werktätigen. (D.h., die Werktätigen werden durch die Beachtung ihrer Kritiken, Hinweise und Wünsche zur aktiven Anteilnahme am staatlichen Leben angeregt. Ihr aus der bürgerlichen Gesellschaft übernommener Unglaube, daß man sich mit Erfolg gegen Bürokratismus und Unrecht wehren kann, verschwindet - sie erkennen, daß die DDR ihr Staat ist, das Vertrauensverhältnis zwischen Staat und Volk wird gefestigt.)"so

An dieser Quelle wird das ambivalente Verhältnis des Eingabenwesens zum Verwaltungsrechtsschutz bereits deutlich. Zwar wurde grundsätzlich nicht geleugnet, daß es auch nach Übernahme der Macht durch die Partei der Arbeiterklasse zu Interessendivergenzen und Konflikten zwischen Bürger und Staat kommen konnte. Insoweit wurde auch unausgesprochen eingestanden, daß das Dogma der Interessenidentität (noch) keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen konnte. Allein der Ansatz der Konfliktlösung unterschied sich wesentlich von den im liberalen Rechtsstaat vorherrschenden Anschauungen. Nicht die ergebnisoffene Untersuchung eines Sachverhaltes anhand vorgegebener juristischer Kriterien stand im Vordergrund, sondern der Erziehungsgedanke gegenüber dem Bürger wie dem einzelnen Funktionär gleichermaßen. cc) Vorschlags- und beschwerde berechtigter Personenkreis Entsprechend der gesellschaftspolitischen Zweckbestimmung sollte das Recht, sich mit Anregungen, Anträgen und Beschwerden an die Organe der Staatsgewalt und alle staatlichen Institutionen zu wenden, allen Bürgern (und darüber hinaus Organisationen, Institutionen usw.) der Deutschen De50

Ebenda.

14 Hoeck

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mokratischen Republik zustehen. Die ausdrückliche Feststellung der Berechtigung aller Bürger, Eingaben zu machen, sollte "Tendenzen des Sektierertums" (Wolfgang Menzel) vorbeugen. So war es zum Beispiel vorgekommen, daß Beschwerden flüchtiger, nach Verkündung des "neuen Kurses" indes zurückgekehrter Bürger wegen der Verzögerung der Rückgabe von Geschäftsräumen schlichtweg nicht bearbeitet wurden. 51 Als Begründung für die Nichtbearbeitung dieser Beschwerden wurde von den zuständigen Funktionären mit Hinweis auf den Titel und die Präambel behauptet, die Vorschriften der Beschwerdeordnung seien unanwendbar, weil es sich nicht um Beschwerden von Werktätigen handele. 52 Von weiteren Voraussetzungen war die Aktivlegitimation jedoch nicht abhängig. Insbesondere wurde keine individuelle Rechtsbetroffenheit des Eingabenverfassers vorausgesetzt. Statt dessen stellte die Beschwerdeordnung die Ausübung des Eingabenrechts gleichsam unter den funktionalen Vorbehalt, daß durch die Einbringung der Vorschläge das Ziel verfolgt wurde, zur besseren Arbeit "auf allen Gebieten unseres wirtschaftlichen und kulturellen Aufbaus und des Staatsapparats" beizutragen sowie "ungesetzliche Maßnahmen und schlechte Arbeitsweise von Mitarbeitern oder Dienststellen des Staatsapparats" anzuprangern. 53 Überspitzt formuliert lief diese Feststellung also darauf hinaus, daß ein Interessengegensatz - wenn überhaupt - nicht zwischen Bürger und Staat vermutet wurde (dann hätte der Bürger die sozialistische Entwicklungslinie verlassen und wäre insofern schon gar nicht schutzwürdig), sondern vielmehr zwischen dem Staat und seinen potentiell ungehorsamen bzw. säumigen Dienern. Die Eingabe in Form der Beschwerde sollte folgerichtig nicht primär das angestammte Recht des Bürgers wahren - welches letztlich nach Inhalt und Umfang ohnehin dem Prozeß der gesellschaftlichen Entwicklung unterstand -, sondern denjenigen Beamten bei seinem Dienstherrn denunzieren, der im Prozeß des Aufbaus des Sozialismus nicht Schritt hält und "formale" Herangehensweisen pflegt und insbesondere das für Verwaltung und Rechtspflege gleichermaßen postulierte Dogma der strengen Parteilichkeit außer acht ließ. dd) Zuständigkeit Statt einer eindeutigen Zuständigkeitsregelung enthielt § 1 Satz 2 der Beschwerdeordnung die appellative Feststellung, daß "die schnelle Erledigung der Vorschläge und Beschwerden dadurch gefördert" werde, daß sich die Bürger an diejenige Dienststelle wenden sollten, die in der Sache entscheiSI Wolfgang Menzel, Die Eingaben der Werktätigen, in: Staat und Recht 1954, S.380. 52 Menzel, ebenda. 53 § 1 der Beschwerdeordnung von 1953.

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dungsbefugt ist, "insbesondere mit Fragen örtlichen Charakters an die örtlichen Organe der Staatsgewalt". § 2 normierte die persönliche Verantwortung für die Organisierung der Entgegennahme und Prüfung von Vorschlägen und Beschwerden der Werktätigen auf allen Ebenen des Staatsaufbaus, angefangen beim Dienststellenleiter für seinen Bereich bis hinauf zum Minister für sein jeweiliges Ministerium. Würden Beschwerden zugleich an mehrere Dienststellen gerichtet, so führe dies zu unnötiger Mehrarbeit und Verzögerung in der Erledigung, erläuterte § 1 S. 3 der Beschwerdeordnung. Dies galt vor allem im Hinblick auf § 7 der Verordnung, worin niedergelegt war, daß die für die Entgegennahme von Vorschlägen und Beschwerden zuständigen Staatsorgane dafür Sorge zu tragen haben, daß Beschwerden durch diejenige Dienststelle geprüft werden, zu deren Wirkungsbereich die in dem Vorschlag oder der Beschwerde aufgeworfene Frage gehört. 54 Für den Fall, daß der Vorschlag oder die Beschwerde bei einer unzuständigen Stelle eingereicht wird, sah § 7 Abs. 2 der Beschwerdeordnung vor, daß die annehmende Stelle die Eingabe der zuständigen Dienststelle zuzuleiten hatte, worüber der Einreicher schriftlich in Kenntnis zu setzen war. Im Falle der Weiterleitung einer Beschwerde an andere Dienststellen hatte sich die abgebende Stelle zu vergewissern, daß die Beschwerde erledigt wurde 55, im Falle der Abgabe an eine nachgeordnete Dienststelle bestand die Pflicht zur Kontrolle der Erledigung. 56 Da sich die Kontrolle jedoch nur auf die Tatsache der Erledigung an sich, nicht aber auf die Art und Weise bzw. inhaltliche Rechtmäßigkeit erstreckte, blieb das strikte Selbstentscheidungsrecht in der Verwaltung unangetastet. Es blieb bei dem Grundsatz, daß über Beschwerden gegen hoheitliches Verwaltungshandeln der jeweils zuständige Leiter entschied - insoweit ähnelte das Instrument einer Dienstaufsichtsbeschwerde. Etwas relativiert wurde dieses Prinzip nur durch die Befangenheitsvorschrift des § 7 Abs. 4, die besagte, daß es unzulässig sei, Personen oder Dienststellen, deren Verhalten in der Eingabe kritisiert wird, mit der Bearbeitung der Beschwerde zu beauftragen. In diesem Falle sollte die unmittelbar übergeordnete Dienststelle entscheiden. ee) Verfahren der Eingabenbearbeitung Nach der Beschwerdeordnung in ihrer Urform verursachte die Eingabe schon mit ihrem Eingang bei der Behörde erheblichen bürokratischen Aufwand. Ohne jegliche Rücksicht auf das spezifische Anliegen des Bürgers 54 Als Beispiele nannte § 7 Abs. 1 "z. B. Steuerfragen durch die Finanzorgane, Wohnungsfragen durch die Dienststellen für Wohnungswesen, Fragen der Versorgung der Bevölkerung durch die Abteilungen für Handel und Versorgung". 55 § 7 Abs. 3 S. 1. 56 § 7 Abs. 3 S. 2. 14*

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wurde die Vorgehensweise des zuständigen Leiters (oder des von ihm für diese Aufgabe bestimmten Mitarbeiters) in den §§ 5 und 6 pauschal festgelegt. Danach mußte jede Eingabe (Vorschlag oder Beschwerde) 1. vom zuständigen Leiter oder Mitarbeiter in einem besondem Eingangsbuch registriert und mit Eingangsdatum und -nummer versehen werden, 2. innerhalb von drei Tagen vom zuständigen Leiter oder Mitarbeiter gesichtet werden, 3. nach Sichtung mußte festgelegt werden, welche Stelle mit der Überprüfung zu betrauen und innerhalb welcher Frist die Überprüfung abzuschließen war. 4. Falls eine Prüfung nicht als erforderlich angesehen wurde, sollte die Entscheidung über den Vorschlag oder die Beschwerde vom zuständigen Leiter getroffen werden, wobei im Eingangsbuch ein Vermerk über die Entscheidung unter dem jeweiligen Datum eingetragen werden sollte. Diese Regelung betonte Selbstverständliches, um damit Verfahrensgarantien vorzuspiegeln. Zwar mochte es sinnvoll sein, die zuständigen Leiter dazu anzuhalten, die jeweils eingehenden Eingaben zu registrieren und sie damit gewissermaßen zu einem amtlichen Vorgang zu erheben. Dies allein vermittelte indes keine Rechtssicherheit. Hier zeigte sich vielmehr die wahre Zielrichtung der Ausdehnung des Eingabenbegriffes gegenüber dem sowjetischen Vorbild: Bei der Extensität der vom Eingabenbegriff potentiell erfaßten Vorgänge (angefangen beispielsweise beim Ersuchen um Zuweisung von Wohmaum auf Gemeindeebene über das Gnadengesuch im Strafverfahren bis hin zu Vorschlägen der Bürger in Hinblick auf die Änderung eines Gesetzes) fiel es schwer, ein einheitliches Verfahren zu entwerfen, das für die Behandlung aller Eingabenarten gleichermaßen geeignet war. Schutzvorschriften, wie etwa der Suspensiv- und der Devolutiveffekt, hätten nur dann einen Sinn gehabt, wenn ein belastender Verwaltungsakt den Gegenstand des Verfahrens gebildet hätte. Wandte sich der Bürger dagegen mit einem Verbesserungsvorschlag an die Verwaltung, wäre beides fehl am Platz. Mit der Beschwerdeordnung negierte der Verordnungsgeber jedoch die unterschiedlichen Verfahrensanforderungen. Übrig blieben ebenso spärliche wie schematische Verfahrensvorschriften, die letztlich allein Registratur und Delegation des Eingabenvorgangs regelten und damit kaum Gewähr für eine sachgerechte Behandlung boten. Diese unflexible Vorgehensweise dürfte vielmehr die schematische Bearbeitung der Eingaben sowie das sture "Abhaken" der einzelnen Vorgänge gefördert haben. Das eingehende Schriftstücke bei einer Behörde registriert werden, stellt seit jeher eine Selbstverständlichkeit dar, die einer ausdrücklichen Regelung in einer Beschwerdeordnung nicht bedurfte. Ebensowenig enthielt die Beschwerdeordnung konkrete Vorgaben im Hinblick auf die Prüfung des der Eingabe zugrundeliegenden Sachverhalts: § 7 Abs. 5 enthielt insofern lediglich den Hinweis, daß sich die mit der Überprüfung der Beschwerden beauftragten Mitarbeiter des Staatsapparats bei der Kontrolle "auf die Hilfe der Mitglie-

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der der ständigen Kommissionen und ihrer Aktivs sowie der Haus- und Straßenvertrauensleute stützen" sollten. Ähnlich wie bei der Konzeption der "Gesellschaftlichen Gerichtsbarkeit" wurde mithin auch im Bereich des Eingabenwesens mehr auf die Integrationskraft der Kollektive am Wohnund Arbeitsort als auf ein formalisiertes Verfahren zur Rechtsfindung gesetzt. Auch hier dominierte somit der Erziehungsgedanke. ff) Entscheidungsfristen Strikt, aber auch unzweckmäßig starr geregelt waren die einheitlichen Entscheidungsfristen über Beschwerden gemäß § 10 Abs. 1 der Beschwerdeordnung. Demnach hatten die zentralen Staatsorgane innerhalb von 21 Tagen zu entscheiden, die Räte der Bezirke spätestens nach 15 Tagen, und die Räte der Städte, Kreise und Gemeinden waren verpflichtet, 10 Tage nach Eingang der Beschwerde eine Entscheidung herbeizuführen. Hier manifestierte sich die Bereitschaft des deutschen Verordnungsgebers, das sowjetische Regelwerk anscheinend unhinterfragt zu adaptieren, besonders deutlich: Ohne die in der DDR herrschenden Bevölkerungs- und Entfemungsverhältnisse in Betracht zu ziehen, wurde die auf die in der Sowjetunion herrschende Territorialgliederung zugeschnittene Regelung auf die DDR übertragen. Tatsächlich entsprachen die jeweiligen Fristen taggenau den in der Sowjetunion herrschenden Bearbeitungsfristen in den Republik-, Regions- und Gebietsorganen, welche Studenikin und Wlassow wie folgt benannten: "Für die Behandlung von Beschwerden sind bestimmte Fristen festgelegt. Für die Republik-, Regions- und Gebietsorgane betragen diese einen Monat, für die Rayon- und Stadtorgane 20 Tage nach Eingang der Beschwerde, und für die Beschwerden Militärangehöriger entsprechend 15 Tage und 7 Tage."s7 gg) Dokumentation und Analyse § 13 der Beschwerdeordnung verpflichtete die Kollegien der zentralen Organe und die Räte der Bezirke, Kreise, Städte und Gemeinden, regelmäßig Berichte über die Prüfung und die Entscheidungen über Beschwerden der Werktätigen durch die Abteilungen und Institutionen zu behandeln. Dabei sollten sie Schlußfolgerungen ziehen, um "die Ursachen der bei einzelnen Beschwerden festgestellten Mängel allgemein zu beseitigen" (Abs. 2). Als Grundlage für die Eingabenanalyse sollten Eingangsbücher dienen, welche jede Behörde nach einem in der Anlage zu § 5 der Beschwerdeordnung vorgegebenen schematischen Muster in folgender Form führen sollte: 57

Lehrbuch, S. 279.

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht Registrierung der Beschwerden der Bevölkerung

Eingangs- Inhalt zur BearUd. Name und beitung Nr. Beruf des datum Beschwerdegegeben führers an

benachrichtigt am

Bemer- Unterkungen schrift des Dienststellenleiters

hh) Stellungnahme Sowohl funktional als auch dogmatisch blieb die Beschwerdeordnung von 1953 hinter ihrer propagandistischen Ankündigung als wirksames Rechtsschutzinstrument zurück. Karl Hönl versuchte, die vermeintliche demokratische Überlegenheit der Beschwerdeordnung in scharfer Abgrenzung zum Rechtsschutzsystem der Bundesrepublik zu beweisen, indem er allein auf die formlose Verwaltungsbeschwerde abstellte und den gerichtlichen Verwaltungsrechtsschutz damit völlig ausblendete: "Grundsätzlich verschieden von dem Wesen des Instituts der Eingaben, wie es sie in der Deutschen Demokratischen Republik gibt, ist das in Westdeutschland - wie auch in anderen bürgerlichen Staaten - bestehende Institut einer allgemeinen Beschwerde, das zwar als solches nirgends gesetzlich fixiert ist, aber unter verschiedenen Bezeichnungen, wie z. B. mündliche oder schriftliche Gegenvorstellung, formlose Beschwerde oder Dienstaufsichtsbeschwerde, zu den sogenannten ,demokratischen Rechten' in diesen Staaten gehört. Abgesehen davon, daß in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, und ganz besonders in der Epoche des Imperialismus, eine Mitbestimmung der Werktätigen in den Fragen der Verwaltung des Staates durch eine bürokratische Organisation und durch eine immer breitere Ausschaltung der Parlamente und der sogenannten ,Selbstverwaltungskörperschaften' nicht einmal formal möglich ist, bieten auch die vorhandenen Mittel des Rechtsschutzes der Bürger gegenüber den westdeutschen Verwaltungsorganen ganz gleich, ob es sich um förmliche Rechtsmittel, um die Verwaltungsgerichtsbarkeit oder um dieses allgemeine Beschwerderecht handelt - keine reale Möglichkeit der Durchsetzung des Willens der Werktätigen gegenüber der Verwaltungswillkür und dem Verwaltungsterror des Bonner Separatstaates. Auch dort ist es eine ,gigantische Armee der Beamten', von der schon W. I. Lenin bei der Charakterisierung des bürgerlichen Staatsapparates schrieb, die ,real die Arbeit des Schutzes der Ordnung und Verhältnisse, die für die Ausbeuterklasse angenehm und vorteilhaft sind', verwirklicht. Es ist eine Armee, die ,durch und durch im antidemokratischen Geist erzogen, durch tausend und Millionen Fäden mit den Gutsbesitzem und den Bourgeois verbunden und von ihnen auf jede Art und Weise abhängig' ist. Es ist das Beamtentum, das ,Willkür, die vollkommene Rechtlosigkeit des Volkes gegenüber dem Beamtentum, die vollkommene Unkontrollierbarkeit der privilegierten Bürokratie' schafft. ,,58

2. Abschn.: Theoretische Grundlagen des Eingabenwesens

215

Diese Polemik ging insofern fehl, als sie im wesentlichen auf die vermeintlich fortschrittlichere Haltung und Verfassung des Verwaltungsapparats in der DDR im Vergleich zur Bürokratie Westdeutschlands abhob. Unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten mußte sich die Funktion eines Instruments des Verwaltungsrechtsschutzes (welches die Eingabe ja zumindest auch darstellen sollte) indes gerade darauf erstrecken, den Bürger frei und unabhängig von sachfremden politischen Erwägungen der Verwaltungsbehörde zu stellen, selbst wenn diese so verwerflich motiviert sein sollten, wie es Hönl im Hinblick auf die Bundesrepublik annahm. Gerade dieser Funktion wurde das Eingabenwesen in der Form der Beschwerdeordnung von 1953 jedoch nicht gerecht, denn mit dem Selbstentscheidungsrecht wurde die Objektivität der Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Verwaltungsmaßnahme gerade nicht gewährleistet. Als externe Kontrolle war allein die "Erledigungskontrolle" durch die unzuständige annehmende Dienststelle vorgesehen, eine ebenso willkürliche wie unzweckmäßige Regelung. Bei einer an Rechtsschutzgesichtspunkten orientierten Betrachtung hätte es näher gelegen, grundsätzlich die sachlich zuständige nächsthöhere Verwaltungsinstanz mit der Erledigungskontrolle zu betrauen. Dies wäre auch im Rahmen der oben dargestellten systemimmanenten Beschränkungen möglich gewesen. Beispielsweise hätte die Beschwerdeordnung vorsehen können, daß unter Berücksichtigung des Systems der doppelten Unterstellung über die behauptete Rechtsverletzung eines Fachorgans des Rates des Kreises entweder der Kreistag oder das übergeordnete Fachorgan (des Bezirks) zu entscheiden gehabt hätte. Damit wäre das Prinzip der Gewalteneinheit gewahrt geblieben. Indem sich der Verordnungsgeber indes für die Erledigungskontrolle durch das abgebende Verwaltungsorgan entschied, schuf er letztlich einen Anreiz für den Beschwerdeführer, seine Eingabe entgegen der suggestiven Feststellung in § 1 S. 3 des Erlasses absichtlich bei einer unzuständigen - möglichst hoch in der Hierarchie angesiedelten Stelle vorzubringen. Denn damit eröffnete sich ihm zumindest die Chance einer faktischen Durchbrechung des Selbstentscheidungsrechts, da die zuständige Stelle verpflichtet war, der Einreicherdienststelle Rechenschaft über die Erledigung abzulegen. Oder er könnte gar mehrere Dienststellen gleichzeitig mit seinen Beschwerden beschäftigen, die dann jeweils zur Durchführungskontrolle verpflichtet wären. In diesem Punkt schützte die Beschwerdeordnung auch die Verwaltung nicht. Die - wenigen - verfahrenssichernden Vorschriften, welche die Beschwerdeordnung enthielt, waren auch nicht dazu angetan, die verfahrensrechtliche Stellung des Bürgers wesentlich zu stärken. Die Fristenregelung beugte zwar einer Verfahrensverschleppung durch die Behörden vor, war aber gleichzeitig zu undifferenziert und schematisch, um komplizierteren 58

Hönl, S. 709.

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

Sachverhalten gerecht zu werden. Ein - freilich teuer erkaufter - Vorzug des Eingabenwesens als Instrument des Verwaltungsrechts lag dagegen in den geringen Zugangsbarrieren für den Bürger. Die weitgehende Unbeschränktheit des Eingabenrechts - keine Bindung an eine Form, keine Begrenzung des Kreises der Eingabeberechtigten, keine thematische Begrenzung des Eingabegegenstandes, jederzeitige Möglichkeit der Eingabe an jedwedes Staatsorgan - verlieh ihm den Charakter einer gewissen Volkstümlichkeit und wurde dementsprechend propagandistisch angepriesen: "Schon dadurch, daß die Eingabe an keine Fonn gebunden ist, d. h., daß die Erklärung mündlich oder schriftlich abgegeben werden kann, haben alle Kreise der Bevölkerung, unabhängig von ihrem Bildungsstand und von den örtlichen Verhältnissen die Möglichkeit, ihre Wünsche und Forderungen vorzubringen. Die Mitarbeiter des Staatsapparates leisten dabei den Werktätigen Hilfe und Unterstützung, indem sie Sprechstunden abhalten und Empfangsräume einrichten, bei der Abfassung von Schreiben Hilfe gewähren und mündlich vorgebrachte Beschwerden protokollarisch festhalten. In welch breitem Rahmen alle Schichten der Bevölkerung von dem Eingabenrecht Gebrauch machen, geht aus einer Analyse der Präsidialkanzlei für den Monat August 1953 hervor, die ergab, daß von denjenigen, die in diesem Monat Eingaben eingereicht haben, 53% Arbeiter, 8% Bauern (davon 85% werktätige Bauern und 15% Großbauern), 27% Angestellte und 12% Selbständige waren ...59

Die weitgehende Entformalisierung des Beschwerdeverfahrens schien somit den aus sozialistischer Perspektive erwünschten Effekt einer Nivellierung der gesellschaftlichen Struktur der bei der Verwaltung um Gehör nachsuchenden Bevölkerungskreise zu haben. Verwaltungsrechtliche Streitigkeiten waren fortan so wenig anspruchsvoll in ihrer Durchführung, daß auf die Hilfe von Experten (Anwälten etc.) getrost verzichtet werden konnte. Insofern erschien die geringe verfahrenstechnische Ausformung des Eingabenrechts als Schlußfolgerung aus den Erfahrungen der unter den Generalverdacht des Klassenprivilegs gestellten "bürgerlichen" Verwaltungsgerichtsbarkeit und ließ sich als das geeignete Instrument zur Stärkung der "Arbeiter-und-Bauern-Macht" präsentieren. Dennoch konnte die Zugangserleichterung den Mangel an Rechtssicherheit und -verbindlichkeit nicht aufwiegen. Eben aus diesem Grunde hinkte Hönls Vergleich des Eingabenrechts mit dem bundesdeutschen Recht der Verwaltungsbeschwerde. Dem Grundrecht der Petition kam in der Bundesrepublik ebenso wie den nichtförmlichen Rechtsmitteln eben nur eine flankierende Funktion zu. Die Hauptlast der Gewährung von Rechtsschutz gegen die öffentliche Gewalt ruhte auf den Schultern einer unabhängigen Verwaltungsgerichtsbarkeit. Deshalb brauchte die Verwaltung auch nicht durch Rechtsnormen zu bürgerfreundlichem Verhalten angehalten zu werden - der Bürger hat schließ-

59

Hönl, S. 706.

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lieh die Möglichkeit, seinen Rechtsanspruch gegen die Verwaltung durch den Richterspruch zu realisieren. 3. Der Eingabenerlaß des Staatsrates von 1961 a) Entstehungshintergrund aa) Praktische Bewährung der Beschwerdeordnung Schon bald nach ihrem Erlaß enthüllten Kontrollen erhebliche strukturelle Mängel bei der Durchführung der Beschwerdeordnung. Die Ineffizienz des Eingabenwesens beschäftigte auch Walter Ulbricht, wie eine Aktennotiz des Sektors Örtliche Räte der Abteilung Staats- und Rechtsfragen des Zentralkomitees der SED vom 18.5.1955 belegt. 6o Die Abteilung war am 22.11.1954 von Ulbricht persönlich beauftragt worden, die "Frage der Beschwerden" durch Mitarbeiter des Präsidenten und der Regierung zu behandeln. 61 "Genosse Ulbricht", heißt es wörtlich, "brachte dabei zum Ausdruck, daß er der Meinung sei, daß bei uns in der Behandlung der Beschwerden der Bevölkerung vielleicht keine richtige Ordnung herrsche, daß statt der Regelung der Angelegenheiten zu viel geschrieben wird. ,,62 Die daraufhin eingesetzte Beratungskommission63 sollte die sich auf der Grundlage der Beschwerdeordnung herausbildende Praxis untersuchen und die dabei zutage getretenen Mißstände "mit dem Ziel der Schaffung einer strengen Ordnung, die der Forderung des Genossen Ulbricht gerecht wird" kenntlich machen. 64 Als "Hauptfrage" des Eingabenwesens stellte sich nach Ansicht der Kommission "das ungenügende Vertrauen der Bevölkerung zu der Arbeit unserer örtlichen Organe" dar. 65 Dies zeigte sich besonders eindrucksvoll daran, 60 Aktennotiz des Sektors Örtliche Räte betreffend die Bearbeitung der Beschwerden der Bevölkerung durch die Staatsorgane vom 18.5.1955, ZK der SED, Abt. Staats- und Rechtsfragen, Analyse der Entwicklung der Eingaben und der Mitarbeit der Bevölkerung an der Lenkung und Leitung des Staates 1955-1957 sowie 1960. (SAPMO BArch DY 30 IV 2/13 Nr. 94) 61 Aktennotiz, wie vorangehende Anmerkung, S. 1. 62 Ebenda. 63 Die Kommission setzte sich zusammen aus Mitgliedern der Präsidialkanzlei, der Beschwerdeabteilung des Büros des Präsidiums des Ministerrats, jeweils einer Mitarbeiterin des Briefbüros Ulbrichts und der Hauptabteilung Örtliche Räte sowie Vertretern von Fachabteilungen (insbes. Wohnungswesen). 64 Aktennotiz des Sektors Örtliche Räte der Abteilung Staats- und Rechtsfragen des Zentralkomitees der SED vom 18.5.1955, SAPMO BArch DY 30 IV 2/13 Nr. 94, S. 2. 65 Ebenda.

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daß die Staatsspitze zunehmend mit Eingaben überhäuft wurde, welche nur auf der Ebene der "örtlichen Organe der Staatsmacht" zu lösen waren. So verzeichnet der Kommissionsbericht etwa die Tatsache, daß bei der Präsidialkanzlei von Mai bis Dezember 1954 146.388 Eingaben eingegangen waren, als "Vertrauensbeweis zum Präsidenten" und zugleich als "hohe Verpflichtung und große Verantwortung für alle Mitarbeiter des Präsidenten und der Regierung,,66. Bei realistischer Betrachtung machte die hohe Zahl der Eingaben an den Präsidenten indes um so mehr deutlich, daß die örtlichen Organen im Verhältnis gesehen viel weniger frequentiert wurden. So gingen beim Rat des Bezirks Gera im Monat Januar 1955 lediglich 87, im Folgemonat 97 Beschwerden ein, und dies obschon die inhaltliche Verantwortung ganz überwiegend bei den örtlichen Staatsorganen lag: 40-45 % der bei der Präsidialkanzlei eingegangenen Beschwerden beschäftigten sich mit Fragen der Wohnraumlenkung67 , welche nur vor Ort entschieden werden konnten. Die bei der Durchführung der Beschwerdeordnung erzielten Ergebnisse alarmierten das Zentralkomitee der SED. Fortan ließ es die Beachtung der Beschwerdeordnung auf der Ebene der örtlichen Organe streng überwachen und ließ sich die Untersuchungsergebnisse melden. Die dabei zutage tretenden Erscheinungen dokumentierten die Unzulänglichkeit der bisherigen Regelung. So stellte der Bericht "Stand der Entwicklung der Eingaben und der Mitarbeit der Bevölkerung an der Lenkung des Staates,,68 an das Zentralkomitee der SED aus dem Jahr 1960 fest, daß die wesentlichen Vorgaben der Beschwerdeordnung häufig unerfüllt blieben. Dies galt bereits für die Frage, welche zur Kenntnis der örtlichen Staatsfunktionäre gelangten Sachverhalte überhaupt als Eingabe registriert wurden. Im Sinne der Staatsführung wäre es gewesen, sämtliche gesellschaftlichen Bedürfnisse und Problemstellungen unabhängig von der Art und Weise der Kenntniserlangung als Eingabe zu behandeln und entsprechend zu registrieren und auszuwerten. Dies erfolgte jedoch in der Praxis nicht. In dem Bericht hieß es hierzu: "Als Eingaben werden bei den örtlichen Organen der Staatsrnacht fast ausschließlich nur die schriftlichen Beschwerden und Vorschläge und die persönlichen Vorsprachen in den öffentlichen Sprechstunden gewertet. Selten erlaßt werden die Beschwerden, die auf öffentlichen Einwohnerversammlungen und ähnlichen Veranstaltungen erhoben werden ...69

Ebenda. Ebenda. 68 "Bericht über den Stand der Entwicklung der Eingaben und der Mitarbeit der Bevölkerung an der Lenkung und Leitung des Staates" an das Zentralkomitee der SED in ZK der SED, Abt. Staats- und Rechtsfragen, Analyse der Entwicklung der Eingaben und der Mitarbeit der Bevölkerung an der Lenkung und Leitung des Staates 1955-1957 sowie 1960 (SAPMO BArch DY 30 IV 2/13 Nr. 94, BI. 48-162). 66 67

2. Abschn.: Theoretische Grundlagen des Eingabenwesens

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Der Grundgedanke, das Eingabenwesen fördere die Einbindung der Werktätigen in die Leitung ihres Staates, fand in der Wirklichkeit häufig keine Entsprechung. Insbesondere führte es auch nicht zu einer unter Gesichtspunkten der Demokratie zu begrüßenden Transparenz von Leitungsentscheidungen durch die Behandlung von Eingabenproblemen vor den örtlichen Volksvertretungen. Zurückgeführt wurde dies insbesondere auf die vorherrschende Tendenz, Entscheidungskompetenzen von der Ebene der örtlichen Staatsorgane wegzudelegieren, wie auch darauf, daß nach dem Gesetz unzuständige Partei stellen diese Kompetenzen an sich zogen. Wörtlich kritisierte der Bericht: "Die zusammengestellten Materialien zeigen, daß besonders im Verlaufe der letzten sechs Monate zentrale und Bezirksorgane dazu übergingen, viele Einzelfragen, vor allem auf dem Gebiet der Landwirtschaft und des Handels, zu dekretieren. Dies engte für die Volksvertretungen sowie die örtlichen Räte und ihre Fachorgane immer stärker die Möglichkeit ein, ihre im Gesetz vom 17.1.1957 festgelegten Pflichten und Rechte wahrzunehmen, und hemmte so die weitere Festigung der Beziehungen zwischen den Werktätigen und der volksdemokratischen Staatsrnacht. Die Tatsache, daß der wissenschaftliche Charakter der staatlichen Leitung eingeschränkt wurde, gab der Handwerkelei und anarchischen Tendenzen Raum. Die Tatsache, daß Detailfragen zentral entschieden, täglich Berichte verlangt und für ,Schwerpunktaufgaben' neben oder als Ersatz für die verantwortlichen Organe Stäbe und Bevollmächtigte eingesetzt werden oder auch, daß Parteiorgane Einzelfragen der staatlichen Arbeit an sich ziehen und entscheiden, drückt ungenügende Berücksichtigung der Realitäten, unbegründete Ungeduld und mangelndes Vertrauen in die Bereitschaft und die Fähigkeit der verantwortlichen staatlichen Organe, ihrer Mitarbeiter und der Werktätigen für die Lösung der Aufgaben aus.,,70

Auch im Hinblick auf die Einhaltung der ohnehin spärlichen Verfahrensbestimmungen der Beschwerdeordnung, insbesondere der Bearbeitungsfristen, war das Untersuchungsergebnis enttäuschend. Das Postulat, nach dem die Eingaben "wertvolle Hinweise für die staatliche Leitungstätigkeit" geben sollten, blieb insofern weitgehend unerfüllt, als eine politische Auseinandersetzung mit Eingabenproblemen oftmals unterblieb: "Die Bearbeitung der Eingaben erfolgt in den Kreisen sehr unterschiedlich. Im letzten Jahr hat die ordnungsgemäße Kontrolle der Bearbeitung der Beschwerden allgemein stark nachgelassen. Das ist mit eine der Folgen der in dem anschließenden Abschnitt des vorliegenden Materials dargelegten Schwächen in der staatlichen Leitungstätigkeit. Die Auswertung der Beschwerden im Rat ist zu einer Seltenheit geworden. Es ist kein Fall bekannt, daß eine Auswertung der Beschwerden im Bezirks- oder Kreistag erfolgte und daß die Ständigen Kommissionen hierzu Stellung nehmen. So hat sich z.B. der Rat des Bezirks Erfurt letztma69 Bericht an das Zentralkomitee der SED, wie vorangehende Anmerkung, BI. 69 (S. 13 des Berichts). 70 Bericht an das Zentralkomitee der SED (Anm. 68), BI. 53.

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lig am 6.2.1959 mit der Auswertung der Eingaben der Bürger beschäftigt. Der Vorsitzende des Rates des Bezirkes Halle, Genosse L., schätzt ein, daß ,sowohl bei den Fachorganen des Rates des Bezirks als auch bei einem großen Teil der Räte der Kreise, der Städte und Gemeinden die Beschwerdebearbeitung unterschätzt und Beschwerden der Werktätigen zum Teil formal und herzlos behandelt werden'. Genosse P., Vorsitzender des Rates des Bezirks Potsdam, gibt eine ähnliche Einschätzung. ,Wesentliche Terminüberschreitungen, oft Nichtbearbeitung von Beschwerden, oberflächliche Auskünfte und wiederholtes Hinhalten von berechtigten Nachfragen sind einige Mängel, die sich in der Bearbeitung von Beschwerden zeigen.' (... ) Unsere Feststellungen in den Kreisen Hainichen, Pritzwalk und Forst bestätigen diese Einschätzungen. Nur beim Rat des Kreises Hainichen und beim Rat der Stadt Mittweida erfolgt eine im wesentlichen ordnungsgemäße Bearbeitung der Eingaben entsprechend der Verordnung über die Prüfung von Vorschlägen der Werktätigen vom 6.2.1953. Die Führung der Beschwerdebücher in den Fachabteilungen wird hier kontrolliert. Aus den Arbeitsbereichen liegen 1/4-jährliche Berichte über die Zahl und den Inhalt der Eingaben und die Art und Weise der Erledigung vor. In den Analysen und Festlegungen des Rates des Kreises sowie des Rates der Stadt werden eine Reihe kritischer Schlußfolgerungen gezogen. Ein ernster Mangel besteht jedoch darin, daß der Rat des Kreises sowie der Rat der Stadt kaum Einfluß darauf nehmen, daß wichtige Eingaben von den Fachabteilungen gemeinsam mit den ständigen Kommissionen bzw. den Abgeordnetengruppen der Wirkungsbereiche der Nationalen Front ausgewertet werden...7\

Die Feststellungen zur Nachlässigkeit der Bürokratie im Umgang mit den Eingaben gipfelten in der Beschreibung der Eingabenbearbeitung in der Stadt Dresden: "Wie uns mitgeteilt wurde, hängt in der Eingangshalle des neuen Rathauses in Dresden ein Briefkasten mit der Aufschrift ,Für Vorschläge und Beschwerden der Bevölkerung'. Vor kurzem wurde durch einen Zufall entdeckt, daß dieser Briefkasten mehr als 12 Monate nicht geleert wurde. In ihm befanden sich mehrere Dutzend unbearbeiteter Briefe mit guten und wichtigen Vorschlägen der Bevölkerung. 60 Wochen lang waren die Mitarbeiter der Dresdner Stadtverwaltung, unter ihnen die Ratsmitglieder und die Genossen der Organisations-Abteilung sowie der Kontrollstelle des Vorsitzenden, mehrmals täglich an dem Briefkasten vorbeigegangen. Dieses Beispiel ist charakteristisch dafür, welche Rolle die Vorschläge und Beschwerden der Bevölkerung gegenwärtig im Rahmen der Arbeit der örtlichen staatlichen Organe einnehmen.'.72

Freilich stellt dieses Beispiel einen besonders krassen Fall der Nichtbeachtung der Beschwerdeordnung dar. Allein die Tatsache jedoch, daß in einer der größten Städte der DDR ein derart vollständiger Fall der Verweigerung der Eingabenbearbeitung möglich war, machte jedoch deutlich, wie es um die Möglichkeit bestellt war, die Verwaltung im Wege der Eingabe 71 Bericht, BI. 71. Eigennamen hier, wie auch im folgenden, aus Datenschutzgründen anonymisiert. 72 Bericht, ebenda.

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zum Handeln zu zwingen. Dies bedeutete jedoch nicht, daß ein solches Vorgehen per se aussichtslos gewesen wäre. Es kam vielmehr darauf an, die Eingabe in einem politisch günstigen Augenblick anzubringen und eine positive Verwaltungsentscheidung mit dem Versprechen des eigenen Wohlverhaltens zu verknüpfen. Dies zeigte sich besonders plastisch an dem Phänomen der "Wahleingaben": "Die Erfahrungen zeigen, daß die aktive Mitarbeit der Bevölkerung immer dann, wenn politische Grundfragen diskutiert werden, besonders entwickelt war. Das zeigte sich besonders bei der Durchführung von Wahlen, der Perspektivplandiskussion 1959, der Massenbewegung zur sozialistischen Umgestaltung in den Dörfern im Frühjahr 1960 und anderen besonderen Ereignissen. Bei diesen Aktionen wurden viele Fragen an Ort und Stelle entschieden, ohne daß ein Schriftwechsel entstand. Die Mitarbeit der Bevölkerung in den Ausschüssen der Nationalen Front sowie in den Aktivs der Ständigen Kommissionen der Volksvertretungen nahm zu. Nach Abschluß der jeweiligen Aktion flaute jedoch die Aktivität und die Mitarbeit oft recht schnell ab. Das war bisher vor allem nach Abschluß der Wahlen festzustellen. Dabei darf jedoch nicht unberücksichtigt bleiben, daß in diesem Zusammenhang in Form von Beschwerden oft Forderungen als Druckmittel gestellt werden (zur Teilnahme an der Wahl, wenn eine Wohnung versprochen wird; nur Mitglied der LPG zu werden, wenn in kurzer Frist ein Auto gekauft werden kann u. a.). In solchen Fällen wurden oft Versprechungen gemacht, die später nicht eingehalten werden konnten.'.73

Die - beabsichtigte - Unschärfe des Eingabebegriffs und insbesondere die in der Beschwerdeordnung bewußt unterbliebene Trennung von Beschwerden und Kritiken einerseits sowie Anträgen und Vorschlägen andererseits führte zwangsläufig zu unterschiedlichen Auffassungen darüber, ob eine besonders große oder im Gegenteil eine besonders geringe Anzahl von Eingaben auf ein besonders gesetzmäßiges und bürgemahes Verhalten der Verwaltung hindeutete. Die Haltung der Staatsführung war hier in sich widersprüchlich und uneinheitlich. Einerseits wurde an der Auffassung festgehalten, die Unterscheidung zwischen "positiven" und "negativen" bzw. "altruistischen" und "egoistischen" Eingaben sei unter den nunmehr herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen überholt und formalistisch und entspringe einer "kleinbürgerlichen" Denkungsart. Andererseits wurden auffällige statistische Häufungen von Eingaben in bestimmten Städten, Kreisen und Bezirken stets argwöhnisch betrachtet und penibel in den Eingabenberichten vermerkt. Änderte sich die statistische Auffälligkeit nicht, mußten die örtlichen Funktionäre mit dem Besuch einer Delegation der Staatlichen Kontrollkommission rechnen. Die Folge war eine Irritation bei den Eingabenadressaten darüber, ob sie möglichst viele Eingaben ausweisen sollten74, Bericht an das Zentralkomitee der SED (Anm. 68), BI. 74 (S. 18 des Berichts). Dies ging teilweise so weit, daß reine Auskunftsbegehren, Anträge auf Eheschließung u. ä. als "Eingabe" erfaßt wurden. 73

74

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um damit den Eindruck besonderer Bürgernähe und Vertrauenswürdigkeit zu erwecken, oder ob sie den Eingabebegriff doch lieber eng auslegen sollten, um damit zu signalisieren, daß es an ihrer Arbeit "nichts zu beanstanden" gebe. Letzten Endes wurde der Konflikt meist dahin gehend gelöst, daß nach Möglichkeit ein Durchschnittswert auf dem Niveau des Vergleichszeitraums ausgewiesen wurde. Die Signalisierungsfunktion des Eingabenwesens dürfte dadurch erheblich beeinträchtigt worden sein. Der Bericht aus dem Jahre 1960 verneinte jedoch bereits eindeutig einen Zusammenhang zwischen Eingabenaufkommen und Qualität der Verwaltungsarbeit: "Die Zahl und der Inhalt der an die staatlichen Organe gerichteten Beschwerden lassen keine mechanischen Rückschlüsse auf die Qualität der staatlichen Arbeit im jeweiligen Gebiet zu. Bei einem Besuch der Kreise Hainichen, Forst und Pritzwalk wurde festgestellt, daß die Zahl der Beschwerden je 100.000 Einwohner im Kreis Hainichen, der eine bessere Beschwerdebearbeitung sichert als die bei den anderen Kreise, um ein Drittel höher lag als in den anderen Kreisen.,,75

Berichte der Zentralen Kontrollkommission über die Durchführung der Beschwerdeordnung auf Bezirksebene bestätigen und präzisieren das in dem ZK-Bericht vermittelte Bild. Das in der Beschwerdeordnung vorgesehene Idealbild der Wahrnehmung der "persönlichen Verantwortung des Leiters" wurde durch die auf der Kreis- und Bezirksebene erlassenen Durchführungsbestimmungen geradezu konterkariert. So schrieb beispielsweise die Durchführungsbestimmung für den Kreis Nauen folgendes Verfahren der Eingabenbearbeitung vor: Zunächst registrierte ein interner Organisations- und Revisionsstab, die sog. Organisations-Instrukteur-Abteilung, die eingehenden Eingaben, registrierte sie und gab sie mit einem Anschreiben bzw. auszugsweise an die einzelnen Fachabteilungen zur Bearbeitung weiter. Die Fachabteilungen reichten das Ergebnis ihrer Bearbeitung an die Organisations-Instrukteur-Abteilung schriftlich zum Zwecke der Benachrichtigung der Beschwerdeführer zurück. Danach wurden der Beschwerdeführer von der Org.-Instrukteur-Abteilung schriftlich über das Ergebnis seiner Beschwerde in Kenntnis gesetzt. 76 Die Umständlichkeit des Verfahrens führte in der Praxis zu einem Kompetenzchaos, welches der angestrebten "Stärkung der Autorität der örtlichen Organe der Staatsrnacht" Hohn sprach und die jeweiligen Leiter de facto von der Verantwortung für die endgültige Bearbeitung der Eingaben entband. 75 Bericht an das Zentralkomitee der SED (Anm. 68), BI. 74 (S. 18 des Berichts). 76 "Bericht des Bevollmächtigten der ZKK im Bezirk Potsdam, Kontrollgruppe ,Briefe der Werktätigen' über die Überprüfung der Bearbeitung und Auswertung von Beschwerden beim Rat des Kreises Nauen (im 2. Halbjahr 1953)", Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Bestand Bezirkstag und Rat des Bezirkes Potsdam, Rep. 410, Nr. 1389, S. 3.

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Die Folge war, daß sich die Praxis des Eingabenwesens nicht wie prognostiziert durch mehr Flexibilität und weniger "bürgerlichen" Formalismus auszeichnete, sondern zu chaotischen Zuständen der Mehrfachbefassung und des Wegdelegierens der Verantwortung von einer Verwaltungsstelle zur anderen führte. Zu diesem Befund kam auch die Kontrollgruppe der Zentralen Kontrollkommission (ZKK) Potsdam77 , die in einem "Bericht über die Überprüfung der Bearbeitung und Auswertung der Beschwerden beim Rat des Kreises Nauen für den Zeitraum Februar 1954,,78 ein besonders eindrucksvolles Beispiel für die häufig verschlungenen Wege der Eingabenbearbeitung dokumentierte: "Ein Beispiel für die Verschleppung von Beschwerdevorgängen zeigt die Behandlung der Beschwerde des VP-Angehörigen H. Dieser beschwerte sich beim Rat des Bezirkes über seine schlechten Wohnverhältnisse (die Frau mit kleinem Kind wohnt bei ihren Eltern in Stube und Kammer. Er selbst wohnt bei seiner Mutter 70 km entfernt). Diese Beschwerde wurde dem Rat des Kreises mit Termin 20.11.1953 zugeleitet. Danach wurde vom Rat des Kreises mit Herrn H. persönlich verhandelt. Da dieser jedoch 6 Wochen danach keine Antwort erhielt, beschwerte er sich erneut am13.12.1953 beim Rat des Bezirkes. Die zweite Beschwerde wurde wiederum vom Rat des Kreises mit neuem Termin zur Klärung bis 31.1.1954 übergeben. Inzwischen wurde Frau H. beim Rat des Kreises persönlich vorstellig, ohne ein Ergebnis zu erreichen. Es wurde ihr ein Schreiben an den Bürgermeister von Falkensee mitgegeben. In Falkensee erfuhr sie, daß in ihrer Angelegenheit noch nichts unternommen war. Über diese schlechte Behandlung beschwerte sich H. am 12.1.1954 erneut beim Rat des Bezirkes. Dieser richtete die dritte Beschwerde an den Rat des Kreises, Organisations-Instrukteur-Abteilung, am 29.1.1954 zwecks Überprüfung. Die Organisations-Instrukteur-Abteilung beim Rat des Kreises übergab die Beschwerde zur Bearbeitung dem Referat Wohnraumlenkung, über welches Beschwerde geführt wurde. Hinzu kommt, daß der Rat des Kreises Nauen - Referat Wohnraumlenkung - mit Schreiben vom 2.2.1954 u. a. dem Beschwerdeführer mitteilte, daß ihm die Eingabe zur Bearbeitung übertragen wurde. Diese Arbeitsweise ist nicht dazu angetan, das Vertrauen des Beschwerdeführers zum Staatsapparat zu festigen.,,79

Daß unter diesen Umständen die als Verbürgungen der Rechtssicherheit gefeierten, schematisch aus der Verwaltungspraxis der Sowjetunion übernommenen Fristbestimmungen häufig verletzt wurden, ergab sich fast zwangsläufig. Bei einem Gesamtaufkommen von 211 Beschwerden im Be-

77 Zur Überprüfung der Bearbeitung und Auswertung von Beschwerden wurden bei den Bevollmächtigten der Zentralen Kontrollkommission auf Ebene des Bezirks spezielle Kontrollgruppen mit dem Aufgabengebiet "Briefe der Werktätigen" eingerichtet. 78 Bericht, wie Anm. 76. 79 Bericht (Anm. 76), S. 10.

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richtszeitraum verzeichnete das Beschwerdekontrollbuch des Kreises Nauen folgende Fristüberschreitungen: 69 Beschwerden bis zu 10 Tagen 40 Beschwerden von 11-20 Tagen 26 Beschwerden von 21-30 Tagen 27 Beschwerden von 31-60 Tagen 10 Beschwerden von 61-96 Tagen 1 Beschwerde bis 136 Tage. 80

Im Ergebnis standen somit den 173 Fristüberschreitungen bloß 38 Beschwerdevorgänge (= 18%) gegenüber, die fristgemäß bearbeitet wurden. Aber auch die von der SED proklamierte These, das Eingabenwesen sei "demokratischer" als das verwaltungsgerichtliche Verfahren, da es geringere Zugangsvoraussetzungen stelle und insofern besonders den Werktätigen entgegenkomme, ließ sich in der Praxis nicht belegen. In den Fällen, in denen der Nachweis über die soziale Stellung der Eingabenverfasser überhaupt geführt wurde - dies war häufig nicht der Fall -, deutete nichts auf eine besondere Affinität der "Werktätigen" zum Instrument der Eingabe hin. Laut Bericht der Zentralen Kontrollkommission 81 beschwerten sich im Februar 1954 im Kreis Nauen 47 Hausfrauen, 19 Rentner, 17 Bauern, 14 Arbeiter, 9 Angestellte, 9 Verwaltungen sowie eine Organisation. Darüber hinaus wurden Beschwerden von 37 Funktionären, 27 Abgeordneten, 14 Instrukteuren und 16 Angehörigen der Nationalen Front dem Rat des Kreises übergeben. 26 "Beschwerden" wurden einer regionalen Tageszeitung, der "Märkischen Volksstimme" entnommen, 52 (= 18,2%) der im zweiten Halbjahr 1953 eingegangenen Beschwerden waren dem Rat des Kreises von der Präsidialkanzlei zugestellt worden. Im Ergebnis ließ sich anband des statistischen Materials also keine besondere Präferenz des Eingabenwesens durch Arbeiter und Bauern belegen. In der Praxis zeigte sich somit sehr schnell, daß die vermeintlich pragmatische, bürgerfreundliches Verhalten vorgaukelnde Verfahrensfreiheit und Formungebundenheit der Beschwerdeordnung nicht in der Lage war, die mit dem Eingabenwesen verfolgten Ziele zu erreichen. Weder vermittelten die Eingaben der Staats- und Parteiführung ein realistisches Bild von den herrschenden Zuständen und Stimmungen, noch erwies sich das Eingabenwesen als geeignetes Instrument, Schwachstellen in der staatlichen Verwaltung kenntlich zu machen. Und schon gar nicht war es dazu in der Lage, den Bürger in das Staatswesen zu integrieren, ihn an den Aufbau des Sozialismus heranzuführen und ihm Rechtssicherheit und Vertrauen in die Gesetzmäßigkeit der staatlichen Verwaltung zu vermitteln.

80 81

Bericht (Anm. 76), S. 2. Bericht, ebenda.

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bb) Interne Reformüberlegungen auf der Ebene des ZK der SED Das Archivmaterial der Abteilung Staats- und Rechtsfragen des Zentralkomitees der SED dokumentiert die Bemühungen der Staatsspitze, den untragbar gewordenen Zustand auf dem Gebiet der Verwaltungskontrolle und des Verwaltungsrechtsschutzes zu beheben. Die archivierten Berichte geben Hinweise darauf, daß bereits Mitte der fünfziger Jahre konkrete und substantiierte Bestrebungen auch auf der höchsten politischen Ebene der Staatshierarchie der DDR bestanden, das Eingabenwesen aus seiner Position als universelles - und damit ausschließliches - Instrument zur Regelung verwaltungsrechtlicher Beziehungen zwischen Bürger und Staat zu verdrängen und zu Formen externer Verwaltungskontrolle zurückzukehren. Dies beleuchtet ein "Bericht über den Stand der Vorbereitungen für den Gesetzentwurf Vorschlags- und Beschwerderecht der Bürger" vom 6.9.1956 einer vom Politbüro des Zentralkomitee der SED eingesetzten Kommission, der die Untersuchung folgender Gegenstände aufgegeben war: ,,1. Breitere Einbeziehung der Bürger bei der Lösung der staatlichen Aufgaben und Erhöhung ihres Rechtsschutzes durch

a) Möglichst weitgehende Vereinheitlichung und Vereinfachung des förmlichen Rechtsmittelverfahrens, b) Beseitigung einer Überzentralisation bei der Entscheidung über Individualakte durch Verlagerung der Beschwerdeinstanzen in den Bereich der örtlichen Organe und c) Schaffung eines Rechtsmittelprüfungsverfahrens für bestimmte Verwaltungsakte. 2. Notwendigkeit bzw. Zweckmäßigkeit der Trennung zwischen allgemeinen Beschwerden und Vorschlägen bei der verfahrensmäßigen Gestaltung ihrer Behandlung. 3. Erhöhung der Rolle der Volksvertretungen und ihrer Abgeordneten, besonders hinsichtlich ihrer Kontrollfunktion gegenüber den vollziehend-verfügenden Organen bei der Bearbeitung der Vorschläge und Beschwerden der Bürger.,,82

Ziel der Kommissionsarbeit war es somit, die dringend notwendige Differenzierung innerhalb des Eingabenwesens zwischen allgemeinen Hinweisen und Anregungen und Beschwerden vorzubereiten. Innerhalb des Beschwerdebegriffs sollte wiederum differenziert werden zwischen "allgemeinen" Beschwerden (etwa vergleichbar mit der westdeutschen Dienstaufsichtsbeschwerde) und der Beschwerde gegen einen "Individualakt", also einen 82 Bericht über den Stand der Vorbereitungen für den Gesetzentwurf Vorschlagsund Beschwerderecht der Bürger (nachfolgend: "Kommissionsbericht"), Zentralkomitee der SED, Abt. Staats- und Rechtsfragen, SAPMO BArch DY 30 IV 2/13 Nr. 96, BI. 319-334. 15 Hoeck

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Verwaltungsakt. In Hinblick auf die letztgenannte Fallgruppe, also den Verwaltungsrechtsschutz im engeren Sinne, sollten durchgreifende Refonnen durchgeführt werden, ohne sich dabei jedoch zu weit der als bourgeois stigmatisierten Verwaltungs gerichtsbarkeit anzunähern. Der Bericht der mit der Erarbeitung eines Gesetzesentwurfs betrauten Kommission offenbart das Dilemma, in dem sich die Führungsspitze der SED befand: Einerseits war die Unzulänglichkeit des Eingabenwesens evident und bedurfte dringend grundlegender Veränderungen auf dem Gebiet des Verwaltungsrechtsschutzes. Andererseits war es aus Gründen politischer Opportunität nicht möglich, entgegen vorhergehender gegenteiliger Beteuerungen die Wirkungslosigkeit des Eingabenwesens einzugestehen. Schon gar nicht ließ sich das Problem durch eine Rückbesinnung auf die als reaktionär gescholtene deutsche verwaltungsgerichtliche Tradition, wie sie im Westen weiter gepflegt wurde, lösen: "Bei der Überprüfung der erforderlichen Maßnahmen zur Erhöhung des Rechtsschutzes der Bürger gegenüber Maßnahmen der Organe der staatlichen Verwaltung wäre von dem gegenwärtigen Stand der Praxis auszugehen und zu beachten, daß die weitere Festigung der Gesetzlichkeit und Entwicklung der sozialistischen Demokratie nicht gleichbedeutend sein kann mit der Übernahme von Formen des bürgerlichen Staates, wie sie in der Verwaltungs gerichtsbarkeit Ausdruck fanden."s3

Ohne zuvor eine theoretische Leitidee zu entwickeln, betrieb die Kommission eine "Rechtstatsachenforschung eigener Art". Auf der Grundlage der Sichtung eines Gesamttagesposteingangs in der zentralen Beschwerdeabteilung des Präsidiums des Ministerrats sowie von Beratungen mit den EingabesteIlen des Ministeriums der Finanzen, des Ministeriums für Aufbau sowie der Abteilung staatliche Organe des Zentralkomitees der SED kam die Kommission zunächst zu dem überraschenden Ergebnis, daß die geWährten Rechtsschutzmöglichkeiten84 "im allgemeinen ausreichend" seien. 85 Diese Bewertung scheint jedoch eher dem politischen Wohlverhalten geschuldet gewesen zu sein, denn die nachfolgende Bestandsaufnahme belegte geradezu das extreme Gegenteil: Bei der praktischen Durchführung hätten sich einige "hemmende Faktoren" gezeigt, die zu einem ungenügenden Rechtsschutz des Bürgers im konkreten Einzelfall und zu Defiziten des Komrnissionsbericht S. 3, wie vorangehende Anm. BI. 322. Ausdrücklich genannt wurden: ,,1. die auf Grund des Artikels 138, Abs. I auszuführende Kontrolle der Volksvertretungen, 2. die in zahlreichen Normativakten vorgesehenen förmlichen Rechtsmittel, 3. die Beschwerde nach der Verordnung vom 6.2.1953, 4. die nach § 10 ff. des Staatsanwaltschaftsgesetzes vom 23.5.1952 von der Staatsanwaltschaft auszuübende allgemeine Aufsichtspflicht." 85 Kommissionsbericht, wie Anm. 82. 83

84

2. Abschn.: Theoretische Grundlagen des Eingabenwesens

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Staatsapparates bei der Verbesserung seiner Tätigkeit führten. 86 Im einzelnen wurden als Mißstände kenntlich gemacht, daß "a) die Volksvertretungen ungenügend tätig werden, b) die Beschwerdeinstanzen für die fönnlichen Rechtsmittelverfahren fast ausschließlich bei den Fachorganen der Räte liegen und dort, wo de jure der Rat selbst Entscheidungsinstanz sein soll, de facto doch die Leiter der Fachorgane entscheiden und dabei teilweise subjektive Auffassungen eine gerechte Entscheidung nicht zulassen, c) die Einbeziehung der Bürger, besonders ihr Recht auf Gehör, in den meisten fönnIichen Rechtsmittelverfahren nicht zwingend vorgeschrieben ist und auch nicht Anwendung findet, d) gegen zahlreiche Individualakte der Verwaltungsorgane kein Rechtsmittel gegeben ist, e) die Bürger mangels einer klaren Abgrenzung auch in den Fällen, wo ein förmliches Rechtsmittel gegeben und oftmals auch in Anspruch genommen wurde, trotzdem nach der Verordnung vom 6.2.1953 bei den verschiedensten zentralen staatlichen Organen ihre Beschwerde vorbrachten und f) die allgemeine Aufsicht der Staatsanwaltschaft aus den verschiedensten Grün-

den von den Bürgern ungenügend in Anspruch genommen wurde ...87

Der Behebung dieser Schwächen sollte ein stärker ausdifferenzierte System dienen, welches schließlich zum Verwaltungsakt als dem zentralen Begriff des Verwaltungsrechtsschutzes zurückkehrte. Daraus ergab sich eine Gliederung des Gesetzesentwurfs in fünf Abschnitte88 : 1. Das Vorschlags- und Beschwerderecht der Bürger (allgemeine Bestimmungen) 2. Das Verfahren bei Beschwerden, die sich gegen einen Individualakt richten 3. Das Verfahren bei Vorschlägen und allgemeinen Beschwerden 4. Die Behandlung der Eingaben durch die Abgeordneten und Volksvertretungen 5. Schlußbestimmungen

Gegenüber dem Gedanken der Erschaffung eines einheitlichen Verwaltungsverfahrensgesetzes zeigte sich die Kommission grundsätzlich offen. Daß ein gesetzlich festgelegtes Verwaltungsverfahren nicht im Widerspruch zu den Grundlagen des sozialistischen Staates stand, bewies das Vorbild der CSR: "Es wäre zu erwägen, inwieweit der Umfang des unter 2) zu regelnden Verfahrens die Normierung in einem gesonderten Gesetz erforderlich macht. Zur Zeit der Fertigung dieses Berichte erhielt die Arbeitsgruppe die Übersetzungen der Verordnung Nr. 2011955 über das Verfahren in Verwaltungsangelegenheiten (Ver86 87 88 15*

Kommissionsbericht, ebenda. Kommissionsbericht, ebenda. Kommissionsbericht S. 16 (BI. 333).

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

waltungsordnung) vom März 1955 und die Bekanntmachung des Justizministeriums zur Durchführung dieser Verordnung vom 28.4.1955 aus der CSR. Daraus ergeben sich weitere Anregungen, die bisher noch nicht beraten und verarbeitet werden konnten. M. E. wäre es durchaus auch bei uns angebracht, nicht nur das Beschwerdeverfahren gegen Verwaltungsakte, sondern auch die Kompetenzen, Anforderungen, das Verfahren beim Erlaß und die Mittel zur Durchsetzung der Verwaltungsakte normative zu regeln. Das müßte dann aber auf alle Fälle in einem gesonderten Gesetz erfolgen. (... ),,89

Sodann prüfte die Kommission, ob eine Veränderung der Mittel und Verfahren unter Berücksichtigung der aufzuwendenden Arbeit und des möglichen Erfolgs als zweckmäßig und durchführbar erschien. 9o Hierzu bedurfte es zunächst der Feststellung welche Verwaltungsakte einer Rechtskontrolle unterworfen werden konnten. Letztlich stand somit die Anwendung einer "Lehre vom sozialistischen Verwaltungsakt" im Mittelpunkt. Eine solche Lehre war in der DDR-Verwaltungsrechtswissenschaft anerkannt. 91 Sie orientierte sich in ihren Grundzügen an der überlieferten deutschen verwaltungsrechtlichen Tradition, kannte also die Unterscheidung zwischen Normativ- und Individualakten92 , differenzierte zwischen "einfachen" und "zusammengesetzten" Verwaltungsakten93 erkannte auch Befristung, Bedingung und Auflage als zulässige Nebenbestimmungen zum Verwaltungsakt an. 94 Unter der Überschrift "Die rechtlichen Anforderungen an staatliche Verwaltungsakte" transponierte das 1957 unter Karl Bönningers Leitung entstandene Verwaltungsrechtslehrbuch die von der deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft der Vorkriegszeit entwickelten Rechtmäßigkeitsanforderungen, forderte die Rechtsmittelbelehrung, normierte die Zuständigkeit zum Erlaß staatlicher Verwaltungsakte. Ohne gesetzliche Anknüpfungspunkte führte das offizielle Lehrbuch hier durchaus rechtsstaatlichen Anforderungen entsprechende Bestimmungen zur Regelung des Verwaltungsverfahrens ein. Es sah bestimmte Voraussetzungen für die Rücknahme und Änderung staatlicher Verwaltungsakte vor und konstatierte, daß ein Verwaltungsakt unter bestimmten Bedingungen anfechtbar oder nichtig sein könne. Kommissionsbericht, ebenda. Komrnissionsbericht S. 4, SAPMO BArch DY 30 IV 2/13 Nr. 96, BI. 323. 91 VgI. bereits Hans-Ulrich Hochbaum, Die staatlichen Verwaltungsakte im Lichte der Lehre Stalins von Basis und Überbau, in: Neue Justiz 1952, S. 108; ders. in Karl Bönninger (Leiter des Autorenkollektivs), Das Verwaltungsrecht der Deutschen Demokratischen Republik - Allgemeiner Teil (1957), Kapitel V: Der staatliche Verwaltungsakt in der Deutschen Demokratischen Republik (S. 169-204); aus westlicher Sicht Hans-Jürgen Forst, Der Verwaltungs akt in der UdSSR und der DDR, Kölner Diss. iur. 1969. 92 Hans-Ulrich Hochbaum in Bönninger, Verwaltungsrechtslehrbuch (wie vorangehende Anmerkung), S. 183 f. 93 Bönninger/Hochbaum, (Anm. 91), S. 185 f. 94 Bönninger/Hochbaum, (Anm. 91), S. 186 ff. 89

90

2. Abschn.: Theoretische Grundlagen des Eingabenwesens

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Ungeachtet des Dogmas der Gewalteneinheit führte das Verwaltungsrechtslehrbuch in diesem Zusammenhang sogar die Lehre vom Vorbehalt des Gesetzes fort. Hierzu hieß es: "Entsprechend dieser Anforderung muß jeder staatliche Verwaltungsakt auf der Grundlage eines Gesetzes oder Beschlusses der zuständigen Volksvertretung beruhen. Das setzt gleichzeitig voraus, daß der Verwaltungsakt nichts gesetzlich Verbotenes oder rechtlich Unmögliches verlangen darf. ,,95 Die lehrbuchmäßige Definition des sozialistischen Verwaltungsakts unterschied sich dementsprechend wenig von der im Westen fortgeführten Lehre: "Danach kann man den Verwaltungsakt der staatlichen Organe in der Deutschen Demokratischen Republik folgendermaßen bestimmen: Der staatliche Verwaltungsakt ist diejenige Rechtsform der vollziehenden und verfügenden Tätigkeit der gesetzlich dazu berufenen staatlichen Organe der Deutschen Demokratischen Republik, durch die diese in Ausübung der Staatsgewalt die Aufgaben und Funktionen des Staates aufgrund und in Durchführung der Gesetze unmittelbar schöpferisch verwirklichen, indem sie einseitig, von sich aus bestimmte rechtliche Folgen hervorrufen. ,,96 Vom Verwaltungsakt in westlichen Demokratien sollte sich der "sozialistische Verwaltungsakt" vorrangig durch seine Intention unterscheiden. So hätten die Verwaltungs akte bürgerlicher Staaten als Ziel nur die Verteidigung der kapitalistischen Ordnung, daher sei die Grundmethode ihrer Realisierung der Zwang im Interesse der herrschenden Bourgeoisie. Dagegen würden sozialistische Verwaltungsakte im Interesse des Volkes mit dem Ziel des Aufbaus der kommunistischen Gesellschaft erlassen. Ohne Zwang, sondern durch Überzeugung verwirklicht, hätten sie einen schöpferischen, konstruktiven Charakter. 97 Mangels verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutzmöglichkeiten blieb diese detaillierte Regelung des Verwaltungsakt freilich ein Torso mit beschränktem Nutzwert. Die mit der Fortentwicklung des Verwaltungsrechtsschutzes betraute Kommission ging bei ihrer Arbeit nicht ausdrücklich von dieser theoretischen Grundlage aus. Auch vermied sie die verwaltungsrechtliche Terminologie. Statt dessen untersuchte sie anband einer empirischen Erhebung der Eingaben bei der Zentralen Beschwerdeabteilung des Präsidiums des Ministerrates, in welchem Umfang eine Rechtsnachprüfung der Individualakte der staatlichen Verwaltung, gegen die sich die Beschwerde richtete, möglich gewesen wäre. Die Untersuchung ergab, daß bei ca. 15 % der untersuchten Eingaben ein Individualakt zugrunde lag, der einer Rechtsnachprüfung unterworfen werden konnte, beispielsweise in den folgenden Fällen:

95 96 97

Bönninger/Hochbaum, (Anm. 91), S. 193. Bönninger/Hochbaum, (Anm. 91), S. 170. Hans-Jürgen Forst (Anmerkung 91), S. 44, m. w.N.

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,,- Beschwerde gegen den Widerruf eines Bescheides, mit welchem dem Betroffenen ein Teil seines Ablieferungssolls erlassen werden sollte, - Beschwerde gegen die Nichtzulassung eines Kraftwagens, - Beschwerde gegen die Ablehnung einer Gebührenzahlung für die Verwaltung eines Grundstückes, - Beschwerde gegen die Nichtgewährung der zusätzlichen Altersversorgung für Lehrer, - Beschwerde gegen die Durchführung einer Zwangsräumung auf dem Verwaltungswege ...98 Generell ausgeschlossen sei die Rechtskontrolle dagegen unter anderem im Falle von Beschwerden: ,,-

gegen das unhöfliche Auftreten eines Vorsitzendes des Rates des Kreises, wegen Nichtgewährung einer Reiseerlaubnis von Westberlin, gegen die Arbeitsweise eines Schlachthofes, gegen die angebliche Cliquenwirtschaft des Landwirtschaftsausschusses einer Gemeinde wegen mangelnder Treibstoffzuteilung, wegen fehlenden Anschlusses an das Energienetz, gegen die Herabsetzung der Warenkontingente eines Großhändlers, wegen bürokratischer Hemmnisse bei der Beschaffung eines Kinderferienlagers, wegen Nichtaufnahme eines Kleinkindes im Kinderheim, wegen Nichtzulassung zur Sonderschule, wegen Nichtauszahlung eines Uraltguthabens, wegen Nichtgewährung einer höheren Rente, wegen einer nicht den fachlichen Fähigkeiten entsprechenden Unterbringung im Betrieb ...99

Somit ergab sich als Gesamtergebnis, daß die überwiegende Mehrzahl der Beschwerden einer RechtsnachpfÜfung nicht unterworfen werden konnte. Darüber hinaus wurde festgestellt, daß auch von den 15% der Eingaben, bei denen eine RechtsnachpfÜfung grundSätzlich für möglich gehalten wurde, 213 sich gegen Individualakte richteten, die nicht von den vollziehend-verfügenden örtlichen Organen, sondern von zentral unterstellten Organen wie der Deutschen Volkspolizei erlassen wurden und bei deren Rechtsnachprüfung eine gesonderte Regelung notwendig geworden wäre. Ein weiteres Problem wurde darin gesehen, daß Bürger häufig gegen die identische Verwaltungsmaßnahme sowohl mit dem gesetzlich vorgesehenen Rechtsmittel als auch im Wege der Eingabebeschwerde vorgingen. So waren unter den 77 Eingaben, welche von der Kommission geprüft wurden, 98 99

Kommissionsbericht S. 5 (BI. 324). Kommissionsbericht, ebenda.

2. Abschn.: Theoretische Grundlagen des Eingabenwesens

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13 Beschwerden, für die ein förmliches Rechtsmittel vorgesehen war. In 12 Fällen wurde davon zuvor auch Gebrauch gemacht, und nur weil der Bürger mit dem Ergebnis der Überprüfung nicht einverstanden war, wandte er sich nochmals mit der Eingabe an die zentralen Organe. IOO Ausgehend von diesen in der Praxis gewonnenen Erkenntnissen unterbreitete die Arbeitsgruppe folgenden Vorschlag: "Bei der Neuregelung des Vorschlags- und Beschwerderechts der Bürger ist eine klare Abgrenzung in der verfahrensrechtlichen Behandlung der Beschwerden a) die gegen die Arbeitsweise und das Verhalten der Mitarbeiter oder der staatlichen Organe und gegen normative Regelungen allgemein gerichtet sind (allgemeine Beschwerde) und b) die gegen einen Individualakt der Organe der staatlichen Verwaltung gerichtet sind (förmliche Beschwerde) vorzunehmen. ,,10 1

Das Eingabenwesen in seiner herkömmlichen Form sollte auf die "allgemeinen Beschwerden", also nach westlicher Diktion Dienstaufsichtsbeschwerden, beschränkt werden, was durchaus sachgerecht erscheint. Ebenso sollte das Eingabenwesen in der mit der Vorschlags- und Beschwerdeordnung vorgegebenen Form für die "Vorschläge" fortgelten, die - entgegen der offiziell beschworenen These vom stetigen Ansteigen der "konstruktiven" Eingaben - einen verschwindend geringen Anteil ausmachten: "Bei der Durchsicht des Posteingangs erwiesen sich von den 77 geprüften Eingaben 3 als Vorschläge. Obwohl nicht übersehen wird, daß bei den örtlichen Organen etwas mehr Vorschläge eingehen, so stehen sie doch im Verhältnis zu den Beschwerden immer noch in einer verschwindenden Minderheit. Dessenungeachtet war zu prüfen, ob für die Vorschläge eine besondere verfahrensrechtliche Regelung notwendig ist. Dabei gelangte die Arbeitsgruppe zu der Auffassung, daß dieses nicht erforderlich erscheint, da die Unterwerfung unter die gleichen Bearbeitungsvorschriften wie für die allgemeinen Beschwerde eine genügende Garantie dafür ist, daß die Vorschläge innerhalb eines kurzen Zeitraumes geprüft und den Bürgern ein entsprechender Bescheid erteilt wird. In der Regel wird in diesem Bescheid dem Bürger schon Mitteilung gemacht werden können (soweit dies möglich ist, wird dies als zwingend vorgeschrieben), wie die Realisierung des Vorschlags erfolgt. Die Bedenken, die gegen eine einheitliche Verfahrensregelung für Vorschläge und Beschwerden geltend gemacht wurden, gingen davon aus, daß die Beschwerden eine klare Entscheidung fordern, wogegen die Vorschläge nicht immer, meist aus finanziellen und materiellen Gründen, realisierbar sind. Nach einer Abgrenzung der Beschwerden gegen alle Individualakte bleiben nur noch solche, die sich gegen die Arbeitsweise, das Verhalten staatlicher Organe oder Mitarbeiter oder gegen einen Normativakt richten. Dabei liegen nicht selten solchen Beschwerden keine persönlichen Motive zugrunde, die sich aus einer Beein100 101

Kommissionsbericht, ebenda. Kommissionsbericht, S. 7 (BI. 325).

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

trächtigung der Rechte und Interessen der Beschwerdeführer unmittelbar ergeben, sondern sie sind von einem hohen Staatsbewußtsein des Beschwerdeführers bestimmt, der in einer solchen Form an der Gestaltung des staatlichen Lebens fördernd teilnimmt. Oftmals sind solche Kritiken (Beschwerden) verbunden mit entsprechenden Vorschlägen, wobei eine Trennung einer solchen Eingabe hinsichtlich ihrer verfahrensmäßigen Behandlung unzweckmäßig erscheint. Unser Ziel ist doch darauf gerichtet, die Mitarbeit der Bevölkerung immer mehr in dieser Richtung zu beeinflussen, und eine Trennung in der Bearbeitung wäre keineswegs dabei förderlich.,,102

Für die Beschwerden gegen Verwaltungsakte sollte dagegen zunächst ein verwaltungsinternes Widerspruchsverfahren ("Einspruchsverfahren") durchgeführt werden, bei dessen Erfolglosigkeit die Beschwerde beim jeweils übergeordneten Organ zulässig sein sollte: "Für die Behandlung der Beschwerden, die sich gegen einen Individualakt richten - ganz gleich, ob bisher ein förmliches Rechtsmittel gegeben war oder nicht -, sollte folgender Verfahrens weg gelten: a) Einspruch bei dem den Individualakt erlassenden Organ (1. Instanz) b) Bei Ablehnung des Einspruchs erhält der Bürger das weitere Rechtsmittel der Beschwerde beim übergeordneten Organ (2. Instanz). Diese beiden Instanzen prüfen allseitig, d. h. sowohl die Rechtmäßigkeit als auch die Zweckmäßigkeit und Tatbestandsfragen. Im allgemeinen ist die Entscheidung der 2. Instanz endgültig und erlangt formelle Rechtskraft. " 103

Darüber hinaus sah der Entwurf in bestimmten Fällen vor, gegen die letzte Entscheidung ("zweiter Instanz") Beschwerde bei einem neuartigen, verwaltungsexternen Gremium einzulegen. Dies war zwar immer noch kein Verwaltungsgericht, kam aber einem rechtsförmigen Kontrollverfahren in seiner Ausgestaltung doch schon nahe: "Nach dem Enumerationsprinzip sollte gegen bestimmte Individualakte eine weitere Beschwerde (Rechtsbeschwerde ) zugelassen werden. Diese wäre bei der 2. Instanz einzulegen und über den für das jeweilige Fachorgan zuständigen Stellvertreter des Vorsitzenden oder den Vorsitzenden des Rates selbst dem zu bildenden Ausschuß zur Beratung und letzten Entscheidung vorzulegen. Unseres Erachtens sollte ein solcher Ausschuß nur die Aufgabe der Rechtsnachprüfung übertragen bekommen und in den Kreisen und Bezirken gebildet werden. Der Ausschuß wäre für eine bestimmte Zeitdauer von der jeweiligen Volksvertretung zu wählen und dieser verantwortlich. In seiner Zusammensetzung sollten ihm angehören: der jeweilige Sekretär des Rates, der für die allgemeine Aufsicht zuständige Staatsanwalt (... ), ein Jurist und zwei oder vier Abgeordnete der jeweiligen Volksvertretung mit möglichst juristischen Kenntnissen. Der Ausschuß sollte weitere Sachverständige mit beratender Stimme zuziehen können. Die Entscheidungen des Ausschusses erlangen Rechtskraftwirkung."I04 102 Kommissionsbericht S. 14 (BI. 32). 103 Kommissionsbericht, ebenda.

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Das Archivmaterial deutet somit darauf hin, daß bereits in den fünfziger Jahren die Bereitschaft bestand, das Selbstentscheidungsrecht der Verwaltung aufzuheben und jene "Beschwerdeausschüsse" einzurichten, deren Bildung auf der Grundlage von Artikel 106 der Staatsratsverfassung und dem Eingabenerlaß von 1969 mehr als ein Jahrzehnt später international für so große Überraschung sorgen sollte. 105 Der Bericht verdeutlichte das der Kommission vorschwebende Verfahren durch folgendes "Beispiel: Die Abteilung Aufbau beim Rat des Kreises verweigert die Genehmigung eines Kaufvertrages für ein bebautes Grundstück. Dagegen hat der Bürger das Einspruchsrecht bei der Abteilung Aufbau des Rates des Kreises. Wird dem nicht stattgegeben, weiteres Rechtsmittel der Beschwerde bei der Abteilung Aufbau beim Rat des Bezirkes. Hilft diese der Beschwerde nicht ab und wird die Rechtsnachprüfung für dieses Genehmigungsverfahren gesetzlich für zulässig erklärt, dann kann der Bürger sich an den Ausschuß wenden, indem er weitere Beschwerde bei der Abteilung Aufbau des Rates des Bezirkes einlegt und diese über den zuständigen Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates dem Ausschuß zur Entscheidung vorlegt. Das gleiche Verfahren tritt ein bei Individualakten, die von den Städten und Gemeinden bzw. Stadtbezirken erlassen werden. Dort entscheidet dann der Ausschuß des Kreises bzw. der Stadt (Stadtkreises). Gegen die verhältnismäßig wenigen Individualakte, die von den Bezirken und zentralen staatlichen Organen erlassen werden, wurde ein solches Rechtsnachprüfungsverfahren nicht für notwendig erachtet, da die Prüfung durch zwei Instanzen unter Beachtung der politischen und fachlichen Qualifikation der dort tätigen Mitarbeiter schon eine Garantie für die Beachtung der Rechtslage gibt." 106

Zur Wahrung des Primats der Volksvertretungen sah der Entwurf Besonderheiten für Verwaltungsentscheidungen der Räte und der Volksvertretungen selbst vor: ,,5. Beschwerden gegen Individualakte der Räte können nur durch die jeweilige

Volksvertretung oder den übergeordneten Rat geändert oder aufgehoben werden. 6. Individualakte, die von der Volksvertretung erlassen wurden und gegen die Beschwerde geführt wird, können nur vom übergeordneten Rat ausgesetzt und durch die übergeordnete Volksvertretung abgeändert oder aufgehoben werden.,,107

Bei Realisierung dieser Vorschläge hätte die DDR schon Ende der fünfziger Jahre ein zwar primitives, jedoch durchgängiges System des subjek104 Kommissionsbericht S. 8 (BI. 326). 105 Vg1. hierzu die Ausführungen im vierten Abschnitt des zweiten Teils dieser Arbeit. 106 Kommissionsbericht S. 8 (BI. 326). 107 Kommissionsbericht S. 10 (BI. 328).

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tiv-öffentlichen Rechtsschutzes innerhalb der Vorgaben der marxistisch-leninistischen Staats- und Rechtswissenschaft geschaffen. Die Arbeit der Kommission zeigt, daß die ideologischen Prämissen nicht zwangsläufig eine Beschränkung des subjektiv-öffentlichen Rechtsschutzes auf das Eingabenwesen forderten. Die Vorteile des von ihr erarbeiteten Verfahrens in der Rechtspraxis nannte die Kommission abschließend selbst: "a) Zahlreiche Beschwerden könnten endgültig durch ein Gremium entschieden werden, das außerhalb des Apparates und nur der Volksvertretung gegenüber verantwortlich ist. Dadurch könnte der wiederholten Meinungsbildung, daß im Apparat immer nur durch die übergeordneten Fachorgane doch keine ,gerechte' Entscheidung getroffen werden kann, nicht zuletzt dadurch hervorgerufen, daß die zu entscheidenden auch noch andere Interessen zu vertreten haben und dadurch bei der Meinungsbildung subjektiv beeinflußt seien, entgegengewirkt werden. Der größte Teil der Bürger, die heute noch dann weitere Beschwerden bei den zentralen Organen führen, wäre überzeugter, daß die getroffene Entscheidung richtig ist. Darüber hinaus würde es solchen Mängeln entgegenwirken, die zum Teil noch darin bestehen, daß Staatsfunktionäre aufgrund einer falschen Einstellung zur Selbstkritik sehr schwer zu bewegen sind, eine einmal getroffene Entscheidung aufzuheben oder abzuändern. Auch auf die falsche Haltung einiger übergeordneter Organe, die meinen, durch eine Änderung der Entscheidung die Autorität der untergeordneten Organe zu beeinträchtigen, könnte besser erzieherisch eingewirkt werden. b) Die Entscheidung eines kollektiven Gremiums würde nicht nur eine allseitige Prüfung und gründlichere Beratung gewährleisten, sondern auch eine höhere Achtung ihrer Entscheidung bei den Beschwerdeführern hervorrufen. Nicht zuletzt würde dadurch die Rolle der Volksvertretung, von der der Ausschuß ja gewählt wird und in dem Abgeordnete tätig sind, erhöht werden. c) Nicht unbeachtlich wäre auch die politisch-moralische Wirkung auf alle Mitarbeiter des Staatsapparates schon beim Erlaß des Verwaltungsaktes, wenn sie wissen, daß eine Rechtsnachprüfung möglich ist. Das würde zu einem gründlicheren Studium unserer Rechtsnormen und zur Hebung des Rechtsbewußtseins beitragen. d) Insgesamt würde das die Autorität der örtlichen Organe der Staatsrnacht heben und mithelfen, bei den Bürgern das Vertrauen, das sie heute häufig nur den zentralen Organen gegenüber besitzen, auch diesen Organen entgegen zu bringen. Vor allem würden die zentralen Organe von der Bearbeitung vieler Beschwerden befreit und könnten sich mehr ihren anderen Aufgaben widmen. Alle Beschwerden, die vom Ausschuß entschieden wurden, brauchten nicht noch einmal bei weiteren Beschwerden an zentrale Organe überprüft werden. Notwendige Revisionen könnte unter bestimmten Bedingungen nur der Ausschuß selbst oder der übergeordnete Ausschuß vornehmen. e) Die Mitwirkung der Beteiligten am Verfahren könnte zu einer besseren Erziehung und Überzeugung der Bürger ausgenutzt werden. f) Die Unterwerfung aller Beschwerden gegen Individualakte unter ein solches

Verfahren würde den Rechtsschutz der Bürger erhöhen, besonders in den Fällen, wo es bisher kein Rechtsmittelverfahren gab.

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g) Trotzdem wir uns im klaren darüber sind, daß zahlreichen Ausnahmen von diesem Verfahren zugestimmt wird werden müssen, bedeutet es gegenüber dem heutigen Stand eine Vereinfachung und Vereinheitlichung des Rechtsmittelverfahrens. h) Die Mitwirkung des Sekretärs im Ausschuß würde es gestatten, aus den bei der Entscheidung jeweils sichtbaren Mängeln, im vollziehend-verfügenden Organ die erforderlichen Schlußfolgerungen zu ziehen und die notwendigen Maßnahmen durch den Rat einzuleiten. i) Die Beteiligung des Staatsanwaltes würde es ihm ermöglichen, in einer solchen Form aktiver als Hüter der Gesetzlichkeit aufzutreten." 108 Wie der Bericht selbst festhält, hätte die vorgeschlagene Rechtsschutzkonzeption darüber hinaus den Vorteil aufgewiesen, daß im Zuge ihrer Realisierung die ohnehin nur schleppend wahrgenommene 109 allgemeine Gesetzlichkeitsaufsicht der Staatsanwaltschaft auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts obsolet werden würde. Hierzu merkt der Bericht an: "Ein solches Verfahren erfordert die Änderung der staatsanwaltschaftlichen Tätigkeit auf dem Gebiet der allgemeinen Aufsicht. In all den Fällen, wo nach dem Enumerationsprinzip die Rechtsnachprüfung von Verwaltungsakten zulässig ist, d.h., wo eine besondere Rechtsnachprüfungsinstanz besteht, erscheint die weitere allgemeine Aufsichtstätigkeit der Staatsanwaltschaft sehr zweifelhaft. Ganz abgesehen von den Fällen, wo der Ausschuß eine Entscheidung getroffen hat und der Bürger sich dagegen bei der Staatsanwaltschaft beschwert. U.E. kann gegen solche Entscheidungen die Staatsanwaltschaft von dem ihr im Rahmen der allgemeinen Aufsicht zustehenden Einspruchsrecht keinen Gebrauch machen. Wir würden deshalb vorschlagen, den Staatsanwalt in den Ausschuß mit aufzunehmen und dort bei der Entscheidung für die Wahrung der Gesetzlichkeit zu sorgen."110 Die Überlegungen der Kommission gingen somit weit über eine bloße Reform des Vorschlags- und Beschwerderechts hinaus. Vielmehr hätten sie im Falle ihrer Realisierung dazu beigetragen, die unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten wenig überzeugende Konstruktion des auf vier Säulen ruhenden Verwaltungsrechtsschutzes durch ein einheitliches System zu ersetzen. Staatsanwaltschaft und zentrale Staatsorgane wären entlastet worden und hätten sich stärker auf ihre originären Aufgaben konzentrieren können. Das Eingabenwesen wäre auf seine Grundform zusammengeschmolzen worden und hätte als formungebundenes Kommunikationsmedium zwischen Bürger und staatlichen Institutionen im Bereich des Vorschlagswesens ("Neuererbewegung") und der allgemeinen (verhaltensbezogenen) Beschwerden dem auf Volksnähe bedachten sozialistischen Staat gute Dienste leisten können. Bei alledem wären die Grundsätze der marxistisch-leninistischen StaatsKommissionsbericht S. 11 (BI. 329). Hierzu bereits die Ausführungen im ersten Abschnitt des zweiten Teils dieser Arbeit unter Ziffer III. 2. 110 Kommissionsbericht S. 12 (BI. 330). 108

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und Rechtswissenschaft gewahrt worden. Trotzdem kam es nicht zur Verwirklichung der Vorschläge. Was im einzelnen dazu führte, daß das weitreichende Reformwerk nicht Wirklichkeit wurde, läßt sich anhand der Archivalien des Zentralkomitees nicht nachvollziehen. Ausschlaggebend dürften wohl die Argumente gewesen sein, die der mit der Prüfung des Gesetzesentwurfs betraute spätere Rechtsprofessor Wolfgang Weichelt 111 in einer Aktennotiz zum Gesetzgebungsvorhaben nannte und die weniger von ideologischen Zwängen als von gesellschaftsutopischen Wunschvorstellungen geprägt zu sein scheinen: "Betr.: Gesetz über das Eingabenrecht der Bürger Der Erlaß eines Gesetzes über das Eingabenrecht der Bürger würde bedeuten, die breite Öffentlichkeit zu mobilisieren, um diese in die Vorbereitung und Durchführung einzubeziehen. Wenn wir davon ausgehen, wie dieses Gesetz uns in unserer Weiterentwicklung hilft und welche Aufgaben wir lösen wollen, so muß man ernsthaft prüfen, ob dieses , Eingabenrecht' eine wirkliche Hilfe für unseren gegenwärtigen Kampf ist. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt im breiten Umfang eine Orientierung auf das Eingabenrecht der Bürger zu geben, wäre angesichts des jetzigen Standes unserer Entwicklung falsch, weil es durch die Initiative der Bürger überholt ist. Prinzipiell gilt es doch, die sich immer stärker entwickelnden Formen der kollektiven Arbeit, der kollektiven Beratung und der Vorschläge und Beschwerden zu fördern. Unser Ziel ist doch, unsere sozialistische Gemeinschaftsarbeit auf jede Weise zu entwickeln, die eine weit höhere Form darstellt der bewußten gesellschaftlichen Tätigkeit der Mitwirkung an den staatlichen Aufgaben als die Einzelbeschwerde oder der Einzelvorschlag. Wenn wir heute in breitem Maße auf das Vorbringen 111 Wolfgang Weichelt, Direktor des Instituts für Staat und Recht der AdW, wurde am 9.4.1929 in Chemnitz als Sohn einer Arbeiterfamilie geboren, war nach 1945 Landarbeiter und trat 1946 der SED und der FdJ bei. 1946 bis 1950 war er Mitarbeiter beim Rat der Stadt Chemnitz, studierte 1950 bis 1953 an der "Deutsehen Verwaltungsakademie" in Forst-Zinna und der DASR und schloß als DiplomStaatswissenschaftler ab. 1953 bis 1956 war er Aspirant an der Lomonossow-Universität in Moskau, promovierte zum Dr. iur. und war 1956 bis 1959 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Rechtswissenschaften an der DASR. 1959 bis 1963 und 1966 bis 1972 war er Mitarbeiter in der Abeilung Staats- und Rechtsfragen des ZK der SED und 1964 bis 1966 Direktor des Instituts für Rechtswissenschaft an der DASR. 1967 bis 1990 war er Abgeordneter der Volkskammer der DDR und Vorsitzender des Verfassungs- und Rechtsausschusses. 1972 bis 1990 war er Direktor des Instituts für Staat und Recht der Akademie der Wissenschaften. Ab 1977 war er korrespondierendes und ab 1985 ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften, ab 1978 Vorsitzender des Nationalkomitees für Politische Wissenschaften bei der AdW und ab 1979 Mitglied der Akademie für vergleichendes Recht in Paris. Im Mai 1990 wurde er invalidisiert. Werke: u.a. Verfassung der DDR-Dokumente, Kommentar (Mithrsg., 1969), Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie (Mithrsg., 1980), Der Staat im politischen System der DDR (1986). (Quelle: Gabriele Baumgartner und Dieter Hebig, Biographisches Handbuch der SBZIDDR 1945-1990).

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von Eingaben und Beschwerden dringen würden, so würde das der Entwicklung der sozialistischen Gemeinschaftsarbeit geradezu entgegenwirken. Auch im Rahmen der Nationalen Front ist man seit längerer Zeit dazu übergegangen, bestimmte Probleme im Kollektiv der Hausgemeinschaften, Wirkungsbereiche usw. zu lösen, so daß die Beschwerde an sich nicht mehr das Hervorstechendste ist. Die Annahme eines solchen Gesetzes bliebe hinter dem wirklichen Leben zurück und hilft uns nicht weiter. Selbstverständlich müssen die Beschwerden und Eingaben gut bearbeitet und ausgewertet werden. Es besteht aber nicht die Notwendigkeit, dazu ein solches Gesetz zu verabschieden. Bestimmte Fragen könnten durch eine Durchführungsbestimmung zur Verordnung vom 6.2.1953 über die ,Prüfung von Vorschlägen und Beschwerden der Werktätigen' ergänzt werden. In den staatlichen Organen, besonders dem Büro des Präsidiums des Ministerrates, der Präsidialkanzlei, dem Staatssekretär für die Anleitung der örtlichen Räte und der Zentralen Kommission für Staatliche Kontrolle, sollte man Eingaben schwerpunktmäßig vom Problem her untersuchen und zum Anlaß der Änderung der Arbeitsweise nehmen. Dabei sollten Beispiele geschaffen werden, wie die Eingaben und Beschwerden von den staatlichen Organen dazu benutzt werden, um die breite kollektive Mitarbeit der Bevölkerung zu sichern und sie noch stärker in den Kampf um die Erfüllung der Ziele des Siebenjahrplanes einzubeziehen. Auch muß dazu übergegangen werden, die Vorschläge und Beschwerden im stärkeren Maße bei der Beschlußfassung auszuwerten.,,1l2

cc) Die "Programmatische Erklärung" des Staatsratsvorsitzenden vom 4. Oktober 1960 Die SED-Führung weigerte sich somit zunächst, die aufgezeigten, systemkonformen Änderungen im Hinblick auf mehr Transparenz und Rechtssicherheit vorzunehmen, und die Reformvorschläge versandeten, ohne öffentlich geworden zu sein. Das Grundanliegen, Herstellung einer engeren Verbindung zwischen der Bevölkerung und den örtlichen Organen der Staatsrnacht und die stärkere Einbindung der Bevölkerung in die Leitung von Staat und Wirtschaft, trat dagegen propagandistisch immer stärker in den Vordergrund. So wurde mit der III. Parteikonferenz der SED Anfang 1956 eine allgemeine Demokratisierungskampagne eingeleitet. 113 Aus der 112 SAPMO BArch DY 30 IV 2/13 Nr. 96, BI. 335. Im gleichen Aktenbestand befindet sich eine Aktennotiz mit leider unleserlicher Unterschrift, welche ebenfalls darauf hindeutet, daß die SED-Führung Ende der fünfziger Jahre grundsätzlich gegenüber einer Reform des Verwaltungsrechtsschutzes aufgeschlossen war, jedoch aus im einzelnen nicht nachvollziehbaren Gründen mit der Umsetzung zögerte. In einer "Aktennotiz für Klaus" (gemeint ist vermutlich Klaus Sorgenicht, 1954 bis 1989 Abteilungsleiter für Staats- und Rechtsfragen im ZK der SED) heißt es unter dem 25. September 1959: "Es gibt bisher schon eine Vielzahl derartiger Gesetzesentwürfe. Diese Entwürfe sind vor allem auf Grund unserer Hinweise immer wieder überarbeitet worden. Zum neuen Entwurf gibt es von uns keine grundSätzlichen Bemerkungen. Wir schlagen deshalb vor, daß Genosse Plenikowski die Vorlage beim Politbüro einreicht."

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Verurteilung des (stalinistischen) "Personenkults" zog das ZK der SED seine eigenen Schlußfolgerungen und forderte, Lehren aus der "Unterschätzung der Rolle der Volksmassen" zu ziehen. Des Personenkults bezichtigt sahen sich nun all diejenigen leitenden Funktionäre von Staat und Partei, "die sich über die gewählten Organe in den Gemeinden, Kreisen und Bezirken stellen und oftmals Fragen entscheiden, die Sache dieser gewählten Organe sind". Die "Hauptfrage für die weitere Demokratisierung des Lebens in der DDR" bleibe, "daß die Volksmassen durch ihre Mitarbeit und Aktivität diesen Prozeß bestimmen und dazu beitragen, alle bürokratischen Hemmnisse zu überwinden'.! 14. Den vorläufigen Höhepunkt bildete im Jahre 1960 die "Programmatische Erklärung" Walter Ulbrichts vor der Volkskammer. 115 In der programmatischen Erklärung verknüpfte der Staatsratsvorsitzende die erfolgreiche Bewältigung der volkswirtschaftlichen Herausforderungen mit einer Qualifizierung des Rechtsschutzes der Bürger und führte hierzu aus: "Wir sind uns dessen bewußt: In der Periode des entfalteten Aufbaus des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik haben die Staatsorgane große Aufgaben als Organisatoren der gesellschaftlichen Produktion, als Organisatoren der Steigerung der Arbeitsproduktivität im Interesse des Wohlstandes des Volkes durch ständiges Ringen um Erreichung und Mitbestimmung des wissenschaftlichtechnischen Höchststandes in der Welt. Wir sind uns dessen bewußt: Der Sieg des Sozialismus kann nur erreicht werden, wenn der Staat den Schutz des sozialistischen Eigentums, die Einhaltung der sozialistischen Rechtsordnung und auch den Schutz des Vermögens und der Rechte seiner Bürger gewährleistet.,,116

Ulbricht machte allerdings gleichermaßen in der "Programmatischen Erklärung" unmißverständlich deutlich, daß bei der angestrebten Erhöhung des Rechtsschutzes in der von ihm angestrebten Form lediglich den Grundprinzipien des sozialistischen Rechts und der sozialistischen Verwaltung zu

113 Joachim Türke, Staat, Verfassung und Verwaltung in der DDR, in: Verwaltungs-Archiv 1960, S. 283-315 (300). 114 Türke, S. 300, m.w.N. 115 Hintergrund der Erklärung war die Bildung des Staatsrats, in dem sich nach dem Willen ihres Vorsitzenden fortan "die patriotische Einheit der Bevölkerung, die Einheit der staatlichen Führung und die Einheit der Bevölkerung mit der staatlichen Führung" verkörpern sollte. Da ein derartiges Gremium gewissermaßen praeter constitutionem lag, wäre eigentlich eine Verfassungsänderung erforderlich gewesen, welche indes erst 1968 erfolgte. Die "Programmatische Erklärung" kann als Grundlage mit quasi konstitutionellem Charakter für die Ulbrichtsche Reformpolitik der sechziger Jahre angesehen werden. (Vgl. "Aus der programmatischen Erklärung des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Walter Ulbricht, vor der Volkskammer am 4. Oktober 1960", in: Neue Justiz 1960, S. 665-672 [665]). 116 Ulbricht (wie vorangehende Anmerkung), S. 666.

2. Abschn.: Theoretische Grundlagen des Eingabenwesens

239

stärkerer Wirkung verholfen werden sollte und insbesondere das Dogma der Interessenidentität keineswegs zur Disposition stand: "Zwischen unserem volksdemokratischen Staat und seiner Politik und den Interessen der Bürger gibt es keinen Widerspruch. Deshalb kann jeder zum bewußten Glied der Gesellschaft werden. Er sucht die Befriedigung seiner Interessen nicht auf Kosten der anderen, sondern gemeinsam mit den anderen, durch das Ifemeinschaftliehe Zusammenwirken zum Nutzen aller und zum eigenen Nutzen." 17

Der Tenor der Programmatischen Erklärung orientierte sich daran, die bestehenden Strukturen in Verwaltung und Justiz zu perfektionieren und zu perpetuieren. Insbesondere dem Strukturprinzip des "demokratischen Zentralismus" in der Verwaltung sollte stärker zur Wirkung verholfen werden, die Kontrolle innerhalb des Staatsapparats sollte ausgebaut, die persönliche Verantwortung der Staatsfunktionäre erhöht werden: "Die staatliche Entwicklung im Hinblick auf die konsequente Anwendung des demokratischen Zentralismus, d.h. der einheitlichen, systematischen zentralen Leitung bei gleichzeitiger Entwicklung der schöpferischen Initiative und Mitarbeit der Volksrnassen, erforderte die Weiterentwicklung der Arbeitsweise der Organe des Staatsapparates und die stärkere Heranziehung der gesellschaftlichen Organisationen. Es wurde also notwendig, die Arbeit der leitenden Staatsorgane weiter zu qualifizieren und den staatlichen Organen in den Bezirken, Kreisen und Gemeinden eine größere Verantwortung zu übertragen.,,1l8

Inhaltlich neue Ansätze fanden sich in der "Programmatischen Erklärung" kaum. Statt dessen war in affirmativer Form viel von dem fortgeschrittenen gesellschaftlichen Bewußtsein in der Bevölkerung die Rede eine These welche sich aus der Praxis des Eingabenwesen jedenfalls nicht herleiten ließ. Die - gerade im Bereich des Eingabenwesens offen zutage getretenen - Mängel in der staatlichen Leitungstätigkeit wurden zwar nicht verschwiegen, jedoch eher in den Bereich individuellen Versagens gerückt. Inhaltliche Schlußfolgerungen für eine grundlegende Umgestaltung des Systems der Verwaltungskontrolle standen für den Staatsratsvorsitzenden offenbar keineswegs zur Debatte: "In den letzten Monaten hat sich sehr deutlich gezeigt, daß eine Reihe von Staats- und Wirtschaftsorganen mit den wachsenden Anforderungen nicht Schritt halten. Mangelnde Wissenschaftlichkeit in der Leitungstätigkeit, Ressortwirtschaft, fonnales Administrieren und mangelndes Vertrauen in die Kraft der Werktätigen erweisen sich in manchen Organen des Staates als ernstes Hemmnis bei der Durchführung der staatlichen und wirtschaftlichen Aufgaben. Unter unseren Bedingungen ist staatliche Leitung nicht Ausübung administrativer Kommandogewalt, sondern Führung des Menschen auf dem Weg des bewußten Kampfes für den Sieg des Sozialismus.,,119 117

118

119

Ulbricht, ebenda. Ulbricht, ebenda. Ulbricht (Anm. 115), S. 667.

240

2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

Auch ein "neues Recht der sozialistischen Demokratie" stellte Ulbricht in der programmatischen Erklärung in Aussicht. Freilich erschöpfte sich die Neuartigkeit in einer besonders apodiktischen Abgrenzung von in Westdeutschland herrschenden Rechtsauffassungen und gebräuchlichen Rechtsinstituten: "Es ist deshalb müßig, mit den Junkern und Militaristen über unser Recht zu streiten. Ihr Recht ist nicht das Recht des Volkes. Sie betrachteten es in der Vergangenheit und betrachten es heute noch in Westdeutschland als ihr ausgesprochenes ,Recht', die Menschen durch allerlei Kniffe und mit tausend juristischen nach ihrer Terminologie völlig rechtlichen - Winkelzügen von der Teilnahme an der Staatspolitik auszuschließen, jeden Einfluß der Massen auf die staatlichen Angelegenheiten zu verhindern, um so möglichst ungestört ihre volksfeindlichen Ziele durchsetzen zu können.,,120

b) Inhaltliche Veränderungen des Eingabenerlasses von 196/ Mit dem Staatsratserlaß werde "der Inhalt der vom Vorsitzenden des Staatsrates am 4. Oktober 1960 vor der Volkskammer abgegebenen Programmatischen Erklärung des Staatsrates Wirklichkeit", hieß es in der Präambel des Eingabenerlasses. Die "Programmatische Erklärung" hatte die Gesetzlichkeitsaufsicht über die Verwaltungsorgane und die Integration der Bevölkerung in den politischen Prozeß, mithin zwei Hauptfunktionen des Eingabenwesens, zu einem Aufgabenschwerpunkt der Tätigkeit des Staatsrats deklariert: "Der Staatsrat erfüllt zwischen den Tagungen der Volkskammer die grundsätzlichen Aufgaben, die sich aus den Gesetzen und Beschlüssen der Volkskammer ergeben. Das betrifft z. B. die ständige Beobachtung und Vervollkommnung der Arbeit der Staatsorgane, der Methoden der Leitung, der Durchsetzung des demokratischen Zentralismus, der Einbeziehung der Volksmassen und ihrer gesellschaftlichen Organisationen in die staatliche Tätigkeit. " 121

Dies sollte sich nunmehr auch in der Wahl der gesetzlichen Grundlage widerspiegeln. Die Wahl des Erlasses als legislativer Handlungsform für die Neuregelung des Eingabenwesens stellte schon rein äußerlich eine Aufwertung gegenüber der bisherigen provisorischen Verordnungsform dar. Nachdem der Sowjetisierungsprozeß in der DDR abgeschlossen war, brachte der Staatsrat hiermit zum Ausdruck, daß die Entscheidung zugunsten des Eingabenwesens als funktionales Äquivalent zur Verwaltungsgerichtsbarkeit endgültig sein sollte.

120 121

Vlbricht, ebenda. Vlbricht, ebenda.

2. Abschn.: Theoretische Grundlagen des Eingabenwesens

241

aa) Neuausrichtung des Eingabenrechts Da die SED-Führung nunmehr auf absehbare Zeit endgültig von der Idee der Wiedereinführung verwaltungsgerichtlicher Formen abgerückt war, verstärkte sie ihre Bemühungen, das Eingabenrecht als vollwertiges Rechtsinstitut zu präsentieren. Grundsätzlich neue Ansätze förderte sie dabei freilich nicht zutage. Stärker als zuvor wurde darauf abgehoben, daß das Eingabenrecht ein Mittel zur Verwirklichung des sozialistischen "Muttergrundrechts" der aktiven Teilnahme der Bürger an der Leitung des Staates sei: "Die Mitwirkung an der bewußten Gestaltung des gesamten wirtschaftlichen, kulturellen und vor allem staatlich-politischen Lebens unserer Republik ist das entscheidende, grundlegende Recht der Bürger (... ), ist ihr bedeutendstes Grundrecht. Der Sinn des Eingabenerlasses besteht darin, die umfassende Verwirklichung dieses Grundrechtes in einer seiner Formen gewährleisten und realisieren zu helfen. Er konkretisiert dieses Recht in einer Richtung.'d22

Mit der fortschreitenden Entwicklung des sozialistischen Aufbaus sei die "Kontrastellung", die vor allem das Verhältnis des Bürgers zum Staat im Westdeutschland kennzeichne und die es anfangs auch noch in der DDR gegeben habe, immer weiter zurückgedrängt worden. 123 Folglich müsse auch das Eingabenrecht zunehmend weniger als Waffe zur Verteidigung der "Kontrastellung" des Individuums gegen den Staat ausgebildet werden. In diesem Sinne sollte sich das Eingabenrecht von seiner anfangs dominierenden Funktion der objektiven Verwaltungskontrolle hin zu einem freisetzenden und konstruktiven Mittel der "Staatshervorbringung" entwickeln: "Auf der 1. Parteikonferenz der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands wurde hinsichtlich der Eingaben besonders auf die Kontrolle orientiert. Dies entsprach den damaligen objektiven Erfordernissen. Es ging darum, den Kampf um die Erfüllung des ersten langfristigen Planes, des Zweijahresplanes 1949/50 mit dem Kampf gegen Schieber, Spekulanten und andere Saboteure des wirtschaftlichen und politischen Neuaufbaus zu verbinden. (... ) Selbstvertrauen, Weitblick, Schöpferkraft und Aktivität der Werktätigen wuchsen mit der Erfüllung der politischen und ökonomischen Aufgaben beim Aufbau des Sozialismus. Mit der Entfaltung der sozialistischen Demokratie veränderten sich Inhalt und Umfang der Eingabetätigkeit. Die Bürger überzeugten sich davon, daß die Mehrzahl der Mitarbeiter der staatlichen Organe sich immer besser für die Verwirklichung vorwärtsführender Vorschläge, die Veränderung kritisierter Hemmnisse und die Beseitigung ungesetzlicher Maßnahmen einsetzte; der Kreis der Bürger, die sich in dieser Form an der Leitung und Tätigkeit des sozialistischen Staates beteiligten, erweiterte sich. So entstand ein Widerspruch zwischen Inhalt 122 Wolfgang Menzel, Der Erlaß des Staatsrates über die Eingaben der Bürger ein Mittel zur Verwirklichung der Programmatischen Erklärung des Vorsitzenden des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik, in: Staat und Recht 1961, S. 1857-1870 (1864). 123 Menzel, ebenda.

16 Hoeck

242

2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

und Bedeutung der Eingaben auf der einen und ihrer von der Tätigkeit der Volksvertretungen relativ isolierten Bearbeitung auf der anderen Seite. Die Eingaben wurden unzureichend für die Leitungstätigkeit insbesondere der örtlichen Volksvertretungen genutzt." Da sich die Eingabetätigkeit der Bevölkerung nicht im Selbstlauf entwikkele, sollten die staatlichen Organe die Bürger zur aktiven Wahrnehmung ihres Eingabenrechts "erziehen". Die bereits in der Beschwerdeordnung von 1953 nur schwach ausgeprägte Rechtsschutzfunktion trat nunmehr zugunsten der schöpferischen Funktion der "Staatshervorbringung" vollends in den Hintergrund: "Das Verhältnis von sozialistischem Staat und Bürger ist bestimmt durch die Organisierung der Bürger zur bewußten, aktiven Gestaltung der Gesellschaft. Hiervon wird auch das Eingabenrecht, das sich - wie bereits gezeigt - aus dem Grundrecht auf Mitwirkung herleitet, bestimmt. Deshalb ist dieses Recht auch keine dem Bürger vom Staat gewährte Vergünstigung; seine Ausübung durch die Bürger ist vielmehr selbst Verwirklichung höchsten Staatsinteresses. Wer jedoch daraus den Schluß zieht, bei uns diene das Eingabenrecht "nicht den Bedürfnissen des einzelnen Bürgers, der seine Unzufriedenheit mit staatlichen Maßnahmen kundtun will" (Anm. des Autors Menzel: so der sozialdemokratische Jurist Dieter H. Hoffrnann in seiner Inaugural-Dissertation .. Das Petitionsrecht", Frankfurt [MainJ 1959, S. 86) verschließt vor der im sozialistischen Staat grundsätzlichen Übereinstimmung der individuellen Interessen der Bürger mit den gesellschaftlichen Interessen die Augen. Er wird übrigens von der täglichen Eingabenpraxis selbst widerlegt. Es gibt keine Inaktivität staatlicher Organe, keine bürokratischen Maßnahmen, keine Ungesetzlichkeit, deren Behebung nicht gleichennaßen im Interesse des einzelnen wie der Gesellschaft liegt. Das Eingabenrecht ist Ausdruck der Verwirklichung der sozialistischen Demokratie, deren Grundlage das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln ist, aus dem die Identität von individuellen und gesellschaftlichen Interessen und das damit verbundene neue Verhältnis von Staat und Bürger erwachsen.,,124 bb) "Rechtsweggarantie" Auch im Hinblick auf die dringend erforderliche Eingrenzung der nahezu uferlosen Weite des Eingabenbegriffes blieben die Vorschläge der Reformkommission unverwirklicht. § 2 Abs. 2 des Staatsratserlasses erweiterte den Eingabenbegriffe sogar noch, indem er bestimmte, daß Vorschläge, Hinweise, Kritiken, Beschwerden und Anliegen, die in öffentlichen Versammlungen, Presse, Funk und Fernsehen vorgebracht werden, als Eingaben zu behandeln seien, sobald sie zur Kenntnis der Staatsorgane gelangten. Zumindest der Form nach trug § 1 des Erlasses indes rechtsstaatliches Gepräge. Als eine Art "Nachahmung" der Rechtsweggarantie normierte er einerseits das Recht jedes Bürgers der DDR, sich "mit Eingaben an die 124

Menzel, S. 1865.

2. Abschn.: Theoretische Grundlagen des Eingabenwesens

243

Volksvertretungen, ihre Abgeordneten sowie alle Staatsorgane, sozialistischen Betriebe und Institutionen zu wenden,,125 und stellte andererseits fest, daß ihm hieraus unter keinen Umständen ein Nachteil entstehen dürfe. 126 Freilich erhellte der Regelungskontext, daß die Schutzbestimmung an exponierter Stelle in ihrem materiellen Gehalt etwas anderes versprach als die Bestimmung des Artikels 19 Abs. 4 des Grundgesetzes, als dessen Nachbildung sie erscheint. Bereits sprachlich fiel die Besonderheit auf, daß der mit der Eingabe adressierte Leiter über diese nicht zu "entscheiden", sie "abzuweisen" oder ihr "stattzugeben" hatte, sondern sie "klären" sollte. So lautete § 5 Abs. 1 des Eingabenerlasses von 1961: ,,( I) Die Entscheidung über Eingaben erfolgt auf der Grundlage der jeweiligen Rechtsvorschriften. Dabei sind alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um den Bürgern bei der Klärung ihrer Eingaben zu helfen. Die zuständigen Leiter haben die Initiative und Bereitschaft der Bürger und der Arbeitskollektive zur Lösung der in den Eingaben enthaltenen Probleme zu fördern. (2) Die Leiter bzw. von ihnen beauftragte verantwortliche Mitarbeiter sind verpflichtet, auf Einladung von Betrieben, Genossenschaften und Einrichtungen sowie von Brigaden, von Ausschüssen der Nationalen Front der DDR, Hausgemeinschaften und anderen Kollektiven der Werktätigen an Aussprachen zu Eingaben der Bürger teilzunehmen."

Die Regelung des § 5 Abs. 1 erschien somit unbestimmt und ließ bewußt im unklaren, worauf sich der in § 1 eingeräumte Anspruch eigentlich bezog. So war zwar im ersten Satz von einer "Entscheidung" auf Grundlage der "jeweiligen Rechtsvorschriften" die Rede. Dies sprach für eine dem Rechtsbindungsdenken verpflichtete Sichtweise. Demnach wäre einer Eingabe "stattzugeben", wenn eine durch sie angegriffene Verwaltungsmaßnahme gegen die Lehre vom Vorrang bzw. Vorbehalt des Gesetzes verstieße. Im zweiten Satz wird diese klare Aussage schon wieder relativiert: Die in Aussicht gestellte "Hilfe" bei der "Klärung" der Eingaben deutete schon rein sprachlich darauf hin, daß hier kein Anspruch auf echte Konfliktentscheidung vermittelt werden sollte - klären läßt sich schließlich eher ein Mißverständnis als ein Rechtsanspruch. Ebenso schien der zweite Absatz an Stelle einer Entscheidung über individuelle Rechtsansprüche eher eine Koordinierung von Leitungsentscheidungen im Blick zu haben. Somit ergab sich, daß dem Eingabeverfasser nach § 1 bloß ein Anspruch darauf zustand, daß der zuständige Leiter die Eingabe annimmt, sich mit ihrem Inhalt auseinandersetzt und sich hierzu in irgendeiner Weise äußert. Damit wurde hinlänglich deutlich, daß die Hauptzielrichtung des Eingabenwesens § I Abs. I des Erlasses. § 1 Abs. 2 des Erlasses. Im übrigen zeigte sich auch hier die Wesensverwandtschaft des Eingabenwesens mit der überlieferten abendländischen Tradition des Petitionsrechts: Eine entsprechende Vorschrift enthielt bereits die Magna Charta Libertatum. 125

126

16*

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

nach wie vor in dessen Vergesellschaftungsfunktion gesehen wurde, während die Rechtsschutzfunktion höchstens als Nebenmotiv eine Rolle spielte. cc) Zuständigkeit Symptomatisch für die Hilflosigkeit der Bestrebungen zur Reform des Eingabenwesens war die Regelung der Zuständigkeit für die Eingabenbearbeitung. § 4 des Eingabenerlasses sah nach wie vor die persönliche Zuständigkeit des jeweiligen Leiters bzw. die seines Bevollmächtigten vor. Über eine "erforderliche Weiterleitung" einer Eingabe an das für die Entscheidung zuständige Organ war der Bürger zu informieren. t27 Damit war weder das dem Zentralkomitee aus der Durchführungskontrolle der Beschwerdeordnung bekannte Problem des "mangelnden Vertrauens der Bevölkerung in die örtlichen Organe der Staatsrnacht" behoben, noch der Überschwemmung der höchsten Staatsorgane mit Eingaben, welche nur auf lokaler Ebene zu behandeln waren, ein Ende bereitet. Statt dessen versuchte der Staatsrat, die unerwünschten Effekte zu vermeiden, indem er in der Präambel schlicht das Gegenteil der Ergebnisse der internen Eingabenanalyse feststellte und sein Wunschdenken zur Norm erhob: "Die örtlichen Staatsorgane erhalten dabei unmittelbar die Mehrzahl der Eingaben der Bürger, da sie für deren Bearbeitung verantwortlich und zuständig sind. Die zentralen Staatsorgane bearbeiten nur solche Eingaben, die grundsätzliche Bedeutung haben oder die durch die örtlichen Staatsorgane nicht geklärt werden können.,,128

dd) Verfahren der Eingabenbearbeitung § 3 des Eingabenerlasses schrieb vor, daß die Eingaben "sorgfältig" zu bearbeiten und "fristgemäß" zu beantworten seien. Die bei der Bearbeitung einzuhaltenden Fristen ergaben sich aus § 9 des Erlasses, wonach Entscheidungen über Eingaben von den zentralen Staatsorganen innerhalb von 21 Tagen, von den Staatsorganen in den Bezirken innerhalb von 15 Tagen und von den Staatsorganen in den Kreisen, Städten und Gemeinden innerhalb von 10 Tagen nach ihrem Eingang zu treffen waren. 129 Damit emanzipierte sich die DDR zwar von der auf ganz andere Verhältnisse und Dimensionen zugeschnittenen sowjetische Regelung, nach wie vor fraglich blieb indes, ob eine derart pauschale Festsetzung der möglichen Komplexität eines Ver§ 4 Abs. 2 des Erlasses. Absatz 3 der Präambel. 129 Durch die Neufassung des Eingabenerlasses vom 20.11.1969 wurden die Fristen der beiden letzten Kategorien von Staatsorganen angeglichen und einheitlich auf 15 Arbeitstage festgelegt und der Begriff "Tage" durch "Arbeitstage" ersetzt. (Vgl. § 12 des Eingabenerlasses von 1969). 127 128

2. Abschn.: Theoretische Grundlagen des Eingabenwesens

245

waltungsstreitverfahrens, welches zu ersetzen das Eingabenwesen sich anschickte, in ausreichendem Maße Rechnung trug. Im übrigen dienten die Bearbeitungsgrundsätze weniger dem Schutz individueller Verfahrenspositionen als der Frage der Auswertung für die staatliche Leitungstätigkeit. So verbriefte etwa § 5 des Erlasses Ansätze von Anhörungs- und Beteiligungsrechten für von der Eingabeentscheidung betroffene Kollektive: ,,( 1) Bei der Entscheidung über Eingaben, die allgemeine Bedeutung haben, sollten

die betreffenden Bürger sowie Abgeordnete, Vertreter von gesellschaftlichen Organisationen und Ausschüssen der Nationalen Front des demokratischen Deutschland, Mitglieder der Brigaden bzw. Hausgemeinschaften, denen der Einsender angehört oder die besonders an der Lösung dieser Fragen interessiert sind, hinzugezogen werden.

(2) Entscheidungen über Eingaben, die für sozialistische Brigaden und Gemeinschaften, volkseigene Betriebe, Produktionsgenossenschaften, Ausschüsse der Nationalen Front des demokratischen Deutschland, Hausgemeinschaften und andere Institutionen von besonderem Interesse sind, sollen in der Regel vor dem jeweiligen Kollektiv behandelt werden. (3) Die Staatsorgane sind verpflichtet, auf Einladung von Betrieben, sozialisti-

schen Brigaden (... ) u. a., Mitarbeiter zu Beratungen, Versammlungen und Aussprachen zu entsenden. Ist die Teilnahme eines Mitarbeiters des jeweiligen Staatsorgans nicht möglich, muß dies der einladenden Stelle gegenüber begründet werden."

Insbesondere wurde das Bestreben deutlich, die Volksvertretungen stärker in das Verfahren der Eingabenbearbeitung einzubinden und die Essenz aus den Eingaben bei ihren Beschlüssen stärker zu berücksichtigen. Weit gestreut fanden sich unverbindlich formulierte "Informationsrechte" "Die Ständigen Kommissionen der örtlichen Volksvertretungen sind durch den Vorsitzenden des Rates über den Gegenstand und über die Auswertung von Kritiken der Bürger an der Arbeit der Mitglieder des Rates, der Leiter der Fachabteilungen sowie anderer verantwortlicher Mitarbeiter zu informieren. In den zentralen Staatsorganen hat dies in den Kollegien bzw. Dienstbesprechungen zu erfolgen." "Die Mitglieder der Volksvertretungen haben das Recht, die an sie gerichteten Eingaben - soweit sie diese nicht selbst bearbeiten - dem Leiter des dafür verantwortlichen Staatsorgans zur Bearbeitung zu übergeben. Die Mitglieder der Volksvertretungen sind über das Ergebnis der Bearbeitung sowie über die aus diesen Eingaben gezogenen Schlußfolgerungen zu informieren. Sie können sich vorbehalten, den Bürgern die getroffene Entscheidung selbst bekanntzugeben.,,13o

sowie "Partizipationsrechte" "Die Leiter und Mitarbeiter der Staatsorgane sollen sich bei der Überprüfung von Eingaben der Bürger auf die Hilfe der Mitglieder der Volksvertretungen und anderer bewährter Werktätiger stützen." 131 130

§ 4 Abs. 2.

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

Die Vorschriften, welche die Einbindung der Volksvertretungen gewährleisten sollten, blieben somit Stückwerk. Ein schlüssiges Konzept, auf welchem Wege Einzeleingaben zusammengefaßt und zur Grundlage der politischen Willens bildung gemacht werden könnten, fand sich nicht. ee) Eingabenanalyse Die Vorschriften des Eingabenerlasses zur Eingabenanalyse unterstreichen die Priorität, welche die Signalisierungsfunktion des Eingabenwesen in den Augen der Staatsleitung genoß. Freilich hatten auch sie eher appellativen Charakter, als daß sich ihnen ein taugliches Verwaltungsverfahren entnehmen ließ, um aus der Masse der Eingaben einen politischen Handlungsauftrag zu destillieren: "Die in den Eingaben enthaltenen Vorschläge, Hinweise, Kritiken, Beschwerden und Anliegen und das Ergebnis ihrer Überprüfung sind regelmäßig zu analysieren und zur Verbesserung der eigenen Leitungstätigkeit sowie für den Erfahrungsaustausch auszuwerten. Ergeben sich daraus auch Hinweise für die Verbesserung der Arbeitsweise anderer Staatsorgane, so sind diese zu unterrichten. Bei der Vorbereitung und Ausarbeitung von Beschlüssen sind die Eingaben der Bürger zu berücksichtigen. In den Dienst- und Arbeitsbesprechungen ist ständig zum Inhalt der Eingaben und den Ergebnissen ihrer Bearbeitung Stellung zu nehmen."

Zumindest im Hinblick auf die Ziele der Eingabenanalyse wurden die Vorschriften des Erlasses durch interne Verwaltungsanweisungen konkretisiert. Die Dienstanweisung, welche die Behandlung von Eingaben in der Dienststelle des Staatsrates verbindlich regeln sollte, widmete der Analyse und Auswertung der Eingaben einen gesonderten Abschnitt und verdeutlichte den Stellenwert des Eingabenwesens als politisches "Frühwarnsystem": "Die Analyse und Auswertung der aus den Eingaben sichtbaren Probleme muß sichern, daß alle wesentlichen Fragen erfaßt und darüber schneller und von der Aussage her zuverlässiger der Partei- und Staatsführung (einschließlich der Ausschüsse der Volkskammer) zur Verfügung gestellt werden: a) Sofortinformationen zu aktuellen Fragen; b) analytische Einschätzungen und Informationen (aus Vielzahl von Einzeldaten herausgearbeitete Probleme und Tendenzen der staatlichen Führungstätigkeit und ihrer Wirksamkeit), und zwar - periodisch in Monats- und Jahresberichten, - gezielt zu bestimmten Anlässen, z. B. für Gesetzesvorhaben, zu Tagesordnungspunkten der Volkskammer, des Staatsrates und der Ausschüsse, zu bestimmten politischen Ereignissen, zu herangereiften Sachproblemen, zu 131

§ 3 Abs. 3.

2. Abschn.: Theoretische Grundlagen des Eingabenwesens

247

praktischen Ergebnissen bei der Durchführung bestimmter Beschlüsse und ähnliches. (... ),,132

Zusammenfassend läßt sich somit feststellen, daß der Eingabenerlaß von 1961 vor dem Hintergrund der durchaus ehrgeizigen Reformbestrebungen insbesondere im Hinblick auf eine Fortentwicklung des Verwaltungsrechtsschutzes enttäuschend ausfiel. Keines der offenbar gewordenen und der Staatsführung wohlvertrauten Defizite des Eingabenwesens wurde durch die Neuregelung behoben. Die wesentliche Bedeutung des Staatsratserlasses ist darin zu sehen, daß er das Eingabenwesen an die veränderten politischen Rahmenbedingungen anpaßte. Dies galt vor allem für die Durchführungskontrolle, die nunmehr dem neu gegründeten Staatsrat übertragen wurde.

132 Dienstanweisung über die weitere Anwendung und Durchführung des Erlasses des Staatsrates vom 20. November 1969 über die Bearbeitung der Eingaben der Bürger in der Dienststelle des Staatsrates, BArch, DA 5 Nr. 7314, dort Abschnitt 11 (S. 7 und 8 der Dienstanweisung).

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

Dritter Abschnitt

Zur Praxis des Eingabenwesens Die Wirkung des Eingabenerlasses von 1961 war zwiespältig. Der Staatsrat überwachte die Auswirkungen des Erlasses in der Praxis sehr genau. Die erforderliche Rückkopplung lieferten die Eingabenanalyse selbst sowie stichprobenartig durchgeführte Einsätze der Zentralen Kontrollkommission vor Ort. Im Hinblick auf die angestrebte Verhaltensänderung bei den Verwaltungsfunktionären waren die Ergebnisse desillusionierend: Die Staatsorgane nahmen die im Eingabenerlaß enthaltenen Änderungen und appellativen Aufforderungen kaum zur Kenntnis. Eine Verbesserung des Leistungsstandards in der Verwaltung blieb aus. Letztlich war dies vorhersehbar, da der Eingabenerlaß keine zusätzlichen Kontrollmechanismen schuf, sondern vorrangig auf die Einsicht der Adressaten baute. Auf der Seite der Bürger ergab sich indes eine - wie die Berichte zeigen, auch für die höchsten Staatsorgane - überaus überraschende Veränderung: Unmittelbar nach Verabschiedung des Staatsratserlasses stiegen die Eingaben an den Staatsrat sprunghaft, teilweise um ein Vielfaches an. Hierfür wurde mißtrauisch nach einer plausiblen Erklärung gesucht. In der Bewertung dieses Vorgangs blieb die Staatsführung unschlüssig und verriet hierdurch ihre Unsicherheit in bezug auf die Wirksamkeit des Eingabenwesens insbesondere für ihre politischen Zwecke. Wurde die Eingabenflut auch offiziell als Zustimmung zum politischen Kurs des neugegründeten Staatsrats gedeutet, ließ sich doch nicht verleugnen, daß gerade dadurch bestehende Mißstände auf den unteren Ebenen der Verwaltungshierarchie der DDR noch stärker kenntlich gemacht wurden. Auf örtlicher Ebene, also dort, wo nach der Präambel des Eingabenerlasses der größte Teil der Eingaben abschließend bearbeitet werden sollte, ließ sich ein Anstieg nicht verzeichnen. Damit ging die Schere zwischen dem Eingabenaufkommen bei den zentralen Staatsorganen und bei den örtlichen Organen der Staatsrnacht immer weiter auseinander. Dies stellte nicht nur die zentralen Staatsorgane vor ernsthafte logistische Probleme - schließlich konnten sie sich nach dem Eingabenerlaß nicht einfach für "unzuständig" erklären -, sondern drohte darüber hinaus die viel beschworene Interessenidentität der Bürger und der Staatsorgane bei Aufbau und Festigung der sozialistischen Gesellschaft eindrucksvoll zu widerlegen. Zur Veranschaulichung sei an dieser Stelle das für den Staatsrat aufbereitete Zahlenmaterial wiedergegeben: "Die Zahl der Bürger, die sich an den Staatsrat der Deutschen Demokratischen Republik mit Anliegen und Vorschlägen wenden, wächst z. T. von Monat zu Monat. Seit der Veröffentlichung des Erlasses über die Eingaben gingen beim Staatsrat der Deutschen Demokratischen Republik 57.021 Briefe von Werktätigen ein (... ). Während im Oktober 19605.622 Bürger sich mit Eingaben an den Staatsrat

3. Abschn.: Zur Praxis des Eingabenwesens

249

wandten, waren es im Juli 1961 11.860 Bürger. Seit dem Oktober 1960 haben sich die Eingaben auf dem Gebiet auf 450% des innerdeutschen Reiseverkehrs des Handwerks, Handels und der Versorgung auf 400% auf 225% der Volksbildung der Landwirtschaft auf 200% des Wohnungs wesens auf 150% erhöht. Während im Durchschnitt der DDR auf 100.000 Einwohner im Oktober 1960 32 und im Juli 1961 62 Eingaben an den Staatsrat kamen, ist die Zahl der Eingaben in den Bezirken Dresden, Leipzig, Halle und Karl-Marx-Stadt noch schneller gestiegen."!

Die astronomisch hohe Steigerungsquote irritierte die Staatsführung um so mehr, als der vorrangig erstrebte Effekt, die Dezentralisierung des Eingabenwesens, offensichtlich ausblieb: "Die Analyse der an den Staatsrat gerichteten Eingaben zeigt, daß über 80% dieser Eingaben Fragen betreffen, die ausschließlich von den örtlichen Staatsorganen beurteilt und entschieden werden können. Die häufigsten Eingaben betreffen z. B. Wohnungsangelegenheiten ca. 40 % Fragen des innerdeutschen Reiseverkehrs ca. 30 % Handels- und Versorgungsfragen einschI. Dienstleistungen ca. 10 % sowie Probleme der Landwirtschaft, der örtlichen Industrie und anderer örtlicher Angelegenheiten. Zu all diesen Fragen gibt es gesetzliche Bestimmungen, die ausschließlich die Verantwortlichkeit der örtlichen Staatsorgane festlegen. ,,2

Das Eingabenwesen schien sich nach Inkrafttreten des Staatsratserlasses genau entgegengesetzt zur gewünschten Zielrichtung zu entwickeln. Im Gegensatz zur Konzeption des Staatsrats drückte sich in einem Großteil der Eingaben nicht der Wunsch der Bürger zur Partizipation an der Leitung, sondern nach externer Kontrolle .aus. Folgerichtig wandten sie sich seltener an die zuständigen Fachabteilungen als an den Staatsrat oder die Zentrale Kontrollkommission: "Dabei ist auffallend, daß die Staatsorgane mit allgemeiner Zuständigkeit von den Bürgern in weit stärkerem Maße in Anspruch genommen werden als z.B. die sachlich zuständigen Fachabteilungen der übergeordneten Räte, die Ministerien und die Abteilungen der Staatlichen Plankommission. Beim Staatsrat der DDR sind die Eingaben in den letzten Monaten um ein Vielfaches gestiegen. Ähnliches ist bei der Staatlichen Kontrolle zu verzeichnen. Es gibt viele Kreiskontrollbeauftragte, bei denen die Eingaben auf das 2- bis 3-fache anwuchsen. 1 Bericht der Abteilung "Staat und Recht" des Zentralkomitees der SED an den Staatsrat vom 11.9.1961, BArch DA 5, BI. 19 (S. 8). 2 Bericht der Abteilung "Staat und Recht" des Zentralkomitees der SED an den Staatsrat vom 11.9.1961, wie vorangehende Anmerkung.

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

Im Ministerium für Landwirtschaft, Erfassung und Forstwirtschaft gingen dagegen die Eingaben von 710 im 1. Quartal 1961 auf 695 im H. Quartal zurück. Von 252 Eingaben im Mai war ein weiteres Absinken auf 235 im Juni zu verzeichnen. Beim Staatsrat sind im gleichen Monat die Eingaben aus der Landwirtschaft um 5% angestiegen. Der Staatsrat erhielt im Juni mehr als doppelt soviel Eingaben aus der Landwirtschaft wie das Ministerium. Auf dem Gebiet des Handels und der Versorgung geht beim Staatsrat im Vergleich zum Ministerium sogar ein Vielfaches an Eingaben ein. Daran ist zu erkennen, daß viel Bürger noch nicht davon überzeugt sind, daß ihre Anliegen bei den zuständigen örtlichen bzw. zentralen Organen in guten Händen sind. Es wurde auch festgestellt, daß Staatsfunktionäre völlig ungenügenden Einfluß nehmen, damit sich das Vertrauen der Bürger zu den zuständigen örtlichen Organen festigt. So hat z. B. der Bürgermeister in Berkenbrück, Kreis Luckenwalde, sich gleich hingesetzt und der LPG-Bäuerin B., anläßlich einer von der Bäuerin vorgebrachten Kritik wegen ungerechter Vergütung der Leistungen der Tierpfleger in der LPG, eine Eingabe an den Staatsrat formuliert. Dem Ausschalten der zuständigen Organe und den vorhandenen Unklarheiten über die Aufgaben des Staatsrates wird kaum entgegengetreten. Die staatlichen Organe tun zu wenig, die Eingaben so zu lenken, daß sie auf kürzestem Wege an die Organe gelangen, die entsprechend der Ordnung über die Aufgaben und die Arbeitsweise der Volksvertretungen und ihrer Organe für die Entscheidung verantwortlich sind. ,,3

Die Anlage zum "Jahresbericht über die Bearbeitung der Eingaben der Bürger in der Kanzlei des Staatsrates für das Jahr 1961 ..4 bestätigte diesen Befund. Gegenüber dem Eingabenaufkommen des Staatsrats erschien die Inanspruchnahme der Fachministerien verschwindend gering: Dienststelle Staatsrat Volkskammer Ministerrat ZKSK Ministerium der Finanzen Ministerium für Landwirtschaft, Erfassung und Aufkauf Ministerium für Handel und Versorgung Ministerium für Bauwesen Ministerium für Kultur Oberste Staatsanwaltschaft

III. Quartal Monatsschnitt Tagesschnitt 38.806 192 1.350 155 1.079

12.895 64 450 52 350

516 3 18 2 14

692 720 101 106 391

231 240 33 35 130

9 10 1 5

3 Bericht der Zentralen Kontrollkommission an Klaus Sorgenicht vom 16.8.1961, S. 3; BArch (ZK der SED, Abt. Staat und Recht), DY 30 IV 2/13/254, BI. 99. 4 BArch (Staatsrat), DA 5 Nr. 11367.

3. Abschn.: Zur Praxis des Eingabenwesens

251

Mit der herkömmlichen ideologisch wohlgefälligen Begründung der stetigen Fortentwicklung des gesellschaftlichen Bewußtseins der Bevölkerung und damit einhergehend der ständigen Verbesserung des Verhältnisses zwischen Bürger und sozialistischem Staat ließ sich der Anstieg des Eingabenaufkommens nicht mehr erklären, denn dieser war nicht stetig, sondern - für die Staatsführung beunruhigend - außerordentlich sprunghaft. Zwar wurde offiziell versucht, die Steigerung des Eingabenaufkommens mit der Verbesserung des Vertrauens verhältnisses zur Staatsführung zu begründen. Die inhaltliche Struktur der Eingaben ließ indes Zweifel an der Schlüssigkeit dieser Argumentation aufkommen. Danach war die Inanspruchnahme des Staatsrats nämlich in den meisten Fällen funktional ungerechtfertigt. Dementsprechend mußte auch Dr. Manfred Gerlach5 anläßlich des Berichts des Staatsrates über die Durchführung des Staatsratserlasses vom 27.2.1961 auf der 18. Sitzung der Volkskammer am 21.12.1965 einräumen, daß die Triebfeder der Eingabenflut weniger in einer besonderen Zuneigung zum Staatsrat, sondern vielmehr in einem mangelnden Vertrauen zur Arbeitsweise der örtlichen Staatsorgane bestand: "Angeregt durch Überprüfungen der Arbeiter-und-Bauern-Inspektion haben viele örtliche Organe im Zusammenhang mit den Berichterstattungen über die Durchsetzung des Eingabenerlasses auch eingeschätzt, welche Ursachen zu Eingaben von Bürgern ihres Territoriums an zentrale Organe führten. Der Bezirkstag Rostock arbeitete beispielsweise heraus, daß 64% aller Eingaben über zentrale bzw. übergeordnete Stellen vorher zur örtlichen Entscheidung und Bearbeitung standen, die jedoch verschleppt oder sorglos behandelt wurden. Vor dem Kreistag Wittstock schätzte der Rat des Kreises ein, daß es ,in den letzten 20 Monaten keine einzige Eingabe an den Staatsrat gab, wo die Notwendigkeit vorgelegen hat, sich damit an den Staatsrat zu wenden, wenn die Gemeinden 5 Dr. Manfred Gerlach wurde am 8. Mai 1928 in Leipzig als Sohn eines Mechanikers geboren. Nach dem Zusammenbruch schloß sich der 17jährige Angestellte der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands an und wurde Mitbegründer der Freien Deutschen Jugend in Leipzig. Während seiner Tätigkeit als Bürgermeister und Stellvertreter des Vorsitzenden des Rats der Stadt Leipzig von 1950 bis 1954 begann Gerlach ein Fernstudium und absolvierte im Jahr 1954 die Deutsche Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft "Walter Ulbricht" als Diplomjurist. 1964 promovierte er zum Dr. iur. 1954 wurde Gerlach Generalsekretär der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands und Mitglied des Nationalrates der Nationalen Front des demokratischen Deutschland, dessen Präsidium er seit 1964 angehörte. 1967 wurde er Vorsitzender seiner Partei, an deren Spitze er sich "hervorragende Verdienste um die Einbeziehung besonders der städtischen Mittelschichten in (den) sozialistischen Aufbau" erwarb, wie die offizielle Dokumentation des Staatsrats vermerkt. Gerlach wurde 1949 als Abgeordneter in die Volkskammer gewählt, in deren Jugendausschuß er von 1950 bis 1956 tätig war. 1960 wurde er Stellvertreter des Vorsitzenden des Ausschusses für Nationale Verteidigung und Stellvertreter des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR. (Quelle: Der Staatsrat der Deutschen Demokratischen Republik 1960-1970 - Dokumentation, S. 32 f.).

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

und Städte richtig gearbeitet hätten und auch der Rat des Kreises mit seinen Organen politisch richtiger und sachkundiger - gestützt auf einen größeren Kreis von Werktätigen - die Durchführung des Eingabenerlasses kontrolliert hätte. (... ) Es gibt jedoch noch eine andere Seite. Die Drohung mancher Bürger: ,Ich werde an den Staatsrat schreiben' wird mitunter als Schreckschuß aufgefaßt und dann versucht, durch bevorzugte Erledigung den unbequemen Fragesteller zur Ruhe zu bringen.,,6

Unkoordiniertes und ineffizientes Verhalten auf der Ebene der örtlichen Organe führte häufig zu einer unnötigen Vervielfachung der Eingaben und insbesondere auch zu einer Überschwemmung des Staatsrats mit Angelegenheiten von Bagatellecharakter. Wiederum war es Gerlach, der bei anderem Anlaß ein besonders abstruses Beispiel für dieses Phänomen vortrug: "Trotz der besonders im Bericht des Ministerrates enthaltenen positiven Einschätzung und ohne Entwertung der tatsächlich erzielten Fortschritte müssen wir jedoch offen aussprechen, daß noch zu oft leichtfertig, bürokratisch und administrativ über die Hinweise und Kritiken der Bürger hinweggegangen wird, daß noch häufig erst im Ergebnis der Eingaben an zentrale Stellen Veränderungen im einzelnen und im generellen erfolgen und den Bürgern das ihnen zustehende Recht gewährt wird. Oftmals betrifft das nur ,kleine' Fragen, die aber für den einzelnen Staatsbürger von großer Bedeutung sind. (... ) Eine Bürgerin, deren Obstentsafter während der Garantiefrist einen Defekt aufwies, mußte sich fast 5 Jahre um den ihr zustehenden Ersatz bemühen. 17 Briefe wurden geschrieben, in denen 12 verantwortliche Funktionäre von VEB und Vertragswerkstätten ein Tauziehen um die Verantwortung veranstalteten, das seinen Abschluß erst durch die Eingabe an den Staatsrat fand.,,7

Der Bericht der Zentralen Kontrollkommission an den Staatsrat über die Durchführung des Eingabenerlasses analysierte noch im Jahre 1961 akribisch alle in Betracht kommenden Motive für diese Entwicklung. Aus ihnen erschließt sich trotz teilweise apologetischer Formulierungen präzise, weshalb das Eingabenwesen nicht nur die fehlende Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht hinlänglich substituieren konnte, sondern auch zur Erreichung der von der Staats- und Parteiführung selbst gesetzten Ziele letztlich ungeeignet war. In dem Bericht hieß es: "Für das Ansteigen der Zahl der Eingaben beim Staatsrat gibt es viele Ursachen. Die wesentlichsten Ursachen dürften folgende sein: 1. Die Feststellung in der Programmatischen Erklärung, daß sich der Staatsrat hauptsächlich mit den Beziehungen zwischen der Bevölkerung und den staatlichen Organen beschäftigt und den Briefen und Eingaben der Bürger besondere Aufmerksamkeit widmet, sowie das bestehende Vertrauen der Bevölkerung zum Staatsrat unter seinem Vorsitzenden Walter Ulbricht, führten in den vergangenen Monaten zur Verdoppelung der Anzahl der Eingaben. BArch (Staatsrat), DA 5 Nr. 11372, S. 22 f. des Berichts. Sitzung des Staatsrates vom 27.1.1965, BArch (Staatsrat), DA 5 Nr. 11370/ 7200. 6 7

3. Abschn.: Zur Praxis des Eingabenwesens

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2. In den wachsenden Zahlen drückt sich die Entwicklung der Mitarbeit der Bevölkerung an der Leitung unseres volksdemokratischen Staates und der sozialistischen Betriebe aus. 3. Es gibt noch immer Bürger, die die Einheitlichkeit der örtlichen und der zentralen Organe der Staatsmacht nicht verstehen, einen gewissen Obrigkeitsstandpunkt haben. Sie meinen, ,oben eher zum Erfolg zu kommen als unten'. 4. Eine nicht unerhebliche Zahl der Eingaben ist Ausdruck der Tatsache, daß sich in der Übergangsperiode noch nicht alle Menschen von kapitalistischen Gewohnheiten im Denken und Handeln getrennt haben. Ihnen fehlt genügendes Verständnis für die Konsequenz, die sich aus der Atomkriegspolitik Westdeutschlands ergibt. Allein im Jahre 1961 wendeten sich fast 4.000 Bürger (33 % aller Einsender) an den Staatsrat, mit der Bitte um Unterstützung für Reisen nach Westdeutschland. Überwiegend waren ihre Anträge bereits begründet abgelehnt worden. Ein Teil dieser Eingaben war in aggressiver Weise formuliert. Andere Ereignisse zeigen, daß Bürger noch kein ehrliches Verhältnis zu unserem volksdemokratischen Staat haben. So enthalten Eingaben an den Staatsrat (und in noch größerer Zahl Eingaben an die örtlichen Organe) erpresserische Forderungen; z. B. , Wenn ich kein Auto kaufen kann, verlasse ich die DDR.' Jetzt gibt es solche Forderungen: ,Wenn ich nicht ein Auto (Fernsehapparat u. ä.) erhalte, lege ich meine gesellschaftlichen Funktionen nieder.' Andere erklärten in diesem Zusammenhang, daß sie nicht zur Wahl kommen würden. Genossenschaftsbauern versuchten ihre Austrittsabsichten dem Staatsrat zu ,begründen', um dafür Unterstützung und Zustimmung zu erhalten. Ein Teil dieser Eingaben wurde zweifellos von Gegnern der genossenschaftlichen Entwicklung geschrieben, andere sind Ausdruck der Tatsache, daß in vielen LPG Typ I die genossenschaftliche Arbeit nicht genügend entwickelt und das Leistungsprinzip noch ungenügend durchgesetzt ist. 5. Die Mehrzahl der Eingaben zu Wohnungsfragen und zur Versorgung der Bevölkerung ist in der Tatsache begründet, daß Bedarf und Aufkommen, auch bei Erfüllung des Planes, zur Zeit noch differiert. In immer stärkerem Maße wird der Bedarf an PKW und hochwertigen Gütern zum Gegenstand von Eingaben. Das uneinheitliche Verhalten vieler staatlicher Organe und Betriebe in solchen Fragen führt zu Erschwernissen in den Entscheidungen der örtlichen Organe und zu einer Flut von Eingaben an zentrale Organe des Staates. Während z. B. im Kreis Fürstenwalde jährlich 40 PKW zur Verfügung stehen, liegen von 180 Antragstellern von den verschiedenen Organen Dringlichkeitsbescheinigungen für bevorzugte Belieferung vor. 6. Eingaben an zentrale Organe des Staates werden dadurch verursacht, daß das Ministerium für Handel und Versorgung und andere Einrichtungen die Verteilung von Engpaßwaren und Materialien zum Teil auf dem Beschwerdewege organisieren. So sind die für die Reparatur von Fernsehgeräten nötigen Röhren PCL 82 und PCF 82 u. a. in den Reparaturwerkstätten kaum erhältlich. Bürgern, die sich darüber beschweren, hilft z. B. das Ministerium für Handel und Versorgung, diese Röhren aus der laufenden Produktion zu erhalten. Solche Beispiele erwecken den Eindruck, als ob bei zentralen staatlichen Organen ge-

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht heime Reserven vorhanden seien, die auf dem Wege der Beschwerde erschlossen werden können.

7. Die Zahl der Eingaben an den Staatsrat erhöht sich auch durch eine formale Arbeitsweise mancher staatlicher Organe, die die Ergebnisse der Bearbeitung der Eingaben nicht für Schlußfolgerungen zur Verbesserung der eigenen Arbeit nutzen. So werden Ursachen für weitere Eingaben und das Ansteigen der Zahl der Eingaben an den Staatsrat nicht beseitigt, sondern zusätzlich geschaffen."s

In der Sache brachte die Zentrale Kontrollkommission in dem Bericht somit zum Ausdruck, daß sie den weiteren Anstieg der Staatsratseingaben als Mißerfolg wertete. Hierfür machte die Führung von Staat und Partei jedoch keineswegs die funktionale Ungeeignetheit des Eingabenwesens oder seine dogmatische Anspruchslosigkeit verantwortlich, sondern den mangelnden gesellschaftlichen Reifegrad verschiedener Bevölkerungsgruppen. Verantwortlich waren demnach die Funktionäre der örtlichen Organe der Staatsmacht, die den Eingabenerlaß nicht gewissenhaft anwandten und nicht alle Möglichkeiten der Herstellung einer Interessenübereinstimmung ausschöpften, ebenso die Mitarbeiter der zentralen Staatsorgane, die durch eine Vorzugsbehandlung der an sie gerichteten Eingaben das unerwünschte Verhalten der Bürger auch noch belohnten und letztlich die Eingabenverfasser selbst, deren Interesse immer noch eher auf die Erlangung von individuellen Vorteilen als auf die Teilhabe an der Leitung des Staates gerichtet war.

I. Das Eingabenrecht auf der Ebene der "örtlichen Organe der Staatsmacht" und Volkseigenen Betriebe Bereits ein Vierteljahr nach dem Inkrafttreten des Eingabenerlasses zeichnete sich ab, daß der Eingabenerlaß die beabsichtigte Sensibilisierung der Staatsfunktionäre nicht herbeiführen werde. Die Zentrale Kontrollkommission (ZKK) unterrichtete das für Staats- und Rechtsfragen zuständige Zentralkomitee-Mitglied Klaus Sorgenicht9 über erste Erfahrungen mit der 8 Bericht an den Staatsrat vorn 11.9.1961, ZK der SED, Abt. Staat und Recht, BArch DA 5, BI. 22 f., S. 11 f. 9 Klaus Sorgenicht, Abteilungsleiter im ZK der SED, wurde am 24.8.1923 als Sohn eines Musikers in Wuppertal geboren, absolvierte eine kaufmännische Lehre und war kaufmännischer Angestellter. Er leistete Kriegsdienst, geriet in sowjetische Gefangenschaft, besuchte eine Antifa-Schule und war Mitglied des Nationalkomitees Freies Deutschland. 1945 kehrte er nach Deutschland zurück, trat der KPD, 1946 der SED bei und war 1945 bis 1946 Oberbürgermeister der Stadt GÜstrow. 1946 bis 1949 war er Landrat des Kreises Güstrow, 1949 bis 1951 Hauptabteilungsleiter im Ministerium des Innern des Landes Mecklenburg und 1951 bis 1952 Hauptabteilungsleiter im Ministerium des Innern der DDR. 1952 bis 1954 war er

3. Abschn.: Zur Praxis des Eingabenwesens

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Durchführung des Erlasses des Staatsrates am 7.6.1961. 10 Zur Wirkung des neuen Erlasses vermeldete der Bericht: "Trotz (... ) der vielen Beratungen, Aussprachen und Beschlüsse, die zur Erläuterung des Erlasses und zu seiner Verwirklichung dienen, haben diese bis jetzt insgesamt gesehen noch keine spürbare Wende in der Bearbeitung und Auswertung der Eingaben herbeigeführt. Selbst bei leitenden Staats- und Wirtschaftsfunktionären zeigten sich bei den Kontrollen noch erhebliche Unklarheiten. Mehrfach wurde der Erlaß als "nichts wesentlich Neues" bezeichnet.· .1 1

Der Bericht der Zentralen Kontrollkommission an den Staatsrat legte die Indifferenz der Leiter anhand zahlreicher namentlich benannter Einzelbeispiele dar: "Besonders ausgeprägt sind die Unklarheiten über die Bedeutung des Erlasses und die daraus für die Leiter erwachsenden Pflichten im Bereich der sozialistischen Wirtschaft und in den Einrichtungen des Gesundheitswesens, der Kultur und der Volksbildung. Der Hauptdirektor der VVB Textima, T., mußte vor kurzem erst noch von der falschen Auffassung abgebracht werden, daß der Erlaß ihn nichts angeht. Es gibt mehrere Leitungen von VVB, die die Meinung vertreten, daß der Erlaß eine Sache des Staatsapparates sei, zu dem sie sich selber nicht zählen. Es herrscht in vielen Köpfen der für die Leitung der Wirtschaft verantwortlichen Funktionäre keine Klarheit darüber, daß der Erlaß des Staatsrates auch für sie Gesetz ist. Solche Auffassungen und Unklarheiten haben ihre entsprechenden Auswirkungen in den Betrieben. Der Werkleiter im VEB Präzisionswerkzeugfabrik Kreis Schmälln, Bezirk Leipzig, F., äußerte gegenüber dem Beauftragten der Staatlichen Kontrolle: "Laß mich mit dem Quatsch in Ruhe, das geht nur den Staatsapparat etwas an. Wo steht denn, daß der Werksleiter für diese Dinge verantwortlich ist? Ich bin doch Wirtschaftsfunktionär. " Hauptabteilungsleiter in der Koordinierungs- und Kontrollstelle der Arbeit der Verwaltungsorgane der DDR und von 1954 bis 1989 Abteilungsleiter für Staats- und Rechtsfragen im ZK der SED. 1955 bis 1959 absolvierte er ein Fernstudium an der Deutschen Akademie für Staat und Recht, schloß als Diplom-Staatswissenschaftler ab und promovierte 1968 zum Dr. rer. pol. Von 1958 bis März 1990 war er Abgeordneter der Volkskammer, 1963 bis 1990 Mitglied des Staatsrates der DDR und ab 1967 Stellvertreter des Fraktionsvorsitzenden der SED-Fraktion. 1990 trat er in den Ruhestand (vgI. Dieter Hebig und Gabriele Baumgartner, Biographisches Handbuch der SBZ/DDR 1945-1990, Bd. II, S. 872, m.w.N.). 10 "Bericht des Vorsitzenden der Zentralen Kommission für Staatliche Kontrolle an den Leiter der Abt. Staats- und Rechtsfragen, Gen. Sorgenicht beim ZK der SED, zum Stand der Durchführung des Erlasses des Staatsrates der DDR über die Eingaben der Bürger vom 7.6.1961", BArch (ZK der SED, Abt. Staat und Recht), DY 30 IV 2/13/254, BI. 69-87. 11 Bericht der Zentralen Kontrollkommission an Klaus Sorgenicht vom 7.6.1961, S. 6; BArch (ZK der SED, Abt. Staat und Recht), DY 30 IV 2/13/254, BI. 75.

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

1. Halbjahr nur 29,3% dieser geplanten Produktion. Die negative Einstellung dieses VEB, der 1961 für TDM 140 Konsumgüter herzustellen hat, erreichte im Verhalten des Werkleiters F. zu den Vorschlägen, Hinweisen und Kritiken der Bürger ihren Höhepunkt. Der Erlaß wurde zum Anlaß genommen, ernsthafte Auseinandersetzungen herbeizuführen. ,,12

Intern ließ sich zusammenfassend die Feststellung nicht vermeiden, daß die angestrebte Verbesserung der Verwaltungsarbeit der "örtlichen Organe der Staatsmacht" nahezu flächendeckend ausblieb: "Ernste Verstöße gegen den Erlaß wurden bei den Kontrollstellen in fast allen Bezirken und Kreisen während der Zeit seiner Erörterung im Staatsapparat aufgedeckt. Während in Schulungen und Anleitungen insbesondere erreicht werden sollte, mit Hilfe des Erlasses die Beziehungen zu den Bürgern und die Arbeitsweise des Staatsapparates grundsätzlich im Sinne der Programmatischen Erklärung zu verbessern, gab es nach wie vor Vorkommnisse herzlosen und bürokratischen Verhaltens. ,,13

1. Funktionärsversagen

Der Bericht der SKK monierte, daß vor allem die Leiter ihrer Verantwortung in größerem Umfang nicht gerecht würden. Hauptursache für die noch bestehenden Mängel seien die noch in vielfaltiger Weise vorhandenen politischen Unklarheiten. Weitverbreitet sei die Erscheinung, daß Leiter die Eingabenbearbeitung als technisch-organisatorische Angelegenheit und eine Aufgabe von untergeordneter Bedeutung betrachteten, deren Erledigung Sekretärinnen und anderen Hilfskräften überlassen werden könne. Auf diese Weise erhielten Leiter oft nicht einmal einen Überblick über die in ihrem Verantwortungsbereich vorliegenden Eingaben und die sich darin widerspiegelnden Probleme: "Der Vorsitzende der Kreisplankommission in Strausberg hatte z. B. bisher noch keine Eingabe selbst bearbeitet und auch keine Kontrolle über die Bearbeitung ausgeübt. In seinem Sekretariat ist im III. Quartal 1961 noch keine Eingabe registriert. Ohne jede persönliche Einflußnahme gelangen die Posteingänge aus der Hand der Sekretärin in die einzelnen Abteilungen und Referate der Plankommission. Auch der Leiter der Abteilung örtliche Industrie beim Rat der Stadt Leipzig überließ es seiner Sekretärin, die weit über 1.000 Posteingänge in zwei Monaten zu erledigen. Nur drei von diesen 1.000 Posteingängen wurden als Eingaben bezeichnet. Die Post wird ebenfalls von der Sekretärin direkt in die Sachgebiete geleitet. Der Abteilungsleiter erhält dadurch von vielen wichtigen Hinweisen, Vorschlägen und Kritiken aus der Bevölkerung überhaupt keine Kenntnis. 12 Bericht der Zentralen Kontrollkommission an Klaus Sorgenicht vom 16.8.1961, S. 10; BArch (ZK der SED, Abt. Staat und Recht), DY 30 IV 2113/254, Bi. 106. 13 Bericht der Zentralen Kontrollkommission an Klaus Sorgenicht vom 7.6.1961, S. 7; BArch (ZK der SED, Abt. Staat und Recht), DY 30 IV 2/13/254, Bi. 76.

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Beim Rat des Bezirkes Suhl haben es der Bezirksbaudirektor und der Leiter der Abteilung örtliche Industrie fertiggebracht, die Ausarbeitung der Eingabenanalyse den Sekretärinnen zu übertragen. Der Bürgenneister der Gemeinde Wolferstedt im Kreis Sangerhausen vertrat die Meinung, daß er Wichtigeres zu tun hat, als die Eingaben der Bürger zu bearbeiten. Der Direktor und seine Mitarbeiter im Kreisbauamt Marienberg, Bezirk KarlMarx-Stadt, sehen im Erlaß in erster Linie nur eine Mehrarbeit in technisch-organisatorischer Hinsicht. Der Leiter der Abteilung Landwirtschaft, Erfassung und Forstwirtschaft beim Rat des Kreises Fürstenberg, K., erklärte, die Eingaben nur dann ordnungsgemäß bearbeiten zu können, wenn ihm eine Sachbearbeiterin zugebilligt wird. Bei den zentralen Organen ist das Abschieben der Verantwortung auf die Sachbearbeiter ebenfalls noch nicht überwunden. ,,14

Diese Feststellung stand im Widerspruch zu der Argumentation, das Selbstentscheidungsrecht der Verwaltung sei durch die dort vorhandene größere Sachnähe gerechtfertigt sowie durch die Möglichkeit, Probleme vor Ort ohne Reibungsverluste zu lösen. Das gleiche Bild ergab sich auf der Ebene der Bezirke. So stellte der Rat des Bezirks Potsdam exemplarisch fest, daß im Kreis Neuruppin im ersten Halbjahr 1963 wiederum 43 Räte der Gemeinden nicht über die Verwirklichung des Staatsratserlasses berichtete hätten. 15 Dies beweise, daß die Anstrengungen des Rates des Kreises zur Verbesserung der Arbeit mit den Eingaben noch nicht ausreichten. Unter diesen Umständen sei es kein Wunder, daß "auf Grund der mangelnden Führungstätigkeit durch den Rat des Kreises Neuruppin" in den Fachorganen und den Räten der Städte und Gemeinden die "Beschwerdeideologie" noch nicht überwunden sei. Der Bericht führte weiter aus: "Aus all dem Gesagten ergibt sich, daß der Rat des Kreises Neuruppin die Kritiken und Empfehlungen des obersten Machtorganes des Bezirkes mißachtet. Der Rat des Bezirkes legte deshalb fest, daß der Rat des Kreises Neuruppin vor dem Rat des Bezirkes darlegt, wie er künftig sichern will, daß die Beschlüsse des Bezirkstages und des Rates des Bezirkes zum Anlaß genommen werden, um die Arbeit mit den Eingaben grundlegend zu verbessern. Solch eine fonnale Behandlung von Eingaben und bürokratische Arbeitsweise zeigt sich auch noch in Fachorganen des Rates des Bezirkes.

14 Bericht der Zentralen Kontrollkommission an Klaus Sorgenicht vom 16.8. 1961, S. 6; BAreh, Bestand ZK der SED (Abt. Staat und Recht), DY 30 IV 2/13/ 254, BI. 102. 15 Bericht des Rates des Bezirkes Potsdam über den Stand der Durchführung des Erlasses des Staatsrates vom 27.2.1961 über die Eingaben der Bürger und die Bearbeitung der Staatsorgane im 1. Halbjahr 1963; Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Bestand Bezirkstag und Rat des Bezirks Potsdam, Nr. 3658, S. 2. 17 Hoeck

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

Herr G., Mitglied der Gemeindevertretung von Eichwalde und Vorsitzender des Wohnbezirksausschusses 11 der Nationalen Front, richtete eine Eingabe an den Vorsitzenden des Rates des Bezirkes, in der er einige Mängel bei der Leitung der Handelsorgane, im Besonderen bei der im HO, im Kreis Königs Wusterhausen aufzeigt, mit der Bitte, durch die Kontrollorgane des Rates des Bezirkes diese Mängel abzustellen. Die Abteilung Handel und Versorgung wurde vom Vorsitzenden mit der Bearbeitung dieser Eingabe beauftragt, sollte diese Eingabe gewissenhaft überprüfen und für die Beseitigung der festgestellten Mängel sorgen. Anstatt gemeinsam mit Herrn G. und anderen Werktätigen die Arbeit der Handeisorgane zu überprüfen, die Ergebnisse auszuwerten und Maßnahmen zur Beseitigung der Mißstände zu beraten, arbeiteten Mitarbeiter der Abteilung Handel und Versorgung eine Antwort aus, die darauf gerichtet ist, die kritischen Hinweise der Eingaben zu widerlegen und die in ihrem Ton nicht dazu angetan ist, die Bereitschaft des Bürgers zur weiteren Mitarbeit zu fördem.,,16

Auch dem selbstgesetzten Anspruch, im Rahmen des Eingabenwesens wenn schon keine Rechtssicherheit, so doch zumindest pragmatische und unbürokratische Hilfe zu vermitteln, wurden die Organe des Kreises häufig nicht gerecht. Hierzu bemerkte der Bericht: "Wie herzlos und in alter bürokratischer Manier mache Funktionäre ihre Arbeit verrichten, zeigen Auszüge aus der Antwort des Kollegen L., Kreisbaudirektor in Zossen, auf eine Eingabe über Mängel in Neubauten. ,Zu 1.: Die Risse in den Decken sind eine allgemeine Erscheinung bei Fertigteildecken. Es handelt sich um Risse, für die der Baubetrieb nicht verantwortlich gemacht werden kann. Zu 2.: Die Feststellung, daß der Fußboden nicht waagerecht sei, ist zu allgemein. Es ist durchaus nicht so, daß alle Fußböden schief sind. Zu 3.: Die PVC-Verbindungen zwischen Absperrhaken und Spülkasten sind in dieser Ausführung im Typenprojekt vorgesehen. Die Verbindung selbst ist starr. Nach den Ausführungen der VEB Kommunale Wohnungsverwaltung besagt es, daß durch Materialfehler oder Erschütterungen von außen (vorbeifahrende Lastzüge) die Rohre aus den Verbindungen springen. Das sind jedoch keine Mängel im Sinne der Regreßpflicht, zumindest sind diese bei der Übergabe nicht als Mängel erkennbar. Diese Schäden werden nach Auskunft durch die VEB Kommunale Wohnungsverwaltung durch Austausch anderer Rohre beseitigt. ' ,,17

Das Fehlen echter Verfahrensgarantien im Eingabenerlaß führte dazu, daß die Eingabenverfasser häufig auf den guten Willen des zur Selbstentscheidung befugten Staatsfunktionärs angewiesen waren. Dies konnte im Einzelfall zu durchaus willkürlichen und unangemessenen Bescheiden führen. Der Bericht illustriert dies an folgendem Beispiel: 16 Bericht des Rates des Bezirkes Potsdam, wie vorangehende Anmerkung, S. 4. 17 Bericht des Rates des Bezirks Potsdam, wie Anm. 15, S. 7.

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"Der Leiter der Wohnraumlenkung beim Rat der Stadt Wittstock, Kollege G., beantwortet die Eingabe einer Bürgerin wie folgt (Auszüge): ,Ihr Schreiben vorn 16.1.1963 ist bei uns eingegangen. Es ist wirklich eine unschöne Geste, wenn Sie meine Person angreifen, ohne daß ich gegen Ihre Person gesprochen habe. Ändert dieser Ton wirklich die angespannte Wohnraumlage in unserer Kreisstadt? Haben wir als Mitarbeiter des Staatsapparates denn da noch Lust und Liebe zur Arbeit, wenn uns solche Beleidigungen auf den Tisch serviert werden. Sie sind seit 1954 als Wohnungssuchender registriert. Ich versehe meinen Dienst seit 1962. Also eine Zeitspanne von 7 Jahren. Aber weiter im Text. Ich habe lediglich gesagt, daß es schwierig sein wird, in der nächsten Zeit eine Wohnung freizubekornrnen. Da es sich in Ihrem Schreiben um eine grobe Beeidigung handelt, erbitte ich eine Aussprache bis zum 25.1.1963. Ich werde mir danach weitere Schritte vorbehalten. ".I 8

Diese Beispiele zeigten, so der Bericht weiter, wie notwendig es sei, daß sich vor allem die Kreistage und ihre Räte "noch gründlicher mit der Eingabenbearbeitung durch ihre Fachorgane und durch die Räte der kreisangehörigen Städte und Gemeinden befassen" und daß "gerade die Vorbereitung der Wahlen" genutzt werden müßte, "um in der ganzen Leitungstätigkeit und in der Herstellung sozialistischer Beziehungen zu den Menschen einen großen Schritt vorwärtszukommen.,,19 2. Willkürliche Eingabenerfassung

Hinzu kam, daß das mit der Eingabenbearbeitung beauftragte Personal in Ermangelung eines klar konturierten Eingabebegriffs häufig selbst entschied, welche Begehren überhaupt als Eingabe zu behandeln waren: "Eine wesentliche Bedingung für die vielfach noch anzutreffende unpolitische Behandlung und Bearbeitung von Eingaben ist die noch fehlende Klarheit über den Begriff der Eingaben. Vielfach ist diese Festlegung den Sekretärinnen überlassen, ohne daß die Leiter irgendwelchen Einfluß ausüben. ,,20

Der vom Staatsratserlaß vorgegebenen Orientierung, auf eine Trennung von Beschwerden und Vorschlägen ganz zu verzichten, verweigerte die Verwaltungspraxis die Gefolgschaft: "Obwohl im Erlaß gesagt wird, daß unter Eingaben Vorschläge, Hinweise, Kritiken, Beschwerden und Anliegen zu verstehen sind, wurde jedoch wenig getan, die noch verbreitete Gewohnheit zu überwinden, nur Beschwerden als Eingaben zu betrachten.

Bericht des Rates des Bezirks Potsdarn, wie Anm. 15, S. 8. Ebenda. 20 Bericht der Zentralen Kontrollkommission an Klaus Sorge nicht vorn 16.8.1961, S. 9; BArch (ZK der SED, Abt. Staat und Recht), DY 30 IV 2/13/254, BI. 105. 18 19

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

Die im Erlaß vorgeschriebene Registrierung von mündlich oder öffentlich vorgebrachten Eingaben ist bisher bis auf Ausnahmen noch nicht gesichert und ergab umfangreiche Erörterungen. Besonders bei Bürgermeistern in den Landgemeinden stößt diese Forderung oft auf Unverständnis. Vielfach wird sie als unnötige bürokratische Belastung bezeichnet und darauf verwiesen, daß schriftliche Aufzeichnungen länger dauern als die Erledigung der Eingaben. Diese formale Auslegung des Erlasses wurde bisher nicht zum Anlaß genommen, aufklärende Hinweise zu geben. Der Sinn der Bestimmungen des Erlasses über die Registrierung und Auswertung der Eingabe, bestimmte Aufzeichnungen als Hilfsmittel zu schaffen, die zur Kontrolle, Einschätzung und Verbesserung der staatlichen Leitungstätifkeit verwendet werden können, wird dadurch vielfach noch nicht verstanden." I

3. Mangelnde Einbindung der Volksvertretungen in die Eingabenbearbeitung

Auch die stärkere Einbeziehung der Volksvertretungen, ein weiteres Hauptziel des Eingabenerlasses, wurde nahezu vollständig verfehlt. Hierzu hieß es in dem Bericht: "Das zeigt sich z.B. darin, daß vielfach Beschlüsse oder Maßnahmen zur Verwirklichung bereits vorhandener Beschlüsse festgelegt werden, ohne dabei die Hinweise, Vorschläge und Kritiken der Bürger zu beachten. Der im Erlaß enthaltenen Forderung, die Volksvertretungen über die Ergebnisse der Bearbeitung der Eingaben und zu den daraus gezogenen Schlußfolgerungen zu informieren, wird in den seltensten Fällen entsprochen. Die Durchsetzung des Erlasses blieb bisher fast ausschließlich eine Sache der Mitarbeiter des Staatsapparates. Die in Vorbereitung der Wahlen zu den örtlichen Volksvertretungen durchgeführten Rechenschaftslegungen haben auch nicht dazu geführt, für die bessere Durchführung des Erlasses die Kraft der Volksvertretungen zu nutzen. Die notwendige Einheit des Erlasses mit der Programmatischen Erklärung des Staatsrates und den Ordnungen über die Aufgaben und die Arbeitsweise der örtlichen Volksvertretungen und ihrer Organe wird in der Praxis nicht genügend wirksam. ,,22

Insofern läßt sich bereits an dieser Stelle festhalten, daß die zwei wichtigsten Orientierungen des Eingabenerlasses, die Erhöhung der Verantwortung der Leiter und die stärkere Einbeziehung der Volksvertretungen in die Eingabenbearbeitung, unerfüllt blieben.

21 Bericht der ZKK an Klaus Sorgenicht vom 7.6.1961, S. 9; BArch, Bestand ZK der SED (Abt. Staat und Recht), DY 30 IV 2/13/254, BI. 78. 22 Bericht der ZKK an Klaus Sorgenicht vom 16.8.1961, S. 5; BArch, Bestand ZK der SED (Abt. Staat und Recht), DY 30 IV 2/13/254, BI. 102.

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4. Ungenügende Verallgemeinerung positiver Erfahrungen Es wurden auch gute Erfahrungen in der Eingabenpraxis der Staats- und Wirtschaftsorganen gesammelt. Diese wurden jedoch, wie der Bericht anmerkte, "ungenügend verallgemeinert", d.h., sie blieben utopisch anmutende Einzelfälle: "Bei der Bearbeitung der Eingaben sind insbesondere in Formen und Methoden angewendet worden, die von den werden und sich sehr positiv auf die Bewußtseinsbildung die Durchsetzung der Ordnungen über die Aufgaben und lichen Volkvertretungen und ihrer Organe auswirken.

der letzten Zeit neue Bürgern sehr begrüßt der Bevölkerung und Arbeitsweise der ört-

So ist die Abteilung Finanzen beim Rat des Bezirkes in Suhl dazu übergegangen, mit Hilfe der betreffenden Räte der Kreise und Orte Zusammenkünfte zu organisieren, die sich mit Eingaben über Steuern und andere Finanzfragen an den Rat des Kreises gewandt hatten. An die Stelle bisher erteilter trockener Antwortschreiben, mit denen keine ausreichende Aufklärung über die Finanzpolitik des Staates gegeben werden kann, treten nunmehr lebhafte Aussprachen mit den Bürgern. Die Beteiligten erleben persönlich, wie sich die Mitarbeiter des Staatsapparates mit den Anliegen der Bürger auseinandersetzen, richtige Ansichten bei der Entscheidung berücksichtigen und ihnen helfen, falsche Auffassungen zu überwinden.,,23

5. Vorsätzliche Manipulationen bei der Eingabenanalyse Nach der Theorie war der zahlenmäßige Anstieg des Eingabenautkommens nur unter der Prämisse zu begrüßen, daß die Verwirklichung des Eingabenrechts der "aktiven Mitarbeit bei der Leitung des volksdemokratischen Staates" diente, wie es gleich am Beginn der Präambel des Eingabenerlasses hieß. In der Praxis wurde jedoch in den Eingaben weniger Mitarbeit angeboten, als Leistungen des Staates eingefordert. Beschwerden und Klagen überwogen die Eingaben "konstruktiven" Inhalts bei weitem. 24 Dies führte dazu, daß - ungeachtet aller offizieller Versuche, die terminologischen Grenzen zu verwischen - die Eingabe nach wie vor mit der Beschwerde assoziiert wurde. Demnach ließ eine Vielzahl von Eingaben auf mangelhafte Arbeit schließen. In der Konsequenz "schönte" mancher Leiter seine Eingabeberichte und verzerrte damit das Bild der Eingabenanalyse als politische Entscheidungsgrundlage. Der Bericht merkte hierzu an: "Die Bedeutung der Eingaben für die Verbesserung der staatlichen Leitungstätigkeit (... ) wird noch nicht überall erkannt. Das geht schon daraus hervor, daß es

23 Bericht an Sorgenicht vom 16.8.1961, wie vorangehende Anm., S. 11 (BI. 107). 24 Zur inhaltlichen Struktur der Eingaben sogleich.

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noch leitende Mitarbeiter gibt, die allein aus der Anzahl der Eingaben falsche Schlußfolgerungen ziehen. Beim Rat des Stadtbezirkes Friedrichshain in Groß-Berlin gab es bei einigen Abteilungsleitern solche Vorstellungen, daß ein schlechtes Licht auf ihre Abteilungen fallen würde, wenn sie die Gesamtzahl der Eingaben angeben würden. Beim Leiter der Abteilung Wohnungswesen führte die Auseinandersetzung über seine falsche Auffassung dazu, daß er in die Lage versetzt wurde, zu einer genauen Einschätzung zur wirklich vorhandenen Wohnungssituation im Stadtbezirk zu gelangen. ,,25

Vor diesem Hintergrund setzte sich auch auf der Ebene des Staatsrates die Erkenntnis durch, daß die Anzahl der zu verzeichnenden Eingaben nur ein unsicherer Indikator für die Qualität der Arbeitsweise eines Staatsorgans bzw. für den Grad des Vertrauens der Bevölkerung in die Verwaltung darstellte. In zunehmendem Maße kristallisierte sich auch heraus, daß mit dem künstlich aufgeblähten Rechenschafts- und Analysewesen des Guten zu viel getan worden war. Bald mußte sich auch die SED-Führung eingestehen, daß der enorme Verwaltungs aufwand in keinem Verhältnis zum Erkenntnisgewinn aus der Eingabenanalyse stand. Dies monierte auch der interne Eingabenbericht des Staatsrates für das Jahr 1962: "In der Regel ist es noch so, daß Berichte der Räte vor den Volksvertretungen als eine Formalität angesehen werden; daß sie die Probleme, die sich aus den Eingaben ergeben, in unzureichendem Maße behandeln und zu keinen oder wenig fruchtbaren Erörterungen führen. Oft wird nur eine Fülle von Einzelbeispielen dargestellt, und nicht selten enthalten sie unfruchtbare Zahlenspielereien. In vielen Kreisen unserer Republik wird anstelle aussagekräftiger, analytischer Tätigkeit zur Ergründung der Ursachen der Eingaben eine technisch-organisatorische Geschäftigkeit entwickelt. Nutzlos wird darüber gestritten, ob viel oder wenig Eingaben Ausdruck des Vertrauens der Bevölkerung zum Arbeiter-und-Bauern-Staat sind. Um mit großen Zahlen aufwarten zu können, hat sich in letzter Zeit vielerorts die Praxis eingebürgert, möglichst alles, was von Bürgern gesprochen oder geschrieben wird, als Eingabe zu registrieren (Anträge bei der HO auf hochwertige Industriegüter, Erstanträge auf Wohnungen usw.). Das wurde u.a. in dem Bericht, den der Rat des Bezirkes Magdeburg vor dem Ministerrat gab, deutlich. Darin wurden z. B. auch die Verpflichtungen zum NAW zu den Eingaben gezählt. In allen Gebieten der Republik entwickelt sich eine regelrechte Eingabenbürokratie. Umfangreiche statistische Meldungen werden verlangt. Die Eingaben werden in Vorschläge, Anliegen, Kritiken, Hinweise oder Beschwerden klassifiziert, nach echten oder unechten Beschwerden unterteilt, und es wird registriert, ob eine positive oder negative Entscheidung erfolgte, und manches andere mehr. Diese bürokratische Tendenz führt in der Praxis zu wohltönenden Berichten mit allgemeinen Feststellungen und Fakten aus allgemeiner massenpolitischer Arbeit, die in Wirk25 Bericht der ZKK an Klaus Sorgenicht vom 16.8.1961, S. 19; BArch (ZK der SED, Abt. Staat und Recht), DY 30 IV 2/13/254, BI. 115.

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lichkeit nur in indirekter Beziehung zum Eingabenerlaß stehen. Die zu leerer Geschäftigkeit führende Eingabenbürokratie bewirkt, daß an den wirklichen Problemen der Bevölkerung vorbeigegangen wird. ,,26

Diese Äußerung belegt, daß sich auch der Staatsrat entgegen allen gegenteiligen Bekundungen spätestens seit Anfang der sechziger Jahre keinen Illusionen hinsichtlich der Effektivität des Eingabenwesens mehr hingab. Dies galt nicht nur in bezug auf dessen Tauglichkeit, den systemfremden verwaltungsgerichtlichen Schutz adäquat zu substituieren, sondern ebenso hinsichtlich der scheinbar unbeirrt behaupteten Eignung des Eingabenwesens, Aufbau und Verwirklichung des Sozialismus in der DDR wirksam zu flankieren. 6. Zusammenfassung: Wirksamkeit des Eingabenrechts Die von der Führung gewollte Indifferenz des Eingabenwesens gegenüber dem Vorliegen einer individuellen Rechtsverletzung macht es schwer, eine Aussage darüber zu treffen, wie groß der Anteil der Eingaben gegen belastende Hoheitsakte am Gesamtaufkommen war und wie hoch die Erfolgsquote solcher auf dem Eingabeweg verfolgter Rechtsschutzbegehren gewesen ist. Eine durchgängige statistische Differenzierung nach Eingaben individuellen oder kollektiven Charakters bzw. egoistischen oder altruistischen Charakters wurde nicht vorgenommen. Dennoch bemühte sich die Zentrale Kontrollkommission, anhand stichprobenartiger Erhebungen eine Aussage über die Wirksamkeit des Eingabenrechts zu treffen: "Eingaben und Anliegen werden von den dafür zuständigen Organen nicht genügend beachtet. Die Zentrale Kommission für Staatliche Kontrolle hat festgestellt, daß die größte Anzahl der von ihr entgegengenommenen Eingaben der Bürger berechtigte Hinweise und Kritiken waren. Trotzdem waren ihre Eingaben von den zuständigen Staatsorganen abgewiesen worden, mitunter wurde auf die Eingaben gar nicht reagiert. So enthielten z.B. beim Bevollmächtigten der ZKK im Bezirk Cottbus von 244 Eingaben, die zuvor von den örtlichen Organen abgelehnt worden waren, 200 berechtigte Hinweise und Kritiken. Wie durch die ungenügende Beachtung der Eingaben der Bürger das Vertrauen zu den zuständigen staatlichen Organen erschüttert wird, dafür gibt das Bezirksbauamt in Suhl eines der noch zahlreich vorzufindenden Beispiele: Im Bezirksbauamt Suhl häuften sich die Eingaben. Vorwiegend waren es Beschwerden über das Nichteinhalten von Versprechungen. Der Bezirksbaudirektor zog aus dieser Kritik der Bürger lange Zeit keine Schlußfolgerungen. Im 26 Bericht über die Ergebnisse der Bearbeitung der Eingaben durch die Kanzlei des Staatsrates im Jahre 1962 unter besonderer Berücksichtigung der Festlegungen auf der 19. Tagung des Staatsrates, BArch DA 5, Nr. 11368.

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht Bezirksbauamt blieb es daher dabei, daß Mitarbeiter Eingaben, die sich gegen ihre eigene schlechte Arbeitsweise richteten, selbst erledigten. Wenn die Bürger dann mit ihrer Geduld gegenüber dem Bezirksbauamt am Ende waren und sich beim Vorsitzenden des Rates des Bezirkes beschwerten, so war bei dieser Arbeitsweise des Bezirksbauamtes, aber auch durch mangelnde Kontrolle seitens des Vorsitzenden des Rates immer noch nicht gesichert, daß die Rechte der Bürger gewahrt wurden. Welche Meinung unsere Bürger zu dieser Behandlung der Eingaben haben, brachte der LPG-Vorsitzende P. aus Breitenbach, Kreis Schmalkalden, sehr drastisch zum Ausdruck. Er bemühte sich seit 1957 - damals noch als Einzelbauer - um einen Hausneubau, weil sein altes Gehöft baufällig war. Die Entscheidung seiner Angelegenheit wurde so verschleppt, daß man ihn trotz Versprechungen 1961 immer noch vertröstete. Der LPG-Vorsitzende richtete auch an den Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Suhl einen Hilferuf, mit dem er seine Verzweiflung u. a. mit den Worten zum Ausdruck brachte: ,Meine letzte Hoffnung, Herr Vorsitzender, sind Sie.'" Selbst diese Mitteilung eines Bürgers, der seine Verbundenheit mit der Arbeiter-und-Bauern-Macht durch die Übernahme der Leitung einer LPG bekundet hat, war für die staatlichen Organe kein Anlaß, alles zu tun, das enttäuschte Vertrauen wieder herzustellen. Der LPG-Vorsitzende wurde so verbittert, daß er sich die Frage vorlegte, was er von seinen persönlichen Pflichten gegenüber dem Staat halten soll, wenn Staatsfunktionäre seine Bürgerrechte in dieser Weise verletzen. ,,27

Leider geht aus dem Bericht der ZKK nicht hervor, welche Kriterien sie ihrer Analyse der Wirksamkeit des Eingabenrechts zugrunde legte. Als "erfolgreich" wurde jedoch offenbar bereits diejenige Eingabe angesehen, mit der sich der zuständige Funktionär inhaltlich auseinandersetzte und bei deren Bearbeitung er im Rahmen der rechtlichen und wirtschaftlichen Möglichkeiten seines Amtes alles unternahm, um die Konkordanz zwischen den gesellschaftlichen Interessen und denen des Eingabeberechtigten wiederherzustellen. Auch dies illustriert der Bericht an exemplarischen Einzelbeispielen. Dabei erschien als Idealbild des Verhältnisses zwischen Bürger und sozialistischem Staat ein (vOljuristischer) Zustand, der am ehesten mit dem Begriff der "Kameradschaftlichkeit" (Begriff von Inga Markovits) zu beschreiben ist. Den negativen Gegenpol zu diesem Ideal bildete die über Jahrzehnte hinweg auf allen Ebenen der Staatshierarchie zur Brandmarkung von fehlerhaftem Verwaltungshandeln im Zusammenhang mit der Eingabenbearbeitung gebrauchte Formel des "herzlosen und bürokratischen Verhaltens". Diese Sprachregelung verdeutlicht, daß die Zielrichtung des Eingabenwesens weniger in der Herstellung "rechtmäßiger" als vielmehr einvernehmlicher, emotional "behaglicher" Zustände lag. Freilich konnte dieses Harmoniebedürfnis im 27 Bericht der Zentralen Kontrollkommission an Klaus Sorgenicht vom 16.8.1961, S. 4; BAreh, Bestand ZK der SED (Abt. Staat und Recht), DY 30 IV 21 13/254, BI. 100.

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Einzelfall, abseits der Anerkennung von Rechtsansprüchen des Bürgers gegen den Staat, zu einem rechtmäßigen Ergebnis führen, wie der Bericht an das ZK der SED an nachfolgendem Beispiel belegte: "Dem Gärtner P. in Barchfels, Kreis Bad Salzungen, wurde die Baugenehmigung für ein Gewächshaus zum Treibgemüsebau vorenthalten, dessen Fertigteile schon vor langer Zeit angeschafft waren. Der wegen Unfähigkeit inzwischen abgelöste Bürgermeister K. hatte die Baugenehmigung bisher vereitelt und dem Gärtner erklärt, er würde diese nur erhalten, wenn er einer LPG oder GPG beitritt. Die Baugenehmigung wurde erteilt. ,,28

Das Fehlen objektiver rechtlicher Grundlagen für ihre Entscheidungsfindung überforderte Staats- und Wirtschaftsfunktionäre gleichermaßen. Die Gründe für gesellschaftliche Fehlentwicklungen wurden in fehlerhaften Einzelentscheidungen gesucht: "Im VEB RAW Wittenberge hat die Nichtbeachtung gerechtfertigter persönlicher Wünsche Republikfluchten zur Folge gehabt. Im Werk arbeiteten als Facharbeiter die Zwillingsbrüder N. Bereits im dritten Lehrjahr wurden sie als Aktivisten ausgezeichnet. Sie galten als unzertrennlich. Ihr Meister, S., verweigerte ihnen eine gemeinsame Fahrt zur Frühjahrsmesse 1961. Die Fahrt wurde ihnen erst durch Eingreifen des Kaderleiters ermöglicht. Nach Rückkehr von der Messe lehnte der Meister den gemeinsamen Urlaub der Zwillingsbrüder ab, den beide als begeisterte Wassersportier zusammen mit ihren Freundinnen mit Faltbooten und Zelten verleben wollten. Kurze Zeit nach dieser Ablehnung wurden beide republikflüchtig. Die Freundinnen folgten ihnen später nach. (Obige Feststellung wurde auf Grund einer von der Sicherheitskommission geforderten Untersuchung polizeilich ermittelt. Nach einer Information des Beauftragten der Zentralen Kommission für Staatliche Kontrolle vom 2.5.1961 bilden im Kreis Perleberg die Republikfluchten einen Schwerpunkt. Im Jahre 1960 haben 1,76% der Einwohner des Kreises die DDR illegal verlassen. Im I. Quartal 1961 waren es 367 Personen, davon allein aus Wittenberge 114 Bürger.),,29

11. Das Eingabenrecht auf der Ebene des Staatsrats Da die Überflutung des Staatsrates mit Eingaben lokalen Charakters als ein den Grundideen des Eingabenwesens zuwiderlaufender Mißstand erkannt worden war, hätte es eigentlich nahegelegen, wenn sich der Staatsrat für derartige Eingaben für unzuständig erklärt und den Eingabenverfasser geradewegs an das jeweils kompetente örtliche Organ verwiesen hätte. Dies unterblieb jedoch in aller Regel. Statt dessen setzten sich die Mitglieder des 28 Bericht der Zentralen Kontrollkommission an Klaus Sorgenicht vom 7.6.1961, S. 7; BArch, Bestand ZK der SED (Abt. Staat und Recht), DY 30 IV 2/13/254, BI. 76. 29 Bericht an Sorgenicht vom 7.6.1961, wie vorangehende Anmerkung, S. 8 (BI. 77).

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Staatsrats durch ihr Handeln häufig in Widerspruch zu den offiziellen Verlautbarungen, indem sie die Eingabenverfasser durch eine auf örtlicher Ebene gar nicht darstellbare Vorzugsbehandlung "belohnten". 1. Vorzugsbehandlung der Eingaben an zentrale Staatsorgane

Somit bestand im Einzelfall durchaus die konkrete Möglichkeit, das Interesse eines prominenten SED-Funktionärs auf ein individuelles Problem zu lenken und insofern für Abhilfe zu sorgen. Dieses Phänomen stellte ein strukturelles Problem des Eingabenwesens dar, so lange die SED-Spitze bestrebt war, "alle Fäden in der Hand zu behalten". So ist ein besonders prägnantes Beispiel aus dem Jahr 1974 dokumentiert. 3o In einem auf den 25.1.1974 datierten Schreiben wandte sich ein Bergarbeiter in einer Wohnungsangelegenheit an den Staatsratsvorsitzenden Willi Stoph: "Werter Herr Vorsitzender! Vor 3 Jahren hatte ich mich diesbezüglich schon einmal an den Vorsitzenden des Staatsrates gewandt, doch der Rat der Gemeinde Wansleben hat diese Angelegenheit bis heute nicht ernst genommen. Wir bewohnen seit ca. 15 Jahren, heute mit 6 Kindern, eine Wohnung in einer fast baufälligen Baracke, 25 m daneben eine Ochsenhalde, so daß die Ratten hier heimisch sind. An einer Straße, welche schon seit 8 Jahren für den Verkehr gesperrt ist und 300 m vom Ort entfernt. Von "Wohnen" kann hier schon lange nicht mehr gesprochen werden, denn das Dach ist undicht vom Sturm, es regnet durch die Decke. Toiletten sind unbrauchbar, und Wasser gibt es nur ab und zu. Nur einigen Mietern ist es zu danken, daß diese Baracke überhaupt noch bewohnt werden kann. All diese Mißstände sind dem Rat der Gemeinde seit Jahren bekannt. Wir kommen uns vor wie Ausgestoßene. Unsere Wohnraumverhältnisse sind so schlecht, daß uns noch nicht einmal der Schlaf garantiert ist. Mein ältester Sohn und ich arbeiten im Bergbau, ein anderer Sohn bei der Reichsbahn. 4 Kinder gehen noch zur Schule. Wir würden uns gerne selbst helfen, aber wie? Hier in Wansleben hat man für uns kein Verständnis, sonst wäre in 15 Jahren schon geholfen worden. Oft haben wir uns schon gefragt, ob wir überhaupt noch gebraucht werden. Hier in Wansleben sind wir auf jeden Fall vergessen. Bitte machen sie unseren Gemeindevertretern klar, daß Gesetze und Verordnungen auch hier Gültigkeit haben. Bitte haben sie für meinen Wunsch nach einer anständigen Wohnung Verständnis."

Auf dieses Schreiben hin wurde in Stophs Auftrag eine örtliche Überprüfung vorgenommen, die zu dem Ergebnis kam, daß die Feststellungen der Arbeiterfarnilie vollkommen zutreffend waren und daß es sich bei dem Mißstand keineswegs um ein Einzelproblem handelte. 31 So wurde festge30 Information über eingeleitete Maßnahmen betr. Barackenwohnungen im Kreis Eisleben, BArch (Staatsrat) DA 5 Nr. 9013-2102.

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stellt, daß im gesamten Kreisgebiet Eisleben zum Untersuchungszeitpunkt noch insgesamt 45 Baracken existierten, die von 105 Familien, darunter 13 kinderreichen Familien, bewohnt wurden und von denen 18 Baracken als zu Wohnzwecken nicht mehr geeignet angesehen wurden?2 Dies wurde als um so gravierender angesehen, als der Vorsitzende des Ministerrates bereits am 26.1.1970 eine Weisung an die Vorsitzenden der Räte der Bezirke gegeben hatte, etappenweise bis 1973 die nicht mehr zu Wohnzwecken geeigneten Baracken zu räumen. Im vorliegenden Fall war der Weisung nicht nachgekommen worden, da einerseits der Rechtsträger, ein VEB, sich nicht zur größeren Reparaturmaßnahmen in der Lage sah, und andererseits die Gemeinden zunächst keinen anderen Wohnraum zur Verfügung stellen konnten. Das persönliche Einschreiten des mit der Eingabe adressierten Stoph beschleunigte die Durchführung, so daß der Vorsitzende des Rates des Bezirkes Halle dem Staatsratsvorsitzenden unter dem 24. Juni 1974 folgende Mitteilung machte: "Werter Genosse Willi Stoph, die von Dir übermittelten Materialien, einschließlich der Eingabe des Kollegen W., über die Barackenwohnungen im Kreis Eisleben wurden von unseren verantwortlichen Genossen zum Anlaß genommen, um Maßnahmen zur Klärung dieses Problems einzuleiten. Danach stellte der Rat des Bezirkes Halle zunächst 15 Neubauwohnungen in Halle-Neustadt zur Verfügung, die sofort von den Bürgern bezogen werden können, die noch in Barackenwohnungen leben. Zugleich werden Maßnahmen eingeleitet, zusätzlich mit Hilfe des BraunkohlenKombinates ,Gustav Sobottka' leerstehende Gebäude noch in diesem Jahr auszubauen und bis zu drei Wohnungen zu errichten. Weiterhin wurden Möglichkeiten erschlossen, die sich aus dem Umzug von Farnilien aus unterbelegten Wohnungen für die Beseitigung der Barackenprobleme ergeben. Wir schätzen ein, daß es noch in diesem Jahr möglich sein dürfte, für etwa 45 Familien aus Barackenwohnungen Verbesserungen ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen zu erzielen. In diesem Zusammenhang wird auch der Familie W. in Wansleben geholfen. Für die restlichen 22 Familien des Kreises Eisleben, die in Baracken wohnen, ist veraniaßt worden, daß der erforderliche Wohnraum im 1. Halbjahr 1975 bereitgestellt wird. Weiter haben wir festgelegt, daß die Werterhaltungsmaßnahmen an den Baracken, in denen im bevorstehenden Winter noch Familien wohnen müssen, sofort verstärkt werden."

Dieses Beispiel demonstriert, daß es - allen Beteuerungen der Staatsführung zum Trotz und ungeachtet der legislativen Bemühungen, das Gros der Eingaben im Zeichen der "Stärkung der Autorität der örtlichen Organe der Staatsrnacht" bei diesen zu konzentrieren - durchaus erfolgreich sein 31 Informationen über Barackenprobleme in der Gemeinde Wansleben, Kreis Eisleben, Bezirk Halle, vom 14. März 1974, BArch (Staatsrat), DA 5 Nr. 9013-1042. 32 Informationen über Barackenprobleme ... , ebenda.

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konnte, sich an profilierte Einzelpersönlichkeiten insbesondere des Staatsrates zu wenden?3 Falls die Eingabe inhaltlich auf eine fehlerhafte Umsetzung von Beschlüssen der Staatsleitung hindeutete und im Ton verbindlich und konstruktiv formuliert war, konnte der Eingeber mit einer fördernden Einflußnahme der Parteioberen rechnen. Anders in dem Fall, daß die Forderung ultimativ formuliert oder gar mit Drohungen verknüpft wurde. Beispiele dieser Art finden sich überraschend häufig. Sie geben zum Teil ein erschütterndes Zeugnis von der Zwangslage, in der sich die Eingeber befanden. So wurden dem damaligen Staatsratsvorsitzende Willi Stoph beispielsweise folgende Eingaben über Wohnungsprobleme verbunden mit Forderungen nach Umsiedlung in die BRD in Auszügen zugeleitet: Eingabe C 26645 vom 8.8.1974: "Wir wohnen mit 6 Personen in 1112 Zimmer und Küche. Diese Wohnung ist baupolizeilich gesperrt. Sie haben uns im 11. Quartal eine Wohnung versprochen, haben bis jetzt noch keine andere Wohnung. Haben wir bis 15.8. keine andere Wohnung, könnt Ihr uns die Ausreise nach dem Ausland fertig machen oder wir schikken Bilder ins Ausland, wie wir als DDR-Bürger wohnen. Wir leben nicht wie Menschen, sondern wie Tiere." Eingabe C 23733 vom 12.7.1974: "Unter diesen Umständen können wir beim besten Willen nicht mehr länger leben. Sollte unser Wohnungsproblem innerhalb von 4 Wochen nicht gelöst sein, sehe ich mich gezwungen, eine Ausreise ins kapitalistische Ausland vorzunehmen. Wir sind dann nicht mehr gewillt, im sozialistischen Staate zu leben. Man hat uns zu deutlich spüren lassen, daß die sozialistische Politik in diesem Staate nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt." Eingabe C 82457 vom 13.8.1974: "Sollte ich auch von Ihnen keine richtige Nachricht erhalten bis zum 23.7.74, so bin ich ab sofort notgedrungenerweise gezwungen, meine Koffer zu packen und 33 Der personale Bezug scheint in der Tat von besonderer Bedeutung gewesen zu sein. Der trotz aller Bemühungen nicht nachlassenden Fülle der Eingaben an den Staatsrat und ihren Vorsitzenden steht die im Verhältnis ausgesprochen geringe Inanspruchnahme anderer hoher (nach der Verfassung eigentlich sogar höherer) Staatsorgane entgegen. So läßt sich einem Bericht der Volkskammer vom 8.11.1974 entnehmen, daß in der Zeit vom 1.1.1974 bis 20.10.1974 an Volkskammer und Staatsrat zusammengenommen 38.696 Eingaben gerichtet wurden. Davon entfielen auf den Staatsrat und seinen Vorsitzenden 37.865 Eingaben (= 97,9%), wohingegen an die Volkskammer, ihren Präsidenten und ihre Ausschüsse insgesamt lediglich 831 Eingaben (= 2,1 %) gerichtet wurden. Ihrem Inhalt nach betrafen die Eingaben an die Volkskammer im übrigen schwerpunktmäßig die gleichen Probleme wie diejenigen an den Staatsrat: 48% zu Wohnungsfragen (einschließlich Reparatur und Werterhaltung an Wohnraum, 15% zu Problemen des Reise- und Besucherverkehrs, 13% zu Fragen des sozialpolitischen Programms, 12 % auf Probleme aus Bereichen der Industrie, des Bau- und Verkehrswesens, der Land- und Forstwirtschaft und der Versorgung der Bevölkerung sowie 11 % auf Probleme der Rechtspflege und innere Angelegenheiten.

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an die Staatsgrenze zwecks Ausreise nach Westdeutschland mich zu begeben! Entweder mir gelingt der Übertritt oder ich werde von unseren Staatlichen Organen umgelegt! Dann trägt unser Staat und unsere unterstützenden Dienststellen den Mord an einer Arbeiterfamilie! !!"

Über die weitere Behandlung der Eingaben enthält der Bericht lediglich die Feststellung, daß die Eingaben in der Regel den Vorsitzenden der Räte der Kreise bzw. der Räte der Städte zur Bearbeitung übergeben wurden. Aus den Informationen örtlicher Räte hierzu sei zu entnehmen, daß in den meisten Fällen ein "politisches Gespräch" mit den Bürgern - oft unter Hinzuziehung von Vertretern der Betriebe - geführt worden sei. Als Ergebnis dieser Unterredungen habe sich herausgestellt, daß die Übersiedlungsabsicht aus Verärgerung über das ungeklärte Wohnungsproblem geäußert wurde und als Druckmittel gedacht war. In einzelnen Fällen jedoch - besonders, wenn aufgrund der örtlichen Wohnraumsituation eine kurzfristige Perspektive zur Lösung des Problems nicht aufgezeigt werden konnte - beharrten die Bürger zum Teil mit recht aggressivem Argumenten auf ihren Übersiedlungsforderungen und brachten dies auch in erneuten Eingaben an den Staatsrat zum Ausdruck. In allen Fällen wurden auch die Sicherheitsorgane informiert. 2. Staatspolitische Funktionen des Eingabenwesens Weshalb der Staatsrat dieses Kardinalproblem des Eingabenwesens in den oben beschriebenen Fällen nicht schlichtweg durch Erklärung der eigenen Unzuständigkeit löste, wird deutlich, wenn man sich die über den jeweiligen Einzelfall hinausweisenden politischen Funktionen des Eingabenwesens vor Augen führt. Es ist dies vor allem die bereits angesprochene Signalisierungsfunktion, die es mit dem überlieferten Petitionsrecht gemein hat und dem in der überwiegend "gleichgeschalteten" Öffentlichkeit des staatssozialistischen Systems ein besonderer Stellenwert zukam. Diese "seismographische" Wirkung des Eingabenwesens ließ sich in zweierlei Richtung nutzen: einerseits, um abschätzen zu können, welche Reaktionen geplante politische Maßnahmen (wie z.B. Gesetzgebungsvorhaben) bei den Bürgern der DDR auslösen werden - andererseits jedoch auch retrospektiv, indem zustimmende Eingaben zur Legitimation politischer Maßnahmen verwertet werden konnten. Die Erfahrungen bei der Durchführung des Eingabenerlasses von 1961 stellt ein im Archivbestand der Abteilung Staat und Rechtdes Zentralkomitees der SED befindlicher "Bericht über die bisherigen Erfahrungen bei der Durchführung des Erlasses über die Eingaben der Bürger und die Bearbeitung durch die Staatsorgane an die Kanzlei des Staatsrats" dar, der das Datum des 11.9.1961 trägt, also ein halbes Jahr nach Inkrafttreten des Eingabenerlasses verfasst wurde. Über die Feststellung der tatsächlichen Wirkungsweise des Erlasses hinaus gibt der interne Bericht Hinweise

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auf die spezifische Art und Weise, in welcher der Staatsrat die durch das Eingabenwesen vennittelten gesellschaftlichen Einschätzungen wahrnahm. Auffällig ist in diesem Zusammenhang vor allem, daß der keineswegs zur Veröffentlichung bestimmte Bericht den gleichen teils polemischen, teils euphemistisch werbenden Ton anschlug, in dem auch offizielle Verlautbarungen verfaßt waren. Negative Befunde wurden offensichtlich abgeschwächt oder "schöngeredet", was die Frage aufwirft, ob der Staatsrat im Regelfall überhaupt willens und in der Lage war, auch unerwünschte Signale im Sinne des eigenen Machterhalts sinnvoll zu nutzen. a) Erziehungsfunktion Der Bericht würdigte den Eingabenerlaß als "wirksamen Hebel" zur Verwirklichung der Grundsätze der Programmatischen Erklärung des Staatsrats. In breiten Kreisen der Bevölkerung sei er auf breite Zustimmung getroffen. 34 Als besonders positiv wurden solche Zuschriften gewertet, welche die offizielle Linie von Staats- und Parteiführung stützten und bestätigten und deren Verfasser am besten auch noch gleich selbst darlegten, mit welchen konkreten Schritten sie freiwillig die Verwirklichung der Vorhaben der Staatsführung fördern wollten. So hoben die Verfasser hervor, daß im Berichtszeitraum mehr als ein Drittel der Briefe der Bürger an den Vorsitzenden und die Mitglieder des Staatsrates "Stellungnahmen zur Friedenspolitik unseres Arbeiter-und-Bauern-Staates" enthalten hätten und von der Bereitschaft der Einsender zeugten, "durch Taten in der Produktion zur Bändigung des westdeutschen Militarismus beizutragen,,35. Wo Eingaben noch nicht von Konfonnität zeugten, wurden Schritte unternommen, um die Eingeber auf den Kurs der Parteiführung zu bringen. Hierzu hieß es in dem Bericht: ,,vielen Bürgern, die noch nicht alle Probleme und auch Schwierigkeiten verstanden, die in der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus vorhanden sind, denen es nicht leicht fiel, sich im Prozeß der gemeinsamen Arbeit und des sozialistischen Lemens und Lebens richtig zu verhalten, wurde geholfen, sich in das Kollektiv des werktätigen Volkes einzureihen. Anderen Bürgern, die noch nicht vollständig das kapitalistische Denken und Handeln überwunden haben, die unbegründete, den Interessen der Gesellschaft entgegenstehende Forderungen aufstellten, wurde der Standpunkt des werktätigen Volkes, daß ehrliche Arbeit für den Frieden und Sozialismus Grundlage der Erfüllung 34 Bericht über die bisherigen Erfahrungen bei der Durchführung des Erlasses über die Eingaben der Bürger und die Bearbeitung durch die Staatsorgane an die Kanzlei des Staatsrats vom 11.9.1961, BArch (Staatsrat) DA 5 Nr. 11367, BI. 12 (S. 3 des Berichts). 35 Bericht an den Staatsrat vom 11.9.1961 (wie vorangehende Anmerkung), BI. 12

(S. 3).

3. Abschn.: Zur Praxis des Eingabenwesens

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der Wünsche ist, näher gebracht. Das half nicht wenigen von ihnen, ihren Standpunkt zu korrigieren.,,36

Eingabenprobleme von grundsätzlicher Bedeutung wurden in der Weise behandelt, daß ihre Verfasser einer ideologischen Aufklärung zugeführt wurden, die dem Zweck dienen sollte, daß sie die Unangemessenheit ihrer Forderung einsahen. Gaben die Eingeber nach, so wurde dies als Erfolg verbucht und das Problem zunächst einmal als gelöst angesehen. Dies legt die Vermutung nahe, daß in den meisten Fällen eher Furcht vor Repressalien oder Einsicht in die Erfolglosigkeit des Vorgehens die Bürger von einem weiteren Verfechten ihres Vorhabens abbrachten. Aus der Sicht des Bürgers gaukelte es eine Art Basisdemokratie vor, hielt indes den mit ihm verbundenen Erwartungen nicht stand, sofern politische Grundsatzfragen tangiert waren. Die Führung von Staat und Partei nahm die Signale zwar auf, konnte oder wollte ihnen jedoch nur unzureichend entsprechen. Die erzieherische Attitüde gegenüber den Verfassern kritischer Eingaben führte zu einer nur formalen Befriedung, welche wiederum die Staatsleitung in falscher Sicherheit wog. Dies wird insbesondere daran deutlich, daß die internen Beschlüsse und Korrespondenzen zu Eingabenproblemen, wie auch die jeweils als vertrauliche Beschlußsache eingestuften Eingabenberichte selbst, weitgehend keine wesentlich andere Sprache sprachen, als es öffentliche Stellungnahmen wissenschaftlicher, journalistischer oder rechtspropagandistischer Art taten. Belege für diese Grundtendenz in der Auseinandersetzung mit Eingabenproblemen finden sich in der gesamten Bestehenszeit der DDR. Exemplarisch hierfür steht die Behandlung einer Eingabe aus der Endphase der DDR. Am 29.9.1986 richteten 35 Werktätige des VEB Maschinenfabrik Großschönau, Kreis Zittau, eine Eingabe an den Staatsrat der DDR, welche in ihrem Fortgang einen als "Vertrauliche Verschlußsache" eingestuften Beschluß des Politbüro des ZK der SED sowie einen gleichlautenden Beschluß des Ministerrats auslöste?7 Gegenstand der Eingabe des Arbeiterkollektivs an den Staatsrat war die Forderung nach einer "Lohnerhöhung ohne Veränderung der Norm". Der Staatsrat gab diese Eingabe zunächst zur Prüfung an das Ministerium für Werkzeug- und Verarbeitungsmaschinenbau, die Kreisleitung der SED Zittau, den Kreisvorstand des FDGB sowie an andere territoriale Organe weiter. Diese befanden, daß im VEB Maschinenfabrik Großschönau keine lohnpolitischen Versäumnisse vorlagen. Eine am 11.11.1986 mit den Unterzeichnern der Eingabe durchgeführte Versammlung ergab, daß sie auf ihrem Standpunkt beharrten, "abweichend vom LeiBericht an den Staatsrat, ebenda. Beschluß des Politbüros des ZK der SED vom 6. Januar 1987 (Anlage zum Beschluß des Ministerrats Nr. 1912/87 vom 15. Januar 1987) BArch (Präsidium des Ministerrats) DC 20 1/3 Nr. 2424, BI. 199-240. 36

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stungsprinzip Lohnerhöhungen als Äquivalent für das sich ändernde Preisgefüge bei Konsumgütern" durchzusetzen. Gleichzeitig wiesen sie auf territoriale Fragen der Versorgung, der Wohnungs wirtschaft, des Fernsehempfangs und andere sie bewegende Probleme hin. Trotz Bemühungen der Funktionäre konnte keine Klärung herbeigeführt werden. 38 Der auf diesem Hintergrund von der Führungsspitze von Staat und Partei betriebene Aufwand erscheint - berücksichtigt man, daß es sich um eine Einzeleingabe handelte - geradezu gigantisch: Zunächst wurde "zur Untersuchung der Probleme, die im VEB Maschinenfabrik Großschönau zur Eingabe von 35 Werktätigen aus drei Abteilungen führten, und zur Einleitung erforderlicher Maßnahmen zur Veränderung der Lage im Betrieb,,39 vom 10. bis 12.12.1986 eine Arbeitsgruppe des Zentralkomitees eingesetzt. Dieser Arbeitsgruppe gehörten Mitarbeiter der Abteilungen des Zentralkomitees für Maschinenbau und Metallurgie, Parteiorgane, Gewerkschaften und Sozialpolitik sowie Handel, Versorgung und Außenhandel an. 40 Die Mitglieder dieser Arbeitsgruppe bereiteten unter Einbeziehung verantwortlicher Funktionäre der Bezirksleitung Dresden der SED, der Mitglieder des Sekretariats der Kreisleitung Zittau und der staatlichen Leiter des Betriebes die persönliche Aussprache mit den 35 Werktätigen vor. Diese Unterredungen führten zu dem Ergebnis, daß alle anwesenden Werktätigen erklärten, "daß sie von ihrer Forderung, mehr Lohn ohne höhere Eigenleistungen, Abstand nehmen und damit die Eingabe an den Staatsrat als abgeschlossen betrachten.,,41 Diese "Einsicht" wurde dem Bericht zufolge allein mit einer Mischung aus politischer Information und ideologischer Schulung durch die Funktionäre erzielt. Der Bericht stellte den "Erziehungsprozeß" wie folgt dar: "In der Aussprache wurden den Werktätigen ausgehend von der erfolgreichen Verwirklichung der Beschlüsse des IX. Parteitages der SED und der Hauptaufgaben in ihrer Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik die Zusammenhänge zur Anwendung einer leistungsorientierten Lohnpolitik erläutert. Anhand konkreter Fakten wurden die Ergebnisse der schrittweisen Verbesserung der materiellen und kulturellen Lebensbedingungen der Werktätigen in der DDR sowie bei den Unterzeichnern der Eingabe überzeugend nachgewiesen und ihr Verständnis für die konsequente Fortsetzung dieser auf das Wohl des Volkes gerichteten Politik geweckt und vertieft. (Von den 35 Werktätigen sind 23 Eigentümer von PKW, und 8 Kollegen haben ein Grundstück bzw. ein Eigenheim.)

38 Information über die Bearbeitung der Eingabe von 35 Werktätigen des VEB Maschinenfabrik Großschönau, Kreis Zittau, an den Staatsrat der DDR, BArch (Präsidium des Ministerrats) DC 20 1/3 Nr. 2420, Bl. 224. 39 Information ... , ebenda. 40 Information ... , ebenda. 41 BArch (Präsidium des Ministerrats) DC 201/3 Nr. 2420, wie Anm. 37, Bl. 225.

3. Abschn.: Zur Praxis des Eingabenwesens

273

Während der offenen Aussprache erklärten die Werktätigen, daß mit ihnen bisher nicht so gründlich über die sie bewegenden Fragen gesprochen wurde. Sie sind gewillt, ihren eigenen Beitrag durch gute Arbeit zu erhöhen und die Planaufgaben zu erfüllen. Sie erwarten, daß dazu von den staatlichen Leitern die erforderlichen materiell-technischen Voraussetzungen im Betrieb geschaffen und höhere Leistungen wirksamer stimuliert werden."

Nachdem die Arbeiter somit auf eine konsensuale Haltung eingeschworen worden waren, durchleuchtete die vom Staatsrat eingesetzte Untersuchungskommission nahezu alle wirtschaftlichen und politischen Gegebenheiten im Bereich des VEB, welche als potentielle Gründe für die Verfassung der Eingabe in Betracht kamen. Zunächst war der Volkseigene Betrieb selbst Gegenstand eingehender Untersuchungen zur Feststellung von Mißständen, auf welche die Eingabe möglicherweise symptomatisch hinwies. Produktivitäts- und Leistungsentwicklung, Planerfüllung und Betriebsabläufe wurden einer eingehenden Prüfung unterzogen, die ergaben, daß "das Niveau von Technologie und Organisation der Produktion (... ) in den wesentlichen Fertigungsabschniuen dem Stand der 50er und 60er Jahre (entspreche) und auch in den 12 Jahren seit Überführung in Volkseigentum (... ) kaum entwickelt" wurde. 42 Die Leitungstätigkeit des Betriebsdirektors sei ungenügend auf eine Intensivierung der Produktion gerichtet. Die Anzahl und Qualifikation der Konstrukteure und Technologen reichten nicht aus und trügen dazu bei, daß "bei vielen Werktätigen und auch bei einigen Leitern des Betriebes Zweifel an der Realisierbarkeit der Wirtschafts strategie der Partei und der Leitungsfahigkeit der Volkswirtschaft" entstanden seien. 43 Als noch schwerwiegender als die wirtschaftlichen Versäumnisse wurden indes die mangelhafte agitatorische Arbeit im VEB gebrandmarkt: "Die Aussprachen mit den Genossen der Grundorganisation, den staatlichen Leitern und den Mitgliedern der Betriebsgewerkschaftsleitungen haben deutlich gemacht, daß die politisch-ideologische Arbeit, die offensive und überzeugende Erläuterung der Grundfragen der Innen- und Außenpolitik der Partei nicht den Erfordernissen entspricht, die der XI. Parteitag der SED stellt. (... ) Das Parteileben ist vorwiegend nach innen gerichtet und hat wenig Ausstrahlungskraft auf die Arbeitskollektive. Ungenügend ausgeprägt sind Kämpfertum und die volle Verantwortung für die Führung der politisch-ideologischen und ökonomischen Prozesse, für das sofortige klassenmäßige Reagieren auf aktuelle Erfordernisse sowie auf Fragen der Werktätigen. Die Duldung von Erscheinungen liberalen Verhaltens zur Durchführung der Beschlüsse des XI. Parteitages der SED, gestörte Beziehungen zu den Werktätigen und unzureichendes Reagieren auf ihre Vorschläge, Kritiken, Fragen und Belange führten bei einigen Werktätigen zu Zweifeln an der Realität der von der Partei gestellten Aufgaben und Ziele.

42

43

BArch (Präsidium des Ministerrats) DC 20 1/3 Nr. 2420, wie Anm. 37, Bi. 226. BArch (Präsidium des Ministerrats) DC 20 1/3 Nr. 2420, wie Anm. 37, Bi. 227.

18 Hoeck

274

2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

Viele ungeklärte Fragen der Werktätigen, insbesondere zur ökonomischen Strategie der Partei, zur Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik, zur leistungsorientierten, auf das Bürgerwohl gerichteten Kornrnunalpolitik sowie der ideologische Einfluß des Gegners sind weitere wesentliche Ursachen, die zur Eingabe führten. Im Betrieb gibt es 8 Werktätige, darunter ein ehemaliges Mitglied der SED, die einen Antrag auf Ausreise in die BRD stellten. Die in der materiellen Produktion eingesetzten Brigadiere, die über einen bedeutenden Einfluß in den Kollektiven verfügen, waren nicht bereit, ihre politisch-erzieherische Funktion als sozialistische Leiter von Arbeitskollektiven auszuüben. Sie, wie auch die gewerkschaftlichen Vertrauensleute, gehören zu den Unterzeichnern der Eingabe. Durch die Grundorganisation der SED, die BGL und die staatlichen Leiter muß in der Arbeit mit den Werktätigen an die erfolgreiche Gesamtbilanz der DDR angeknüpft und verbunden mit den guten Ergebnissen im Territorium Optimismus und Zuversicht für die Lösung der im Betrieb anstehenden Probleme und Aufgaben entwickelt werden.,,44

Als nächster Schritt wurde die Gewerkschaftsarbeit einer Kontrolle unterzogen, welche ergab, "daß über Jahre hinweg keine planmäßige, zielstrebige Leitungstätigkeit existiert"45. Die gewerkschaftliche Aktivität erstrecke sich einseitig auf die Lösung organisatorischer Probleme und vernachlässige die politisch-ideologische Arbeit. Hartnäckig halte sich zudem im Betrieb die Auffassung, die Gewerkschaften stellten einen "oppositionellen Gegenpol" als Interessenvertreter der Werktätigen gegenüber den staatlichen Leitern dar. Es sei verabsäumt worden, die "Rolle der Gewerkschaften im Sozialismus" zu klären und die Mitglieder für eine aktive Mitarbeit zu mobilisieren, wodurch gegnerischen Einflüssen das Feld überlassen worden sei. 46 Nahezu alle Bereiche der staatlichen Leitungstätigkeit im Umkreis des VEB wurden genauestens untersucht. So wurde zum Beispiel in Hinblick auf die in der Eingabe angesprochene Preispolitik die örtliche Versorgungslage bis hin zum kleinsten und vermeintlich banalsten Detail einer Prüfung unterzogen47 , den geäußerten "Zweifeln an der Lösung der Wohnungsfrage als soziales Problem bis 1990" begegnete die Kommission mit einer gründlichen statistischen Auswertung der in der Gemeinde vorliegende Wohnungsanträge und der Kontrolle der planmäßigen Wohnraumerstellung. Die Arbeit des Sekretariats der Kreisleitung Zittau wurde scharf kritisiert, da sie seit geraumer Zeit über die Eingabe und die ihr zugrunde liegenden Probleme informiert gewesen sei, "ohne eine gründliche Auswertung mit Ebenda. BArch (Präsidium des Ministerrats) DC 20 1/3 Nr. 2420, wie Anrn. 37, BI. 228. 46 BArch (Präsidium des Ministerrats) DC 20 1/3 Nr. 2420, wie Anm. 37, BI. 229. 47 In diesem Zusammenhang wurden Staatsrat und Ministerrat beispielsweise über das "derzeitige Angebot an wichtigen festtagstypischen Artikeln, wie (... ) Schokoladenhohlkörpern" informiert. 44

45

3. Abschn.: Zur Praxis des Eingabenwesens

275

den erforderlichen Schlußfolgerungen vorzunehmen und konkrete Maßnahmen zur Veränderung der Lage im Betrieb einzuleiten,,48. Darüber hinaus wurde der Kreisleitung folgendes zum Vorwurf gemacht: "Unzureichende Kenntnis der Mitglieder des Sekretariats der Kreisleitung über die tatsächliche Lage im Betrieb, über den ideologischen Zustand in den Arbeitskollektiven, den unkontinuierlichen Produktionsrhythmus sowie den damit verbundenen Verstößen gegen die Arbeitsdisziplin, Ordnung und Sicherheit führten dazu, daß eine konkrete, auf Veränderungen gerichtete Hilfe der Kreisleitung für die Grundorganisation ausblieb. Die Kreisleitung hat nicht genügend Kraft und Zeit aufgebracht, um die Grundorganisation und ihre Leitung bei der Umsetzung der Beschlüsse des XI. Parteitages der SED wirksam zu unterstützen, die Führungsschwerpunkte herauszuarbeiten, die Parteikräfte zu informieren, in allen Leitungs- und Arbeitskollektiven ideologische Klarheit und Kampfposition zu schaffen. Den schriftlichen Informationen der Leitung der Grundorganisation und den darin enthaltenen Hinweisen wurde ungenügende Aufmerksamkeit gewidmet. ..49

Abschließend erarbeitete die Arbeitsgruppe zusammen mit der Betriebsleitung, der örtlichen Gewerkschaftsleitung und der Kreisleitung konkrete Maßnahmenpläne zur Behebung der in der Eingabe angesprochenen Mißstände. Darüber hinaus veranlaßte die Arbeitsgruppe des Zentralkomitees die "Formierung eines stabilen Leitungskollektivs", welches die ökonomischen Prozesse zur Verwirklichung der Wirtschaftsstrategie der Partei im Betrieb politisch leiten sollte. Wichtiger als diese Lösungsansätze zum konkret in der Eingabe angesprochenen Problem erschienen der Führung indes allgemeingültige Ableitungen in Hinblick auf die gesellschaftliche und mentale Verfaßtheit der Bevölkerung als eine Art Rückkopplung zu den politischen Maßnahmen der SED-Spitze. Hierzu verfaßte das Politbüro des Zentral sekretariats der SED eigens eine Stellungnahme, welche den Inhalt des Arbeitsgruppeneinsatzes noch einmal zusammenfaßte und eine effizientere Verwirklichung der auf dem XI. Parteitag beschlossenen Ziele durch die örtlichen Organe der Staatsmacht, die Gewerkschaftsorganisationen sowie die Betriebsleitungen forderte. Insbesondere zog das Politbüro folgende Schlußfolgerungen: "Das Politbüro stellt im Zusammenhang mit der Situation im VEB Maschinenfabrik Großschönau fest: 1. Für alle Kommunisten und Leiter muß es zur täglichen Praxis werden, daß auf die Fragen, Vorschläge, Kritiken und persönlichen Belange der Werktätigen unverzüglich reagiert wird und sie in die Lösung der Probleme unmittelbar einbezogen werden. 2. Besondere Unterstützung und Hilfe müssen die Meister und Brigadiere erhalten, damit sie in jeder Situation ihre Pflichten als politische Leiter von Kollek48 49

18*

BArch (Präsidium des Ministerrats) DC 20 1/3 Nr. 2420, wie Anm. 37, S. 230. Ebenda.

276

2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht tiven und als Organisatoren der Produktion voll wahrnehmen und die Werktätigen zu neuen Initiativen und Leistungen mobilisieren.

3. Durch die staatlichen Leiter sind täglich die erforderlichen Voraussetzungen für einen kontinuierlichen Produktionsrhythmus zu schaffen, damit das Schöpferturn und die Leistungsbereitschaft der Werktätigen voll wirksam werden. 4. Das Politbüro geht davon aus, daß auf allen Ebenen die Verantwortung wahrgenommen wird, alle qualitativen Faktoren des Wirtschaftswachstums in ihrer Gesamtheit zur vollen Wirkung zu bringen und die ökonomische Strategie der Partei konsequent zu verwirklichen. ,,50

b) Signalisierungs- und Legitimierungsfunktion Die Rechtsschutzfunktion des Eingabenwesens wurde weitgehend überdeckt von seiner politischen Zielrichtung. In diesem Sinne kam ihm die Funktion eines Instruments der Meinungsforschung zu, mit dem insbesondere geplante wie auch bereits durchgeführte politische Maßnahmen auf ihre Akzeptanz in der Bevölkerung hin überprüft werden sollten. Mit dem Eingabenwesen sollte jene Art kritischer Öffentlichkeit hergestellt werden, welche durch das Einschwören aller politischen und gesellschaftlichen Kräfte auf den Kurs der SED in allen anderen Lebensbereichen gerade nicht zugelassen wurde. Offenbar wirkte hier in der Staatsführung das Trauma des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 fort, bei dem die Fehleinschätzung der Stimmung in der Bevölkerung in bezug auf die Frage der Normenerhöhung den Staat in die Krise stürzte. Dem sollte das Eingabenwesen für die Zukunft vorbeugen. 51 Damit verbunden sollte das Eingabenwesen auch dazu dienen, dem politischen Kurs des Staatsrats diejenige politische Legitimation zu verleihen, welche in anderen Systemen durch freie und demokratische Wahlen vermittelt wird. Belegen lassen sich diese Feststellungen anhand des Berichts der Abteilung "Staat und Recht" des Zentralkomitees der SED über die Durchführung des Eingabenerlasses, den diese am 11.9.1961 dem Staatsrat übermittelte. 52 Politisch war dieser Be50 Beschluß des Politbüros des ZK der SED vom 6. Januar 1987 - Stellungnahme des Politbüros des ZK der SED zur Information über die Bearbeitung der Eingabe von 35 Werktätigen des VEB Maschinenfabrik Großschönau, Kreis ZiUau, an den Staatsrat der DDR, gleichzeitig Beschluß des Ministerrats der DDR vom 9. Januar 1987. BArch DC 201/3 Nr. 2420, BI. 218-223. 51 In diesem Sinne stellte Inga Markovits bereits zur Zeit des Bestehens der DDR im Rahmen ihrer auch heute noch gültigen Analyse fest, daß das Eingabenwesen somit auch - wenn nicht gar vorrangig - der systematischen Kritik- und Meinungsforschung in der Bevölkerung diente: "Der sozialistische Staat sucht auf diese Weise auch die latenten Informationsdefizite zu kompensieren, die sich aus dem Mangel an kritischer, kontroverser und pluralistischer Sach- und Meinungsdiskussion in den von einer Partei mediatisierten und weitgehend vereinheitlichten Medien ergeben." (Rechtsstaat oder Beschwerdestaat?, Recht in Ost und West 1987, S. 265-280 (258).

3. Abschn.: Zur Praxis des Eingabenwesens

277

richt von besonderem Interesse, da in den Berichtszeitraum der Mauerbau fiel. Am Beispiel des Mauerbaus läßt sich aufzeigen, wie anhand der Eingabenanalyse versucht wurde, die Stimmung in der Bevölkerung zu politischen Maßnahmen zu ermitteln. In einer separaten "Anlage zum Grenzgängerproblem Berlin" wurde der Staatsrat vor dem Mauerbau (7. Juni 1961) über in den Eingaben zutage tretende Ansichten der Bürger informiert, die geeignet erschienen, das geplante Vorhaben zu legitimieren: "Der Analyse der Eingaben der Bürger im I. Quartal 1961 unseres Bevollmächtigten von Berlin entnehmen wir einige Hinweise, wie der Prozeß der Meinungsbildung unserer Bevölkerung sich zum Grenzgängerproblem entwickelt: Es mehren sich in letzter Zeit Beschwerden der Bevölkerung an die Staatliche Kontrolle, daß vom Staatsapparat nicht auf das sogenannte Grenzgängerproblem eingewirkt wird. Helfer der staatlichen Kontrolle aus vielen volkseigenen Betrieben berichten über ständig sich verstärkende Forderungen der Berliner Bevölkerung, daß die Grenzgänger ihre Abgabe für Miete, Gas, Elektrizität usw. in Westgeld entrichten müßten. Im Stadtbezirk Friedrichshain wurden an den Beauftragten Forderungen herangetragen, endlich Schluß zu machen mit dem Verkauf hochwertiger Industriegüter an Grenzgänger, wie Waschmaschinen, Fernsehapparate, Motorräder und PKW. Nach wie vor stehen Wohnungsangelegenheiten zahlenmäßig an der Spitze aller Eingaben in Berlin. Wohnungssuchende Arbeiter und Angestellte der volkseigenen Wirtschaft, die nicht zu einem vordringlich zu versorgenden Personenkreis, wie z. B. Ärzte oder Lehrer gehören, beschweren sich über zu lange Wartezeiten, manchmal bis zu 3 Ih Jahren. Aus diesem Grund richtet sich der Zorn der Bevölkerung, die ehrlich am Aufbau des Sozialismus teilnimmt, gegen die Grenzgänger als Schmarotzer unserer sozialistischen Ordnung. Solche Menschen bewohnen mitunter viel zu große, schöne und verhältnismäßig billige Wohnungen, bzw. AWG-Wohnungen. Kündigungen durch die AWG und Angebote kleinerer Wohnungen durch die Abteilung Wohnungswesen werden von den Westgängern abgelehnt. Unserer Bevölkerung scheint der Langmut, mit dem solche Fragen von den Vorständen der AWG bzw. vom Staatsapparat behandelt werden, als zu kulant gegenüber den Westgängern. In diesem Zusammenhang wurde auch festgestellt, daß sich bei einigen Mitarbeitern der örtlichen Staatsorgane politisch-ideologische Unsicherheit bemerkbar macht. So äußerte sich der Mitarbeiter der Abteilung Wohnungswesen des Rates des Stadtbezirkes Köpenick, W., auf die Frage, weshalb eine solche Wohnungsangelegenheit mit Westgängern nicht schon lange entschieden sei, daß man in solchen Fragen sehr vorsichtig sein müsse, um sich nicht eines Tags den Vorwurf machen zu lassen, eine Republikflucht begünstigt zu haben. 52 Bericht über die bisherigen Erfahrungen bei der Durchführung des Erlasses über die Eingaben der Bürger und die Bearbeitung durch die Staatsorgane an die Kanzlei des Staatsrats vom 11.9.1961, BArch (Staatsrat) DA 5 Nr. 11367, BI. 15.

278

2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

Zu diesen Problemen zeigen sich schon erste Anfange der gesellschaftlichen Abwehr gegen solche Bürger, welche die Vorzüge der sozialistischen Gesellschaftsordnung nutzen, aber dem Klassenfeind ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen.

( ...)

Ein staatliches Eingreifen in einer bestimmten Richtung zu dieser Problematik wird um so vordringlicher, da bereits nach der Arbeitskräftebilanz des Jahres 1960 allein aus dem demokratischen Sektor von Groß-Berlin ( ... ) ca. 46.000 Grenzgänger geschätzt werden. Diese Zahl ist im Jahre 1961 weiterhin angestiegen und hat ihre entsprechenden Auswirkungen in den Industrie-, Handels-, und Dienstleistungsbetrieben der Hauptstadt. ..53

Im nachfolgenden Bericht vom 11.9.1961 (also unmittelbar nach dem Mauerbau), dienten Eingaben zu dessen Legitimation. Der Bericht über die Durchführung des Staatsratserlasses stellte ihn gleichsam als Vollstreckung des in vielen Eingaben artikulierten Volks willens dar: "In vielen Briefen und Stellungnahmen unterstützen die fortschrittlichsten Teile der Werktätigen nicht nur bereits beschlossene Maßnahmen, sondern fordern die Lösung herangereifter Aufgaben. So erhielten der Staatsrat der Deutschen Demokratischen Republik und viele andere Staatsorgane im Juli und in den ersten Augusttagen d. J. zahlreiche Briefe von Werktätigen, in denen sie forderten, energisch gegen das Treiben der Agentenzentralen in Westberlin vorzugehen. So schrieben Mitglieder der Brigade ,Pionier' des VEB Sachsenringes Zwickau: ,Die Erfolge unseres sozialistischen Aufbaus sind erst dann gesichert, wenn wir einen Friedensvertrag erhalten und mit den Agenten- und Sabotagezentralen in Westberlin Schluß machen.' In einem Schreiben der Arbeiter, Ingenieure, Techniker und Angestellten des VEB Bodeta heißt es: ,Deshalb fordern wir, den Kopfjägern als den Feinden unserer Nation ein für allemal das Handwerk zu legen. Diese und viele andere Stellungnahmen von Werktätigen waren ein guter Beitrag zur Vorbereitung der Maßnahmen, die am 13. August zum Schutze des Friedens und zur Sicherung der Deutschen Demokratischen Republik wirksam wurden.' ..54

III. Das Eingabenrecht aus der Perspektive der Bürger Bei der Einschätzung der Frage, welcher (Rechts-)Charakter dem Eingabenwesen in der Praxis zukam, soll jedoch nicht allein auf den Willen und die Perspektive der Staatsorgane abgestellt werden. Ebenso verdient der Aspekt Beachtung, ob das Eingabenrecht in der Bevölkerung überhaupt primär als Rechtsschutzinstrument wahrgenommen wurde. Aufschluß über diese Frage könnte eine Untersuchung der inhaltlichen Schwerpunkte der Eingaben geben. 53 Anlage zum Grenzgängerproblem des Berichts der ZKK an Klaus Sorgenicht vom 7.6.1961, BArch (ZK der SED, Abt. Staat und Recht), DY 30 IV 2/13/254, BI. 86 f. 54 Bericht der Abt. "Staat und Recht" des ZK der SED an den Staatsrat v. 11.9.1961, BArch (Staatsrat) DA 5, BI. 16, S. 5.

3. Abschn.: Zur Praxis des Eingabenwesens

279

1. Inhaltliche Schwerpunkte der Eingaben

Über die inhaltlichen Eingabenschwerpunkte konnten bis zum Zusammenbruch der DDR nur Vermutungen angestellt werden. Aus dem Charakter des Eingabenwesens ließ sich nur eine breite Streuung in Hinblick auf die inhaltlichen Schwerpunkte erwarten. Insbesondere eine unter Rechtsschutzgesichtspunkten in rechtsvergleichender Hinsicht wünschenswerte Analyse des Anteils "echter" Rechtsschutzbegehren am Gesamtaufkommen der Eingaben war schwer zu leisten. 55 Das nunmehr zur Verfügung stehende Archivmaterialläßt jedoch einige Schlüsse darauf zu, in welchen Bereichen die Bürger selbst dem Instrument der Eingabe die größten Erfolgsaussichten beimaßen und kann somit zur Rekonstruktion des "Eingabebewußtseins" (Begriff von Wolfgang Bemet) der Bevölkerung beitragen. a) Eingaben mit überwiegend eigennützigem ("egoistischem") Charakter In nahezu allen offiziellen Stellungnahmen zum Eingabenwesen wiederholte die Staatsführung während der gesamten Bestehenszeit der DDR ihre These, daß die Eingaben "zunehmend kollektiven Charakter" annähmen. Kontinuierlich nähmen diejenigen Eingaben zu, die gesamtgesellschaftliche, überindividuelle Ziele verfolgten, und realisierten damit schrittweise das marxistisch-leninistische Wunschbild, wonach das individuelle Denken und Streben des Bürgers im gesamtgesellschaftlichen Umgestaltungsprozeß immer mehr von den Zielen des Kollektivs bestimmt werde. Stellvertretend für eine Vielzahl ähnlicher Beispiele steht hier der Bericht "über die Verwirklichung des Erlasses des Staatsrates über die Eingaben der Bürger und die Bearbeitung durch die Staatsorgane in der Tätigkeit des Ministerrates und seiner Organe,,56, in dem es hieß: 55 Inga Markovits merkte hierzu an: "Über den Gegenstand der Eingaben können wir zum großen Teil nur Vermutungen anstellen. Wie unsere Verwaltungsrechtsklage dient die Eingabe in der DDR dem Schutz des Bürgers gegen den Staat aber eben gegen einen Staat, der dem Bürger nicht nur als Hoheitsträger, sondern auch als Arbeitgeber, Vermieter, Verkäufer und in allen möglichen anderen Rollen entgegentritt. Gegen diesen allgegenwärtigen sozialistischen Staat ist die Eingabe ein Allzweck- und Sarnmelbehelf, der praktisch all die Funktionen gleichzeitig erfüllt, die in der Bundesrepublik durch Verfassungsbeschwerden, Verwaltungsrechtsklagen, Verwaltungsbeschwerden, Petitionen, Zivilrechtsklagen und informelle Reklamationen und Beschwerden auf dem Markt erledigt werden. Da läßt sich zwischen juristischen und nicht-juristischen Angelegenheiten, zwischen Rechten und Nicht-Rechten, gar nicht mehr unterscheiden." ("Rechtsstaat oder Beschwerdestaat", Recht in Ost und West 1987, S. 271). 56 Geheime Staatsratsangelegenheit Nr. 10/65, BArch (Staatsrat) DA 5 Nr. 11370--7209, S. 2.

280

2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

"Zugleich zeigt sich eine Veränderung des Inhalts der Eingaben, die darin zum Ausdruck kommt, daß auf der Grundlage der Übereinstimmung der persönlichen mit den gesellschaftlichen Interessen die Bürger immer mehr konstruktive Vorschläge zur Verwirklichung der wirtschaftlichen und kulturellen Aufgaben sowie zur weiteren Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen machen. In vielen Eingaben erklären Bürger, Kollektive von Werktätigen, Hausgemeinschaften ihre Bereitschaft zur Mitarbeit. Das spiegelt sich wider in den vielen Vorschlägen und Hinweisen der Bürger im Zusammenhang mit der Durchführung des Neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft, der Durchführung des VIII. Deutschen Bauernkongresses, der öffentlichen Beratung des Entwurfes des Jugendgesetzes, der Diskussion über den Entwurf der Grundsätze für die einheitliche Gestaltung des einheitlichen sozialistischen Bildungssystems. "

Dieses ideologische Wunschdenken hielt der gesellschaftlichen Realität indes nicht stand. Zwar wurde immer wieder versucht, anband des statistischen Materials den venneintlich einsetzenden Bewußtseinswandel zu belegen. So vennerkte bereits der Bericht der Zentralen Kommission für Staatliche Kontrolle über die Durchführung des Staatsratserlasses 16.8.1961, daß die Neuregelung des Eingabenwesens durch den Staatsratserlaß nicht nur zu einem zahlenmäßigen Anwachsen, sondern auch zu einer qualitativen Weiterentwicklung des Inhalts der Eingaben geführt habe. Letzteres wurde daran festgemacht, daß eine Häufung der Eingaben mit einem "gesamtstaatlichen Bezug", also gewissennaßen altruistische Eingaben, zu konstatieren sei. Das Verhältnis von "egoistischen" und "altruistischen" Eingaben wurde statistisch genau ausgewertet, obwohl es vielfach eine Frage der Formulierung gewesen sein dürfte, ob eine Eingabe im Einzelfall als Instrument zur Vertretung von Eigen- oder Kollektivinteressen erschien. Der Bericht führt in diesem Zusammenhang als exemplarisches Beispiel an: "In der Stadt Rostock trugen von 62 an das Stadtbauamt eingereichten Eingaben 70% gesellschaftlichen Charakter. Bei 97% in der Abteilung Verkehr und Kommunalwirtschaft vorliegenden Eingaben bestand dasselbe Verhältnis. Von 110 Eingaben in der Hygieneinspektion betrug das Verhältnis der Eingaben mit gesamtgesellschaftlichem Charakter zu den individuellen Angelegenheiten 60:40."

Aus diesem Befund zog die Zentrale Kontrollkommission den Schluß, "daß die Bevölkerung immer besser den in der Präambel des Staatsratserlasses aufgezeigten Zusammenhang zwischen der Einbaltung der Gesetze unseres volksdemokratischen Staates und der Gewährleistung der persönlichen Interessen der Bürger erkennt"s7. Entgegen den offiziellen Verlautbarungen blieben sie jedoch exotische Ausnahmen, so daß die Ausgestaltung der Rechtsvorschriften des Eingabenwesens an ihrem Leitbild ungerechtfertigt erscheint. Aus der akribisch durchgeführten Eingabenanalyse ergaben 57 Bericht der Zentralen Kontrollkommission an Klaus Sorge nicht vom 16.8.1961, S. 2, BArch (ZK der SED, Abt. Staat und Recht), DY 30 IV 2/13/254, BI. 98.

3. Abschn.: Zur Praxis des Eingabenwesens

281

sich geradezu entgegengesetzte Hinweise. Der - soweit ersichtlich - früheste erhaltene Jahresbericht zur Eingabenanalyse des Staatsrats wies folgende Eingabenschwerpunkte aus: Anzahl der Eingaben der Bürger (an den Staatsrat) 1964 verteilt auf Sachgebiete58 Sachbereich

Eingaben (insg.)

Volkseigene Industrie

1.938

Bauwirtschaft

1.976

Halbstaatliche und Privatbetriebe

624

in% 2 2

0,5

Gewerkschaftsfragen und Sozialwesen

2.518

3

Landwirtschaft

4.311

5

Forstwirtschaft

94

Verkehrs-, Post-, Fernmeldewesen Kommunale Handwerks- u. Dienstleistungsbetriebe

1.184 688

3

Handel und Versorgung

2.592

Gesundheits- und Sozialwesen

3.454

3,5

Volksbildung

2.275

2,5

675

0,5

Hoch- und Fachschulwesen Berufsberatung und -lenkung

1.314

1,5

Jugend und Sport

366

0,5

Kultur

425

0,5

3.956

4,5

Justizfragen Innere Angelegenheiten

5.087

5,5

Reiseverkehr

19.773

21,5

Finanzfragen

3.084

3,5

35.278

38,5

Wohnraumlenkung

Die Gliederung der Statistik läßt bereits an der Reihenfolge der vorgesehenen Eingabeschwerpunkte erkennen, zu welchen Sachgebieten die Staatsführung den stärksten Eingabeneingang erhofften. Um so auffälliger ist es, daß sich der tatsächliche Eingabeneingang hierzu geradezu umgekehrt ver58 Bericht über den Inhalt der an den Staatsrat gerichteten Eingaben und über Erfahrungen bei der Durchführung des Eingabenerlasses (1964), BArch DA 5 (Staatsrat), Nr. 11370.

282

2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

hielt: Nicht die ökonomisch wünschenswerten Eingaben zu Fragen der volkseigenen Wirtschaft überwogen, sondern Eingaben zur Wohnraumlenkung und zu Reiseangelegenheiten führten mit großem Abstand die Statistik an. Es liegt indes nahe, daß mit diesen Eingaben ganz überwiegend individuelle Ansprüche verfolgt wurden, nämlich die Zuweisung einer Wohnung oder die Gestattung der Ausreise, wie die internen Berichte und Analysen der Staats- und Parteiführung belegen. 59 Die klare Dominanz der auf dem Eingabeweg verfolgten Leistungsbegehren, vor allem im Bereich der Wohnraumverwaltung, stellte auch keineswegs eine Besonderheit der an den Staatsrat gerichteten Eingaben dar. So vermittelt etwa der Eingabenbericht des Rats des Bezirks Potsdam60 für den Vergleichszeitraum ein ganz ähnliches Bild. Demnach verteilten sich die insgesamt 44.626 schriftlichen und mündlichen Eingaben, die im Vergleichszeitraum bei den örtlichen Räten und ihren Organen im Bezirk registriert wurden, auf folgende Schwerpunkte: Insgesamt Wohnungspolitik und Wohnungswirtschaft

9.169 Eing.

Werterhaltung/Baureparaturen

6.147 Eing.

Verkehr/Str.-Wesen/Wasserwirtschaft

5.249 Eing.

Versorgungsfragen und Handel

4.417 Eing.

Bauwesen

2.960 Eing.

Örtliche Versorgungswirtschaft

2.713 Eing.

Gesundheits-/Sozialwesen

2.614 Bing.

Volksbildung

2.267 Bing.

Land-/Nahrungsgüterwirtschaft

2.229 Eing.

aa) Wohnraumversorgung In vielen Städten und Gemeinden der DDR stellte der Wohnungsmangel das dringendste soziale Problem dar. Trotz Erhöhung des staatlichen und genossenschaftlichen Wohnungsbaus reichten die Neubauwohnungen häufig nicht aus, um selbst die dringendsten Fälle befriedigend zu lösen. So gab es z.B. in Gera im Berichtsjahr 1960 unter 104.000 Einwohnern 18.000 Wohnungssuchende, davon 790 "ausgesprochene Notstände,,61. Nach dem Dies wird sogleich ausgeführt. Brandenburgisches Landeshauptarchiv Bezirk Potsdam. Rep. 401, Bezirkstag und Rat des Bezirkes Potsdam, Nr. 11394. 59

60

3. Abschn.: Zur Praxis des Eingabenwesens

283

Volkswirtschaftsplan sollten 1960 in Gera 598 Wohnungen fertiggestellt werden. Davon konnte der Rat der Stadt jedoch nur ganze 4 Wohnungen verteilen, weil alle übrigen Wohnungen für die SDAG Wismut vorgesehen waren. Die 4 Neubauwohnungen, über die der Rat der Stadt Gera verfügen konnte, wirkten bei der großen Zahl der Notstände sowie dringender Wohnungsanträge von Ärzten, Lehrern und anderen Angehörigen der Intelligenz "wie ein Tropfen auf dem heißen Stein,,62. Gleichzeitig zerfiel in vielen Städten mehr Wohnraum, als Neubauwohnungen errichtet wurden. So existierten beispielsweise in der damals 46.000 Einwohner zählenden Universitätsstadt Greifswald 6.000 Wohnungen, die bereits vor 1870 gebaut worden waren. Die Werterhaltungsmaßnahmen waren indes völlig unzureichend, da das zur Verfügung stehende Baumaterial fast ausschließlich für das Neubauprogramm verwandt wurde und für Reparaturzwecke kaum Material und Baukapazitäten zur Verfügung standen. 63 So waren in Greifswald 1960 bereits 144 Wohnungen wegen Einsturzgefahr baupolizeilieh gesperrt worden. Zum größten Teil wurden sie dennoch weiter bewohnt, weil für die Mieter keine Ersatzwohnungen zur Verfügung gestellt werden konnten. 64 Teilweise hatte dies zur Folge, daß in solchen noch bewohnten baufälligen Häusern Wände einstürzten und "die betroffenen Familien bisher nur durch glückliche Umstände nicht verletzt wurden,,65. Eingabenberichte erhellen, daß die prekäre Situation bei der Staatsführung geradezu paranoide Reaktionen auslöste: "In den meisten Briefen kommt zum Ausdruck, daß sich die Beschwerdeführer voller Vertrauen an das Zentralkomitee wenden, weil sie der Meinung sind, daß bis zu diesem Zeitpunkt ihre Angelegenheit nicht mit genügender Aufmerksamkeit behandelt worden ist. Trotzdem gibt es auch weiterhin Fälle, wo Bürger, darunter auch Mitglieder unserer Partei, ultimative Forderungen an das Zentralkomitee stellen. Sie drohen, bei Nichterfüllung der Forderung, die Republik zu verlassen bzw. aus der Partei auszutreten. In Einzelfällen haben Bürger in aggressivem Ton Fragen zur konkreten Beantwortung eingeschickt, so z. B. die Fotolaborantin U. aus Leipzig 05, die in ihrem Schreiben vier Fragen über die Wohnraumsituation in der DDR stellte und endete: , ... dann bitte ich hiermit das ZK der SED, mir die Genehmigung zu erteilen, daß ich mit meinem gesamten Mobiliar usw. nach Westdeutschland übersiedeln 61 Bericht über den Stand der Entwicklung der Eingaben und der Mitarbeit der Bevölkerung an der Lenkung und Leitung des Staates, ohne Datumsangabe (vermutlich 1960) in: Analyse der Entwicklung der Eingaben und der Mitarbeit der Bevölkerung an der Lenkung und Leitung des Staates 1955-1960, SAPMO BArch (ZK der SED) DY 30 IV 2/13 Nr. 94 (FBS 178/8779), BI. 61 (S. 5). 62 Bericht über den Stand der Entwicklung ... , ebenda. 63 Bericht über den Stand der Entwicklung ... , wie Anm. 61, BI. 62 (S. 6). 64 Bericht über den Stand der Entwicklung ... , ebenda. 65 Bericht über den Stand der Entwicklung ... , ebenda.

284

2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht darf. Denn dort kann ich auch in meinem Beruf tätig sein und habe bestimmt Gelegenheit, eine eigene Wohnung zu bekommen. ... '

Hierbei entsteht der Eindruck, daß diese Erscheinungen Ergebnisse organisierter Feindarbeit sind. ,,66 Die nicht gerade naheliegende Vennutung, nichtkonfonnes Verhalten müsse zwangsläufig auf Feindarbeit zurückzuführen sein, läßt den Entfremdungsprozeß zwischen Staatsorganen und Bevölkerung bereits als weit fortgeschritten erscheinen. Auch in personeller Hinsicht entwickelte sich im Bereich der Wohnraumlenkung eine Art Teufelskreis. Der Bericht verzeichnete, daß auch gewissenhafte Leiter und Mitarbeiter der staatlichen Organe in den Sprechstunden beschimpft und teilweise sogar geschlagen wurden. 67 Regelmäßig kündigten die enttäuschten Verfasser der Eingaben an, sich im Falle des weiteren Mißerfolgs "an die Regierung" zu wenden. Damit verstärkte sich die ungewollte Tendenz zu einer Verlagerung des Eingabenwesens von der Ebene der örtlich verantwortlichen Leiter hin zur Spitze der Staatshierarchie. Gleichzeitig führte die unbefriedigende Tätigkeit in den Fachorganen der staatlichen Organe auf diesem Gebiet dazu, daß ein starker Arbeitskräfteabfluß einsetzte. So waren bei einigen Stadtbezirksräten die Sachgebiete für Wohnraumlenkung unbesetzt68 , die provisorisch eingesetzten Mitarbeiter dagegen häufig ungeeignet. 69 Dieses Konglomerat von Defiziten führte dazu, daß der Bereich der Wohnraumverwaltung das Eingabenwesen bis zum Untergang der DDR auf allen Ebenen der Staatshierarchie klar dominieren sollte. Im Bereich der Wohnraumverwaltung und -lenkung erwies sich aufgrund der von den volkswirtschaftlichen Möglichkeiten detenninierten engen Handlungsspielräume deutlicher als in anderen Sachgebieten, wie weit das Bürgerfreundlichkeit vorgaukelnde Eingabenwesen von einem Instrument zur Durchsetzung von Rechtsansprüchen entfernt war. Selbst wenn die zuständigen örtlichen Organe gewissenhaft und durchaus wohlwollend arbeiteten, präsentierten sich die Eingabebescheide mangels Handlungsmöglichkeiten häufig als Farce. Welchen Zwängen sich die Verwaltung bei der Bearbeitung von Eingaben im Bereich der Wohnraumlenkung ausgesetzt sah, demonstriert exemplarisch der folgende Vorgang aus dem Bestand des Brandenburgischen Landeshauptarchivs70: 66 Beschwerdeanalyse des Sektors Örtliche Organe für das IV. Quartal 1956 vom 15.1.1957, DY 30 IV 2/13 Nr. 94, BI. 33. 67 Beschwerdeanalyse ... , ebenda. 68 Bericht über den Stand der Entwicklung der Eingaben, wie Anm. 61, S. 8 (BI. 64). 69 Bericht über den Stand, ebenda. 70 Anlage E 40/74 zum "Bericht über die Arbeit mit den Eingaben der Bürger im Jahre 1973 im Bezirk Potsdam vom 21.03.1974" (57. Sitzung des Rates vom 21.

3. Abschn.: Zur Praxis des Eingabenwesens

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"An die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands 102Berlin FSF 100

Betr.: Eingabe - Beschwerde über einen unzumutbaren Wohnraum

Werte Genossen ! Erlauben Sie mir, daß ich heute mit einer Bitte an Sie herantrete. Ich bewohne seit 3 Jahren einen unbeheizbaren Raum. Da ich jetzt an einer chronischen Bronchitis leide und noch Sportlerin bin, ich spiele Tischtennis in der Oberliga, ist meine Geduld am Ende. Seit 1 Ih Jahren wird mir ein mittlerer Wohnraum versprochen. Ich habe alle möglichen Wege genutzt, aber konnte trotzdem nichts erreichen. In meinem Zimmer befindet sich kein Ofen, da das Zimmer früher durch eine Zentralheizung beheizt wurde, dieser rausgerissen wurde und somit kein Ofen im Zimmer ist. Das Zimmer ist separat. Der Schornstein wurde unterbrochen, und ein Schornsteinfegermeister sagte mir, daß hier kein Ofen zu setzen geht. Ich habe mich dann an mein zuständiges Wohngebiet gewandt, aber leider ohne Erfolg. Danach habe ich mich an den Rat des Bezirkes gewandt, Herrn K. Dieser sagte mir einen zumutbaren Wohnraum zu. Er hat sich mein Zimmer mit noch zwei Kollegen angeschaut und gesagt: ,Hier müssen wir schnellstens helfen.' Es geschah wiederum nichts. Da ich jetzt so verzweifelt bin wende ich mich jetzt an Sie. Vielleicht können Sie mir helfen. Ich finde die Art von Herrn K. unmöglich, erst zusagen und dann sagen: ,Sie können sich ruhig an den Staatsrat wenden, der wird Ihnen auch keine Wohnung besorgen können.' Das waren die ersten Worte von Herrn K., wie gesagt, dann versprach er doch eine Wohnung, aber leider erfolglos. Da ich in unserem Staat gern lebe, es mir aber nicht möglich gemacht wird, zufrieden zu sein, wende ich mich jetzt mit der letzten Bitte an Sie. Ich würde mich freuen, wenn Sie sich meinem Problem zuwenden würden. (... )"

Diese Eingabe nahm der Vorsitzende des Rates des Bezirks Potsdam anläßlich der Beschlußfassung über den "Bericht über die Arbeit mit den Eingaben der Bürger im Jahre 1973" in der Ratssitzung vom 21.3.1974 zum Anlaß für grundsätzliche Ausführungen, die erkennen lassen, daß auch die Staatsfunktionäre Zweifel daran hatten, daß das Eingabenwesens in der bisher praktizierten Form geeignet war, die Distanz zwischen Staat und Bürger zu überbrücken: "Ich glaube, auch auf diesem Gebiet (der Eingabenbearbeitung, der Verf. dieser Arbeit) müssen wir sehr entschieden bei uns beginnen, etwas zu ändern. Mir liegen hier zwei Beantwortungen von Eingaben vor, die ich unterschreiben sollte. Ich habe sie nicht unterschrieben. Zum Beispiel: März 1974), Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Bezirk Potsdam, Rep. 401, Bezirkstag und Rat des Bezirkes Potsdam, Sign. 11394.

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

Ich bewohne seit 3 Jahren einen unbeheizten Raum. Ich spiele Tischtennis in der Oberliga. Nur mal, um das zu charakterisieren, sie ist schon ein bißehen was gewöhnt, eine Sportlerin. (Es folgen die oben zitierten Ausführungen der Eingabeverfasserin, d. Verf. dieser Arbeit) Und jetzt das Schreiben, das mir vorgelegt wird, welches ich unterschreiben sollte. ,Werte Frau F.! Mit Zwischenbescheid vom 6.3.1974 erhielten Sie Nachricht, daß eine Aussprache zu Ihrer Wohnungsangelegenheit beim zuständigen Wohngebiet erfolgen sollte. Diese Aussprache hat stattgefunden. Dabei mußte festgestellt werden, daß von Ihnen gegenwärtig noch kein Antrag auf Zuweisung eines anderen Zimmers vorliegt. Ich bitte Sie, ohne Verzug diesen Antrag dem zuständigen Wohngebiet einzureichen. In der Aussprache wurde festgestellt, daß das Wohnaktiv in Anbetracht der von Ihnen geschilderten schwierigen Wohnverhältnisse eine Wohnungsbesichtigung vornehmen und die weitere Klärung mit Ihnen beraten wird.' Also Leute, das sollte ich unterschreiben, wenn ich jetzt diese Sportlerin wäre und ich hätte noch Kondition, ich wäre in wenigen Minuten vor dem Zimmer des Vorsitzenden und würde sagen: ,Was sind Sie für ein Mensch? Sie sind wohl ein wirklich voll entwickelter Bürokrat. Haben Sie was mit der Arbeiter-und-BauernMacht zu tun? Wer führt bei Ihnen die Feder?" (... ) Das ZK nimmt jetzt an, daß qualifizierte Menschen in staatlichen Organen tätig sind, und wir machen weiter nichts. So geht das nicht. Ich unterschreibe nicht so eine Antwort. Ich habe nichts gegen den Bericht gesagt, aber in dem Bericht stekken so viele Dinge mit drin, die ich hier vortrage. Menschen, die dann endgültig sauer geworden sind, die dann sagen: ,Nun macht doch im ZK! (Nun macht doch) im Bezirk! Jetzt reagierst Du höchstens so, daß Du am nächsten Wahltag nicht gehst - vielleicht wird dann etwas.' (... ) (Dieser Stil) hat aber auch nichts damit zu tun, die Beziehung zwischen den staatlichen Organen und Volksvertretungen und unseren Bürgern zu verbessern. Das ist weiter nichts wie wegdelegieren, abdelegieren, Verantwortung verbessern (Gemeint ist vermutlich: "verwässern ", d. Verf. dieser Arbeit). Das geht nicht. (... ) Die meiste Wohnungspolitik wird jetzt mit Schreiben gemacht. Das ist nicht die Lösung, sie muß dort gemacht werden, wo Menschen wohnen. (... ) Allein 15.000 Beschwerden, das sagt die erste Zahl, das ist 113 der Beschwerden, beziehen sich auf Wohnungspolitik, Werterhaltung, Baureparaturen. 113 aller nach dieser Analyse. Also: Wohnungspolitik, Werterhaltung, das sind die beiden Probleme. Wundert uns das überhaupt nicht?"

bb) Reiseverkehr Ihrer Anzahl nach an zweiter Stelle der Staatsratseingaben standen kontinuierlich die Eingaben zu Fragen des (meist innerdeutschen) Reiseverkehrs, obwohl gerade deren positive Bescheidung in der Regel am wenigsten wahrscheinlich war. Bereits in dem "Bericht über den Stand der Entwick-

3. Abschn.: Zur Praxis des Eingabenwesens

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lung der Eingaben und der Mitarbeit der Bevölkerung an der Lenkung und Leitung des Staates" aus dem Jahr 1960 hieß es hierzu, daß es häufig "außerordentlich schwierig (sei), die Antragsteller von der Richtigkeit der getroffenen Entscheidung zu überzeugen", auch da häufig einsehbare persönliche Gründe vorgelegen hätten, welche das Ausreisebegehren rechtfertigten?l Hierzu wurde ausgeführt: "Auf Grund der Entwicklung in Westdeutschland und den oftmaligen Stellungnahmen zu Fragen des Reiseverkehrs in Presse, Rundfunk und Fernsehen stellt der fortschrittliche Teil der Bevölkerung in der Regel keine Reiseanträge. Der Kreis der Bevölkerung, der diese Anträge stellt, hat den festen Willen, sie durchzusetzen und den jeweiligen Fall als besonders dringend darzustellen. Die von vornherein feststehenden Ablehnungen werden oftmals zum Anlaß genommen, um bei zentralen Dienststellen Ausnahmeregelungen zu beantragen. ,.12

Etwa 95 % der diesbezüglichen Beschwerden wurden von der Hauptabteilung Bevölkerungsfragen abschlägig beschieden, da ihr die Entscheidung der örtlichen Organe nachvollziehbar erschien. Nur bei etwa 5 % dieser Eingaben wurde eine nochmalige Überprüfung veranlaßt. 73

Im Sinne der oben beschriebenen Meinungsforschungs- und Signalisierungsfunktion unterlag gerade der Bereich des Reiseverkehrs jedoch einer besonders intensiven Überwachung, gerade in Umbruchsituationen der Deutschlandpolitik. Je brisanter der Gegenstand einer gesetzlichen Regelung war, desto intensiver überwachte die Staats führung die in den Eingaben zutage tretenden Reaktionen der Bevölkerung hierauf. Besonders deutlich wird dies an den Eingaben zu Reiseverkehrsfragen, zu denen der Sekretär des Staatsrates, Heinz Eichler74, nach Erlaß der "Anordnung über Regelungen des Reiseverkehrs von Bürgern der DDR" (vom 17.10.1972) Bericht über den Stand der Entwicklung der Eingaben, wie Anm. 6l. Bericht über den Stand ... , ebenda. 73 Bericht über den Stand ... , ebenda. 74 Heinz Eichler wurde am 14.11.1927 in Leipzig geboren und wuchs in einer Arbeiterfamilie auf. Er besuchte die Volksschule und absolvierte 1942 bis 1944 eine kaufmännische Lehre. 1944 schloß er sich der NSDAP an. 1945 arbeitete er beim Rat des Kreises Oschatz. Er wurde Mitglied der KPD, des FDGB und des antifaschistischen Kreisjugendausschusses. 1946 trat er in die FDJ und die SED ein. EichZer studierte 1947 bis 1950 an der Universität Leipzig und erwarb den Abschluß eines Diplom-Wirtschaftlers. 1950 wurde er Hauptsachbearbeiter im Ministerium des Innern. 1950 bis 1956 arbeitete er als Referent und Abteilungsleiter in der Regierungskanzlei der DDR, im Sekretariat des 1. Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates. 1956 bis 1960 war er Aspirant an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften der DDR beim ZK der KPdSU in Moskau. 1960 bis 1971 fungierte er als persönlicher Referent des Vorsitzenden des Staatsrates. Ab 1971 war er Abgeordneter der Volkskammer, Sekretär des Staatsrates und Mitglied des Präsidiums der Volkskammer. (Gabriele Baumgartner und Dieter Hebig, Biographisches Handbuch der SBZ/DDR 1945-1989, Bd. 1., S. 150) 71

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

wöchentlich Berichte an den Staatsrat anfertigte. Es läßt sich vennuten, daß die Staatsführung hieraus unmittelbare Impulse für die Deutschlandpolitik aufnahm. In teilweise durchaus kritisch fonnulierten Eingaben machten Bürger auf Mißstände und Defizite der bestehenden rechtlichen Regelungen aufmerksam und schlugen Modifikationen vor. So brachten die Eingaben beispielsweise zum Ausdruck, daß Bürger der DDR von der Ratifizierung des Verkehrsvertrages mehr Freizügigkeit erwartet hatten, als in der Anordnung vom 17.10.1972 konzediert wurde?5 Von dem damals in der aktuellen politischen Diskussion befindlichen Grundlagenvertrag über die Beziehungen zwischen der DDR und der BRD erhofften sich manche Eingabeverfasser "eine bedeutende Erweiterung des Personenkreises und auch der Anlässe für die Genehmigung einer Reise nach nicht sozialistischen Ländem,,76. Auch Einzelfragen wurden angesprochen. So forderten einzelne Eingeber, daß der illegale Grenzübertritt von nahen Angehörigen fortan nicht mehr die Erteilung einer Reisegenehmigung an Verwandte ausschließen sollte. "Eine solche Auffassung gab es unter anderem bei einem seit 20 Jahren tätigen Abgeordneten einer Gemeindevertretung, dessen Tochter 1963 republikflüchtig wurde", vennerkte der Bericht. 77 Gleichzeitig wurde darauf hingewiesen, daß die andererseits übliche Praxis, "Republikflüchtigen" eine Besucherlaubnis für die DDR zu erteilen, als ungerecht empfunden wurde. 78 Die Eingaben enthielten darüber hinaus teilweise wichtige Hinweise auf unterschiedliche Handhabung von Gesetzen und Anordnungen auf dem Territorium der DDR. So hieß es beispielsweise zur Praxis der Erteilung von Reisegenehmigungen in Berlin: "Ein Arzt betrachtete die ihm gegebene Infonnation, wonach in Berlin Ärzte und Lehrer keine Reisegenehmigung erhalten, als ungesetzlich und als Eingriff in die Anordnung des Ministers des Innem. Eine Infonnation durch den Stadtbezirksarzt BerlinFriedrichshain, Dr. P., bestätigte die generelle Orientierung.,,79 Bei Ablehnung der Reiseerlaubnis aus Sicherheitsgründen nutzten Bürger die Eingabe als Instrument, um auf diesem Wege nähere Erläuterungen zu verlangen. Häufig wurde argumentiert, daß weder der Antragsteller noch Familienangehörige sich in irgendeiner Weise etwas zuschulden hatten 75 Vertraulicher Vennerk über Eingaben zu Reiseverkehrsfragen des Vorsitzenden des Ausschusses für Eingaben der Bevölkerung der Volkskammer an den Sekretär des Staatsrats, Lehmann, vom 26.10.1972. 76 Vennerk über Eingaben zu Reisefragen, wie vorangehende Anm. 77 Vennerk über Eingaben zu Reisefragen, ebenda. 78 Vertraulicher Vennerk über Eingaben zu Reiseverkehrsfragen, verlaßt vom Sekretär des Staatsrates, Heinz Eichler, vom 26.10.1972; in: Infonnationen aus den Abteilungen/Abteilung Eingaben, BArch (Staatsrat) DA 5 Nr. 9013. 79 Vennerk über Eingaben zu Reisefragen, wie vorangehende Anm.

3. Abschn.: Zur Praxis des Eingabenwesens

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kommen lassen bzw. in irgendwelchen staatlichen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Funktionen tätig seien, und regten eine erneute Einzelfallprüfung an. 80 Darüber hinaus fanden in den Eingaben grundsätzliche Erwartungen der Bürger an die Politik der SED ihren Ausdruck: "Auf Grund der Erleichterungen im Reiseverkehr wird im Zusammenhang mit dem Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der BRD und der DDR erwartet, daß nunmehr auch Genehmigungen für eine Übersiedlung in die BRD gegeben werden. Es werden auch günstigere Bedingungen für Eheschließungen mit BRD-Bürgern und anschließender Übersiedlung in die BRD davon abgeleitet. ..81

Der Umgang mit dem westlichen Teilstaat und dessen propagandistische Auswertung spiegelte sich auch in den Eingaben wider, die Zuschauerreaktionen auf Sendungen des Staatsfernsehens zum Inhalt hatten oder Presseverlautbarungen kommentierten. Hier zeigten die Eingaben, daß eine von der Staatsleitung verfolgte Strategie zur Desavouierung des westlichen "Klassenfeindes" auch einmal den gegenteiligen Effekt haben konnte oder Begehrlichkeiten legitimierte, welche die DDR zu erfüllen keineswegs in der Lage war. Solche Eingaben aktualisierten und konkretisierten den Systemwettbewerb im Bewußtsein der Staats- und Parteiführung, orientierten sie auf die drängendsten Probleme und wiesen den Weg für die zukünftige deutschlandpolitische Propaganda. Vor diesem Hintergrund nahmen Stellungnahmen von Bürgern zu Fernsehberichten im Einzelfall ihren Weg bis hinauf in den Staatsrat, wie dies beispielsweise nach Ausstrahlung der beiden Sendungen "Wie ein Mensch leben", Reportage über Gastarbeiter in der BRD, und "Die Kinder der Herbertzstraße - Reportage aus den Obdachlosenghettos in Krefeld, BRD" geschah. 82 Auszugsweise berichtete der Eingabenausschuß der Volkskammer über die nach der Ausstrahlung eingegangenen Eingaben der Bevölkerung, die teilweise in scharfen Formulierungen Vergleiche mit ihren eigenen sehr beengten oder schlechten Wohnverhältnissen anstellten: "Das junge Ehepaar G. aus Zeitz, Floßgrabenstraße I, bewohnt zur Zeit noch ein Zimmer in der Wohnung der Eltern. Ein Kind wird erwartet. Beide Ehepartner arbeiten im VEB Z.: ,Am 12.12.1973 sah ich im Fernsehen die Sendung über Gastarbeiter in Westdeutschland und deren Wohnverhältnisse. Mein; Mann und ich, wir sind in Zeitz keine Gastarbeiter, wohnen jedoch nicht besser als diese. Ich bin der Meinung, daß man nicht nur immer die Fehler bzw. die Mißstände von andeVermerk über Eingaben zu Reisefragen, wie Anm. 78. Vermerk über Eingaben zu Reisefragen, ebenda. 82 Informationen über Wohnungseingaben, die im Ergebnis von Fernsehsendungen eingingen, Bericht des Vorsitzenden des Eingabenausschusses der Volkskammer, Lehmann, an den Sekretär des Staatsrates, Eichler, BArch (Staatsrat) DA 5 Nr.9013. 80 81

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht ren aufzeigen sollte, sondern daß man auch im eigenen Haus solche sehen und beseitigen sollte. Vielleicht sind solche Mißstände bei Ihnen gar nicht bekannt, jedoch wäre es dann an der Zeit, Ihnen diese einmal zu schildern.'

(... ) Das junge Ehepaar K. aus Tschernitz, das in 2 getrennt liegenden Zimmern in einer Dachwohnung wohnt, schreibt: ,Bekommen nur Mitglieder der Partei die Neubauwohnungen, und können sich die Parteilosen mit den übrigen begnügen? Was der VIII. Parteitag beschloß bessere Arbeits- und Lebensbedingungen für die Bevölkerung der DDR - gilt doch sicherlich nicht nur für Genossen. Wir haben im Fernsehen die Dokumentation über die Unterbringung der Fremdarbeiter in der BRD gesehen. Wenn sich jemand unsere Zimmer ansehen kommt, dann sehen sie nur die Möbel, doch die Verhältnisse ringsum sieht niemand, und die sind auch nicht viel besser als die der Fremdarbeiter in der BRD. '"

cc) Handel und Versorgung Auch der zahlenmäßig drittstärkste inhaltliche Schwerpunkt des Eingabenwesens - das Gebiet des Handels und der Versorgung - wurde in den Eingaben aus der Perspektive des Systemwettbewerbs beurteilt. "Die Eingaben auf dem Gebiet des Handels und der Versorgung", so hieß es in einem Eingabenbericht des Zentralkomitees, "enthalten viele berechtigte Beschwerden, die außerordentlich die Belange der Bevölkerung berühren und die vom Gegner stark ausgenutzt werden. ,,83 Auch hier begegnete die Staatsleitung den durch die Eingaben zutage tretenden Mißständen also zumindest in der offiziellen Sprachregelung - mit einer schrägen Sicht auf tatsächlich vorhandene Probleme: Distanz zum System wurde nicht als eigenverantwortliche Abwendung infolge realer Mißstände anerkannt, sondern als Ergebnis von Täuschung und Verführung durch den (westlichen) Klassenfeind. Dies wird gerade im sensiblen Versorgungsbereich besonders deutlich. Lange Wartezeiten beim Kauf von Autos, Fernsehgeräten und anderen hochwertigen Industriewaren, schlechte Qualität der gelieferten Industriewaren und bestehende Ersatzteilschwierigkeiten ließen an der Überlegenheit des sozialistischen Systems Zweifel aufkommen und führten zur Frustration in der Bevölkerung. Auch bei - für sich genommen - regelrechten Kleinigkeiten löste das durch das Eingabenwesen vermittelte Bild bei der Führung von Staat und Partei eine Bewertung aus, die von einer gewissen Hilflosigkeit geprägt war:

83 Bericht über den Stand der Entwicklung der Eingaben und der Mitarbeit der Bevölkerung an der Lenkung und Leitung des Staates, ohne Datumsangabe (vermutlich 1960) in: Analyse der Entwicklung der Eingaben und der Mitarbeit der Bevölkerung an der Lenkung und Leitung des Staates 1955-1960, SAPMO BArch (ZK der SED) DY 30 IV 2/13 Nr. 94 (FBS 178/8779), S. 9, BI. 65.

3. Abschn.: Zur Praxis des Eingabenwesens

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"Bei den 45-Liter-Kühlschränken aus dem VEB Scharfenstein bzw. Chema Rudisleben fallen z. B. die Kühlaggregate oft bereits nach kurzem Gebrauch aus. Eine Reparatur dauert jedoch Monate, zum Teil bis zu zwei Jahren. Zur Zeit stehen ca. 9.000 Kühlschränke in den Vertrags werkstätten. Eine ähnliche Situation besteht bei Fernsehgeräten. Hier verzögern sich die Reparaturen beim Ausfall der Röhren PL 81 und PGL 82 oftmals um mehrere Monate. Das führt dazu, daß eine Reihe Bürger der DDR sich in Westberlin unter Benutzung des Schwindelkurses die betreffenden Röhren beschaffen. ,,84 Auch der Bereich des Handels war nicht frei von Koordinierungsproblemen und Reibungsverlusten. Auffällig ist, daß Eingaben in diesem Gebiet oftmals genutzt wurden, um durch Beschwerde an die Staatsspitze Fragen zu klären, die eigentlich zivilrechtlicher Natur waren. Es mag bezweifelt werden, daß dieser umständliche Weg langfristig geeignet war, das komplexe System einer entwickelten Industriegesellschaft effizient zu regulieren, im Einzelfall erwies er sich indes als durchaus tauglich, (Rechts-) Streitigkeiten zwischen einzelnen Staatsbetrieben gewissermaßen per "Machtspruch" der Staatsspitze beizulegen. So scheint es durchaus nicht ungewöhnlich gewesen zu sein, den Staatsratsvorsitzenden per Eingabe in gewöhnliche Handelsstreitigkeiten einzubeziehen. Hierzu verzeichnet der Bericht folgendes Beispiel: "Die (... ) Schwierigkeiten in der Versorgung, die im wesentlichen auf die nicht ausreichende Produktion in der Industrie und Landwirtschaft zurückzuführen sind, werden noch durch erhebliche Mängel in der Arbeit des Handels verstärkt. Die LPG ,Neues Deutschland' in Serbitz, Kreis Bernburg wandte sich z.B. an den Vorsitzenden des Staatsrates, weil die Großhandelsgesellschaft in Bernburg die Abnahme von 3.000 Doppelzentnern unsortierter Zwiebeln verweigerte. Die Großhandelsgesellschaft bestand entsprechend den Abnahmebestimmungen auf der Sortierung dieser Zwiebeln, obwohl die LPG nachwies, daß alle Genossenschaftsmitglieder bei der Hackfruchternte eingesetzt sind. Erst nach Einschaltung des Ministeriums für Handel und Versorgung auf Veranlassung unserer Hauptabteilung Bevölkerungsfragen wurden diese Zwiebeln, bei denen bereits ein erheblicher Verlust zu verzeichnen war, abgenommen. Der LPG wäre bei einer weiteren Verzögerung der Abnahme der Zwiebeln ein Verlust von ca. 100.000 DM entstanden. ,,85 b) Eingaben mit überwiegend gesamtgesellschaftlichem ("kollektivistischem") Charakter Als "positivster" Teil der Beschwerden wurden die dem Staatsrat übermittelten Eingaben aus dem Bereich Industrie und Landwirtschaft, die einen Gesamtanteil von etwa 10% ausmachten, gekennzeichnet. 86 Teilweise 84 Bericht über den Stand der Entwicklung der Eingaben, wie vorangehende Anmerkung, S. 10, Bi. 66. 85 Bericht über den Stand ... , ebenda.

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

handelte es sich hierbei um Verbesserungsvorschläge technischen oder ökonomischen Inhalts im Rahmen der sogenannten "Neuererbewegung". Das Eingabenwesen diente hier als Detektor für noch nicht erschlossene wirtschaftliche Potentiale und Ressourcen. "Neuerervorschläge" und Verbesserungsvorschläge zu ökonomischen Fragen wurden zum Idealbild des Eingabenwesens stilisiert, teilweise indem der volkswirtschaftliche Nutzen, welcher durch Rationalisierungsmaßnahmen aufgrund von Eingaben erzielt werden konnte, in Mark ausgewiesen wurde. So hieß es beispielsweise in einem Bericht des Rats des Bezirks Potsdam über die Durchführung des Eingabenerlasses für den Berichtszeitraum 1967: "Vom 1.1. bis 30.9.1967 wurden von den Werktätigen der bezirksgeleiteten Industrie 1.486 Neuerervorschläge mit einem ökonomischen Nutzen von 3,3 Mio. MDN gemacht. Die Bauschaffenden unseres Bezirkes unterbreiteten in der gleichen Zeit insgesamt 524 Verbesserungsvorschläge mit einem ökonomischen Nutzen von 3,5 Mio. MDN.,,87

Noch positiver wurden solche Eingaben aufgenommen, die eine Selbstverpflichtung zum Inhalt hatten. Diese, häufig von einer politisch besonders zuverlässigen "Arbeiterelite" - den sog. "Aktivisten" - übermittelten Eingaben bestätigten einerseits den Kurs der Regierung und hatten andererseits einen - quantifizierbaren - volkswirtschaftlichen Nutzen. Im Staatsratsbericht heißt es dazu: "Der Inhalt dieser Eingaben (aus dem Bereich Industrie und Landwirtschaft, d. Verf. dieser Arbeit) muß im Zusammenhang mit den zahlreichen Briefen und Telegrammen gesehen werden, die anläßlich der Bildung des Staatsrates sowie der Programmatischen Erklärung eingingen. Diese Briefe und Telegramme enthalten viele hervorragende Verpflichtungen. So verpflichtete sich z. B. die Belegschaft des VEB Braunkohlenwerk Franz Mehring - Werke I und 11 - anläßlich der Programmatischen Erklärung, bis zum 31.12.1960 14.505 Tonnen Briketts über den Plan zu produzieren. Die Eingaben zu Problemen der Industrie und Landwirtschaft sowie die Zuschriften anläßlich besonderer Ereignisse sind der Teil der Post, dessen Auswertung für die Beschleunigung unserer gesellschaftlichen Entwicklung von besonderer Bedeutung ist. ,,88

Auch auf Kreis- und Bezirksebene ging eine Anzahl derartiger Eingaben mit "gesamtgesellschaftlichem Charakter" ein, in denen sich Bürger (erwünschter noch: Kollektive), oft unter Berufung auf die Ulbrichtsche Losung "Leite mit, plane mit, regiere mit", an die zuständige Stelle der Staats- bzw. Wirtschaftsverwaltung wandten, um auf ein Problem aufmerk86 Bericht über den Stand ... , S. 11, BI. 67. 87 Bericht des Rates des Bezirkes Potsdam über die Durchführung des Eingabenerlasses für die Zeit vom 1.1.-30.9.1967 vom 13.11.1967, Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Bezirkstag und Rat des Bezirks Potsdarn, Nr. 12803. 88 Bericht über den Stand ... , S. 13, BI. 69.

3. Abschn.: Zur Praxis des Eingabenwesens

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sam zu machen oder eine Verbesserung anzuregen, und gleichzeitig auch noch die Mittel zur Problemlösung (einschließlich der eigenen Arbeitskraft) anboten. Derartige Vorstöße kamen in der Geschichte der DDR immer wieder vor und wurden entsprechend propagandistisch ausgewertet. Freilich war der Inhalt dieser Eingaben nicht immer so spektakulär wie im Falle der nachfolgend vollständig wiedergegebenen geradezu idealtypischen kollektivistischen Eingabe von Arbeitern aus dem Stahl- und Walzwerk Brandenburg 89 : Brandenburg, den 27. Okt. 1974

"Kumpel aus dem Stahl- und Walzwerk Brandenburg Werk I AufrufNr.l

Wir 6 Brandenburger Stahlwerker rufen die Reichsbahndirektion Magdeburg auf, unserer Stadt die Projektierungsunterlagen, für die seit 22 Jahren nicht fertiggestellte Streckenführung Altstadt Bahnhof - Hauptbahnhof Brandenburg mit Überführung über die Wilhelmsdorfer Straße, kurzfristig zu übergeben. Endtermin für die Übergabe soll der 30. November 1974 sein. Wir Stahlwerker haben der Republik versprochen, in diesem Jahr 2 Mio. t Rohstahl und 1 Mio. t Walzstahl zu liefern. Mit unserem Gegenplan schufen wir die Grundlage dafür, daß wir die dort fehlende Eisenbahnbrücke stahlseitig und außerplanmäßig zur Verfügung stellen können. Durch unseren Elan setzten wir für die Republik neue Maßstäbe und Voraussetzungen. Wir erwarten darum von Euch Magdeburger Eisenbahnern, durch Subbotniks und Initiativschichten bis zum 30.11.74 unserem Oberbürgermeister die geforderten Unterlagen zu übergeben. Wir sehen ein, daß Ihr durch den Ausbau Eurer Haupttrassen im RBD-Bereich Magdeburg sehr gebunden seid, andererseits wollen wir aber in unserer Stadt mithelfen, innerstädtische Verkehrsmiseren abzubauen, und kommen Euch durch die Bauübernahme dieser Trasse durch unsere Stadt entgegen. Die Fertigstellung dieser Trasse soll unter Eurer Aufsicht in kooperativer Arbeit fast aller Brandenburger Betriebe fertiggestellt werden und zwar unter Einhaltung der Planerfüllung jedes Betriebes. Unser Kampftermin ist der 30. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus und Betriebsübergabe an die RBD Magdeburg. Es ist daher notwendig, daß in den nächsten 14 Tagen ein Termin zu einer Vorbesprechung festgelegt wird zwischen der RBD Magdeburg, dem Rat der Stadt Brandenburg und uns, im Hause des Rates der Stadt. Hauptthemen werden sein: Detailfragen zum Bau der Trasse durch die Kumpel der Betriebe unserer Stadt; rationellster Einsatz der modernsten Technik der Betriebe unserer Stadt sowie unserer Kumpel; Beseitigung aller überflüssigen Bürokratie; Kernthema nach dem Motto: Mit jeder Mark, jeder Stunde Arbeitszeit zum größtmöglichen Nutzeffekt der Deutschen Demokratischen Republik. 89 Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Bezirkstag und Rat des Bezirks Potsdam, Eingaben 1973-1974 (Nr. 8515).

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

Wir erwarten Euren Termin zu dieser Besprechung per Adresse Rat der Stadt Brandenburg, Oberbürgenneister, wir werden von ihm benachrichtigt. Die 6 Kumpel aus den Stahl- und Walzwerk Brandenburg: Für die Göttiner Vorstadt:

Für die Wilhelmsdorfer Vorstadt:

Koll. D., l. Schmelzer, Ofen V Schicht III aus PS 10.2

Koll. G., Hochdruckkesselmaschinist Schicht III aus TE 2

Gen. K., Rohrleger, Schicht III aus TE 5

Koll. M., Kranfahrer u. Flämmer, Nonnalschicht aus PW 10.1

Koll. S., Kranfahrer, Schicht III aus PS 10

Gen. R., Heizölschlosser, Schicht II aus TE I"

Mit einem Schreiben gleichen Datums wandte sich das Arbeiterkollektiv an das Mitglied des Zentralkomitees der SED, Friedrich Ebert90 : "VEB Stahl und Walzwerk Brandenburg

Brandenburg, den 27. Okt. 1974

Werter Gen./Koll. Friedrich Ebert! Auf Grund der gemeinsam ausgewerteten Eingabe unseres Kollegen G., vom l. März 1974, an den Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirks Potsdam, Dr. L., Abteilungsleiter Verkehr, Straßenwesen u. Wasserwirtschaft, haben wir, die Unterzeichneten des Aufrufs, uns entschlossen, diesen Aufruf Nr. I zu starten. Diesem Aufruf werden noch mehrere folgen, um zwei wesentliche Be90 Friedrich Ebert wurde am 12.9.1894 als Sohn des späteren ersten deutschen Reichspräsidenten Friedrich Ebert in Bremen geboren. (Nur am Rande sei die Tatsache erwähnt, daß der offizielle Jubiläumsband "Der Staatsrat der Deutschen Demokratischen Republik 1960-1970 - Dokumentation" die Abstammung von dem berühmten Sozialdemokraten verschweigt, obwohl er bei den Kurzbiographien aller anderen Staatsratsmitglieder jeweils den Beruf der Eltern verzeichnet.) Ebert besuchte die Volks- und Mittelschule und absolvierte anschließend eine vierjährige Lehre als Buchdrucker. 1910 wurde er Mitglied der Sozialistischen Arbeiterjugend, 1913 der SPD und des Verbandes Deutscher Buchdrucker. 1915 bis 1918 leistete er Kriegsdienst. 1919 bis 1925 war Ebert als Redakteur beim "Vorwärts" und als Mitarbeiter beim "Sozialdemokratischen Pressedienst" tätig. Ab 1925 übernahm er die Chefredaktion der "Brandenburgischen Zeitung" und übte verschiedene Funktionen im SPD-Bezirk Brandenburg aus. 1927 bis 1933 war er Stadtverordnetenvorsteher in Brandenburg und 1928 bis 1933 Mitglied des Reichstags. 1933 befand er sich acht Monate in verschiedenen KZ und stand bis 1945 unter Polizeiaufsicht. 1939 wurde er zum Wehrdienst einberufen und arbeitete nach seiner Entlassung 1940 im Reichsverlagsamt. 1945/46 war Ebert Landesvorsitzender der SPD Brandenburg, ab April 1946 einer der bei den Landesvorsitzenden der SED in Brandenburg und Präsident des Landtags. Ab 1946 gehörte Ebert ununterbrochen dem Parteivorstand bzw. dem ZK sowie dem Sekretariat bzw. dem Politbüro der SED an. 1948 bis 1967 bekleidete er das Amt des Oberbürgenneisters von Berlin, gehörte 1948 dem Deutschen Volksrat, 1949 der Provisorischen Volkskammer und danach der Volkskammer und ihrem Präsidium an. (Gabriele Baumgartner u. Dieter Hebig, Biographisches Handbuch der SBZIDDR 1945-1990, Band I, S 1420.

3. Abschn.: Zur Praxis des Eingabenwesens

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schlüsse des VIII. Parteitages in unserer Stadt im überplanmäßigen und überbetrieblichen Arbeitsprozeß zu realisieren. Diese Beschlüsse sind: Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen (Wegfall langer Wartezeiten der Stadt- und Landbevölkerung an 2 Schranken in unserer Stadt) und Aufhebung niveaugleicher Straßenübergänge in großen Städten. Des weitem liegt dem Aufruf zu Grunde das gemeinsam ausgewertete Protokoll vom 24. Mai 1974 betreffs der Aussprache über die oben genannte Eingabe durch die Kollegen - Q., Rat des Bezirkes Potsdam, Abt. Verkehrs- und Straßenwesen, - H., Büro für Verkehrsplanung, Potsdam - P., Rat der Stadt Brandenburg, Abteilungsleiter Verkehr, Straßenwesen, Wasserwirtschaft, - G., Stahl- und Walzwerk Brandenburg, worin festgelegt wurde, daß zu Punkt 17 dieser Eingabe der Rat des Bezirkes Abt. Verkehr und Straßenwesen hierzu seine Unterstützung geben wird. Die Durchschrift dieser Eingabe wurde Dir als ehemaligem Funktionär dieser Stadt zum selbigen obigen Termin übergeben. Mit der Bauübernahme dieses fast fertigen Objekts durch die Kumpels unserer Stadt wollen wir nicht nur eine Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen unserer Mitbürger erreichen, sondern tragen auch zur Verbesserung des Stadtbildes bei. Wir haben uns diesen kurzen Termin gestellt, um zu beweisen, daß wir die Stadt der Aktivisten sind, und wollen bei Erreichung dieses Zieles eine Namensänderung erreichen - Aktivistenstadt Brandenburg Mit sozialistischem Gruß Die unterzeichneten Kumpel aus dem Stahlund Walzwerk Brandenburg"

In einer Hausmitteilung vom 26.11.1974 forderte der Vorsitzende des Rats des Bezirks Potsdarn den Abteilungsleiter für Verkehr, Straßenwesen und Wasserwirtschaft auf, das Schreiben "als Eingabe zu behandeln und die Punkte zu konzipieren, die zur Klärung notwendig sind". Offenbar erschien den örtlichen Funktionären der in der Eingabe zum Ausdruck kommende Tatendrang selbst etwas verdächtig, so daß zunächst die örtliche Abteilung der Staatssicherheit mit der Überprüfung beauftragt wurde. Diese äußerte sich in ihrer Antwort an den Vorsitzenden des Rats des Bezirks wie folgt: "Eingeleitete Überprüfungsmaßnahmen zum Inhalt und zu den Verfassern o.g. Eingabe ergaben, daß diese nicht in negativer Absicht gehandelt haben. Entsprechend der geschilderten Sachlage ging es ihnen ausschließlich um eine schnelle und unbürokratische Lösung der genannten Fragen und damit um eine weitere Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen. Seit März 1974 gibt es zu diesem Problem wiederholte Eingaben und Beschwerden der Bevölkerung über unzumutbare Wartezeiten an der Eisenbahntrasse Brandenburg-Hauptbahnhof - Brandenburg-Altstadt. Diese Eingaben und Beschwerden sind als begründet einzuschätzen. Durch die häufig geschlossene Schranke an der GöUiner Landstraße entstehen unzumutbar lange Anfahrtszeiten zum und vom Stahl- und Walzwerk Brandenburg und zu anderen Betrieben und Einrichtungen sowie in die entsprechenden Wohngebiete.

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

Bei den Verfassern der Eingabe handelt es sich um fortschrittlich eingestellte Personen, die in ihren Arbeitskollektiven zum positiven Kern gehören und sich durch gesellschaftlich engagiertes Verhalten und Arbeiten im Betrieb und Freizeitbereich auszeichnen."

Die Eingabe löste - im Rahmen der planwirtschaftlichen Grenzen - einen umfassenden Planungsprozeß aus, wie das Schreiben des Abteilungsleiters für Verkehr und Nachrichtenwesen an den Vorsitzenden des Rats des Bezirks Potsdam vom 10.12.1974 dokumentiert: "Werter Kollege E.! Zu dem mir übermittelten Aufruf von 6 Kumpeln aus dem Stahl- und Walzwerk Brandenburg an die Reichsbahndirektion Magdeburg, die Verbindungskurve der Eisenbahn von der Altstadt Brandenburg nach dem Hauptbahnhof einschließlich Überführung der Wilhelmsdorfer Str. mit einer Stahlbrücke im nächsten Fünfjahrplan mit Unterstützung der Brandenburger Stahlwerker zu bauen, teile ich mit: 1. Am 24. September hat der Oberbürgermeister dem Präsidenten der Reichsbahn-

direktion Magdeburg ein Angebot unterbreitet, durch Leistungen des Territoriums das Vorhaben (insgesamt ca. 3,5-4 Mio. M) weitgehend zu unterstützen. 2. Eine erste Konsultation von Vertretern der Reichsbahndirektion Magdeburg bei der Kreisleitung und dem zuständigen Stadtrat für Verkehr ergab die Forderung der Reichsbahndirektion, für die folgenden Leistungen die angebotenen Kapazitäten durch den Rat der Stadt zu benennen: (Es folgen Angaben zum Auftragsvolumen und den zu beteiligenden Volkseigenen Betrieben, der Verfasser dieser Arbeit.) 4. Daraus ergibt sich: - die Vorbereitungen für das Projekt Gleisbogen Altstadt - Hauptbahnhof sollten weitergeführt werden, - die Entscheidung über die Realisierung kann nur im Zusammenhang mit dem Planentwurf 1976-1980 gefällt werden, in dem über die Rang- und Reihenfolge aller notwendigen Vorhaben entschieden wird."

Mit Schreiben vom 10.3.1975 teilte der Abteilungsleiter für Verkehrsund Nachrichtenwesen dem Vorsitzenden des Rats des Bezirks den vorläufigen Abschluß des Eingabenvorgangs mit: ,,zu dem Aufruf der 6 Kumpel aus dem Stahl- und Walzwerk Brandenburg fand am 18.2.1975 eine weitere Beratung zur Absicherung der Projektierung und der Baukapazitäten statt. Folgende Festlegungen wurden getroffen: 1. Baugrunduntersuchung bis zum 30.6. 1975 durch den Rat der Stadt Brandenburg. 2. Erarbeitung der GE in Ausführungsreife bis 30.6.1976 durch Reichsbahndirektion Magdeburg. 3. Baubeginn 1976, Bauende 1977. Wertumfang 4,2 Mio. M.

3. Abschn.: Zur Praxis des Eingabenwesens

297

Die erforderlichen Kapazitäten sollen durch örtliche Reserven und Initiativmaßnahmen abgesichert werden. Das Festlegungsprotokoll ist angefordert und wird Ihnen zur Kenntnisnahme vorgelegt."

Entgegen aller offiziellen Beteuerungen blieben derartige Selbstverpflichtungen exotische Ausnahmen. 2. Eingaben als Instrument der Justizkontrolle Auf vielfältige Weise wurde dem Eingabenwesen auch die Aufgabe zuteil, die Kontrolle über die Tätigkeit der Justizorgane zu gewährleisten. Unabhängig von dem jeweils mit der Eingabe betrauten Justizorgan diente stets die Einhaltung der grundlegenden Prinzipien der sozialistischen Gesetzlichkeit als Überprüfungsmaßstab. Somit hatte auch der Eingabenverfasser zu bedenken, daß die Hauptfunktion der DDR-Justiz in der Sicherung der "revolutionären sozialistischen Errungenschaften" bestand und dem Einzelkonflikt nur insoweit Bedeutung zugemessen wurde, als er sich "zum Hebel der Lösung des gesellschaftlichen Widerspruchs machen (ließ), der ihn hervorgerufen hatte" - wie es Hilde Benjamin formulierte. "Konfliktentscheidung, Individualrechtsschutz und Interessenausgleich, Gleichbehandlung der Rechtsunterworfenen und Rechtssicherheit galten nicht mehr als primäre Rechtsprechungsaufgaben", konstatierte Herwig Roggemann. 91 a) Eingaben an das Oberste Gericht (OG)

Bei der Analyse der Eingaben im Bereich der Justiz wurde ebenso wie in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen ein Verfahren zu Verdichtung der gewonnenen statistischen Informationen gewählt. Oberstes Gericht und Generalstaatsanwaltschaft faßten die aus den Analysen der ihnen jeweils unterstellten Behörden gewonnenen Daten zusammen und stellten sie anderen obersten Staatsorganen (z. B. dem Ministerrat) zur Auswertung zur Verfügung. Nicht aus der gesamten Bestehenszeit der DDR sind die Eingabenanalysen der Justizorgane überliefert. Auch variieren die Berichte hinsichtlich Art und Umfang der Darstellung, so daß sich eine Verlaufs darstellung schwierig gestalten würde. Da Berichte jüngeren Datums in der Regel ausführlicher und anschaulicher formuliert sind, wird im nachfolgenden vorwiegend auf solche aus der Endphase der DDR (1980-1989) zurückgegriffen.

91 Herwig Roggemann (Hrsg.), Das Havemann-Verfahren - Das Urteil des Landgerichts Frankfurt (Oder) und die Gutachten der Sachverständigen Prof. H. Roggemann und Prof. H. Rottleuthner, S. 227 ff.

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

Für das Jahr 1982 wies der "Bericht des Obersten Gerichts über die Eingaben der Bürger" ein Gesamtaufkommen von 4.615 Eingaben aus. 92 Die Mehrzahl hiervon (3.339 Eingaben) waren gegen rechtskräftige Entscheidungen der Instanzgerichte gerichtet. 93 Von diesen sog. Kassationsanregungen entfielen nach Rechtszweigen auf Strafsachen 1251, auf Zivilsachen 987, auf Familienrechtssachen 808 und auf Arbeitsrechtssachen 293 Eingaben. Die Kassation, welche bereits zu Zeiten der SBZ auf Länderebene eingeführt wurde, diente der Nachprüfung und Korrektur bereits rechtskräftiger Gerichtsentscheidungen. Auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft beziehungsweise des Präsidenten des Obersten Gerichts war jegliche Gerichtsentscheidung überprüfbar, vorausgesetzt, es bestand die Vermutung, daß ein Instanzgericht bei seiner Entscheidung das Recht verletzt hatte. Funktional betrachtet, wirkte das Kontrollinstrument der Kassation "ambivalent, teils im Sinne einer Rechtsfehlerkontrolle, teils auch als politisches Steuerungsmittel,,94. Als politisches Steuerungsinstrument erlaubte die Kassation das Wiederaufrollen eines abgeschlossenen Verfahrens aus übergeordneten politischen Gründen. Zur Kassation befugt waren der Generalstaatsanwalt sowie das Oberste Gericht. Lehnten diese die Kassation ab, konnte die Partei spitze das entscheidende Gericht dennoch zur Überprüfung der Entscheidung zwingen, wie ein früher Quartalsbericht über die Beschwerdeanalyse des Sektors Justiz beim Zentralkomitee der SED im Hinblick auf ein Strafverfahren belegt: "Eine der wichtigsten Beschwerden im ersten Halbjahr [?] (letztes Wort im Original mit einem Fragezeichen versehen, da vermutlich das Quartal gemeint ist, der Verfasser dieser Arbeit) 1957 ist die Eingabe des Genossen Ing. E. vom VEB Görlitzer Maschinenbau in der Strafsache des Ingenieurs G. und des Kontrollleiters R. Dieser Strafsache liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Vom VEB Görlitzer Maschinenbau wurde Anfang 1955 in Hirschfelde die 50.000-kW-Turbine aufgestellt (die größte der Republik). Am 24.3.1955 entstand im Kraftwerk Hirschfelde während des Probelaufes ein großer Schaden infolge Versagens einer Ermeto-Rohrverschraubung. In der Hauptverhandlung wurde festgestellt, daß die Montagearbeiten richtig ausgeführt wurden. Nicht geklärt werden konnte jedoch die Ursache, warum trotz des richtigen Einbaues die Ermeto-Rohrverschraubung ins Rutschen kam und damit den Schaden verursachte. Trotzdem wurde G. als Leiter der Montagearbeiten zu zwei Jahren Gefängnis und R. als Leiter der Gütekontrolle zu 1 Jahr 6 Monaten Gefängnis verurteilt. 92 Bericht des Obersten Gerichts über die Bearbeitung von Eingaben im Jahre 1982, Anlage 5 zum "Beschluß zur Auswertung der Festlegungen auf der Sitzung des Staatsrates der DDR vom 25. April 1983", 52. Sitzung des Ministerrates vom 12. Mai 1983, BArch DC 20 1/3 Nr. 193211, BI. 273-285 (273). 93 Bericht des Obersten Gerichts ... , wie vorangehende Anm. 94 Roggemann, wie Anm. 91.

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Dieses Urteil hat sich unter der technischen Intelligenz im gesamten Turbinenbau so ausgewirkt, daß die Verantwortlichkeit für die einfachsten Dinge abgelehnt wird, wenn sie nicht hundertprozentig den Normen entsprechen. Dadurch kommt viel Material auf den Schutthaufen, was bisher verarbeitet wurde. Aus diesem Grunde hat sich der Genosse R. an uns gewandt, nachdem der Generalstaatsanwalt seine Ersuchen auf Überprüfung abgelehnt hat. Wir haben die Angelegenheit überprüft und festgestellt, daß eine Bestrafung nicht erfolgen durfte, weil keine strafbare Handlung vorlag. Nunmehr wird das Verfahren zum Zwecke der Berichtigung vor dem Bezirksgericht Dresden noch einmal aufgenommen ...95

Als Instrument der Rechtsfehlerkontrolle kompensierte die Kassation das Fehlen des bereits 1952 abgeschafften Rechtsmittels der Revision, unterschied sich hiervon aber insofern, als sie der Disposition der Parteien entzogen war. 96 Allenfalls stand es dem sich durch eine gerichtliche Entscheidung benachteiligt wähnenden Bürger frei, die Kassation anzuregen. Dies geschah im Wege der Eingabe. Die Handhabung der Kassationsanregung in der Praxis näherte diese dem offiziell abgeschafften Rechtsmittel wieder an. Sie stellte demnach mehr als ein schlichtes Gnadengesuch des Verurteilten dar und stand auch dem Rechtsanwalt im üblichen Verfahren zu Gebote. Die Ausweitung des amegungsberechtigten Kreises deutet jedoch konzep· tionell auf den gleichen Ansatz hin, welcher bereits das Eingabenwesen im Bereich der Verwaltung wesentlich prägte. Essentiell war demnach, daß die Staatsorgane nur nach eigenem Ermessen tätig wurden. Da insofern ohnehin kein Anspruch auf eine bestimmte Entscheidung bestand, war es auch vollkommen irrelevant, von welcher Seite die Informationen kamen, welche die Grundlage der Ermessensausübung bildeten. Ob vom Betroffenen, von dessen Rechtsanwalt, von einem Kollektiv oder einem völlig außen Stehenden, spielte keine Rolle. Wie die Verwaltung war auch die Justiz "blind" gegenüber demjenigen, der ihr die Entscheidungsgrundlage für die von ihr zu beschließenden Maßnahmen übermittelte, und leugnete somit die Position des subjektiven Rechtsschutzes. aa) Strafrecht Der Eingabenbericht des Obersten Gerichts weist für das Jahr 1982 aus, daß zwar überwiegend, aber durchaus nicht ausschließlich, die Verurteilten zum Mittel der Kassationsamegung griffen. Neben 772 Verurteilten (61,7%) regten 15 Kollektive (1,2%), 184 Geschädigte, Familienangehörige und sonstige (14,7 %) sowie 280 Rechtsanwälte (22,4 %) ein Kassationsver· 95 Analyse der beim Sektor Justiz des Zentralkomitee der SED eingegangenen Beschwerden im 2. Quartal 1957, SAPMO BArch DY 30 IVI2113/94, BI. 42 f. % Roggemann, wie Anm. 91.

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

fahren an. Die in den Eingaben angesprochenen Hauptanliegen bezogen sich auf alle für die strafrechtliche Beurteilung relevanten Fragen: 49,2 % der Eingaben betrafen die Aufklärung des Tatgeschehens, 36,7% die rechtliche Beurteilung, 58,2 % die Strafzumessung und 10,5 % Fragen der Prozeßführung. Die Erfolgsquote solcher Kassationsanregungen war zwar gering, aber nicht unbedeutend: Sie lag im Berichtsjahr 1982 bei 4,8% (im Vorjahr bei 6 %). Soweit Mängel bei der Überprüfung festgestellt wurden, die jedoch eine Kassation nicht begründeten, wurden zum Teil andere Maßnahmen (wie z. B. Strafaussetzung auf Bewährung) veranlaßt. Teilweise kam es auch vor, daß eine allzu strenge Rechtsanwendung durch die Gerichte korrigiert wurde. Der Eingabenbericht des OG für das Jahr 1982 nennt dafür ein Beispiel aus dem Bereich der Eingaben gegen die Verurteilung wegen Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, welche im Berichtsjahr 9,8 % ausmachten97 : "Die erlassenen Standpunkte der zentralen Justiz- und Sicherheitsorgane zur Bekämpfung der Asozialität und zur differenzierten Anwendung von Kontrollmaßnahmen haben sich als Orientierung in der Praxis der Gerichte bewährt. In einigen Fällen stellten die Gerichte zu geringe Anforderungen an das Vorliegen der Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, so daß bereits Erscheinungen von Arbeitsbummelei ohne wesentliche negative Auswirkungen zu strafrechtlichen Konsequenzen führten. In zwei Fällen mußten deshalb die Angeklagten freigesprochen werden. Die Gerichte wurden durch Kassationsurteile angeleitet, daß kriminelle Asozialität nur dann vorliegt, wenn die Täter eine ausgeprägte und verhärtete negative Haltung zu ihren gesellschaftlichen Pflichten gezeigt haben und durch ihr Handeln die öffentliche Ordnung und Sicherheit spürbar und nachweisbar beeinträchtigt wurde. Auch mußte Überspitzungen bei Verurteilungen wegen Nichteinhaltung erteilter Auflagen entgegengetreten werden."

Regelmäßig erfolglos blieben dagegen solche Kassationsanregungen, welche sich auf politisch sensible Urteile bezogen. Der Bericht vermerkt hierzu: "Gegen die Verurteilung wegen Straftaten gegen die staatliche und öffentliche Ordnung richteten sich 15,7% der Eingaben. Überwiegend wurde vorgebracht, die ausgesprochenen Strafen seien zu hoch. Die Überprüfung der Entscheidungen der Instanzgerichte ergab, daß die Mehrzahl der Urteile politisch durchdacht, gesetzlich und gerecht sowie überzeugend begründet worden sind. (... ) In jüngster Zeit traten wiederholt Fälle auf, in denen Bürger an den Grenzübergangsstellen zur 97 Eingabenbericht des Obersten Gericht 1982, wie Anm. 92, Bi. 275. Daneben richteten sich 15,7% der Eingaben gegen die Verurteilung wegen Straftaten gegen die staatliche und öffentliche Ordnung, 31 % gegen solche wegen Straftaten gegen das sozialistische und persönliche Eigentum, 11,2 % gegen Verurteilungen wegen Straftaten gegen Leben und Gesundheit, gegen Freiheit und Würde des Menschen 8,4% und Verkehrsdelikte 11,2%. Die übrigen Eingaben bezogen sich auf Verurteilungen wegen Zoll- und Devisenvergehen.

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BRD und Berlin (West) erschienen und unter Vorlage des Personalausweises von den Sicherheitsorganen verlangten, die Staatsgrenze überschreiten zu dürfen. Diese Bürger wußten, daß ihr provokatives Verhalten nicht zur Verwirklichung ihrer Forderung führen kann. Sie strebten damit eine Inhaftierung und Verurteilung an und erwarteten, danach aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen zu werden, um in die BRD überzusiedeln. Das Oberste Gericht hat in Übereinstimmung mit den anderen zentralen Sicherheits- und Justizorganen die Gerichte darauf orientiert, unter Berücksichtigung des konkreten Tatverlaufs differenziert Maßnahmen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit anzuwenden.,,98

Bezeichnend für die Interpretation der sozialistischen Gesetzlichkeit durch die Instanzgerichte ist auch folgender Auszug, in dem von einer Kassationsanregung die Rede ist, in der moniert wird, daß ein Strafgericht den gesetzlichen Strafrahmen überschritten habe: ,,zur Strafzumessung bei verbrecherischen Angriffen gegen das sozialistische Eigentum wurde der Standpunkt erarbeitet, daß die Strafobergrenze von zehn Jahren Freiheitsstrafe nur bei Vorliegen außerordentlich erschwerender Umstände und mehrfacher Tatbegehung überschritten werden darf. Richtig wurde jedoch die Strafobergrenze überschritten in einem Verfahren gegen einen Galvaniseur des VEB Bergbau- und Hüttenkombinats "Albert Funk", der unter Ausnutzung seiner beruflichen Tätigkeit in etwa sechs Jahren 42,5 kg Feingold und weitere Mengen Edelmetalle entwendet hatte. Dies war ihm möglich gewesen, weil die innerbetriebliche Ordnung und Sicherheit erheblich vernachlässigt worden war. Das zu Galvanisierungsarbeiten verwendete Gold wurde z. B. unverschlossen in einer Plasteschüssel bzw. in einem Panzerschrank, zu dem der Schlüssel an einem Nagel am Türrahmen hing, gelagert. Zur Beseitigung der festgestellten Bedingungen dieser und anderer Straftaten wurden die erforderlichen Maßnahmen eingeleitet. ,,99

Als Ergebnis der Kassationseingabe legitimiert das OG mithin ein Urteil, welches den gesetzlichen Strafrahmen bewußt überschritt. bb) Andere Rechtsgebiete Im Bereich des Arbeitsrechts bezogen sich die Kassationsanregungen im wesentlichen auf Lohn-, Gehalts- und Prämienstreitigkeiten (17 % der Eingaben), Beurteilungen und Leistungseinschätzungen (4 %), ordentliche (12 %) und fristlose (11 %) Kündigungen, "materielle Verantwortlichkeit der Werktätigen" (10%) sowie auf Fragen des sog. "Neuererrechts"IOO (11 %). Im Bereich des Zivilrechts bildeten mit einem Anteil von 18% die EingaEingabenbericht des Obersten Gericht 1982, wie Anm. 92, BI. 275. Eingabenbericht des Obersten Gericht 1982, wie Anm. 92, S. 277. Hervorhebung des Verfassers dieser Arbeit. lOO Eine Art Patentschutz. Zur "Stimulierung der schöpferischen Tätigkeit" der Werktätigen hatten Betriebe, welche die Innovation eines Bürgers nutzten, diesem eine Vergütung zu zahlen. In der Praxis kam häufig Streit darüber auf, welcher Betrieb als Benutzer einer Neuerung galt. 98

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ben auf dem Gebiet der Wohnungsmiete den Schwerpunkt. Daneben wurden Eingaben im Zusammenhang mit Schadensersatzverpflichtungen (12 %) sowie solche gegen Entscheidungen über Streitfälle aus Kauf- und Dienstleistungsverträgen wie Garantieansprüche u. ä. (11 %) beim OG eingereicht. Im Bereich des Familienrechts waren es vorrangig Gerichtsentscheidungen im Zusammenhang mit Ehescheidungen, welche mit der Kassationsanregung angegriffen wurde. 101 b) Eingaben an die Staatsanwaltschaft Weiterhin bestand die Möglichkeit, Eingaben an die Staatsanwaltschaft zu richten. Von dieser Möglichkeit machten die Bürger der DDR regen Gebrauch. Noch im letzten "Normaljahr" der DDR, im Jahr 1988, erhielt die Staatsanwaltschaft insgesamt 6.670 Eingaben (gegenüber 6.468 im Vorjahr). Bei der Untersuchung der Eingaben an die Staatsanwaltschaft sind zwei Ebenen zu unterscheiden: einerseits Eingaben, die sich auf das Verhalten der Strafverfolgungsorgane selbst bezogen, und andererseits solche Eingaben, mit denen die Staatsanwaltschaft zur Verfolgung ungesetzlichen Handelns der Staats- und Wirtschaftsorgane angeregt werden sollte. Ausweislich des Berichts über die an die Staatsanwaltschaft gerichteten Eingaben der Bürger im Jahre 1988 102 verteilten sich die Eingaben in diesem Jahr wie folgt auf die unterschiedlichen Beschwerdegegenstände: 1.046 (911) gegen Maßnahmen des Staatsanwalts im Ermittlungsverfahren, 2.826 (2.637) gegen Maßnahmen der Untersuchungsorgane im Ennittlungsverfahren, 753 (828) gegen Maßnahmen des Strafvollzugs und der Wiedereingliederung, 2.045 (2.092) gegen Entscheidungen und Maßnahmen anderer Staats- und Wirtschaftsorgane.

Der Eingabenbericht stellte die Eingabenbearbeitung der Staatsanwaltschllit als eine zusätzliche Verbürgung der Rechtssicherheit und der Rechtsstaatlichkeit dar. Teilweise wurden die Eingaben der Staatsanwaltschaft über Staats- und Parteiorgane zugeleitet: ,,922 Eingaben (14%) wurden der Staatsanwaltschaft von zentralen Partei- und Staatsorganen zur Bearbeitung übergeben. Seit einigen Jahren nimmt die Zahl der Eingaben zu. Werktätige wenden sich an die Staatsanwaltschaft, um gesellschaftliche oder individuelle Belange vorzutragen. Es gehört zu den guten Erfahrungen Eingabenbericht des Obersten Gericht 1982, wie Anm. 92, BI. 280-282. Anlage 3 zum Beschluß des Ministerrats über die Auswertung der Tagung des Staatsrates der DDR vom 3. März 1989 zur Arbeit mit den Eingaben der Bürger und zum Bericht über die an den Ministerrat im Jahre 1988 gerichteten Eingaben der Bürger, BArch (Präsidium des Ministerrats) DC 20 1/3 Nr. 2788, BI. 147-158. 101

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im Rechtsstaat, daß solche Anliegen aufmerksam bearbeitet und entschieden werden. Im engen Zusammenwirken der Staatsanwaltschaft und der Untersuchungsorgane wurden die notwendigen Schlußfolgerungen aus Eingaben für die eigene Arbeit gezogen und die Rechtssicherheit weiter gefestigt.,,103

Auch der Eingabenbericht der Staatsanwaltschaft wies eine konkrete Erfolgsquote aus. Der Nachweis konnte hier geführt werden, da sich der Erfolg der Eingabe an der Aufhebung bzw. Aufrechterhaltung der mittels Eingabe angegriffenen Entscheidung ablesen ließ, während der Erfolgsbegriff im Rahmen der "normalen" Verwaltungseingabe - wie bereits dargestellt ambivalent war und teilweise schon im Falle der amtlichen Befassung mit dem Eingabenproblem bejaht wurde, ohne das zwangläufig dem Problem abgeholfen worden wäre. "Durch sachkundige und verständnisvolle Bearbeitung der Eingaben wurde gesichert, dass auf die Anliegen, Vorschläge und Kritiken der Bürger sorgfältig reagiert worden ist. Die Möglichkeiten, auf die weitere Festigung der Gesetzlichkeit hinzuwirken und das Vertrauensverhältnis der Bürger zu unserem sozialistischen Rechtsstaat zu bestärken, wurden genutzt. 36 Prozent der Eingaben führten zur Aufhebung oder Abänderung kritisierter Entscheidungen oder Maßnahmen. Über die Lösung von Einzelfällen hinaus gab es in allen gebotenen Fällen Auseinandersetzungen mit fehlerhaften Haltungen Verantwortlicher, die gegebenenfalls rechtlich in differenzierter Weise belangt wurden. Besonders ist darauf geachtet worden, daß die Einsender auf ihre Fragen und Hinweise eindeutige, den Rechtsvorschriften entsprechende Antworten erhielten. Ebenso wurde darauf hingewirkt, daß noch überzeugender argumentiert wird, wenn Anliegen von Bürgern unbegründet sind, weil die Entscheidungen der Gesetzlichkeit entsprechen. Bei der Hälfte aller Eingaben wurde das Ergebnis der Bearbeitung den Bürgern in ausführlichen persönlichen Gesprächen erläutert. Die Staatsanwälte haben 68.031 Rechtsauskünfte erteilt."I04

aa) Eingaben gegen Entscheidungen und Maßnahmen der Staatsanwaltschaft und der Untersuchungsorgane

Im Bereich der Eingaben, die sich auf Maßnahmen und Verhaltensweisen der Strafverfolgungsorgane selbst bezogen, überwogen Beschwerden über die unzureichende Bearbeitung von Anzeigen und die Durchführung von Ermittlungsverfahren. Anlaß waren überwiegend Anzeigen und Ermittlungsverfahren wegen vorsätzlicher Körperverletzung, Diebstahl persönlichen Ei103 Bericht über die Arbeit der Staatsanwaltschaft mit den Eingaben im Jahre 1988, Anlage 3 zum Beschluß über die Auswertung der Tagung des Staatsrates der DDR am 3. März 1989 zur Arbeit mit den Eingaben der Bürger und zum Bericht über die an den Ministerrat im Jahre 1989 gerichteten Eingaben der Bürger, 91. Sitzung des Ministerrates vom 23. März 1989, Bd. 2, BArch DC 20 1/3 Nr. 2788, BI. 147-158 (147). 104 Bericht über die Arbeit der Staatsanwaltschaft ... , wie vorangehende Anm.

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gentums, schwerer Verkehrsunfälle sowie die Bearbeitung von Todesfällen unter verdächtigen Umständen. Insgesamt wurden 1988 3.872 Eingaben bearbeitet, von denen 1.245 (32 %) als begründet anerkannt wurden (im Vorjahr: 36%). Ähnlich wie in den Eingabenberichten anderer Organe suggerierte auch der Eingabenbericht der Staatsanwaltschaft einen überwiegend kollektiven Charakter der Eingaben. Das Verhalten und das gesellschaftliche Bewußtsein der Bevölkerung wurde im internen Bericht geradezu gelobt - im letzten regulären Bestehensjahr der DDR ein bezeichnender Umstand, der ebenfalls daran zweifeln läßt, ob das Eingabenwesen von seiner Konzeption her und nach der Art und Weise seiner Durchführung überhaupt dazu geeignet war, einen realistischen Eindruck von der Befindlichkeit in der Bevölkerung zu vermitteln. In dem Bericht hieß es wörtlich: "Aus vielen Eingaben wird deutlich, daß die Bürger eine kritische Haltung gegenüber Entscheidungen einnehmen, die vom Staatsanwalt bzw. den Untersuchungsorganen getroffen wurden. Sie treten verantwortungsbewußt und, wenn notwendig, beharrlich für die Durchsetzung der Gesetzlichkeit ein. Engagiert setzen sich Bürger für den Schutz des sozialistischen Eigentums und der Volkswirtschaft vor Verlusten und für die sparsame Verwendung von Fonds ein.,,105 Aus den Eingabevorgängen zog die Staatsanwaltschaft durchaus selbstkritische Schlußfolgerungen in bezug auf das Verhalten und die Qualifikation der Untersuchungsorgane. Hierzu hieß es in dem Bericht: "Die Ursachen, die zu berechtigten Beschwerden führten, sind im wesentlichen die gleichen wie in den Vorjahren. Sie liegen u. a. in einer fehlerhaften Beurteilung der Sach- und Rechtslage, in unbegründeten Zweifeln an der Darstellung des angezeigten Sachverhaltes, unzureichenden Kenntnissen gesetzlicher Bestimmungen und in Voreingenommenheit. Begründete Zweiteingaben beruhten entweder darauf, daß richtige Entscheidungen formal und unverständlich begründet oder kritiklos bisherige Entscheidungen übernommen wurden. Solche Erscheinungen führten zu ernsthaften Auseinandersetzungen, um Unvoreingenommenheit und Fähigkeit zur kritischen Einschätzung zu verstärken."I06 Die auf dem Eingabewege gerügten Beamten wurden zur Wahrung der Gesetzlichkeit angehalten und soweit erforderlich auch disziplinarisch zur Verantwortung gezogen. Im Einzelfall konnte sogar die Berufung auf individuelle Freiheitsrechte als legitim und zielführend Anerkennung finden: "Bürger machten von ihrem Recht Gebrauch, sich über Maßnahmen zu beschweren, die verfassungsmäßige Rechte einschränken. Das betraf z. B. Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmen sowie auch Inhaftierungen. Soweit die Eingaben begründet waren, wurden die Maßnahmen sofort korrigiert. Es ist festzustellen, daß auf diesem Gebiet eine stabile Praxis gewährleistet ist, die strikt der Gesetzlichkeit entspricht." 105 Eingabenbericht der Staatsanwaltschaft 1988, wie Anm. 103, BArch DC 2011 3 Nr. 2788, BI. 147-158 (149). 106 Eingabenbericht der Staatsanwaltschaft, wie vorangehende Anm.

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bb) Eingaben gegen Entscheidungen und Maßnahmen anderer Staats- und Wirtschaftsorgane, Einrichtungen, Betriebe und Genossenschaften Neben den Eingaben zum Straf- und Untersuchungshaftvollzug und zur Wiedereingliederung entlassener Häftlinge machten die Eingaben gegen Entscheidungen und Maßnahmen von Staats- und Wirtschaftsorganen den größten Anteil am von der Staatsanwaltschaft zu bearbeitenden Eingabenaufkommen aus. Rechtstechnisch gesehen wurden hier zwei Mechanismen der Verwaltungskontrolle miteinander kombiniert: Das Eingabenwesen und die allgemeine Rechtmäßigkeitsaufsicht der Staatsanwaltschaft - letztere wurde gewissermaßen mittels Eingabe "aktiviert". Unter dem Aspekt des Verwaltungsrechtsschutzes kam diese Konstruktion der Gewährleistung subjektiv-öffentlichen Rechtsschutzes (unter Berücksichtigung der systembedingten Abstriche) am nächsten, denn sie bot die Aussicht auf externe Kontrolle von Verwaltungshandeln nach einem geregelten Verfahren. Zwar bestand aus der Sicht des Bürgers kein Anspruch auf ein Einschreiten des Staatsanwalts. Mit einer gewissen Aussicht auf Erfolg konnte er jedoch gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, auf ein Ermittlungsverfahren zu verzichten, wiederum im Wege der Eingabe, nunmehr gegen die Staatsanwaltschaft selbst, vorgehen. Von den insgesamt 2.045 Eingaben dieser Kategorie im Jahre 1988 betrafen 653 681 92 619

staatliche Organe und Einrichtungen, Betriebe, Kombinate, wirtschaftsleitende Organe und Genossenschaften, familienrechtliche Probleme, sonstige Angelegenheiten.

Bürger wandten sich besonders dann an die Staatsanwaltschaft, wenn Eingaben an andere Organe erfolglos geblieben waren und sie aus der Art der Bearbeitung annahmen, daß ihre Anliegen nicht objektiv und unvoreingenommen geprüft worden waren. 107 Die Überprüfungen ergaben, daß nahezu jede zweite kritisierte Entscheidung nicht zu vertreten war. 108 In diesen Fällen griff die Staatsanwaltschaft nicht nur in das Verwaltungsverfahren ein, sondern betätigte sich darüber hinaus als eine Art Mediator, um den Gleichklang der Interessen von Staat und Bürger wiederherzustellen:

107 Bericht über die Arbeit der Staatsanwaltschaft mit den Eingaben im Jahre 1988, Anlage 3 zum Beschluß über die Auswertung der Tagung des Staatsrates der DDR am 3. März 1989 zur Arbeit mit den Eingaben der Bürger und zum Bericht über die an den Ministerrat im Jahre 1989 gerichtet.en Eingaben der Bürger, 91. Sitzung des Ministerrates vom 23. März 1989, Bd. 2, BArch DC 20 1/3 Nr. 2788, BI. 147-158 (153). 108 Bericht über die Arbeit der Staatsanwaltschaft ... , wie vorangehende Anm.

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"Es war daher nötig, daß in geduldigen Gesprächen Staatsanwälte den Bürgern die Lage erklärten, um entstandenes Mißtrauen zu beseitigen. Im allgemeinen gelang es, das Vertrauen zum Staat, zu seinen Organen und deren Tätigkeit wiederherzustellen. Das galt auch dann, wenn dem Anliegen der Bürger nicht oder nicht voll entsprochen werden konnte. In schriftlichen und mündlichen Bekundungen brachten Bürger und Kollektive ihr Verständnis für die Entscheidungen zum Ausdruck."I09

Eingaben gegen die Arbeitsweise staatlicher Organe und Einrichtungen führten im Ergebnis der staatsanwaltlichen Überprüfung in 42 % der Fälle zur Aufhebung oder Änderung angefochtener Maßnahmen und Entscheidungen - ein beachtliches Ergebnis. Im Bereich der Eingaben gegen Kombinate, Betriebe und Genossenschaften lag die Erfolgsquote sogar noch höher - im Ergebnis der Nachprüfung erwiesen sich hier 58 % der Eingaben als begründet. 110 Die hauptsächlichen Ursachen begründeter Eingaben seien, so der Bericht, "nach wie vor, daß - Anliegen der Bürger nicht gründlich und zügig geprüft und, zumeist aus ungenügender Rechtskenntnis, nicht auf der Grundlage der Rechtsvorschriften entschieden werden; - Bürgern gegebene Zusagen nicht eingehalten bzw. sie über getroffene Entscheidungen und Maßnahmen nicht informiert werden; - Richtige Entscheidungen nicht überzeugend oder sogar falsch begründet werden. Dies ist oft mit einem bürokratischen Arbeitsstil verbunden. Verärgerung und Vorbehalte der Bürger wachsen, wenn sie ihre Anliegen schon mehrfach vorgebracht hatten und auch übergeordnete Organe keine exakte Prüfung vornahmen.''' 11

Insofern traten hier keine anderen Motive in Erscheinung, als dies allgemein in der Eingabenbearbeitung der Fall war. Im Zuge der Bearbeitung konnte die Staatsanwaltschaft allerdings - im Gegensatz zu anderen Staatsorganen - eine juristische Prüfung aus eigener Rechtskunde durchführen und nach dem Ergebnis der Prüfung entsprechende Maßnahmen anordnen, im Einzelfall auch Individualansprüche zusprechen. Diese Kompetenz rückte sie funktional in die Nähe eines Verwaltungsgerichts. In diesem Zusammenhang verzeichnete der Eingabenbericht von 1988 folgendes Beispiel: "Mängel zeigten sich vor allem bei der Überprüfung von Eingaben im Bereich Wohnungspolitik. Bei Entscheidungen wurden die Bestimmungen der Wohnraumlenkungsverordnung nicht immer korrekt beachtet. Im Bezirk Rostock betraf etwa ein Drittel aller begründeten Eingaben dieses Gebiet. So sind bei einer vom Rat der Gemeinde Binz durchgeführten Zwangsräumung die Möbel in feuchten Lager109 110 111

Bericht über die Arbeit der Staatsanwaltschaft ... , ebenda. Bericht über die Arbeit der Staatsanwaltschaft ... , wie Anm. 107, BI. 155. Bericht über die Arbeit der Staatsanwaltschaft ... , wie Anm. 107, BI. 154.

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räumen untergestellt worden, wodurch der größte Teil stark beschädigt wurde. Der Rat veranlasste hierauf die Vernichtung des nicht mehr gebrauchsfähigen Mobiliars, während die noch verwertbaren Stücke dem An- und Verkauf zugeführt wurden, ohne den Eigentümer hierüber zu informieren. Seine Beschwerden wurden vom Rat der Gemeinde, Rat des Kreises und Rat des Bezirkes als unbegründet zurückgewiesen. Ursachen dieser eklatanten Rechtsvedetzungen, gegen die der Staatsanwalt Protest erhob, waren fehlende Rechtskenntnisse und Voreingenommenheit gegenüber dem Bürger. Der Schaden ist dem Bürger im Wege der Staatshaftung ersetzt worden.,,112

Andere Eingaben richteten sich gegen Ordnungsstrafverfügungen bzw. diese bestätigende Rechtsrnittelentscheidungen. In einer Reihe von Fällen führten die staatsanwaltschaftlichen Überprüfungen zur Aufhebung der Ordnungsstrafe und zu ihrer Rückzahlung, weil der gesetzliche Ordnungsstraftatbestand oder Verfahrensvorschriften nicht beachtet worden waren: "Mitunter zeigten sich bei örtlichen Räten, insbesondere bei Bürgermeistern von Städten und Gemeinden, große Unsicherheiten. Bei der Überprüfung einer Eingabe in Erfurt stellte sich heraus, daß ein Beschluß des Bezirkstages Erfurt eine Beschwerderegelung enthielt, die den gesetzlichen Festlegungen widersprach. In der Folge kam es durch örtliche Organe zu falschen Rechtsmittelbelehrungen der Bürger. Der Staatsanwalt des Bezirkes wies den Vorsitzenden des Rates des Bezirkes auf diese Situation hin und ersuchte, die Gesetzlichkeit wiederherzustellen. Durch den Vorsitzenden des Rates des Bezirkes wurde die rechtswidrige Maßnahme sofort außer Kraft gesetzt. Die Ergebnisse der die Tätigkeit der örtlichen Räte betreffenden Eingaben sind von Staatsanwälten in Bürgermeisterschulungen und anderen Qualifizierungsveranstaltungen ausgewertet worden. ,,113

Es läßt sich somit feststellen, daß die Kombination von Eingabenwesen und der Gesetzlichkeitsaufsicht durch die Staatsanwaltschaft am ehesten dem Ideal einer externen Verwaltungskontrolle entsprach. Neben dieser auf dem Eingabeweg angeregten Kontrolle der Verhaltensweisen und Maßnahmen der staatlichen Verwaltungsorgane weist der Bericht darüber hinaus die Befassung der Staatsanwaltschaft mit Rechtsproblemen farnilienrechtlicher oder auch arbeitsrechtlicher Art (vor allem im Zusarnrnenhang mit der Tätigkeit der gesellschaftlichen Gerichte) aus, die ebenfalls mittels Eingabe initiiert wurde. c) Eingaben an das Ministerium der Justiz

Eine weitere Möglichkeit, sich gegen eine fehlerhafte Rechtsanwendung zur Wehr zu setzen, bestand für den Bürger darin, seine Beschwerde im Wege der Eingabe an das Ministerium der Justiz zu richten. Entsprechend den realen politischen Machtverhältnissen wurde das zuständige Fachmini112

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Bericht über die Arbeit der Staatsanwaltschaft ... , ebenda. Bericht über die Arbeit der Staatsanwaltschaft ... , ebenda.

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sterium als Eingabenempfänger von der Bevölkerung weitaus weniger geschätzt als die obersten Parteiorgane. Folglich entsprach das Eingabenaufkommen beim Ministerium für Justiz in etwa dem des Obersten Gerichts und des Generalstaatsanwalts. 114 Im Vordergrund standen solche Eingaben, aus denen sich verallgemeinerungsfähige Ableitungen für die Gesetzesanwendung und die Fortentwicklung der gesetzlichen Grundlagen treffen ließen. Die "Hinweise zur Eingabenanalyse,,1l5 des Ministeriums der Justiz vom 15.12.1975 verdeutlichen diese Zielrichtung: "Die Jahresanalyse hat unter Berücksichtigung der zahlenmäßigen Entwicklung der Eingaben die wesentlichen Probleme, Schwerpunkte und Fragen zum Inhalt, die in den Anliegen der Bürger zum Ausdruck gebracht wurden. Zugleich ist über die Einhaltung des Eingabengesetzes zu berichten. Informationen aus Einzeleingaben haben insofern Berechtigung, als sie von besonderer Bedeutung sind oder für eine Vielzahl von Erscheinungen stehen oder das Typische ausdrücken. Auf die Feststellung der Ursachen bestimmter Erscheinungen und Probleme sowie ihre politische Einschätzung ist Wert zu legen. In besonderen Perioden (wie Wahlen, Gesetzesdiskussionen) sind die damit im Zusammenhang stehenden Eingaben in einem speziellen Abschnitt der Analyse zu behandeln. Im allgemeinen ist die Analyse wie folgt zu gliedern: 1. Aussagen zur Eingabenentwicklung, zur Erledigung und Einhaltung der Fristen; über aufgetretene Probleme und gewonnene Erfahrungen bei der Eingabenbearbeitung, zu Abgaben aus Zuständigkeitsgründen und der Zusammenarbeit mit anderen Organen, zur Auswertung der Bürgervorschläge und der Eingabenprobleme in der Öffentlichkeitsarbeit. 2. Inhaltliche Einschätzung der Eingaben entsprechend der im Aktenplan enthaltenen Gruppierung, insbesondere Aufdeckung der - Ursachen in der Arbeitsweise und Leitungstätigkeit der Gerichte und Staatlichen Notariate oder anderer Organe (z. B. auch formale mißverständliche Sprache bzw. mangelnde Überzeugungskraft in Verfahren und in den Entscheidungen) - Ursachen infolge unklarer rechtlicher Regelungen usw. ideologische Probleme und Widersprüche der den Eingaben zugrunde liegenden Erscheinungen bzw. eventueller Symptome für bestimmte Zustände in bestimmten Bereichen. 3. Darlegung der Ergebnisse und Reaktionen auf die Eingabenbearbeitung durch die betreffenden Organe bzw. die Bürger. 114 Eingabenberichte des Ministeriums der Justiz (BArch DP 1 VA Nr. 4967 und Nr. 4606) weisen für die siebziger und achtziger Jahre ein relativ konstantes Eingabenaufkommen von durchschnittlich etwa 7.000 Eingaben pro Jahr aus. 115 Dokumente und Informationen des Ministeriums der Justiz und des Obersten Gerichts der DDR, Anlage zur Rundverfügung 26175, in: Materialien des MdJ zur Eingabenarbeit 1971-1978 - Grundsätzliches - Regelungen, BArch (Ministerium der Justiz) DP 1 (SE) Nr. 3757/1.

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4. Schlußfolgerungen aus der Eingabenarbeit und Maßnahmen zur Verbesserung der Leitungstätigkeit und der Rechtsprechung. ( ... ) Dem Obersten Gericht ist ein Exemplar des gesamten Materials zu übermitteln."

aa) Kritik am Verhalten der Mitarbeiter der Justizorgane Von den insgesamt 7.261 an das Ministerium der Justiz gerichteten Eingaben im Jahre 1975 richteten sich 1.641 gegen das Verhalten und die Arbeitsweise von Mitarbeitern der Gerichte, der Staatlichen Notariate, der Schiedskommissionen und der Kollegien der Rechtsanwälte. 116 Wie üblich wurde das stetige Ansteigen der Zahl der Eingaben als Symptom einer positiv zu beurteilenden Entwicklung ausgewiesen: "Der Anstieg der Eingaben im Jahre 1975 (1974 = 6.610, 1975 = 7.261) ist insbesondere auf - das verstärkte Interesse der Bevölkerung an rechtlichen Fragen infolge aktiver Popularisierung in den Kommunikationsmitteln (ZGB-Diskussion) und - auf das sich vertiefende Vertrauensverhältnis zu den Rechtspflegeorganen zurückzuführen. ,,117

Die Zusammenstellung der häufigsten Beschwerdegegenstände gegen Mitarbeiter der Justizorgane scheint dem aber geradewegs zu widersprechen: "Die Häufigkeit der Kritiken gegen Richter ergibt sich aus ihrer besonderen Stellung im Verfahren und der damit verbundenen Wertung durch die Bürger. Nach wie vor konzentrieren sich die Vorbringen auf die Art und Weise der Durchführung der Verfahren im Zivil-, Familien- und Arbeitsrechtsbereich, besonders auf - schleppende Bearbeitung der Verfahren (unverantwortlich lange Bearbeitungsdauer, unkonzentrierte Verhandlungsführung, säumige Arbeitsweise bei der Urteilsfindung u. ä.); - Mängel in der Verhandlungsführung (unsachliche und unkorrekte Verhandlungsführung, Nichtgewährung ausreichenden Gehörs in der Verhandlung, mangelnde Unterstützung bei der Durchsetzung von Ansprüchen, Mängel in der Ladung der Prozeßparteien, ungerechtfertigte Einschränkung der Rechte der Verfahrensbeteiligten, Nichtbeachten verfahrensrechtlicher Vorschriften und oberflächliche Arbeitsweise u. a.); - ungenügende Information (z. B. über den Sachstand eines Verfahrens an die Prozeßbeteiligten und interessierte Bürger, prozessuale Handlungen, die eine Verzögerung des Verfahrens notwendig machen u. a.); - ungenügende Verhandlungskultur (unsachliche Bemerkungen während der Verhandlung, Voreingenommenheit, unkorrekte Verhandlungsführung). ,,118 116 Eingabenanalyse des Ministeriums der Justiz für das Jahr 1975, BArch DP 1 Nr. 4606 (VA), S. 5. ll7 Eingabenanalyse des Ministeriums der Justiz für das Jahr 1975, wie Anm. 116, S. 7.

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

Bei Berücksichtigung des Umstandes, daß über die Hälfte (52 %) der gegen das Verhalten der Mitarbeiter der Justizorgane gerichteten Eingaben im Jahre 1975 vom Ministerium der Justiz als begründet angesehen wurden, fällt es schwer zu erkennen, inwieweit sich das Ansteigen der Eingaben als Indiz für ein verfestigtes Vertrauensverhältnis der Bürger zu den Justizorganen interpretieren ließ. Allenfalls läßt sich wohl daraus schlußfolgern, daß die Bürger nicht die Befürchtung hatten, aufgrund ihrer Eingabe an die Aufsichtsorgane Nachteile erleiden zu müssen. bb) Eingaben zur Vermeidung von Rechtskonflikten Auf die Vermeidung von Rechtskonflikten waren 2.633 Eingaben (= 41,5%) gerichtet. ll9 Davon betrafen allein 1.461 (= 55,5%) familienrechtliche Fragen, insbesondere Scheidungsangelegenheiten. Die zu dieser Gruppe gehörenden Vorgänge sind kennzeichnend für die sich in der DDR entfaltende, auf Konfliktvermeidung ausgerichtete Rechtskultur. Eingaben dieser Kategorie wurden als positiv gewertet, da sie nach Auffassung des Ministeriums gleichermaßen auf ein entwickeltes gesellschaftliches Bewußtsein der Bürger wie auch auf eine "fortschrittliche" - nicht formalistische - Arbeitsweise der Gerichte hindeuteten. Die dem Ministerium gemeldeten Eingabenberichte der Kreis- und Bezirksgerichte wiesen häufig einen überproportional hohen Anteil an Eingaben dieser Art aus. Da die Gerichte - wie alle Staatsorgane - in der Zuordnung der Eingaben zu bestimmten Kategorien weitgehend frei waren, ergab sich hier ein sehr heterogenes Bild. So erscheint es erstaunlich, daß beispielsweise im Jahr 1974 im Bezirk Neubrandenburg bei den Gerichten etwa 1974 73,9% aller Eingaben, in den Bezirken KarlMarx-Stadt und Suhl immerhin mehr als 50%, dagegen im Bezirk Dresden nur 8,8 % als Vorbringen zur Vermeidung von Rechtskonflikten ausgewiesen wurden. Mit Unterschieden in der Bevölkerungsstruktur allein dürften diese Schwankungen wohl nicht zu erklären sein. Die Eingabenanalyse des Ministeriums der Justiz merkte hierzu auch an, daß offenbar selbst "bei den Gerichten keine einheitliche Auffassung darüber besteht, was als Eingabe im Sinne des Eingabengesetzes zu erfassen und zu bearbeiten ist" - freilich ohne aus diesem Befund weitergehende Schlüsse zu ziehen. Inhaltlich wurden unter der Rubrik "Vorbringen zur Vermeidung von Rechtskonflikten" Eingabenvorgänge aufgeführt, mit denen eine Schlichtung durch die Gerichte im vorprozessualen Stadium angestrebt wurde. Nach dem inhaltlichen Schwerpunkt der Eingaben zur Vermeidung von 118 Eingabenanalyse des Ministeriums der Justiz für das Jahr 1975, wie Anm. 116, S. 8. 119 Eingabenanalyse des Ministeriums der Justiz für das Jahr 1975, wie Anrn. 116, S. 7.

3. Abschn.: Zur Praxis des Eingabenwesens

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Rechtskonflikten zu urteilen, scheint ihre Zuordnung zum Bereich der Justiz auf den ersten Blick verfehlt. Überwiegend ersuchten Bürger die Gerichte, zur Erhaltung ihrer Ehen Aussprachen zu führen. Die Gerichte ersetzten hier praktisch Eheberatungsstellen. 120 Politisch scheint es indes erwünscht gewesen zu sein, gerade dieses Tätigkeitsfeld der Gerichte weiter auszubauen. In diesem Sinne bemerkte die Eingabenanalyse des Ministeriums der Justiz für das Jahr 1975: "Nach wie vor liegt der Schwerpunkt dieser Vorbringen bei familienrechtlichen Problemen (Erhaltung der Ehe, Erlangung von Unterhalt für die Kinder, Bereitstellung von Wohnraum nach der Scheidung). Die Gerichte werden bei der Bearbeitung dieser Eingaben immer breiter wirksam und beziehen verstärkt die Schöffen- und Arbeitskollektive ein. Beim Kreisgericht Leipzig-Land besteht z. B. eine Arbeitsgruppe unter Leitung des Vorsitzenden des Schöffenaktivs, die mit Einfühlungsvermögen und guten Erfolgen eheerhaltende Aussprachen durchführt. Hervorzuheben ist, daß weiterhin in der Mehrzahl die Ehefrauen bemüht sind, die Hilfe des Gerichts zur Erhaltung der Ehe in Anspruch zu nehmen. Alle Bezirke berichten, daß die zur Eheerhaltung durchgeführten Aussprachen guten Erfolg bringen. So konnte z. B. im Bezirk Rostock vermerkt werden, daß von 82 zu Eheproblemen eingebrachten Eingaben 73 zu dem Erfolg führten, daß Ehescheidungsklagen nicht erhoben wurden."

Die Beschäftigung der Gerichte mit derartigen Fragen der persönlichen Lebensgestaltung erscheint symptomatisch für die auf Vermeidung von Rechtskonflikten orientierte Rechtskultur der DDR. cc) Eingaben zur Rechtsanwendung und zu rechtlichen Regelungen Von den übrigen Anliegen bezogen sich 1.392 (= 18,4 %) auf die Rechtsanwendung in der Entscheidung einzelner Verfahren und 96 (= 1,3 %) auf den Inhalt und die Verständlichkeit vorhandener rechtlicher Regelungen, oftmals verbunden mit "Verbesserungsvorschlägen" zur Weiterleitung an den Gesetzgeber. 121 Mit Eingaben zur Rechtsanwendung griffen Bürger unter Verwendung von über den jeweiligen Einzelfall hinausweisenden Argumenten gerichtliche Entscheidungen in den Bereichen des Strafrechts und 120 Kurioserweise läßt sich tatsächlich ein Eingabenrückgang in den Gerichtsbezirken feststellen, in denen derartige Betreuungsstellen ihre Arbeit aufnahmen. Das MdJ merkte in seiner Eingabenanalyse für das Jahr 1976 hierzu an: "Bei einigen Gerichten (z. B. Oschatz, Bezirk Leipzig) ist ein Rückgang solcher Anliegen darauf zurückzuführen, daß Ehe- und Familienberatungsstellen ihre Arbeit aktiviert haben. Bei eheerhaltenden Gesprächen gewannen an einigen Gerichten bestehende Schöffenarbeitsgruppen - Familienrecht - wachsende Bedeutung. So führte z. B. eine derartige Arbeitsgruppe des Kreisgerichts Nordhausen (Bezirk Erfurt) im VEB NOBAS mit Erfolg solche Gespräche durch." BArch DP 1 Nr. 4606 (VA), S. 19. 121 Eingabenanalyse des Ministeriums der Justiz für das Jahr 1975, wie Anm. 116, S. 3. Die Verteilung ist für den untersuchten Zeitrum repräsentativ.

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des Zivilrechts an. Im Strafrecht wurde die Tendenz erkennbar, mit Hilfe der Eingaben auf Freiheitsstrafe lautende Urteile anzufechten und Korrekturen anzustreben. Meist erfolgten Eingaben nach Ausschöpfung der Rechtsmittelmöglichkeiten, aber auch parallel zum Rechtsmittel in gleicher Sache oder ohne vorher überhaupt vom Rechtsmittel Gebrauch zu machen. 122 Mittels Eingabe wurde versucht, den Strafausspruch im Einzelfall zu korrigieren oder auf laufende Verfahren Einfluß zu nehmen. Das Ministerium der Justiz stand diesem Sachverhalt hilflos gegenüber, denn selbstverständlich fielen auch derartige Willensäußerungen unter den uferlosen Eingabenbegriff, und es bestand schon rein technisch gar keine Möglichkeit, sie zu unterbinden. Resignierend stellte es in einer Eingabenanalyse 123 hierzu fest: "Die unbegründeten Eingaben machen den Mangel an Überzeugungskraft der Entscheidungen deutlich und weisen auf die Notwendigkeit intensiver Rechtserziehung hin."

Die meisten Eingaben zur Strafrechtsanwendung wurden als unbegründet verworfen. Zwei begründete Eingaben im Bezirk Halle hatten ihren Ursprung in Presseveröffentlichungen über durchgeführte Strafverfahren. Die Bürger hatten - nach Ansicht des Ministeriums der Justiz zutreffend - ungerechtfertigt niedrige Strafen kritisiert, woraufhin ein Kassationsverfahren durchgeführt wurde. Auch auf dem Gebiet des Zivil-, Familien- und Arbeitsrechts waren 3/4 der Eingaben unbegründet. Soweit die Rechtsanwendung begründet kritisiert wurde, lag dem nach der Eingabenanalyse des Justizministeriums "vorwiegend eine oberflächliche, das Prozeßrecht nicht genügend beachtende Arbeit der Gerichte zugrunde,d24. Auch hier versuchten die Bürger, mittels Eingaben Einfluß auf laufende Verfahren zu nehmen oder die Änderung gerichtlicher Entscheidungen zu erreichen. Vielfach wurde gegen eine als falsch angesehene Entscheidung kein Rechtsmittel eingelegt, sondern der Eingabeweg beschritten. Zumindest für den Bereich der Rechtsanwendung scheint insofern die These gerechtfertigt, daß das Instrument der Eingabe nicht nur von der politischen Führung, sondern darüber hinaus ebenso von den Bürgern gegenüber vorgesehenen Rechtsmitteln bevorzugt wurde. So bemerkte etwa der Eingabenbericht des Justizministeriums für das Jahr 1976 in Hinblick auf eine zivilprozessuale Frage: "Obwohl § 158 ZPO die Beschwerde gegen Kostenentscheidungen vorsieht, fechten Bürger noch immer die Kosten auf dem Eingabewege an. Zum Teil wurde 122 Eingabenanalyse des Ministeriums der Justiz für das Jahr 1975, wie Anm. 116, S. 6. 123 Eingabenanalyse des Ministeriums der Justiz für das Jahr 1976, BArch DP 1 (VA) Nr. 4606, S. 16. 124 Eingabenanalyse des Ministeriums der Justiz für das Jahr 1976, wie vorangehende Anm.

3. Abschn.: Zur Praxis des Eingabenwesens

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verschiedentlich ausdrücklich darum gebeten, das Schreiben als Eingabe und nicht als Rechtsmittel zu werten. Offenbar wird im Rahmen der Eingabenbearbeitung ein günstigeres Ergebnis erwartet." 125

Auf dem Gebiet des Zivilrechts hatten Eingaben überwiegend Streitigkeiten zwischen Mietern und Vermietern sowie Nachbarschaftsstreitigkeiten zum Gegenstand. Die Verabschiedung des Zivilgesetzbuches im Jahre 1975 führte zu einem gesteigerten Interesse der Bürger an zivilrechtlichen Fragen, brachte aber auch Unklarheiten mit sich, woraus das Bezirksgericht Leipzig in seinem Eingabenbericht den Schluß zog, daß "die Rechtspropaganda auf zivilrechtlichem Gebiet weiter verstärkt und wirkungsvoller durchgeführt werden" müsse. 126 dd) Einzelfallkontrolle durch das Ministerium der Justiz nach Beendigung des Instanzenzugs Anband einzelner Eingabenvorgänge wird deutlich, das zumindest im Einzelfall mittels Eingabe die Möglichkeit bestand, auch nach Erschöpfung des Rechtswegs mißliebige Entscheidungen einer Rechtmäßigkeitskontrolle durch das Ministerium zu unterziehen. Erforderlich war allerdings, daß der Eingeber die gesamtgesellschaftliche Relevanz der ihn belastenden und seiner Ansicht nach entgegen den Geboten der sozialistischen Gesetzlichkeit ergangenen Entscheidung darlegte. Insofern nahm hier das Ministerium der Justiz eine Aufgabe wahr, die funktional der eines Verfassungsgerichts (im weitesten Sinne) nahekam. Der Maßstab der Rechtmäßigkeitskontrolle waren hier freilich nicht das ius scriptum der Verfassungsurkunde, sondern die Grundsätze der sozialistischen Moral und Gesetzlichkeit. Wenn der Verfasser einer unmittelbar an das Ministerium der Justiz gerichteten oder diesem beispielsweise von der Kanzlei des Staatsratsvorsitzenden zugeleiteten Eingabe darlegen konnte, daß eine gerichtliche Entscheidung diese Grundsätze eklatant verletzt, so durfte er mit der Anforderung und Überprüfung des abgeschlossenen Verfahrens rechnen. Dennoch bestand auch hier kein berechenbarer Rechtsanspruch auf Gewährung dieser "zusätzlichen Instanz" der Eingeber mußte sich eben bemühen, die Notwendigkeit einer Revision "vom Klassenstandpunkt aus" schlüssig darzulegen. Dabei hingen die Erfolgsaussichten, eine Korrektur im Eingabewege durch das Justizministerium herbeizuführen, oftmals weniger von einer stringenten logischen und juristischen Darlegung ab als von einem dramaturgischen Geschick bei der Formulierung des Sachverhalts. Einige Beispiele aus den archivierten Eingabenvorgängen des Büros des Ministers der Justiz aus den frühen achtziger Jahren sollen diese verfassungsgerichtliche Funktion beschreiben und 125 126

Eingabenanalyse des Ministeriums der Justiz für das Jahr 1976, ebenda. Eingabenanalyse des Ministeriums der Justiz für das Jahr 1976, ebenda.

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

einen Eindruck vennitteln von Fonn und Stil der Eingaben und dem Ablauf der Bearbeitung: Unter dem Aktenzeichen 0714-13-156/81 findet sich ein Vorgang, in dem ein Bürger an den Justizminister der DDR, Hans-Joachim Heusinger, persönlich schreibt, um ihn dazu zu bewegen, ein Verfahren in einer Erbangelegenheit wieder aufzugreifen. Der Eingabenverfasser hatte zunächst versucht, das die Ehefrau des Erblassers begünstigende Testament anzufechten. Die Klage war abgewiesen worden, das Rechtsmittel der Berufung nicht zulässig. Nunmehr versuchte der Eingabenverfasser weniger durch Aufzeigen eines konkret bezeichneten Fehlers in der Rechtsanwendung durch das zuständige Gericht als vielmehr durch Wertungen in bezug auf die gesellschaftlichen Verdienste der Beteiligten das Justizministerium zum Einschreiten zu bewegen. Der Eingabenverfasser schrieb: "Sehr geehrter Herr Minister! Ich wende mich in einer Angelegenheit an Sie, die mich seit Monaten stark beschäftigt. Es mehren sich die Zweifel, ob in der Praxis der Rechtsprechung die Grundsätze des Zivilrechts berücksichtigt werden, die u. a. darauf gerichtet sind, ,die Bestimmungen dieses Gesetzes so auszulegen und anzuwenden, daß die Leistung des Bürgers für die Gesellschaft Grundlage ist für seinen Anteil am gesellschaftlichen Reichtum und den Erwerb des persönlichen Reichtums'. Würde es sich um eine Angelegenheit handeln, die mich betrifft, hätte ich nicht an Sie geschrieben. Aber es erschüttert mich tief, wenn ich zusehen muß, daß ein Genossen-Ehepaar, alte Kommunisten, Widerstandskämpfer, Träger des VVO in Gold und Silber, gute, wunderbare Menschen, die ihr ganzes Leben unter großen Opfern dem Entstehen, Werden und Wachsen dieser Republik gewidmet haben, die vor 9 Monaten den einzigen Sohn, einen jungen Arzt, Wissenschaftler und Genossen an einer schweren Krankheit leiden und sterben gesehen haben und die nun auch noch am Ende ihrer Tage im Zusammenhang mit Erbfragen um die wenigen Früchte ihres langen Lebens, um die Ersparnisse von Rente und Ehrenpension als Kämpfer gegen den Faschismus gebracht werden sollen. Es handelt sich um (... ) meine Schwiegereltern. Ich erwarte keine Revidierung gefällter Gerichtsentscheidungen, keine genaue Untersuchung des Sachverhaltes, keine detaillierte Beantwortung meiner Fragen. Ich bitte nur um eines, entsprechend den Grundsätzen des Zivilrechts zu verfahren, im Rahmen der Gesetzlichkeit die Gesetze anzuwenden, daß meinen Schwiegereltern und damit auch dem einzigen Kind des verstorbenen Dr. S. größtmöglichste Gerechtigkeit widerfährt, daß die Angelegenheit nicht allein durch Paragraphen entschieden, sondern daß das moralische Umfeld betrachtet und bestimmte, von mir vorgetragene Umstände im Verlaufe der vor Gericht vorgetragenen Streitigkeiten genauer untersucht werden. Mehrmals und von kompetenten Leuten wurde mir als langjährigem Kommunisten und Widerstandskämpfer gesagt, daß Moral im Zivilrecht nichts zu suchen hat. Ich kann nicht so recht daran glauben, möchte mich auf die Grundsätze des Zivilrechts berufen. Darauf baue ich. (... ) Ich bitte auch bei meiner Darlegung des Sachverhaltes davon auszugehen, daß hier be-

3. Abschn.: Zur Praxis des Eingabenwesens

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weis- und belegbare Tatsachen vorgetragen, nicht unbegründete Anschuldigungen vorgenommen werden. In der Hoffnung, daß diesen beiden alten und um die DDR verdienten Menschen geholfen werden kann, verbleibe ich Mit sozialistischem Gruß"

Der Eingabenverfasser schildert im folgenden, weshalb er der Ansicht ist, daß seine Schwiegereltern Anspruch, zumindest teilweisen Anspruch auf das Erbe hätten, und äußert den Verdacht, das Testament sei von der testamentarisch als Alleinerbin vorgesehenen Ehefrau des Erblassers gefälscht worden. Darüber hinaus nimmt er Bezug auf ein schwebendes Verfahren zwischen der Ehefrau des Erblassers und den Schwiegereltern, in dem es um die Rückzahlung eines von diesen gewährten Darlehens aus dem Erbe ging. Er benennt das Gericht, vor dem das Verfahren anhängig ist, und die Prozeßvertreter der Parteien. Sein Interventionsbegehren spricht er nicht offen aus, sondern kleidet es in mehrere Fragen ("Ist es Recht, daß ... "), die in einem ähnlich moralisierenden und emotionalen Ton verfaßt sind wie das Einleitungsschreiben. Abschließend weist er auf seine gesellschaftlichen Verdienste, Orden und Auszeichnungen hin. Ein Mitarbeiter des Justizministeriums führte zunächst eine Vorprüfung durch, welche er dem Minister vorlegte. Darin hieß es: "Über die Klage zur Anfechtung des Testaments hat das Stadtbezirksgericht Berlin - Prenzlauer Berg mit Klageabweisung entschieden. Eine eingelegte Berufung wurde zurückgenommen. Damit ist das Zivilrechtsverfahren beendet. Es wird empfohlen, in einem Schreiben dem Eingabenverfasser mitzuteilen, daß das MdJ keine Möglichkeit hat, in dieser Sache tätig zu werden."

Zu dieser Empfehlung findet sich eine auf den 20.5.1981 datierte handschriftliche Kommentierung offenbar des Justizministers, der hierzu anmerkt: "Das wäre der typische Fall von Herzlosigkeit und bürokratischem Verhalten."

Daraufhin forderte die Hauptabteilung III des Ministeriums der Justiz die Verfahrensakten vom Stadtbezirksgericht Prenzlauer Berg an und prüfte sie. Über das Prüfungsergebnis wurde der Minister ausführlich informiert: "Vermerk über die Erledigung der Eingabe des Herrn G. K. ( ... ) In dieser Sache nahm ich im StBG Berlin - Prenzlauer Berg Einsicht in die Akten 352 Z 857/80 und 351 Z 378/81. Die Zivilsache aus 1980 war eine Klage um Feststellung der Echtheit des Testaments, und die andere Sache ging um die Forderung eines Darlehens in Höhe von 50 TM gegen die Erbin F. S. Mit Herrn H. S. (Vater des verstorbenen Dr. S.) fanden am 19.5. und am 2.6.81 persönliche Aussprachen statt. Nach vorheriger Rücksprache mit Kollegen ... erteilte ich Herrn H. S. am 2.6.81 folgende Auskünfte:

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1. Die Testierfahigkeit des Erblassers konnte nicht angezweifelt werden, so daß die diesbezügliche Berufung beim Stadtgericht Berlin von der klagenden Partei zurückgenommen wurde. An dieser Entscheidung ist nichts mehr zu ändern. 2. Aufgrund eines vorliegenden Darlehensanerkenntnisses des Erblassers hat Herr H. S. einen Anspruch aus dem Darlehen von 50 TDM. Hier kann die Herausgabe verlangt werden oder muß ggf. Klage erhoben werden. 3. Das Kind des Erblassers aus erster Ehe, S. S., hat einen Anspruch auf das Pflichtteil, weil sie noch unterhaltsbedürftig ist. Dieser Anspruch vom gesetzlichen Erbteil) kann aus dem Nachlaß verlangt werden.

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4. Zum Zwecke der Durchsetzung der berechtigten Forderungen gegen die Erbin empfahl ich, einen Rechtsanwalt zu Rate zu ziehen. 5. Herr H. S. brachte zum Ausdruck, daß er mit dieser Aussprache die Eingabe seines Schwiegersohnes Herrn G. S. als abgeschlossen und erledigt betrachtet."

Diesen Vermerk zeichnete der Minister am 10.6. mit der Bemerkung ab: "Einverstanden. Kurzes Abschlußschreiben an den EV (= Eingabenveifasser, der Verfasser dieser Arbeit) schreiben." Dem Eingabenverfasser wurde daraufhin von einem wissenschaftlichen Mitarbeiter des Ministers folgendes mitgeteilt: "Werter Herr K.! In Erledigung ihrer Eingabe vom 7.5.81 haben wir in die Sachakten Einsicht genommen und uns mit den entsprechenden verantwortlichen Mitarbeitern über Ihre Anliegen beraten. Über das Ergebnis der Bearbeitung ihrer Eingabe haben wir Herrn H. S. in Aussprachen am 19.5. und 1.6.81 hinreichend informiert und Wege zur weiteren Durchsetzung vorhandener Interessen aufgezeigt. Herr S. erklärte sich am 1.6.81 damit einverstanden, daß somit Ihre Eingabe vom 7.5.81 ihre Erledigung gefunden habe."

Die Eingaben an das Ministerium des Justiz zeigen, daß unter Wahrung eines politische Konformität signalisierenden Tons auch Eingaben zu politisch und rechtlich besonders heiklen Fragen, wie z. B. Fragen der freien Verfügung über privates Grundstückseigentum, möglich waren. So monierte ein Eingabenverfasser in einem Schreiben an Minister Heusinger, daß eine Eigenbedarfsklage gegen die 1951 in das elterliche Wohnhaus eingewiesenen Bewohner in zwei Instanzen erfolglos geblieben war. l27 Der Eingabenverfasser fühlte sich durch die gerichtlichen Entscheidungen "de facto enteignet" und sah sich hiermit vom sozialistischen Recht im Stich gelassen: "Bei diesem Eigentum handelt es sich um reines Privateigentum, das seit der Erbauung des Hauses ununterbrochen im Besitz der Familie war und nicht etwa

127 Eingaben an das Ministerium der Justiz, Büro des Ministers, Zivilrecht, Eingabenvorgang 0714-13-165/81 vom 14. Mai 1981, BArch DP 1 Nr. 3898 (VA).

3. Abschn.: Zur Praxis des Eingabenwesens

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käuflich erworben wurde. Es hat also kein Grundstückskauf staatgefunden, um aus spekulativen Gründen ,Geld anzulegen', welchem Umstand man oft begegnet. Laut Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik ist das hier vorliegende Privat-Eigentum durchaus möglich und genießt den Schutz unseres Arbeiter-undBauern-Staates. (... ) Es muß als ausgesprochener Härtefall bezeichnet werden, wenn unsere Gerichte einen Zustand zementieren wollen, der es Hauseigentümern unmöglich macht: ihr Eigentum in Form eines Einfamilienhauses selbst zu nutzen."

Sodann versuchte der Eingabenverfasser darzulegen, daß er mit seiner Eingabe nicht bloß ein egoistisches, sondern vielmehr ein gesamtgesellschaftliches Interesse verfolgte: "Ich unterbreite diese Sachlage unserem Herrn Justizminister und möchte damit anregen, die außerordentlich engen Rechtsvorschriften, die sich auf den Eigenbedarf von Wohnraum beziehen, den inzwischen zweifellos eingetretenen Lockerungen unserer Wohnraumlage anzupassen. Zumindest sollten Grundstückseigentümer, die ein Grundstück nicht durch Kauf in den letzten Jahren erworben haben, endlich die Möglichkeit erhalten, ihr Eigentum unbeschränkt selbst nutzen zu können. Eine enge, vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem örtlichen Rat ist hierbei unabdingbare Voraussetzung. Die im vorliegenden Fall geltend gemachte Einordnung des Problems als markanten Härtefall ist darin zu sehen, daß die Familie ihr eigenes Haus ununterbrochen selbst bewohnt hätte, wenn es nicht 1945 von der damaligen sowjetischen Besatzungsmacht beschlagnahmt worden wäre und binnen weniger Stunden mit Möbeln bereitzustellen war. Herr Professor Dr. K. hatte dann das große Glück, das Haus beim überraschenden Freiwerden vom Rat der Stadt Weimar als Wohnraum zugewiesen zu bekommen. Die Hauseigentümer aber müssen die damals 1945 erfolgte Beschlagnahme noch heute hinnehmen und gleichsam büßen!"

Typisch für einen spezifischen Eingabenstil war es, das eigene Begehren schlicht als Anlaß für den Hinweis auf ein grundsätzliches Problem in der sozialistischen Gesellschaft darzustellen, welches dringend der Änderung bedurfte. Häufig stellten die Eingabenverfasser ein angebliches gesellschaftliches Erfordernis zur Regelung einer Gruppe gleichgearteter Fälle in den Vordergrund, um die Lösung des eigenen Problems als Reflex der angestrebten "gesellschaftlichen" Veränderung zu präsentieren. Diesem - meist sehr durchsichtigen - Manöver sollte durch den Hinweis auf die eigene politische Integrität und die loyalen Verdienste beim Aufbau des Sozialismus Glaubwürdigkeit verliehen werden. So auch hier: "Ich halte eine solche Aussprache bzw. Konsultation für sehr dringlich, um dieses leidige Kapitel in unseren diesbezüglichen gesetzlichen Vorschriften einmal in ihren (vom Gesetzgeber sicherlich nicht beabsichtigten) Auswüchsen darzulegen. Möglicherweise könnte diese Konsultation dazu beitragen, ausgesprochene Härten in den einschlägigen Vorschriften zu mildem. Diese von mir vorgeschlagene Verfahrensweise stellt m. E. einen echten Beitrag zu lebendiger Demokratie dar, die immer vielgestaltiger zu entwickeln unser aller

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

Anliegen sein muß. Sie wissen, sehr geehrter Herr Minister, daß ich mich in der Vergangenheit mehr als einmal als Schrittmacher beim Aufbau und der Entwicklung unserer sozialistischen Gesellschaftsordnung eingesetzt habe. Auch heute noch bin ich aktiv, wo immer ich gebraucht werde, zu jedem Einsatz bereit." Der von einem wissenschaftlichen Mitarbeiter des Ministers ausgearbeitete und von Minister Heusinger akzeptierte Lösungsvorschlag führte für den Eingabenverfasser dann schließlich doch nicht zum Erfolg: ,,1. In dieser Angelegenheit können wir im Prinzip nichts machen. Der Rechtsweg

wurde über zwei Instanzen voll ausgeschöpft. Immerhin wurde die Berufung durch Beschluß als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Und wenn man sich zu einer solchen Beschlußfassung entscheidet, ist der Fall in der Regel lupenrein, d.h. vom Kreisgericht richtig entschieden worden. Ich halte es daher auch für nicht sinnvoll, die Möglichkeit einer Kassation prüfen zu lassen. Bei allem Verständnis für die Situation des offensichtlich schon alten Eingabenverfassers gibt es hier bestimmte antiquierte Eigentumsvorstellungen und wohl auch etwas überzogene (,gutbürgerliche') wohn- und Lebensansprüche (Seite 3, oben).

2. Dennoch sollten wir der Bitte des Eingabenverfassers entsprechen, mit ihm ein

klärendes Gespräch zu führen ohne zu erwarten, damit seine Positionen grundlegend ändern zu können.'d28 So wurde verfahren. ee) Eingaben zur Überprüfung von Verwaltungsakten Diese umfassende Dienstbereitschaft legte das Ministerium der Justiz ausschließlich in zivil- und strafrechtlichen Angelegenheiten an den Tag, während sich seine Mitarbeiter in bezug auf das Aufgreifen verwaltungsrechtlicher Streitigkeiten weitaus restriktiver zeigten. Dabei war das Bedürfnis der Bevölkerung, derartige Streitigkeiten notfalls auch durch das Ministerium klären zu lassen, evident. Auch dies belegt der Eingabenbericht des Justizministeriums für das Jahr 1975: "Im Berichtszeitraum wurden 633 Eingaben (davon 100 vom Ministerium) nach Überprüfung der Zuständigkeit an andere Organe abgegeben. Nach wie vor kommt in den Eingaben zum Ausdruck, daß die Gerichte eine Überprüfungs- und letzte Entscheidungsbefugnis bei Verwaltungsakten haben bzw. haben müßten. Oftmals haben die Bürger kein Verständnis dafür, daß der Beschwerdeweg bei Verwaltungsentscheidungen beim Rat des Bezirkes endet. Das ist besonders dann der Fall, wenn auch der Rat des Bezirks nicht in ihrem Sinne entschieden hat. Die Abgabe an andere Organe wird durch die Gerichte und staatlichen Notariate trotz hoher Arbeitsbelastung sehr verantwortungsvoll gehandhabt. Sie setzten sich in Einzelfällen für die Klärung von Problemen, die nicht oder nicht ausschließlich 128 Eingaben an das Ministerium der Justiz, wie vorangehende Anm., Hervorhebungen im Original.

3. Abschn.: Zur Praxis des Eingabenwesens

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in ihre Zuständigkeit fielen, zielstrebig ein und konnten sie in enger Zusammenarbeit mit den anderen bzw. zuständigen Organen klären."

Die Befassung des Ministeriums der Justiz mit Verwaltungsrechtsstreitigkeiten kam somit grundsätzlich nicht in Betracht. Selbst wenn der zur Kenntnis gegebene Sachverhalt glaubhaft auf ungesetzliche Maßnahmen von Verwaltungsorganen hindeutete, scheuten sich die Mitarbeiter des Ministeriums, selbst einzugreifen. Auf dieses Rechtsgebiet ließ sich der Gedanke der auf dem Eingabewege aktivierten Zusatzkontrolle durch das Ministeriums der Justiz, wie er für die Kontrolle von Urteilen der ordentlichen Gerichtsbarkeit dargestellt wurde, nicht übertragen.

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

Vierter Abschnitt

Experimente mit Formen externen Verwaltungsrechtsschutzes in der Ära Ulbricht Mit dem Staatsratserlaß des Jahres 1961 hatte das Eingabenwesen der DDR in Hinblick auf die dogmatische Ausgestaltung bereits seine Endform gefunden. Die Änderungen, welche der Eingabenerlaß von 1969 wie auch das Eingabengesetz von 1974 mit sich brachten, blieben marginal und ohne durchgreifenden Effekt in der Praxis des Eingabenwesens. Hatte sich somit das Eingabenwesen selbst als unreformierbar erwiesen, unternahm die Staatsführung behutsame Versuche, das Eingabenrecht durch Formen verwaltungsexterner Kontrolle zu ergänzen. Mit den Beschwerdeausschüssen, welche aufgrund der Vorgaben der neugefaßten Verfassung der DDR vom 6. April 1968 1 Eingang in die Novelle des Eingabenerlasses vom 20. November 19692 fanden, wurde der Versuch unternommen, den der Staatsführung als Ergebnis der Eingabenanalyse von Beginn an bekannten strukturellen Defiziten des Eingabenwesens Herr zu werden. Zu diesem Zweck war die SED-Führung sogar bereit, behutsame Konzessionen in Hinblick auf eine Durchbrechung des Selbstentscheidungsrechts der Verwaltung zu machen. Hierdurch sollte einerseits die Arbeit der lokalen Organe der Verwaltung optimiert und andererseits die zentralen Staatsorgane entlastet werden. Auf theoretische Vorarbeiten, aus denen sich hätte erschließen lassen, in welcher Form ein auf die Verhältnisse der DDR zugeschnittener Verwaltungsrechtsschutz zu etablieren wäre, konnte nicht zurückgegriffen werden. Vor diesem Hintergrund prägte Klaus Westen schon 1969, vor Aufnahme der flächendeckenden Bildung der Beschwerdeausschüsse, die Formel vom "Verwaltungsrechtsschutz in der Retorte,,3. Zur Vorbereitung der Novelle berief der Staatsrat eine Kommission unter der Leitung des stellvertretenden Vorsitzenden Manfred Gerlach, welche die Grundsätze für die Arbeit der Experimentalausschüsse erarbeiten sollte. Die überlieferten Materialien und Sitzungsprotokolle der Staatsratskommission dokumentieren den Verlauf des Gesetzgebungsprozesses. 4

GBL I 1968, S. 199. GBL I 1969, S. 239. 3 Klaus Westen, Verwaltungsrechtsschutz in der Retorte, in: Deutschland-Archiv 1969, S. 370-378. 4 Tätigkeit der Arbeitsgemeinschaft des Staatsrates zur Neufassung des Eingabenerlasses und Bildung von Beschwerdeausschüssen bei den örtlichen Volksvertretungen (beschlossen auf der 8. Sitzung des Staatsrates am 22.4.1968), BArch (Staatsrat) DA 5 Nr. 7305-7314. 1

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4. Abschn.: Experimente mit Fonnen externen Verwaltungsrechtsschutzes 321

I. Rechtspolitische Grundlagen 1. VII. Parteitag der SED Neubestimmung der Rolle des Staates und des Rechts

Der VII. Parteitag, der vom 17. bis zum 22. April 1967 in der WernerSeelenbinder-Halle zu Berlin stattfand, markierte einen Wandel im staatlichen Selbstverständnis der DDR. Unterschiedliche Faktoren beeinflußten den politischen Kurs der SED. Deutschlandpolitisch war die Idee eines wiedervereinigten Deutschlands unter sozialistischem Primat längst in weite Feme gerückt. Der Systemwettbewerb mit dem westlichen Teilstaat, der vorrangig auf ökonomischem Felde geführt wurde, schien zwar auf unabsehbare Zeit vom Westen für sich entschieden worden zu sein5 , innenpolitisch war es der DDR dagegen gelungen, mit der Abriegelung des eigenen Territoriums durch den Mauerbau im Jahre 1961 die Fluchtbewegung von Arbeitskräften nach Westdeutschland, die zu Versorgungsengpässen und allgemeinen wirtschaftlichen Schwierigkeiten geführt hatte, weitgehend einzudämmen. Nachdem der Bewährungsdruck durch die Abschottung der DDR weniger spürbar geworden war, setzte sich Walter Ulbricht sogar von der Beschlußlage der KPdSU ab, indem er den Sozialismus nunmehr nicht zur Durchgangsphase, sondern bereits zum Endziel der gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR proklamierte. Dies führte zu einer grundSätzlichen theoretischen Neubewertung der Rolle des Rechts in der DDR. Im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Entwicklungsinteresses sollte fortan die sogenannte "Sozialistische Menschengemeinschaft" stehen, deren Wesen Walter Ulbricht in seinem Referat über "Die gesellschaftliche Entwicklung bis zur Vollendung des Sozialismus" darstellte: "Das entwickelte gesellschaftliche System des Sozialismus, das zu gestalten unsere historische Aufgabe ist, erfordert von allen Genossen und auch von den anderen Bürgern unseres Staates angestrengte und schöpferische Arbeit. Wir scheuen keine steilen Pfade. Denn es geht um einen wichtigen Schritt zur Verwirklichung unseres hohen, zutiefst humanistischen Ideals der sozialistischen Menschengemeinschaft. In der gemeinsamen Arbeit zur Schaffung des entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik verschmilzt das persönliche Interesse der Werktätigen immer enger mit 5 Entge.~en der von Walter Ulbricht vertretenen "Magnettheorie", die ursprünglich eine Uberrundung Westdeutschlands in Hinblick auf die wirtschaftliche Prosperität pro Kopf der Bevölkerung für das Jahr 1961 prognostizierte, hatte die DDR das Ziel einer Angleichung an die Produktivität der Bundesrepublik noch bei weitem nicht erreicht. Vielmehr ließ sich sogar ein nicht unerheblicher Rückgang im Vergleich zum westlichen Teilstaat feststellen. So sank das kaufkraftbereinigte Nettodurchschnittseinkommen der Arbeiter- und Angestelltenhaushalte von 64% des Westniveaus im Jahre 1960 auf 55% im Jahre 1969. (Vgl. Klaus Schroeder. Der SED-Staat, S. 182, m.w.N.).

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dem Gesamtinteresse der Gesellschaft. Diese wichtigste Triebkraft unserer ökonomischen und gesamten gesellschaftlichen Entwicklung wird ihren Ausdruck in neuen, hervorragenden Leistungen unserer Bürger auf allen Gebieten des Lebens finden.,,6

Die Denkfigur der "sozialistischen Menschengemeinschaft" verzichtete somit ganz auf Bezüge zu Begriffen wie "Volk" und "Nation" und beschwor ein humanistisches Ideal, bei dessen Verwirklichung ein Gleichklang zwischen Individual- und Kollektivinteressen in Aussicht stand. Anders als in der Gründungsphase der DDR folgte aus dem Dogma der Interessenidentität nunmehr jedoch nicht mehr zwingend die "These vom Absterben des Staates", nach welcher der "Staat" und seine positive Rechtsordnung Relikte einer bourgeoisen Ordnung darstellten, die es durch die stetige Weiterentwicklung des Kollektivierungsprozesses und die Prägung eines neuen Menschentyps zu überwinden galt. Vielmehr führte die Aufwertung des Sozialismus zu einer eigenständigen, aus sich selbst heraus existenzberechtigten Epoche zur Akzeptanz beider Begriffe im Rahmen der Festigung der "sozialistischen Menschengemeinschaft". Diese neugewonnene Perspektive manifestierte sich in Ulbrichts Rede in der Proklamation des "demokratischen deutschen Rechtsstaats", dessen Definition allerdings rechtlich vage blieb: "Unsere Deutsche Demokratische Republik ist der demokratische deutsche Rechtsstaat. Sie hat die grundlegenden Verpflichtungen, die sich aus dem Potsdamer Abkommen ergeben, erfüllt. Sie hat Nazismus und Militarismus beseitigt, die Macht der Monopole gebrochen und alle materiellen und ideologischen Garantien dafür geschaffen, daß der Frieden keines anderen Staates von ihr gefährdet wird. Die DDR ist der demokratische deutsche Rechtsstaat; denn in ihr wurde die bürgerlich-demokratische Revolution, die mit dem Großen Deutschen Bauernkrieg begann, unter Führung der Arbeiterklasse zum Siege geführt. Damit wurde eine gesunde demokratische und sozialistische Entwicklung gewährleistet. In der DDR werden die fortschrittlichen Traditionen des deutschen Volkes gepflegt und weiterentwickelt. Der Entstellung der humanistischen Traditionen und der Herabwürdigung des Menschen durch kapitalistische Monopole, Naziideologie und den Einfluß amerikanischer Geschäftemacher wurden in der DDR die Grundlagen entzogen (... ). Die DDR ist schließlich nicht zuletzt deshalb der demokratische deutsche Rechtsstaat, weil ihr die Zukunft gehört. Sie ist der modeme deutsche Industriestaat, in dem sich die Gesellschaftsordnung der neuen Zeit - die sozialistische Ordnung ein für allemal durchgesetzt hat."

Hatte Karl Polak im Dezember 1946 den Begriff des Rechtsstaates noch als "völlig inhaltsleer" bezeichnet und ihm jegliche Brauchbarkeit im sozia6 Protokoll der Verhandlungen des VII. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, 17. bis 22. April 1967 in der Wemer-Seelenbinder-Halle zu Berlin, Referat Walter Ulbricht, S. 89 ff.

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listischen Gesellschaftssystem abgesprochen, so schien Walter Ulbricht ihn nunmehr gar nicht oft genug wiederholen zu können. Bereits auf der 27. Sitzung des Staatsrats am 4.4.1963 hatte Ulbricht erklärt: "Die DDR ist der deutsche demokratische Rechtsstaat, sowohl im Sinne der historischen Rechtmäßigkeit als auch im Sinne der bürgerlichen Gerechtigkeit und tiefen Humanität seiner Rechtsordnung,,7. Daraufhin revidierte dann auch Polak, nunmehr zum Mitglied des Staatsrats avanciert, seine Ansicht und erkannte in seinem in der Zeitschrift "Neue Justiz" veröffentlichten Artikel "Die DDR - der wahre deutsche Rechtsstaat"S den Rechtsstaat als Leitbegriff mit Geltung auch für die DDR an. Mit dieser Kurskorrektur bereitete er den Boden für die Übernahme des Rechtsstaatsbegriffes in die verfassungsrechtliche Diskussion der DDR, in deren Verlauf die rechtlich fundierte Staatsordnung zumindest formal eine Aufwertung erfahren sollte. "In der Periode der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, da die vollständige Durchführung des neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung, die Meisterung der fortgeschrittensten Wissenschaft und Technik und die Entwicklung der sozialistischen Nationalkultur auf der Tagesordnung stehen, gewinnt der Staat auf neue Weise an Bedeutung. (... ) Gerechtigkeit im großen wie im kleinen, unbedingte Rechtssicherheit und Gesetzlichkeit, Schutz der Würde und der Rechte des Bürgers in unserer Gesellschaft kennzeichnen unsere Staats- und Rechtsordnung. Sie sind für die Tätigkeit aller Staats- und Wirtschaftsorgane wie für die Rechtspflege unverbrüchliches Gut. ,,9

Der Forderung nach einer Stärkung und Neuausrichtung der sozialistischen Gesetzlichkeit sollte auch im Rahmen der Verfassungsnovelle Rechnung getragen werden. 1O Fast beiläufig regte Ulbricht die Ersetzung der Staatsverfassung an. Auf der Rechtfertigungsbasis der Entwicklungsgesetze des dialektischen Materialismus konnte dies ohne weiteres mit dem Fortschreiten der gesellschaftlichen Entwicklungsbedingungen legitimiert wer7 Der Begriff des "sozialistischen Rechtsstaats" geht offenbar auf Roland Meister zurück, der ihn erstmals in seiner Arbeit "Der Rechtsstaatsbegriff in der westdeutschen Gegenwart" verwendete und ihn mit dem Begriff des "demokratischen Rechtsstaates" im Sinne Ulbrichts identifizierte. Am Ende der Arbeit über das Rechtsstaatsproblem in der westdeutschen Gegenwart plädierte Meister dafür, "das große und schöne Wort vom deutschen Rechtsstaat" zu übernehmen, weil es in besonderem Maße geeignet sei, "im Hinblick auf die sozialistische Rechtsordnung Gefühle der Sicherheit, des Stolzes und der Überlegenheit zu wecken und zu nähren". 8 Karl Polak, Die DDR - der wahre deutsche Rechtsstaat, in: Neue Justiz 1963, S.260-266. 9 Protokoll der Verhandlungen des VII. Parteitages, Referat Walter Ulbricht, wie Anm. 6, S. 96. 10 Im Verfassungswerk von 1968 selbst sollte der Begriff des "sozialistischen deutschen Rechtsstaates" freilich keine Verwendung finden. Dagegen verkündete die Präambel des Strafgesetzbuches der DDR vom 12.1.1968: "Das sozialistische Recht in der DDR verkörpert den Willen des deutschen Volkes, dient dem Schutze der Bürgerrechte und bestätigt die DDR als den wahren deutschen Rechtsstaat."

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den: Da das Recht als Teil des Überbaus ohnehin nur die ökonomische Basis reflektierte, haftete dem Vorgang nicht etwa der Geruch des Verfassungsbruchs an. Praktisch wird an diesem Vorgang deutlich, wie gering die Bindungswirkung der DDR-Verfassungen war: "Seit einiger Zeit ist sichtbar, daß die gegenwärtige Verfassung der DDR offenbar nicht mehr den Verhältnissen der sozialistischen Ordnung und dem gegenwärtigen Stand der historischen Entwicklung entspricht. In der Tat ist unsere gegenwärtige Verfassung in der Zeit der antifaschistisch-demokratischen Ordnung entstanden, über die wir bekanntlich weit hinausgewachsen sind. In der Zwischenzeit ergaben sich durch einstimmig von der Volkskammer verabschiedete Gesetze Ergänzungen und Durchführungsbestimmungen. Die Ausarbeitung einer neuen, zeitgemäßen Verfassung setzt jedoch voraus, daß die grundlegenden Probleme der neuen Periode weitgehend ausgereift sind. Ich meine: Das dürfte in naher Zukunft der Fall sein. Es wird also Sache der neu zu wählenden Volkskammer sein, festzulegen, wann sie die Vorbereitungen für eine neue Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik beginnen will."l1

2. Die Verfassung vom 6. April 1968 a) Der Charakter der Staatsratsverfassung

Die Verfassungs urkunde ließ die Entschlossenheit der Staatsführung zur "Versteinerung des erreichten Verfassungszustandes" (Gottfried Zieger) erkennen. Die neue Verfassung sollte keine neuen Verhältnisse schaffen, sondern vielmehr die zunehmend sichtbar gewordene Diskrepanz zwischen Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit - d.h. zwischen der formellen und der materiellen Verfassungsordnung - beseitigen. 12 Die Weiterentwicklung der Gesellschaftsordnung durch die Vielzahl der gesetzlichen Neuregelungen sollten in der Verfassung zusammengefaßt, fixiert und staatsrechtlich gesichert werden. 13 Exemplarisch für diese Tendenz stand Artikel 5, Absatz 3, der bestimmte: ,.zu keiner Zeit und unter keinen Umständen können andere als die verfassungsmäßig vorgesehenen Organe staatliche Macht ausüben."

Verfassungsgeschichtlich markierte die Staatsratsverfassung das Umschlagen einer revolutionären Herrschaft in eine restaurative Phase. Die Konsolidierung des Erreichten sollte mit allen Mitteln des Verfassungsrechts erzwungen werden. Insofern brach die Verfassungsnovelle radikal mit den in der Gründungsverfassung angelegten Entwicklungslinien. Ähnelte die Gründungsverfassung von 1949 noch in weiten Zügen der Weimarer Reichsverfassung und wies dementsprechend auch noch verwandtschaftliche Bezie11 12 13

Protokoll ... , wie Anm. 9. Walter Suermann, Verwaltungsrechtsschutz, S. 32. Suermann, ebenda.

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hungen zum Grundgesetz auf, so entsprach die Verfassung der DDR von 1968 in ihrer Struktur am ehesten der - damals noch geltenden - sowjetischen Verfassung von 1936. 14 Gegenüber der Gründungsverfassung wurden nunmehr wesentliche Elemente und Garantien verworfen. Das galt für den Föderalismus 15 ebenso wie auch für die kommunale Selbstverwaltung und schließlich auch die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Die veränderten deutschlandpolitischen Umstände machten es im Gegensatz zur Situation bei Erlaß der Gründungsverfassung nunmehr obsolet, den marxistisch-leninistischen Charakter der Verfassung zu verbergen oder zu bemänteln. Nachdem die gesamtdeutsche Option in unerreichbare Ferne gerückt war, galt es nun, die eigene Staatlichkeit verfassungsrechtlich abzusichern. Schien die Verfassungsurkunde von 1949 noch eine demokratisch-parlamentarischen Gesellschaftsordnung zu reflektieren, so huldigte die Staatsratsverfassung 1968 offen dem Klassenstaat. Schon rein stilistisch markierte die neue Verfassung einen aggressiven Abgrenzungskurs gegenüber den bürgerlich-demokratischen Gepflogenheiten und Institutionen. 16 Diese Grundtendenz wurde bereits an der ihrem Charakter nach völlig veränderten Präambel deutlich, die nun nicht mehr den klassisch-distinguierten Stil der Weimarer Reichsverfassung pflegte, sondern unumwunden die wichtigsten Strukturmerkmale des sozialistischen Staates proklamierte: "Die DDR ist ein sozialistischer Staat deutscher Nation. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land, die gemeinsam unter der Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei den Sozialismus verwirklichen. "

Der Erhebung der zwei Strukturelemente der Gewaltenkonzentration, des "Grundsatzes der Einheit von Beschlußfassung und Durchführung,,17 und des "demokratischen Zentralismus.. 18 in den Verfassungsrang kam zwar nur 14 Der sogenannten Stalin-Verfassung. Vgl. Gottfried Zieger, Die Organisation der Staatsgewalt in der Verfassung der DDR von 1968, in: Archiv des Öffentlichen Rechts 1969, S.185-223 (185). 15 Die Präambel der Gründungsverfassung betonte noch: "Deutschland ist eine unteilbare demokratische Republik, sie baut sich auf den deutschen Ländern auf." Wie bereits ausgeführt wurde diese Feststellung freilich bereits mit dem "Gesetz über die weitere Demokratisierung des Aufbaus und der Arbeitsweise der staatlichen Organe in den Ländern der DDR" vom 23. Juli 1952 in das Reich der Fabel verwiesen. 16 So fand sich etwa in der Präambel der Hinweis auf die "geschichtliche Tatsache", daß "der Imperialismus unter Führung der USA im Einvernehmen mit Kreisen des westdeutschen Monopolkapitals Deutschland gespalten hat, um Westdeutschland zu einer Basis des Imperialismus und des Kampfes gegen den Sozialismus auszubauen, was den Lebensinteressen der Nation widerspricht". Art. 9 kritisierte die "aggressive und abenteuerliche Politik" des "monopolkapitalistischen Wirtschaftssystems". (Vgl. Zieger, wie Anm. 14.). 17 Vgl. Art. 48 Abs. 3.

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

deklaratorische Bedeutung zu, hatte aber systematische Konsequenzen für den Verfassungsaufbau. Die Einheitlichkeit der Staatsgewalt dokumentierte nunmehr die einheitliche Subsumtion der Regelungsbereiche Gesetzgebung, Regierung und Verwaltung unter die Überschrift "Aufbau und System der staatlichen Leitung,,19. Die Rechtspflege wurde insofern ausgenommen und separat im nachfolgenden Abschnitt als Bestandteil der "Sozialistischen Gesetzlichkeit" geregelt, so daß sich die Systematik dem Vergleich mit den Verfassungen von 1919 bzw. 1949 insoweit entzog. 20 Im Bereich der Staatsorganisation sollte fortan Artikel 48 die Zentralnorm darstellen. Zumindest theoretisch verbriefte er die Omnipotenz der Volkskammer. 21 Einen Hinweis auf die beabsichtigte Aufwertung des Rechts gab insbesondere Art. 19 Abs. 1, der von der Gewährleistung der "sozialistischen Gesetzlichkeit" und "Rechtssicherheit" handelte. Auch die Gewährung von Grundrechten in einem gesonderten Kapitel deuteten darauf hin?2 Die materiellen Auswirkungen der verfassungsmäßigen Umwälzung und Umkehrung blieben allerdings beschränkt. Schließlich war auch die Gründungsverfassung nur unverbindliches Ornat des sozialistischen Staates gewesen, deren Vorgaben die Staats- und Rechtspraxis nicht banden. Der sozialistische Rechtsbegriff und das Fehlen einer verfassungsgerichtlicher Kontrolle 23 ermöglichten es, wesentliche Verfassungsbestimmungen wie gerade den die 18 Art. 47 Abs. 2 bezeichnete die "Souveränität des werktätigen Volkes, verwirklicht auf der Grundlage des demokratischen Zentralismus", als "das tragende Prinzip des Staatsaufbaus" . 19 Zieger, wie Anm. 14, S. 95. 20 Zieger, ebenda. 21 In der Praxis änderte sich freilich nichts daran, daß der dogmatische "Primat der Volksvertretung" nach 1968 wie zuvor auch eher bildlich aufzufassen war, als daß er die tatsächliche Machtfülle der Institution beschrieb. Im Durchschnitt trat die Volkskammer nicht häufiger als zu sechs Sitzungsgremien pro Jahr zusammen. Dabei beschränkte sich ihre Tätigkeit im wesentlichen darauf, Erklärungen der Parteiund Staatsführer entgegenzunehmen und einige Gesetzgebungsakte einstimmig zu verabschieden. Die Ursache für diese "eklatante Durchbrechung des vorgegebenen Verfassungssystems" - in der DDR wie in allen anderen sozialistischen Staaten auch - lagen im Bereich der politischen Handlungsfähigkeit. Unter dem Aspekt der Steuerungsfähigkeit wäre es der Staatspartei wohl nicht wesentlich schwerer gefallen, den Apparat der Volkskammer ebenso zu disziplinieren wie den Ministerrat, das zentrale Legislativorgan bis zur Kreierung des Staatsrates 1960 oder den Staatsrat selbst. Es wäre nur aufwendiger gewesen und damit zu Lasten der politischen Flexibilität gegangen, hätte man der großen und schwerfälligen parlamentarische Körperschaft im Einzelfall ihr verfassungsmäßiges Recht zugebilligt. Statt dessen bevorzugte man die kleineren und flexibleren obersten Exekutivorgane, mit der Konsequenz, daß die DDR vielmehr dem verteufelten Exekutivstaat glich als die Weimarer Republik, auf die diese Kritik eigentlich zugeschnitten war, und zum bloßen "Resonanzkörper der Entscheidungen der Staatsführung deklassiert" wurde. (Zieger, wie Anm. 14, S. 198). 22 Abschnitt 11, Kapitel 1, Artikel 19-40.

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Institution der Verwaltungsgerichtsbarkeit verbürgenden Art. 138 unbeachtet zu lassen oder mittels einfachgesetzlicher Regelung gegenstandslos zu machen. b) Aussagen der Veifassung zum Verwaltungsrechtsschutz

Im Hinblick auf den Schutz des Bürgers vor hoheitlichen Verfügungen brachte die Verfassung von 1968 zunächst die formale Veränderung mit sich, daß der irreführende Hinweis auf einen Rechtsschutz der Bürger gegen staatliches Handeln durch Verwaltungsgerichte aus dem Verfassungstext entfernt wurde. 24 Die Staatsratsverfassung ließ die Frage des Verwaltungsrechtsschutzes jedoch nicht unbehandelt. Statt dessen wurde der Verfassungstext der auf einfachgesetzlicher Ebene geschaffenen Realität angepaßt und das Eingabenrecht in den Rang eines verfassungsmäßigen Rechtsschutzinstruments erhoben. Verfassungssystematisch fand diese Aufwertung ihren Niederschlag darin, daß das Eingaben- und Beschwerdewesen im Rahmen des vierten Abschnitts "Sozialistische Gesetzlichkeit und Rechtspflege" in den Artikeln 103 bis 106 geregelt wurde. Artikel 103 verbriefte das Eingabenrecht als subjektives Recht im Sinne der marxistisch-leninistischen Grundrechtskonzeption. 25 Verfassungssystematisch stand die Bestimmung im Zusammenhang mit dem in Art. 21 Abs. 2 der Verfassung niedergelegten allgemeinen Mitbestimmungs- und Mitgestaltungsrecht, dem die Funktion eines "sozialistischen Muttergrundrechts" (Georg Brunner) beigemessen wurde, aus dem sich alle übrigen Grundrechte ableiten lassen sollten. 26 Inhaltlich nahm Artikel 103 Bezug auf den Eingabenerlaß von 1961 und stellte fest, daß sich jeder Bürger mit Eingaben (Vorschlägen, Hinweisen, Anliegen oder Beschwerden) an die Volksvertretungen, ihre Abgeordneten oder die staatlichen oder wirtschaft23 Konsequenterweise wurde im Zuge der Ersetzung der Verfassungsurkunden das 1949 auf Drängen der bürgerlichen Parteien in die Gründungsverfassung aufgenommene Verfahren zur Nachprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Volkskammergesetzen (Art. 66) gleichfalls ersatzlos gestrichen. Praktische Bedeutung hat dieses "Rudiment der Verfassungsgerichtsbarkeit" (Siegfried Mampel) ohnehin nie erlangen können. 24 Klaus Westen, Verwaltungsrechtsschutz in der Retorte, in: Deutschland-Archiv 1968, S. 370-378 (370). 25 Siegfried Mampel, Die sozialistische Verfassung der DDR, Anm. 11 zu Artikel 103. 26 Georg Brunner, Das System des subjektiv-öffentlichen Rechtsschutzes in der DDR, S. 83. Brunner führt aus, daß den einzelnen Mitbestimmungs- und Mitgestaltungsrechten in erster Linie der Charakter eines rechtlichen Mittels zukomme, mit dessen Hilfe die Integration des einzelnen in die bestehende Gesellschaft und seine Mobilisierung für die von der Partei- und Staatsführung festgelegten Zielsetzungen erfolgt.

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

lichen Organe wenden könne, ohne daß ihm hieraus ein Nachteil entstehen dürfe. 27 Satz 2 ergänzte, daß dieses Recht auch den gesellschaftlichen Organisationen sowie Gemeinschaften der Bürger zustehe. Gemäß Artikel 104 der Verfassung konnten Beschwerden gegen Entscheidungen zentraler Organe an den Ministerrat gerichtet werden, während für Beschwerden gegen "Leitungsentscheidungen" des Ministerrats selbst, aber auch des Obersten Gerichts oder des Generalstaatsanwalts, der Staatsrat zuständig sein sollte?8 Die eigentliche Neuerung fand sich in Art. 105 der Verfassung. Dieser sah vor, daß für Beschwerden gegen Entscheidungen örtlicher Staatsorgane zwar grundsätzlich nach wie vor der Leiter des entscheidenden Organs zuständig sein sollte - im Nichterfolgsfall sollte sich der Beschwerdeführer jedoch nunmehr an den Beschwerdeausschuß der zuständigen Volksvertretung wenden können. Walter Ulbricht kommentierte die konzeptionelle Neugestaltung des Eingabenwesens in der offiziellen Begründung der Verfassungsänderung wie folgt: "Der sozialistischen Gesetzlichkeit und dem erreichten Stand unserer gesellschaftlichen Entwicklung entspricht es, das Eingaben- und Beschwerderecht der Bürger gegen ungesetzliche Verwaltungsentscheidungen zu verändern. Die Grundidee dieser Veränderung besteht darin, daß besondere Beschwerdeausschüsse bei den Bezirks- und Kreistagen ( ... ) das Recht erhalten, bei offenkundigen Verstößen gegen die Gesetzlichkeit Entscheidungen der örtlichen staatlichen Verwaltungsorgane aufzuheben. Durch diese Regelung werden die Mitarbeiter der staatlichen Organe noch stärker als bisher zur strikten Einhaltung der Gesetzlichkeit veraniaßt. Der Rechtsschutz der Bürger gegen ungesetzliche Verwaltungsmaßnahmen wird erhöht.,,29

Art. 103 Abs. I S. 3. Georg Brunner (wie Anm. 26, S. 84) weist daraufhin, daß mit dieser Bestimmung der Grundsatz der Selbstentscheidung nur scheinbar durchbrochen ist, da einerseits die genannten Verfassungsorgane dem Staatsrat als "ständigem Stellvertreter" der Volkskammer ohnehin verantwortlich und rechenschaftspflichtig sei. Somit könne der Staatsrat nicht als ein völlig unabhängiges und unbefangenes Entscheidungsorgan angesehen werden. Vielmehr stelle er eine Art Aufsichtsorgan dar, welches von Amts wegen gehalten sei, gegen rechtswidrige Entscheidungen des Ministerrats, des Obersten Gerichts und des Generalstaatsanwalts einzuschreiten. Hinzu komme, daß auf dieser höchsten Ebene des Staatsaufbaus die Beschwerde auf Leitungsentscheidungen beschränkt ist. Zu diesen zählten aber ausschließlich grundsätzliche Entscheidungen, also etwa keine Urteile oder Rechtsmittelentscheidungen. Daß durch derartige Leitungsentscheidungen unmittelbare Individualrechtsverletzungen begangen werden könnten, sei indes nur schwer vorstellbar, da es sich hierbei meist um abstrakt generelle Regelungen handele, die sich darüber hinaus meist an nachgeordnete Staatsorgane als Adressaten richteten. 29 Walter Ulbricht, Die Verfassung des sozialistischen Staates deutscher Nation und seiner Gesellschaft - Begründung des Entwurfs der Verfassung von 1968 vor der Volkskammer, in: Sozialistische Demokratie 5/1968 vom 2.2.1968, Beilage I. 27 28

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11. Entstehung des Eingabenerlasses von 1969 1. Die Tätigkeit der Kommission Gerlach

Auf Grund der großen Eile, in der die Staatsratsverfassung in Geltung gesetzt wurde 3o , waren die das Eingabenwesen neu regelnden Verfassungsbestimmungen und insbesondere die Bestimmung zur Einrichtung der Beschwerdeausschüsse ergangen, ohne daß die zur Umsetzung der Verfassungsgebote erforderlichen einfachgesetzlichen Regelungen im Detail vorbereitet waren. Mit der Vorbereitung der in der Verfassung angekündigten einfachgesetzlichen Regelung wurde indes nicht das lustizrninisterium betraut, wie es naheliegend gewesen wäre, wenn die Staatsführung hierin ein spezifisch juristisches Problem gesehen hätte?l Offenbar war die Neuregelung des Eingabenrechts jedoch in die Verfassung aufgenommen worden, ohne im Gesetzgebungsplan vorgesehen worden zu sein. Es war der stellvertretende Staatsratsvorsitzenden Manfred Gerlach, der in einem Schreiben an Ulbricht vom 18. März 1968 die erforderlichen Vorarbeiten an sich zog: "Im Entwurf unserer sozialistischen Verfassung ist im Artikel 106 die Bildung von Beschwerdeausschüssen der örtlichen Volksvertretungen vorgesehen, deren Aufgabe und Rechte durch Erlaß des Staatsrates geregelt werden sollen. Für die Ausarbeitung dieses Erlasses wird sicherlich von Ihnen zu gegebener Zeit eine Kommission berufen, der eine Reihe von Experten, darunter vor allem auch Vertreter der örtlichen Staatsorgane, angehören werden. Der neu zu schaffende Erlaß berührt ohne Zweifel in mehreren wichtigen Punkten den jetzt vorhandenen Eingabenerlaß des Staatsrates. Die Erfahrungen bei der Durchsetzung des Staatsratserlasses werden bei der Ausgestaltung des Erlasses über die Aufgaben und Rechte der Beschwerdeausschüsse sicherlich eine wichtige Rolle spielen. Ich erlaube mir deshalb den Vorschlag, mich als das seit geraumer Zeit für die Durchsetzung des Eingabenerlasses besonders verantwortliche Staatsratsmitglied an der Vorbereitung des neuen Erlasses zu beteiligen. Ich trete zwar jetzt eine Kur an, 30 Die Staatsratsverfassung wurde unter Zeitdruck ausgearbeitet und binnen kürzester Frist zum Volksentscheid gestellt. Es wird vermutet, daß sie ursprünglich erst zum 20. Jahrestag der Gründung der Republikgründung in Kraft treten sollte und sich die Führung von Staat und Partei allein deshalb zu der sehr raschen Verabschiedung entschloß, um sich auf diesem Wege durch eine plebiszitäre Zustimmung moralisch gegenüber den im Frühjahr 1968 höchst virulenten Prager Ereignissen abzusichern (vgl. ThoT1UlS Friedrich, Das Verfassungslos der DDR - die verfassungslose DDR - Aspekte der Verfassungsentwicklung und der individuellen (Grund-) Rechtspositionen in der DDR" in Gerhard Dilcher (Hrsg.): Rechtserfahrung DDR, S. 33-67 (S. 56). 31 Den im Bestand des Staatsrats archivierten Unterlagen zur Entstehung des Eingabenerlasses von 1969 nach zu urteilen scheint das Ministerium der Justiz offenbar zu keinem Zeitpunkt an den gesetzgeberischen Vorarbeiten zur Novellierung des Eingabenerlasses beteiligt worden zu sein. Der Justizminister Kurt Wünsche (196772, LDPD) sollte später nicht einmal der Gesetzgebungskommission angehören.

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

aber m. E. wird die Ausarbeitung des Erlasses sich über einen längeren Zeitraum erstrecken. Aus den gleichen Erwägungen erlaube ich mir ferner die Anregung, dem jeweilig für den Eingabenerlaß besonders verantwortlichen Staatsratsmitglied auch für den gleichen Zeitraum die besondere Verantwortung für die Verwirklichung des Erlasses über die Beschwerdeausschüsse zu übertragen, sofern es nicht überhaupt ratsam erscheint, den bisherigen Eingabenerlaß und den neu zu schaffenden Erlaß über die Beschwerdeausschüsse in einern Erlaß des Staatsrates zusarnrnenzufassen.,,32

Walter Ulbricht entsprach dem Wunsch seines Stellvertreters, und Gerlach wurde zum Vorsitzenden einer Gesetzgebungskommission bestellt, welche am 9.5.1968 zum ersten Mal tagte?3 Aufgabe der Kommission war es, das Eingabenwesen an die veränderten verfassungsmäßigen Grundlagen anzupassen und die konkrete Ausgestaltung der neu einzurichtenden Beschwerdeausschüsse festzulegen. Insbesondere sollte sie "unter Zugrundelegung rechtswissenschaftlicher Kriterien" untersuchen, ob ein weiteres Einspruchsrecht gegen die Entscheidungen der Beschwerdeausschüsse vorgesehen werden sollte und ob die Bestimmungen über die Beschwerdeausschüsse als gesonderter Erlaß ergehen oder in das bisherige Eingabenrecht inkorporiert werden sollten. 34 Auf der ersten Kommissionssitzung erläuterte Gerlach zunächst die grundSätzliche Bedeutung der Neufassung des Eingabenerlasses, die er in der Weiterentwicklung der sozialistischen Demokratie, der Erhöhung der Garantien für die Gesetzlichkeit und der Stärkung der Rolle der örtlichen Volksvertretungen erblickte. 35 Das Eingabenrecht der DDR habe sich im Prinzip bewährt, allerdings müßten die Bestimmungen nunmehr den durch die Staatsratsverfassung veränderten konstitutionellen Gegebenheiten angepaßt werden. Dies solle durch die Einarbeitung der Regelungen über die Beschwerdeausschüsse geschehen. Die Schwerpunkte ihrer Arbeit sah die Kommission in der Erarbeitung juristischer Antworten auf vier Hauptfragen. 36 Es waren dies im einzelnen: 32 Schreiben Gerlachs an Ulbricht vorn 18. März 1968 in: Bildung der Arbeitsgemeinschaft des Staatsrats zur Neufassung des Eingabenerlasses und Bildung von Beschwerdeausschüssen bei den örtlichen Volksvertretungen (Beschluß der 8. Sitzung des Staatsrats vorn 22.4.68), BArch (Staatsrat) DA 5 Nr. 7305. 33 Ein Teilnehmerverzeichnis befindet sich bei den Unterlagen des Staatsrates, BArch (Staatsrat) DA 5 Nr. 7308, und weist neben Gerlach drei weitere Mitglieder des Staatsrats, die Vorsitzenden der Ausschüsse für Verfassung und Recht (Prof. Weichelt) und Eingaben der Bürger, einen Stellvertreter des Ministers für die Anleitung der örtlichen Räte sowie als Verwaltungspraktiker einen Kreisratsvorsitzenden sowie jeweils einen Bürgermeister einer Stadt und einer Gemeinde aus. 34 Protokoll der Sitzung der Arbeitsgemeinschaft des Staatsrates zur Neufassung des Eingabenerlasses vorn 9.5.1968, S. 2, BArch DA 5 Nr. 7308. 35 Protokoll, wie vorangehende Anmerkung.

4. Abschn.: Experimente mit Fonnen externen Verwaltungsrechtsschutzes 331 "Welche bewährten Prinzipien des Erlasses des Staatsrates über die Eingaben der Bürger und die Bearbeitung durch die Staatsorgane vom 27. Februar 1961 in seiner Änderungsfassung vom 18. Februar 1966 müssen entsprechend dem Stand unserer gesellschaftlichen Entwicklung und dem gewachsenen Staatsbewußtsein unserer Bürger berücksichtigt und weiterentwickelt werden? Wie kann die Erhöhung der Eigenverantwortlichkeit der sozialistischen Betriebe sowie der Städte und Gemeinden als Gemeinschaften der Bürger besser genutzt werden, um auch die in Eingaben enthaltenen Vorschläge und Anregungen gemeinsam mit den Bürgern zu verwirklichen und Ursachen noch vorhandener Unzulänglichkeiten entsprechend den volkswirtschaftlichen Möglichkeiten zu beseitigen? Wie kann bei der Bearbeitung der Eingaben und bei dem Suchen nach gemeinsamen Lösungen die Initiative der Bürger bewußt auf die Erfüllung des Planes gelenkt werden? Wie kann der Rechtsschutz der Bürger gegen ungesetzliche Verwaltungsmaßnahmen weiter erhöht und damit das Vertrauen der Bürger zum Staat weiter gefestigt werden?"

Bei der Neufassung des Eingabenrechts im engeren Sinne sollten, so die Anweisungen des Staatsrats für die Arbeit der Kommission, "die Garantien für die Einhaltung und Verwirklichung der Verfassung und die Gewährleistung der Gesetzlichkeit weiter erhöht werden,m. Hinsichtlich der Einrichtung der Beschwerdeausschüsse gelangte die Kommission bald zu der Auffassung, daß die in den Artikeln 104 und 105 der Verfassung getroffenen Festlegungen als Präzisierungen bzw. Spezialregelungen der in Artikel 103 bestimmten Grundsätze des Eingabenrechts aufzufassen seien, und zwar für die Überprüfung von Beschwerden als besondere Form der Eingaben der Bürger und ihrer Gemeinschaften?8 Deshalb sollte die Regelung der Tätigkeit der Beschwerdeausschüsse nicht in einem selbständigen Gesetz erfolgen, sondern in den novellierten Eingabenerlaß aufgenommen werden. 2. Erfahrungsaustausch mit der Sowjetunion Um die Erfahrungen der sowjetischen Justiz- und Verwaltungsbehörden auf dem Gebiet des Eingabenwesens zu studieren, wurde eine Arbeitsdelegation unter der Leitung Gerlachs in die Sowjetunion entsandt, die auf Einladung des Sekretärs des Präsidiums des Obersten Sowjets, Georgadse, in der Zeit vom 27. Mai bis 1. Juni 1968 vor allem die Erfahrungen der Sowjets mit deren jüngst erlassenen Eingabenerlaß (vom 12.4.1968) erforschen sollte. 36 37

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Protokoll der Sitzung der Arbeitsgemeinschaft vom 9.5.1968, wie Anm. 34, S. 4. Protokoll ... , ebenda. Protokoll ... , ebenda.

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

a) Rechtsgrundlagen des Eingabenwesens in der Sowjetunion Unmittelbar vor der DDR hatte das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR am 12. April 1968 einen Erlaß zur Neuregelung des Eingabenwesens verabschiedet. 39 Damit sollte das zuvor in einer Vielzahl von unionsund republikrechtlichen Einzelgesetzen geregelte Eingabenrecht vereinheitlicht werden, um die bestehenden "wesentlichen Mißstände im Bereich der Prüfung der Briefe und Eingaben von Werktätigen", zu denen die "Schlamperei bei den unteren Beschwerdeorganen" geführt hatte, zu be seitigen. 4o In der Präambel des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets "Über die Behandlung von Vorschlägen, Eingaben und Beschwerden der Bürger" vom 12.4.1968, der auf dem Beschluß der KPdSU vom 27.8.1967 über die Verbesserung der Tätigkeit bei der Behandlung von Eingaben basierte41 , wurden die bestehenden Unzulänglichkeiten in scharfen Worten kritisiert und alle Mitarbeiter des Verwaltungsapparats aufgefordert, die Vorschriften der Beschwerdeordnung einzuhalten und deren Einhaltung zu überwachen. 42 Inhaltlich berücksichtigte der neue Erlaß, der von einer aus 94 Mitgliedern bestehenden Kommission in 11 Monaten vorbereitet worden war, sämtliche bisherigen Dekrete und Erlasse sowie die entsprechenden Parteibeschlüsse zur Bearbeitung der Eingaben.43 Der neue Erlaß enthielt die Grundsätze für die Bearbeitung der Eingaben, erweiterte die Rechte der Unionsrepubliken und erhöhte die Verantwortlichkeit der örtlichen Sowjets, ihrer Organe und Leiter für die sorgfältige Behandlung und gründliche Auswertung der Eingaben der Bürger. Für Verstöße gegen die Bestimmungen über die Bearbeitung der Eingaben der Bürger sah er administrative, disziplinarische und - wie schon bisher - strafrechtliche Maßnahmen der Verantwortlichkeit vor. Damit sollte dem Mißstand entgegengewirkt werden, 39 Erlaß "Über die Behandlung von Eingaben und Beschwerden der Bürger", abgedruckt in "Iswestija" vom 26.4.1968. Deutsche Übersetzung bei den Materialien der Gesetzgebungskommission, BArch DA 5 Nr. 7306. 40 So die Feststellung im "Beschluß des Präsidiums des Obersten Sowjets über Maßnahmen zu Verbesserung des Beschwerdewesens und der Rechtspflege" vom 15.12.1965. 41 Bericht der Kommission Gerlach an den Staatsrat über Reise in die Sowjetunion zum Erfahrungsaustausch über die Eingabenbearbeitung vom 27.5.-1.6.1968, BArch DA 5 Nr. 7312, S. 2. 42 Bericht der Kommission ... , wie vorangehende Anmerkung. 43 Es waren dies im einzelnen: Der "Beschluß des 6. Sowjetkongresses vom 8.11.1918 über das Recht der Bürger, sich über die Tätigkeit von Staatsorganen und deren Mitarbeitern zu beschweren", das Dekret vom 30.12.1919 "über die Bekämpfung des Amtsschimmels", der "Beschluß des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 24.3.1933 über die Behandlung von Beschwerden" sowie der Beschluß des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 14.12.1935 "über die Behandlung der Eingaben der Werktätigen". (Die beiden letztgenannten Beschlüsse wurden mit dem neuen Erlaß vom 12.4.1968 außer Kraft gesetzt.).

4. Abschn.: Experimente mit Fonnen externen Verwaltungsrechtsschutzes 333

daß "die an einer verzögerten und bürokratischen Behandlung der Eingaben schuldige Amtspersonen ( ... ) oft straflos" ausgehen. Dem kam bereits deshalb maßgebliche Bedeutung zu, weil die Beschwerde der wichtigste Rechtsbehelf des Sowjetbürgers gegenüber der Verwaltung darstellte, während förmliche Rechtsmittel der sowjetischen Rechtsordnung weitgehend unbekannt waren. 44

b) Eingabenpraxis in der Sowjetunion Den Schilderungen eines Vertreters des Obersten Sowjets zufolge, der die Staatsratskommission empfing, traten in der sowjetischen Eingabenpraxis ähnliche Mängel und Probleme auf wie in der DDR. Dies wurde indes offenbar nicht als beunruhigend empfunden, so daß auch die Staatsratskommission keinen Anlaß zu grundlegenden Reformen sah. Beschwichtigend hieß es, daß der Umfang des Eingabenaufkommens in der Sowjetunion insbesondere bei den zentralen Staatsorganen seit geraumer Zeit rückläufig sei. Es gebe immer weniger Beschwerden, dafür immer mehr Vorschläge. Die rückläufige Tendenz sei auf die schrittweise Verbesserung der Lebensbedingungen zurückzuführen und ebenso auf die nunmehr besser gewährleistete "generelle Ordnung in der Eingabenbearbeitung,,45. Auch in der Sowjetunion dominierten mit Abstand die "Wünsche und Forderungen auf dem Gebiet des Wohnungswesens"46. Ihr Anteil schwanke zwischen 50 und 70%, habe aber angeblich eine rückläufige Tendenz "durch den großen Wohnungsneubau in der gesamten Union,,47. Der nach wie vor hohe Anteil der Wohnungsfragen ergebe sich vor allem aus den wachsenden Ansprüchen der Bürger der UdSSR angesichts des sich zunehmend entwickelnden Wohnkomforts. Zur Bearbeitung der schriftlichen Eingaben an die zentralen Staatsorgane merkten die sowjetischen Funktionäre an, daß die Mehrzahl der Briefe an die zuständigen örtlichen Organe abgegeben werde, da es sich in der Regel nur um örtlich zu klärende Probleme handele. 48 Vom Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR werde die Bearbeitung von ca. 15-20% der an die zuständigen Organe abgegebenen Eingaben durch eine eigene Eingabenabteilung kontrolliert. 49 Im Ministerrat der UdSSR seien es dagegen nur 7%. Die Bearbeitung der Briefe von Deputierten der Sowjets war in einem sepa44 Vgl. hierzu die Ausführungen im dritten Abschnitt des ersten Teils unter Ziffer I sowie im zweiten Abschnitt des zweiten Teils unter Ziffer I. 2. 45 Bericht der Kommission ... , wie Anm. 41, S. 4. 46 Bericht der Kommission ... , ebenda. 47 Bericht der Kommission ... , ebenda. 48 Bericht der Kommission ... , wie Anm. 41, S. 8. 49 Bericht der Kommission ... , ebenda.

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

raten Beschluß geregelt. 5o Bei ca. 40-50% derjenigen Eingaben und Briefe, deren Bearbeitung kontrolliert werde, seien die Hinweise oder Beschwerden der Bürger oder Deputierten berechtigt51 . Beruhten Eingaben der Bürger auf Unklarheiten über gesetzliche Bestimmungen, erhielten sie von den zentralen Organen abschließende Schreiben, in denen sie über die gesetzlichen Bestimmungen aufgeklärt würden. 52 Abweichend von der Bearbeitung der Eingaben erfolge die Behandlung der Gnadengesuche an das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR. Die Gesuche würden von der Rechtsabteilung geprüft, und entsprechend dem Ergebnis der Prüfung werde festgelegt, welche Gesuche dem Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets oder einem seiner Stellvertreter zur Entscheidung vorgelegt werden. 53 Zur Qualifikation der Mitarbeiter der Abteilung Eingaben merkten die Vertreter des Präsidiums des Obersten Sowjets an, daß es sich bei ihnen um "qualifizierte Genossen mit langjährigen Erfahrungen in der staatlichen und Parteiarbeit" handele, die meistens über "eine abgeschlossene Hochschulausbildung - insbesondere eine juristische Ausbildung" verfügten. 54 Die Eingabenbearbeitung bei den örtlichen Staatsorganen erfolge in mehreren Schritten: Zunächst sichte der Vorsitzende des Exekutivkomitees oder sein Stellvertreter täglich alle Eingaben (z. B. im von der Kommission besuchten Rayon Podolsk täglich 5 bis 6).55 Sie läsen die Eingaben und entschieden über die Bearbeitung der jeweiligen Angelegenheit. Bei einem Teil der Eingaben behielten sie sich die Bearbeitung selbst vor. Ein anderer Teil der Eingaben werde den Fachabteilungen des Exekutivkomitees zur selbständigen Erledigung übergeben. Überprüfungen der Angelegenheit an Ort und Stelle stünden im Vordergrund. Alle Antworten auf die Eingaben würden vom Vorsitzenden des Exekutivkomitees oder seinem Stellvertreter selbst unterschrieben. 56 Die Berichterstattung und Eingabenanalyse werde in der Leitung des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR in der Weise gelöst, daß in die regelmäßige Berichterstattung über Eingaben auch "operative Überprüfungen" mit einbezogen werden. Bei ernsten Signalen entsende die Leitung sofort Arbeitsgruppen oder Mitglieder zur Kontrolle der Signale. 57 Darüber 50 Beschluß des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR über die Art und Weise der Bearbeitung von Briefen der Deputierten des Obersten Sowjets der UdSSR vom 12.4.1968. 51 Bericht der Kommission ... , wie Anm. 41, S. 4. 52 Bericht der Kommission ... , ebenda. 53 Bericht der Kommission ... , ebenda. 54 Bericht der Kommission ... , ebenda. 55 Bericht der Kommission ... , wie Anm. 41, S. 8. 56 Bericht der Kommission ... , ebenda. 57 Bericht der Kommission ... , wie Anm. 41, S. 10.

4. Abschn.: Experimente mit Fonnen externen Verwaltungsrechtsschutzes 335 hinaus arbeite eine aus vier Mitarbeitern bestehende Analysegruppe, welche die Aufgabe habe, täglich 2.000 bis 3.000 Briefe nur unter dem Gesichtspunkt zu lesen, welche besonderen Tendenzen im Inhalt und der Entwicklung der Eingaben, des Bewußtseins der Bürger, der Meinungsbildung usw. festzustellen sind. Über diese Grobeinschätzung werde die Leitung des Präsidiums regelmäßig informiert. 58 Darüber hinaus würden auf allen Ebenen regelmäßig Berichte und Analysen über Eingaben erstellt. Die Kontrolle über die Wahrung der Rechte der Bürger und die Einhaltung der Gesetzlichkeit bei der Bearbeitung der Eingaben werde von den Sowjets, ihren Exekutivkomitees und den Ständigen Kommissionen ausgeübt. Die Einschätzung der Effizienz dieses Kontrollsystems wurde von sowjetischer Seite ausgesprochen optimistisch eingeschätzt. Hierzu hieß es im Bericht der Staatsratsdelegation wörtlich: "Das System der Zusammenarbeit zwischen diesen Organen der Sowjets hat nach ihren bisherigen Erfahrungen völlig ausgereicht, um alle Verstöße gegen die Gesetzlichkeit aufzudecken und bekämpfen zu können. Darüber hinaus sind die Staatsanwaltschaft und die Organe der Volkskontrolle mit bestimmten Kontrollaufgaben im Hinblick auf die exakte Durchführung der gesetzlichen Grundlagen über die Eingabenbearbeitung betraut. Von den sowjetischen Genossen wurde betont und anband von Einzelbeispielen dargestellt, daß dieses System der Kontrolle sich bewährt hat und ausreichende Garantien für die Wahrung der Rechte der Bürger bietet. ,,59 Eher kritisch stellte der Bericht der Staatsratsdelegation dagegen die Reaktion der sowjetischen Seite auf die verfassungsmäßig vorgesehene Einrichtung der Beschwerdeausschüsse dar: "Die sowjetischen Genossen, insbesondere der Leiter und die Mitarbeiter der Abteilung Recht beim Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR, brachten der bei uns vorgesehenen Bildung besonderer Beschwerdeausschüsse bei den örtlichen Volksvertretungen großes Interesse entgegen. Sie brachten zum Ausdruck, daß in der Sowjetunion die Bildung solcher besonderen Ausschüsse bei den örtlichen Sowjets nicht beabsichtigt ist. Sie gehen davon aus, daß es ein verfassungsmäßiges Eingabenrecht gibt und jeder Bürger sich mit seinen Fragen an jedes staatliche Organ wenden kann. Die Sowjets als die höchsten Machtorgane können jederzeit beliebige Kommissionen oder Ausschüsse bilden, wenn sie es für erforderlich halten. Das trifft auch für die Lösung bestimmter Probleme auf dem Gebiet der Eingabenbearbeitung zu. Davon und auch von der Rolle des Staatsanwaltes und der Organe der Volkskontrolle ausgehend, halten sie eine gesetzlich vorgeschriebene Bildung besonderer Beschwerdeausschüsse bei den örtlichen Sowjets unter ihren Bedingungen für nicht angebracht, weil damit das Recht der Sowjets, die Prüfung von Eingaben und die Kontrolle über ihre Bearbeitung zu organisieren, eingeschränkt werden würde. Solche Beschwer58 59

Bericht der Kommission ... , ebenda. Bericht der Kommission ... , wie Anm. 41, S. 12.

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

deausschüsse würden die Rechte und Pflichten der ständigen Kommissionen sowie der Exekutivkomitees der örtlichen Sowjets wie auch die Aufsichtspflicht des Staatsanwaltes zumindest in Frage stellen. Um die Rechtssicherheit für die Bürger zu erhöhen, werden allerdings von den sowjetischen Genossen gegenwärtig Überlegungen über die Ausarbeitung einer Verwaltungsverfahrensordnung angestellt, in der die verwaltungsrechtliche Verantwortlichkeit im einzelnen exakt dargestellt werden soll. ,,60

III. Veränderungen im Bereich des klassischen Eingabenwesens (§§ 1-18) Auf der Grundlage des Erfahrungsstudiums in der Sowjetunion schlug Gerlach der Arbeitsgruppe des Staatsrats zur Neufassung des Eingabenerlasses in ihrer Sitzung am 7.6.1968 folgendes vor61 : "a) Bei der Neufassung des Eingabenerlasses mit dem Ausbau des bereits vorhandenen Systems der Kontrolle über die Bearbeitung und Auswertung der Eingaben der Bürger zugleich die stärkere Verantwortlichkeit der Leiter der Betriebe und Einrichtungen und ihre Rechenschaftspflicht vor den gewählten Organen über die Bearbeitung der Eingaben herauszuarbeiten. b) bei der Regelung der Aufgaben und Befugnisse der neu zu bildenden Beschwerdeausschüsse der örtlichen Volksvertretungen darauf zu achten, daß ihnen keine allgemeinen Kontrollaufgaben über die Einhaltung des Eingabenerlasses übertragen werden, sondern diese von den Volksvertretungen, ihren Räten und ständigen Kommissionen sowie den Leitern der Staats- und Wirtschaftsorgane wahrgenommen werden müssen. c) Die Aufgaben und Befugnisse der Beschwerdeausschüsse auf die Überprüfung von Beschwerden einzelner Bürger zu beschränken, die sich gegen ungesetzliche Entscheidungen örtlicher Verwaltungsorgane wenden. In diesem Zusammenhang sollte der Beschwerdeausschuß das Recht erhalten, von dem für die jeweilige Entscheidung zuständigen bzw. dessen übergeordneten Organen die Korrektur falscher Entscheidungen und erforderlichenfalls die Bestrafung der dafür Verantwortlichen zu verlangen. d) Entsprechend den Vorschlägen des Vorsitzenden des Staatsrates sollte mit der Bildung des Beschwerdeausschusses bei den Bezirks- und Kreistagen begonnen werden, um dann völlig offen zu lassen, ob zu späteren Zeitpunkten die BildunJ:!; solcher Ausschüsse bei allen örtlichen Volksvertretungen erforderlich wird.,,6i

Bereits zu Beginn der Kommissionsarbeit wurde Einigkeit darüber erzielt, daß die eigentliche Neuerung des Staatsratserlasses in der Festlegung 60 Bericht der Kommission ... , wie Anm. 41, BArch (Staatsrat) DA 5 Nr. 7312, S. 19. 61 Bericht der Kommission ... , wie Anm. 41, S. 20. 62 Niederschrift über die 2. Sitzung der Kommission des Staatsrates zur Ausarbeitung einer Neufassung des Eingabenerlasses am 7.6.1968, BArch DA 5 Nr. 7309.

4. Abschn.: Experimente mit Formen externen Verwaltungsrechtsschutzes 337

des Verfahrens vor den Beschwerdeausschüssen bestehen sollte. Das herkömmliche Eingabenrecht sollte weitgehend in der Form erhalten bleiben, die es im Eingabenerlaß von 1961 gefunden hatte. 63 Die Regelung des Verfahrens vor den Beschwerdeausschüssen sollte gleichsam "angestückt" werden und den zweiten Teil des einheitlichen Staatsratserlasses bilden. 64 Dennoch wurden auch im Bereich des klassischen Eingabenwesens einige Änderungen vorgenommen, um das Eingabenrecht den veränderten politischen Rahmenbedingungen anzupassen. Die Veränderungen waren jedoch insgesamt gesehen nur marginal und sollen deshalb an dieser Stelle nur kurz referiert werden, um Wiederholungen zu vermeiden. Hinsichtlich der rechtspolitischen Zielsetzung des Eingabenwesens nahm die Präambel die Impulse des VII. Parteitags auf und deutete eine Abkehr von der bisherigen einseitigen Orientierung auf die Offenlegung von Mißständen im Sinne der propagierten Mitwirkung an. Demnach sollte das Eingabenrecht nunmehr zumindest auch im Dienst der strikten Wahrung der verfassungsmäßig garantierten Rechte der Bürger und ihrer Gemeinschaften stehen. 65 Der materielle Gehalt der in diesem Sinne vorgenommenen Änderungen blieb indes deutlich hinter der ambitionierten Ankündigung zurück. In Anlehnung an Art. 103 Abs. 1 S. 1 der Staatsratsverfassung definierte § 2 Abs. 1 des Eingabenerlasses von 1969 Eingaben zwar als Vorschläge, Hinweise, Anliegen oder Beschwerden, ohne jedoch damit ein der jeweiligen Bezeichnung entsprechendes differenziertes Verfahren zu verbinden. Statt dessen betonten Kommissionsmitglieder in offiziellen Stellungnahmen, daß eine derartige, an Rechtsschutzgesichtspunkten orientierte "westliche" Betrachtungsweise "auch unter Leitungsgesichtspunkten" abzulehnen sei. So argumentierten die Kommissionsmitglieder Traudei Ritter und KarlHeinz Kühnau in der parteioffiziellen Zeitschrift "Sozialistische Demokratie" gegen die "künstliche" Differenzierung wie folgt: "Mit der in § 2 Abs. I enthaltenen Definition der Eingaben als Vorschläge, Hinweise, Anliegen oder Beschwerden ist keineswegs bezweckt, diese einzelnen Erscheinungsformen, die mitunter in einer einzigen Eingabe vereinigt sind, in eine qualitative Reihenfolge zu pressen oder die Eingaben zu kategorisieren. Es ist ein nutzloses Unterfangen, sie formal in persönliche, gesellschaftliche und allgemeine oder in Vorschläge, Hinweise oder Anliegen einzuteilen, wie das in der Praxis mitunter noch anzutreffen ist. Alle diese und ähnliche Schemata bereiten Mühe und Kopfzerbrechen und sind ohne praktischen Wert, weil sie keinen objektiven Aussagegehalt für die Leitungstätigkeit besitzen. Es geht darum, das politische Wesen der Sache zu erfassen, den Kern des Vorschlags oder auch der Kritik zu erkennen, die Ursachen zu erforschen und die Probleme zu lösen.,,66 63 Memo: Änderungen des Eingabenerlasses vom 27.2.1961, in: Entwürfe einer Neufassung des Eingabenerlasses, BArch (Staatsrat) DA 5 Nr. 7305. 64 §§ 19 ff. in der Endfassung des Eingabenerlasses von 1969. 65 Absatz 2 der Präambel. 22 Hoeck

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

Neben der nach wie vor für alle Erscheinungsformen der Eingaben maßgeblichen Integrations- bzw. Sozialisierungsfunktion67 hob § 3 Abs. 1 S. 2 als Zweckbestimmung speziell für die "in den Eingaben enthaltenen" Unterarten der Vorschläge und Hinweise hervor, daß diese "für die Durchführung der staatlichen Aufgaben, insbesondere zur Erfüllung der ökonomischen Aufgaben, und zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Bürger zu nutzen seien,,68. Daraus erschließt sich eine Charakterisierung dahin gehend, daß Vorschläge und Hinweise keine Rechtsverletzung voraussetzten, sondern ganz allgemein auf die Verbesserung und Vervollkommnung der Verwaltungstätigkeit und des Produktionsablaufes abzielten. 69 Ebenso erforderten die Anliegen keinerlei Verletzung subjektiver Rechte. Vielmehr begehrten die Verfasser in ihrem Falle von den Staats- und Wirtschaftsorganen irgendeine positive Unterstützung bei der Überwindung persönlicher Schwierigkeiten im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten. Allein mit Hilfe der Beschwerde, nach der Novellierung des Eingabenerlasses nunmehr in zweifacher Erscheinungsform, war es dem Bürger möglich, Entscheidungen und Maßnahmen von Staats- und Wirtschaftsorganen anzufechten und auf eine individuelle Rechtsverletzung hin zu kontrollieren. Somit nahm der Eingabenerlaß von 1969 eine Differenzierung dahin gehend vor, daß die Beschwerden vornehmlich ein Mittel des Individualrechtsschutzes darstellten, die Vorschläge und Hinweise hingegen mehr als Informationsquellen für eine effektivere Tätigkeit der Staats- und Wirtschaftsorgane und Instrumente einer objektiven Verwaltungskontrolle konzipiert waren, während bei den Anliegen grundsätzlich beide Elemente zur Geltung kommen konnten. 7o Im Verwaltungsverfahren blieb diese terminologische Differenzierung freilich unberücksichtigt und folglich für den um Individualrechtsschutz nachsuchenden Bürger ohne Wert. Dies zeigte sich vor allem im zweiten Abschnitt der neugefaßten Verfahrensvorschriften, die für alle aufgeführten Eingabearten gleichermaßen unverbindlich ausgestaltet waren. 71

66 Gertraude Ritter und Karl-Heinz Kühnau, In lebendiger Verbindung mit den Menschen, Teil V: Die Grundsätze des Staatsrates für die Tätigkeit der Beschwerdeausschüsse haben sich in der praktischen Erprobung bewährt, in: Sozialistische Demokratie Nr. 46/69 vom 15.11.1968, S. 18. 67 In diesem Sinne lautete § 3 Absatz 1 S. 2 des Eingabenerlasses von 1969 wörtlich: "Bei der Bearbeitung der Eingaben soll die Übereinstimmung der politischen, materiellen und kulturellen Interessen der Bürger und ihrer Kollektive mit den gesellschaftlichen Erfordernissen gefördert werden." 68 § 3 Abs. 1 S. 1 des Eingabenerlasses von 1969. 69 In diesem Sinne äußern sich auch Traudei Ritter und Karl-Heinz Kühnau (wie Anm. 66), ebenso Walter Suermann" Verwaltungsrechtsschutz, S. 327. 70 Suermann, wie vorangehende Anmerkung, S. 528. 71 Vgl. § 5 des Eingabenerlasses von 1969.

4. Abschn.: Experimente mit Fonnen externen Verwaltungsrechtsschutzes 339 Die Zuständigkeitsvorschriften wurden präzisiert, ohne daß hierdurch indes das verwaltungstechnischen Kemproblem des überproportionalen Anteils der Staatsratseingaben beseitigt wurde. Nach § 19 Abs. 1 sollte für Beschwerden gegen Entscheidungen örtlicher Staatsorgane der Leiter desjenigen Staatsorgans zuständig sein, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat, d. h. eine Beschwerde - über einen Sachbearbeiter war vom Sachgebiets- bzw. Abteilungsleiter, - über einen Sachgebietsleiter vom Abteilungsleiter, - über einen Abteilungsleiter vom zuständigen Ratsmitglied, - über ein Ratsmitglied vom Vorsitzenden des Rates, - über den Vorsitzenden vom Rat als Kollektivorgan zu überprüfen und zu entscheiden. Somit wurde fortan zumindest vermieden, daß im Rahmen des Selbstentscheidungsrechts der handelnde Funktionär in eigener Sache entschied. Hiermit korrespondierte die Bestimmung des § 8 Abs. 1, worin festgelegt war, daß die Bearbeitung von Eingaben durch Leiter und Mitarbeiter ausgeschlossen sein sollte, wenn sie eine Kritik an ihrer Arbeit oder ihrem Verhalten zum Inhalt haben. Die Bearbeitung solcher Eingaben sollte in diesem Fall durch den übergeordneten Leiter erfolgen. Bei allen Eingaben (einschließlich der Beschwerden) von "allgemeiner Bedeutung" wurde der Kreis der Verfahrens beteiligten nunmehr geradezu unüberschaubar. Teilweise wurden schwache Soll-Bestimmungen verwandt, Mitwirkungsrechte nicht klar definiert und der Kreis der verfahrensbeteiligten Institutionen so weit gefaßt, daß damit zwar ein sozialintegrativer Ansatz verfolgt werden konnte, aus der Perspektive des Individualrechtsschutzes jedoch nicht klar wurde, wer im Einzelfall der Verfahrens gegner des Bürgers sein sollte. Dies wird am Wortlaut des § 7 Abs. 1 des Eingabenerlasses von 1969 besonders deutlich: ,,(1) Bei der Vorbereitung der Entscheidung über Eingaben, die allgemeine Bedeu-

tung haben, sollen die unmittelbar interessierten Bürger sowie Abgeordneten, Kommissionen der Volksvertretungen, Vertreter von gesellschaftlichen Organisationen, Ausschüssen der Nationalen Front des demokratischen Deutschland, sozialistische Brigaden und Hausgemeinschaften sowie anderen Gemeinschaften der Bürger, denen der Einsender angehört oder die besonders an der Lösung dieser Fragen interessiert sind, hinzugezogen werden. Die sachlich zuständigen Leiter sind verpflichtet, auf Einladung von Betrieben, sozialistischen Brigaden, Genossenschaften, Ausschüssen der nationalen Front des demokratischen Deutschland, Hausgemeinschaften und andere Gemeinschaften der Bürger an Beratungen, Versammlungen und Aussprachen teilzunehmen bzw. verantwortliche Mitarbeiter zu entsenden." Schließlich fanden die durchgreifenden Veränderungen im Bereich der Staatsorganisation in den Durchführungsbestimmungen ihren Niederschlag. 22*

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Die Aufsicht über die Durchführung des Eingabenerlasses oblag nunmehr an oberster Stelle dem Staatsrat selbst. 72 Dieser hatte die Pflicht, jährlich einen Bericht über den Inhalt und die Bearbeitung der an den Vorsitzenden und an die Mitglieder des Staatsrates gerichteten Eingaben zu verfassen. Der Ministerrat war verpflichtet, die Gewährleistung der Durchführung des Erlasses in den ihm unterstellten zentralen Staats- und Wirtschaftsorganen, in den örtlichen Räten sowie in den sozialistischen Betrieben, Kombinaten und staatlichen Einrichtungen zu gewährleisten73 und dem Staatsrat jährlich über Erfahrungen und Probleme bei der Durchführung des Erlasses zu berichten?4 Auf der Ebene der örtlichen Volksvertretungen traf die Zuständigkeit für die Durchführung des Erlasses die Vorsitzenden der Räte, in den sozialistischen Betrieben, Kombinaten usw. die jeweiligen Leiter. Für den Fall eines Verstoßes gegen die Vorschriften des Eingabenerlasses, insbesondere im Falle der Mißachtung der Eingaben der Bürger, drohte § 30 Disziplinarstrafen an, "soweit nicht andere Rechtsvorschriften weitergehende Maßnahmen" bestimmten.

IV. Das Verfahren vor den Beschwerdeausschüssen (§§ 19 ff.) In Anbetracht des nur sehr zurückhaltend modifizierten Eingabenrechts blieb die rechtspolitisch geforderte Stärkung des Individualrechtsschutzes somit den Vorschriften über die "qualifizierte" Beschwerde - dem Verfahren vor den Beschwerdeausschüssen - vorbehalten. Mit den in Artikel 105 der Staatsratsverfassung vorgesehenen Beschwerdeausschüssen wurden erstmals seit der Auflösung der Verwaltungsgerichte wieder externe Kontrollorgane zum Schutz gegen öffentlich-rechtliche Maßnahmen geschaffen. Ihre Funktion sollte nach dem Willen der Staatsführung darin bestehen, durch eine behutsame, systemkonforme Erweiterung die gröbsten Unzulänglichkeiten des Eingabenwesens zu beseitigen und damit gleichermaßen das Vertrauen der Bevölkerung zu den örtlichen Organen der Staatsmacht zu stärken und die zentralen Staatsorgane zu entlasten. 75 Grundgedanke war es, § 27 Abs. 1 Eingabenerlaß von 1969. § 28 Abs. 1 Eingabenerlaß von 1969. 74 § 28 Abs. 2 Eingabenerlaß von 1969. 75 In diesem Sinne äußerten sich etwa die Kommissionsmitglieder Gertraude Ritter und Karl-Heinz Kühnau in ihrem Artikel "Beschwerdeausschüsse - Teil der Verwirklichung der Verfassung" (in: Sozialistische Demokratie, Ausgabe 26/68 vom 12.7.1968): "In vielen Eingaben an den Staatsrat und andere zentrale Organe bringen die Bürger ihrem Unmut über Maßnahmen des örtlichen staatlichen Organs zum Ausdruck. Sie fühlen sich durch die Entscheidung bei der Vergabe einer Wohnung, der Vermittlung eines Kindergartenplatzes, Ablehnung einer Gewerbegenehmigung usw. benachteiligt und glauben, durch den Weg nach Berlin zu ihrem Recht zu kommen. Die Bildung der Beschwerdeausschüsse bei örtlichen Volksvertretungen 72

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4. Abschn.: Experimente mit Formen externen Verwaltungsrechtsschutzes 341

die Überprüfung von Verwaltungsentscheidungen durch einen beauftragten Teil der Volksvertretung, der außerhalb des Leitungsapparates steht, zu ermöglichen und damit die Möglichkeit von Fehlentscheidungen zu mindern, ohne den Grundsatz der Gewalteneinheit grundsätzlich in Frage zu stellen. Mit diesem Kunstgriff vermied es der Erlaßgeber zugleich, vom Dogma der Interessenidentität abzuweichen: "Beschwerdeausschüsse", so hieß es im Rechtsgutachten der Staatsrechtsdozentin Lucie Haupt76 , "die als gesellschaftliche Organe ihrer Volksvertretungen tätig werden, sind hervorragend prädestiniert, bei der Behandlung von Beschwerden die wichtigste Triebkraft der sozialistischen Gesellschaft, die Übereinstimmung der Interessen der Werktätigen und ihrer Kollektive mit den gesellschaftlichen Erfordernissen, wirksam zu machen. Als Mitglieder des Kollektivs der gewählten Volksvertretung vertreten sie sowohl die Interessen der ganzen sozialistischen Gesellschaft und die des einzelnen Bürgers und sind daher in der Lage, die Interessenübereinstimmung im Zusammenhang mit der Bearbeitung von Beschwerden herzustellen bzw. den Bürgern bewußtzumachen." 1. Erste Modelle Ende der fünfziger Jahre

Die Beschwerdeausschüsse wurden in der zeitgenössischen rechtswissenschaftlichen Literatur in Ost und West77 wie auch in offiziellen Verlautbarungen der Staats führung als völlig neuartige, der auf dem VII. Parteitag festgestellten "Kampfsituation" entsprechende Einrichtungen des Verwaltungsrechtsschutzes gepriesen: "Sie sind eine zusätzliche, durch die Verfassung geschaffene Garantie für die strikte Wahrung der Rechte der Bürger, die Gewährleistung der Gesetzlichkeit und zugleich eine Form der demokratischen Kontrolle über die Tätigkeit des Staatsapparates. Auch darin soll bei den Bürgern Rechtssicherheit und Vertrauen stärken. Die Überprüfung von Eingaben weist zwar nur in verhältnismäßig wenig Fällen auf Gesetzesverletzungen hin, jedoch mindern nicht eingehaltene Versprechungen, ungenügende oder formale Erläuterungen sowie mitunter noch anzutreffendes herzloses oder unhöfliches Verhalten das Vertrauen und nähren Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Entscheidung." 76 "Vom Rektor genehmigte Stellungnahme der Akademie für Staats und Recht ,Walter Ulbricht' in Potsdam-Babelsberg für den stellvertretenden Staatsratsvorsitzenden Dr. Manfred Gerlach zum Entwurf der Novelle des Eingabenerlasses vom 10.1.1969", S. 5, BArch (Staatsrat) DA 5 Nr. 7306. 77 Vgl. z.B. Karl Bönninger und Traute Schönrath, Beschwerderecht - Instrument zur Wahrung der Rechte der Bürger und zur weiteren Verbesserung der staatlichen Leitungstätigkeit, in: Staat und Recht 1972, S. 20-33; Karl-Heinz Kühnau, Beschwerdeausschüsse und sozialistische Demokratie, in: Staat und Recht 1970, S. 35-44, Gertraude Ritter, Beschwerdeausschüsse - Instrumente der örtlichen Volksvertretungen zur Wahrung der sozialistischen Gesetzlichkeit, in: Staat und Recht 1973, S. 380-392, Klaus Westen, Verwaltungsrechtsschutz in der Retorte, in: Deutschland-Archiv 1969, S. 370-378.

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kommt zum Ausdruck, wie mit dem Wachsen der sozialistischen Gesellschaft und der Vertiefung der sozialistischen Demokratie die Garantien für die Einhaltung der Rechte und berechtigten Interessen der Bürger und ihrer Gemeinschaften immer mehr vervollkommnet werden.,,78 In Wahrheit war die Idee der Beschwerdeausschüsse keineswegs so neu, wie die Staatsführung die Bevölkerung glauben machen wollte. Bereits Ende der fünfziger Jahre kursierten interne Überlegungen zur Einrichtung von Beschwerdeausschüssen. 79 Im Rahmen der Vorbereitung des Eingabenerlasses von 1961 wurde dann erneut in Betracht gezogen, Beschwerdeausschüsse als zusätzliche Instrumente der Gesetzlichkeitskontrolle zu etablieren. Die in diesem Zusammenhang im Zentralkomitee der SED intern diskutierte Konzeption erschien dabei unter dem Gesichtspunkt des Individualrechtsschutzes effektiver und anspruchsvoller als die knapp zehn Jahre später in Ausführung des Artikels 105 getroffene Regelung. So sah der "Entwurf des Gesetzes über die Errichtung von Beschwerdeausschüssen bei den Organen der staatlichen Verwaltung" aus dem Jahr 1960 bereits vor, Beschwerdeausschüsse bei den Räten der Kreise und Bezirke, beim Ministerrat, den Ministerien und Staatssekretariaten mit eigenem Geschäftsbereich sowie bei den anderen zentralen vollziehend-verfügenden Organen und beim Generalstaatsanwalt einzurichten. 8o Der Beschwerdeausschuß beim Ministerrat sollte aus dem Ministerpräsidenten oder einem von ihm zu benennenden Vertreter als Vorsitzenden, einem Gewerkschaftsvertreter sowie einem Richter des Obersten Gerichts gebildet werden und für solche Entscheidungen zuständig sein, die von einem Minister, Staatssekretär oder einem anderen Leiter eines der zentralen vollziehend-verfügenden Organe getroffen wurden. Bei den Beschwerdeausschüssen in den Ministerien, Staats sekretariaten und anderen zentralen vollziehenden und verfügenden Organen sollten die Beschwerdeausschüsse aus dem jeweiligen Leiter, einem von ihm zu benennenden Vertreter als Vorsitzenden sowie einem Vertreter der Gewerkschaft und einem Arbeitsrichter gebildet werden. In ihren Zuständigkeitsbereich sollten Beschwerden oder Anträge fallen, die von Staatsfunktionären der jeweiligen Organe mit Ausnahme des Leiters selbst getroffen wurden. Der Beschwerdeausschuß beim Ministerium des Innern sollte darüber hinaus zuständig sein für Beschwerden über Maßnahmen, die von den Vorsitzenden der Räte der Bezirke getroffen wurden. Nach den gleichen Prinzipien sollten die Beschwerdeausschüsse bei den übrigen Staatsorganen gebildet werden. So sollten den Beschwerdeausschüssen bei den Räten der Kreise und Bezirke Klaus Sorgenicht u. a., Verfassungskommentar, Bd. II, Anm. 2 zu Art. 105. Vgl. hierzu die Ausführungen oben im zweiten Abschnitt des zweiten Teils unter Ziffer II.3.a.bb. 80 SAPMO BArch (ZK der SED, Abt. Staats- und Rechtsfragen) DY30 IV/13 Nr. 96, BI. 292-296. 78

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neben dem Leiter des betreffenden Staatsorgans ein Gewerkschaftsvertreter und ein Arbeitsrichter angehören. Dieses nie verwirklichte Modell ging unter zwei zentralen Gesichtspunkten über die im Staatsratserlaß von 1969 gefundene Regelung hinaus: die durchgängige Einrichtung der Beschwerdeausschüsse auf allen Ebenen der Staatshierarchie und die zwingende Beteiligung von Berufsrichtern. 2. Rechtsentwicklung im Flächenversuch Die Tätigkeit der Experimentalausschüsse

Da für die Tätigkeit derartiger Organe auf keinerlei praktische Erfahrungen zurückgegriffen werden konnteSI, beschloß der Staatsrat die Durchführung eines Verfahrens, das in der Rechtsgeschichte der DDR einmalig war. Bereits in der zweiten Kommissionssitzung hatte der Vorsitzende des Ausschusses für Verfassung und Recht der Volkskammer, Prof. Wolfgang Weichelt s2 , den Vorschlag unterbreitet, vor Erlaß einer generellen Regelung an ausgewählten Orten und auf unterschiedlichen Ebenen mit probeweise eingerichteten Beschwerdeausschüssen zu experimentieren und erst nach dem genauen Studium dieser Erfahrungen zur Beschlußfassung zu kommen. S3 Ziel des Experimentes sollte es sein, "vorhandene Unsicherheitsfaktoren zu eliminieren, die Korrektur des Regelwerks nach dem Erlaß zu verhindern und die neu zu bildenden Beschwerdeausschüsse vor einer möglichen Diskreditierung zu schützen". Zugleich sollte damit die "moralische Autorität" der Beschwerdeausschüsse geprüft werden. Einwände gegen diese unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht unbedenkliche Vorgehensweise - immerhin sollte damit in der DDR zumindest zeitweilig ein regional unterschiedlicher Rechtszustand hinsichtlich des Ausmaßes der dem Bürger eingeräumten Rechtsbehelfe gegen staatliches Handeln gelten - versuchte Weichelt mit dem Argument zu zerstreuen, daß schließlich unabhängig von dem Experiment der alte Eingabenerlaß weiterhin volle Gültigkeit besitze. Auf diese Anregung hin faßte der Staatsrat am 21. Juni 1968 einen von Ulbricht unterzeichneten (unveröffentlichten) "Beschluß über Maßnahmen zur Vorbereitung der Bildung von Beschwerdeausschüsse bei örtlichen Volksvertretungen"S4. Hierin wurde festgestellt, daß es zur Erfüllung des Verfas81 In diesem Sinne äußerte sich Gerlach auf der Sitzung des Arbeitskreises zur Neufassung des Eingabenerlasses vom 27.6.1968 wörtlich: "Es gibt in keinem sozialistischen Staat solche Organe, keine Erfahrungen, absolutes Neuland." (Niederschrift über die 3. Sitzung der Kommission des Staatsrates zur Ausarbeitung einer Neufassung des Eingabenerlasses am 27.6.1968, BArch DA 5 Nr. 7310). 82 Biographische Hinweise oben, im zweiten Abschnitt des zweiten Teils in Anm.111. 83 Protokoll der Sitzung der Arbeitsgemeinschaft des Staatsrates zur Neufassung des Eingabenerlasses vom 9.5.1968, BArch (Staatsrat) DA 5 Nr. 7308.

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

sungsauftrags aus Art. 105 zunächst erforderlich sei, "erste Erfahrungen über die Tätigkeit dieser Organe bei einigen Volksvertretungen zu sammeln,,85. Daraufuin wurden vom 1. Juli 1968 an bei neun örtlichen Volksvertretungen Beschwerdeausschüsse gebildet. 86 Ziffer 2 des Beschlusses bestimmte, daß die zu bildenden Beschwerdeausschüsse auf der Grundlage der "Grundsätze für die Bildung und Arbeitsweise der Beschwerdeausschüsse bei örtlichen Volksvertretungen" tätig werden sollten. 87 Obwohl das Ergebnis dieser "Rechtsentwicklung im Flächenversuch" niederschmetternd war 88 , wurden die "Grundsätze" letztlich nur in vier Punkten geändert: Die Staatsratskommission bewirkte eine Verlängerung der Entscheidungsfristen von vier auf sechs Wochen, sie sah die Unterrichtung von Kommissionen der jeweiligen Volksvertretungen vor, sie erweiterte die Rechte der Beschwerdeausschüsse durch die Befugnis zum Aufgreifen von groben Verstößen gegen die Prinzipien sozialistischer Menschenführung, und sie präzisierte die Bestimmungen über die Behandlung von Rechtsmittelentscheidungen. 89

3. Konzeptionelle Ausgestaltung der Beschwerdeausschüsse a) Die Beschwerdeausschüsse als Organe der örtlichen Volksvertretungen

Als wichtigstes Strukturmerkmal der Beschwerdeausschüsse wurde hervorgehoben, daß diese als Organe der jeweiligen Volksvertretung dieser ge84 Entwürfe zur Neufassung des Eingabenerlasses, BArch (Staatsrat) DA 5 Nr.7305. 85 Entwürfe zur Neufassung ... , wie vorangehende Anmerkung. 86 Es waren dies im einzelnen: Bezirkstag Leipzig, Bezirkstag Neubrandenburg, Kreistag Mühlhausen, Kreistag Döbeln, Stadtverordnetenversammlung Potsdarn, Stadtverordnetenversammlung Stralsund, Stadtbezirksversammlung Berlin-Friedrichshain, Stadtbezirksversammlung Karl-Marx-Stadt, Stadtbezirksversammlung Karl-Marx-Stadt Mitte-Nord. 87 Entwürfe zur Neufassung ... , wie Anm. 24. 88 Dies wird sogleich ausgeführt. 89 Entwürfe zur Neufassung ... , wie Anm. 24. Es fällt auf, daß diese (angeblichen) Schlußfolgerungen ihre Grundlage jedenfalls nicht in den Erfahrungen der experimentierenden Beschwerdeausschüsse gehabt haben können. Die Verlängerung der Entscheidungsfristen ist unter Rechtsschutzgesichtspunkten neutral und änderte nichts an der mangelnden Differenzierung je nach Komplexität des zu beurteilenden Sachverhalts. Die Information von Kommissionen der Volksvertretungen ergibt sich bereits aus der Rechenschaftspflicht der Beschwerdeausschüsse als Organe der Volksvertretungen. Die Möglichkeit, grobe Verstöße gegen die sozialistische Menschenführung aufzugreifen, war in dem Falle, daß sich diese Verstöße in fehlerhaften Leiterentscheidungen manifestierten, gerade originäre Aufgabe der Beschwerdeausschüsse, anderenfalls fiel sie ohnehin in das Aufgabengebiet der Staatsanwaltschaft.

4. Abschn.: Experimente mit Formen externen Verwaltungsrechtsschutzes 345

genüber rechenschaftspflichtig waren. 90 Der von Ulbricht geprägte Satz "Niemand kann außer und neben der Volksvertretung staatliche Machtfunktion ausüben" sollte sich demnach also auch in der Tätigkeit der Beschwerdeausschüsse widerspiegeln, so daß die Volksvertretung unangefochten als "oberstes Machtorgan auf ihrem Territorium" fungieren konnte. 91 Mit diesem Kunstgriff blieben die für das Verwaltungssystem der DDR konstitutiven Dogmen, das Prinzip der Gewalteneinheit sowie der Grundsatz der Einheit von Beschlußfassung und Vollziehung, gewahrt. Mit der Beschränkung der Einrichtung von Beschwerdeausschüssen bei örtlichen Volksvertretungen erfolgte eine wichtige konzeptionelle Weichenstellung, welche den Kreis der überprüfbaren Verwaltungsentscheidungen empfindlich einschränkte. Im Gegensatz zu früheren Überlegungen 92 sollten die Beschwerdeausschüsse ausschließlich für die Überprüfung von Beschwerden der Bürger über Entscheidungen der Leiter der Fachorgane und der Vorsitzenden der Räte der örtlichen Volksvertretungen zuständig sein. 93 Um überzogenen Erwartungen bereits im Vorfeld die Grundlage zu entziehen, wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, daß es "keine gesetzliche Grundlage dafür (gebe), bei anderen als den vom Staatsrat beauftragten Volksvertretungen solche Beschwerdeausschüsse zu bilden,,94. Eine schlüssige dogmatische Begründung für diese Beschränkung wurde nicht gegeben. 95 Es wurde lediglich darauf hingewiesen, daß für die Ebene der Republik die Bildung eines Beschwerdeausschusses bei der Volkskammer apriori durch die Verfassungsbestimmung des Art. 104 ausgeschlossen sei, da nach dieser Regelung das Beschwerdeverfahren im Bereich der vollziehenden Organe selbst erledigt werden solle. Mit dieser Einschränkung erreichte der Staatsrat zunächst, daß Maßnahmen von Organen, die dem Kreis- oder Bezirkstag nicht unterstanden, nicht der Befassungskompetenz der Beschwerdeausschüsse unterfielen. Bereits der "Entwurf für die Neufassung des Eingabenerlasses" vom 3. Mai 1968 stellte diesbezüglich klar:

Vgl. § 23 Eingabenerlaß von 1969. Genraude Ritter und Karl-Heinz Kühnau, Beschwerdeausschuß - Teil der Verwirklichung der Verfassung - Zu den Grundsätzen des Staatsrats für die Bildung und Arbeitsweise von Beschwerdeausschüssen bei örtlichen Volksvertretungen, in: Sozialistische Demokratie Nr. 26/68 vom 12.7.1968, S. 5. 92 Vgl. hierzu die Ausführungen oben in diesem Abschnitt (Ziffer II.3.a)bb». 93 RitterlKühnau, wie Anm. 91. 94 RitterlKühnau, ebenda. 95 Die Staatsrechtsdozentin der ASR Dr. Lucie Haupt versuchte in ihrem Gutachten (wie Anm. 76) die Beschränkung mit den immanenten Grundsätzen der Staatsratsverfassung zu begründen, welche den "Städten und Gemeinden als eigenverantwortliche Bürgergemeinschaften" eine besondere verfassungsrechtliche Verantwortung bei der Gewährleistung der sozialistischen Gesetzlichkeit und Rechtssicherheit für jeden Bürger auferlegten. 90

91

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

"Beschwerden über Maßnahmen der Wirtschaftsorgane, der Organe der ABI, der Volkspolizei, der Staatsanwaltschaft oder der Gerichte und anderer Organe, die den Volksvertretungen nicht unterstellt sind, werden von den Beschwerdeausschüssen nicht überprüft. Für die Überprüfung dieser Beschwerden gelten die generellen Festlegungen des Eingabenerlasses. Bei den Beschwerdeausschüssen dazu eingehende Beschwerden werden von dort an die zuständigen Staats- und Wirtschaftsorgane weitergeleitet. ..96

Welche örtlichen Volkvertretungen mit einem Beschwerdeausschuß versehen werden sollten, war nicht von vornherein klar. Die Staatsratskommission diskutierte drei Varianten97 : Variante I:

Einrichtung bei den Bezirkstagen, den Kreistagen und Stadtverordneten- und Stadtbezirksversammlungen der Großstädte;

Variante 11:

Einrichtung bei allen örtlichen Volksvertretungen;

Variante III:

Einrichtung bei den Bezirkstagen, Kreistagen und den Stadtverordnetenversammlungen der Städte über 10.0000 Einwohner.

Neben rein organisatorischen Aspekten wies diese Frage auch eine weitreichende politisch-ideologische Dimension auf, welche sie zu einem zentralen Problem bei den Vorarbeiten zum Eingabenerlaß von 1969 machte. In einem Aktenvermerk Gerlachs hieß es hierzu: "Erste Vorarbeiten (... ) und ein Gespräch mit einigen Bürgenneistern und Vorsitzenden von Räten der Kreise ergeben, daß es grundsätzlich verschiedene Auffassungen darüber gibt, bei welchen örtlichen Volksvertretungen solche Beschwerdeausschüsse gebildet werden sollen. Die eine Auffassung ist, daß Beschwerdeausschüsse bei allen örtlichen Volksvertretungen (Gemeinde, Städte, Kreise, Bezirke) gebildet werden sollten. Grundsätzlicher Ausgangspunkt dafür ist, daß die Beschwerdeausschüsse unmittelbar in das System der staatlichen Leitung eingegliedert sein müssen, damit über die Beschwerden der Bürger da entschieden wird, wo im Leitungssystem die sachliche Zuständigkeit liegt. Dadurch soll verhindert werden, daß über die Bearbeitung von Beschwerden von übergeordneter Stelle in den Verantwortungsbereich der Gemeinden und Städte eingegriffen wird (z.B. auf dem Gebiet der Wohnraumlenkung oder der Sozialfürsorge). Die entgegengesetzte Auffassung besagt, daß Beschwerdeausschüsse nur bei den Bezirks- und Kreistagen gebildet werden sollten. Diese Auffassung geht davon aus, daß die Beschwerdeausschüsse Organe der Volksvertretungen sein sollen, die nicht unmittelbar in das Leitungssystem eingegliedert sind. Sie sollen vom Leitungssystem unabhängige Organe der Kreis- und Bezirkstage zur Nachprüfung der Gesetzlichkeit von Entscheidungen der örtlichen Staatsorgane sein, unabhängig auch davon, in welcher Stadt oder Gemeinde die Entscheidung getroffen wurde. Von der Entscheidung, welche dieser beiden Grundauffassungen für die Bildung von Beschwerdeausschüssen gelten soll, hängt bis zu einem gewissen

96 So die "Vorschläge für die Neufassung des Eingabenerlasses" vom 3. Mai 1968, BArch (Staatsrat) DA 5 Nr. 7305. 97 "Vorschläge ... ", wie vorangehende Anmerkung.

4. Abschn.: Experimente mit Fonnen externen Verwaltungsrechtsschutzes 347

Grade die Regelung der mit der Bildung dieser Ausschüsse verbundenen Einzelfragen ab (hinsichtlich ihrer Rechte und ihrer Arbeitsweise).,,98

Letztlich entschied sich der Staatsrat für die Variante, die Beschwerdeausschüsse bei Bezirkstagen, Kreistagen, Stadtverordnetenversammlungen der Stadtkreise und Stadtbezirksversammlungen99 einzurichten. b) Entscheidungskompetenzen der Beschwerdeausschüsse

Die Konstruktion der Beschwerdeausschüsse als rechenschaftspflichtige Organe der jeweiligen Volksvertretung hatte zwangsläufig zur Folge, daß ihnen die Aufhebung von Beschlüssen der Volksvertretung oder ihres Rates verwehrt war. Im Falle von Meinungsverschiedenheiten zwischen Beschwerdeausschuß und Volksvertretung mußte dieser das Letztentscheidungsrecht zustehen. Ebenso entschied die Volksvertretung auf Ersuchen des Beschwerdeausschusses bei Zweifeln an der Rechtmäßigkeit eines Ratsbeschlusses. Damit war klargestellt, "daß unser sozialistischer Staat auf der Grundlage der vollen Machtkonzentration in den Händen der Volksvertretungen besteht, die Beschwerdeausschüsse demzufolge als Organe ihrer Volksvertretung und nicht im Sinne von ,Verwaltungsgerichten ' fungieren. Sie können keine Entscheidungen fällen, also niemals als eine Art Rechtsmittelinstanz angesehen werden."IOO

Die sich aus dieser Feststellung ergebenden Einschränkungen im Hinblick auf die Befugnisse der Beschwerdeausschüsse erläuterte Karl-Heinz Kühnau in scharfer Abgrenzung zur westlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit, gegen welche er im wesentlichen die traditionellen sozialistischen Ressentiments vorbringt und zu der die Beschwerdeausschüsse seiner Ansicht nach unter keinen Umständen eine Analogie bilden dürften 101 : "Ein wichtiges Prinzip der Tätigkeit des Beschwerdeausschusses besteht darin, daß er keine Entscheidung in der Sache trifft. Das Verwaltungsgericht entscheidet über die angefochtene Entscheidung anstelle des sachlich zuständigen Leiters, erhebt sich über ihn und nimmt ihm zugleich die Verantwortung ab. Eine solche Praxis widerspricht den Erfordernissen und Prinzipien sozialistischer staatlicher Leitungstätigkeit. Einer ihrer Grundgedanken war stets, die Verantwortungsbereiche klar abzugrenzen, die sich aus ihnen ableitenden Rechte und Pflichten exakt wahrzunehmen und auszufüllen. Das Wirken des Beschwerdeausschusses kann ausgehend von der zwischen Bürger und Staat bestehenden Interessenübereinstim"Vorschläge ... ", ebenda. § 21 Abs. 1 des Eingabenerlasses von 1969. Also nicht bei kreisangehörigen Städten und Gemeinden. 100 Gutachten der Staatsrechtsdozentin Lucie Haupt von der Akademie für Staat und Recht Walter Ulbricht in Potsdam-Babelsberg (wie Anm. 76), S. 4. 101 Karl-Heinz Kühnau, Beschwerdeausschüsse und sozialistische Demokratie, in: Staat und Recht 1970, S. 35-44 (41). 98 99

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

mung und der hierauf beruhenden Einheitlichkeit des Handelns aller Staatsorgane - nur das Anliegen verfolgen, diesen Grundgedanken noch weiter durchzusetzen. Gerade bei der Gestaltung des entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus vermag es dazu beizutragen, daß die staatliche Leitungstätigkeit ihre komplizierter werdenden Aufgaben qualifiziert erfüllt. Dem Beschwerdeausschuß stehen umfassende Rechte zu, um jede in seine Zuständigkeit fallende Beschwerde gegen die Entscheidung eines staatlichen Leiters gründlich prüfen zu können. Er macht sich mit den gesetzlichen Bestimmungen vertraut, fordert die mit der angefochtenen Entscheidung zusammenhängenden Unterlagen an oder sieht sie ein, läßt sich gegebenenfalls von den Leitern und Mitarbeitern der betreffenden staatlichen Organe, auch vom Vorsitzenden des Rates, Bericht erstatten, nimmt Ortsbesichtigungen vor, holt Gutachten ein, um zu einem eigenen begründeten Standpunkt zu gelangen. Diese Rechte benötigt er, um das zu lösende gesellschaftliche Problem in seiner Totalität und Verflechtung zu erfassen, es sind jedoch keine Rechte des Hineinredens und Hineinregierens. "

An dieser apologetischen Beschreibung wird bereits deutlich, daß gar nicht daran gedacht wurde, eine Art "Waffengleichheit" zwischen Beschwerdeausschüssen und den Staatsorganen herzustellen. Die Verfahrensbestimmungen orientierten die Tätigkeit der Beschwerdeausschüsse auf Konsens statt auf Konflikt. 102 Dem Beschwerdeausschuß wurde faktisch keine Möglichkeit gegeben, seine Entscheidung gegen den Willen des die Verwaltungsmaßnahme anordnenden Staatsorgans durchzusetzen. Insbesondere hatten die Beschwerdeausschüsse nicht die Möglichkeit, die angefochtene Verwaltungsmaßnahme nach der Prüfung für rechtswidrig zu erklären und gegebenenfalls Folgenbeseitigung anzuordnen. Selbst im Falle der Feststellung eines "offensichtlichen Verstoßes gegen die Gesetzlichkeit" hatten sie lediglich die Befugnis, "die angefochtene Maßnahme oder Entscheidung (gemeint ist deren Vollzug, d. Verf. dieser Arbeit) ... auszusetzen und vom Vorsitzenden des zuständigen Rates ihre unverzügliche Aufhebung zu verlangen,,103. Im Normalfall kam es ihnen lediglich zu, eine Entscheidung über die Sache durch den zuständigen Rat zu beantragen und dazu entsprechende Empfehlungen zu geben. 104

102 Gemäß § 24 Abs. 2 sollte der Beschwerdeausschuß mit dem Beschwerdeführer und dem Leiter, gegen dessen Verhalten sich die ursprüngliche Beschwerde richtete, eine Aussprache führen, die widerstreitenden Interessen und Argumente gegeneinander abwägen und gegebenenfalls weitere Aufklärungsmaßnahmen in Angriff nehmen. Zu diesem Zweck konnte er die Akten über den Vorgang zur Einsicht anfordern, die Mitarbeiter und Leiter der betreffenden Fachorgane sowie die zuständigen Mitglieder und den Vorsitzenden des Rates zur Berichterstattung über die Sache auffordern, Ortstermine vornehmen sowie Gutachten und Stellungnahmen anderer Staatsorgane sowie von Sachverständigen, gesellschaftlichen Organen oder Bürgern einholen. 103 § 25 Abs. 1 Zif. b) Eingabenerlaß von 1969. 104 § 25 Abs. 1 Zif. a) Eingabenerlaß von 1969.

4. Abschn.: Experimente mit Fonnen externen Verwaltungsrechtsschutzes 349

Auch die Entscheidung, den Beschwerdeausschüssen keine eigenständige Verwerfungskompetenz einzuräumen, scheint in direktem Zusammenhang mit außenpolitischen Ereignissen zu stehen: Die aus dem Jahre 1968 stammenden, von Ulbricht abgesegneten Grundsätze des Staatsrats für die Kommissionsarbeit wiesen den zukünftigen Beschwerdeausschüssen noch die Befugnis zu, "wegen offensichtlichen Verstoßes gegen die Gesetzlichkeit die unverzügliche Aufhebung der angefochtenen Maßnahme (zu] beschließen oder [die Aufhebung] durch den zuständigen Vorsitzenden des Rates [zu] verlangen.,,105

Von einem selbständigen Recht der Beschwerdeausschüsse war ein Jahr später nicht mehr die Rede. In den archivierten Unterlagen der Kommission wird dieser Verzicht nicht kommentiert. Es liegt jedoch die Vermutung nahe, daß dies unter dem Eindruck der Prager Ereignisse im Jahre 1968 geschah. Denn die Frage der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle wurde im Zusammenhang mit dem "Prager Frühling" durchaus thematisiert: Tschechische und slowakische Juristen hatten in den Jahren 1965 bis 1967 erheblich zur Ausweitung des gerichtlichen Verwaltungsrechtsschutzes in den Volksdemokratien beigetragen. Am Vorabend des Prager Frühlings kam es im Zusammenhang mit der 1965/66 in der es SR durchgeführten Wirtschaftsreform zu lebhaften Kontroversen über Fragen der gerichtlichen Kontrolle der Verwaltungstätigkeit. In rechtwissenschaftlichen Veröffentlichungen wurden Verwaltungsgerichte nach jugoslawischem Vorbild gefordert, welche aufgrund der Generalklausei tätig werden sollten. Unter Alexander Dubcek hatte die Regierung die Absicht, die Generalklausei einzuführen und die gerichtliche Nachprüfung von Verwaltungsakten besonderen Verwaltungsgerichten zu übertragen, was indes durch die Besetzung der es SR durch Warschauer-Pakt-Staaten verhindert wurde. 106 Es liegt nahe zu vermuten, daß dieser Hintergrund die SED-Führung zur Vorsicht mahnte. c) Kriterien der Rechtmäßigkeitskontrolle

Die in § 24 normierten Prüfungsmaßstäbe erkannten entsprechend den politischen und konstitutionellen Vorgaben erstmals neben objektiven auch subjektive Rechtsschutzziele an: "Der Beschwerdeausschuß prüft, ob a) die durch die Beschwerde angefochtene Entscheidung der Verfassung, den gesetzlichen Bestimmungen und den Beschlüssen der Volksvertretung entspricht, 105 Entwürfe zur Neufassung des Eingabenerlasses, BArch (Staatsrat) DA 5 Nr. 7305. Hervorhebung vom Verfasser dieser Arbeit. 106 Vgl. Lothar Schultz, Die gerichtliche Kontrolle von Verwaltungsakten in den sozialistischen Staaten, in: Recht in Ost und West 1974, S. 241-248 (242).

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

b) die Entscheidung unter Ausnutzung aller Möglichkeiten zur Herstellung der Übereinstimmung zwischen persönlichen Interessen und gesellschaftlichen Erfordernissen erfolgt ist, c) die berechtigten Interessen des Bürgers gewahrt wurden, d) die Gründe der Entscheidung ordnungsgemäß erläutert wurden."

Die den "schonenden Ausgleich" fordernde Vorschrift unter b) stand freilich im Widerspruch zu der Entscheidung des Erlaßgebers, Ermessensentscheidungen von der Kontrolle durch den Beschwerdeausschuß auszuschließen. Bei Ermessensentscheidungen stehe zwar möglicherweise die Rechtmäßigkeit, nicht jedoch die Gesetzlichkeit der Entscheidung in Frage. Folglich sah § 25 Abs. 1 lit. c) in diesen Fällen die Überleitung in das konventionelle Verfahren der Eingabenbearbeitung vor, so daß eine externe Kontrolle zwangsläufig unterblieb. 107 Hatte der Beschwerdeausschuß den Vorgang abgegeben, blieben ihm nur noch Informationsrechte. So konnte er eine Information über die Erledigung verlangen, "wenn der Sachverhalt auf grobe Verletzungen der Rechte der Bürger oder ernste Verstöße gegen die Prinzipien sozialistischer Menschenführung schließen" ließ. 108 Der Kontrolle durch den Ausschuß unterlag insofern jedoch nur die Frage der Erledigung an sich, wohingegen eine materielle Rechtmäßigkeitsprüfung ausgeschlossen war. 109 Das Netz der gegenseitigen Kontrolle der Staatsorgane wurde weiter gesponnen durch die Vorschrift des § 25 Abs. 2. Korrespondierend zum Informationsrecht gegenüber dem durch die Beschwerde des Verstoßes gegen die Prinzipien der sozialistischen Menschenführung bzw. der schweren Individualrechtsverletzung verdächtig gewordenen Leiters, hatte der Ausschuß seinerseits die Pflicht, die zuständige Kommission der Volksvertretung über den Verdacht zu informieren, soweit der Verdacht nicht umgehend vom zuständigen Leiter ausgeräumt wurde. 110 Die Entscheidung über eine Be107 Dies sollte in der Praxis dazu führen, daß der Beschwerdeausschuß in 90% der an ihn herangetragenen Fälle eine Befassung wegen Unzuständigkeit ablehnte und die Beschwerden in das herkömmliche Eingabenverfahren überleitete. 108 § 25 Abs. 2 Eingabenerlaß von 1969. 109 Für den Fall, daß der Beschwerdeausschuß mit der Entscheidung des Rates über eine von ihm behandelte Beschwerde nicht einverstanden sein bzw. der Rat dem Verlangen nach Aufhebung nicht nachkommen sollte, wie auch bei Zweifeln an der Rechtmäßigkeit eines Ratsbeschlusses, sah § 26 Abs. 1 des Erlasses vor, die Angelegenheit der Volksvertretung vorzulegen. Das gleiche gilt, wenn sich Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Ratsbeschlusses ergeben oder wenn der Beschwerdeausschuß eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der Angelegenheit feststellt. Des weiteren konnte der Beschwerdeausschuß gemäß § 26 des Eingabenerlasses empfehlen, sich im Rat, in den zuständigen Kommissionen der Volksvertretungen und anderen Staatsorganen mit bestimmten sachlichen Problemen auseinanderzusetzen, die Eingang in Beschwerden gefunden haben.

4. Abschn.: Experimente mit Fonnen externen Verwaltungsrechtsschutzes 351

schwerde war innerhalb von 6 Wochen nach Eingang schriftlich dem Beschwerdeführer und dem Beschwerdegegner mitzuteilen sowie (schriftlich oder mündlich) zu begründen. 111

d) Verhältnis des Beschwerdeveifahrens zum Rechtsmittelveifahren § 2 Abs. 3 des Erlasses stellte fest, daß die Vorschriften des Erlasses auf die nach wie vor fortbestehenden förmlichen Rechtsmittel keine Anwendung finden sollten. Damit existierten nach der Novelle des Eingabenerlasses von 1969 fortan drei Varianten von Beschwerden 112 : 1. die Beschwerde als Eingabe gemäß § 2 des Erlasses des Staatsrates der DDR über die Bearbeitung der Eingaben der Bürger vom 20. November 1969, welche sich grundsätzlich nicht auf subjektive Rechte des Bürgers bezog; 2. die Beschwerde als (Ld.R. fristgebundenes) Rechtsmittel gemäß dem Gesetz über die Neufassung von Regelungen über Rechtsmittel gegen Entscheidungen staatlicher Organe vom 24. Juni 1971, wodurch in den vorgesehenen Fällen Rechtsschutz gegen Individualakte l13 begehrt werden konnte, sowie 3. die Beschwerde gegen Entscheidungen gemäß §§ 19 ff. des Erlasses des Staatsrats (das Verfahren vor den Beschwerdeausschüssen) als Unterfall der Eingabe, also quasi als ein Substitut für ein spezialgesetzlich nicht vorgesehenes Rechtsmittel bei Vorliegen eines durch Leitungsakt begründeten konkreten Staatsrechtsverhältnisses.

Die Subsumtion dieser drei wesensunterschiedlichen Rechtsschutzinstrumente unter einen einheitlichen Beschwerdebegriff fiel auch Rechtswissenschaftlern schwer, wie die gewundene Definition von Karl Bönninger und Traute Schönrath erkennen läßt: § 25 Abs. 3 Eingabenerlaß von 1969. § 25 Abs. 4 Eingabenerlaß von 1969. 112 Nach BönningerlSchönrath (wie Anmerkung 77), S. 24. 113 Das Gesetz vermied den Begriff des "Verwaltungsakts". Letztlich war jedoch entsprechend der überlieferten deutschen verwaltungsrechtlichen Terminologie genau dies gemeint. In diesem Sinne äußern sich etwa BönningerlSchönrath (wie Anm. 77, S. 22): "Die Funktion der Beschwerde als Rechtsmittel besteht vor allem in darin, die Gesetzlichkeit solcher Entscheidungen zu gewährleisten, die unmittelbar Rechte und Pflichten der Bürger betreffen. Das sind entweder Willenserklärungen staatlicher Organe, die darauf gerichtet sind, Rechte und Pflichten der Bürger zu begründen, zu ändern oder aufzuheben (z. B. Erteilen einer Wohnungszuweisung an einen Bürger oder Auferlegen einer Ordnungsstrafe), oder Handlungen staatlicher Leitungsorgane, die in Rechte von Bürgern eingreifen oder Pflichten auslösen (z. B. Sperren eines Fernsprechanschlusses durch die Deutsche Post oder Demontage einer die öffentliche Sicherheit gefährdenden Fernsehantenne durch die Feuerwehr). Es handelt sich somit um Entscheidungen staatlicher Organe, durch die ein konkretes Rechtsverhältnis zwischen den Staatsorganen und dem Bürger begründet, geändert oder aufgehoben wird." 110 111

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

"Die Beschwerde ist eine Willenserklärung eines Bürgers (eines Kollektivs), mit der er AufgabensteIlungen der Staats- und Wirtschaftsorgane oder deren Realisierung, Zustände, für die Staats- oder Wirtschaftsorgane verantwortlich sind, die Arbeitsweise oder das Verhalten von Staats- oder Wirtschaftsfunktionären kritisiert und die Abstellung der Mängel fordert oder mit der er die Aufhebung bzw. Änderung von Entscheidungen der Staats- und Wirtschaftsorgane verlangt.,,114

Um dieser Unübersichtlichkeit im Beschwerdewesen entgegenzuwirken, wurden von der Gesetzgebungskommission anfangs Varianten diskutiert, welche die völlige Abschaffung aller (spezialgesetzlich geregelten) Rechtsmittel zugunsten der Anrufungsmöglichkeit der Beschwerdeausschüsse vorsahen. In dem von der Staatsrechtsdozentin Dr. Haupt verfaßten Gutachten der Akademie für Staat und Recht zum Entwurf des Staatsratserlasses hieß es diesbezüglich: "Es ist offensichtlich, daß bei der weiteren verfassungsrechtlich gebotenen Ausgestaltung der Aufgaben und Rechte der Beschwerdeausschüsse deren Beziehungen zu den im gegenwärtigen Rechtssystem geregelten Rechtsmittelverfahren zu klären sind. Dazu sind folgende Fragen zu beantworten: 1. Will die Verfassung generell das bestehende Recht, d. h. die vorgesehenen Rechtsmittelverfahren außer Kraft setzen und an ihre Stelle den Beschwerdeausschuß einsetzen?

Staatsrechtlich wäre eine solche Lösung mit der Maßgabe möglich, allmählich, aber systematisch die Außerkraftsetzung der einschlägigen Bestimmungen vorzunehmen, wobei zu beachten wäre, daß die Beschwerdeausschüsse nur bei örtlichen Volksvertretungen gebildet werden. 2. Will die Verfassung nur die Fälle regeln, die bisher von den rechtlich geregelten Rechtsmittelverfahren nicht erfaßt sind? 3. Will die Verfassung über den Eingabenerlaß und die bestehenden Rechtsmittelverfahren hinaus den Rechtsschutz der Bürger in der Weise ausbauen, daß ihnen auch nach Inanspruchnahme aller Rechtsmittel der Weg zum Beschwerdeausschuß offensteht, wenn eine sie nicht befriedigende endgültige Entscheidung durch die zuständigen Leiter bzw. die Rechtsmittelinstanz getroffen wurde?,,115

Letztlich rückte die Kommission unter Hinweis auf den Verfassungsauftrag von dem Gedanken einer Ersetzung des förmlichen Rechtsmittelverfahrens durch die Beschwerdeausschüsse ab. Die Verfassung habe das Ziel formuliert, "das bestehende gesellschaftliche System des Sozialismus und in ihm die sozialistische Staats- und Rechtsordnung zu vervollkommnen" 116. 114 Karl Bönninger und Traute Schönrath, Beschwerderecht - Instrument zur Wahrung der Rechte der Bürger und zur weiteren Verbesserung der staatlichen Leitungstätigkeit, Staat und Recht 1972, S. 20--33 (S. 20). 115 Gutachten, wie Anm. 76, S. 3 f. 116 Materialien zum Eingabenerlaß, BArch DA 5 Nr. 7306. Hervorhebung des Verfassers dieser Arbeit.

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Dazu gehöre der Ausbau des Rechtsschutzes der Bürger, im konkreten Fall durch die Einrichtung des Beschwerdeausschusses "über die bestehenden Rechtsmittel hinaus"ll7. Das Problem der Uneinheitlichkeit und Unübersichtlichkeit der förmlichen Rechtsmittel blieb damit ungelöst und veranlaBte den Vorsitzenden Gerlach zu einem bemerkenswerten Eingeständnis: "Nur wenige Bemerkungen möchte ich zum Rechtsmittelproblem machen. Die Formulierung in den Grundsätzen, auf die heute wieder Bezug genommen wurde, hat den Sinn, zum Ausdruck zu bringen, daß mit der Bildung der Beschwerdeausschüsse der Rechtsschutz der Bürger nicht eingeschränkt, sondern erweitert werden soll. Wenn in gesetzlichen Bestimmungen ein Rechtsmittelweg vorgesehen ist und wir annehmen wollten, wenn sich der Bürger an den Beschwerdeausschuß und nicht an die Rechtsmittelinstanz wendet, hat er sein Recht verspielt, dann würden wir praktisch das Recht des Bürgers und den Rechtsschutz einschränken. Der Beschwerdeausschuß soll ein zusätzliches Mittel sein, um den Rechtsschutz des Bürgers zu gewährleisten. Aus diesem Grunde wäre es falsch - das ist die Meinung in unserer Kommission -, wenn die Beschwerdeausschüsse in irgendeiner Weise selbst Rechtsmittelinstanz werden würden. Das kann man natürlich erst endgültig beurteilen nach einer längeren Frist des Erfahrungsstudiums und nachdem wir uns eingehend mit den Rechtsmittelfragen vertraut gemacht haben. Ich muß in unserem Kreise ganz offen sagen: Es gibt zur Zeit kein zentrales Staatsorgan, das einen systematischen und vollständigen Überblick über alle Rechtsmittel hat, die es in der Republik gibt. Wir sind mit einer Gruppe von Wissenschaftlern und der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft bemüht, tiefer in die Problematik einzudringen und ein bestimmtes Gutachten zu erhalten, wie man auf diesem Gebiet einiges vereinfachen und verbessern kann.,,118

Darüber hinaus standen auch sachliche Erwägungen einer Ersetzung entgegen. Man könne, so Gerlach, an das ganze Problem der Rechtsmittelfestlegung nicht von den Leitungsebenen her herangehen. "Ein Beschwerdeausschuß kann z. B. keine Entscheidung darüber treffen, wenn es sich über eine Steuemachzahlung von 67.000 Mark oder über die Einweisung psychisch Kranker in eine ärztliche Anstalt handelt. ,,119 Vor diesem Hintergrund entschied sich die Arbeitsgruppe des Staatsrates gegen die schlichte Aufhebung der spezialgesetzlichen Rechtsmittel mit der Begründung, die Aufhebung der Rechtsmittelzüge und die Übertragung der endgültigen Entscheidung auf die Beschwerdeausschüsse berge "die Gefahr einer wenig gründlichen und sachlich fundierten Entscheidung sowie einer unterschiedlichen Anwendung der Gesetze innerhalb der Territorien,,120. Materialien ... , wie vorangehende Anmerkung. Protokoll der Sitzung der Staatsratskommission vom 17.10.1968, BArch DA 5 Nr. 7311, S. 50. 119 Protokoll ... , wie vorangehende Anmerkung, S. 52. 120 "Übersicht über Probleme, die sich aus der Bildung der Tätigkeit von Beschwerdeausschüssen ergeben", Materialien zu den Tagungen der Staatsratskommission vom 11.9.117.10.1968, BArch DA 5 Nr. 7311, S. 2. 117

118

23 Hoeck

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

Weitergehend verständigte man sich darauf, die Rechtsmittelentscheidung selbst der Kontrolle durch die Beschwerdeausschüsse zu unterwerfen. Begründet wurde dies damit, daß der prinzipielle Ausschluß des Tätigwerdens der Beschwerdeausschüsse nach Inanspruchnahme der Rechtsmittelinstanzen eine "Einengung des Verfassungsgrundsatzes" (des Artikels 105) bedeuten würde. 121 Letztlich einigten sich die Ausschußmitglieder auf folgende Vorgehensweise: "Sofern aus den Unterlagen ersichtlich ist, daß der Bürger den möglichen Rechtsmittelweg noch nicht beschritten hat, ist die Zuschrift dem für die Rechtsmittelentscheidung zuständigen Organ zu übergeben und der Bürger entsprechend zu informieren. Sofern eine Rechtsmittelentscheidung durch ein örtliches staatliches Organ getroffen wurde, sollte der Beschwerdeausschuß trotzdem eine Überprüfung vornehmen, weil das im Interesse des verstärkten Rechtsschutzes des Bürgers liegt. Da die gesamten Rechtsmittelzüge gegenwärtig sehr unübersichtlich und auch unterschiedlich gestaltet sind (Entscheidungen z. T. in drei verschiedenen Ebenen usw.) wird dem Vorschlag zugestimmt, eine allgemeine Überprüfung der Rechtsmittelzüge und Möglichkeiten ihrer Vereinfachung durch Theoretiker und Praktiker vornehmen zu lassen. Zu diesem Zwecke sollte dem Staatssekretär und Leiter der Arbeitsgruppe Staatsund Wirtschaftsführung beim Ministerrat, Herrn Dr. Harry Möbis, empfohlen werden, einen entsprechenden Auftrag an die Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften Babelsberg zu geben."122

In die Endfassung des Eingabenerlasses fand diese Überlegung in der Form Eingang, daß dem Beschwerdeausschuß die Befugnis zur Überprüfung einer Rechtsmittelentscheidung eingeräumt wurde, insofern "offensichtliche Verstöße gegen die sozialistische Gesetzlichkeit und die Rechte des Bürgers" vorlagen 123 . Ein mit dieser Befugnis korrespondierender Rechtsanspruch des Bürgers auf Nachprüfung war nicht vorgesehen. 124 121 Übersicht ... , wie vorangehende Anmerkung. 122 Niederschrift über die 4. Sitzung der Kommission des Staatsrates zur Ausarbeitung der Neufassung des Eingabenerlasses am 11.9.1968, BArch (Staatsrat) DA 5 Nr. 7311, S. 4. 123 § 22 Abs. 2 Eingabenerlaß von 1969. 124 In der Praxis führte diese Entscheidung zu unklaren Kompetenzen und zu einer oftmals unnötigen Befassung mehrerer Stellen mit dem gleichen Sachverhalt. So stellte sich während der Erprobungsphase häufig das Problem, daß die neben dem Eingabenerlaß und der Tätigkeit der Beschwerdeausschüsse nach den gesetzlichen Bestimmungen weiterhin möglichen Einspruchverfahren auf einer anderen Ebene entschieden wurden. Dies betraf z. B. Einspruchverfahren bei der Abteilung Finanzen, im Bauwesen und anderen Abteilungen. So kam es etwa vor, daß sich ein Bürger in einem steuerrechtlichen Nachprüfungsverfahren durch Einlegung des vorgesehenen Rechtsmittels an die zuständige Stelle der Finanzverwaltung wandte, sich aber gleichzeitig über die Arbeitsweise des Abteilungsleiters der Finanzen beim Ratsvorsitzenden beschwerte in der Ansicht, die Nachzahlungsforderung beruhe auf

4. Abschn.: Experimente mit Fonnen externen Verwaltungsrechtsschutzes 355

4. Praxis der Beschwerdeausschüsse

Gemessen am Anspruch der aggressiven Propagierung der Beschwerdeausschüsse als vermeintlich ganz neuartige Instrumente zur umfassenden Sicherung der Gesetzlichkeit und zur "Garantie der verfassungsmäßigen Rechte der Bürger", blieb die Institution der Beschwerdeausschüsse in der Praxis eine eher unbedeutende Randerscheinung. Die Beschwerdeausschüsse wurden von der Bevölkerung nicht angenommen. Offenbar ließ sich den Bürgern nicht vermitteln, daß sie mittels Inanspruchnahme der Beschwerdeausschüsse schneller zu ihrem Ziel gelangen konnten als durch Beschreitung des üblichen Eingabewegs. Dies kann bei genauerer Betrachtung auch nicht verwundern. Das Eingabenwesen entsprach zwar eher einer Bitte an den paternalistischen Staat, sich im Sinne des Begehrens einzusetzen, barg aber immerhin die Möglichkeit, daß sich der adressierte Funktionär im Sinne des Bürgers umstimmen ließ. Diese Möglichkeit fehlte bei Anstrengung eines Beschwerdeverfahrens, da hier durch die Beschwerde bei einem anderen Organ zwar äußerlich eine Konfliktsituation geschaffen wurde, dem Bürger aber andererseits die Waffen zur Austragung dieses Konflikts nicht an die Hand gegeben wurden. Die treuhänderische Vertretung seiner Interessen durch die Beschwerdeausschüsse wurde weiterhin dadurch beeinträchtigt, daß die Ausschußmitglieder in der Regel weder über die fachliche Autorität noch über die juristische Ausbildung verfügten, um die ihnen vorgelegten Beschwerdefälle rechtlich beurteilen und ihre Entscheidung dann auch durchsetzen zu können. a) Juristische Qualifikation der Ausschußmitglieder Weder Verfassung noch der neugefaßte Eingabenerlaß sahen juristische Qualifikation als Voraussetzung für die Mitwirkung in einem Beschwerdeausschuß an. Vielmehr sollten berufliche und soziale Stellung der Mitglieder den Querschnitt der Bevölkerung abbilden. Fachliche Qualifikation in bestimmten Arbeitsbereichen wurde dabei ebenso positiv berücksichtigt wie gesellschaftliches Engagement in staatlichen Organisationen. So gehörten dem Beschwerdeausschuß des Bezirkstages Potsdam vom 25.2.1970 als Vorsitzende eine Diplom-Staatswissenschaftlerin (wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Pädagogischen Hochschule) sowie als Mitglieder ein Diplom-Pädagoge, eine Genossenschaftsbäuerin, eine Ringspinnerin, ein Diplom-Gesellschaftswissenschaftler und Diplom-Agrarökonom (Stellvertretender Leiter der ABI), ein Mitarbeiter des Konsumgenossenschaftsvereiner subjektiven Entscheidung. (So das Beispiel des Vorsitzenden des Rates der Stadt Saalfeld im Rahmen eines Erfahrungsberichtes an den Staatsrat vom 5.6.1968, BArch (Staatsrat) DA 5 Nr. 7306.). 23*

356

2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

bands, der BGL-Vorsitzende des Stahl- und Walzwerks Hennigsdorf sowie die Referatsleiterin für Sozialwesen im Gesundheitszentrum des Kreises Königs Wusterhausen an. 125 Der Beschwerdeausschuß der Stadtverordnetenversammlung Potsdam vereinte folgende Berufsgruppen: einen promovierten Pädagogen, zwei Diplom-Staatswissenschaftler, einen Wetterdiensttechniker, einen Arbeiter, eine Sachbearbeiterin und einen Wirtschaftsleiter. 126 Über eine juristische Ausbildung verfügte - soweit ersichtlich - kein Mitglied der genannten Beschwerdeausschüsse. Insofern blieb den Ausschussmitgliedern allein der Weg, sich schrittweise "am Fall" zu qualifizieren, was die Effizienz ihrer Arbeit naturgemäß beeinträchtigte. Eine gleichmäßige und umfassende Qualifizierung durch die Justiz, etwa durch eine Neuauflage des Volksrichterprogramms, wäre wohl an die Grenzen des organisatorisch Machbaren gestoßen, war vor allem aber auch aus ideologischen Gründen nicht erwünscht. Um die Distanz zu den westdeutschen Verwaltungsgerichten zu wahren, sollte eine Kontrolle der Verwaltung durch die Justiz auch nicht mittelbar ermöglicht werden. Dieser Umstand verursachte bereits in der Erprobungsphase Irritationen, da Ausschußmitglieder ungeachtet der volksnahen, unjuristischen Konstruktion "inoffiziell" Rat bei der Justiz suchten. So gestand der Vorsitzende des Experimentalausschusses Stralsund der vom Staatsrat eingesetzten Kommission: "Wir haben als Abgeordnete mit unseren Rechtspflegeorganen engen Kontakt. Der Kreisgerichtsdirektor hat mir gesagt: ,Wenn Du nicht zurechtkommst, wende Dich an mich, ich werde Dich unterstützen!' - damit will ich nicht sagen, daß wir uns grundsätzlich an die Justiz wenden. Aber das soll dazu beitragen, unser Wissen zu vervollkommnen. Die ersten Gehversuche haben wir gut überstanden. Wir werden auf diesem Wege weiterarbeiten, um dazu beizutragen, daß der Beschwerdeausschuß in Stralsund zum Wohle der Stadt gut arbeitet.,,127

Vereinzelt ergriffen die Beschwerdeausschüsse auch Maßnahmen, um ihre juristische Weiterbildung selbst in die Hand zu nehmen. Vor diesem Hintergrund berichtete der Vorsitzende des Beschwerdeausschusses beim Kreistag Döbeln auf der Sitzung der Staatsratskommission vom 17.10.1968: "Eine der wesentlichsten Voraussetzungen dafür, daß der Beschwerdeausschuß eine objektive Entscheidung trifft, ist jedoch die Kenntnis der gesetzlichen Bestimmungen. Wir müssen also der Qualifizierung eine sehr große Bedeutung beimessen. Wir haben deshalb in der letzten Sitzung ein Programm bis zum III. Quartal 1969 aufgestellt. Wir haben den Vorsitzenden des Rates des Kreises gebeten, seine Fachorgane anzuweisen, uns zu den Themen, die wir bestimmt haben, eine Gliederung und Literaturangaben zu geben und einen Schulungsleiter zu be125 Unterlagen zur 13. Sitzung des Bezirkstages vom 25. Februar 1970, Brandenburgisches Landeshauptarchiv Nr. 5340, BI. 182-184. 126 Stenographisches Protokoll der Sitzung der Kommission des Staatsrates zur Neufassung des Eingabenerlasses am 17.10.1968, BArch DA 5 (Staatsrat) Nr. 7311. 127 Protokoll (wie vorangehende Anmerkung), S. 13.

4. Abschn.: Experimente mit Fonnen externen Verwaltungsrechtsschutzes 357 nennen. Wir werden jeweils anderthalb Stunden vor der offiziellen Sitzung des Beschwerdeausschusses, behandeln: Im Oktober und November die Wohnraumlenkungsverordnung vom 14. September, im Dezember und Januar verfahrensrechtliche und bautechnische Bestimmungen im Bauwesen, im Februar und März LPG- und Bodenrecht sowie Grundsätze des landwirtschaftlichen Grundstücksverkaufs, April und Mai Arbeitsrechtsverhältnis und sozialistische Arbeitsdisziplin, Juni und Juli Lebensmittelgesetz und Hygieneverordnung, August und September Tätigkeit der staatlichen und gesellschaftlichen Preiskontrolle, insbesondere zur Einhaitung der Endverbraucherpreise. ,,128

Trotz dieses Engagements darf wohl bezweifelt werden, daß dieses Programm geeignet war, eine juristische Ausbildung zu ersetzen. Der Staatsrat sah das Problem, konnte sich jedoch letztlich nicht dazu durchringen, entweder die Auswahl der Mitglieder des Beschwerdeausschusses entsprechend zu reglementieren (bspw. die Besetzung des Amtes des jeweiligen Vorsitzenden der Beschwerdeausschüsse mit einem Juristen anzuordnen) oder einheitliche und wirksame Qualifizierungsmaßnahmen vorzusehen. Gerlach brachte das Problem bei der Beratung zwar unumwunden auf den Punkt, ohne daraus jedoch die erforderlichen Konsequenzen zu ziehen: "Was die Frage der Rechtskenntnisse betrifft, scheint nach den vorliegenden Erfahrungen der Weg richtig zu sein, der von einigen Beschwerdeausschüssen gegangen wird: Sich im Zusammenhang mit dem konkreten Fall gründliche Rechtskenntnisse anzueignen, auch deswegen - ich will es zugespitzt sagen -, um nicht dem zuständigen staatlichen Leiter auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein, der natürlich meist größere Sachkenntnis hat. Wir haben Fälle gehabt, wo im Beschwerdeausschuß die Mitglieder machtlos vis-a-vis saßen und der Leiter den Beschwerdeausschuß an die Wand spielte.,,129

Aus den Rechenschaftsberichten bekommt man teilweise auch den Eindruck, daß die Beschwerdeausschüsse ihre eigene Funktion wohl eher soziologisch als juristisch auffaßten. So betont der Vorsitzende des Beschwerdeausschusses des Bezirkstages Potsdam in seinem Rechenschaftsbericht für 1971, er verstehe die Erfüllung des Erlasses des Staatsrates als Verpflichtung, "immer zur Festigung der zwischenmenschlichen Beziehungen und zur engeren Bindung der Bürger zu unserem sozialistischen Staat zu wirken" 130. Diese nicht vorrangig an rechtlichen Kriterien ausgerichtete Grundtendenz zeigte sich auch in der Auseinandersetzung mit der Frage, ob die anwaltliche Vertretung des Bürgers vor den Beschwerdeausschüssen zulässig sein sollte. Das Tagungsprotokoll der Staatsratskommission vom 11.9. 1968 vermerkte hierzu: 128 Protokoll, wie Anm. 126, S. 28. 129 Protokoll, wie Anm. 126, S. 49. 130 Bericht des Beschwerdeausschusses für 1971, Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Nr. 5348 (Konvolut), BI. 169.

358

2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

"In Auswertungsgesprächen trat die Frage auf, ob sich ein Bürger beim Beschwerdeausschuß durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen kann. Jeder Bürger hat das Recht, sich von einem Anwalt beraten zu lassen. Da der Beschwerdeausschuß jedoch zum Zwecke des besonderen Schutzes der Rechte der Bürger gebildet wurde und aus gewählten Volksvertretern besteht und kein Verwaltungsgericht ist, ist eine Vertretung durch den Rechtsanwalt unzweckmäßig und sollte in der Arbeitspraxis nicht gestattet werden."m

Als "unzweckmäßig" mußte man die anwaltliche Vertretung des Bürgers wohl in der Tat ansehen, da nicht vorrangig juristische Kriterien den Verhandlungsablauf im Beschwerdeausschuß bestimmen sollten. Die - unp lausible - Begründung der Entscheidung erscheint vorgeschützt und legt eher die Vermutung nahe, daß der Staatsrat die "von Fall zu Fall" juristische Kenntnisse sammelnden Beschwerdeausschüsse nicht von vornherein einer Blamage ausliefern wollte. Eine Folge der mangelnden Autorität der Beschwerdeausschüsse war, daß die Ausschußmitglieder sich scheuten, komplexe Themen im grundrechtsrelevanten Bereich aufzugreifen. Dies galt insbesondere für Sachverhalte, welche die Voraussetzungen einer Befassung des Beschwerdeausschusses nach dem Eingabenerlaß von 1969 zwar formal erfüllten, zuvor jedoch bereits Gegenstand einer gerichtlichen Entscheidung gewesen sind. Nach dem Wortlaut war der Beschwerdeausschuß zuständig, dennoch sahen es die Ausschußmitglieder als unstatthaft an, sich unter dem Aspekt der Gesetzmäßigkeit der Leiterentscheidung erneut mit dem Thema zu beschäftigen. Die Beschwerdeführer wurden schlicht als Querulanten dargestellt, wie der Rechenschaftsbericht des Stellvertretenden Vorsitzenden des Experimental-Beschwerdeausschusses Neubrandenburg gegenüber der Staatsratskommission belegt: "Es wurde vorhin gesagt: "Man muß immer annehmen, daß alle Dinge, die auf den Tisch kommen, ehrliche Anliegen sind. Die Neubrandenburger Praxis zeigt, daß es auch einige Dauerkunden gibt. Wir haben Akten mit 276 Seiten, die bis auf das Neubauernprogramm, den Befehl Nr. 209, zurückgehen. Damit haben sich schon die Volkskammer, der Staatsrat und der Generalstaatsanwalt beschäftigt. Wir haben uns solche Dinge vom zuständigen Ratsmitglied erläutern lassen und haben gesagt: Hier gibt es eine kurze Mitteilung: Es ist entschieden, und es wird nicht länger diskutiert - auch wenn diese Bürger dann auf den Beschwerdeausschuß nicht gut zu sprechen sind.,,132

b) Umfang und Schwerpunkte der Inanspruchnahme

Anfang 1970 wurden bei den Bezirkstagen insgesamt 15 Beschwerdeausschüsse der Bezirkstage, 191 Beschwerdeausschüsse der Kreistage, 26 Beschwerdeausschüsse der Stadtverordnetensammlungen der Stadtkreise und 131 Sitzungsprotokoll 11.9.68 wie Anm. 123, S. 4. 132 Protokoll, wie vorangehende Anmerkung.

4. Abschn.: Experimente mit Fonnen externen Verwaltungsrechtsschutzes 359

33 Beschwerdeausschüsse der Stadtbezirksversarnmlungen gebildet. In ihnen waren insgesamt 2.100 Abgeordnete tätig. 133 Bereits die Rechenschaftsberichte, welche die neun Beschwerdeauschüsse in der Experimentalphase der Staatsratskommission vorlegten, offenbarten eine verschwindend geringe Inanspruchnahme 134: Beschwerdeausschuß

Mitglieder

Partei

SitzungsZudavon Beschwerden frequenz schriften absolut in Prozent

Bezirkstag Neubrandenburg

9

5 SED 3wöchentl. 1 LDPD 1 NDPD 1 CDU 1 DBD

19

2

10%

Bezirkstag Leipzig

9

5 SED 1 LDPD 1 NDPD 1 CDU 1 DBD

14tägig

20

4

20%

Kreistag Mühlhausen

8

6 SED 2CDU

14tägig

34

2

6%

Kreistag Döbeln

9

5 SED 1 LDPD 1 CDU 1 DBD

14tägig

5

Stadtverordnetenversammlung Stralsund

9

7 SED 1 CDU 1 NDPD

14tägig

23

2

9%

Stadtverordnetenversammlung Potsdam

7

3 SED 1 LDPD 1 NDPD 1 CDU 1 DBD

14tägig

11

3

27%

20%

(Fortsetzung Seite 360)

133 "Erfahrungen aus der Tätigkeit von Beschwerdeausschüssen örtlicher Volksvertretungen", Bericht des Vorsitzenden des Ausschusses für Eingaben der Bürger an den Sekretär des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik, Heinz Eichler, den Ersten Stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Horst Sindennann, und den Leiter der Abteilung Staats- und Rechtsfragen beim Zentralkomitee der SED, Dr. Klaus Sorgenicht, vom 21. Juli 1972, BArch (Staatsrat) DA 5 Nr.9013. 134 Materialien des Staatsrats zum Eingabenerlaß, BArch (Staatsrat) DA 5 Nr.7306.

360

2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht Mitglieder

Partei

Stadtverordnetenversammlung Karl-Marx:-Stadt

9

5 SED 1 LDPD 1 NDPD 1 CDU 1 DBD

14tägig

33

0%

Stadtbezirksversammlung Karl-Marx:-Stadt Mitte-Nord

7

14tägig 3 SED 1 NDPD 1 FDGB 1 DFD 1 parteilos

12

0%

Stadtbezirksversammlung Berlin-Friederichshain

7

4 SED 1 LDPD 1 NDPD 1 CDU

12

0%

Beschwerdeausschuß

Sitzungs- Zu- davon Beschwerden frequenz schriften absolut in Prozent

14tägig

Dieses vernichtende Ergebnis beruhte nicht etwa nur auf bloßen Anlaufschwierigkeiten. Auch nach Inkrafttreten des Eingabenerlasses von 1969 erhöhte sich die Frequenz ihrer Inanspruchnahme nicht. So gingen beim Beschwerdeausschuß des Bezirkstages Potsdam bis zum 10. Dezember 1970 lediglich 21 Beschwerden ein. 135 Lediglich bei 7 Beschwerden, also genau einem Drittel der an ihn herangetragenen Beschwerden, erkannte der Ausschuß seine Zuständigkeit an; bei den übrigen 14 Beschwerden verneinte er die eigene Befassungskompetenz mit der Begründung, daß sie sich nicht gegen "Überprüfungsentscheidungen von Leitern staatlicher Organe richteten, die dem Bezirkstag bzw. dem Rat des Bezirkes unterstanden"136. Sie wurden als Zuschriften im Sinne des Artikels 103 der Verfassung den zuständigen staatlichen oder wirtschaftsleitenden Organen bzw. staatlichen Leitern des Rats des Bezirks bzw. der Räte der Gemeinden und Kreise zur Bearbeitung übergeben. 137 Im darauf folgenden Berichtszeitraum, vom 135 Auszug aus dem schriftlichen Bericht des Beschwerdeausschusses des Bezirkstages über die Ergebnisse der Bearbeitung der beim Beschwerdeausschuß des Bezirkstages eingebrachten Beschwerden der Bürger und die sich daraus ergebenden Schlußfolgerungen, in: Mitteilungsblatt des Bezirkstages und des Rates des Bezirkes Potsdam 5/1970 (Materialien zur 17. Sitzung des Bezirkstages vom 21.12.1970, Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam, Nr. 5344, BI. 189). Der Bezirk Potsdam war zum damaligen Zeitpunkt mit 1.124.264 Einwohnern einer der größten Bezirke der DDR. (Vg1. Verzeichnis der Gemeinden und Ortsteile der Deutschen Demokratischen Republik, hrsgg. von der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik, Berlin 1970.) 136 Bericht des Beschwerdeausschusses des Bezirkstages ... , wie Anm. 135.

4. Abschn.: Experimente mit Formen externen Verwaltungsrechtsschutzes 361

1. Januar 1971 bis Anfang September 1971, nahm dem Bericht des Beschwerdeausschusses zufolge die Inanspruchnahme sogar noch ab. 138 Nunmehr gingen 34 Beschwerden ein, von denen vier nach Ansicht des Beschwerdeausschusses in dessen Zuständigkeit fielen. Die nachstehende Statistik vermittelt einen Überblick über den Inhalt der Eingaben und Beschwerden und über die Verantwortlichkeit für ihre Erledigung. 139 Inhalt

Anzahl der Beschwerden bzw. Eingaben

Beschwerdeausschuß zuständig

Grundstücksangelegenheiten

9

2

Werterhaltung

4

4

Wohnungsanträge

6

6

Bau von Bungalows

4

3

Sozialwesen

2

2

LPG-Recht

2

2

Volkspolizei

Verantwortung anderer Staats- bzw. Wirtschaftsorgane 7

1

Inneres

12

Erfindungswesen

1

Vertragsrecht

1

Staatshaftung

3

2

Die Art und Weise der statistischen Aufbereitung des Zahlenmaterials durch den Beschwerdeausschuß entsprach nicht der von Verfassung und Eingabenerlaß vorgegebenen Orientierung der Beschwerdeausschüsse auf die Aufdeckung ungesetzlicher Verwaltungsmaßnahmen. Dieser Zielsetzung hätte am ehesten ein Verzeichnis der Behörden entsprochen, über die auffallend häufig Beschwerde geführt wurde. Hierüber ließ sich nach der hier gewählten Form der Berichterstattung aber keine Aussage treffen. Statt dessen ahmten die Beschwerdeausschüsse schlicht die konventionellen Eingabenberichte nach, indem sie die eingegangenen Beschwerden abstrakt nach ihrem jeweiligen Gegenstand und nicht nach der bearbeitenden Stelle auswiesen. Bericht des Beschwerdeausschusses des Bezirkstages ... , ebenda. Bericht des Beschwerdeausschusses an den Bezirkstag Potsdam über die Arbeit im Zeitraum Januar bis September 1971, Materialien zur 20. Sitzung des Bezirkstages Potsdam am 27. September 1971, Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Nr. 5348 (Konvolut), BI. 169. 139 Ebenda. 137 138

362

2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

Diese Art der Darstellung erscheint sinnvoll, wenn allgemeine Mängel, etwa in der staatlichen Leistungsverwaltung, kenntlich gemacht werden sollen, die als Grundlage für die politische Makrosteuerung dienen sollen. Dies war jedoch bereits Aufgabe des herkömmlichen Eingabenwesens. Das Verfahren vor den Beschwerdeausschüssen sollte sich jedoch gerade insofern vom herkömmlichen Eingabenwesen abheben, als ausschließlich Verletzungen der Gesetzlichkeit Gegenstand der Überprüfung sein sollten. Die Berichterstattung der Beschwerdeausschüsse deutet somit darauf hin, daß diese Differenzierung in der Praxis nicht ausreichend berücksichtigt wurde.

b) Mißachtung der Zuständigkeitsvorschriften Die Besonderheiten des Beschwerdeverfahrens konnten letztlich weder den rechtssuchenden Bürgern noch einem Großteil der Ausschußmitglieder selbst verdeutlicht werden. Dies galt insbesondere im Hinblick darauf, daß das Beschwerdeverfahren ausschließlich der Kontrolle von belastenden Individualakten dienen sollte. Häufig betrachteten Bürger die Beschwerdeausschüsse als eine Art ständige Kommission für alle möglichen Eingaben an die jeweilige Volksvertretung, wobei den Ausschußmitgliedern als nicht ständig mit dem Sachgebiet betraute Personen mehr Engagement und Durchsetzungsfreude unterstellt wurde. Folglich gingen bei den Beschwerdeausschüssen Eingaben nahezu beliebigen Inhalts ein. Der Vorsitzende des in der Versuchsphase eingerichteten Beschwerdeausschusses Berlin-Friedrichshain berichtete der Staatsratskommission anläßlich ihrer Sitzung am 17.10.1968 von folgenden "Beschwerde"-Problemen: Entzug einer Fahrerlaubnis, Bereitstellung von Kindergarten- und Krippenplätzen, Schwierigkeiten beim Umsteigen in der S-Bahn, Rechnungen der Bewag, Einweisung in ein Geschäftslokal, Ausbauwohnungen, Spielplatz für einen Kindergarten, Beschlagnahme von Grundstücken, sowie Handelsgepflogenheiten der HO-Lebensmittel. 140 Sowohl in der Bevölkerung als auch bei den Beschwerdeausschüssen selbst herrschte eine erhebliche Irritation über die sachliche Zuständigkeit der Beschwerdeausschüsse. Hinzu kam, daß die mangelnde juristische Qualifikation der meisten Beschwerdeausschußmitglieder einerseits sowie das propagierte "kameradschaftliche" Zusammenwirken in der "sozialistischen Menschengemeinschaft" andererseits, das seinen Ausdruck gerade in der Arbeit der Beschwerdeausschüsse finden sollte, dazu führten, daß Ausschußmitglieder eindeutige Zuständigkeitsvorschriften außer acht ließen bzw. zurechtbogen und auf diese Weise eine erhebliche Konfusion verur140 Protokoll der Sitzung der Arbeitsgemeinschaft des Staatsrates zur Neufassung des Eingabenerlasses vom 17.10.1968, BArch (Staatsrat) DA 5 Nr. 7311, S. 16.

4. Abschn.: Experimente mit Formen externen Verwaltungsrechtsschutzes 363

sachten. Dies war bereits vor Inkrafttreten des Eingabenerlasses am 20. November 1969 evident. Selbst die Zeitung "Sozialistische Demokratie", das offizielle Presseorgan des Staatsrats und des Ministerrats, räumte ein, daß diese Grundsätze von den Beschwerdeausschüssen selbst, sei es mangels Erfahrung und Fachkompetenz, sei es aus den Motiven nach respektablen, jedoch durchaus kompetenzwidrigen Erwägungen heraus, oftmals mißachtet wurden, und zitierte in diesem Zusammenhang die stellvertretende Vorsitzende des Beschwerdeausschusses Berlin-Friedrichshain mit den Worten: "Wir haben unsere Kinderkrankheiten bis jetzt noch nicht vollkommen überwinden können. Wir sind noch immer geneigt, uns mit jeder Sache zu beschäftigen, die der Entscheidung der staatlichen Leiter obliegt. Darin liegt die Gefahr - das merken wir schon -, daß Bürger bevorzugt werden, die sich an den Beschwerdeausschuß wenden. Aber unsere Aufgabe besteht doch darin, die Gesetzesverletzungen, auf die wir bei den Beschwerden stoßen, zu beseitigen und nur in diesem Zusammenhang auf die staatlichen Leiter einzuwirken.,,141

Doch nicht nur die Umgehung der Bestimmungen des Staatsratserlasses hinsichtlich der sachlichen oder instanziellen Zuständigkeit wurden unterlaufen. Vielmehr offenbarte bereits der Probelauf der Beschwerdeausschüsse bei den neun örtlichen Volksvertretungen, daß die neu geschaffenen Regelungen das Risiko bargen, zum Schlachtfeld von Machtkämpfen einzelner Staatsorgane untereinander zu werden. So führte ein Mitglied des Beschwerdeausschusses Neubrandenburg weiter aus 142 : "Wir prüfen in unseren Sitzungen die Frage unserer Zuständigkeit auch von dem Gesichtspunkt, ob es sich wirklich um Eingaben einzelner Bürger, von Gemeinschaften der Bürger oder gesellschaftlichen Organisationen handelt, wie es in den Richtlinien heißt. Meist ist von dieser Seite die Zuständigkeit gegeben. Es gibt allerdings auch Ausnahmen. So hat sich z. B. der Rat der Gemeinde VollratlIsruhe beschwerdeführend an uns gewandt, weil er mehr Investitionen haben wollte und sich praktisch gegen die Festlegungen im Plan des Bezirkes wandte. Dabei war unseres Erachtens die sanft lenkende Hand des Rates des Kreises Waren unverkennbar, noch dazu, wo uns die ganze Eingabe per Fernschreiben auf den Tisch kam. Aber wir können doch nicht die Streitigkeiten zwischen den staatlichen Organen schlichten."

Abseits des ihm vom Eingabenerlaß eröffneten Betätigungsfelds scheint sich der Ausschuß in der Praxis ebenso mit der Anfertigung von Entwürfen 141 Gertraude Ritter und Karl-Heinz Kühnau, In lebendiger Verbindung mit den Menschen, Teil V: Die Grundsätze des Staatsrates für die Tätigkeit der Beschwerdeausschüsse haben sich in der praktischen Erprobung bewährt, in: Sozialistische Demokratie Nr. 46/68 vom 15.11.1968, S. 18. 142 Tätigkeit der Arbeitsgemeinschaft des Staatsrates zur Neufassung des Eingabenerlasses und Bildung von Beschwerdeausschüssen bei den örtlichen Volksvertretungen (beschlossen auf der 8. Sitzung des Staatsrates am 22.4.1968), BArch DA 5 Nr.7307.

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

zu allgemeinen Verwaltungsvorschriften befaßt zu haben, wie er in seinem Rechenschaftsbericht selbst hervorhob: "Damit konnte der Beschwerdeausschuß des Bezirkstages seine Tätigkeit auf die Wiederherstellung des zeitweilig gestörten Vertrauensverhältnisses der Bürger zum staatlichen Leiter entsprechend dem jeweiligen Anliegen (richten) und die sozialistische Gesetzlichkeit festigen helfen. Das drückt sich besonders in der auf Initiative des Beschwerdeausschusses erarbeiteten Ratsvorlage zur Regelung einer einheitlichen staatlichen Verfahrensweise für die Vorbereitung von Baumaßnahmen der Kategorien Eigenheime, Wochenend- und Bootshäuser sowie Garagen aus, dabei wurden eine Reihe von Leitungsschwächen ausgewertet.,,143

d) Aufdeckung von Verstößen gegen die sozialistische Gesetzlichkeit

Das Dilemma der Beschwerdeausschüsse bestand darin, daß ihre Tätigkeit einerseits ihre Tauglichkeit als Instrument des Verwaltungsrechtsschutzes unter Beweis stellen sollte. Diesem Zweck hätte es entsprochen, wenn durch ihr Wirken möglichst viele ungesetzliche Maßnahmen aufgedeckt und beseitigt worden wären. Andererseits sollten sie mithelfen, die Überlegenheit des marxistisch-leninistischen Gesellschaftsentwurfs zu demonstrieren, die in Frage gestanden hätte, wenn die Beschwerdeausschüsse laufend schwere und vorsätzliche Verstöße von Staatsfunktionären gegen die sozialistische Gesetzlichkeit aufgedeckt hätten. Folglich legten sich die Ausschüsse Zurückhaltung auf und nahmen den Umstand, daß sie nahezu keine Verstöße aufdeckten, als Indiz für den hohen sittlichen Reifegrad der sozialistischen Gesellschaft. Auf die Frage nach der Anzahl der auf Rechtsverletzungen bezogenen Beschwerden antwortete der Vorsitzende des versuchsweise eingerichteten Beschwerdeausschusses Karl-Marx-Stadt: "Ich muß offen sagen - und ich bin sehr froh darüber -, wir haben bisher nicht eine einzige solche Beschwerde erhalten. In keinem Fall wurde eine Entscheidung eines Leiters über eine Eingabe beanstandet, d.h. also, in keinem Fall lagen die Voraussetzungen vor, die Eingabe durch uns als Beschwerdeausschuß zu behandeln. (... ) Die Tatsache, daß bisher noch kein Bürger Anlaß hatte, sich wegen Verletzung seiner Rechte an uns zu wenden, macht deutlich, daß der sozialistische staatliche Leiter die Rechte der Bürger wahrt und welch neue gesellschaftliche Beziehungen der Werktätigen zu ihren Staatsorganen gewachsen sind. Wir ziehen daraus natürlich nicht die Schlußfolgerung, daß bei uns in Karl-MarxStadt alles in Ordnung und nichts zu verbessern sei. Gerade die Kenntnisnahme der an uns gerichteten vielfältigen Eingaben zeigt, daß es zwar keine Gesetzesverletzungen, aber mitunter doch eine starke Nachlässigkeit in der Bearbeitung und der Beachtung der Anliegen der Bürger gibt. Nichtssagende oder hinhaltende Ant143 Bericht des Beschwerdeausschusses für 1970, Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Nr. 5344, BI. 189.

4. Abschn.: Experimente mit Fonnen externen Verwaltungsrechtsschutzes 365 worten, ungenügend begründete Entscheidungen oder oberflächliche Prüfungen sowie herzloser Umgangston lassen beim Bürger mitunter den Eindruck entstehen: So kann es in unserem sozialistischen Staat nicht sein. Er hat Vertrauen gesucht, ein gemeinsames Bemühen, um ein für ihn wichtiges persönliches Anliegen zu lösen. Er erhält zwar eine fonnal richtige und rechtlich begründete, aber doch keine Antwort, die ihn spüren läßt, daß er verstanden und daß alles getan wird, ihm auf der Grundlage der Gesetze entsprechend den ökonomischen Möglichkeiten zu helfen, die ihn spüren läßt, daß er Mitverantwortlicher und Mitregierender ist. Die Stärke unseres Staates liegt ja vor allem im Mitdenken und Mithandeln aller Werktätigen. Diese Feststellungen waren für uns Anlaß, von einigen staatlichen Leitern Stellungnahmen über die Erledigung der von uns übersandten Eingaben der Bürger anzufordern. Diese Stellungnahmen beweisen, daß vorher das Anliegen des Bürgers nicht immer sorgfältig genug betrachtet und geprüft wurde. Erst wenn wir schrieben, wurde gründlicher und gewissenhafter gearbeitet. Das kann zwar nicht zur Korrektur einer richtigen Entscheidung führen, jedoch dazu, daß dem Bürger verständlicher und überzeugender die gegenwärtigen ökonomischen Möglichkeiten und die rechtlichen Bestimmungen dargelegt werden."I44

Derartige Schilderungen bestätigen den Eindruck, daß dem Verfahren vor den Beschwerdeausschüssen eher eine das Verwaltungshandeln nachträglich legitimierende Funktion zukam, als daß sich die Ausschußmitglieder ernsthaft auf eine Konfrontation mit den angegriffenen Verwaltungsfunktionären einließen. Unter Rechtsschutzgesichtspunkten erfolgreicher verlief in der Probephase allein die Tätigkeit des Beschwerdeausschusses beim Bezirkstag Neubrandenburg. Mit insgesamt sieben zulässigen Beschwerden (eingereicht wurden 49) war dessen Inanspruchnahme vergleichsweise hoch. Laut Rechenschaftsbericht beschäftigte sich der Ausschuß mit folgenden Beschwerden: "Es handelte sich um eine Gehaltsrückstufung eines Apothekenleiters, eine Summe für Bauleistungen eines Baugeschäftes, um die Beschwerde einer Gemeinde gegen die Streichung eines Schulbaues, den Einspruch gegen die Ablehnung einer Eheschließung mit einem Staatsbürger eines Natolandes, eine Beschwerde gegen den Schulrat wegen der Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen eines Lehrers, der Rentner ist, und um die Ablehnung eines Zusatzstudiums durch die Abteilung VOlksbildung.,,145

Der Fall des im Gehalt herab gestuften Apothekenleiters konnte als Musterbeispiel für die Ineffizienz der Beschwerdeausschüsse gelten. Hintergrund der Beschwerde war, daß ein Apotheker von einem Bezirksarzt in 144 "In lebendiger Verbindung mit den Menschen - Gespräch mit dem Vorsitzenden des Beschwerdeausschusses der Stadtverordnetenversammlung Karl-Marx-Stadt, Abgeordneten Schauer, über erste Erfahrungen des Beschwerdeausschusses", in: Sozialistische Demokratie Nr. 4l/68 vom 11.10.1968, S. 6. 145 Stenographisches Protokoll der Sitzung der Kommission des Staatsrates zur Neufassung des Eingabenerlasses am 17.10.1968, BArch DA 5 Nr. 7311, S. 15.

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seinem Gehalt herabgestuft wurde mit der Begründung, der Umsatz der Apotheke sei zu niedrig und der Stellenplan nicht ausgelastet. Der Beschwerdeausschuß sah in der Angelegenheit zwar "ein klassisches Beispiel für eine arbeitsrechtliche Streitigkeit, die bei den Arbeitsgerichten ausgefochten werden müßte,,146, dennoch wollte er sich nicht für unzuständig erklären, da es sich bei der Herabstufung eindeutig um die Entscheidung eines Bezirksratsmitgliedes handelte. Mit der Klärung des arbeitsrechtlichen Sachverhaltes waren die Ausschußmitglieder indes überfordert, so daß der Beschwerdeausschuß das Arbeitsgericht anrief, um zu erfahren "ob es schon so eine Streitfrage zu bearbeiten hatte,,147. Eine Rückmeldung des Arbeitsgerichts erfolgte jedoch nicht. 5. Das Ende der Beschwerdeausschüsse Ohne öffentliches Aufheben stellten die Beschwerdeausschüsse ihre Tätigkeit in den Jahren 1972 und 1973 aufgrund eines unveröffentlichten Beschlusses des Ministerrates "über die weitere Verbesserung der Arbeit der Räte der örtlichen Volksvertretungen in den Städten, Kreisen und Bezirken mit den Bürgern" ein 148 - obschon mit Art. 105 die verfassungsmäßige Grundlage für ihre Errichtung und ihre Unterhaltung fortbestand. Ebenso wurde der Eingabenerlaß von 1969 zunächst nicht außer Kraft gesetzt, wenngleich das "Gesetz über die örtlichen Volksvertretungen und ihre Organe" vom 12. Juli 1973 149 die Beschwerdeausschüsse nicht mehr als Organe der örtlichen Volksvertretungen auswies. Erst mit der Verfassungsnovelle von 1974 wurde Artikel 104 als verfassungsmäßige Grundlage der Beschwerdeausschüsse ersatzlos gestrichen. Auf einfachgesetzlicher Ebene wurde die Diskrepanz zwischen Gesetzeslage und Rechtspraxis erst durch das Eingabengesetz von 1975, das den Eingabenerlaß von 1969 aufhob, behoben. Eine offizielle Begründung hierfür wurde nicht gegeben. Inoffiziell hatte der mit der Untersuchung der Ursachen für die mangelhafte Inanspruchnahme der Beschwerdeausschüsse betraute Vorsitzende des Eingabenausschusses der Volkskammer in einem Bericht über die "Erfahrungen aus der Tätigkeit von Beschwerdeausschüssen örtlicher Volksvertretungen" bereits am 21. Juli 1972 die Gründe analysiert, die zum Scheitern der Beschwerdeausschüsse geführt hatten. In dem an Heinz Eichler (Sekretär des Staatsrats) und Horst Sindermann (Erster Stellvertretender Vorsitzender des Protokoll der Sitzung vom 17.10.1969, wie vorangehende Anmerkung, S. 34. Protokoll der Sitzung vom 17.10.1969, ebenda. 148 VgI. Ulrich Lohmann, Gerichtsverfassung und Rechtsschutz in der DDR, S. 41. Der erwähnte Beschluß konnte im Archivbestand des Ministerrats im Bundesarchiv nicht gefunden werden. 149 GBI. I 1973, S. 313. 146 147

4. Abschn.: Experimente mit Fonnen externen Verwaltungsrechtsschutzes 367

Ministerrats) sowie Dr. Klaus Sorgenicht (Leiter der Abteilung Staats- und Rechtsfragen beim Zentralkomitee der SED) gerichteten Bericht machte er vor allem die Unkenntnis der Bevölkerung für die mangelnde Popularität der Beschwerdeausschüsse verantwortlich: "Die Bevölkerung ist unzureichend über das Bestehen von Beschwerdeausschüssen als einer für sie im Territorium geschaffenen weiteren Möglichkeit der Wahrung ihrer Rechte informiert. Das zeigt sich besonders auch darin, daß zahlreiche Eingaben und Vorsprachen bei übergeordneten staatlichen Organen erfolgen, obwohl für deren Behandlung der Beschwerdeausschuß der jeweiligen Volksvertretung zuständig wäre."

Infolge der mangelhaften Inanspruchnahme mußten die Beschwerdeausschüsse zwangsläufig das von der Staats- und Parteiführung maßgeblich verfolgte Ziel der Zurückdrängung der Eingabenflut an die zentralen Staatsorgane verfehlen. Darüber hinaus führte der Stillstand häufig dazu, daß sich die Ausschußrnitglieder neue Betätigungsfelder außerhalb ihrer Zuständigkeit "suchten" und dadurch erhebliche Konfusion verursachten: "Aus der unterschiedlichen Inanspruchnahme und unzureichenden Auslastung der Beschwerdeausschüsse ergeben sich, zweifellos in guter Absicht und aus ihrer Verantwortung als Abgeordnete, Tendenzen, weitergehende Befugnisse zu übernehmen, als es die gesetzlichen Regelungen zulassen. Das zeigt sich darin, daß - Beschwerden der Bürger behandelt werden, obwohl noch keine Überprüfungsentscheidung zuständiger staatlicher Leiter vorliegt, - bei der Weiterleitung von Eingaben an das dafür zuständige staatliche Organ in jedem Fall Kontrollberichte gefordert werden, ohne daß grobe Verstöße gegen die Prinzipien sozialistischer Führungstätigkeit vorliegen, - durch Arbeitsgruppen oder einzelne Abgeordnete des Beschwerdeausschusses "vorbeugende" Kontrollen in Fachorganen oder nachgeordneten Einrichtungen organisiert werden, um eventuelle Beschwerdeflille zu venneiden.,,150

Daneben trugen jedoch auch die Staatsfunktionäre eine Verantwortung am Scheitern der Beschwerdeausschüsse, da sie sich häufig anschickten, die konzeptionelle Unzulänglichkeit des Zwitterwesens aus externem Kontrollorgan und "Organ der Volksvertretung" auszunutzen und die Beschwerdeausschüsse für ihre Zwecke zu instrumentalisieren: "In den Beratungen der Mitglieder des Volkskammerausschusses wurde von Beschwerdeausschüssen auf einzelne Erscheinungen hingewiesen, die ihre Arbeit erschweren, die zu Auffassungen führen, daß ihre Arbeit wenig nutzbringend sei 150 "Erfahrungen aus der Tätigkeit von Beschwerdeausschüssen örtlicher Volksvertretungen", Bericht des Vorsitzenden des Ausschusses für Eingaben der Bürger an den Sekretär des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik, Heinz Eichier, den Ersten Stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Horst Sindennann, und den Leiter der Abteilung Staats- und Rechtsfragen beim Zentralkomitee der SED, Dr. Klaus Sorgenicht, vom 21. Juli 1972 (Infonnationen aus den Abteilungen/Abteilung Eingaben), BArch (Staatsrat), DA 5 Nr. 9013.

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

und daß die Aufgaben, die sie erfüllen sollen, von anderen Organen mit geleistet werden könnten. Solche Erfahrungen zeigen sich u. a. darin, (... ) - daß es Versuche von leitenden Funktionären und Mitarbeitern der Räte gibt, auf Entscheidungen von Beschwerdeausschüssen in unzulässiger Weise Einfluß zu nehmen. Auch bei manchen leitenden Funktionären der Räte zeigten sich gewisse Unsicherheiten und mangelnde Kenntnisse der rechtlichen Bestimmungen über Verantwortung und Aufgaben der Beschwerdeausschüsse. Das wird u. a. darin sichtbar, daß (... ) - Leiter von Fachorganen der Räte sich vor der Entscheidungsfindung über Eingaben mit dem Beschwerdeausschuß konsultieren, um sich mit der Autorität des Beschwerdeausschusses gegenüber dem Bürger abzusichern, - Staatsfunktionäre - vor allem Bürgermeister von Gemeinden - sich gegen staatliche Weisungen, mit denen sie nicht einverstanden sind, an den Beschwerdeausschuß wenden, um diesen als allgemeine Instanz zur Regelung von Verwaltungs streitigkeiten zu benutzen.,,151

V. Stellungnahme Zuzubilligen ist, daß an der Einrichtung der Beschwerdeausschüsse zumindest das Bemühen des SED-Regimes deutlich wurde, den Rechtsschutz der Bürger zu verbessern. In der Theorie schuf der Staatsrat mit den Beschwerdeausschüssen eine "beachtenswerte Form der Drittentscheidung" 152. Dabei schöpfte die Staatsführung jedoch nicht alle ideologisch zulässigen Möglichkeiten eines systemkonformen externen Rechtsschutzes aus. Vor allem die mangelnde Befugnis der Beschwerdeausschüsse, die angegriffene Verwaltungsentscheidung durch Urteil selbständig aufzuheben, entwertete die Regelung und ließ das Vorhaben halbherzig erscheinen. In diesem Sinne gelangte Klaus Westen im Jahre 1968 von westdeutscher Seite aus zu der Ansicht, die Konzeption der Entscheidungsbefugnisse der Beschwerdeausschüsse beruhe auf "einem - zumindest gefühlsmäßig - nicht zu Ende gedachten Gedanken der Gewaltenkonzentration,,153. Er forderte, daß der Grundsatz der Einheit von Beschlußfassung und Vollziehung "weiterschreiten" müsse zur Einheit von Beschlußfassung, Vollziehung und Rechtsprechung l54 , wie er in "in beweglicheren sozialistischen Systemen als der DDR" (CSSR, Ungarn, Rumänien und auch in der Sowjetunion) schon vor151 Erfahrungen aus der Tätigkeit von Beschwerdeausschüssen örtlicher Volksvertretungen, wie vorangehende Anmerkung, S. 7. 152 Vgl. Ulrich Lohmann, Gerichtsverfassung und Rechtsschutz in der DDR, S.40. 153 Klaus Westen, Verwaltungsrechtsschutz in der Retorte, Deutschland-Archiv 1968, S. 370-378 (373). 154 Westen, wie vorangehende Anm., S. 374.

4. Abschn.: Experimente mit Fonnen externen Verwaltungsrechtsschutzes 369

herrsche und dort eine gerichtliche Nachprüfung von Verwaltungsakten zumindest in Teilbereichen ermögliche. 155 Die Staatsführung der DDR bemühte sich jedoch nicht, die diesbezüglichen Fortschritte der sozialistischen "Bruderstaaten" in irgendeiner Form zu rezipieren, und griff auf die Erfahrungen insbesondere der Sowjetunion nur insoweit zurück, als diese ihre eigene beharrende und retardierende Haltung zu bestätigen schienen. Es rächte sich in diesem Zusammenhang auch die Auslöschung der Verwaltungsrechtswissenschaft auf der Babelsberger Konferenz, die nunmehr die Erarbeitung eines tragfähigen verwaltungsrechtlichen Gesamtkonzepts unmöglich machte und die Lösung rechtspolitischer Erfordernisse (wie die Stärkung des Verwaltungsrechtsschutzes und die Stärkung der örtlichen Organe bei der Eingabenbearbeitung) auf eine Maßnahmengesetzgebung im Trial-and-error- Verfahren verwies. Ein Grund für die schwache Ausgestaltung der Entscheidungskompetenzen der Beschwerdeausschüsse blieb unausgesprochen. Er bestand darin, die Beschwerdeausschüsse auch formal den westdeutschen Verwaltungsgerichten nicht zu ähnlich werden zu lassen. Jenseits aller Dogmatik könnte hier das Beharren auf der Einzigartigkeit und Selbständigkeit des deutschsozialistischen Gesellschaftsentwurfs eine ausschlaggebende Rolle gespielt haben. Somit ergab sich die Weigerung des Staatsrates, die Beschwerdeausschüsse funktional und organisatorisch den westdeutschen Verwaltungsgerichten anzunähern, wohl zumindest teilweise aus der Notwendigkeit, sich wegen der geographischen und menschlichen Nähe zu Westdeutschland besonders deutlich vom kapitalistischen Bruderstaat abgrenzen zu müssen. 156 Entspre155 Westen, ebenda. Dieser Aspekt wird im zweiten Abschnitt des dritten Teils dieser Arbeit ausgeführt. 156 Inga Markovits, Rechtsstaat oder Beschwerdestaat?, in: Recht in Ost und West 1987, S. 265-280 (274). Die Autorin bezieht dieses Phänomen auf einen späteren Zeitraum. Für die DDR-Rechtswissenschaft scheint Karf August Mollnau in der Rückschau etwas Ähnliches andeuten zu wollen (Sozialistischer Rechtsstaat - Versuch einer Charakterisierung, in: Neue Justiz 1989, S. 393-397 [394]): "Für die Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit in der DDR ist ferner nicht unerheblich - und dies ist z. B. ein wesentlicher Unterschied zur Rechtsstaatsdiskussion in anderen sozialistischen Ländern -, daß sie sich auf dem Hintergrund der kritischen Auseinandersetzung mit einer hohen bürgerlichen Rechtskultur vollzog, einer Rechtskultur, in der die Rechtsstaatsproblematik im positiven wie im negativen Sinne von jeher eine wichtige Rolle gespielt hatte. (... ) Aus dieser geschichtlichen Sachlage heraus ergibt sich eine besondere Verantwortung der Rechtswissenschaft der DDR für die kritische Aufarbeitung und Bewältigung bürgerlicher Rechtstradition in ihren verschiedenen Varianten." Und an anderer Stelle (S. 397): "Bei unseren Überlegungen, was sozialistischer Rechtsstaat ist und wie er sich weiterentwickelt, dürfen wir uns nicht von Problemstellungen und Konstruktionen der bürgerlichen Rechtsstaatsideologie beeinflussen lassen; vielmehr müssen wir die Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Rechtsstaatsideologie als eine wesentliche Bedingung für die Entwicklung einer marxistisch-leninistischen Rechtsstaatstheorie ansehen." Herwig Roggemann 24 Hoeck

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2. Teil: Niedergang des Verwaltungsrechts in der Ära Ulbricht

chend gereizt reagierten Rechtswissenschaftler der DDR, wenn - wie gerade im Falle Klaus Westens - Wissenschaftler aus der Bundesrepublik auf die Unterschiede im Hinblick auf die Rechtsschutzintensität hinwiesen und zur Entwicklung systemkonformer Lösungen in der Frage der Verwaltungsgerichtsbarkeit aufriefen: "Die Tätigkeit der Beschwerdeausschüsse rief den imperialistischen Klassengegner auf den Plan. Die Ideologen der Bourgeoisie fühlen sich bemüßigt, uns "Empfehlungen" zu geben, und beklagen erneut, daß in unserer Republik kein Verwaltungsgericht existiert. Die bürgerliche Verwaltungsgerichtsbarkeit wird als Vorbild für den Beschwerdeausschuß gepriesen. Diese verdeckte Form, die sozialistische Staatsmacht auf jede nur mögliche Weise zu schwächen, ist gepaart mit der Fortführung der erfolglosen Hetze gegen unsere Verfassung. Man versucht sogar, uns die Lehre zu erteilen, die Machtkonzentration bei den Volksvertretungen müsse ,zu Ende' gedacht werden, und es gelte, die Gerichte ,als die idealen Organe der Volksvertretung auch zum Zwecke der Kontrolle der Vollzugsorgane' auszugestalten. Offensichtlich zielen diese Ratschläge darauf, die in harten Kämpfen und ideologischen Auseinandersetzungen in der DDR überwundene Dreiteilung der Gewalten durch die Hintertür wieder einzuschmuggeln."157 Die Einordnung der Kritik an der mangelnden Entscheidungskompetenz der Beschwerdeauschüsse in die Klassenkampfsituation konnte indes nicht verbergen, daß die als "gänzlich neue Instrumente der Gesetzlichkeitssicherung" angekündigten Beschwerdeausschüsse die ihnen zugedachte Aufgabe nur in bescheidenem Maße erfüllen konnten. Funktional ähnelten sie eher den "Ombudsman"-Einrichtungen, welche nach skandinavischem Vorbild seit etwa Ende der 50er Jahre ungeachtet politischer Systemzugehörigkeit in nahezu ganz Europa Fuß faßten. ISS (Zum Verhältnis von Macht und Recht in der DDR, in: Zeitschrift für Recht und Politik 1996, S. 18-23 (19), sieht die Reformträgheit der DDR im Vergleich zu anderen sozialistischen Staaten als das Resultat des Zusammenspiels unterschiedlicher Faktoren - darunter auch der Abgrenzungsbestrebungen gegenüber der BRD - an: "Die Tatsache, daß in der DDR die Entwicklung in Richtung auf einen ,sozialistischen Rechtsstaat' schon in den Anfangen steckenblieb, ist teils auf die außen- und blockpolitische Sonderrolle der DDR als ,Westpfeiler' des sowjetischen Hegemonialbereichs und zugleich ohne eigene nationale Identität ständig in Frage gestellter Nachbarstaat der Bundesrepublik Deutschland zurückzuführen, teils darauf, daß innenpolitische und rechtspolitische Reforrnkräfte zu schwach blieben und durch partielle Systemidentifikation einerseits sowie Inpflichtnahme durch eine umfassende Staatssicherheitsorganisation andererseits aufgefangen wurden." 157 So Karl-Heinz Kühnau in einer Replik auf den Artikel von Klaus Westen (Anm. 153): "Beschwerdeausschüsse und sozialistische Demokratie", Staat und Recht 1970, S. 35-44 (S. 39). 158 Die aus den skandinavischen Ländern übernommene Einrichtung des Ombudsmans trat in Westeuropa erstmals 1957 mit der Schaffung des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages in Erscheinung. 1967 folgte Großbritannien mit der Einführung von "Commissioners", 1969 Nordirland, einige Schweizer Kantone folgten 1971. Frankreich schuf 1973 den "Mediateur", Portugal 1976, Österreich folgte mit

Dritter Teil

Renaissance des Verwaltungsrechts Erster Abschnitt

Rehabilitierung der Verwaltungsrechtswissenschaft I. Die Situation nach der Babelsberger Konferenz Parallel zur Fortentwicklung des Eingabenrechts bereiteten Rechtswissenschaftler bereits in den sechziger Jahren behutsam die "Renaissance" des Verwaltungsrechts vor. Dies geschah durch eine "bedarfsgerechte" Interpretation der Ergebnisse der Babelsberger Konferenz und wurde insofern von offizieller Seite geduldet, später sogar gefördert. Rechtwissenschaftler bekundeten, die Forderung Ulbrichts nach der Aufgabe des "bürgerlichen Prinzips" der Trennung von Staats- und Verwaltungsrecht sei von den Staats- und Verwaltungsrechtlern in der DDR "nicht richtig verstanden und daher auch nur einseitig erfüllt" worden. 1 So sei zwar die angeblich auf bürgerlichen Prinzipien beruhende Trennung von Staats- und Verwaltungsrecht überwunden, aber nicht geklärt, wie sich die Staats und Rechtswissenschaft zu den Fragen verhalten sollte, die bis dahin von der Verwaltungsrechtswissenschaft untersucht worden waren. 2 Die Analyse der unmittelbar nach 1958 in der von der Babelsberger Akademie herausgegebenen Zeitschrift "Staat und Recht,,3 veröffentlichten Staatsrechtsarbeiten zeichnet ein der Volksanwaltschaft 1977. Es folgten 1981 Irland, Spanien und die Niederlande. Seit 1976 gibt es in Italien in 18 Regionen sogenannte "Difensore Civici". Unter den sozialistischen Ländern kam der DDR insofern sogar eine Vorreiterrolle zu: Polen verfügte erst ab 1988 über eine Bürgerbeauftragte, danach folgten Ungarn und Jugoslawien. (Vgl. Sepp Klasen, Das Petitionsrecht zum Bayrischen Landtag Eine Ombudsman-Einrichtung, S. 15). I Willi Büchner-Uhder, Rudolf Hieblinger und Wolfgang Menzel, Voraussetzungen für ein Lehrbuch des Staatsrechts der Deutschen Demokratischen Republik schaffen, in: Staat und Recht 1962, S. 283-297 (287). 2 Büchner-Uhder/Hieblinger/Menzel, wie vorangehende Anmerkung. 3 "Staat und Recht" war eine der beiden maßgeblichen juristischen Zeitschriften der DDR. Sie wurde von der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften der DDR in Potsdam-Babelsberg herausgegeben und war, wie es ein späterer Chefredakteur ausdrückte, das "Sprachrohr der SED". Neben "Staat und Recht" existierte 24*

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3. Teil: Renaissance des Verwaltungsrechts

von Diffusion und Konzeptlosigkeit geprägtes Bild. Das durch die Fusion mit dem Verwaltungsrecht aufgewertete (oder besser: überfrachtete) Staatsrecht ließ sich mit rechtswissenschaftlichen Methoden kaum noch strukturieren. Erstmals unternahmen 1959 die an der Akademie für Staat und Recht in Babelsberg lehrenden Rechtsprofessoren Herbert Kröger und Gerhard Schulze den Versuch einer inhaltlichen und funktionalen Abgrenzung des Staatsrechts von anderen Rechtszweigen (insbesondere dem Verfassungsrecht, dem Wirtschaftsrecht und dem Zivilrecht). Die Schwierigkeiten, den Festlegungen der Babelsberger Konferenz in dogmatischer Hinsicht gerecht zu werden, waren erheblich: "Die Staatsrechtswissenschaft bzw. das Staatsrecht der Deutschen Demokratischen Republik unterscheiden sich durch ihren Gegenstand von anderen Zweigen der Staats- und Rechtswissenschaft bzw. anderen Rechtszweigen: a) Die Staatsrechtswissenschaft der DDR unterscheidet sich von der Theorie des sozialistischen Staates und des Rechts dadurch, daß diese die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des Wesens und der Entwicklung des gesamten Mechanismus der Diktatur des Proletariats und die Verwirklichung dieser allgemeinen Gesetzmäßigkeiten in den einzelnen sozialistischen Ländern zum Gegenstand hat. Demgegenüber hat die Staatsrechtswissenschaft der DDR das Staatsrecht und damit jene konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse der DDR zum Gegenstand, die im Prozeß der Verwirklichung des demokratischen Zentralismus in der Entwicklung des Mechanismus der Diktatur des Proletariats und dessen Grundlagen in der DDR, insbesondere in den Aufgaben, im Aufbau und in der Arbeitsweise des Gesamtsystems der Organe der einheitlichen sozialistischen Staatsrnacht als des Hauptinstruments im Mechanismus der Diktatur des Proletariats entstehen. b) Das Staatsrecht unterscheidet sich vom Wirtschaftsrecht dadurch, daß dieses die spezifischen gesellschaftlichen Verhältnisse zum Gegenstand hat, die im Prozeß der Planung und Leitung der Entwicklung bestimmter Zweige der sozialistischen Volkswirtschaft durch die hierzu verfassungsmäßig berufenen speziellen Organe des sozialistischen Staates und im Prozeß der Organisierung und Entwicklung der vielfaltigen planmäßigen Kooperationsbeziehungen innerhalb der Volkswirtschaft entstehen. Demgegenüber hat das Staatsrecht die gesellschaftlichen Beziehungen zum Gegenstand, die im Prozeß der Verwirklichung des demokratischen Zentralismus in den Aufgaben, dem Aufbau und der Arbeitsweise des Gesamtsystems der Organe der einheitlichen sozialistischen Staatsrnacht als des Hauptinstruments der sozialistischen Umwälzung auf allen Gebieten entstehen. als amtliches Organ des Justizministeriums die Zeitschrift "Neue Justiz". Sie bezeichnete sich früher als Zeitschrift für sozialistisches Recht und Gesetzlichkeit. Während "Staat und Recht" mehr theoretische Fragestellungen der Rechtswissenschaft behandelte, widmete sich die "Neue Justiz" vorrangig Fragen der Rechtssetzung und Rechtsanwendung. (Vgl. hierzu earl Hermann UZe, Zur Beharrlichkeit sozialistischer Rechtsvorstellungen in der DDR, Deutsches Verwaltungsblatt 1990, S. 793-800, 793).

1. Abschn.: Rehabilitierung der Verwaltungsrechtswissenschaft

373

c) Von anderen Rechtszweigen, denen in ähnlicher Weise bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse zugrunde liegen (z.B. Arbeitsrecht, LPG-Recht, Zivilrecht, Familienrecht usw.) unterscheidet sich das Staatsrecht nach dem gleichen theoretischen Prinzip. Das Staatsrecht steht daher zu den anderen Rechtszweigen nicht nur im Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen, sondern hinsichtlich deIjenigen gesellschaftlichen Verhältnisse, die im Prozeß der Verwirklichung des demokratischen Zentralismus im Gesamtsystem der Organe der einheitlichen sozialistischen Staatsmacht entstehen, hinsichtlich der Fixierung, Festigung und Entwicklung dieses Gesamtsystems, der Wechselbeziehungen in ihm, seines Wirkens und seiner Grundlagen, stellt das Staatsrecht selbst ein "Besonderes" in diesem Sinne dar. d) Angesichts der Tatsache, daß das Staatsrecht der Deutschen Demokratischen Republik nach seinem Gegenstand das einheitliche Wirken des Staatsmechanismus der Arbeiter-und-Bauem-Macht erfaßt, daß seine theoretische Grundlage die marxistisch-leninistische Lehre von der Diktatur des Proletariats ist, kann es neben ihm einen besonderen Rechtszweig des , Verwaltungsrechts • in der Deutschen Demokratischen Republik nicht geben, wohl aber entsteht im Prozeß der immer vollkommeneren Entfaltung der Diktatur des Proletariats und der sozialistischen Umwälzung der Gesellschaft die Notwendigkeit, entsprechend der Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse neue Rechtszweige zu bilden, wie zum Beispiel: Recht der Kultur und Volksbildung, Recht der inneren Ordnung und Sicherheit, Verteidigungsrecht.,,4

Der so umrissene Staatsrechtsbegriff konnte nicht überzeugen: Einerseits erreichten seine theoretischen Leitmotive, wie etwa das Prinzip der Volkssouveränität, die zentrale Stellung der Vertretungsorgane oder die Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit einen derart hohen Abstraktionsgrad, daß sie keineswegs mehr als spezifisch nur für das Staatsrecht anerkannt werden konnten, sondern der gesamten sozialistischen Rechtswissenschaft und darüber hinaus anderen Wissenschaftsdisziplinen ebenfalls eigen waren. 5 Andererseits war der neugefaßte Staatsrechtsbegriff inhaltlich zu eng, um angesichts der Regelungsmaterie des einverleibten Verwaltungsrechts keine Regelungslücken entstehen zu lassen. Schon die Differenzierung zwischen dem die "konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse der DDR" beschreibenden und regelnden Staatsrecht und dem "allgemeine Gesetzmäßigkeiten" erforschenden Rechtszweig "Theorie des Staates und des Rechts" wirkte künstlich und konstruiert. Ebenso erschien in bezug auf die Wirtschaftsbeziehungen die Regelung mikro- und makroökonomischer Fragen in 4 Herbert Kröger, Gerhard Schulze und Oswald Unger, Grundfragen der Staatsrechtswissenschaft der DDR, in: Staat und Recht 1959, S. 1118-1139. Da den Thesen auf einer Sektionstagung beim Prorektor für Forschung der DASR von allen Staatsrechtsinstituten der DDR zugestimmt wurde, können diese als repräsentativ für den Stand der Staatsrechtsforschung der DDR zu diesem Zeitpunkt angesehen werden. 5 WilU Büchner-Uhder und Eberhard Poppe, Neue Wege staatsrechtlicher Forschung, in: Staat und Recht 1967, S. 244-257 (252).

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3. Teil: Renaissance des Verwaltungsrechts

unterschiedlichen Rechtszweigen praktisch wenig hilfreich. Letztlich konnte die im letzten Absatz vorgeschlagene Bildung neuer Rechtszweige hinsichtlich originär verwaltungsrechtlicher Gegenstände nicht als zweckdienlich angesehen werden, vor allem da deren rechtssystematische Klassifizierung offenblieb.

11. Wiederkehr des Verwaltungsrechts als Organisations- und Leitungsrecht Gerade das Problem der einheitlichen rechtlichen Erfassung der Leitung der Volkswirtschaft gewann im Zuge der von Ulbricht forcierten Umgestaltung und Effektivierung wirtschaftlicher Leitungsprozesse zunehmend an Bedeutung. Demzufolge wurde bereits anläßlich einer im Februar 1962 in Babelsberg abgehaltenen gemeinsamen Tagung der Sektionen Staatstheoriel Staatsrecht und Wirtschaftsrecht der Versuch unternommen, die ideologischen Prämissen (insbesondere die von Ulbricht herausgestrichene Prädominanz der Volksvertretungen) und das existenzielle Erfordernis einer effizienten rechtlichen Reglementierung der Leitung der nunmehr in Ansätzen dezentralisierten6 Volkswirtschaft in Einklang zu bringen? Dies gelang den an einer "monistischen" (d.h. auf die ausschlaggebende Bedeutung der Vertretungskörperschaften als Bestimmungskriterium des Staatsrechts fixierten) Theorie orientierten Vertretern der Sektion Staatsrecht/Staatstheorie freilich schlecht. Zum Gegenstand und System des Staatsrechts der DDR legten die Staatsrechtswissenschaftler folgende Thesen vor: "Die von der Staatsrechtswissenschaft zu untersuchende Tätigkeit der Volksvertretungen umfasse deren gesamte Machtfülle. Dazu gehörten alle spezifischen Formen, in denen die Volksvertretung ihre Aufgaben verwirkliche (Tagung, Rat und Fachorgane, Kommissionen, Abgeordnetentätigkeit), die Grundsätze der Tätigkeit aller von den Volksvertretungen gebildeten Organe oder ernannten Funktionäre (z. B. Gericht, Betriebsleiter), das einheitliche Zusammenwirken aller Glieder und Organe der Volksvertretungen, die Stellung des einzelnen in der Gesellschaft - das Verhältnis Bürger-Staat, sowie die Stellung der volkseigenen,

6 Das vom Präsidium des Ministerrats im Juni 1963 verkündete "Neue Ökonomische System der Planung und Leitung" (NÖSPL) sah vor, daß die staatliche Plankommission für jeweils fünf bis sieben Jahre Perspektivpläne ausarbeiten und nach Beratung mit den unteren Organen entsprechende Jahrespläne erstellen sollte. Eine hervorgehobene Stellung kam dabei den 82 Vereinigungen Volkseigener Betriebe (VVB) zu, die als Konzernspitzen der VEB fungierten und auf der Grundlage der zentralen Planung den jeweiligen Industriezweig anleiteten. Die größere Selbstverwaltung sollte dazu dienen, Leistungsreserven zu aktivieren. 7 Hans-Ulrich Hochbaum und Helmut Oberländer, Gemeinsame Tagung der Sektionen Staatstheorie/Staatsrecht und Wirtschaftsrecht, in: Staat und Recht 1962, S. 1104-1112 (1lO7).

1. Abschn.: Rehabilitierung der Verwaltungsrechtswissenschaft

375

genossenschaftlichen und halbstaatlichen Betriebe und Einrichtungen als Organisationsfonnen der Werktätigen im unmittelbaren Produktionsprozeß."g

Gegen die einseitige Betonung der Rolle der Volksvertretungen wandte sich der Leipziger Professor Heinz Such. In seinen auf der Tagung vorgelegten Thesen ging Such davon aus, daß die "Grundfragen und Grundformen der staatlichen Leitung der gesellschaftlichen Umwälzung" den Gegenstand des Staatsrechts bildeten. Dies ergäbe sich daraus, daß die Umwälzung der wirtschaftlichen Verhältnisse den Kern des sozialistischen Aufbaus, die wirtschaftliche Tätigkeit die entscheidende Sphäre des gesellschaftlichen Lebens bildeten. 9 Sein Ansatz läßt sich dahin gehend kennzeichnen, daß er von einem institutionell geprägten Staatsrechtsbegriff ("Gegenstand des Staatsrechts ist die gegenwärtig notwendige Tätigkeit der Volksvertretungen zur Führung der Volksrnassen auf Weg der bewußten Durchsetzung der gesetzlichen Entwicklungsgesetzmäßigkeiten") zu einem funktionalen unter Betonung der wirtschaftlichen Leitung überzuleiten versuchte. In diesem Zusammenhang sei die Behandlung der Grundfragen und Grundfonnen der staatlichen Leitung der Volkswirtschaft durch das Staatsrecht theoretisch und praktisch die Grundlage für die verschiedensten Disziplinen der Rechtswissenschaft. 10 Folgerichtig erhob Such seine Stimme gegen die einheitliche Staatsrechtskonzeption in der auf der Tagung vorgestellten Fonn, da das Problem der staatlichen Leitung der Wirtschaft nicht im eigenen Gesamtzusammenhang, sondern bei der Darstellung der Tätigkeit der einzelnen Volksvertretungen behandelt werde. Damit sei jedoch "der dialektische Prozeß der Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse (Sachzusammenhang) den Gesichtspunkten der Struktur des Staatsaufbaus untergeordnet."" Statt dessen schlug Such die Abspaltung eines separaten Zweigs "Wirtschaftsrecht" vor, der Rechtsfragen der Leitung (staatliche Planungsmaßnahmen im Verhältnis der Über- und Unterordnung) mit Fragen des besonderen Schuldrechts (Wirtschaftsverträge zwischen einzelnen Staatsbetrieben auf der Ebene der Gleichordnung) verbinden sollte. Hieraus folgte in den von Such vorgelegten Thesen die folgende Fonnel: "Gegenstand des Wirtschaftsrechts ist die Herausbildung, die Entwicklung und die Aufhebung der staatlich-rechtlichen Fonnen der Organisierung der Zusammenarbeit der Industrie- und Wirtschaftszweige, der Gebiete und Betriebe sowie der Aufbau und das Zusammenwirken der Leitungs- und Wirtschaftsorgane innerhalb der Industrie- und anderer Wirtschaftszweige im Prozeß der zunehmenden Vergesellschaftung der Produktion und des Menschen.,,12 HochbaumlOberländer, wie vorangehende Anmerkung, S. 1104 f. HochbaumlOberländer, wie vorangehende Anmerkung, S. 1105. 10 HochbaumlOberländer, ebenda. 11 HochbaumlOberländer, ebenda.

8 9

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3. Teil: Renaissance des Verwaltungsrechts

Zwar konnte Such sich mit seiner Auffassung letztlich nicht gegen den Widerstand der anderen Konferenzteilnehmer durchsetzen. Mit seinem Vorschlag hatte er jedoch den Boden bereitet für eine Diskussion, die zum Ziel hatte, neben den Volksvertretungen noch den Komplex der Planung und Leitung der Wirtschaft als konstituierenden Bestandteil der Rechtsdisziplin Staatsrecht in die wissenschaftliche Betrachtung einzubeziehen.

IH. Ausgestaltung des Verwaltungsrechts als "Besonderer Teil" des Staatsrechts Der in Babelsberg aus den Erfordernissen der volkswirtschaftlichen Leitung heraus entwickelte Gedanke wurde im Verlauf des gleichen Jahres von Willi Büchner-Uhder und Wolfgang Menzel aufgegriffen und verallgemeinert. Die Hallenser bzw. Jenenser Rechtswissenschaftler gestanden nunmehr offiziell ein, "daß vielen Bereichen, die früher von der Verwaltungsrechtswissenschaft untersucht worden waren, keine Beachtung mehr geschenkt wurde, ja, daß man sogar den mit der Verwaltungstätigkeit der staatlichen Organe zusammenhängenden Problemen geflissentlich aus dem Weg ging und den Begriff der staatlichen Verwaltung aus der Staatsrechtswissenschaft überhaupt eliminierte,,13. Anliegen der Babelsberger Konferenz sei es jedoch nicht gewesen, das Verwaltungsrecht und die Verwaltungsrechtswissenschaft völlig aufzuheben, sondern es sei "um deren richtige, marxistischleninistische Bearbeitung" gegangen. 14 In Auseinandersetzung mit der sowjetischen verwaltungsrechtswissenschaftlichen Entwicklung nach dem XXII. Parteitag 15 räumten die Autoren nunmehr ein, daß die Einheit von Beschlußfassung und Durchführung nicht als status quo, sondern vielmehr als Endziel einer unbestimmt langwierigen Entwicklung anzusehen sei: "Endziel der Entwicklung der sozialistischen Vertretungskörperschaften ist die volle Vereinigung von Verwaltung und Gesetzgebung, ist die immer breitere Entwicklung der Sowjets zu ,arbeitenden Körperschaften'." Vor dem Hintergrund der intensiven Beschäftigung der Sowjets mit Fragen des Verwaltungsrechts ließ sich die grundsätzliche Unvereinbarkeit der Existenz eines selbständigen Rechtszweigs Verwaltungsrecht mit den Grundlagen des Marxismus-Leninismus ohnehin nicht mehr überzeugend vertreten. Indirekt räumten Büchner-Uhder und Menzel daher auch ein, daß vor allem die Abgrenzung gegenüber der Bundesrepublik den Ausschlag für die auf der Babelsberger Konferenz getroffenen Festlegungen gegeben hatte: HochbaumlOberländer, wie Anm. 7, S. 1108. Büchner-UhderIHieblingerIMenzel, wie Anm. 1, S. 288. 14 Büchner-UhderIHieblingerIMenzel, wie Anm. 1, S. 291. 15 Hierzu: Konferenz zu Fragen des sowjetischen Verwaltungsrechts, in: Sowjetstaat und Sowjetrecht, 1962, S. 132-137. 12

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1. Abschn.: Rehabilitierung der Verwaltungsrechtswissenschaft

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"Mit dieser Forderung (den Marxismus-Leninismus auf staatlichem Gebiet zu vollziehen, der Verfasser dieser Arbeit) wandte sich die Babelsberger Konferenz aber keineswegs gegen das Rechtssystem in anderen sozialistischen Staaten, sondern ausschließlich gegen die Erscheinungen der bürgerlichen Ideologie in der Verwaltungsrechtswissenschaft der DDR, und zog für unsere Verhältnisse die entsprechenden Schlußfolgerungen. (... ) In der sowjetischen Staats- und Rechtswissenschaft beruhte die Existenz beider Rechtszweige, Staatsrecht und Verwaltungsrecht, nicht auf der Grundlage bürgerlicher Prinzipien, und das sowjetische Verwaltungsrecht wurde in keiner Weise dem Verwaltungsrecht gegenübergestellt. ,,16

Aus diesen Erwägungen heraus sprachen sich die Verfasser dafür aus, freilich ohne die begriffliche Unterscheidung zwischen Staats- und Verwaltungsrecht explizit wieder einzuführen, ein "System des sozialistischen Staatsrechts" zu schaffen, welches aus dem Staatsrecht als einer allgemeinen, die "Grundfragen des Staats- und Gesellschaftsaufbaus" behandelnden Disziplin (quasi als Verfassungsrecht) einerseits und einem die Materien des Besonderen Verwaltungsrechts andererseits erfassenden "Besonderen Teil" bestehen sollte. Inhaltlich sollte der Allgemeine Teil des Staatsrechts, von der Frage der Volkssouveränität ausgehend, an erster Stelle staatsorganisatorische Fragen, Bildung (Wahl) und Funktion der Organe der sozialistischen Staatsrnacht behandeln und somit die Rolle der Volksvertretungen als die politische Grundlage des sozialistischen Staates betonen. 17 Im Rahmen dieses Besonderen Teils sollte insbesondere eine systematische Untersuchung der drei als "Hauptpfeiler der sozialistischen Verwaltung" bezeichneten Themenkomplexe geleistet werden: die staatliche Leitung der Wirtschaft, die staatliche Leitung der Kultur sowie die staatliche Leitung der Sicherheit. 18 Die Forderungen blieben zunächst ohne konkrete Auswirkungen, wenn auch zunehmend deutlich wurde, daß die Bewältigung der Fülle der Probleme, die zum Staatsrecht gezählt wurden, in einem Rechtsgebiet kaum möglich war. 19 Der Versuch, sowohl die Grundfragen der Entwicklung der Staats- und Gesellschaftsordnung als auch Einzelbereiche der LeitungstätigBüchner-UhderIHieblingerIMenzel, S. 290. Daneben sollte sich der "Allgemeine Teil" nach der Konzeption des "Lehrbuchs" - das allerdings in dieser Form niemals erschien - mit den Grundrechten und -pflichten der Bürger, dem Staatsdienst ("der rechtlichen Seite der Arbeit mit den Kadern im Staatsapparat") sowie der staatlichen und gesellschaftlichen Kontrolle befassen. 18 Diese Grobeinteilung sollte dann weiter ausdifferenziert werden - staatliche Leitung und Planung der Volkswirtschaft: Industrie, Landwirtschaft, Bauwesen, Binnenhandel und Verkehr; staatliche Leitung der Kultur: Kultur, Volksbildung, Gesundheits- und Sozialwesen; staatliche Leitung der Sicherheit: Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung, Organisation der nationalen Verteidigung. 19 Büchner-UhderIPoppe, wie Anm. 5, S. 249. 16 17

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3. Teil: Renaissance des Verwaltungsrechts

keit und Detailfragen der Arbeit einzelner Organe, Betriebe und Einrichtungen in einem einzigen Lehrgebiet zu untersuchen, führte bei der Kompliziertheit der neuen Aufgaben zu Unzulänglichkeiten?O Auch anläßlich der Herausgabe neuen rechtswissenschaftlichen Lehrmaterials21 wurde erkennbar, "daß die modeme sozialistische Gesellschafts- und Staatsgestaltung weder von der sozialistischen Staatsrechtswissenschaft, noch im sozialistischen Rechtssystem überhaupt schon adäquat und differenziert genug erfaßt ist und damit aktiv auf die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse und die Rechtsgestaltung zurückwirken kann,m. Vor diesem Hintergrund konnten sich selbst hochrangige Vertreter der Staatsführung einer Teilrevision der Ergebnisse der Babelsberger Konferenz nicht mehr verschließen. In diesem Sinne stellte der Vorsitzende des Ministerrats, Willi Stoph, im Rahmen der Begründung des Volkswirtschaftsplanes für das Jahr 1966 unumwunden fest: "Unsere vor Jahren gegen die lebensfremde Administration gerichtete Kritik an der Arbeit der Verwaltungsrechtler ist mit einer derartigen ,Gründlichkeit' beherzigt worden, daß sich seitdem mit diesen Problemen kaum noch jemand beschäftigt hat. Es gilt, dem Gebiet des Verwaltungsrechts einen neuen Inhalt zu geben und den in der Arbeit eingetretenen Tempoverlust einzuholen.,,23 Mit diesem politischen Eingeständnis war der Weg frei für eine Intensivierung der rechtswissenschaftlichen Diskussion über die Neuformierung des Verwaltungsrechts. Die zum Verwaltungsrecht gehörenden Gegenstände wurden zunächst zusammengefaßt unter der Bezeichnung "Recht der staatlichen Leitung und Organisation" bzw. "Recht der Organisation der staatlichen Arbeit", das unter Aufgabe der bisher vertretenen Konzeption eines einheitlichen Staatsrechts als besonderer Rechtszweig aufgebaut werden sollte. Keine zehn Jahre nach der Babelsberger Konferenz konnten sich Rechtswissenschaftler nun wieder zu Standpunkten bekennen, die 1958 noch als "formalistisch" und "restaurativ" gebrandmarkt worden waren. Willi Büchner-Uhder und Eberhard Poppe äußerten die Auffassung, "daß ein Rechtszweig allein nicht mehr hinreicht, um die Vielzahl der bisher dem Staatsrecht zugeordneten Gebiete in echter innerer Geschlossenheit, systematischer Einheitlichkeit und Schlüssigkeit zu erfassen", und schlugen deshalb vor, im Hinblick auf eine gut gegliederte Lehrtätigkeit und ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Grundlagen- und Spezialforschung 20

Büchner-UhderIPoppe, wie Anm. 5, S. 250.

Lehrmaterial "Staatsrecht der DDR", Teil I und Teil 11, herausgegeben von der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, Manuskriptdruck, Berlin 21

1965. 22 Büchner-UhderIPoppe, wie Anm. 20. 23 Willi Stoph, Zur Begründung des Volkswirtschaftsplanes 1966, Rede vor der Volkskammer am 21. Januar 1966, in: Sozialistische Demokratie, Beilage Nr. 4/ 1966, S. 23.

1. Abschn.: Rehabilitierung der Verwaltungsrechtswissenschaft

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das Staatsrecht als Verfassungsrecht auf folgende Themenkreise zu reduzieren: - Grundlagen, Prinzipien und Struktur des Staatsautbaus; - Rechtsstellung des Menschen in der sozialistischen Gesellschaft; - System, Mechanismus, Bildung und Funktion der sozialistischen Vertretungsorgane und der gesellschaftlichen Organisation des Volkes; - System der wirtschaftsleitenden Organe sowie Grundprinzipien der Verwaltungstätigkeit, der Kontrolle staatlicher Tätigkeit und der Gesetzlichkeitsaufsicht. 24 Noch etwas verklausuliert gaben die Autoren zu erkennen, daß sie mit diesem Schritt die Rückgängigmachung der Fusion von Staats- und Verwaltungsrecht anstrebten: "Mit einem solchermaßen betont auf die verfassungsmäßige Regelung zugeschnittenen Rechtszweig wäre auch die Qualität des Staatsrechts bzw. Verfassungsrechts als grundlegender, in alle anderen Bereiche übergreifender und sie mit prägender Rechtszweig klar hervorgehoben. Diese Qualität kommt dem Staatsrecht bekanntlich in erster Linie wegen seiner verfassungsmäßigen Verankerung gesellschaftsund staatspolitischer Grundlagen und Grundprinzipien zu, keineswegs wegen etwaiger Detailregelungen des bisher zum Staatsrecht zu zählenden Baurechts, Sportrechts usw. ,,25 Neben dieses somit gewissermaßen auf die gesellschaftspolitische Grundlagenforschung verwiesene Staatsrecht sollte nach der Vorstellung BüchnerUhders und Poppes das als "Leitungsrecht" titulierte, in sich nochmals ausdifferenzierte eigentliche Verwaltungsrecht treten. Politische Legitimation erwuchs diesem Vorhaben daraus, daß die Staatsführung bereits bei Begründung des Neuen Ökonomischen Systems die Entwicklung einer wissenschaftlichen Führungstätigkeit hervorgehoben hatte?6 Wenn sich das StaatsBüchner-UhderIPoppe, wie Anm. 5, 252. Büchner-UhderIPoppe, wie Anm. 5, S. 253. 26 Diese Forderung stellte den Startschuß für intensive Forschungen unterschiedlicher Fakultäten unter dem zentralen Begriff der "Kybernetik" dar. Kybernetische Vorgänge traten Anfang der sechziger Jahre in den Mittelpunkt des Interesses der (keineswegs ausschließlich marxistisch-leninistischen) Gesellschaftswissenschaften. (Vgl. Nachweise bei Siegfried Mampel, Die sozialistische Verfassung der DDR unter kybernetischem Aspekt, in: Recht in Ost und West 1968, S. 193-206, Anm. 27 ff.). In der Staats- und Rechtswissenschaft der DDR wurde die Kybernetik-Diskussion besonders intensiv nach Inkrafttreten der Staatsratsverfassung vom 6. April 1968 geführt. Ausgehend von der Feststellung Walter Ulbrichts auf dem VII. Parteitag der SED (April 1967), daß "der Staat auf neue Weise an Bedeutung gewonnen habe", sollten kybernetische Lösungsansätze an die Stelle von "mechanisch-materialistischen Kausalitätsauffassungen" treten. Damit wurden neue Begriffe in die marxistisch-leninistische Rechtslehre eingeführt, die aus der Technik und der Biologie stammten. Die Kybernetik beschreibt abstrakt eine Systemtechnik, welche auf einem Regler und einer Regelstrecke autbaut. Dem Regler ist eine Führungsgröße 24

25

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3. Teil: Renaissance des Verwaltungsrechts

recht nunmehr als Verfassungsrecht auf die dargelegten Grundfragen konzentriere, argumentierten Büchner-Uhder und Poppe, so folge daraus die Notwendigkeit der Gründung eines weiteren Rechtszweiges, der mit dem Staatsrecht "außerordentlich eng verbunden" sei und die konkrete staatliche Tätigkeit einzelner Leitungsorgane und Institutionen zum Hauptinhalt haben solle. 27 Dabei sei eine Differenzierung nach der Tätigkeit dieser Organe denkbar, soweit diese allgemeiner Natur ist (gesamtstaatliche, territoriale Leitungstätigkeit mit allgemeiner Kompetenz) oder speziellen Charakter vorgegeben. Der Regler gibt entsprechende Infonnationen über ihr gewünschtes Verhalten, den Sollwert, an die Regelstrecke. Das Wesen der Kybernetik äußert sich darin, daß das Verhältnis zwischen Regler und Regelstrecke nicht eine einfache Steuerung ist. Vielmehr gehen von der Regelstrecke Nutz- und Störinfonnationen wieder zurück an den Regler und informieren somit über den Istwert (= Rückkopplung). Der Regler hat demnach eine Doppelfunktion: Einerseits gibt er die Soll-Infonnationen, andererseits empfängt er Infonnationen über den Istwert und verwandelt sie in neue Soll-Infonnationen. Er ist auch Bewertungsmechanismus mit der Fähigkeit zur Korrektur der Soll-Infonnationen. Der Regler wird so in die Lage versetzt, neue Impulse zu geben, um Störungen auszugleichen und die Systemstabilität zu gewährleisten. In diesem Sinne ist ein kybernetisches System ein "selbstorganisierendes", d.h. lernendes System. Seinen Systemcharakter erhält ein kybernetisches System dadurch, daß in ihm mehrere Regelkreise dergestalt zusammengeschlossen sind, daß jeweils die Regelstrecke des einen Regelkreises der Regler für einen oder mehrere andere Regelkreise ist. (Vgl. Mampel, S. 196). In diesem Sinne ließ sich die sozialistische Gesellschaft als Gesamtsystem deuten, von dem der sozialistische Staat ein Teilsystem (Regelkreis) darstellt, welches sich aus weiteren Regelkreisen (z. B. dem Recht) zusammensetzt. Oberster "Regler" der sozialistischen Gesellschaft ist in diesem Sinne das Politbüro der SED mit der "Führungsgröße" des Marxismus-Leninismus. Auf dieser Grundlage zielte die "marxistisch-leninistische Organisationswissenschaft" als Gesellschaftswissenschaft auf die Untersuchung gesellschaftlicher Systeme (Organisationen), der Merkmale und Eigenschaften von Organisationen im gesellschaftlichen Bereich sowie der Verfahren zur Erhöhung der Organisiertheit gesellschaftlicher Teilsysteme beim Aufbau des ökonomischen Systems des Sozialismus. Die marxistisch-leninistische Organisationswissenschaft sollte als Grundlagendisziplin, auf der die Theorie der sozialistischen staatlichen Führung mit aufbauen sollte, in engem Zusammenhang mit dem sozialistischen Staatsrecht entwickelt werden. (Vgl. Michael Benjamin, Joachim Groschwitz und Horst Träger: Marxistisch-leninistische Organisationswissenschaft und sozialistische staatliche Führung, in: Staat und Recht 1968, S. 1654--1667 [1665].). Rückblickend erscheint die mit erheblichem wissenschaftlichem Aufwand betriebene Kybernetik-Forschung als Phantomdiskussion mit nur geringem praktischem Nutzen. Zwar ließ sich die Verfassung von 1968 als kybernetisches System deuten (vgl. Mampel, S. 201-205), jedoch waren die sich hieraus ergebenden praktischen Konsequenzen gering. Dies läßt sich insbesondere daran ablesen, daß die Refonn des Eingabenwesens 1969 von kybernetischen Ansätzen vollständig unberührt blieb, obwohl eine seiner Hauptfunktionen in der Gewährleistung der "Rückkopplung" zwischen Staatsorganen und Bürgern bzw. Kollektiven bestand (vgl. hierzu die Ausführung im 3. Abschnitt des zweiten Teils unter Ziffer 11. 2.), so daß es an sich prädestiniert gewesen wäre, an kybernetische Erkenntnisse angepaßt zu werden. 27 Büchner-UhderIPoppe, wie Anm. 25.

1. Abschn.: Rehabilitierung der Verwaltungsrechtswissenschaft

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trägt (z. B. Leitungstätigkeit auf einem Bereich des gesellschaftlichen Lebens, etwa Kultur, Volksbildung USW.)?8 In diesem Sinne sei ein "Recht der staatlichen Leitung und Organisation (Allgemeiner und Besonderer Teil)" zu konzipieren?9 Der Allgemeine Teil sollte "allgemeingültige Kriterien für die rechtliche Regelung der staatlichen Organisation und Leitungstätigkeit" vermitteln und "prinzipiell und im Detail die Tätigkeit der staatlichen Leitungsorgane mit allgemeiner Kompetenz (Volksvertretungen, Räte usw.) einschließlich der Anleitung der untergeordneten Organe" behandeln. 3o Im einzelnen sollten unter den Allgemeinen Teil folgende Problemkreise fallen: - Aufbau und Kompetenz der staatlichen Leitungsorgane, - Kaderarbeit und ihre Gestaltung, - Arbeitsweise und Rechtsformen der Tätigkeit, - Zusammenarbeit mit gesellschaftlichen Organisationsformen, - Einbeziehung der Bürger in die staatliche Tätigkeit sowie - Planung und Prognostik der Arbeit.

Daneben sollte der sich der Besondere Teil des "Rechts der staatlichen Leitung und Organisation" den einzelnen Leitungsbereichen und den dort spezifisch bestehenden Fragen widmen. Vorrangig erschien den Autoren in diesem Zusammenhang die Behandlung folgender Bereiche: - Recht der staatlichen Leitung und Organisation der wirtschaftsleitenden Organe, - Recht der staatlichen Leitung und Organisation der Rechtspflegeorgane, - Recht der staatlichen Leitung und Organisation der Organe auf den Gebieten der Volksbildung und Kultur, - Recht der staatlichen Leitung und Organisation der Organe auf dem Gebiet der Sicherheit und Ordnung sowie - Recht der staatlichen Leitung und Organisation der Organe auf dem Gebiet des Sozialwesens. 31

Abgesehen von kleineren, eher formalen Rückzugsgefechten 32 waren die Beschlüsse der Babelsberger Konferenz im Hinblick auf die Liquidierung Büchner-UhderIPoppe, Anm. 5, S. 254. Büchner-UhderIPoppe, ebenda. 30 Büchner-Uhder/Poppe, ebenda. 31 Büchner-UhderIPoppe, ebenda. 32 Büchner-Uhder und Poppe bemühten sich freilich, ihren Vorschlag nicht als Revision, sondern als Fortentwicklung der Ergebnisse der Babelsberger Konferenz darzustellen, und merkten in ihrem Aufsatz diesbezüglich an: "Da in Diskussionen wiederholt die Forderung angeklungen ist, das gegenwärtige Staatsrecht wieder in Staats- und Verwaltungsrecht aufzuteilen, und womöglich auch zu den vorstehenden 28

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3. Teil: Renaissance des Verwaltungsrechts

des Verwaltungsrechts somit zumindest in der Rechtswissenschaft vollumfänglich revidiert.

Darlegungen vorgeschlagen werden könnte, das ,Recht der staatlichen Leitung und Organisation' als Verwaltungsrecht zu restaurieren, darf noch eine Bemerkung angefügt werden: Eine Wiederherstellung der alten Aufteilung Staats- und Verwaltungsrecht wäre ein Schritt nach rückwärts und deshalb undialektisch; die Wiedereinführung dieser alten Terminologie würde unsere Wirklichkeit nicht mehr erfassen. Ein beachtliches Ergebnis der Babelsberger Konferenz besteht doch zweifelsohne darin, daß die statische und dogmatische Abkapselung des Staats- und Verwaltungsrechts voneinander, die der sozialistischen Wirklichkeit, der Einheit der sozialistischen Staatsgewalt, nicht entsprach und sie beeinträchtigte, überwunden worden ist. Nicht die Verwaltung, sondern die Dialektik und Dynamik der Planung, Leitung und Organisation der staatlichen Tätigkeit müssen im Recht widergespiegelt und von ihm mitgeprägt werden." (wie Anm. 26, S. 257).

2. Abschn.: Intensivierung der Diskussion

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Zweiter Abschnitt

Intensivierung der verwaltungsrechtswissenschaftlichen Diskussion in der Ära Honecker I. Auswirkungen des Machtwechsels auf die Verwaltungsrechtswissenschaft Am 3. Mai 1971 trat Walter Ulbricht vom Amt des Ersten Sekretärs der SED zurück. Sein Nachfolger wurde der mehr auf soziale Belange als auf den Ausbau der Industrie orientierte Erich Honecker. Der Wechsel von Ulbricht zu Honecker war vor allem dadurch gekennzeichnet, daß nach den vereinzelten Unbotmäßigkeiten Ulbrichts nunmehr die Führungsrolle der UdSSR und der Vorbildcharakter des sowjetischen Gesellschaftsmodells wieder absolute Verbindlichkeit für die SED erlangten. Spannungen, die sich daraus ergaben, daß die Arbeiterschaft zunehmend selbstbewußter auftrat, wurde mit einem sachlicheren, die sozialen Belange stärker berücksichtigenden Arbeitsstil begegnet. Dies bedeutete jedoch keine Relativierung des Suprematieanspruches der SED, sondern letztlich sogar eine Verstärkung der Kontrolle des öffentlichen Lebens, freilich mit flexibleren Mitteln. I Prompt revidierte der VIII. Parteitag der SED wesentliche Positionen Ulbrichts. Der Fusion des Verwaltungsrechts mit dem Staatsrecht wurde nunmehr offiziell die Grundlage entzogen. Der Parteitag erkannte ausdrücklich an, daß die Verwaltungsrechtswissenschaft im Verbund mit dem Staatsrecht einen gesellschaftlichen Prozeß gestalte, dabei aber einen eigenen Gegenstand habe. Damit bestätigte die allerhöchste politische Instanz, daß sich das Verwaltungsrecht nicht ausschließlich als Strukturmerkmal des bürgerlichen Staats denken ließ. In Anlehnung an die auf dem VIII. Parteitag der SED getroffene Feststellung, daß "das Verwaltungsrecht, wenn es der aktiven, fördernden Rolle des sozialistischen Rechts gerecht werden will, nicht von den inhaltlichen Aufgaben der staatlichen Leitung isoliert werden darf, sondern nur als Instrument ihrer praktischen Verwirklichung betrachtet und gehandhabt werden muß", orientierte sich die Reanimation des Verwaltungsrechts zunächst an der Organisation staatlicher Leitungsprozesse? Beispielhaft für diesen Bereich der internen, nicht unmittelbar das Staat-Bürger-Verhältnis betreffenVgl. Hermann Weber, Geschichte der DDR, S. 275. Dieter Hösel und Gerhard Schulze, Zu den Aufgaben der Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft der DDR, in: Staat und Recht 1973, S. 545-555 (547); Michael Benjamin, Doris Machalz-Urban, Gerhard Schulze und Werner Sieber, Verwaltungsrecht und staatliche Leitung, in: Staat und Recht 1975, S. 368-378 (368). 1

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3. Teil: Renaissance des Verwaltungsrechts

den rechtlichen Verwaltungsorganisation benannte ein Autorenkollektiv unter der Leitung vom Michael Benjamin folgende Zielvorgaben: 1. Die Gewährleistung einer exakten Arbeit des Staatsapparats, 2. die Herstellung einer engeren Verbindung zwischen Staatsapparat und Werktätigen, 3. die Rationalisierung der Staatstätigkeit, sowie

4. die Qualifizierung der Kader. 3

Trotz der neugewonnenen wissenschaftlichen Bewegungsfreiheit näherten sich die DDR-Rechtswissenschaftler der Frage der verwaltungsrechtlichen Erfassung des Verhältnisses des Bürgers zum sozialistischen Staat nur sehr behutsam. Das Bedürfnis für eine derartige Ausdehnung des sozialistischen Verwaltungsrecht wurde als eher gering veranschlagt, der "im Verwaltungsrecht der DDR geltende Grundsatz, daß Entscheidungen staatlicher Organe auf ihre Gesetzlichkeit grundsätzlich durch staatliche Leitungsorgane überprüft werden", wurde offiziell weiterhin als ausreichend angesehen. 4 Konsequenterweise unternahm der Gesetzgeber zunächst keine Anstrengungen, in einem "großen Wurf' ein einheitliches Verwaltungsrecht zu schaffen, welches das "Recht der staatlichen Leitung und Organisation" mit Gesichtspunkten des Individualrechtsschutzes verband. Der Erlaß des Eingabengesetzes vom 27.6.1975 5 deutete vielmehr auf eine Zementierung des bestehenden zweigleisigen Systems hin. 6 Daneben wurde in Einzelgebieten unsystematisch der Individualrechtsschutz der Bürger verstärkt? Benjamin/Machalz-Urban/Schulze/Sieber, wie vorangehende Anmerkung, S. 368. Gerhard Schulze und Joachim Misselwitz, Wege und Perspektiven des Verwaltungsrechts und der Verwaltungsrechtswissenschaft in der DDR, in: Verwaltungs-Archiv 1978, S. 251-267 (264). 5 GBl. I 1975, S. 461. 6 Da sich inhaltlich - mit Ausnahme des Wegfalls der Regelungen über die Beschwerdeausschüsse - keine bedeutsamen Änderungen gegenüber dem Eingabenerlaß von 1969 ergaben, wird diesbezüglich auf eine detaillierte Darstellung verzichtet. Die Ersetzung des Staatsratserlasses durch ein formelles Gesetz wies auf die Veränderungen in der Gewichtung der Staatsorgane nach dem Wechsel von Ulbricht zu Honecker hin. Inhaltlich zeichnete sich das Eingabengesetz vor allem durch eine stärkere Betonung von als besonders bürgerfreundlich angesehenen Methoden aus. So sollte - die Klärung der Anliegen an Ort und Stelle unter Einbeziehung von Arbeitskollektiven, Hausgemeinschaften und gesellschaftlichen Organisationen, - die zielgerichtete Öffentlichkeitsarbeit zur Beantwortung von Fragen der Bürger sowie - eine strenge Kontrolle über die sachlich richtige und termingemäße Bearbeitung der Eingaben der Bürger in allen Organen des Staatsapparats zur ständigen Praxis gemacht werden. 7 Durch Art. 108 wurde, freilich unter grundsätzlichem Ausschluß des gerichtlichen Rechtswegs, die Staatshaftung in der DDR wiedereingeführt. (Auf die Paral3

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2. Abschn.: Intensivierung der Diskussion

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11. "Kanonisierung"g des Verwaltungsrechts durch das Lehrbuch von 1979 Im Jahre 1979 unternahm es ein aus 26 Autoren bestehendes Autorenkollektiv mit einem 5-köpfigen Redaktionsgremium unter der Leitung von Gerhard Schulze erneut, den politisch sanktionierten Forschungsstand auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts zusammenzufassen. Der enorme zeitliche Vorlauf und organisatorische Aufwand deuteten auf die Brisanz des Gegenstands und die Schwerfälligkeit politischer Entscheidungsprozesse in diesem Bereich hin. Das Projekt eines Lehrbuchs zum Verwaltungsrecht ging auf einen Beschluß des SED-Politbüros über einen langfristigen "Zentralen Forschungsplan der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften" vom Januar 1972 zurück, auf dessen Grundlage ein entsprechender Ministerratsbeschluß (vom 18.10.1976) erging, der es als Vorhaben im Rahmen der "Forschungsaufgaben der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften der DDR in den Jahren 1976-1980" auswies. Dementsprechend hatte das Werk, wie bereits das zuvor erschienene Lehrbuch "Staatsrecht" (1977), repräsentativen Charakter. Es war ohne Konkurrenz im Lande, von einem Kollektiv aller maßgeblichen Sachkenner bearbeitet und von hochgestellten Funktionären begutachtet und hatte damit nahezu "amtlichen" Charakter. Inhaltlich behandelte das Werk in Anlehnung an die Vorschläge BüchnerUhders und Poppes das allgemeine sowie Teile des besonderen Verwaltungsrechts in einer Aufgliederung, die mit den überlieferten Kategorien des deutschen Verwaltungsrechts weitgehend brach und damit auch die EntleIen zu der zur gleichen Zeit in der Bundesrepublik diskutierten Staatshaftungsreform weist WaLter Schmidt in seinem Artikel "Die zweite Phase der Staatlichkeit", in: Der Staat 1981, S. 593-608, 599 f., hin.) Das "Gesetz über die Bekämpfung von Ordnungswidrigkeiten" vom 12.1.1968 (GBI. I 1968, S. 101) normierte, daß alle Fälle von Zwangsanwendung durch Organe des Staatsapparats sich auf ausdrückliche rechtliche Regelungen zu stützen hätten und die gesetzlich garantierten Rechte der Bürger zu achten seien. Mit Inkrafttreten des "Gesetzes über die Neufassung von Regelungen über Rechtsmittel gegen Entscheidungen staatlicher Organe" vom 24. Juni 1971 (GBI. I 1971, S. 49) und die Verordnung (GBI. 11 1971, S. 465) kam es zwar zu der seit langem geforderten Regelung der förmlichen Rechtsmittel nach einheitlichen Grundsätzen. Verfahrensbestimmungen und Verfahrensgrundsätze waren in dem Gesetz selbst jedoch nicht enthalten, sondern mußten aus den vielfältigen Einzelfallregelungen über Rechtsmittel eruiert werden. Inhaltlich erstreckte sich die Regelung nur auf einige wenige Fragen, wie die Einhaltung von Fristen und die aufschiebende Wirkung von Entscheidungen. Die einzige Rechtsvorschrift, die ausschließlich eine Rechtsmittelregelung beinhaltete, war die "Verordnung über das Beschwerdeverfahren bei der Erhebung von Steuern und Abgaben" vom 4. Januar 1972 (GBI. 11 1972, S. 17). 8 Die Verwendung des Begriffs im Sinne einer verbindlichen Erfassung der offiziell sanktionierten Auffassungen geht zurück auf KLaus König, Kaderverwaltung und Verwaltungsrecht, Verwaltungs-Archiv 1982, S. 37-59 (42). 25 Hoeck

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3. Teil: Renaissance des Verwaltungsrechts

wicklungslinien des 1957 unter der Leitung von Karl Bönninger entstandenen, bereits ein Jahr später mit der Babelsberger Konferenz gegenstandslos gewordenen, Lehrbuchs verlies 9 : In den "Grundlagen" wurde die "vollziehend-verfügende Tätigkeit" der Staatsorgane beschrieben und ihre Funktion als Instrument zur Verwirklichung der Staatsziele gekennzeichnet. Auf die Grundlagen folgten zwei Kapitel über die vollziehend-verfügenden Organe des Staatsapparates (Darstellung des Verwaltungsaufbaus), über Leiter und Mitarbeiter (Recht des öffentlichen Dienstes) und über die Stellung der Bürger zur Verwaltung, wobei bürgerschaftliche Mitarbeit und Stellung der Bürger als verwaltungsunterworfene Personen eng miteinander verbunden wurden. Die folgenden Kapitel stellten das Zustandekommen und die Verwirklichung (Durchsetzung) von Entscheidungen dar (wobei die Überzeugung der Betroffenen als Hauptmethode hervorgehoben wurde).l0 Kapitel über Formen und Instanzen der Verwaltungskontrolle (einschließlich der Beschwerdemöglichkeiten der Bürger) und über die Staatshaftung schlossen sich an. Damit war der "Allgemeine Teil" in der Sache abgeschlossen. Es folgten Kapitel zu einzelnen Verwaltungszweigen (Produktion, Wohnungswirtschaft, Konsumgüterversorgung, Gesundheits- und Sozialwesen, Bildungs- und Kulturwesen, Landeskultur und Umweltschutz, Sicherheit und Ordnung sowie Landesverteidigung. Es wurden jeweils die Rechtsgrundlagen und der Verfahrensablauf geschildert, oft anhand von Statistiken und Diagrammen aufbereitet. Ausgeklammert blieb erwartungsgemäß die Frage der gerichtlichen Verwaltungskontrolle. Auch eine konzeptionelle Haltung zu einem Verwaltungsverfahrensrecht wurde nicht offenbart. Ausführlich behandelt wurde dagegen das Rechtsmittelverfahren. 11 Ebenso wurden knappe Ansätze einer 9 Da das Lehrbuch inhaltlich keine neuen Wege beschritt, sondern lediglich Anregungen aus vorangegangenen (und bereits ausführlich dargestellten) rechtwissenschaftlichen Diskussion aufgriff, wird der Inhalt an dieser Stelle nur knapp referiert, um Wiederholungen zu vermeiden und allein die Grenzen der von der Staats- und Parteiführung gebilligten Forschungsergebnisse aufzuzeigen. Ausführliche Rezensionen finden sich in der zeitgenössischen westdeutschen rechtswissenschaftlichen Literatur, z. B. Georg Brunner, Verwaltungsrecht in der DDR - Zum Erscheinen eines Lehrbuchs, in: Die Verwaltung 1981, S. 92-98; Walter Schmidt, Die zweite Phase der Staatlichkeit - Zur Neukonzeption einer Verwaltungsrechtslehre in der DDR, in: Der Staat 1981, S. 593-608, sowie Günter Püttner, Buchbesprechung: Verwaltungsrecht. Lehrbuch, in: Die Öffentliche Verwaltung 1981, S. 848. 10 Zur "Dialektik von Überzeugung und Zwang", ausgehend vom Befund des Lehrbuchs, vgl. Norbert Frank, Diskussion - Zur Durchsetzung verwaltungsrechtlicher Entscheidungen, in: Staat und Recht 1981, S. 1025-1033 0030 ff.). 11 Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften der DDR (Hrsg.), Verwaltungsrecht. Lehrbuch, Redaktion: Gerhard Schulze (Leiter), Willi Büchner-Uhder, Günter Duckwitz, Doris Machalz-Urban, Siegfried Petzold, Berlin (Ost) 1979, Abschnitt 8.5. "Die Rechtsmittel gegen Einzelentscheidungen ... ", S. 294 ff.

2. Abschn.: Intensivierung der Diskussion

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Widerrufs lehre erkennbar: Fehlerhafte Einzelentscheidungen sollten je nach Schwere und Erkennbarkeit des Mangels nichtig oder anfechtbar sein. Die Verwaltungsbehörde sollte einen begünstigenden Verwaltungsakt aufheben können, wenn der Begünstigte eine Auflage nicht erfüllte. Dagegen sollte der Widerruf einer fehlerfreien begünstigenden Entscheidung nur dann zulässig sein, wenn spezialgesetzlich ein besonderer Widerrufsgrund vorgesehen oder die Entscheidung mit einem zulässigen Widerrufsvorbehalt versehen worden war. 12

11. Gegenentwürfe und weiterführende Ansätze der Verwaltungsrechtswissenschaft Bedingt durch den umständlichen Entstehungsprozesses reflektierte das Verwaltungsrechtslehrbuch von 1979 den Stand der verwaltungsrechtswissenschaftlichen Diskussion Ende der sechziger Jahre. Da das Lehrbuch zwangsläufig das einzige in der DDR blieb und demzufolge allein das Verwaltungsrecht der DDR zu repräsentieren hatte, wirkte sich dies retardierend auf Lehre und Forschung aus. Im Gegensatz zu dieser konservativen Haltung steht eine gewisse Liberalität im Bereich der Veröffentlichung von weiterführenden Artikeln in der von der Akademie für Staat und Recht in Babelsberg herausgegebenen Zeitschrift "Staat und Recht" in den siebziger und frühen achtziger Jahren. Inhaltlich reichten diese von der Ausgestaltung des Verwaltungsverfahrens und der Ausstattung des Bürgers mit Verfahrensrechten über Fragen des Verwaltungszwangs und der verwaltungsrechtlichen Verantwortlichkeit 13 bis hin zu Fragen der Effektivierung des Rechtsmittelverfahrens, die letztlich den Weg zu einer Rückkehr zur verwaltungsgerichtlichen Kontrolle wiesen. 1. Abgrenzung des Verwaltungsrechts

von anderen Rechtszweigen

Breiten Raum nahm das Klassifizierungsproblem in der wissenschaftlichen Diskussion ein. Am Beginn der Entwicklung eines Systems des Verwaltungsrechts stand die klare Bestimmung von dessen Begriff. Vor dem Hintergrund des umfassenden etatistischen Anspruchs der sozialistischen Staatsrnacht war es jedoch schwierig, eine klare dogmatische Abgrenzung für den Bereich des Verwaltungsrechts zu finden. Entsprechend gering war die Überzeugungskraft des theoretischen Gehalts der von der RechtswissenLehrbuch Verwaltungsrecht, wie vorangehende Anmerkung, S. 252 ff. Einschließlich der Störerhaftung, vgl. Narbert Frank, Diskussion - Zur Durchsetzung verwaltungsrechtlicher Entscheidungen, in: Staat und Recht 1981, S. 10251033. 12

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3. Teil: Renaissance des Verwaltungsrechts

schaft angebotenen Antworten. Teilweise wurde die Frage nach der Klassifizierung des Nonnenmaterials auch unter Hinweis auf den Primat der Einheit des sozialistischen Rechts schlicht als nebensächlich abgetan. 14 In diesem Sinne äußerte sich ein Autorenkollektiv unter der Leitung von Michael Benjamin wie folgt: "Wir sehen deshalb die entscheidende Aufgabe der Verwaltungsrechtswissenschaft nicht in der Beschreibung und Klassifizierung von Rechtsfonnen. Vielmehr geht es um das wissenschaftliche Durchdringen, Analysieren und Verallgemeinern der staatlichen Leitungsprozesse, der ihnen zugrunde liegenden objektiven Gesetzmäßigkeiten und Erfordernisse der Staatsentwicklung wie auch der zu leitenden gesellschaftlichen Bereiche. Hieraus gilt es, diejenigen rechtlichen Fonnen abzuleiten, die mit höchster Wahrscheinlichkeit dazu beitragen, die Ziele und Aufgaben der staatlichen Leitungsorgane zu erfüllen."ls

Überschneidungen des Verwaltungsrechts mit anderen Rechtszweigen (wie dem Staatsrecht, dem Wirtschaftsrecht und dem Zivilrecht) begründeten die Autoren mit dem "komplexen Charakter der gesellschaftlichen Verhältnisse", der ein "arbeitsteiliges Zusammenwirken und - z. B. in der Lehre - praktische Arbeitsteilung" erfordere. 16 Hierin wurde auch keine provisorische Folge des Fehlens eines einheitlichen Verwaltungs verfahrensgesetzes gesehen, sondern ein bewußter methodischer Vorzug, denn es sei "ein Irrtum anzunehmen, ein gesellschaftliches Verhältnis ließe sich erst dann richtig erfassen, wenn man es sozusagen durch das Prisma eines Rechtsverhältnisses - zudem eines ganz bestimmten, etwa verwaltungs-, zivil- oder wirtschaftsrechtlichen - gebrochen hat" 17. Diese "universelle" Auffassung des Verwaltungsrechts, welche davon ausging, daß die rechtliche Regelung der Verwaltungstätigkeit auf allen gesellschaftlichen Gebieten zum Verwaltungsrecht gehört, sah sich indes Bedenken anderer Art ausgesetzt. Denn nach dieser Konzeption wären auch große Bereiche des Bodenund Wirtschaftsrechts und selbst des Arbeits- und Familienrechts verwaltungsrechtlicher Natur, andere Teilbereiche dem Zivilrecht zuzurechnen gewesen. 18 Eine derartige Betrachtungsweise ließe sich jedoch als Verstoß gegen den einheitlichen sozialistischen Rechtsbegriff interpretieren, dem eine 14 Helmut Oberländer und Martin Proseh, Gestaltungsprobleme des Wirtschaftsrechts, in: Staat und Recht 1973, S. 1085-1102 (l087). 15 Benjamin/Machalz-Urban/Schulze/Sieber, wie Anm. 2, S. 373. 16 Benjamin/Machalz-Urban/Schulze/Sieber, wie Anm. 2, S. 376. 17 Benjamin/Machalz-Urban/Schulze!Sieber, wie Anm. 2, S. 377. 18 Auf dieses Nebeneinander von verwaltungsrechtlichen und zivilrechtlichen Handlungsfonnen deutet etwa § 5 des Zivilgesetzbuchs (ZGB) von 1975 hin, der dessen Geltung "insbesondere für die Versorgung mit Wohnraum, Konsumgütern und Dienstleistungen" nonnierte. Ähnlich war die Situation im Bereich der Wohnungswirtschaft mit dem Mietrecht und im Bereich des Gesundheitsschutzes mit dem zivilrechtlichen Charakter des medizinischen Betreuungsverhältnisses und des Arztvertrags.

2. Abschn.: Intensivierung der Diskussion

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Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Recht fremd ist. In diesem Sinne merkte Hans-Ulrich Hochbaum im Hinblick auf die von einem polnischen Autorenkollektiv vertretene Konzeption an: "Eine solche Auffassung verkennt m. E., daß im Unterschied zur Entstehungsgeschichte des bürgerlichen Verwaltungsrechts die staatliche Verwaltungstätigkeit in der sozialistischen Gesellschaft die hauptsächlichste Leitungsform der sozialistischen Staatsrnacht darstellt, um in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen die aktive Rolle des sozialistischen Staates zu verwirklichen. Wollte man den Umfang eines Rechtszweiges heute in erster Linie nach dieser Form staatlicher Einflußnahme bestimmen, so würde hier ein inhaltlich stark unterschiedlicher Komplex gesellschaftlicher Beziehungen zum Gegenstand des sozialistischen Verwaltungsrechts gemacht, bei dem allein eine vom konkreten Gegenstand mehr oder weniger abstrahierte Form staatlicher Leitung den Ausschlag gibt. Darüber hinaus hätte das zur Folge, daß alle anderen Rechtszweige von dieser wichtigen staatlichen Tätigkeit ,entleert' werden, da sie zumindest ex definitione nicht mehr zum Gegenstand des Bodenrechts, Wirtschaftsrechts usw. gehören würden. Damit wird aber der neue, sozialistische Charakter dieser Rechtszweige in Frage gestellt, ja sogar ihre Existenzberechtigung untergraben. Was bleibt, wäre eine Zweiteilung des Rechts, die letztlich ihre Nähe zu der alten Unterscheidung in privates und öffentliches Recht kaum verbergen könnte.,,19 Nachdem im Ministerratsgesetz vom 16.10.1972 das "sozialistische Verwaltungsrecht" erstmals offiziell Erwähnung fand, erschien eine solche Argumentation indes als der Versuch, über eine Verlegenheit hinsichtlich der Abgrenzung zu anderen Rechtsgebieten, insbesondere zum Staats- und Wirtschaftsrecht, hinwegzutäuschen. Folgt man der Auffassung, welche das Verwaltungsrecht als "konkretisiertes Staatsrecht" betrachten möchte, fehlen klare Kriterien für die Grenzen der Konkretion. 2o Als solche hätte sich bei unbefangener Betrachtungsweise eine dahin gehende Abgrenzung angeboten, daß das Staatsrecht die Tätigkeit der Volksvertretungen, das Verwaltungsrecht dagegen diejenige der Räte und ihrer Fachorgane regelt. Ideologisch war ein solch explizites Eingeständnis einer institutionellen Trennung von Beschlußfassung und Durchführung freilich unerwünscht und unterblieb daher. 21 19 Hans-Ulrich Hochbaum, Besprechung des Buches "Institutionen des Verwaltungsrechts sozialistischer Staaten" eines polnischen Autorenkollektivs unter der Leitung von J. Starosziak, in: Staat und Recht 1973, S. 1376-1387 (1381 f.). 20 Vgl. Georg Brunner, Verwaltungsrecht in der DDR - Zum Erscheinen eines Lehrbuchs, in: Die Verwaltung 1981, S. 92-98 (94). 21 Ebenso hätte womöglich ein Blick auf die Entstehung der "bürgerlichen" Verwaltungsrechtslehre weitergeholfen, der aus naheliegenden Gründen ebenso verwehrt blieb. Das Problem stellte sich nämlich bereits Ende des 19. Jahrhunderts und wurde von Paul Laband und Otto Mayer umfassend theoretisch durchdrungen. Auch für Laband (Archiv für öffentliches Recht 11, 1887) war "das Verwaltungsrecht nicht eine spezifische Art von Recht", sondern nur "die Summe derjenigen Rechtssätze, welche die öffentliche Verwaltung betreffen", die ihrerseits ihren ursprünglichen

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3. Teil: Renaissance des Verwaltungsrechts

2. Vereinheitlichung des Verwaltungsverfahrens

Wie bereits erwähnt, ließ das Verwaltungsrechtslehrbuch den Bereich des Verwaltungsverfahrens sowie der (gerichtlichen) Verwaltungskontrolle im wesentlichen unberührt. Das Schweigen des Verwaltungsrechtslehrbuchs zu Fragen des Verwaltungsverfahrens verdeckte indes, daß es insbesondere Karl Bönninger in jahrelanger Forschung gelungen war, systematisch die Grundzüge einer sozialistischen Verwaltungsverfahrensordnung zu entwikkeIn, die er schrittweise in der Akademie-Zeitschrift "Staat und Recht" zur Diskussion stellte. Über einen Zeitraum von knapp zehn Jahren baute Bönninger seinen theoretischen Standpunkt konsequent aus. Den Grundstein seines Systems bildete 1972 die gänzlich neuartige Einteilung staatlicher Leitungsakte in "politische" Aufgaben und Regelnormen, welche der rechtlichen Reglementierung bedürfen?2 Mit diesem Ansatz verließ er den Bereich der inneren Organisation des Staatsapparats jedoch noch nicht. Der Bedeutung des Verwaltungsverfahrens im Verhältnis zwischen Staat und Bürger widmete er sich erst 1978, indem er das Verwaltungsrechtsverhältnis als Rechtsfigur neu definierte. 23 Letztlich (1980) untersuchte er die BeCharakter als privatrechtliche, strafrechtliche und verfahrensrechtliche Rechtssätze bewahren. Laband sah deswegen auch keine Möglichkeit, eine selbständige Wissenschaft des Verwaltungsrechts zu schaffen, fehle doch der Gegenstand einer solchen Wissenschaft, nämlich das Verwaltungsrecht als spezifische Form von Recht. Laband behauptete auch, daß es nicht "genug Stoff' für eine selbständige wissenschaftliche Betrachtung des Verwaltungsbereiches gebe, da das ganze öffentliche Recht sich nur aus der Verknüpfung der Rechtsinstitute verschiedener Herkunft und in erster Linie der privatrechtlichen - mit der einzigen wirklichen staatsrechtlichen Dimension, der des Staatsbefehls, ergebe. Otto Mayer wies daraufhin nach, daß Labands Auffassung wesentlich auf der Beibehaltung der traditionellen Struktur des Polizeistaates beruhe, die durch den überkommenen Dualismus des politischen Rechts als Ausdruck des souveränen Befehls einerseits und des lustizrechts als Ausdruck einer zweiten Persönlichkeit des Staates, des in den Formen des Privatrechts handelnden Fiskus, gekennzeichnet sei. Eben diese "altpreußische Betrachtungsweise" wollte Otto Mayer durch die Etablierung eines selbständigen (französisch inspirierten) Verwaltungsrechts überwinden. Denn die Theorie des Polizeistaats beschränke die Funktion des Verwaltungsrechts auf die rein technische Transformation des herrscherlichen Willens und überließ den gesamten Bereich der Vermögensverhältnisse zwischen Staat und Untertanen dem Privatrecht. Das Verwaltungsrecht bildete für Otto Mayer "den Keil, den er zwischen Staatsbefehl und Fiskus treibt" (Begriff von Maurizio Fioravanti) und durch den nach Mayers Ansicht der Rechtsstaat, der gerade durch die Existenz des Verwaltungsrechts gekennzeichnet ist, erst entstehe. (Maurizio Fioravanti, Die Theorie des "Rechtsstaats" als "Verwaltungsstaat" in Deutschland und Italien - Otto Mayer und Santi Romano, in: Rechtshistorisches Joumall985, S. 89-101,91 f.). 22 Karl Bönninger, Zur Rolle des Rechts im staatlichen Leitungssystem, in: Staat und Recht 1972, S. 734-744. 23 Karl Bönninger, Das Verwaltungsrechtsverhältnis und seine Besonderheiten, in: Staat und Recht 1978, S. 745-750.

2. Abschn.: Intensivierung der Diskussion

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deutung des Verwaltungsverfahrens sogar allein unter dem Gesichtspunkt der Gewährleistung subjektiver Rechte. 24 a) Regelnormen und Aufgaben

Bönninger widmete sich zunächst der Aufgabe, die Rechtsformen des Verwaltungshandelns juristisch auszuarbeiten. Innerhalb des Systems staatlicher Leitungsakte identifizierte er eine Gruppe, für die ein formalisiertes Verfahren im Hinblick auf Erlaß, Änderung und Aufhebung gelten sollte. Mit diesem Ansatz verließ der Autor die vorrangig um die Zuordnung der Materien des Besonderen Teils des Verwaltungsrecht kreisende Diskussion der sechziger Jahre und gewann erstmals in der wissenschaftlichen Diskussion verwertbare Ansätze im Hinblick auf den rechtsstaatlieh relevanten Allgemeinen Teil des sozialistischen Verwaltungsrechts der DDR. Ausgangspunkt für Bönningers Überlegungen war die These, daß nur die Knotenpunkte im Leitungsprozeß, von denen ganze Komplexe weiterer Leitungsakte abhängen und deren Aufhebung oder Änderung einen immensen Aufwand hinsichtlich des Einsatzes von Kräften und Mitteln in ganzen Bereichen mit sich bringt, als Rechtsakte ausgestaltet werden müßten. 25 Vor diesem Hintergrund unterschied Bönninger bei der zentralen Leitung und Planung Ziele (Aufgaben) und Regeln. Während die Aufgaben die politischökonomischen Rahmenbedingungen konkretisieren und sich entsprechend dem jeweiligen Entwicklungsstand der Gesellschaft rasch verändern könnten, bestimmten Regelnormen, unter welchen Voraussetzungen welche Rechtsfolgen eintreten sollten und legten fest, welche Sanktionen ausgelöst werden, wenn die geforderten Pflichten nicht erfüllt oder Rechte verletzt werden. 26 Regelnormen seien immer dann einzuhalten, wenn für eine Person (ein Betrieb, ein Organ usw.) die Voraussetzungen vorliegen, unter denen die Regelnorm ein bestimmtes Verhalten fordert. Ein Vergleich zwischen dem tatsächlichen und dem in der Regelnorm geforderten Verhalten (Subsumtion) ergebe, ob die Gesetzlichkeit eingehalten oder verletzt worden sei. 27 Durch Regelnormen würden abstrakte Rechtsverhältnisse mit ab24 Karl Bönninger, Zu theoretischen Problemen eines Verwaltungsverfahrens und seiner Bedeutung für die Gewährleistung der subjektiven Rechte der Bürger, in: Staat und Recht 1980, S. 931-939. 25 Karl Bönninger, Zur Rolle des Rechts im staatlichen Leitungssystem, in: Staat und Recht 1972, S. 734-744 (735). Letztlich kam der Autor damit auf seine vor der Babelsberger Konferenz (1957) in der FS Jacobi geäußerte Ansicht zurück, wonach der Staat nur solche gesellschaftlichen Verhältnisse als Rechtsverhältnisse ausgestalten müsse, deren Bestand "unverbrüchlich" sein müsse. Vgl. hierzu die Ausführungen im ersten Abschnitts des zweiten Teils dieser Arbeit unter Ziffer IV. 2. 26 Bönninger, wie Anm. 22, S. 737. 27 Bönninger, ebenda.

3. Teil: Renaissance des Verwaltungsrechts

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strakten Rechten und Pflichten der in der Nonn abstrakt angegebenen Adressaten begründet. 28 Zur Konkretisierung dieser Rechtsverhältnisse bedürfe es eines Leitungsaktes in Fonn einer Weisung. Zu deren Erlaß bedürfe es keiner weiteren konkreten Ennächtigung, da sie selbst kein Rechtsverhältnis begründe, ändere oder autbebe. Aus dem gleichen Grund bedürfe es auch keiner Verfahrensvorschriften hinsichtlich der Autbebung oder Änderung?9 Eine derartige Reglementierung sei allein für Veifügungen obligatorisch, welche als Rechtsakte der Leitung neue Rechtsverhältnisse begründen. Diese seien ihrer Rechtsnatur nach identisch mit den Verfügungen, die staatliche Organe aufgrund ihrer staatlichen Befugnisse als einseitige Willenserklärungen an Bürger oder deren Kollektive richten könnten. 3o Da die Verfügung als Rechtsakt der Leitung neue Rechtsverhältnisse gestalte - und zwar nicht nur Rechtsbeziehungen zwischen über- und untergeordneten staatlichen Leitungsorganen und nicht unterstellten Organe, Betrieben und Einrichtungen -, bedürfe es zu ihrem Erlaß einer konkreten rechtlichen Regelung, welche bestimme, welche Staatsorgane unter welchen Voraussetzungen zum Erlaß welcher Verfügungen berechtigt seien3l - mit anderen Worten: eines Gesetzesvorbehalts. Darüber hinaus sollte auch das Verfahren in einer sich der deutschen Verwaltungsrechtstradition wieder annähernden Art und Weise geordnet werden. Hierzu führte Karl Bönninger aus: "Verfügungen, die auf der Grundlage bestimmter Rechtsvorschriften erlassen werden, begründen Rechtsverhältnisse zwischen den staatlichen Organen (bzw. ändern sie oder heben sie auf). Es ist Aufgabe der Rechtswissenschaft, allgemeine Grundsätze über den Erlaß solcher Rechtsakte auszuarbeiten. Dabei geht es vor allem um die Beantwortung folgender Fragen: - Wie wird das Verfahren zum Erlaß der Rechtsakte eingeleitet (auf Antrag, auf Initiative des übergeordneten Organs)? - Welche Rechtsfolgen treten ein, wenn die gesetzlich vorgesehenen Verfahrensbestimmungen nicht eingehalten werden (Ungültigkeit oder Anfechtbarkeit des Aktes)? - Welche rechtlichen Mittel gegen die Entscheidung stehen dem Betroffenen zu (Einspruch, Antrag auf Ausgleich ökonomischer Nachteile)? - Mit welchen Mitteln und in welchem Verfahren werden die sich aus dem Rechtsakt ergebenden Pflichten durchgesetzt (materielle Sanktionen, Ordnungsstrafen gegen Leiter oder Mitarbeiter, disziplinarische Maßnahmen)? - Unter welchen Voraussetzungen und in welchem Verfahren darf der Rechtsakt geändert und aufgehoben werden (z. B. wenn eine Veränderung in der Zuord-

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29 30

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Bönninger, Bönninger, Bönninger, Bönninger,

ebenda. wie Anm. 22, S. 738. wie Anm. 22, S. 740. wie Anm. 22, S. 741.

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nung von Betrieben eintritt, wenn das übergeordnete Organ zustimmt oder eine Abstimmung mit den beteiligten Organen erfolgt)? - Welche Rechtsfolgen treten ein (die vom Akt gewollten Rechtswirkungen einschließlich eines etwaigen ökonomischen Ausgleichs)? - Welche staatlichen Organe entscheiden bei einem Rechtsstreit zwischen den beteiligten staatlichen Organen (das den Rechtsakt erlassende Organ, das übergeordnete Organ, das staatliche Vertragsgericht)? - In welchen Verfahren geschieht das (Einspruchsverfahren, vertragsgerichtliches Verfahren)?,,32

Systematisch schlug der Autor vor, die Rechtsakte der staatlichen Leitung nach zwei Kategorien zu gestalten: Gesetze, Erlasse, Verordnungen, Anordnungen und Ortssatzungen sollten die Regelnormen enthalten und nur insofern Ziele und Aufgaben umfassen, als sie zu Verständnis, Auslegung und Anwendung unerläßlich sind. Dagegen sollten die von den Regelnormen getrennten AufgabensteIlungen den Inhalt von Beschlüssen und Weisungen bilden. Zusammenfassend stellte der Autor fest: "Die zu erarbeitenden Grundsätze müssen selbstverständlich der in den einzelnen Rechtsvorschriften konkret zu regelnden Materie entsprechen. Dabei sollte vor einigen rechtlichen Konsequenzen (Nichtigkeit der Rechtsakte, Sanktionen, Entscheidung von Streitigkeiten) nicht zurückgeschreckt werden. Die Einhaltung der Pflichten und der Schutz der Rechte sind um so sicherer gewährleistet, je eindeutiger die Mittel ihrer Durchsetzung sind. Sie erst machen das Recht effektiv, und ihre Bedeutung für die Stabilität der Rechtsbeziehungen, für die Entwicklung des Rechtsbewußtseins und für die Einhaltung der vom Gesetzgeber gewollten Ordnung im Zusammenwirken der staatlichen Leitungsorgane liegt auf der Hand ...33

Mit seinem Vorschlag gelang es Bönninger, die Frage der verwaltungsrechtlichen Relevanz hoheitlichen Handeins mit einem auf die sozialistische Gesellschaftsordnung abgestimmten Ansatz entgegen der deutschen verwaltungsrechtlichen Tradition eigenständig zu beantworten. Eine Unterscheidung zwischen "Verwaltungsakten" und "Realakten" unterblieb; der Begriff des "Verwaltungsakts" wurde sogar gänzlich eliminiert und durch die (normative oder aufgabensteIlende) "Einzelentscheidung" ersetzt. Damit wurde zugleich das Unterscheidungskriterium der "Außenwirkung" (im Sinne einer dem sozialistischen System theoretisch fremden Gegenüberstellung) vermieden. Zwischen einer "Einzelentscheidung" innerhalb und außerhalb eines Unterstellungsverhältnisses wurde dogmatisch nicht mehr unterschieden, statt dessen wurde als Unterscheidungskriterium der Grad der Konkretisierung der Entscheidung herangezogen. Problematisch erscheint an dieser Art der Differenzierung, daß darin eine qualitative Wertung mitschwingt. So hätte beispielsweise ein Volkswirtschaftsplan nach der Terminologie Bön32 33

Bönninger, wie Anm. 22, S. 741 f. Bönninger, wie Anm. 22, S. 742.

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3. Teil: Renaissance des Verwaltungsrechts

ningers als Aufgabennonn keinen "Knotenpunkt im Leitungsprozeß" dargestellt, obwohl seine unmittelbare Verbindlichkeit für alle staats- und wirtschaftsleitenden Organe der DDR nicht in Frage gestellt werden konnte. Folgerichtig wurde gegen den Vorschlag auch eingewandt, er verliere die "Inhalte aus dem Blickfeld" und degradiere die Aufgaben und Ziele der sozialistischen Gesellschafts- und Staatsordnung zu bloßen Orientierungspunkten für den Leitungsprozeß. Der Vorschlag laufe auf eine Überlagerung der sozialistischen Gesellschaftsordnung durch die Ordnung der Leitungsbeziehungen hinaus. Der Zusammenhang zwischen Regelnonn und Aufgabe als ihrem Substrat werde nicht hinreichend deutlich. Hierdurch gerieten Regel, Leitungsakt und der Leitungsprozeß in die Lage, "fetischisiert" zu werden?4 b) Rechtsanwendung und Rechtsverwirklichung

In der wissenschaftlichen Diskussion war es zunächst Hans Ulrich Hochbaum, der dazu aufrief, die "Chance des Neuanfangs" zu nutzen und bei der notwendigen Neugestaltung des sozialistischen Verwaltungsrechts "die Beziehungen des sozialistischen Staatsapparates zum Bürger und zu seinen gesellschaftlichen Organisationen bei der Entfaltung der sozialistischen Kollektivität und der Herausbildung sozialistischer Persönlichkeiten im Prozeß der konkreten Organisierung der staatlichen Aufgabenerfüllung in den Mittelpunkt zu rücken,,35. In diesem Zusammenhang betonte der Autor: "Staatliche Leitungsorganisation und Strukturgestaltung sind kein Selbstzweck. Soweit sie die Rechtsbeziehungen zu den Werktätigen und ihren Kollektiven betreffen, sind sie Gegenstand des Verwaltungsrechts. Das hätte die Konsequenz, daß die Rechtsstellung des Bürgers vornehmlich in seinem persönlichen wirtschaftlichen Bereich vom Zivilrecht, in seinem Arbeitsleben vom Arbeitsrecht und in seinen gesellschaftlich-staatlichen Beziehungen vom Verwaltungsrecht geregelt wird. ,,36

Konkrete Folgerungen hinsichtlich der Stellung des Bürgers im Verwaltungsverfahren, von ihm selbst als "Kern des Verwaltungsrechts" bezeichnee 7 , oder gar eine neue Position im Hinblick auf den Verwaltungsrechtsschutz entwickelte Hochbaum aus seinem Vorschlag freilich noch nicht. 38 34 Gerhart Riege, Zur Rolle des Rechts im staatlichen Leitungssystem, in: Staat und Recht 1973, S. 418-433 (421), Hervorhebung vom Verfasser dieser Arbeit. 35 Hans-Ulrich Hochbaum, Besprechung des Buches "Institutionen des Verwaltungsrechts sozialistischer Staaten" eines Autorenkollektivs unter der Leitung von J. Starosziak, in: Staat und Recht 1973, S. 1376-1387 (1382). 36 Hochbaum, ebenda. 37 Hochbaum, wie Anm. 35, S. 1385. 38 Statt dessen kritisierte er an dem polnischen Werk, daß es das Eingabenrecht "nahezu ausschließlich und verhältnismäßig knapp als einen Bestandteil des Verwaltungsverfahrens" interpretiere (S. 1383).

2. Abschn.: Intensivierung der Diskussion

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Ebenso hatte ein Autorenkollektiv unter Leitung von Michael Benjamin angeregt, zum Zwecke der "Vereinheitlichung und Vereinfachung der Arbeit des Staatsapparats" die "Erarbeitung einheitlicher wissenschaftlicher Grundsätze des Verwaltungsverfahrens" voranzutreiben, um die "Rechte der Bürger im Verwaltungsverfahren, die Einhaltung der Gesetzlichkeit durch die Verfügungsberechtigten, die Vereinfachung der Verwaltungs arbeit und die Mitwirkung der Werktätigen im Verwaltungsverfahren zu fixieren,,39. Unmittelbar vor dem Erscheinen des offiziellen Verwaltungsrechtslehrbuchs griff Karl Bönninger diese Anregungen auf, indem er sich bemühte, präzisere theoretische Vorgaben für die Gestaltung der Beziehungen zischen dem Bürger und dem Staatsapparat zu entwickeln. Als zentralen Begriff identifizierte Bönninger nunmehr das sozialistische Verwaltungsrechtsverhältnis, welches bei der Anwendung einer Rechtsnorm durch ein staatliches Verwaltungsorgan entstehe. Als "Rechtsanwendung" werde "in der Regel der Erlaß eines staatlichen Individualaktes (Verwaltungsakt, Gerichtsurteil) auf der Grundlage einer Rechtsnorm in einem konkreten Einzelfall bezeichnet, mit dem für ein konkretes Rechtssubjekt der in der Norm enthaltene allgemeine Klassenwille unter den gegebenen Umständen durch die Statuierung genauer Rechten und Pflichten verwirklicht werden kann,,4o. Von der Rechtsanwendung zu unterscheiden seien andere Formen bloßer Rechtsverwirklichung, zu denen er neben den bereits zuvor genannten Weisungen nunmehr auch die Beschlüsse der örtlichen Räte zählte, die in der Regel keine Individualakte darstellten und folglich keine subjektiven Rechte und Pflichten begründeten. Hierauf aufbauend entwickelte Bönninger eine Lehre vom Verwaltungsrechtsverhältnis, für dessen Vorliegen folgende Kriterien kennzeichnend sein sollten: 1. Verwaltungsrechtsverhältnisse, die Forderungen der Staatsorgane an Bürger oder Forderungen der Bürger an Staatsorgane beinhalten, haben zugleich den Charakter von Ansprüchen. Während der Forderungsinhaber in Zivil- und anderen Rechtsverhältnissen indirekt und erst über den Anspruch direkt mit dem Staat verbunden wird, ist er es im Verwaltungsrechtsverhältnis unmittelbar. 2. Das staatliche Verwaltungsorgan setze verwaltungsrechtliche Forderungen selbst im Verwaltungsweg durch. Aus diesem Grund enthalte im Unterschied zu Zivil- und anderen Rechtsverhältnissen das Verwaltungsrechtsverhältnis in bezug auf die Erfüllung der Pflichten und die Nutzung der Rechte unmittelbar selbst bereits die notwendigen staatlichen und juristischen Garantien. 41 3. Hieraus folge ein allgemeingültiger Grundsatz der Verwaltungsrechtstheorie, daß der Individualakt eines staatlichen Verwaltungsorgans in jedem Falle gülBenjamin/Machalz-Urban/Schulze/Sieber, wie Anm. 2, S. 371. Kar! Bönninger, Zur Diskussion - Das Verwaltungsrechtsverhältnis und seine Besonderheiten, in: Staat und Recht 1978, S. 745-750 (745). 41 Hier stellt der Autor offenbar einseitig auf die Perspektive des Staatsorgans und den Verwaltungszwang ab. 39

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3. Teil: Renaissance des Verwaltungsrechts tig (rechtswirksam) sei. Dies treffe auch dann, wenn der Akt einen rechtlichen Mangel habe und gegebenenfalls im Beschwerde- oder Aufsichtsverfahren aufgehoben werden kann.

4. Verwaltungsrechtsverhältnisse werden in einem für die Rechtsanwendung typischen Procedere begründet. Dieses umfasse regelmäßig Sachverhaltsermittlung, Tatbestandsfixierung, Rechtsermittlung, Rechtsentscheidung und Rechtsbegründung.

Darüber hinaus differenzierte der Autor zwischen prozessualen und materiellen Rechtsverhältnissen im Verwaltungsrecht. Ein prozessuales Verwaltungsrechtsverhältnis entstehe immer, wenn ein staatliches Verwaltungsorgan eine Willenserklärung abgebe oder ein Bürger ein "rechtlich besonders fixiertes Verfahren" einleite (Antrag, Beschwerde usw.). Unter einern materiellen Rechtsverhältnis verstand Bönninger offenbar den materiellen Anspruch, der bei einer Willenserklärung eines Staatsorgans stets, bei der eines Bürgers ausnahmsweise (z.B. bei AntragsteIlung auf Kindergeld bei Vorliegen der Voraussetzungen) entstehe. c) Gewährleistung subjektiver Rechte der Bürger

durch das Verwaltungsveifahren

Nach dem Erscheinen des Verwaltungsrechtslehrbuchs im Jahre 1979 sah Bönninger "eine neue Stufe" in der Entwicklung der Verwaltungsrechtswissenschaft der DDR erreicht, auf der es ihm angeraten erschien, eine "generelle Rechtsvorschrift, in der verfahrensrechtliche Regelungen über den Erlaß, die Änderung und die Aufhebung von Verfügungen, über die Stellung des Bürgers im Verfahren, über Verfahrensgrundsätze usw. enthalten sind", herbeizuführen. 42 Als Hauptfunktion des Verwaltungsverfahrensrechts sah der Autor nun nicht die effektive Organisation der Leitungsbeziehungen zwischen den staatlichen Organen, sondern vielmehr die Realisierung bzw. Sicherung der subjektiven Rechte und die Durchsetzung der subjektiven Pflichten der Bürger an. Den Hintergrund dieser Wende bildeten die gewandelten Anschauungen der sozialistischen Rechtstheorie zu Funktion und Bedeutung des subjektiven Rechts in der sozialistischen Gesellschaft. Rechtsdogmatisch wurde das subjektive Recht als die von der Rechtsordnung eingeräumte Möglichkeit des Verhaltens der Persönlichkeit verstanden, welche drei Aspekte umfasse: "Erstens die Möglichkeit, ein bestimmtes materielles oder geistiges soziales Gut zu nutzen; zweitens die Befugnis, in Übereinstimmung mit dem Gesetz zu handeln und entsprechende Handlungen von anderen Personen zu for42 Karl Bönninger, Zu theoretischen Problemen eines Verwaltungsverfahrens und seiner Bedeutung für die Gewährleistung der subjektiven Rechte der Bürger, in: Staat und Recht 1980, S. 931-939.

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dem, und drittens die Freiheit, im Rahmen der vom Gesetz festgelegten Grenzen zu handeln. ,,43 Zur Durchsetzung des jeweiligen subjektiven Rechts forderte Bönninger jeweils ein Verwaltungsverfahren, das der jeweiligen Interessenlage Rechnung tragen sollte. Im einzelnen differenzierte er zwischen Verfahren, die Eingriffe in persönliche Rechtsgüter betreffen (z. B. Verfahren zur Inanspruchnahme von Grundstücken), Verfahren, die die Erhebung von persönlichen Ansprüchen betreffen (z. B. Schadensersatzansprüche aufgrund des Staatshaftungsgesetzes), Verfahren, die auf die Nutzung bestimmter Rechtsgüter gerichtet sind (z. B. Verfahren auf Zuweisung von Wohnraum), und Verfahren, die dem Bürger Pflichten auferlegen, die Pflichten durchsetzen (Verwaltungszwangverfahren) oder den Bürger verwaltungsrechtlich verantwortlich machen (Ordnungsstrafverfahren).44 Allen Arten von Verwaltungsverfahren sollte gemein sein, daß der Bürger im Verfahren einen Rechtsstatus besitzt und bestimmte Verfahrensrechte besitzen müsse, durch die er Einfluß auf den Gang des Verfahrens und die Entscheidungsfindung nehmen kann. Hierzu zählte der Autor vor allem das Recht, gehört zu werden, mündlich seine Ansicht vorzutragen, auf die Vorstellungen und Einwände des Verwaltungsorgans zu entgegnen sowie Anträge zu stellen.45 Die Gewährleistung dieser Verfahrensrechte bezeichnete Bönninger als unerläßlich für das gesamte Verwaltungsverfahren, insbesondere das Rechtsmittelverfahren. Ausnahmen sollten nur dort zugelassen werden, wo Entscheidungen sehr rasch getroffen werden müßten, z. B. im Falle von einstweiligen Verfügungen oder Verfügungen auf dem Gebiet von Sicherheit und Ordnung. Indirekt kritisierte der Autor das Eingabenwesen, wenn er feststellte, daß ein Verfahren, bei dem der Bürger nur das Recht habe, es durch einen Antrag in Gang zu setzen, und das Staatsorgan die Pflicht habe, eine Entscheidung zu treffen und diese dem Bürger mitzuteilen, zwar "praktisch möglich" sei. Jedoch könne es im Rahmen der Gewährleistung subjektiver Rechte nicht mehr als "ausgereiftes Verfahren" betrachtet werden: 43 M. S. Strogowitsch, Das sozialistische Recht und die Rechte der Persönlichkeit, in: Probleme des sowjetischen sozialistischen Staates und Rechts in der gegenwärtigen Periode, S. 22. Zur entsprechenden Diskussion in der DDR vgl. Ingo Wagner, Theoretisches zum subjektiven Recht in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, in: Staat und Recht 1979, S. 674-684; Angelika Zschiedrich, Sozialistische Grundrechte in ihrer Funktion als staatliche Leitungsinstrumente in der sozialistischen Demokratie, in: Staat und Recht 1979, S. 578-587. 44 Karl Bönninger, Zu theoretischen Problemen eines Verwaltungsverfahrens und seiner Bedeutung für die Gewährleistung der subjektiven Rechte der Bürger, in: Staat und Recht 1980, S. 931-939 (937). 45 Bönninger, wie vorangehende Anmerkung, S. 936.

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3. Teil: Renaissance des Verwaltungsrechts

"Subjektive Rechte und Verfahrensrecht gehören eng zusammen. In der gleichen Weise, wie es kein Recht gibt ohne einen Apparat, es durchzusetzen, gibt es auch kein subjektives Recht ohne ein Verfahren, es durchzusetzen. Bei Anerkennung subjektiver Rechte gibt es auch keine subjektive Pflicht ohne ein Verfahren der Durchsetzung, in dem der Verpflichtete einen bestimmten Rechtsstatus hat. ,,46

Ein weiterer Hinweis auf eine stärkere Formalisierung des Verwaltungsverfahrens fand sich in der ausdrücklichen Befürwortung der Zulässigkeit rechtsanwaltlicher Vertretung im Verwaltungs verfahren. Diese sei schon deshalb zu begrüßen, "weil ein rechtskundiger Vertreter die Präzedenzfälle kennt, die Umstände, bei deren Vorliegen in früheren Verfahren dem Antrag auf Gewährung des Rechts stattgegeben oder dieser abgelehnt wurde". Damit werde gewährleistet, daß die Entscheidungen "nach gleichen Gesichtspunkten" getroffen und damit "objektiviert" würden. 47 Der Rechtsanwalt sollte demnach zum Garanten der einheitlichen Anwendung des Verwaltungsrechts avancieren. Besondere Aufmerksamkeit widmete Bönninger der Frage der Ausgestaltung des Verwaltungsverfahrens zur Geltendmachung relativer subjektiver Rechte. Hierunter verstand er Rechte des Bürgers auf sozial-kulturelle Leistungen, die zur Konkretisierung und Individualisierung (Festlegung des Umfangs der Nutzung durch den einzelnen) einer staatlichen Entscheidung bedürfen, die in einem rechtlich geordneten Verfahren vom Rechtssubjekt geltend gemacht werden können. 48 Die bisherigen gesetzlichen Bestimmungen bestimmten verfahrensrechtlich meist nur, welches staatliche Verwaltungsorgan örtlich, sachlich und personell zuständig ist, daß die Einleitung des Verfahrens eines Antrags bedurfte und daß eine ablehnende Entscheidung mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen werden mußte. Der Autor forderte nunmehr, daß die Voraussetzungen, bei deren Vorliegen ein Anspruch auf eine entsprechende staatliche Leistung besteht, im Gesetz (und nicht allein in Verwaltungsvorschriften) so exakt wie möglich geregelt werden sollte. Dies sah er als dem "Grundsatz der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz" geschuldet an. 49 Dieser impliziere in Fällen der vorliegenden Art, daß bei Vorliegen gleicher Voraussetzungen die gleiche Entscheidung zu treffen sei, wobei sowohl die Voraussetzungen in der Person des Bürgers "als auch diejenigen in der betreffenden politischen Situation" zu berücksichtigen seien. Gleichermaßen fordere der Gleichheitsgrundsatz, daß wesentliche Unterschiede in den Voraussetzungen zu einer unterschiedlichen Bönninger, wie Anm. 44, S. 933. Bönninger, wie Anm. 44, S. 937. 48 Bönninger, wie Anm. 44, S. 934. Als Beispiele nannte der Autor das Recht auf Wohnraum sowie das Recht auf Bildung in einer bestimmten Bildungsstufe, die Vergabe von Kindergarten- und Pflegeheimplätzen sowie die Genehmigung der Errichtung von Eigenheimen. 49 Bönninger, wie Anm. 44, S. 935. 46

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Entscheidung des staatlichen Organs führen müßten - anderenfalls wäre eine "Gleichmacherei" die Folge. 5o Schwierigkeiten ergäben sich vor allem "aus der Disproportion von Anträgen (Wünschen) und volkswirtschaftlichen Möglichkeiten bzw. Notwendigkeiten" sowie der "unterschiedlichen Wertigkeit der einzelnen Kriterien". Dennoch ließen sich Kriterien finden, die der staatlichen Entscheidung zugrunde zu legen seien und den Raum für eine "subjektivistische" Entscheidung eindämmten. Die Festlegung solcher Kriterien sei eine Sache des materiellen Verwaltungsrechts. 51 3. Gerichtlicher Verwaltungsrechtsschutz

Bönningers Position erfuhr in der verwaltungsrechtswissenschaftlichen Diskussion teilweise scharfe Kritik52 , aber auch ausdrückliche Zustimmung. Positiv bewertete der Jenenser Dozent Wolfgang Bernet den Ansatzpunkt, durch ein allgemeines Verwaltungsverfahren die subjektiven Rechte des Bürgers stärker durchzusetzen. Gleichzeitig billigte er Bönningers Vorschlag zu, zur Effizienzsteigerung in der staatlichen Leitung beizutragen (größere Übersichtlichkeit über den Stand des Verfahrens, damit verbundene Rationalität in der staatlichen Leitungstätigkeit, größere Publizität ihrer Handlungen usw.), und erhöhte damit die ideologische Akzeptanz des Vorschlags. 53 In diesem Sinne interpretierte er auch, daß "die Verfahrensvorschriften (Fristen, Formen, Instanzen u. a.) lediglich ein Glied im System der juristischen Garantien der Bürger" seien. Sie müßten daher "wesentlich vor allem mit den politischen, ökonomischen und ideologischen Garantien der sozialistischen Gesellschaft verbunden bleiben,,54. Sein inhaltlicher Beitrag richtete sich zunächst darauf, die Rechtsmittel aus ihrer "Randlage" in der rechtswissenschaftlichen Diskussion zu befreien, da diese dazu beitrügen, die Rechtssicherheit "und das damit verbundene Prinzip der Bindung der staatlichen Organe an das Recht" zu verwirklichen. In diesem ZusamBönninger, wie Anm. 44, S. 935. Bönninger, wie Anm. 44, S. 936. 52 Auf der Hinlänglichkeit des bisherigen Normenbestands beharrten insbesondere Heidrun Pahl und Gerhard Schulze in ihrem Aufsatz "Wachsende Rolle des Verwaltungsrechts beim Schutz der Rechte der Bürger", Staat und Recht 1981, S. 307-410. Sie lehnten die Schaffung eines "generellen Verwaltungsverfahrensrechts mit allgemeinen - mehr oder weniger abstrakten - Verfahrensgrundsätzen" ab und stellten aus ihrer Sicht fest, daß die Sicherung der Bürgerrechte allein anband der Verbesserung der Arbeit des Staatsapparates bzw. durch dessen engere Verbindung mit dem Volk zu erfolgen habe. 53 Walfgang Bemet, Verwirklichung der sozialistischen Gesetzlichkeit in der staatlichen Leitung durch Rechtsmittel, in: Staat und Recht 1980, S. 13-23, ders., Wirksamkeit von Rechtsmitteln in der staatlichen Leitung, in: Staat und Recht 1981, S. 732-743 (733). 54 Bemet, ebenda. 50

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menhang führte er auch empirische Erhebungen zur Wirksamkeit des förmlichen Rechtsmittelverfahrens (u. a. bei den Kreisbauämtern) durch. 55 Als wichtigste Schlußfolgerung aus seiner Analyse regte Bernet an, "daß auch die Volksvertretungen, die ständigen Kommissionen und die Abgeordneten die Einreichung von Rechtsmitteln und die Einhaltung der Verfahrensbestimmungen kontrollieren" sollten. 56 Im Jahre 1983 ging der Autor noch eine Schritt weiter und schlug vor, die verwaltungsrechtliche Streitigkeit nach Abschluß eines geordneten Rechtsmittelverfahrens durch die ordentlichen Gerichte abschließend entscheiden zu lassen. 57 In diesem Zusammenhang forderte er explizit die Erweiterung des Rechtsschutzes durch die Gerichte und kritisierte, daß diese Frage der Verwaltungsgerichtsbarkeit eines "der politisch und juristisch schwierigsten verwaltungsrechtswissenschaftIichen Probleme unseres Landes" - von der Staatsführung "geradezu tabuisiert" werde. Bemerkenswerterweise hatte Bernet kurz zuvor in dem Aufsatz "Entwicklung und Funktion der deutschen bourgeoisen Verwaltungsgerichtsbarkeit" energisch die entgegengesetzte These vertreten. 58 Der Aufsatz wurde eingeleitet mit einer polemisch-diffamierenden Beschreibung des Wesens der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland in der vorsozialistischen Zeit und gipfelt in der These, "daß die bourgeoise Verwaltungsgerichtsbarkeit" "ein scharfes justitielles Schwert ist, um die Herrschaft des Monopolkapitals rigoros abzusichern". Seine Betrachtung der verwaltungsgerichtlichen Entwicklung in der SBZ und der DDR bis zur Liquidation der Verwaltungsgerichte im Jahre 1952, die ein besonderes Gewicht auf die Verhältnisse in Thüringen legte, schloß Bernet ab mit der Behauptung, daß gegenwärtig "Eingabenrecht, formelles Beschwerderecht, staatsanwaltliche

55 Eine derartige Untersuchung ergab unter anderem, daß es in einem Jahr im Bereich der Kreisbauämter (einschließlich der Staatlichen Bauaufsicht) 323 verpflichtende Einzelentscheidungen gegenüber dem Bürger gegeben habe. Dagegen seien in 162 Fällen Rechtsmittel eingelegt worden, von denen insgesamt 23 Erfolg bzw. teilweisen Erfolg gehabt hätten. Aus der geringen Erfolgsquote schloß er "auf eine korrekte Arbeit der staatlichen Organe mit dem Recht" (Verwirklichung der sozialistischen Gesetzlichkeit in der staatlichen Leitung durch Rechtsmittel, wie Anm. 53, S. 21; Wirksamkeit von Rechtsmitteln in der staatlichen Leitung, wie Anm. 53, S. 737-742). 56 Wolfgang Bemet, Wirksamkeit von Rechtsmitteln in der staatlichen Leitung, wie Anm. 53, S. 742. 57 Wolfgang Bemet, Gerichtliche Nachprüfbarkeit von Verwaltungsakten für die DDR?, in: Bürger im sozialistischen Recht, Jena 1983, S. 48. 58 Wolfgang Bemet, Entwicklung und Funktion der deutschen bourgeoisen Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: Staat und Recht 1983, S. 824-832. Die beiden sich widersprechenden, in unmittelbarer Folge nacheinander geschriebenen Beiträge zur Notwendigkeit gerichtlichen Verwaltungsrechtsschutzes in der DDR wurden in der Sammlung "Bürger im sozialistischen Staat" der Friedrich-Schiller-Universität zu Jena sogar zusammen abgedruckt.

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Aufsicht und vieles andere ... eine Verwaltungs gerichtsbarkeit in der DDR obsolet werden" lasse. 59 Bernet selbst erläuterte sein Verhalten im Rückblick dahin gehend, daß der Artikel "das Eingangsgeld" für ein geplantes Symposium über "Gesetzlichkeit und Rechtsschutz in der Verwaltung" gewesen sei, welches ursprünglich vom 25. bis zum 27. November 1983 in Jena habe stattfinden sollen. 6o Zur Austragung kam es dann aufgrund eines Verbots des ZK der SED letztlich doch nicht. Dem Autor sei nahegelegt worden, sich von der bürgerlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit zu distanzieren, um sich auf diesem Wege für eine Teilnahme zu legitimieren. Diesem Zweck habe dann der polemische Aufsatz über die "Entwicklung und Funktion der bourgeoisen Verwaltungsgerichtsbarkeit" gedient, von dem er gegenüber Inga Markovits im nachhinein sagte, er hätte ihn "heute lieber nicht geschrieben". Nichts ändern kann diese Erklärung indes an den zahlreichen Ungenauigkeiten und Mißverständnissen im ersten Teil des Aufsatzes, auf welche auch der von Bernet anerkannte earl Hermann Ule hinwies. 61 Diese Beispiel illustriert somit, welchen Zwängen sich DDR-Rechtswissenschaftler ausgesetzt sahen, wenn es darum ging, an rechtspolitische Dogmen zu rühren.

59 Ebenda, S. 831. Inwiefern solche ideologischen Verbrämungen möglicherweise erforderlich waren, um im Deckmantel der Konformität überhaupt die Möglichkeit zu erhalten, neuartige Gedanken in die wissenschaftliche Diskussion einzubringen, kann hier nicht beurteilt werden. Wolfgang Bernet selbst deutet dies ex post in seinem Beitrag "Verwaltungsrecht" in der von Uwe-Jens Heuer herausgegebenen Sammlung "Die Rechtsordnung der DDR" an, wenn er zur Entwicklung der Verwaltungsrechtswissenschaft in der DDR feststellt: "In der verwaltungsrechtlichen Literatur der DDR, konzentriert ausgewiesen in den letzten zwei Jahrzehnten in den Zeitschriften "Staat und Recht" und "Neue Justiz" fand jedoch teilweise eine recht förderliche Theoriebildung statt, deren positive Züge stets die praktische Veränderung des Verwaltungsrechts (materiell, verfahrensrechtlich, prozessual) anzielten. Diese Bestrebungen sind m. E. in der BRD wenig zur Kenntnis genommen worden. Dazu mag beigetragen haben, daß neuartiges Gedankengut häufig (auch) in metaphorischen Formulierungen untergebracht werden mußte, damit es eine Chance hatte, gedruckt zu werden. Für Insider der DDR-Verwaltungsrechtswissenschaft, ob innerhalb oder außerhalb des Landes, war das Gedruckte trotzdem aussagefähig." (a. a. 0., S. 396). An anderer Stelle bemerkt er "Wer den Mut und die Kraft zum so nützlichen Querdenken für diese Gesellschaft hatte, der mußte häufig, um seine Ansichten überhaupt publizieren zu dürfen, seine Feder zum Korkenzieher mit vielen Windungen denaturieren." (Rechtsstaatlichkeit - wesentliche Existenzform der DDR-Staatsverwaltung, in: Staat und Recht 1990, S. 105-113 [105]). 60 Inga Markovits, Die Abwicklung: Ein Tagebuch zum Ende der DDR-Justiz (1993), S. 236 ff. 61 earl Hermann Ule, Gesetzlichkeit in der Verwaltung der DDR, Deutsches Verwaltungsblatt 1985, S. 1029-1041 (1039). 26 Hoeck

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3. Teil: Renaissance des Verwaltungsrechts

Dritter Abschnitt

Das Gesetz über die Zuständigkeit und das Verfahren der Gerichte zur Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen vom 14.12.1988 (GNV)l Mit der Verabschiedung des Gesetzes über die Zuständigkeit und das Verfahren der Gerichte zur Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen (GNV) am 14.12.1988 schloß sich der Kreis im Hinblick auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Mit diesem Schritt entschloß sich die Volkskammer, erneut den Anschluß an die seit 1952 verlassene deutsche verwaltungsgerichtliche Tradition zu suchen und das Eingabenwesen in seinen subsidiären Rang zurückzuverweisen. Der als "eine der wichtigsten deutschen Rechtsreformen dieses Jahrzehnts" begrüßte Gesetzgebungsakt wurde gerade im Westen mit weitgehenden politischen Hoffnungen verbunden? Die Gründe, welche im Frühjahr und Sommer 1988 dazu führten, in überstürzender Eile einen Gesetzentwurf über die gerichtliche Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen auszuarbeiten, blieben zunächst unklar. In der offiziellen Gesetzesbegründung wurden allgemeine innenpolitische Motive genannt, wie die Erhöhung der Rechtssicherheit der Bürger, die weitere Ausgestaltung des Rechtsstaates oder die Qualifizierung der Arbeit der Verwaltungsorgane. Ausschlaggebend für diesen Schritt dürfte jedoch gewesen sein, daß die DDR im Jahre 1988 das einzige "sozialistische" Land war, in dem sich hinsichtlich des Verwaltungsrechtsschutzes keinerlei Veränderungen vollzogen hatten und damit auch insgesamt die internationale Glaubwürdigkeit im Hinblick auf die reale Menschenrechtssicherung ins Wanken geriet. 3

GBl. I 1988, S. 327. Vgl. Herwig Roggemann, Gerichtlicher Verwaltungsrechtsschutz in der DDR Ein Schritt in Richtung Perestrojka?, Juristen-Zeitung 1989, S. 579-582 (579): "Diese Regelung (... ), erscheint für den rechtsvergleichenden Betrachter aus der Bundesrepublik aus mehreren Gründen bemerkenswert: als - weiteres - Indiz dafür, daß sich auch die DDR auf den langen Marsch der Perestrojka begeben hat; als Anknüpfung an jahrzehntelang verschüttete Entwicklungen eines gerichtlichen Verwaltungsrechtsschutzes in der DDR; als Aufgabenzuwachs für die Rechtsanwälte (§ 4 Ans. 2 GVGV); nicht zuletzt berührt (und verbessert) das GVGV die RechtsteIlung zahlreicher Bundesbürger, die Grundstücke oder Beteiligungsrechte in der DDR besitzen." (Statt "GVGV" hat sich allgemein die Abkürzung "GNV" für das "Gesetz über die Zuständigkeit und das Verfahren der Gerichte zur Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen" eingebürgert.) 3 Roggemann, ebenda. 1

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I. Entstehungshintergrund 1. Rechtsvergleichende Impulse

Die meisten anderen sozialistischen Staaten hatten geringere Berührungsängste mit der Institution der Verwaltungs gerichtsbarkeit, als dies in der DDR aufgrund der spezifischen historischen Situation der Fall war. Zu Beginn der achtziger Jahre wurde in den meisten sozialistischen Staaten - einschließlich der UdSSR - eine gerichtliche Kontrolle der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung ausdrücklich als mit den Grundlagen des sozialistischen Systems vereinbar angesehen. 4 Als erste Volksdemokratie5 hatte Rumänien in bahnbrechender Weise die GeneralklauseI bezüglich der gerichtlichen Nachprüfung von Verwaltungsakten eingeführt. Das "Gesetz betreffend die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte zur Verhandlung und Entscheidung über Klagen der durch rechtswidrige Verwaltungsakte in ihren Rechten Verletzten" vom 26.7.1967 gewährte jedem durch einen gesetzeswidrigen individuellen Verwaltungsakt in seinen subjektiven Rechten verletzten Bürger die Möglichkeit, Klage beim Gericht zu erheben. 6 Alle individuellen Verwaltungsakte der örtlichen und zentralen Verwaltungsorgane einschließlich der Ministerien waren nach dieser Vorschrift anfechtbar. Dem Gerichtsverfahren vorgeschaltet war ein internes Überprüfungsverfahren durch "spezielle Rechtsprechungsorgane" (Kommissionen), die innerhalb der Verwaltung bestanden und jeweils für bestimmte Fachgebiete (z. B. Renten, Sozialversicherung oder Erfindungen) zuständig waren? Die in einem gerichtsförrnigen Verfahren ergangene Entscheidung des aus Staatsfunktionären und Richtern zusammengesetzten Gremiums war ihrerseits gerichtlich überprütbar. 8 Beruhte der Verwaltungsakt auf einem von der Exekutive er4 Vgl. hierzu grundlegend Klaus-Jürgen Kuss. Gerichtliche Verwaltungskontrolle in Osteuropa, sowie Lothar Schultz. Die gerichtliche Kontrolle von Verwaltungsakten in den sozialistischen Staaten, in: Recht in Ost und West 1974, S. 241-248, Siegfried Lammich. Die gerichtliche Kontrolle der Verwaltung in den sozialistischen Verfassungssystemen, in: Verwaltungs-Archiv 1973, S. 246-259. 5 Dagegen war es der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien aufgrund der dort frühzeitiger vollzogenen Abkehr vom Stalinismus bereits 1952 gelungen, ein "Gesetz über Verwaltungsstreitigkeiten" zu erlassen, welches dem Bürger zum Schutz seiner Rechte ermöglichte, auf der Grundlage einer durch Ausnahmen eingeschränkten Generalklausei gegen Akte vorzugehen, "die von einem Staatsorgan oder von einer Arbeits- oder sonstigen Organisation in Erfüllung ihrer öffentlichen Befugnisse erlassen wurde(n) und über ein Recht oder eine Pflicht einer bestimmten Person oder einer bestimmten Organisation in einer Verwaltungssache entscheide(n)", vgl. Kuss, wie Anm. 4, S. 388 f.; Lammich. wie Anm. 4, S. 252 f. 6 Schultz. wie Anm. 4, S. 244. 7 Schultz, ebenda. S Schultz, ebenda. 26*

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lassenen Nonnativakt, so war das Gericht zur Inzidentkontrolle berechtigt und konnte der Verwaltungsstelle gegebenenfalls die Aufhebung oder Abänderung binnen einer bestimmten Frist aufgeben. 9 Von der Überprüfung kategorisch ausgenommen waren allein Anliegen der Staatssicherheit sowie Maßnahmen der Planwirtschaft und der Notstandsbekämpfung. lO Vom rumänischen Beispiel inspiriert wurde das bulgarische "Gesetz über das Verwaltungsverfahren" vom 27.6.1970, welches - aus insgesamt 75 Artikeln bestehend - in einem ersten Teil den Verwaltungsprozeß innerhalb der Verwaltungsorgane und in einem zweiten Teil das Verfahren vor den Gerichten regelte. 11 Mit dem Gesetz wurde der zuvor bestehende Rechtszustand revidiert, der eine gerichtliche Kontrolle von Verwaltungsakten nur in den in speziellen Gesetzen ausdrücklich festgelegten Fällen (z.B. Eintragung in die Wählerlisten und in das Standesregister, Wohnungszuteilungen) erlaubte. Wie in Rumänien verfügten die bulgarischen Gerichte zwar über die Kompetenz, den angefochtenen Verwaltungsakt (ganz oder teilweise) aufzuheben, durften ihn jedoch nicht abändern, da dies nach dortiger Rechtsauffassung als unzulässige Einmischung der Gerichte in die Staatsverwaltung aufgefaßt wurde. 12 Eine Vorreiterrolle im Hinblick auf die Schaffung einer selbständigen Verwaltungsgerichtsbarkeit nahm Polen ein. Während in der DDR noch diskutiert wurde, ob das Verwaltungsrecht als eigenständiger Rechtszweig überhaupt ein Daseinsberechtigung habe, wandten sich polnische Juristen bereits ganz der Frage der konkreten Ausgestaltung der gerichtlichen Kontrolle von Verwaltungsentscheidungen zu. 13 In jahrelanger Forschungsarbeit hatten polnische Juristen die Grundlagen für die Einrichtung einer eigenständigen Verwaltungsgerichtsbarkeit geschaffen. 14 Dies geschah in einer Zeit, in welcher der Erfolg der politischen Demokratiebewegung noch keineswegs absehbar war, so daß die Ergebnisse als Beleg für die Vereinbarkeit der Verwaltungs gerichtsbarkeit mit den marxistisch-leninistischen Grundlagen gelten können. Die Wiedereinführung 15 der VerwaltungsgeSchultz. wie Anm. 4, S. 245. Schultz. ebenda. 11 Schultz. wie Anm. 4, S. 246. 12 Schultz. wie Anm. 4, S. 245 f. 13 Vgl. Janusz Letowski. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Polen, Recht in Ost und West 1981, S. 241-246 (241). 14 Unter anderem im Wege der West-Rechtsvergleichung, vgl. W. Brzezinski. Die Verwaltungs gerichtsbarkeit in Frankreich (1960) sowie L. Bar. Die gerichtliche Kontrolle der Verwaltungsgerichtsbarkeit in England (1962). 15 Die in Polen aufgrund der liberal-demokratischen Verfassung vom 17. März 1921 errichtete Verwaltungsgerichtsbarkeit war bis zum Zweiten Weltkrieg hoch entwickelt, vgl. Kuss. wie Anm. 4, S. 76-97 (78). 9

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richtsbarkeit in Polen wurde sehr sorgfältig und mit großem Aufwand vorbereitet. 16 So wurden über einen Zeitraum von dreizehn Jahren sechs Bände einer Sammlung veröffentlicht, welche die wichtigsten Entscheidungen der Zivil- und Strafkammern des Obersten Gerichts und der Zentralen Schiedskommission zu Fragen der öffentlichen Verwaltung enthielten. 17 Flankiert wurde die Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit von einer grundlegenden Änderung der gesetzlichen Vorschriften über das Verwaltungsverfahren sowie von zahlreichen Änderungen und Ergänzungen des materiellen Verwaltungsrechts. 18 Fonnal vollzog sich die Wiedererrichtung der Verwaltungsgerichtsbarkeit auf der Grundlage einer Ergänzung des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VVG) zusammen mit zahlreichen Änderungen und entscheidenden Ergänzungen des materiellen Verwaltungsrechts. 19 Inhaltlich demonstrierte die Änderung des Verwaltungsverfahrensrechts somit eindrucksvoll die Vereinbarkeit einer selbständigen Verwaltungsgerichtsbarkeit mit einem an marxistischen Prinzipien orientierten Staatsaufbau. Seit Anfang September 1980 entschied in Polen der Verwaltungsgerichtshof (VGH) mit Sitz in Warschau über Klagen gegen die Entscheidungen der Verwaltungsbehörden. Über den VGH führte das Oberste Gericht die Aufsicht, dessen Zivilkammer zu diesem Zweck in eine Zivil- und Verwaltungskammer umgewandelt wurde. Präsident und Vizepräsidenten wurden aus dem Kreis der Verwaltungsrichter auf Vorschlag des Ministerpräsidenten durch den Staatsrat ernannt. Die Kandidaten mussten ein abgeschlossenes juristisches Studium nachweisen können und bereits zehn Jahre als Richter, Staatsanwalt oder in der Verwaltung gearbeitet haben. Bezüglich der Rechtswegeröffnung entschloß sich der Gesetzgeber für das Enumerationsprinzip, welches in diesem Fall jedoch eine Vielzahl von Rechtsmate16 So prognostizierte Janusz Letowski, Rechtsprofessor am Institut für Staat und Recht der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau, in seinem 1981 veröffentlichten Artikel in der (westdeutschen) Zeitschrift "Recht in Ost und West" (wie Anmerkung 13, S. 241) nicht ohne Stolz: "Mit einem Wort, zukünftige Rechtshistoriker werden die letzten zehn Jahre der polnischen Verwaltungsentwicklung als eine Periode großer Anstrengungen kennzeichnen, um das modeme Polen mit einer effizienten und gut organisierten Verwaltung auszustatten, deren grundlegende Aufgaben darin bestehen, Staat und Gesellschaft weiterzuentwickeln und die Interessen der Bürger bei der Achtung der Gesetzlichkeit zu schützen." Der Autor berichtete von einem langwierigen Prozeß, der Fehlentscheidungen und deren Korrektur einschloß. 17 Letowski, wie Anm. 13, S. 241. 18 Letowski, ebenda. 19 "Gesetz vom 31. Januar 1980 über den Verwaltungsgerichtshof und die Änderung des Verwaltungsverfahrensgesetzes". Klagen gegen Entscheidungen der Verwaltungsbehörden waren in Kapitel VI des VVG, die auf Art. 56 Abs. I beruhende Rechtsstellung des VGH in einem separaten, zehn Artikel unfassenden Gesetz (VGH-Gesetz) geregelt.

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rien erfaßte. 20 Nach erfolgloser Durchführung des verwaltungsinternen Vorverfahrens konnte der Betroffene mit der Behauptung, durch die Verwaltungsentscheidung in seinen Rechten verletzt worden zu sein, Klage erheben. Gleichermaßen stand ihm die Untätigkeitsklage zu Gebote, sofern die Verwaltung innerhalb gesetzlich festgelegter Fristen keine Entscheidung getroffen hatte. Hinsichtlich des Verfahrens galten die in Teilen modifizierten Vorschriften der Zivilprozeßordnung über das Revisionsverfahren. Das von drei Berufsrichtern gefallte Urteil war letztinstanzlich und konnte nur mit dem außerordentlichen Rechtsbehelf der Kassation angegriffen werden?l Im Falle der Begründetheit der Klage konnte der VGH dagegen die Verwaltungsentscheidung ganz oder teilweise aufheben oder die Nichtigkeit oder Rechtswidrigkeit der angefochtenen Entscheidung feststellen. Stellte der VGH die Rechtmäßigkeit der Verwaltungsentscheidung fest, so wies er die Klage ab. Die Wiederaufrichtung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Polen führte folgende Aspekte vor Augen, welche auch für die Rechtsentwicklung in der DDR relevant waren: 1. Die Entwicklung des sozialistischen Staats hin zu einer modernen Industriegesellschaft war mit strukturellen Veränderungen in den staatlichen Leitungsprozessen verbunden, die im Ergebnis eine Verlagerung zentraler Entscheidungen von den Volksvertretungen hin zu Organen der Exekutive bewirkten. Verwaltungsgerichtliche Kontrolle wirkte vor diesem Hintergrund systemstabilisierend?2 20 Hierzu zählten insbesondere: Baurecht, Preisrecht und Gebühren auf öffentlichen Straßen und Wegen, Handwerk, Handel und Gewerbe, Personenstand, Vermessungswesen, Kartographie, Kommunalverwaltung und Wohnungswesen, Liegenschaftswesen, Territorialplanung, Brennstoff- und Energiewirtschaft, Bergbau, Steuern und Zölle, Grundstücksverkehr, Umweltschutz, Erziehung, Schulwesen, Kultur und Künste, Land- und Forstwirtschaft, Berufs- und Gewerbeerlaubnisse, Enteignungen, Arbeits- und Sozialangelegenheiten, Gesundheit und Sozialversicherung, Sport usw. 2l Letowski, wie Anm. 13, S. 243. 22 In diesem Sinne bemerkte Letowski (S. 245): "Es ist zu erwarten, daß in Zukunft die Reichweite zentraler, richtungsweisender Entscheidungen sich nicht nur nicht verringert, sondern im Gegenteil und insbesondere im Bereich der wirtschaftlichen Entwicklung ansteigt. Dies gilt übrigens für alle Staaten der Erde, nicht nur die sozialistischen, sondern auch die hochentwickelten kapitalistischen Länder. Die Machtansammlung bei der Exekutive ist im Bereich der Entwicklungsplanung evident. (... ) Zur gleichen Zeit versuchen zwar auch die Volksvertretungen wirksame Kontrollmechanismen zu entwickeln - durchaus mit Erfolg; dennoch liegt der Schwerpunkt der Aufgaben, Ermächtigungen und Verantwortlichkeiten hier nahezu ausschließlich bei der Zentral verwaltung (... ). Die Gesellschaft erwartet radikale, vielleicht sogar revolutionäre Maßnahmen sowohl auf der Ebene des gesamten Lan-

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2. In Anbetracht der veränderten ökonomischen Verhältnisse konnte die gerichtliche Kontrolle der Verwaltungstätigkeit die Einbeziehung der Bevölkerung besser gewährleisten als das Eingabenwesen. Die Verwaltungs gerichtsbarkeit mußte nicht im Widerspruch zu den marxistisch-leninistischen Grundlagen des Staates stehen, sondern konnte sie sogar stützen. 23 3. Das polnische Beispiel verdeutlichte, daß die Etablierung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit nur auf der Basis eines rechtsstaatlichen Ansprüchen genügenden Verwaltungsverfahrensgesetzes zur Erhöhung der Rechtssicherheit der Bürger beiträgt. 24

Vor allem aber demonstrierte das polnische Beispiel, daß die Vorbereitung eines Schritts von so hoher rechtspolitischer Bedeutung, wie ihn die Wiedereinführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit darstellte, eine umfassende und ergebnisoffen geführte wissenschaftliche Diskussion voraussetzte. Das Bedürfnis, an den Erfahrungen der polnischen Rechtswissenschaftler auf dem Gebiet verwaltungsrechtlicher Kontrolle zu partizipieren, scheint indes nicht besonders ausgeprägt gewesen zu sein. Während Forschungsergebnisse polnischer Verwaltungsrechtler in der offiziellen rechtswissenschaftlichen Literatur der DDR bisher angemessene Beachtung fanden 25 , scheint der Schlußstein, den die Polen in ihrem "Kampf um ein geschlossenes und den modemen Anforderungen entsprechendes Rechtsdes als auch auf regionalem Gebiete, um Veränderungen zu erzwingen. Wenn es geeignete Informationskanäle und wirksame Kontrollmöglichkeiten gegeben hätte, wäre es jedenfalls nicht so weit wie jetzt gekommen." 23 Zumindest scheint diese Ansicht die polnische Staatsführung letztlich motiviert zu haben, der Forderung nach gerichtlicher Kontrolle zuzustimmen: "Ausschlaggebend dürfte die Einsicht gewesen sein, daß die angesichts der wachsenden ökonomischen Probleme dringender als je zuvor benötigte positive und aktive Einstellung der Bürger zu Staat und Gesellschaft nur durch eine zufriedenstellende Erledigung ihrer individuellen Angelegenheiten herbeigeführt werden kann, was wiederum die Einschaltung außerhalb der Verwaltung stehender Entscheidungsträger erforderlich macht." (Kuss, wie Anm. 4, S. 293 f.). 24 Letowski merkte hierzu an, "daß die bestkonzipierte Kontrolle über die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns nur dann einen gesellschaftlichen Wert hat, wenn sie eine rationale Rechtssetzung garantiert, die den tatsächlichen Vorstellungen der Gesellschaft entspricht. Wenn das Recht bürokratisch und voluntaristisch geschaffen wird, werden auch die Kontrolleinrichtungen und darin eingeschlossen die Verwaltungsgerichte schon nach den Grundregeln der Logik auch bürokratisch und voluntaristisch entscheiden. (... ) Das Gesetz kann allerdings die Tätigkeit der Verwaltung auch auf unterschiedliche Art und Weise regeln, so wenn der Zuständigkeitsbereich von Staatsorganen nur in allgemeiner Form bestimmt und ihnen so erhebliche, wenn nicht sogar totale Handlungsfreiheit belassen wird. Es ist klar, daß eine dann nur auf formelle Fragen beschränkte Verwaltungskontrolle im Grund ohnmächtig bleiben muß." (a.a.O., Anm. 13, S. 245). 25 Vgl. etwa die detaillierte und wohlwollende Rezension der "Institutionen des Verwaltungsrechts sozialistischer Staaten" (I. Starosziak) von Hans-Ulrich Hochbaum, Staat und Recht 1973, S. 1376-1387.

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schutzsystem der Bürger gegen die Verwaltung" (Janusz Letowski) gesetzt hatten, in der zeitgenössischen Literatur geradezu totgeschwiegen worden zu sein. 26 Die in den siebziger Jahren geführte, stufenweise aufbauende Diskussion erfuhr hierdurch keinen Auftrieb, sondern schien im Gegenteil zunächst abzubrechen. Auf internationalen Tagungen sozialistischer Rechtswissenschaftler wurde deutlich, daß sich die Rechtsentwicklung in den sozialistischen "Bruderstaaten" in einem zunehmend unterschiedlichen Tempo vollzog. In den sich in immer kürzeren Abständen vollziehenden Konsultationen zwischen Verwaltungsrechtlern der DDR und der UdSSR spielte die Frage der Verwaltungsgerichtsbarkeit keine dominierende Rolle. 27 Auf einer im Jahre 1981 in der Volksrepublik Polen veranstalteten Konferenz, die dem Austausch von Ansichten und Erfahrungen über die gerichtliche Verwaltungskontrolle diente, konnten allein die Vertreter der DDR keinen Sachbeitrag leisten. 28 Noch im November 1983 verbat das ZK der SED ein in Jena geplantes Symposium über "Gesetzlichkeit und Rechtsschutz in der Verwaltung".29 Die mangelnde Bereitschaft, sich mit den Ergebnissen der polnischen rechts wissenschaftlichen Forschung auseinanderzusetzen, scheint politisch motiviert gewesen zu sein. Sie ist insbesondere vor dem Hintergrund der Erfolge der polnischen Demokratiebewegung im Sommer 1980 zu sehen. Die Furcht vor deren Übergreifen beeinflußte alle Maßnahmen der DDR26 Allenfalls verhaltene Hinweise bei Wolfgang Bemet, Staat und Recht 1981, S. 733 f.; Heidrun Pohl und Gerhard Schulze, Staat und Recht 1981, S. 408; Willi Büchner-Uhder, Staat und Recht 1984, S. 586. 27 Vgl. Heidrun Pohl und Gerhard Schulze, Verwaltungsrecht der DDR in enger Wissenschaftskooperation mit der UdSSR - Ein Jahrzehnt Rundtischgespräche zwischen Verwaltungsrechtswissenschaftlern der UdSSR und der DDR, Staat und Recht 1984, S. 537-543. Danach fanden die "Rundtischgespräche" zwischen Juli 1974 und März 1977 lediglich dreimal, zwischen Mai 1978 und September 1984 dagegen neunmal statt. Inhaltlich konzentrierten sich die abwechselnd in Moskau und Babelsberg stattfindenden Gespräche nach wie vor auf Fragen der Leitungsorganisation und des Verwaltungsverfahrensrechts und klammerten Fragen des Verwaltungsrechtsschutzes offenbar vollständig aus: "Probleme der Funktion von Entscheidungen der Organe des Staatsapparates und des Verfahrens ihrer Vorbereitung" (Mai 1980), "Der Inhalt der zweiglichen und territorialen Leitung in der DDR und der UdSSR" (Oktober 1981), "Die Rolle des Verwaltungsrechts bei der Erhöhung der Effektivität der Arbeit des Staatsapparates" (September 1982) und "Kompetenzfragen der Organe des Staatsapparates als Ausdruck ihrer rechtlichen Möglichkeiten, die ihnen übertragenen Aufgaben mit Sachkunde und hoher Wirksamkeit zu lösen" (Juni 1983). 28 Herwig Roggemann, Rechtsschutzprobleme und Eingabenwesen in der DDR, Recht in Ost und West, 1984, S. 253 bis 261 (260) mit Nachweis des in polnischer Sprache verfaßten Tagungsberichts. 29 Vgl. hierzu die Ausführungen im zweiten Abschnitt dieses Teils unter Ziffer III. 3.

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Führung. 3o Der Führungsriege der SED galt die Lage im Herbst 1980 in Polen als "schlimmer als 1968 in der CSSR"?! Folgerichtig befaßte sich die Partei führung nahezu ununterbrochen mit der Entwicklung der Ereignisse in Polen, wobei bis zu Verhängung des Kriegsrechts im Dezember 1981 selbst ein militärisches Eingreifen, wie 1968 in der CSSR, nicht ausgeschlossen schien. 32 Die politische Entwicklung in der Volksrepublik mag daher auch die Einschätzung der beschriebenen Rechtsentwicklungen beeinflußt haben, welche vom dogmatischen Marxismus-Leninismus zumindest nicht vorgezeichnet waren. Da das zunehmend offensichtlicher werdende Entwicklungsdefizit auf dem Gebiet der gerichtlichen Kontrolle von Verwaltungshandeln jedoch der internationalen Reputation der DDR abträglich war, gab das Ministerium der Justiz bei der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR eine interne Studie zu "Möglichkeiten und Grenzen der Inanspruchnahme der Gerichte bei rechtswidrigen Entscheidungen von Organen des Staatsapparates gegenüber Bürgern" in Auftrag, die unter der Leitung von Gerhard Schulze ausgearbeitet wurde. 33 Schulze hatte bereits am "Allgemeinen Teil" des ersten Verwaltungsrechtslehrbuchs der DDR von 1957 mitgearbeitet und war Leiter der Redaktionskommission des Verwaltungsrechtslehrbuchs von 1979?4 Da das Lehrbuch von 1979 sich in keiner Weise zur Möglichkeit verwaltungsgerichtlicher Kontrolle äußerte, kann die Studie als offizielle Stellungnahme zur im Lehrbuch vermiedenen Frage nach der Verwaltungsgerichtsbarkeit und Richtschnur für die wissenschaftliche Diskussion aufgefaßt werden. In diesem Sinne reflektierte die interne Studie der Akademie die konservative und erstarrte Haltung der Staatsführung in der Frage der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Euphemistisch wurde nicht von deren Fehlen, sondern von der "geringen Zahl" gerichtlicher Kontrollmöglichkeiten 35 gesprochen, welche die rechts staatliche Reputation des Staates belasteten: Hermann Weber, Geschichte der DDR, S. 311. Hermann Weber, wie vorangehende Anmerkung; Michael Kubina und Manfred Wilke, Hart und kompromisslos durchgreifen - Die SED contra Polen 1980/81 Geheimakten der SED-Führung über die Unterdrückung der polnischen Demokratiebewegung, S. 341. 32 Vgl. Weber (wie Anm. 30). 33 Studie: "Möglichkeiten und Grenzen der Inanspruchnahme der Gerichte bei rechtswidrigen Entscheidungen von Organe des Staatsapparates gegenüber Bürgern" vom 30. Januar 1980, ausgearbeitet von Sighart Lörler (Leiter des Lehrstuhls Wirtschaftsrecht), Günther Duckwitz und Heidrun Pohl (beide Lehrstuhl Verwaitungsrecht) unter Leitung von Gerhard Schulze (1. Prorektor der Akademie für Staatsund Rechtswissenschaft der DDR), BArch DP 1 (SE) Nr. 2057. 34 Im Jahre 1984 kündigte Schulze das Erscheinen einer zweiten Auflage des Lehrbuchs an, für welche gegenwärtig die "theoretischen Grundlagen" geschaffen würden. Dies blieb jedoch aus. 30 31

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"Diese geringe Zahl der Möglichkeiten, in denen eine gerichtliche Kontrolle von Entscheidungen der Organe des Staatsapparates rechtlich vorgesehen ist, wird von Vertretern imperialistischer Staats- und Rechtswissenschaft und Massenmedien immer wieder zum Anlaß genommen, die sozialistische Staats- und Rechtsordnung der DDR wegen angeblich mangelnden Rechtsschutzes der Bürger zu verunglimpfen und sie in dieser Beziehung als rückständig im Vergleich zu anderen sozialistischen Ländern zu bezeichnen. ,,36

Ausgehend von den wenigen und in der Praxis irrelevanten Fällen, deuteten die Verfasser der Studie an, daß sie eine "Erweiterung" der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle prinzipiell für möglich und ideologisch zulässig hielten. Sie stellten fest, daß die Inanspruchnahme der Gerichte in den gesetzlich geregelten Fällen "praktisch kaum eine Rolle spielt" und daß der weitgehende Verzicht auf die Einbeziehung der Gerichte in die Klärung verwaltungsrechtlicher Streitfälle auch im Gegensatz zu den positiven Erfahrungen stehe, die bei der gerichtlichen Überpriifung von Entscheidungen der Organe des Staatsapparates auf dem Gebiet des Zivilrechts und des Arbeitsrechts gemacht worden seien. 37 Ausdriicklich vermerkte die Studie, 35 In der Tat wurden gemäß § 4 Absatz 1 GVG "vom Gegenstand der Rechtsprechung auch Verwaltungsrechtsangelegenheiten erfaßt", soweit dies durch Rechtsvorschriften bestimmt wurde. Verwaltungsrechtsentscheidungen konnten dann durch Klage oder Antrag und Einspruch beim Kreisgericht sowie durch Berufung beim Obersten Gericht der DDR überprüft werden. Dies war indes nur in den nachfolgenden, eher abseitigen Fällen vorgesehen: 1. Entscheidungen über die Berufung gegen die Entscheidung über die Nichtigkeit eines Patents durch die Spruchstelle für Nichtigkeitserklärungen des Amtes für Erfindungs- und Patentwesen waren gemäß § 38 Abs. 1 des Patentgesetzes der DDR vom 6. September 1950 dem Obersten Gericht zugewiesen, welches eine eigene Sachentscheidung zu treffen befugt war. 2. Über den Einspruch gegen die Streichung in der Wählerliste und gegen die Ablehnung der Eintragung in die Wählerliste zur Wahl der Volksvertretungen entschied gemäß § 23 GVG i. V.m. § 27 Abs. 3 des Wahlgesetzes der DDR vom 24. Juni 1976 das Kreisgericht. Das Gericht traf indes keine eigene Entscheidung in der Sache, sondern hob bei begründetem Widerspruch die Streichung oder Ablehnung der Eintragung auf und gab die verbindliche Weisung, den Bürger in die Wählerliste aufzunehmen. Die Entscheidung des Kreisgerichts war dabei endgültig. 3. Die Strafkammer des Kreisgerichts war gemäß § 23 GVG i. V. m. §§ 278-280 StPO befugt, die Rechtmäßigkeit einer polizeilichen Strafverfügung wegen einer Verfehlung zu überprüfen. Durch Urteil konnte das Kreisgericht eine eigene Entscheidung in der Sache treffen, also die Geldbuße bestätigen, ennäßigen oder den Adressaten freisprechen. 36 Studie, wie Anm. 33, S. 3. 37 Studie, wie Anm. 33, S. 4. Interne "Thesen zur Position des Ministeriums der Justiz zu Fragen der Erweiterung der gerichtlichen Zuständigkeit für die Überprüfung von Verwaltungsentscheidungen" der Abteilung Verwaltungsrecht vom 7. April 1988 (BArch DP 1 SE Nr. 2057) nannten hierzu auch Zahlen So kamen Klagen wegen Streichung in der Wählerliste oder Ablehnung der Aufnahme in die Wähler-

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daß die Gerichte der DDR "seit jeher" für die Entscheidung über Streitfälle zwischen Staatsorganen und Bürgern auf dem Gebiet des Zivilrechts und zwischen Staatsorganen und den Mitarbeitern des Staatsapparates auf dem Gebiet des Arbeitsrechtes zuständig gewesen seien. Mit dieser Argumentation sollte offensichtlich angedeutet werden, daß es im Hinblick auf die gerichtliche Kontrolle keinen Unterschied machen könne, in welcher Funktion der Staat dem Bürger gegenübertrete - ob als Vertragspartner, als Arbeitgeber oder aber als Verwaltungsbehörde. Im Ergebnis gelangten die Verfasser zu der Auffassung, daß einer gerichtlichen Kontrolle von Verwaltungsakten grundsätzlich nichts mehr im Wege stehe, allerdings mit der gewichtigen Einschränkung, daß Verwaltungsakte, welche auf einer Ermessensbetätigung beruhten, weiterhin ausgenommen sein müßten: "Ausgehend von der Funktion des Gerichts als einem speziellen Organ zur Durchsetzung der sozialistischen Gesetzlichkeit kommen für eine Erweiterung der gerichtlichen Zuständigkeit für Verwaltungsstreitigkeiten zwischen Organen des Staatsapparates und Bürgern nur solche Fälle in Betracht, bei denen in Gesetzen oder anderen Rechtsvorschriften exakte Anspruchsgrundlagen formuliert sind, nach denen dem Bürger bei Vorliegen der rechtlich geregelten Voraussetzungen eindeutig ein bestimmter Anspruch zusteht. Das ist beispielsweise bei Ansprüchen nach dem Staatshaftungsgesetz der Fall, in dem ausdrücklich geregelt ist, daß der Umfang des Anspruches sich nach den Vorschriften des Zivilrechtes bestimmt. Bei der Anwendung der zivilrechtlichen Vorschriften verfügen die Gerichte über weitaus größere Erfahrungen als jedes andere Staatsorgan. Ähnlich verhält es sich bei der Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der von einem Staatsorgan ausgesprochenen Ordnungsstrafe. Hier haben die Gerichte auf Grund ihrer Erfahrungen bei der Verurteilung von Straftätern ebenfalls bessere Voraussetzungen, um eine der Gesetzlichkeit voll entsprechende Entscheidung treffen zu können. Für eine gerichtliche Zuständigkeit in Verwaltungssachen gut geeignet sind des weiteren alle Fälle, in denen staatliche Genehmigungen bei Vorliegen exakt geregelter Voraussetzungen zwingend erteilt werden müssen oder entzogen werden dürfen. Dagegen sind alle Fälle für eine gerichtliche Zuständigkeit in Verwaltungssachen nicht geeignet, in denen die Zuerkennung eines Anspruches nicht an zwingend vorgeschriebene Kriterien gebunden ist, sondern im Ermessen des zuständigen Staatsorgans liegt. Das betrifft beispielsweise Anträge auf Zuweisung einer Wohnung, eines Kindergarten- oder Feierabendheimplatzes, die Erteilung von Gewerbegenehmigungen u. a. m. ,,38

liste je Wahl jeweils 4 bis 5 mal vor, während es im Jahre 1987 keinen einzigen Fall eines Einspruches gegen polizeiliche Strafverfügungen gegeben hat. Faktisch handelte es sich also keineswegs um eine "Erweiterung" des gerichtlichen Rechtsschutzes, wie es die offizielle Sprachregelung glauben machen wollte, sondern um dessen erstmalige Einführung. 38 Studie, ebenda.

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3. Teil: Renaissance des Verwaltungsrechts

2. Außenpolitische Zwänge Nach dieser zögerlichen Relativierung der prinzipiellen Ablehnung gerichtlichen Verwaltungsrechtsschutzes zu Beginn der achtziger Jahre scheint die Auseinandersetzung mit dieser Frage auf der politischen Ebene zunächst zum Erliegen gekommen zu sein. Für den Zeitraum zwischen 1981 und 1988 findet sich weder im Archivmaterial des DDR-Justizministerium, noch in dem anderer Leitungsorgane ein Hinweis auf die Befassung mit dieser Materie. Forciert wurde die Einführung gerichtlichen Verwaltungsrechtsschutzes erst, als die DDR wegen der Verletzung multilateral begründeter Rechtsschutzpflichten an den Pranger der Weltöffentlichkeit gestellt wurde. Vor allem im Rahmen der KSZE-Folgekonferenz entwickelte sich hier eine Dynamik, welche der SED-Führung keine andere Wahl ließ, als eine "Gesetzgebungskommission zum gerichtlichen Verfahren in Verwaltungsangelegenheiten und den sich daraus ergebenden Aufgaben für die Gerichtsorganisation" einzuberufen, welche sich am 23. Juni 1988 zu ihrer konstituierenden Sitzung im Ministerium der Justiz zusammenfand?9 Bereits in der internationalen Konvention über zivile und politische Rechte war die FestIegung enthalten, daß sich die Staaten verpflichten, "die Möglichkeiten des gerichtlichen Rechtsschutzes zu entwickeln,,4o. Unter merklichen Zugzwang gesetzt wurde die DDR indes erst auf dem KSZENachfolgetreffen in Wien. Österreich als hatte als Koordinator für den Abschnitt Prinzipien in der Redaktionsarbeit der KSZE-Folgekonferenz den Vorschlag unterbreitet, im Abschlußdokument des Treffens rechtliche Verfahren bei Verletzungen der Menschenrechte und Grundfreiheiten festzuschreiben. Diesem Vorschlag zufolge sollten die Teilnehmerstaaten "gewährleisten, daß jenen wirksame Mittel und Informationen zur Verfügung stehen, die behaupten, daß ihre Menschenrechte und Grundfreiheiten verletzt worden sind; sie werden unter anderem die folgenden Mittel wirksam anwenden: - das Recht des Individuums, bei staatlichen, gesetzgebenden, Justiz- oder administrativen Organen Einspruch zu erheben; - das Recht auf eine gerechte und öffentliche Anhörung vor einem unabhängigen Gericht binnen einer angemessenen Zeit, einschließlich des Rechts, recht39 "Protokoll über die konstituierende Sitzung der Gesetzgebungskommission zum gerichtlichen Verfahren in Verwaltungsangelegenheiten und den sich daraus ergebenden Aufgaben für die Gesetzgebung und die Gerichtsorganisation am 23.06.1988 im Ministerium der Justiz" vom 24. Juni 1988, in: Abteilung Öffentliches Recht (1988-1989), Vorbereitung und Erweiterung sowie Entwürfe zur Gerichtlichen Nachprüfung (GNV), BArch DP 1 (SE) Nr. 2057. 40 So zumindest die allein verbindlichen Originaltexte der Konvention, u. a. in englisch und russisch. Die sich zur Umsetzung offenbar außerstande sehende DDR behalf sich zunächst dadurch, im Rahmen der Übersetzung auf das Wort "gerichtlich" zu verzichten, was ihr einigen Spott von westlicher Seite einbrachte.

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liehe Gründe vorzubringen und von einem Rechtsberater eigener Wahl vertreten zu werden; - das Recht, umgehend über die Ergebnisse eines jeden Einspruchs gegen eine administrative oder juristische Entscheidung, einschließlich der rechtlichen Gründe, auf deren Grundlage die Entscheidung getroffen wurde, in schriftlicher Form informiert zu werden.,,41

Prekär wurde die Situation insbesondere durch die Tatsache, daß - mit Ausnahme der DDR - alle anderen sozialistischen Staaten erklärt hatten, sie würden der Aufnahme rechtlicher Verfahren bei der Inanspruchnahme von Menschenrechten und Grundfreiheiten in das Abschlußdokument zustimmen. Dabei verwiesen sie auf die in ihren Ländern bereits geltenden gesetzlichen Regelungen, die es ihren Bürgern erlaubten, sich gegen staatliche Entscheidungen in der geforderten Weise zur Wehr zu setzen. Die sowjetische Seite hatte allein gegen die Forderung Einwände erhoben, daß die Bürger über alle getroffenen Entscheidungen schriftlich zu informieren seien, die DDR jedoch intern davon unterrichtet, daß sie schließlich auch diesem Textteil zustimmen werde. 42 Dagegen blieben alle Versuche der DDR, die Sowjetunion und die anderen "Bruderstaaten" zu veranlassen, die Festlegungen zum gerichtlichen Verwaltungsrechtsschutz in toto abzulehnen, "ohne Wirkung".43 Die Delegationen der anderen sozialistischen Staaten begründeten ihre bejahenden Haltung auch damit, daß die sozialistischen Länder, darunter auch die DDR, bereits mit dem Beitritt zur "Internationalen Konvention über zivile und politische Rechte" vom 16.12.1966 rechtlich verbindliche Verpflichtungen eingegangen seien. Sie verwiesen dabei insbesondere auf den Artikel 2 Absatz 3 dieser Konvention, in dem es u.a. hieß: "Die Teilnehmerstaaten dieser Konvention verpflichten sich, zu gewährleisten, daß jeder Mensch, dessen hierin anerkannte Rechte und Freiheiten verletzt werden, wirksamen Rechtsschutz erhält, auch wenn die Verletzung von Personen begangen worden ist, die in amtlicher Eigenschaft gehandelt haben. ,,44

Über solchen Rechtsschutz sollte "durch zuständige Justiz-, Verwaltungs-, oder Gesetzgebungsorgane oder durch andere zuständige Behörden, die das Rechtssystem des Staates vorsieht, entschieden werden,,45. Ihre konsequente 41 "Information" der Abteilung Internationale Verbindungen des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten der DDR an das Politbüro des Zentralkomitees der SED. (Anlage 1 zur Vorlage betreffend die Ergänzung der Direktive für das Auftreten der DDR-Delegation in der Redaktionsarbeit des Wiener Folgetreffens der Teilnehmerstaaten der KSZE in der Frage rechtlicher Verfahren bei der Inanspruchnahme von Menschenrechten und Grundfreiheiten für die Sitzung des Politbüros am 10. Mai 1988; SAPMO BArch DY 30 J IV 2/2A/3120). 42 "Information ... ", wie vorangehende Anmerkung, S. 2. 43 "Information ... ", ebenda. 44 "Information ... ", ebenda.

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3. Teil: Renaissance des Verwaltungsrechts

Verweigerungshaltung hätte die DDR somit in zunehmendem Maße isoliert, wie auch die Information des Außenministeriums für das Politbüro ungeschönt darstellte: "Damit kann jederzeit der Fall eintreten, daß die DDR in einer Frage - noch vor dem für Mitte Mai angekündigten Einbringen des Entwurfes der neutralen und nichtpaktgebundenen Staaten für ein Gesamtdokument des Treffens - als einziger KSZE-Staat den Konsens verweigern müßte. Dies würde, da es sich um eine wesentliche Frage bei der Redaktion des Abschlußdokumentes handelt, zur Blockierung der Redaktionsarbeit in anderen Bereichen, insbesondere den Fragen der militärischen Entspannung und Abrüstung, wie auch zu Angriffen gegen die DDR führen. Im Zusammenhang mit der Zustimmung der DDR zu den vorgenannten Vorschlägen wären folgende Probleme zu beachten: - Die Rechtsvorschriften der DDR zum Reiseverkehr von Bürgern der DDR sehen Rechtsmittel nicht vor. Gegenwärtig besteht die Möglichkeit, gegen Entscheidungen der staatlichen Organe im Reiseverkehr vom Recht der Eingabe Gebrauch zu machen. - Bezüglich Übersiedlungen beinhaltet die Verordnung vom 15. September 1983 zur Regelung von Fragen der Familienzusammenführung und der Eheschließung zwischen Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik und Ausländern das Rechtsmittel der Beschwerde ausschließlich für den Personenkreis, der vom Geltungsbereich der Verordnung erfaßt wird. Das sind weniger als 5 % der Übersiedlungsersuchenden. Für alle anderen Übersiedlungsersuchenden ist das Rechtsmittel der Beschwerde nicht gegeben. Darüber hinaus ist in der Verfügung Nr. 143/83 des Vorsitzenden des Ministerrats festgelegt, daß Schreiben und Vorsprachen von Bürgern in Übersiedlungsangelegenheiten nicht als Eingaben im Sinne des Eingabengesetzes zu behandeln sind. - Die schriftliche Information der Bürger über die rechtlichen Gründe, auf deren Grundlage die Entscheidungen getroffen wurden, erfordert beim Reiseverkehr und bei Übersiedlungen, in den Rechtsvorschriften die Rechte der Bürger vor allem gleiche Rechte bezüglich der AntragsteIlung - weiter auszugestalten und bisherige interne Versagungsgründe aufzunehmen. In den bestehenden Festlegungen ist bisher nicht vorgesehen, ablehnende Entscheidungen schriftlich zu begründen. - Das Recht auf eine gerechte und öffentliche Anhörung vor einem unabhängigen Gericht binnen einer angemessenen Zeit ist in den Rechtsvorschriften der DDR bezüglich Fragen des Reiseverkehrs und der Übersiedlungen nicht vorgesehen.,,46 Aus dieser Bestandsaufnahme leitete das Außenministerium folgende Konsequenzen für die DDR ab: - die Einführung von Rechtsmitteln im Reiseverkehr und ihre Erweiterung bei Übersiedlungen in neuen Rechtsvorschriften einschließlich der vorzunehmenden Inforrnierung in mündlicher oder schriftlicher Form (Beschwerderecht); 45 46

"Information ... ", ebenda. "Information ... ", wie Anm. 41, S. 2-4.

3. Abschn.: Das Gesetz vom 14.12.1988 (GNV)

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- die Einführung der gerichtlichen Zuständigkeit für die Überprüfung von Verwaltungsentscheidungen in bestimmten Fällen und Prüfung der Einbeziehung von Fragen des Reiseverkehrs und der Übersiedlung unter Berücksichtigung staatlicher Interessen (gerichtliche Nachprüfbarkeit); - erhebliche zusätzliche Anforderungen für die personelle, materielle und finanzielle Sicherstellung in den Bezirken und Kreisen.,,47

Aus diesem Befund heraus entschloß sich das Politbüro auf seiner Sitzung am 10. Mai 1988 zunächst dazu, die Direktive für das Auftreten der DDR-Delegation dem österreichischen Vorschlag anzupassen. Um die somit eingegangenen Verpflichtung auch erfüllen zu können, wurde der Minister der Justiz Dr. Hans-Joachim Heusinger beauftragt, die notwendigen Beschlüsse und Maßnahmen zur Erweiterung der Möglichkeiten der Nachprüfung bestimmter Verwaltungsentscheidungen durch die Gerichte vorzubereiten. 48 Das Justizministerium sah sich seiner eigenen internen Einschätzung nach von den auf dem KSZE-Nachfolgetreffen erhobenen Forderungen in erheblichem Maße überfordert, insbesondere da sich das Problem der Gewährung von Verwaltungsrechtsschutz nicht losgelöst von der grundlegenden Frage der Verwirklichung der "Menschenrechte und Grundfreiheiten" betrachten lasse. 49 Auf internationalem Parkett kam die Staatsführung mit ihrer von jeher vertretenen Argumentation der durch demokratischen Zentralismus, soziale und ökonomische Garantien und mehr oder weniger rechtsförrnige Instrumente gesicherten "sozialistischen Gesetzlichkeit" nicht weiter. 50 Vielmehr wurde von ihr jetzt der Nachweis erwartet, daß sie Ihren Bürgern die Möglichkeit offenhielt, ihre verfassungsmäßig verbürgten Grundrechte im Konfliktfall auch gerichtsförmig gegen den Staat durchzusetzen. Insoweit war nunmehr ein objektiver Maßstab vorgegeben, an dem die Rechtsordnung der DDR auszurichten war, ohne daß hier Raum für 47 "Information ... ", ebenda. 48 Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 10.5.1988 (BArch DY 30/1 IV 2I2A/3118, S. 10). Anwesend waren die Politbüro-Mitglieder: Erich Honecker, Hermann Axen, Hans-Joachim Böhme, Werner Eberlein, Kurt Hager, Joachim Herrmann, Werner Jarowinsky, Günther Kleiber, Egon Krenz, Werner Krolikowski, Siegfried Lorenz, Erich Mielke, Günter Mittag, Erich Mückenberger, Alfred Neumann, Horst Sindermann, Willi Stoph, Harry Tisch. 49 "Bemerkungen zu Fragen, die im Zusammenhang mit dem Wiener KSZENachfolgetreffen aufgetreten sind", der Abteilung Verwaltungsrecht des Ministeriums der Justiz vom 7. April 1988, BArch DP 1 (SE) Nr. 2157. 50 Exemplarisch hieß es hierzu etwa in der obengenannten ASR-Studie zu "Möglichkeiten und Grenzen der Inanspruchnahme der Gerichte bei rechtswidrigen Entscheidungen von Organen des Staatsapparates gegenüber Bürgern" (Anm. 33): "Die Einhaltung der sozialistischen Gesetzlichkeit wird durch die politischen und ökonomischen Garantien der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung und ein umfassendes System rechtlicher Garantien gewährleistet."

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3. Teil: Renaissance des Verwaltungsrechts

eine eigene ideologische Interpretation gegeben war. Wie weitreichend die hieraus resultierenden Konsequenzen im justiz-, aber auch im allgemeinpolitischen Bereich waren, geht aus den von der Abteilung Verwaltungsrecht5 ! des Justizministeriums verfaßten "Bemerkungen zu Fragen, die im Zusammenhang mit dem Wiener KSZE-Nachfolgetreffen aufgetreten sind", vom 7. April 1988 hervor: "Eine von der bisherigen Orientierung abweichende Beantwortung der sich aus der Anlage ergebenden in Wien aufgeworfenen Frage erfordert neue Entscheidungen, die die Verantwortung und Zuständigkeit des MdJ zwar berühren, die aber in der Hauptsache vom Ministerium des Innern und vom Ministerium für Staatssicherheit vorbereitet und getragen werden müßten. Das ergibt sich vor allem daraus, daß mit der allgemeinen Formulierung, ,die behaupten, daß ihre Menschenrechte und Grundfreiheiten verletzt wurden', spezielle Fragen nicht nur des Rechts auf freie Meinungsäußerung, der Organisations- und Informationsfreiheit, der Vereinigungsfreiheit, sondern auch der Freizügigkeit und damit der Besuchsreise in die BRD und der Ausreiseanträge angesprochen sind.,,52

Ausgehend vom bestehenden Zustand der Rechtsordnung sah das Justizministerium allein die Forderung nach dem umfassenden Einspruchsrecht gegen staatliche Handlungen als für die DDR zustimmungsfähig an. Dieses Recht sei durch das Eingabengesetz von 1974 umfassend gewährleistet man wähnte sich hier den "kapitalistischen Staaten" sogar überlegen. 53 Hinsichtlich der Anforderungen an die Gestaltung des Verwaltungsrechtsweges mußte es jedoch einräumen, daß die geforderte Gewährleistung aus der damaligen Perspektive nicht darstellbar erschien: "Hinsichtlich des geforderten Gerichtsweges ist eine Zustimmung in der Allgemeinheit derzeit nicht möglich. - Für verschiedene Grund- und Menschenrechte ist die gerichtliche Zuständigkeit gegeben, z. T. auch dort, wo sie in kapitalistischen Staaten nicht vorliegt (die eigentlich diesem Anstrich in dieser Form auch nicht zustimmen könnten); das trifft besonders auf das Recht auf Arbeit zu. - Die Einführung des Gerichtsweges hinsichtlich weiterer Rechte der Bürger wird derzeit geprüft, wobei Umfang und konkrete Gegenstände noch nicht feststehen und einschränkend ausdrücklich darauf hingewiesen werden muß, daß Voraussetzungen für konkrete Schritte zur Erweiterung der gerichtlichen Zuständigkeit in Verwaltungssachen die Qualifizierung des Verwaltungsverfahrensrechts ist. Nach dem gegenwärtigen Stand kommen vor allem solche An51 Anfang 1988 war beim Ministerium der Justiz erstmals eine Abteilung Verwaltungsrecht gebildet worden. Angesichts ihrer dürftigen personellen Ausstattung (4 Planstellen einschließlich Sekretärin) konnte diese indes nur die dringendsten Aufgaben in Angriff nehmen. ("Konzeption über die nächsten Aufgaben zur Anleitung der Rechtsarbeit der örtlichen Staatsorgane und auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts" vom 20. Januar 1988, BArch DP 1 [SE] Nr. 2057). 52 "Bemerkungen ... ", wie Anm. 49, S. 1. 53 "Bemerkungen ... ", ebenda.

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gelegenheiten für die Eröffnung des Gerichtsweges in Frage, in denen es um den Schutz des persönlichen Eigentums der Bürger geht (Staatshaftungsangelegenheiten, Entschädigungsangelegenheiten. ) - In keiner Weise in Erwägung gezogen wurde bisher, die gerichtliche Zuständigkeit in Verwaltungsangelegenheiten auch auszudehnen auf jene Gebiete, die von den imperialistischen Staaten mit ihren Forderungen im KSZE-Folgetreffen in Wien gemeint sind, wozu letztlich auch Entscheidungen über Besuchsreisen in kapitalistische Staaten und über Ausreiseanträge stehen. Vom Prinzip her wäre die Begründung einer Zuständigkeit der Gerichte zur Überprüfung der Gesetzlichkeit von Verwaltungsentscheidungen auf diesem Gebiet nötig; die Gerichte als Organe der Arbeiter-und-Bauern-Macht, die die Staatspolitik durchzusetzen haben und die bei ihren Entscheidungen stets von der Einheit politischer und juristischer Aspekte ausgehen, bieten in besonderem Maße die Gewähr dafür, daß die Rechtssicherheit in Übereinstimmung mit den gesamtgesellschaftlichen Erfordernissen unseres Staates weiter erhöht werden könnte. Allerdings könnte ein solcher Weg nur in Betracht gezogen werden, wenn auch auf diesem Gebiet das Verwaltungsverfahren detailliert geregelt werden würde - und das wäre Sache anderer zentraler Staatsorgane und bedürfte politischer Grundsatzentscheidungen. Im übrigen bedürfen jegliche Äußerungen und Zusagen auf diesem Gebiet zentraler, nicht nur vom MdJ vorzubereitender Entscheidungen, zumal dazu u. a. eine Veränderung der Verhandlungsdirektive für die Delegation auf dem KSZE-Folgetreffen erforderlich wäre."

11. Die Vorbereitung des Gesetzeserlasses Eine Woche bevor das Politbüro Heusinger den Auftrag erteilte, kurzfristig eine Beschlußvorlage zu erarbeiten, erstellten drei Rechtswissenschaftler ein internes Gutachten "Zu den Möglichkeiten und Grenzen einer gerichtlichen Überprüfung von Verwaltungsentscheidungen,,54, welches der ideologischen Rechtfertigung des geplanten Schritts diente. Diese Rechtfertigung suchten die Verfasser in der These, daß die verwaltungs gerichtliche Kontrolle letztlich nichts anderes als eine bloße Neujustierung der Arbeitsteilung zwischen den Organen der einheitlichen Staatsmacht darstelle, welche die Prinzipien des "demokratischen Zentralismus" und der "sozialistisehen Gesetzlichkeit" unberührt lasse. 55 Das Verhältnis der vollziehend-verfügenden Organe einerseits und der Gerichte ("rechtsprechende Organe des 54 Gotthold Bley, Helmut Grieger und Frohmut Möller, Zu den Möglichkeiten und Grenzen einer gerichtlichen Überprüfung von Verwaltungsrechtsentscheidungen, 2. Mai 1988, BArch DP 1 (SE) Nr. 2057. 55 Letztlich lief diese Argumentation auf die Akzeptierung der auch im Zeichen der Gewalteneinheit grundsätzlich zulässigen "Gewaltendifferenzierung" hinaus (vgl. hierzu die Ausführungen im ersten Abschnitt des zweiten Teils unter Ziffer I. 2. b), der jedoch nach vorheriger Lesart der "Grundsatz" der Einheit von Beschlußfassung, Durchführung und Kontrolle entgegenstand, den die Staatsführung nunmehr offenbar aufzugeben bereit war. 27 Hoeck

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3. Teil: Renaissance des Verwaltungsrechts

Staatsapparats") andererseits sei durch neue, originär sozialistische Wesenszüge bestimmt, die frei seien "von der bürgerlichen Theorie der Gewaltenteilung und mit ihr mehr oder weniger verbundenen Rechtsformen,,56. Umfang und Art der Kompetenzen des jeweiligen Organs der sozialistischen Staatsrnacht dienten stets dem Zweck, eine optimale Arbeitsteilung und Kooperation der verschiedenen Organe zur effektiven Lösung der Aufgaben der Staatsrnacht "entsprechend den historisch-konkreten Bedingungen der Gesellschaftsentwicklung" zu gewährleisten. 57 Veränderten sich diese Bedingungen, wie es die marxistisch-leninistische Gesetzmäßigkeit vorsehe, so sei auch die gegebene Arbeitsteilung veränderbar. Verschiedene Organe könnten auch zum gleichen Gegenstand Entscheidungskompetenz haben, diese müsse nur hinreichend gesetzlich bestimmt sein. Adaptionen beim westlichen Nachbarn wurden energisch abgestritten: "Keineswegs geht es um ,Anleihen' bei der Gewaltenteilung, um ein Nachziehen gegenüber dem Kapitalismus, etwa dem Verwaltungsgerichtswesen in der BRD, das zu den Einrichtungen gehört, die als ,dem Sozialismus voraus' propagiert werden. Es geht nicht um eine ,Verteidigungsposition', sondern um eine Vervollkommnung der sozialistischen Rechtsordnung nach den ihr eigenen Maßstäben. ,,58

Auf diesem geläuterten ideologischen Fundament sollte die Arbeitsgruppe unter Heusingers Leitung tätig werden und anhand rechtswissenschaftlicher Expertengutachten eine Vorlage für das Politbüro der SED entwerfen. 59 Die Vorlage sollte die notwendigen Maßnahmen zur Erweiterung der gerichtlichen Zuständigkeit in Verwaltungsrechtsangelegenheiten sowie eine Begründung dazu enthalten. Grundsätzliche Weichenstellungen wurden auf der konstituierenden Sitzung der "Gesetzgebungskomrnission zum gerichtlichen Verfahren in Verwaltungs angelegenheiten und den sich daraus ergebenden Aufgaben für die Gerichtsorganisation" getroffen, welche am 23.6.1988 im 56 Gutachten "Zu den Möglichkeiten und Grenzen einer gerichtlichen Überprüfung von Verwaltungsrechtsentscheidungen" vom 2. Mai 1988, wie Anm. 54, S. 4. 57 Ebenda, S. 5. 58 Bley/Grieger/Möller, wie Anm. 54, S. 3 f. Hervorhebungen durch den Verfasser dieser Arbeit. 59 Aus der Arbeitsgruppe ging später die Gesetzgebungskommission hervor. Neben den maßgeblichen Justizfunktionären gehörten ihr nahezu alle maßgeblichen Verwaltungsrechtswissenschaftler der DDR an: Der 1. Prorektor der Akademie für Staat und Recht, Professor Gerhard Schulze, die Leiterin des Lehrstuhls Verwaltungsrecht der Akademie für Staat und Recht, Professor Heidrun Pohl, als Vertreter der Sektion Rechtswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin Professor Kurt Wünsche, als Vertreter der Sektion Rechtswissenschaft der Karl-Marx-Universität Leipzig Professor Karl Bönninger, als Vertreter der Sektion Rechtswissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität zu Jena Professor Wolfgang Bemet, darüber hinaus als Vertreter der Hochschule der Volkspolizei Professor Surkau sowie der Vorsitzende des Kollegiums der Rechtsanwälte Berlin, Gregor Gysi. (Ergebnisprotokoll der Sitzung der Arbeitsgruppe am 13. Juni 1988, BArch DP I Nr.2057/SE).

3. Abschn.: Das Gesetz vom 14.12.1988 (GNV)

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Ministerium der Justiz stattfand. Auf der Grundlage eines vom Ministerium der Justiz ausgearbeiteten Gesetzgebungsentwurfs wurden grundlegende Fragen der Ausgestaltung des geplanten Gesetzes besprochen. Problematisch erwies sich bereits im Vorfeld, daß die Möglichkeit der gerichtlichen Überprüfung von Verwaltungsentscheidungen bei den von der Überprüfung potentiell betroffenen Staatsfunktionären keine Akzeptanz fand. So berichtete der Prorektor der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft, Gerhard Schulze, daß seine Akademie anläßlich eines Führungskaderlehrgangs mit ausgewählten Staatsfunktionären (Oberbürgenneistern und Ratsmitgliedern) "auf breite Ablehnung zu diesem Vorhaben gestoßen sei". Wolfgang Bernet von der Friedrich-Schiller-Universität Jena sprach sich zunächst allgemein dafür aus, "die Rechte der Bürger und die gesellschaftliche Ordnung (... ) auf einem kulturvollen Weg zu sichern". Im Zuge dessen müsse die gesamte Gesetzgebungstätigkeit verbessert werden. Ein "neuralgischer Punkt" sei die gerichtliche Überprüfung der Anträge auf Aussiedelung. Die Rechtsgründe hiefür müßten für den Richter klar ersichtlich in der Rechtsverordnung enthalten sein. Die geltenden Rechtsgründe müßten nonnativ eindeutig geregelt werden, um die Schaffung eines "übertriebenen Richterrechts" zu venneiden. Weiterhin sei es "dringend notwendig", das Verwaltungsverfahrensrecht (insbesondere hinsichtlich der Rechtsmittelgestaltung) neu zu regeln. Dieser Forderung schloß sich Heidrun Pohl von der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft an und stellte fest, daß "die Schaffung der verwaltungsverfahrensrechtlichen Bestimmungen" an sich sogar der erste Schritt sei, da klare materiell- und verfahrensrechtliche Vorschriften insbesondere für die Staatsfunktionäre erforderlich seien. 6o Dies wurde von dem Vertreter des Ministeriums der Justiz, Ronald Brachmann, auch freimütig eingeräumt, allerdings habe der erhebliche "zeitliche Zwang" es erforderlich gemacht, "den zweiten Schritt vor dem ersten" zu tun und erst anschließend ein Verwaltungsverfahrensrecht zu schaffen. Abschließend wurde die besondere Bedeutung hervorgehoben, welcher der gerichtlichen Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen im Zusammenhang mit der Neubewertung des gesellschaftlichen Stellenwert des Rechts an sich zukommen sollte. Hierzu bemerkte der Vertreter des Stadtgerichts Berlin, Hugot, daß es über den konkreten Gesetzeszweck hinaus darum gehe, den "Richterspruch" in seinem Ansehen zu heben. Es gehe um die Stärkung einer "politisch-verantwortlichen Unabhängigkeit des Gerichts". Der "Wert des Rechts" müsse wachsen. 61 Zusammenfassend brachte die Diskussion der Gesetzgebungskommission folgende Resultate62 : 60 61

27*

Ergebnisprotokoll vom 13. Juni 1988, wie vorangehende Anmerkung, S. 6. Ergebnisprotokoll vom 13. Juni 1988, ebenda.

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3. Teil: Renaissance des Verwaltungsrechts

1. Rechtstechnisch sollte zunächst ein Rahmengesetz erlassen werden, in wel-

chem die einzelnen Sachgebiete, für die eine gerichtliche Nachprüfung ermöglicht werden soll, aufgezählt werden sollten. Hierin sollten die Grundfragen verständlich und überschaubar geregelt werden. In das Gesetz sollten die wesentlichen Ziele und Grundsätze für die Erweiterung der gerichtlichen Zuständigkeit und die notwendigen Verfahrensregelungen aufgenommen werden. Die genaue Bestimmung, welche Verwaltungsentscheidungen einer gerichtlichen Nachprüfung unterliegen, sollte dann im Wege der Anpassungsgesetzgebung durch Änderung der Rechtsvorschriften, welche die Regelung der jeweiligen Verwaltungsrechtsangelegenheit beinhalten, vorgenommen werden. Den Vorteil dieser Vorgehensweise sah die Kommission darin, daß sie eine schrittweise Ermöglichung der gerichtlichen Zuständigkeit korrespondierend zu den zu schaffenden personellen und materiellen Voraussetzungen zu ermöglichen versprach.

2. Die Enumeration sollte nicht abschließend erfolgen, sondern einer späteren Erweiterung zugänglich sein. Das Gesetz war also "auf Entwicklung angelegt". 3. Der Gerichtsweg sollte erst dann zulässig sein, wenn die Rechtsmittelmöglichkeiten des Verwaltungsorgans ausgeschöpft wurden. 4. Nach abgeschlossenem verwaltungsgerichtlichem Verfahren sollte der Eingabeweg nicht mehr offenstehen. 5. Von den Kommissionsmitgliedern wurde überwiegend der 2-Instanzen-Weg für zweckmäßig und den internationalen Anforderungen entsprechend erachtet. 6. Die Rolle der Staatsanwaltschaft im verwaltungs gerichtlichen Verfahren sollte gegebenenfalls gesondert gesetzlich geregelt werden.

Auffallend ist, daß die Gesetzgebungskommission soweit ersichtlich weder an die bereits dargestellten theoretischen Vorarbeiten der DDR-Verwaltungsrechtswissenschaft63 noch an die Ergebnisse rechtswissenschaftlicher Forschung in den anderen sozialistischen Staaten anzuknüpfen versuchte. 64 Insofern scheint hier das von Klaus Westen 1968 für die Beschwerdeausschüsse geprägte Wort des "Verwaltungsrechtsschutzes aus der Retorte" fast noch angebrachter zu sein als zwanzig Jahre zuvor. Die Frage des Verwaltungsrechtsschutzes wurde ohne tiefere theoretische Durchdringung vom ErErgebnisprotokoll vom 13. Juni 1988, wie Anm. 59, S. 8 f. Vgl. hierzu die Ausführungen im zweiten Abschnitt des dritten Teils dieser Arbeit. 64 Statt dessen versandte der Justizminister einen Fragenkatalog an die Botschaften der sozialistischen Staaten in der DDR, um kurzfristig rechtstatsächliche Informationen über Aufbau und Ausmaß der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle in den "Bruderstaaten" zu erhalten. Der an die Botschaften versandte, schematisch und schablonenhaft anmutende "Fragebogen" läßt vermuten, daß sich Justizfunktionäre und Wissenschaftler nicht sehr intensiv mit der Entwicklung der Bündnispartner auf diesem Gebiet auseinandergesetzt hatten. ("Rechtsvergleichende Information: Zur Zuständigkeit von Gerichten in europäischen sozialistischen Staaten bei Einsprüchen von Bürgern gegen Verwaltungsentscheidungen" der Abt. Internationale Beziehungen des MdJ vom 17.08.1988, DP 1 SE Nr. 2070). 62 63

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gebnis her angegangen, so daß die eigenständige Entwicklung von Rechtsbegriffen, -instituten und -maximen, die den spezifischen Anforderungen des sozialistischen Systems Rechnung getragen hätten, unterblieb. Der enorme Zeitdruck erlaubte weder die Entwicklung eines tragfahigen theoretischen Fundaments noch eine schrittweise Überprüfung an der Praxis, wie sie etwa der Wiedereinrichtung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Polen vorausging.

III. Probleme bei der gerichtlichen Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen 1. Zuständigkeit der Kreisgerichte und fehlender Instanzenzug Die Schaffung einer separaten Verwaltungsgerichtsbarkeit hätte die organisatorischen Möglichkeiten der DDR bei weitem überfordert und blieb deshalb von Beginn an außer Betracht. Statt dessen entschied sich die Kommission auf der Grundlage einer justizstaatlichen Lösung für die generelle sachliche Zuständigkeit des Kreisgerichts hinsichtlich der Nachprüfung der genannten Verwaltungsentscheidungen. Örtlich zuständig war dasjenige Kreisgericht, in dessen Bereich das Verwaltungsorgan seinen Sitz hat, das die erste Verwaltungsentscheidung getroffen hatte, § 6 GNV. Funktionell zuständig waren die Kammern für Verwaltungsrecht der Kreisgerichte. Die zunächst vorgesehene zwei stufige Ausgestaltung des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens wurde durch Einflußnahme des Zentralkomitees der SED verworfen. Das den Beratungen zugrunde liegende wissenschaftliche Gutachten "Zu den Möglichkeiten und Grenzen einer gerichtlichen Überprüfung von Verwaltungsrechtsentscheidungen" vom 2. Mai 198865 hatte noch vorgesehen: "Gegen die erstinstanzlichen Entscheidungen der Kreisgerichte oder der Bezirksgerichte (bei Heranziehung an das Bezirksgericht gemäß § 30 Abs. 2 GVG) ist das Rechtsmittel der Berufung durch die Prozeßparteien gegeben, über das das Gericht der zweiten Instanz entscheidet. Im übrigen müssen auch für dieses Stadium des Verfahrens die Bestimmungen der ZPO über das Rechtsmittelverfahren Anwendung finden."

Auch Mitglieder der Gesetzgebungskommission66 sprachen sich dezidiert für eine Zulassung von Rechtsmitteln gegen die erstinstanzliche Entscheidung der Kreisgerichte aus und führten für ihre Forderung folgende Argumente ins Feld:

65

66

BArch DP 1 (SE) Nr. 2057. Insbesondere deren Mitglieder Pohl, Surkau, Gysi und Müller.

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3. Teil: Renaissance des Verwaltungsrechts

"Dem Bürger würde die Möglichkeit eines weiteren Rechtsmittels vor allem in den Fällen gegeben, in denen sein Antrag auf Nachprüfung vom Kreisgericht abgewiesen wird. - Das Verwaltungsorgan (und der Staatsanwalt) müßte das Recht haben, eine nach seiner Auffassung fehlerhafte gerichtliche Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren anzufechten, bei Einstufigkeit des Verfahrens verbliebe es nur bei der Möglichkeit der Kassation. - Es würde auch in diesen Fällen der allgemeine Grundsatz der Überprüfbarkeit einer erstinstanziellen Gerichtsentscheidung durch ein höheres Gericht (vgl. § 16 GVG) verwirklicht. - Es würde damit möglichen Auffassungen in der internationalen Öffentlichkeit einer mangelnden Rechtsstaatlichkeit im Überprüfungsverfahren entgegengewirkt und auch kritische Meinungsäußerungen zum erstinstanzlichen Verfahren in den anderen sozialistischen Ländern berücksichtigt. ,,67

Folglich sah der Gesetzesentwurf des Ministeriums vom 17.6.1988 in seinem § 11 noch einen Rechtsmittelzug vor: ,,(1) Gegen das Urteil des Gerichtes kann der Antragsteller innerhalb von zwei

Wochen nach Zustellung Berufung einlegen. Sie ist schriftlich mit Begründung bei dem Kreisgericht einzulegen, das die Entscheidung erlassen hat. Auf Verlangen des Antragstellers ist sie von der Rechtsantragstelle aufzunehmen. (2) Die Berufung führt zur Überprüfung der Entscheidung durch das Bezirksgericht. Dessen Entscheidung ist endgültig.,,68

Offenbar auf Weisung des Abteilungsleiters für Staats- und Rechtsfragen im Zentralkomitee der SED wurde der Plan des Instanzenzugs verworfen. Hierzu vermerkt das Ergebnisprotokoll einer am 24. Juni 1988 unter der Leitung des stellvertretenden Justizministers und Staatssekretärs Dr. Siegfried Wittenbeck durchgeführten Beratung der "Arbeitsgruppe zur Erweiterung der gerichtlichen Zuständigkeit": "Staatssekretär Dr. Wittenbeck infonnierte darüber, daß Genosse Krenz der ,Position der Erweiterung der Zuständigkeit der Gerichte' zugestimmt hat. Die notwendigen Maßnahmen zur Vorbereitung eines Politbürobeschlusses sind zügig durchzuführen. Dabei sind bei der Vorbereitung der Gesetze u. a. Materialien noch von Gen. Sorgenicht gegebene Hinweise zu berücksichtigen, insbesondere: - nur einstufiges Überprüfungsverfahren bei Gericht, - Nichteinbeziehung von Ministerentscheidungen in die Überprüfung. Es wurde auch darauf hingewiesen, daß der Präsident des OG, Gen. Dr. Sarge, nachdrücklich gefordert hat, auf Zweistufigkeit des Überprüfungsverfahrens zu verzichten (u. a., weil die Konsequenzen daraus die Bezirksgerichte überfordern würden).,,69 "Ergebnisprotokoll", wie Anm. 59. 1. Entwurf der Hauptabteilung III des Ministeriums der Justiz vom 17.6.1988, BArch DP1 (SE) Nr. 2057. 67

68

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2. Gegenstände gerichtlicher Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen Von Beginn der Diskussion über die Wiedereinführung gerichtlichen Verwaltungsrechtsschutzes an scheint es unumstritten gewesen zu sein, daß für die DDR hinsichtlich der Rechtswegeröffnung nur das Enumerationsprinzip in Frage komme, da die Generalklausei "eine - aus objektiven Gründen unvertretbare - Breite enthielte" und "ohne Ausschlüsse nicht denkbar wäre,,70. Entsprechend sah das GNVein sog. generalisiertes Enumerationsprinzip7! vor, wonach gerichtliche Kontrolle nur insoweit zulässig sein sollte, als dies in Gesetzen und anderen Rechtsvorschriften normiert war, § 2 GNV. Entsprechend wurden ebenfalls am 14. Dezember 1988 ein Anpassungsgesetz 72 und eine Anpassungsverordnung 73 erlassen, wodurch sich der Kreis der gerichtlich kontrollierbaren Verwaltungsentscheidungen beträchtlich erweiterte. Im einzelnen unterlagen damit folgende Verwaltungsentscheidungen richterlicher Kontrolle: 1. Entscheidungen über den Grund und die Höhe des Schadenersatzanspruches74 , 2. Entscheidungen über die Höhe des Entschädigungsanspruches für Grundstücke, Gebäude, bauliche Anlagen und Anpflanzungen nach dem Entzug des Eigentumsrechtes für gemeinnützige Zwecke75 , 3. Entscheidungen über Entschädigungsansprüche für Schäden, die Bürger bei der Unterstützung der Deutschen Volkspolizei erlitten haben 76, 69 "Ergebnisprotokoll der Sitzung der Arbeitsgru~pe zur Erweiterung der gerichtlichen Zuständigkeit am 24. Juni 1988", Abteilung Offentliches Recht (1988-1989), Vorbereitung und Erweiterung sowie Entwürfe zur gerichtlichen Nachprüfung (GNV), BArch DP I Nr. 2057. 70 Bley/Grieger/Möller, Gutachten "Zu den Möglichkeiten und Grenzen einer gerichtlichen Überprüfung von Verwaltungsentscheidungen" vom 2. Mai 1988 (Anm.

54), S. 9.

71 Als Gegenbegriff hierzu war bei den Beratungen der Begriff der spezialisierten Generalklausel gebildet worden, der die umfassende Zuweisung einer Rechtsmaterie durch einfache Nennung im Rahmengesetz umfaßt hätte, z. B. durch die Formulierung "Zustimmung zu Bauvorhaben". Obwohl dies die umständliche Anpassungsgesetzgebung obsolet gemacht hätte, entschied sich das Justizministerium wegen der hier schwierigeren Einschätzung der zukünftigen Inanspruchnahme der Gerichte gegen diesen Weg, vgl. "Erläuterungen des Ministeriums der Justiz zum Entwurf des Politbüro-Beschlusses zum GNV", BArch DP I (SE) Nr. 2057, S. 4. 72 "Gesetz zur Anpassung von Regelungen über Rechtsmittel der Bürger und zur Festlegung der gerichtlichen Zuständigkeit für die Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen" (Anpassungsgesetz) vom 14.12.1988 (GBI. I 1988, Nr. 28, S. 330). 73 "Verordnung zur Anpassung von Regelungen über Rechtsmittel der Bürger und zur Festlegung der gerichtlichen Zuständigkeit für die Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen" (AnpassungsVO) vom 14.12.1988 (GBI. I, Nr. 28, S. 330). 74 V gl. § 5 Abs. 3 Staatshaftungsgesetz i. d. F. des Anpassungsgesetzes. 75 V gl. § 8 Entschädigungsgesetz.

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3. Teil: Renaissance des Verwaltungsrechts

4. Entscheidungen über die Ablehnung der Zustimmung zur Errichtung und Veränderung von Bauwerken, über den Widerruf der Zustimmung bzw. über Maßnahmen bei widerrechtlich errichteten Bauwerken77, 5. Entscheidungen über eine Auflage, die im Zusammenhang mit einer den Grundstücksverkehr betreffenden Genehmigung erteilt wird, über die Versagung solcher Genehmigungen, über den Widerruf von Genehmigungen sowie über die Ausübung des staatlichen Vorerwerbsrechtes78, 6. Entscheidungen über Maßnahmen bei widerrechtlich errichteten Bauwerken sowie über die Androhung bzw. über die Festsetzung von Zwangsgeld79, 7. Entscheidungen über die Festlegung der gegenseitigen Rechte und Pflichten zwischen Mieter und Vermieter bzw. über die Erteilung von Auflagen und die Anordnung der Ersatzvornahme sowie über die Anordnung der Räumung von Wohnraum als auch über die Anordnung bzw. Festsetzung von Zwangsgeld80, 8. Entscheidungen über die Anordnung der Erziehungsaufsicht81 sowie über die Anordnung der Erziehung in einer anderen Familie82 , über die Aufhebung der Annahme an Kindes Statt83 , über den Ausschluß der Umgangsbefugnis 84 sowie über die Ersetzung der Einwilligung zur Namensänderung 85 , 9. Entscheidungen über die Versagung der Erlaubnis zur Durchführung einer Veranstaltung sowie über die Untersagung der Durchführung einer Veranstaltung und über ihre Auflösung86 , 10. Entscheidungen über die staatliche Anerkennung und über die Zustimmung zur Mit.e;liedschaft von Bürgern in internationalen und ausländischen VereinigungenS7 ,

76 Vgl. § 18 des Gesetzes über die Aufgaben und Befugnisse der Deutschen Volkspolizei vom 11.6.1968 (GBI. I, Nr.11, S. 232) i.d.F. des Anpassungsgesetzes. 77 Vgl. §§ 5, 9, 11 bzw. § 13 Abs. 1 und 2 BevölkerungsbauwerkeVO vom 8.11.1984 (GBI. I Nr. 36, S. 433) i.d.F. der AnpassungsVO. 78 Vgl. §§ 2, 3,4, 8, 12 GrundstücksverkehrsVO vom 15.12.1977 (GBI. I 1978, Nr. 5, S. 73) i.d.F. der AnpassungsVO. 79 Vgl. § 28 bzw. § 30 Abs. 2 und 3 Staatliche BauaufsichtsVO vom 1.10.1987 (GBI. I Nr. 26 S. 249) i.d.F. der 2. VO vom 20.10.1988 (GBI. I Nr. 24 S. 263) i.d.F. der AnpassungsVO. 80 Vgl. § 12 Abs. 4 bzw. §§ 24, 30 bis 33 WohnraumlenkungsVO vom 16.10. 1985 (GBI. I Nr. 27 S. 301) i.d.F. der AnpassungsVO. 81 Vgl. § 23 Abs. 1, lit. b) JugendhilfeVO vom 3.5.1966 (GBI. 11 Nr. 34 S. 215) i.d.F. der AnpassungsVO. 82 Vgl. § 23 Abs. 1, lit. g) JugendhilfeVO. 83 Vgl. § 18 Abs. 1, Ziff. 2, lit. c) JugendhilfeVO. 84 Vgl. § 18 Abs. 1, Ziff. 1, lit. g) JugendhilfeVO. 85 Vgl. § 18 Abs. 1, Ziff. 2, lit. d) JugendhilfeVO. 86 Vgl. § 20 a Gewerbe VO vom 12.7.1972 (GBI. 11 Nr. 47 S. 541) i.d.F. der ÄnderungsO vom 21.8.1975 (GBI. I Nr. 36 S. 642) i.d.F. der AnpassungsVO. 87 Vgl. §§ 7, 9 bzw. § 11 VereinigungsVO vom 6.11.1975 (GBI. I Nr. 44 S. 273) i.d.F. der AnpassungsVO.

3. Abschn.: Das Gesetz vom 14.12.1988 (GNV)

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11. Entscheidungen über die Erfassung als kriminell gefährdeter Bürger und die Erteilung von Auflagen 88 .

3. Logistische Probleme bei der Erweiterung des Justizapparats Seit dem 1. Juli 1989 war auch die gerichtliche Nachprüfung aller gegenüber Bürgern nach der Reiseverordnung 89 bzw. dem Reisegesetz90 getroffenen Entscheidungen möglich. Unter der Übergangsregierung Modrow wurde der Katalog gerichtlich kontrollierbarer Entscheidungen noch um eine Reihe von Rechtsvorschriften ergänzt. 91 Grundsätzlich unzulässig war der Gerichtsweg gemäß § 2 Abs. 2 immer dann, wenn die "Interessen der nationalen Sicherheit" oder der Landesverteidigung berührt waren. Ausgeklammert blieben darüber hinaus so wichtige Bereiche der staatlichen Verwaltung wie das Bildungs- und Sozialwesen, das Finanz- und Steuerwesen, polizeiliche Maßnahmen nach dem Volkspolizeigesetz sowie Fragen der Wohnraumverteilung und des öffentlichen Planungsverfahrens. 92 Gegen eine Ausweitung der gerichtlich überprüfbaren Materien sprachen neben politischen Aspekten vor allem logistische Gründe. "Überlegungen, Untersuchungen und Diskussionen, die in Vorbereitung des Gesetzentwurfs (GNV) geführt wurden, führten zu der Feststellung, daß der dem Grundgesetz der BRD Artikel 19 Absatz 4 entsprechende Grundsatz nicht ohne Zwischenstufen eingeführt werden kann. Die Gemeinden, Städte und Kreise sind ebensowenig wie die Gerichte in der Lage, ohne längere Übergangs- und Vorbereitungsphase die Anforderungen, die sich aus einer Generalklausei ergeben würden, sofort umfassend und rechtsstaatlichen Erfordernissen entsprechend zu erfüllen. Es würden damit u. a. der gerichtlichen Nachprüfung unterliegen: alle Wohnungsangelegenheiten von Bürgern, die mit ihrer Wohnung nicht zufrieden sind, alle natürlichen und juristischen Personen, die Fernsprechanschlüsse u. a. Leistungen der Deutschen Post beanspruchen - dies betrifft gleichfalls Leistungen der Energiebetriebe, die gegenwärtig nicht bedarfsgerecht zur Verfügung stehen. Entsprechendes gilt für die Vergabe von Plätzen u. a. in Kinderkrippen, Kindergärten, Feierabend- und Pflegeheimen sowie für alle im Bereich des Innern, z. B. in Ausländerangelegenheiten (Asyl), zu treffende Entscheidungen.,m 88 Vgl. § 3 Abs. 1 und 4, § 4 Abs. 3 VO über die Aufgaben der örtlichen Räte und der Betriebe bei der Erziehung kriminell gefährdeter Bürger (GefährdetenVO) vom 19.12.1974 (GBI. I 1975 Nr. 6 S. 130) i.d.F. der 2. VO vom 6.7.1979 (GBI. I Nr. 21 S. 195) i.d.F. der AnpassungsVO. 89 Vgl. § 19 ReiseVO vom 30.11.1989 (GBI. I Nr. 25 S. 271). 90 Vgl. § 12 Reisegesetz vom 11.1.1990 (OBI. I Nr. 3 S. 10). 91 Vgl. hierzu im einzelnen Mathias Ziebsch, Das gerichtliche Verfahren zur Nachprüfung verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen in der DDR, Bayerische Verwaltungsblätter 1990, S. 449-454 (451). 92 Herwig Roggemann, Gerichtlicher Verwaltungsrechtsschutz in der DDR - Ein Schritt in Richtung Perestrojka?, Juristen-Zeitung 1989, S. 579-582 (581).

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3. Teil: Renaissance des Verwaltungsrechts

a) Prognostizierter Verfahrensanfall

Schwerer noch als die politisch-ideologischen Vorbehalte wogen somit Restriktionen, welche die geringen personellen Ressourcen in der Justiz und die eingeschränkten Ausbildungskapazitäten an den rechtswissenschaftlichen Sektionen der Hochschulen auferlegten. Sowohl die Gerichte als auch die Hochschulen waren in organisatorischer Hinsicht vollkommen überfordert. Zur "Einschätzung des Umfangs der bei einer Erweiterung der Zulässigkeit des Gerichtsweges für Verwaltungsangelegenheiten zu erwartenden Verfahren" erstellte der Staatssekretär im Justizministerium am 22.8.1988 eine Prognose, die im wesentlichen auf den vorliegenden Eingaben- und Rechtsmittelanalysen beruhte und die erwarteten Schwerpunkte der Inanspruchnahme gerichtlicher Kontrolle widerspiegelte: "Die Erweiterung der gerichtlichen Zuständigkeit in Verwaltungsangelegenheiten - im vorgeschlagenen Umfang - würde nach derzeitigen Überlegungen in der ersten Etappe einen zusätzlichen jährlichen Verfahrensanfall von ca. 215.000 Verfahren mit sich bringen. Nach Einführung der Nachprüfung von Entscheidungen über Ordnungsstrafmaßnahmen könnte sich die Zahl auf ca. 280.000-300.000 jährlich erhöhen. Diese nach wie vor nur grob schätzbare Zahl beruht auf der Auswertung von nur zu einzelnen Bereichen vorliegenden Statistiken, auf Erfahrungen aus der gegenwärtigen praktischen Arbeit und auf der Einschätzung des zu erwartenden Rechtsschutzbegehrens der Bürger. 1. Zur Nachprüfung von Entscheidungen über Ablehnung, Einschränkung, Entzug oder Widerruf von Genehmigungen bzw. Erlaubnissen:

Bei den Entscheidungen über die Ablehnung von Anträgen der Bürger in persönlichen Angelegenheiten gibt es derzeit jährlich allein in Auslandsreise- und Ausreiseangelegenheiten ca. 300.000 Ablehnungen. Bei Beibehaltung der bisherigen Genehmigungspraxis ist davon auszugehen, daß auch bei vorsichtiger Schätzung mindestens 213 der betroffenen Bürger von der Möglichkeit der gerichtlichen Überprüfung der ablehnenden Entscheidung Gebrauch machen würden. Das entspräche einem Verfahrensanfall von etwa 200.000 Verfahren, wobei u. E. in den nächsten Jahren eine deutlich fallende Tendenz zu erwarten wäre. Bei den Entscheidungen über die Ablehnung von Gewerbegenehmigungen gab es 1987 im Bereich des Ministeriums für Bezirksgeleitete Industrie und Lebensmittelindustrie bei 4.675 erteilten Genehmigungen ca. 100 Ablehnungen. Die davon betroffenen Bürger werden voraussichtlich die Möglichkeit der gerichtlichen Überprüfung der ablehnenden Entscheidung in Anspruch nehmen. Für den Bereich des Ministeriums für Handel und Versorgung wird damit gerechnet, daß pro Jahr ca. 3.000 Anträge zur Erteilung eines Gewerbes gestellt werden und etwa 100-150 zur gerichtlichen Überprüfung gelangen könnten. Unter Be-

93 Schreiben von Professor Kurt Wünsche an den Vorsitzenden des Rechtsausschusses der Volkskammer der DDR, Hans-Joachim Hacker vom 20.7.1990, BArch DP I (SE) Nr. 2063.

3. Abschn.: Das Gesetz vom 14.12.1988 (GNV)

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rücksichtigung der anderen Bereiche kann u.E. mit einem Anfall von 250--300 Verfahren gerechnet werden. Nach Einschätzung zentraler Eingaben und nach Konsultationen einzelner Räte kann davon ausgegangen werden, daß zumindest 5.000 Ablehnungen von Baugenehmigungen jährlich durch örtliche Organe erfolgen. Die meisten der betroffenen Bürger, wie auch jene, die von den relativ seltenen anderen Maßnahmen (Widerruf einer Baugenehmigung) usw. betroffen sind, werden den Gerichtsweg ausnutzen. Hinzu kommen im Bereich des Grundstücksverkehrs jährlich über 600 Ablehnungen von Genehmigungen. Insgesamt kann mit 5.0()()....{j.000 Anträgen in diesen Angelegenheiten bei Gericht gerechnet werden. Einer gerichtlichen Überprüfung sollen des weiteren die Registrierung von Vereinigungen sowie Veranstaltungsgenehmigungen zugeführt werden. Während zur Untersagung der Registrierung von Vereinigungen keine Angaben gemacht werden können, kann bei Veranstaltungen davon ausgegangen werden, daß bei jährlich ca. 1.500 Versagungen, 30 Untersagungen und 2-5 Auflösungen nahezu alle betroffenen Bürger den Gerichtsweg nutzen werden (ca. 1.200). Von den örtlichen Organen werden etwa 10.000 Bürger jährlich als kriminell Gefährdete erfaßt. Über die Beschwerden gegen Auflagen gibt es keinerlei Übersicht. Wenn von den als kriminell erfaßten Gefährdeten sich ca. 10% gegen die Erfassung und die Auflagen wenden, wäre jährlich zumindest mit 2.000 Anträgen bei Gericht zu rechnen. (... ),,94

b) Auswirkungen auf die Juristenausbildung Der prognostizierte Verfahrensanfall überforderte die vorhandenen personellen Ressourcen der DDR-Justiz bei weitem. In einem "Bemerkungen zur Erweiterung der gerichtlichen Zuständigkeit in Verwaltungsangelegenheiten" überschriebenen Text der Gesetzgebungskommission vom 16. Mai 1988 hieß es hierzu: "Berücksichtigt werden müßte bei der Prüfung der Möglichkeiten zur Erweiterung der gerichtlichen Zuständigkeit, daß es den Gerichten bei dem gegenwärtigen, ständig zunehmenden Verfahrensanfall bereits jetzt nur mit größten Anstrengungen gelingt, die Arbeit qualitätsgerecht und fristgemäß zu erledigen. Eine Erweiterung der Zuständigkeit ( ... ) würde für die Gerichte einen zusätzlichen, z.Zt. im einzelnen noch nicht überschaubaren Verfahrensanfall nach sich ziehen. Es müßte daher gesichert werden, daß gleichzeitig mit der Festlegung der einzelnen Aufgaben über die dazu notwendigen personellen, materiellen, technisch-organisatorischen und finanziellen Voraussetzungen für die Übernahme solcher Aufgaben bei den Bezirksgerichten entschieden wird. So wäre ein zusätzlicher Einsatz von Juristen als Richter, von mittleren juristischen Kadern und auch technischen Kräften erforderlich. Ausgehend davon, daß die räumlichen Möglichkeiten der Gerichte, 94 Einschätzung des Umfangs der bei einer Erweiterung der Zulässigkeit des Gerichtsweges für Verwaltungsangelegenheiten zu erwartenden Verfahren des Staatssekretärs im Ministerium der Justiz vom 22. August 1988, BArch DP 1 (SE) Nr. 2057.

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3. Teil: Renaissance des Verwaltungsrechts

die ihnen zur Verfügung stehenden technischen Mittel und die anderen materiellen und finanziellen Fonds schon jetzt vollständig ausgelastet sind, wären auch auf diesen Gebieten Zuführungen unumgänglich. Rechtzeitig zu berücksichtigende spezielle Erfordernisse ergeben sich für die Vorbereitung der Richter und Sekretäre auf die inhaltlich neue Aufgabenstellung sowie für ihre Aus- und Weiterbildung. Schließlich müßten die örtlichen Staatsorgane auf die höheren Anforderungen vorbereitet werden, die sich in ihrem Bereich aus der Erweiterung der gerichtlichen Zuständigkeit ergeben; vordringlich wären der Einsatz und die qualifizierte zentrale Anleitung von Justitiaren bei den Vorsitzenden bzw. den ersten Stellvertretern der Vorsitzenden der Räte der Bezirke und Kreise zu gewährleisten. ,,95

Das ganze Ausmaß der zu erwartenden Schwierigkeiten machte die interne "Position zur Erweiterung der Zuständigkeit der Gerichte zur Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen" vom 8. Juni 1988 deutlich. 96 Hierin schätzte das Ministerium der Justiz den sich voraussichtlich ergebenden Personalbedarf wie folgt ein: "Eine Erweiterung der gerichtlichen Zuständigkeit in dem charakterisierten Umfang wird einen zusätzlichen Arbeitsanfall von ca. 400.000 Verfahren mit sich bringen. Durch die in den letzten 18 Jahren um fast 50% angestiegene Verfahrensbelastung ist die Leistungsgrenze mancher Kreisgerichte bereits überschritten. Der zu erwartende Verfahrenseingang ist daher nur mit einer erheblichen Verstärkung der Gerichte zu bewältigen. Dafür werden zusätzliche Planstellen für 250 Richter, 250 Justizprotokollanten, 230 Justizsekretäre, 150 Sachbearbeiter für Information und 100 Justizwachtmeister benötigt."

Bereits ohne die Erweiterung der gerichtlichen Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen waren die 982 Direktoren und Richter, die im Jahre 1987 bei den Kreisgerichten beschäftigt waren, mit den insgesamt 220.000 Verfahren, die sie jährlich auf allen Rechtsgebieten abschließend bearbeiteten, überlastet. 97 Ausgehend von der Prognose wäre also nach Inkrafttreten des GNV eine Verdreifachung des Verfahrens anfalls von den Kreisgerichten zu bewältigen gewesen. Auch mit einschneidenden Maßnahmen ließ sich die Anzahl der an den Universitäten ausgebildeten Juristen nicht ad hoc auf das benötigte Maß anheben. Dabei war zu berücksichtigen, daß der geplante gerichtliche Verwaltungsrechtsschutz nicht nur den Bedarf an Richtern, sondern ebenso die Zahl der erforderlichen Rechtsanwälte und Justizbediensteten ansteigen lassen würde. Ein einzelnes Gesetz machte somit 95 Materialien der Gesetzgebungskommission, BArch DP 1 (SE) Nr. 2057, mit Anschreiben des Leiters der Abteilung Verwaltungsrecht des Ministeriums der Justiz der DDR, Dr. Karl-Heinz Christoph an die Leiterin des Lehrstuhls Verwaltungsrecht an der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft in Potsdam-Babelsberg, Prof Dr. Heidrun Pohl. 96 "Position zur Erweiterung der Zuständigkeit der Gerichte zur Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen" vom 8. Juni 1988, BArch DP 1, Nr. 2057. 97 "Position ... ", wie vorangehende Anmerkung.

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eine umfassende Reform der Juristenausbildung notwendig. Die Schwierigkeiten, die eine Anhebung der Absolventenzahlen in einer planwirtschaftlieh gelenkten Wissenschaft verursachte, verdeutlicht die Stellungnahme des Ministers für Hoch- und Fachschulwesen zu den sich für seinen Bereich aus der Konzeption ergebenden Aufgaben: "Der Erhöhung um 40 Zulassungen zum Studienjahr 1988/89 und Studienjahr 1989/90 in der Fachrichtung Rechtswissenschaft/Justiz an der Humboldt-Universität zu Berlin auf der Basis der Delegierungen gebe ich unter Voraussetzung einer Festlegung des Politbüros, wonach diese Zulassungserhöhung über die bisherige Gesamtkennziffer hinaus erfolgt, meine Zustimmung. Die Realisierung dieser zusätzlichen Zulassungen nach Vorliegen des Politbürobeschlusses setzt bei den an der Humboldt-Universität zu Berlin gegebenen personellen und materiellen Bedingungen voraus, daß zur Sicherung der Lehrveranstaltungen nebenamtliche Praxiskader einbezogen werden müssen und daß keine Internatsplätze beansprucht werden. Alle betreffenden Fragen sind kurzfristig im Zusammenwirken des Ministeriums der Justiz mit der Sektion Rechtswissenschaft bzw. der Leitung der Humboldt-Universität zu Berlin zu klären. Der Rektor der Humboldt-Universität zu Berlin erhält zugleich meinen Auftrag zur Realisierung der zusätzlichen Zulassungen. Ihre weiteren Vorschläge zur Zulassungsentwicklung werden entsprechend dem Maßnahmeplan des Ministeriums für Hoch- und Fachschulwesen zur Umsetzung des Juristenbeschlusses berücksichtigt, wonach bis Dezember 1988 unter Mitwirkung von Vertretern des Ministeriums der Justiz die Positionen zur Zulassungsentwicklung in der Rechtswissenschaft bis zum Jahre 2000 zu erarbeiten sind. In Jena kann die Zulassung 1988/89 von 75 auf 85 erhöht werden, ab 1989/90 auf 95. Das setzt aber die Schaffung zusätzlicher Wohnheimkapazität voraus. Sollten noch für 1988 genügend Bewerber für Jena vorhanden sein, die keinen Wohnheimplatz benötigen, kann die Zahl 95 bereits in diesem Herbstsemester erreicht werden. ,,98

Die Starrheit des staatssozialistischen Ausbildungswesens brachte somit mit sich, daß nicht nur politische, sondern auch ganz pragmatische Erwägungen, bis hinab zur Anzahl der zur Verfügung stehenden Studentenwohnheimplätze bei der Entscheidung über den Umfang des dem Bürger gewährten Rechtsschutzes beachtet werden mußten.

IV. Wirkungslosigkeit des GNV in der Praxis Die Inanspruchnahme der Gerichte aufgrund des im Dezember 1988 erlassenen, jedoch erst am 1. Juli 1989 in Kraft getretenen Gesetzes blieb weit hinter den Erwartungen des Justizministeriums zurück. Rechnete man mit 400.000 Anträgen bei den Kreisgerichten pro Jahr, belief sich die tat98 Schreiben des Ministers für Hoch- und Fachschulwesen, Böhme, an den Minister der Justiz, Heusinger, vom 18. August 1988, BArch DP 1 (SE) Nr. 2057.

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sächliche Zahl bis zum Jahresende 1989 gerade einmal auf 3119. 99 Selbst die relativ wenigen Gerichtsverfahren und die ersten Autbebungen von Verwaltungsentscheidungen durch Kreisgerichte warfen ,Schlaglichter auf Entscheidungen jener Unrechtspraxis der Verwaltungsorgane, deren Geheimhaltung Teil der Tarnkappe war, die sich der SED-Staat vor der Weltöffentlichkeit versucht hatte überzustülpen' (Karl-Heinz Christoph). Gleichzeitig offenbarte die Rechtspraxis aber auch strukturelle Schwächen des Gesetzes. Vor allem rächte sich, daß der Gesetzgeber "den zweiten Schritt vor dem ersten" gemacht und auf die vorhergehende Einführung eines einheitlichen Verwaltungsverfahrensrechts verzichtet hatte. In Verbindung mit einem am Eingabenwesen orientierten und verwaltungsrechtlichen Formen völlig entwöhnten Verwaltungspersonal ergab sich hieraus, daß kaum kontrollfähige Verwaltungsentscheidungen zustande kamen. Eine interne Überprüfung des lustizministeriums stellte in diesem Zusammenhang fest: "Stützen Bürger ihren Antrag auf ständige Ausreise auf § 10 Abs. 3 der ReiseVO!()() (... ), enthalten ablehnende Entscheidungen der Abteilung Innere Angelegenheiten bzw. Beschwerdeentscheidungen der Vorsitzenden der Räte der Kreise regelmäßig anstelle einer inhaltlichen Begründung lediglich die Feststellung: ,Die Prüfung der von Ihnen angegebenen Gründe hat ergeben, daß Sie nicht den Bestimmungen des § 10 über Reisen ... entsprechen. Voraussetzungen für eine Genehmigung ihres Antrages liegen daher nicht vor.' Nicht einmal konkrete Absätze oder Ziffern der Reiseverordnung werden angeführt. Derartige Entscheidungen des Verwaltungsorgans sind keine Basis für eine gerichtliche Nachprüfung. Wenn die Gerichte auch nur solche formalen Entscheidungen treffen sollen - worauf vom Obersten Gericht in Abstimmung mit dem MdJ orientiert wurde -, wird die gerichtliche Nachprüfung zu einer Farce, zumal offensichtlich die Masse der Ablehnungen § 10 Abs. 3 betrifft. Aus der Rechtsauskunftstätigkeit, aus Eingaben und Anfragen sowie aus bei Gerichten bereits vorliegenden Antragsbegründungen wird deutlich, daß diese Verfahrensweise bei den Bürgern auf Unverständnis stößt. Sie führt u.E. auch zu unvertretbaren Konsequenzen, da sie die Vereinbarungen des Wiener KSZEAbschlußdokuments verletzt und im Widerspruch zur RVO und zum GNV steht: 99 Hiervon betrafen wiederum nur 521 Anträge den konkreten Bereich des Verwaltungsrechtsschutzes mit den Schwerpunkten Bevölkerungsbautätigkeit (116) und Wohnraumlenkung (73). 100 § 10 Abs. 1 der Ausreiseverordnung bestimmte, daß "ständige Ausreisen" genehmigt werden können, wenn dafür "humanitäre Gründe" vorliegen. Die einschlägigen humanitären Gründe waren in Abs. 2 abschließend aufgeführt und umfaßten u. a. die Zusammenführung von Eltern mit ihren mindeIjährigen Kindern (lit. a) sowie das Erreichen des Rentenalters (lit. g). Abs. 3 schuf einen Auffangtatbestand, indem er bestimmte, daß ständige Ausreisen auch aus anderen humanitären Gründen genehmigt werden könnten, "wenn dadurch keine Beeinträchtigung gesellschaftlicher Interessen und der Rechte anderer Bürger hinsichtlich ihrer Lebensqualität, vor allem bei der Versorgung, Betreuung und Fürsorge, eintritt bzw. keine Nachteile für die Volkswirtschaft oder die öffentliche Ordnung zu erwarten sind".

3. Abschn.: Das Gesetz vom 14.12.1988 (GNV)

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1. wird die in den Rechtsvorschriften geforderte schriftliche Begründung nicht

gegeben (die aus den Verwaltungsentscheidungen zitierte Formulierung entspricht nicht den an eine Begründung zu stellenden Mindestanforderungen, wie sie z. B. auch im Heft 6/89 der Zeitschrift ,Die Volkspolizei' erläutert wurden) und 2. wird die gerichtliche Nachprüfung bei einem großen Teil der ablehnenden Entscheidungen umgangen. Falls keine Änderung dieser Verfahrensweise und auch der Anleitung der Gerichte erfolgt, ist zu erwarten, daß innerhalb kürzester Frist von der BRD und anderen Staaten im KSZE-Prozeß die DDR wegen Mißachtung gegebener Zusagen (Wiener Dokument) und Verletzung rechtsstaatlicher Grundsätze angegriffen wird. Das MdI müßte deshalb veranIaßt werden, seine Praxis zu ändern. Folgende Varianten würden wir sehen, wie das Verwaltungsorgan seine Entscheidung begründen kann: 1. Führen Antragsteller nur allgemeine Gründe an, wie z. B., daß sie mit den Verhältnissen in der DDR nicht einverstanden sind, kann die Ausreise wegen Nichtvorliegens eines anderen humanitären Grundes unter Bezugnahme auf die gesetzliche Regelung versagt werden. Es bestehen keine Bedenken, dies auch konkret zu sagen, denn wir haben uns in der Reise-VO festgelegt. 2. § 10 Abs. 3 Reise-VO stellt die Verquickung von Genehmigungsgründen (andere humanitäre Gründe) und Versagungsgründen dar. In den Fällen, in denen andere humanitäre Gründe vorliegen, weil z. B. der Antragsteller seine pflegebedürftige Mutter in der BRD betreuen will (konkreter Fall in Magdeburg), sollten in erster Linie die Versagungsgründe zur Anwendung kommen. Dabei müßte man auch etwas offensiv politisch argumentieren (z. B. bei einem Arzt, der seine Patienten im Stich lassen will). 3. In den verbleibenden Fällen, in denen andere humanitäre Gründe vorliegen und Versagungsgründe nicht gegeben sind, müßte in der Verwaltungsentscheidung gesagt werden, daß der Antrag nach § 10 Abs. 3 geprüft wurde, daß das Verwaltungsorgan aber zur Auffassung gelangt ist, daß die Voraussetzungen nicht vorliegen. Auch in diesen Fällen müßte konkret gesagt werden, welche Gründe zur Ablehnung geführt haben.,,101

Daneben deckte die Inspektionsabteilung des lustizministeriums auch Fälle vorsätzlicher Rechtsverweigerung auf. Noch am 5. Oktober 1989 stellte sie fest: "Auf die Eingangsentwicklung wirkt sich auch die Verfahrensweise der Dienststellen der Deutschen Volkspolizei aus, Anträge von Bürgern auf Genehmigung von Besuchsreisen gar nicht entgegenzunehmen, wenn nach Auffassung des Mitarbeiters der Volkspolizei bei diesen Bürgern Voraussetzungen nach der Reiseverordnung (insbesondere Verwandtschaftsbeziehungen) nicht vorliegen. Es handelt sich hier um zahlreiche Fälle (-zig tausend), in denen jedoch, obwohl diese Ver101 Position zur gerichtlichen Nachprüfung von Entscheidungen zu § 10 (3) RVO, 3. August 1989, angefertigt von der Hauptabteilung V (Inspektion). BArch, DP 1 (SE) Nr. 2057.

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3. Teil: Renaissance des Verwaltungsrechts

fahrensweise dem Bürger gegenüber wie eine ablehnende Verwaltungsentscheidung wirkt, weder Beschwerde noch Antrag auf gerichtliche Nachprüfung möglich ist."

Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht weiter erstaunlich, daß die eine gerichtliche Kontrollmöglichkeit getroffener Verwaltungsentscheidungen ohnehin nicht gewohnten Bürger die ihnen durch das GNV zumindest theoretisch gebotenen Möglichkeiten nicht ausschöpften. Das Justizministerium führte hierzu in einem Bericht aus: "Da nach § 13 vorgesehen ist, daß nur Verwaltungsentscheidungen der Nachprüfung unterliegen, die nach dem 1.7.1989 getroffen werden, konnte eine spürbare Belastung der Gerichte nicht auf einem Schlag mit Inkrafttreten des GNV entstehen. Der derzeitige durchschnittliche wöchentliche Neueingang liegt bei ca. 150 Verfahren. Diese Entwicklung vollzieht sich im Rahmen dessen, was unter der gesamten Voraussetzung erwartet werden konnte.'do2

Zusammenfassend stellten die Verfasser fest, daß die Entwicklung der Rechtsprechung in Verwaltungssachen auch aus der Perspektive des Ministeriums der Justiz der DDR nicht zufriedenstellend verlaufen sei. Vor allem erscheine es problematisch, "daß es trotz U.E. nicht befriedigender juristischer Qualität der Verwaltungsentscheidungen zu wenig Aufhebungen gibt. Neben 776 Rücknahmen sind u. a. nur 64 Zurückverweisungen und 3 Selbstentscheidungen der Gerichte zu verzeichnen.,,103 Vor allem die Anzahl der Verfahren außerhalb der Reiseverordnung war marginal: Von den 1.743 Verfahren bis zum 25.10.1989 betrafen 220 Privatreisen, 1.307 ständige Ausreisen und lediglich 216 Verwaltungsentscheidungen auf anderen Gebieten. 104 Folglich wurde der durch das GNV vermittelte Rechtsschutz durch die Herbstereignisse und spätestens seit Öffnung der Grenzen 105 praktisch bedeutungslos.

V. Ausstrahlungswirkung des GNV auf die Gesamtrechtsordnung der DDR Die Konsequenzen der rechtspolitischen Weichenstellung für eine verwaltungsrichterliche Kontrolle von Entscheidungen der Staatsorgane wäre 102 Positionspapier zur Inanspruchnahme der Gerichte nach dem GNV vom 30.10.1989, BArch DP 1 (SE) Nr. 2057. 103 Positionspapier, wie vorangehende Anmerkung. 104 Thesen für die Ausführung des Ministers im Kollegium am 3. November 1989 zu der Vorlage: Position zur schrittweisen Erweiterung der gerichtlichen Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen, BArch DP 1 (SE) NI. 2057. Der Bericht verzeichnet die Spitzenpositionen Dresdens (371 Verfahren) und Berlins (253 Verfahren). 105 Entscheidung des Ministerrates der DDR über zeitweilige und ständige Ausreisen vom 9.11.1989.

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den staatlichen Fortbestand der DDR vorausgesetzt - nicht auf den Bereich des öffentlichen Rechts beschränkt geblieben. Vielmehr hätten sich ihre Auswirkungen auf weite Bereiche der lustizorganisation und bis zu einer Neubewertung der Stellung und Autorität der Gerichte erstreckt und auch vor der Frage der richterlichen Unabhängigkeit nicht haltgemacht. Dies prognostizierte bereits eine interne Denkschrift des lustizministeriums der DDR vom 16. November 1988: "Dies (die Rechtsschutzgewährleistung durch das GNV, der Verfasser dieser Arbeit) stellt eine neue Stufe und Form des gerichtlichen Rechtsschutzes dar, der den Grundlinien der Entwicklung unserer Republik als sozialistischem Rechtsstaat entspricht. - Den Gerichten werden - in erheblichem Umfang - neue Aufgaben übertragen, die nicht nur Maßnahmen zu ihrer personellen, materiellen und finanziellen Sicherstellung erfordern, sondern auch Fragen der Stellung der Gerichte im einheitlichen System der Staatsrnacht, der Wahl ihrer Mitglieder und der Wechselbeziehungen zu anderen Staatsorganen aufwerfen. - Die Autorität der Gerichte und ihrer Entscheidungen ist gegenüber anderen (insbesondere den Verwaltungs-)Organen zu stärken, was - neben materiellen und ideologischen Faktoren (Arbeitsbedingungen, Haltung gegenüber den Gerichten) - auch voraussetzt, die Spezifik der gerichtlichen Tätigkeit und die damit verbundene besondere Stellung der Gerichte gerichtsverfassungsrechtlich besser zu erfassen. - Zentrales Problem ist die Stärkung der Unabhängigkeit der Richter. Sie ist im geltenden GVG im Zusammenhang mit der Wahl geregelt, sollte jedoch davon abgehoben in ihrer inhaltlichen Substanz näher ausgestaltet werden. Eine der Garantien für die Stärkung der Unabhängigkeit der Richter könnte ihre Wahl durch die jeweils übergeordnete Volksvertretung sein. - Bisher hat die Wahl und die an sie geknüpfte Berichtspflicht der Richter wenn auch vom Gesetzgeber nicht gewollt - in der Praxis bei den örtliche Räten zu der Auffassung geführt, die Gerichte seien "Organe" der örtlichen Volksvertretungen und ihnen letztlich unterstellt. Die Berichtspflicht wird nicht selten als Rechenschaftspflicht verstanden und auch so praktiziert. Fraglich ist m. E., ob eine Berichtspflicht der Kreis- und Bezirksgerichte gegenüber den Volksvertretungen überhaupt mit ihrer Unabhängigkeit vereinbar ist. Inhaltlich geht es darum, die Volksvertretungen und ihre Räte über Ergebnisse der Rechtsprechung zu informieren - gerade auch unter dem Aspekt der Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen -, damit diese ihre eigene Verantwortung zur Gewährleistung der Gesetzlichkeit besser wahrnehmen können. - Die Zusammenarbeit der Gerichte und Verwaltungsorgane muß prinzipiell durchdacht und in Inhalt und Form mehr auf die Eigenverantwortlichkeit der Organe ausgerichtet werden. Die Einbeziehung der Gerichte in von den Verwaltungsorganen zu leitende Prozesse ist m. E. mit der Funktion des Gerichts ebenso unvereinbar wie die Heranziehung der Richter als Konsultanten, Lehrkräfte u. ä. (Gefahr der Präjudizierung).,,106

28 Hoeck

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3. Teil: Renaissance des Verwaltungsrechts

Erneut erwies sich somit die Frage der Gewährleistung des Verwaltungsrechtsschutzes als Schrittmacher für Fragen der Gerichtsverfassung und insbesondere der Unabhängigkeit der Richter. Unter dem Eindruck der internationalen Kritik wurden diese Ansätze weiter konkretisiert. Anläßlich der 6. Tagung des Zentralkomitees der SED im Juni 1988 rückte die These von der "DDR als sozialistischer Rechtsstaat" erneut in Mittelpunkt der rechtspolitischen Diskussion. 107 Nunmehr war die SED-Führung auch bereit, sich den rechtspolitischen Implikationen des Begriffes mit weitestgehender Offenheit zu stellen und eine rechtswissenschaftliche Reformdiskussion in allen Teilbereichen zuzulassen, ohne jedoch auf die bürgerlich-liberale Charakterisierung des Rechtsstaates zurückgreifen zu wollen. 108 Am Ende des Bestehens der DDR unternahm die DDR-Rechtswissenschaft einen letzten Versuch zur Charakterisierung und Legitimierung eines eigenständigen sozialistischen Rechtsstaatsbegriffs lO9 , der die nach der Wiederbelebung der Verwaltungsrechtswissenschaft von Karl Bönninger, Wolfgang Bernet und anderen zunächst vorsichtig angestoßene Reformdiskussion integrierte. Am klarsten formulierte Karl August Mollnau, Professor am Institut für Theorie des Staates und des Rechts der Akademie der Wissenschaften der DDR seine Vorstellungen von der Metamorphose der DDR vom antifaschistischen Klassenstaat zum "sozialistischen Rechtsstaat":

106 Ronald Brachmann, Konsequenzen aus der Erweiterung der gerichtlichen Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen für die Stellung der Gerichte und für die Gestaltung des Gerichtsverfassungsrechts, BArch DP 1 (SE) Nr. 8758. 107 Vgl. Kurt Hager, Aus dem Bericht des Politbüros an die 6. Tagung des Zentralkomitees der SED, Berlin 1988. Der Wortlaut der Passage ist abgedruckt auf S. 66: "Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Rechtsstaat, der seinen Bürgern die grundlegenden Menschenrechte gewährt. Unser sozialistisches Recht verankert höchste Werte, wie Volksrnacht, Freiheit der Persönlichkeit, Recht auf Arbeit und Bildung, Demokratie und Gesetzlichkeit. Von der überprüfbaren Realität der Rechtsstaatlichkeit zeugt das vom Volk getragene Gesetzgebungswerk. " 108 Vgl. Detlei lose/. Zur Geschichte der Diskussion um den sozialistischen Rechtsstaat, Staat und Recht 1990, S. 139-146, Wolfgang Bemet, Rechtsstaatlichkeit - wesentliche Existenzfonn der DDR-Staatsverwaltung, Staat und Recht 1990, S. 105-113. 109 Dies wird bereits anhand der Beiträge unterschiedlicher Autoren zum Thema "Sozialistischer Rechtsstaat" in der Zeitschrift "Neue Justiz" als rechtswissenschaftliehe Rückkopplung auf die im Juni 1988 getroffene Festlegung der 6. Tagung des Zentralkomitees der SED deutlich: S. 393-397: Karl August Mol/nau, Sozialistischer Rechtsstaat (Versuch einer Charakterisierung); S. 478-479: Zu einigen Grundfragen sozialistischer Rechtsstaatlichkeit (Standpunkt des Ministeriums der Justiz); S. 479-480: Entwicklungserfordernisse der Staats- und Rechtsordnung in der DDR (Stellungnahme der Sektion Staats- und Rechtswissenschaft der Friedrich-SchillerUniversität Jena); S. 480-482: Vorschläge zum Ausbau der Rechtsordnung und zur Erhöhung der Rechtssicherheit in der DDR (Erklärung des Rates der Vorsitzenden der Kollegien der Rechtsanwälte in der DDR).

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,,1. Mit dem Aufwerfen der sozialistischen Rechtsstaatsproblematik wird eine Zä-

sur im marxistischen rechtsstaatlichen Denken markiert, die mit der Tatsache gesetzt ist, daß sich der Sozialismus in einer historisch langen Zeit auf seinen eigenen Grundlagen entwickeln wird, die klassenantagonismusfrei, aber nicht konfliktfrei sind. Etwas vereinfacht kann man sagen: Die sozialistische Rechtsstaatsproblematik gehört zum Kembestand der Staats- und Rechtskonzeption des sich entwickelnden modemen Sozialismus, die ihrerseits integraler Bestandteil der Gesellschaftskonzeption des modemen Sozialismus ist. 2. Diese Gesellschaftskonzeption - und darin einbegriffen die Staats- und Rechtskonzeption - ist nichts Abgeschlossenes; sie muß ständig schöpferisch bereichert und weiterentwickelt werden. In den einzelnen sozialistischen Ländern werden viele unterschiedliche Anstrengungen in Theorie und Praxis unternommen, um den Sozialismus zeitgemäß zu gestalten. Alle diese Anstrengungen haben ein starkes nationales Kolorit, was Ausdruck für die These ist, der Sozialismus, sein Staat, sein Recht kenne ein verbindliches Modell, von dem abzugehen Revisionismus in der Theorie und Rekapitalisierung in der Praxis bedeuten würde. Daß sich der Sozialismus in der Realität nunmehr mit kräftigem nationalem Kolorit entwickelt - wir sprechen ja bei uns vom Sozialismus in den Farben der DDR -, wirft die Frage nach verschiedenen Arten der sozialistischen Staats- und Rechtsordnung, nach ihrer Klassifizierung auf. 3. (... ) Zu den Bereichen, in denen sich die Vielfalt des Sozialismus rasch (und teilweise dramatisch) entwickelt, gehört das politische System, namentlich die Staats- und Rechtsordnung. Dieser Entwicklung ist größte ideologische Aufmerksamkeit zu widmen, nicht nur, weil sie ein bevorzugtes Feld der Einmischungsversuche imperialistischer Kräfte darstellt, sondern vor allem deshalb, weil auch und gerade unter den Bedingungen der Umgestaltung, der Erneuerung des Sozialismus die Machtfrage nicht vernachlässigt werden darf. Hier gilt ein entsprechend den neuen Bedingungen abgewandelter Satz Lenins: Eine Erneuerung des Sozialismus, die sich selbst nicht schützen kann, ist nichts wert. Allein die qualitativ neuen Bedingungen verlangen eine neue Art, auf die Machtfrage zu antworten, und diese neue Art ist die Entwicklung des sozialistischen Rechtsstaates."

Wie viele seiner Mitstreiter hielt der Autor somit auch noch in der Zeit zwischen dem Abschluß des StaatsvertragsIlO und dem Volkskammerbeschluß bezüglich des Beitritts der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes vom 23. August 1990 an einer eigenständigen, sozialistischen Rechtsstaatskonzeption fest, welche sich durch folgende charakteristische Merkmale auszeichnen sollte:

110 Die Bestimmungen des Staatsvertrags enthielten die rechtliche Gewährleistung einer unabhängigen und rechtsstaatlichen Rechtspflege in der DDR, soweit diese im Rahmen der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion notwendig ist, Art. 6 Abs. 1 und 2 des Staatsvertrags, Leitsätze B I 1 bis 3 des Gemeinsamen Protokolls sowie die Änderungsverpflichtungen in Anlage 11 zu diesem Vertrag (11 Nr. 21 g), vgl. auch "Denkschrift zum Staatsvertrag" (BR-Drucksache 350/90, S. 267 ff.). 28*

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3. Teil: Renaissance des Verwaltungsrechts

,,1. Sozialistischer Rechtsstaat ist dadurch charakterisiert, daß alle rechtlich regelungswürdigen Verhältnisse im Bereich der Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft bzw. Staat und Bürger rechtzeitig rechtlich geregelt werden, und zwar auf der dafür vorgesehenen Regelungsebene, die mit der Hierarchie der Normativakte im Einklang stehen muß. Dies ist gewissermaßen der Rechtssetzungsaspekt der Rechtsstaatlichkeit. 2. Sozialistischer Rechtsstaat ist dadurch charakterisiert, daß alle Bürger, alle Rechtssubjekte vor dem Gesetz gleich sind, ohne Privilegierung und ohne Diskriminierung den Gesetzen unterworfen werden. Es geht hier darum, die Gleichheit vor dem Gesetz als gleiche Verbindlichkeit des Rechts für alle zu verstehen, die Allgemeinverbindlichkeit des Gesetzes als subjektiven Anspruch des einzelnen auf Durchsetzung des Rechts auf dem gesetzlich dafür vorgesehenen staatlichen Weg zu interpretieren. Es handelt sich um den Rechtsanwendungsaspekt der Rechtsstaatlichkeit. 3. Sozialistischer Rechtsstaat ist dadurch charakterisiert, daß Rechtsvorschriften und die auf ihnen beruhenden Rechtsanwendungsentscheidungen in den dafür rechtlich vorgesehenen Verfahren real durchsetzbar sein müssen. Diese Verfahren müssen für den Bürger überschaubar und von ihm handhabbar sein. Es handelt sich hierbei um den Rechtsdurchsetzungsaspekt der Rechtsstaatlichkeit. 4. Sozialistischer Rechtsstaat ist dadurch charakterisiert, daß es für den Bürger wie für den Staat Möglichkeiten der Korrektur falscher Entscheidungen gibt. Das erfordert einen juristischen Mechanismus, um Zweifel, die auf der einen oder anderen Seite bezüglich der Richtigkeit einer Entscheidung bestehen, überprüfen zu können. Es handelt sich hierbei um den Rechtskontrollaspekt der Rechtsstaatlichkeit, der außerordentlich große Bedeutung für das Vertrauensverhältnis zwischen Bürger und Staat hat und der andererseits ein wichtiges Mittel ist, um tatsächliches Mit- und Selbstentscheiden der Bürger in ihren eigenen Angelegenheiten zu ermöglichen. 5. Sozialistischer Rechtsstaat ist dadurch charakterisiert, daß das Merkmal der sozialistischen Gerechtigkeit als zentrales Regulativ auf allen Ebenen wirkt. Dieser Aspekt, der als inhaltliche Diagonale alle vorstehend genannten vier Momente gewissermaßen durchzieht, bringt den entscheidenden inhaltlichen Unterschied zum bürgerlichen Rechtsstaat zum Ausdruck. Es handelt sich hierbei um den Gerechtigkeitsaspekt der Rechtsstaatlichkeit." 11 I

Gleichzeitig relativierte Mollnau die vielbeschworene These, die DDR sei (bereits) der "sozialistische Rechtsstaat" , indem er den Begriff des "Rechtsentwicklungsstaats " prägte und damit andeutete, daß der Weg der DDR zum Rechtsstaat noch sehr weit und nach materialistischer Auffassung niemals abgeschlossen sei. 112

111 Karl August Mollnau, Sozialistischer Rechtsstaat - Versuch einer Charakterisierung, Neue Justiz 1989, S. 393-397. 112 Vgl. Mollnaus Antwort auf die von "Staat und Recht" durchgeführte Umfrage zu "Rechtsstaatlichkeit und Rechtswissenschaft in der DDR", Staat und Recht 1990, S. 710 ff., sowie die Anmerkung Bemets hierzu in "Rechtsstaatlichkeit - wesent-

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VI. Revolution und Harmonisierung Auf dieser Grundlage wurden in der ersten Hälfte des Jahres 1990 eine ganze Reihe von Vorschlägen denkbar, die zuvor unmöglich erschienen waren. Nach wie vor ausgehend von den Grundlagen des Marxismus-Leninismus reichten sie von Gewährleistung der sachlichen und persönlichen Unabhängigkeit der Richter (insbesondere der Neuregelung ihrer Wahl und Abberufung) über die Abschaffung der Anleitungsbefugnis des Obersten Gerichts und des Justizministeriums bis hin zur Errichtung einer Verfassungsgerichtsbarkeit und auch einer von der Justiz getrennten Verwaltungsgerichtsbarkeit. ll3 Nach Abschluß der DDR-Revolution 1l4 mußte den sich aus ihr ergebenden Erfordernissen einer auf strikter Gewaltenteilung aufbauenden Rechtsstaatlichkeit Rechnung getragen werden und kurzfristig eine wesentliche Erweiterung der Zuständigkeit der Gerichte und eine Veränderung des gerichtlichen Verfahrens erfolgen. Insbesondere erschien es nunmehr unumgänglich, die gerichtliche Nachprüfung für Steuern und Abliehe Existenzform der DDR-Staatsverwaltung", Staat und Recht 1990, S. 105-113 (lOS f.). ll3 Carl Hermann UZe, Zur Beharrlichkeit sozialistischer Rechtsvorstellungen in der DDR, Deutsches Verwaltungsblatt 1990, S. 793-800 (799), m. w. N. 114 Helmut Quaritsch spricht der "Wende" diesen revolutionären Charakter zu. Revolution sei juristisch definiert als der Wechsel der Staatsform. 1989/90 habe sich in der DDR der Übergang von einer Minderheits- zu einer Mehrheitsherrschaft vollzogen, nämlich von der verfassungsmäßig abgesicherten Herrschaft der SED als einer "durch Herkunft, Gesinnung und Leistung gebildeten Aristokratie" hin zu einer Volksherrschaft. An die Stelle der "Autorität aus besonderem Sein" (Carl Schmitt) sei die Legitimation von Herrschaft durch Wahl getreten ("Eigenarten und Rechtsfragen der DDR-Revolution", Verwaltungs-Archiv 1992, S. 314 f.). Stationen dieser Revolution waren der 1.12.1989, als die Volkskammer mit verfassungsändernder Zweidrittelmehrheit den Führungsanspruch "der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei" (Art. 1 Abs. 1 S. 2) aus der Verfassung strich und sich die SED auf ihrem außerordentlichen Parteitag am 9.12.1989 in eine "normale" Partei zu transformieren beschloß. Konstitutiv waren weiterhin der "Beschluß der Volkskammer über die Gewährleistung der Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit" vom 5.2.1990 sowie das verfassungsändernde Gesetz vom 20.2.1990, in dem unter anderem für die Wahlen zur Volkskammer bestimmt wurde, daß diese "frei, allgemein, gleich und direkt" stattfinden sollten. Die Volkskammerwahl am 18.3.1990 setzte der revolutionären Entwicklung den faktischen Schlußpunkt, indem die Wählermehrheit "über Art und Form der politischen Einheit" (nämlich für die politischen Grundentscheidungen des Grundgesetzes) entschied (S. 316). An dem Bestehen des revolutionären Charakters vermöge nichts zu ändern, daß ihr kennzeichnendes Merkmal der Legalismus war und der paritätisch besetzte "Runde Tisch" das Instrument, welches die (aggressiven) revolutionären Energien auffing (S. 318). Letztlich habe auch nach marxistisch-leninistischer Lehre selbst mit der Entmachtung der "Partei der Arbeiterklasse" und der Zulassung des Privateigentums an Produktionsmitteln eine echte Revolution stattgefunden, seien Identität und Kontinuität der Verfassung beseitigt worden (S. 320).

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gaben gegenüber Unternehmen, auf dem Gebiet der Sozialversicherungsangelegenheiten und Sozialfürsorge sowie auf wesentliche Grundrechte der Bürger auszudehnen. Diese Aspekte berücksichtigten verschiedene Entwürfe des Justizministeriums in der ersten Hälfte des Jahres 1990. Aufschlußreich erscheint die hierzu von seiten des Justizministeriums gegebene Begründung: "Mit der Neufassung des Gesetzes soll eine wirksamere Gestaltung des Verfahrens erreicht werden. Die bisherige Regelung ging von einern konfrontationslosen, nicht streitigen Verfahren aus und ließ kein Rechtsmittel gegen die Entscheidung des Kreisgerichts zu. Damit sollte der Eindruck von etwaigen Interessengegensätzen zwischen Bürger und Staat vermieden werden. Die Einführung eines ordentlichen Klageverfahrens in erster Instanz und einer Berufungsinstanz gewährleistet den angestrebten Rechtsschutz und wird den sich abzeichnenden Anforderungen wesentlich besser gerecht werden können. Grundsätzliche zivilprozessuale Vorschriften finden Anwendung, so daß ein nach rechts staatlichen Prinzipien zu gestaltendes Verfahren auf Grundlage dieses Gesetzes möglich wird. ( ... ) Darüber hinaus wurde die bisher als Ausnahme mögliche Sachentscheidung des Gerichts grundlegend neu gestaltet. Damit werden in größerem Umfang abschließende Sachentscheidungen oder Zurückverweisungen an die Behörde ermöglicht. Durch Konzentration von Verwaltungsverfahren an einigen ausgewählten Gerichten wird eine höhere Sachkunde bei der Entscheidungsfindung angestrebt. Mit dieser Neufassung wird gleichzeitig eine wichtige Voraussetzung für einen möglichst reibungslosen Übergang bei der Errichtung der selbständigen Verwaltungsgerichte geschaffen. Die aus dem Gesetz ersichtliche Veränderung der Zuständigkeit innerhalb der Struktur der ordentlichen Gerichte bildet die Grundlage für die nach der vollzogenen Länderbildung in der DDR zu schaffende selbständige Verwaltungsgerichtsbarkeit. Die prozessualen Bestimmungen der vorgeschlagenen Neufassung des Gesetzes sind auch als Übergangsregelungen für selbständige Verwaltungsgerichte anwendbar. Das Anliegen der Neufassung des Gesetzes begründet die Notwendigkeit, es spätestens mit der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion in Kraft zu setzen."1l5

Am 29. Juni 1990 erließ die Volkskammer das Änderungsgesetz zum GNV 116, welches die in Aussicht gestellte Erweiterung der gerichtlich nachprüfbaren Verwaltungsentscheidungen vornahm (§ 2) und darüber hinaus die Zulässigkeit der Rechtsmittel der Berufung und Beschwerde normierte. Gegen die Rechtsmittelentscheidung sollte nunmehr sogar die Revision zu den in § 13 Abs. 2 jeweils territorial zuständigen Bezirksgerichten zulässig sein. Damit vollendete sich formal die Rechtsentwicklung der DDR auf dem Gebiet der gerichtlichen Verwaltungskontrolle. Praktische Auswirkungen hatte dieser Schritt jedoch nicht mehr, da mit der Umwälzung der poli115 Begründung zum 2. Entwurf einer Neufassung des Gesetzes über die Zuständigkeit und das Verfahren der Gerichte zur Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen" vorn 18.4.1990 (BArch DP 1 [SE] Nr. 2063). 116 GBI. I Nr. 33 - Ausgabetag: 22. Juni 1990.

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tischen Rahmenbedingungen auch das Substrat des Verwaltungsrechts grundlegend verändert werden mußte. Dieser Prozeß, der weit über eine "Reform" hinausging und mit den Begriffen "Transformation" oder "Konversion" der real-sozialistischen Verwaltung umschrieben werden kann, stellte gerade deswegen eine große Herausforderung dar, da "es zwar eine reiche Sprache zum Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus gibt, bis dann der Staat kommunistisch abstirbt. Die umgekehrte Richtung, wie man aus dem realen Sozialismus wieder herauskommt und zu einer öffentlichen Verwaltung angemessen einer europäischen Gesellschaft unserer Tage findet, jedoch kaum konzeptionell erfaßt" ist (Klaus König).I17

117 Da der Prozeß der Transformation sich weitgehend nach dem Ende des Bestehens der DDR vollzog, soll er hier im einzelnen nicht nachgezeichnet werden. Beiträge hierzu verfassten Klaus König, Zur Transformation einer real-sozialistischen Verwaltung in eine klassisch-europäische Verwaltung, Verwaltungs-Archiv 1992, S. 229-245; ders., Kaderverwaltung und Verwaltungsrecht, Verwaltungs-Archiv 1982, S. 37-59, ders, Verwaltung im Übergang - Vom zentralen Verwaltungsstaat in die dezentrale Demokratie, Die Öffentliche Verwaltung 1991, S. 177-184, ders., Kaderverwaltung und Verwaltungsrecht, Verwaltungs-Archiv 1982, S. 37-59, earl Hermann Ule, Zur Beharrlichkeit sozialistischer Rechtsvorstellungen in der DDR, Deutsches Verwaltungsblatt 1990, S. 793.

Zusammenfassung Kennzeichnend für die Entwicklung des Verwaltungsrechts in der SBZ ist das Fehlen einer einheitlichen Gesetzgebung und eines geschlossenen Verwaltungsapparats. In Übereinstimmung mit der SMAD wurden traditionelle Elemente der Justiz und Verwaltung beibehalten bzw. neu belebt. Das am 22. Juni 1946 wiedereröffnete, renommierte OVG Thüringen knüpfte als einziges Verwaltungsgericht in der SBZ an die Verwaltungsrechtswissenschaft der Weimarer Zeit an und gewährleistete eine vom bürgerlich-liberalen Geist geprägte Rechtsprechung, welche an den Prinzipien der Rechtstaatlichkeit und der Gewaltenteilung sowie am Schutz subjektiver Rechte ausgerichtet war. Die Stigmatisierung und schrittweise Zurückdrängung der Verwaltungsgerichtsbarkeit war Bestandteil eines umfassenden Sowjetisierungsprozesses, den die SED von 1946 an betrieb und der im Jahre 1952 abgeschlossen war. Nach den justizpolitischen Vorstellungen der SED war die Aufrechterhaltung der Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht von vornherein ausgeschlossen. Lediglich deren Eingliederung in die ordentliche Gerichtsbarkeit kam zu keinem Zeitpunkt in Betracht. Mit zunehmender Absicherung der Suprematie der SED rückte die Bewahrung der objektiven Rechtsordnung in den Vordergrund und verdrängte die Funktion des subjektiven Rechtsschutzes. Um die Möglichkeit einer Vereinigung mit den westlichen Besatzungszonen unter kommunistischem Primat offen zu halten, sah die Gründungsverfassung von 1949 einen umfassenden Grundrechtekatalog und in Artikel 138 die institutionelle Garantie der Verwaltungsgerichtsbarkeit vor. Aus der Stellung der Norm im Verfassungstext ergab sich deren systematische Zuordnung zur Justiz. Damit widersprach die Verfassung insofern dem erklärten Willen der SED. Dagegen ließ sich nach dem Wortlaut der Gründungsverfassung nicht auf die herausragende Bedeutung schließen, die dem Eingabenwesen zukommen sollte. Die förmlichen Rechtsmittel blieben zunächst neben dem Eingabenwesen auf der Grundlage spezialgesetzlicher Regelungen erhalten. Erst allmählich wurden sie zu allgemeinen Beschwerden im Sinne der Vorschlagsund Beschwerdeordnung von 1953 umfunktioniert und entsprechend behandelt. Im Zuge dieser Entwicklung bildete sich das Bewußtsein für rechtsstaatliche Formen im Verwaltungsverfahren (Fristen, Instanzenzüge, Formen, Begründungen) bei Bürgern und Verwaltungsorganen sukzessive zurück, bis

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im Jahr 1968 keine staatliche Stelle mehr die Übersicht über die jeweils einzelgesetzlich geregelten Rechtsmittel hatte. Die Staatsratsverfassung von 1968 dokumentierte die offizielle Aufwertung des Eingabenrechts von einem allgemeinen Mitgestaltungsrecht des Bürgers bei der Verwirklichung umfassender staatlicher Leitung hin zu einem "hochrangigen Mittel der Gesetzlichkeitswahrung" (vgl. Art. 103 ff. Staatsratsverfassung). Ansätze zu einer Umgestaltung und Neuorientierung des Eingabenwesens in Hinblick auf seine Rechtsschutzfunktion, teilweise verbunden mit einer Neubelebung der verwaltungsrechtlichen Diskussion, finden sich besonders dann, wenn Krisen die Herrschaft der SED bedrohten. Dagegen stand in Zeiten relativer Stabilität die Nutzbarmachung des Eingabenwesens zur Effektivierung der Volkswirtschaft im Vordergrund. Dies zeigt sich besonders deutlich an der Ausrichtung des Eingabenerlasses von 1961, mit dem der Staatsrat das Eingabenwesen an die - aus der Sicht der Staatsführung durch den Mauerbau stabilisierte politische Situation anpaßte und Ulbrichts Programme zur Wirtschaftsreform vorbereitete. Die in der Bevölkerung verbreitete Praxis, Eingaben mit rein örtlichem Bezug nicht an die örtlichen Volksvertretungen, sondern an zentrale Staatsorgane zu richten, blieb aus Sicht der Staatsführung der zentrale strukturelle Mangel des Eingabenwesens. Auf diesem Wege führte die Eingabenpraxis nicht zu der erstrebten "engen Verzahnung von Staatsorganen und Werktätigen" auf kommunaler Ebene, sondern zur Überlastung der Staats- und Parteispitze. Die fortlaufenden Modifikationen der normativen Grundlagen des Eingabenwesens vermochten hieran nichts zu ändern. Im Hinblick auf die ihnen innewohnende Signalisierungsfunktion nutzte und honorierte die Parteielite derartige Eingaben, auch wenn sie sich damit in Widerspruch zu ihren offiziellen Appellen setzte. Andere Gründe für die Ineffizienz des Eingabenwesens waren eigentlich verfassungsrechtlicher Natur und damit einer Regelung durch das jeweilige Eingabengesetz nicht zugänglich. Vor allem stand einer Konzentration der Eingaben auf lokaler Ebene die beschränkte Entscheidungsmacht entgegen, welche die örtlichen Organe im Zeichen des demokratischen Zentralismus für sich in Anspruch nehmen konnten. Beginnend mit der Gründungsverfassung, die den Gemeinden und Gemeindeverbänden in Artikel 139 das Selbstverwaltungsrecht zugestand, über das "Gesetz über die örtlichen Organe der Staatsrnacht" von 1957, nach dem die in allen Gebietseinheiten direkt zu wählenden Volkvertretungen als "oberste Organe der Staatsrnacht" das Grundgerüst der örtlichen Verwaltung bildeten, bis hin zur Staatsratsverfassung von 1968, welche in Art. 41 von den Städten und Gemeinden als "eigenverantwortlichen Gemeinschaften" sprach, suggerierte die Staatsführung eine Verwaltungsautonomie, welche den örtlichen Gemeinschaften in der Wirklichkeit niemals zukam. An der Praxis des Eingabenwesens

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zeigte sich, daß die Bevölkerung dieser Suggestion weitgehend nicht erlag. So kam den örtlichen Volksvertretungen (Bezirkstag, Kreistag, Gemeindevertretung) zwar eine gewisse Bedeutung als "kritisierendes, kontrollierendes und initiierendes Forum" (Joachim Türke) zu. Oftmals erschien es jedoch erfolgversprechender, sich direkt an eine Stelle zu wenden, der nicht nur die formale Entscheidungskompetenz zustand, sondern die darüber hinaus auch einen konkreten Ausnahmezustand feststellen und entsprechend handeln konnte. Die Übergewichtung des Eingabenwesens steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der von der SED schrittweise betriebenen Liquidierung der Verwaltungsrechtswissenschaft. Auf der Grundlage des "Identitätsdogmas" verwehrte die Staatspartei der Verwaltungsrechtswissenschaft einen eigenen Wirkungskreis zum Schutz des Bürgers vor obrigkeitlicher Willkür. Die rechtstheoretische Entwicklung des Verwaltungsrechts in der DDR vollzog sich in drei Phasen. Die erste Phase begann mit der Babelsberger Konferenz 1958 und endete im Jahr 1967. Sie ist gekennzeichnet durch das Bemühen der Rechtswissenschaftler, durch einen universellen Rechtszweig Staatsrecht auch die zuvor dem besonderen Verwaltungsrecht zugehörigen Materien zu erfassen. Dies erwies sich als rechtssytematisch undurchführbar und führte dazu, daß verschiedene Zweige des Verwaltungsrechts nicht erfaßt werden konnten. Die praktischen Auswirkungen der Ausschaltung der Verwaltungsrechtswissenschaft belasteten die Volkswirtschaft der DDR in so starkem Maße, daß die Beschlüsse der Babelsberger Konferenz zu Beginn der siebziger Jahre nahezu vollständig anulliert werden mußten. Die zweite, ganz am Maßstab der administrativen Effektivität orientierte Phase, begann 1967 und ging einher mit einer breiten wissenschaftlichen Debatte um eine marxistisch-leninistische Organisationswissenschaft. Die Frage des Verwaltungsrechtsschutzes blieb aus dem so als "Leitungsrecht" definierten Verwaltungsrecht weitgehend ausgeblendet und wurde mit dem Staatsratserlaß von 1969 als eine spezielle Art des Eingabenwesen den Beschwerdeausschüssen zugewiesen. Die unzureichende Kompetenz der Beschwerdeausschüsse schloß eine wirksamen Verwaltungskontrolle jedoch aus und führte dazu, daß die Bürger entweder gar nicht von den Beschwerdeausschüssen Gebrauch machten oder aber in ihren Erwartungen enttäuscht wurden. Die meisten Bürger unterstellten von vornherein die Ungeeignetheit der Beschwerdeausschüsse zur Korrektur fehlerhaften Verwaltungshandelns und ignorierten die Einrichtungen. Der zur Verbesserung der Akzeptanz erforderliche Ausbau der Kontrolleinrichtungen unterblieb indes, da er mit dem Organisationsprinzip der doppelten Unterstellung zu kollidieren drohte.

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Der VIII. Parteitag der SED im Jahre 1971 leitete mit dem Führungswechsel an der Staatsspitze die Reetablierung des Verwaltungsrechts erstmals wieder unter dieser Bezeichnung ein. Nach den Feststellungen des Parteitags sollte der Staat eine Aufwertung als Hauptinstrument bei der Gestaltung der "entwickelten sozialistischen Gesellschaft" erfahren. Aus der gleichzeitig geforderten Effizienzsteigerung ergab sich die Notwendigkeit einer Rückgängigmachung der auf der Babelsberger Konferenz beschlossenen Fusion von Staats- und Verwaltungsrecht. Die Vereinbarkeit einer externen Verwaltungskontrolle mit dem Dogma der Gewalteneinheit hatten andere sozialistische Staaten bereits in den sechziger Jahren unter Beweis gestellt. Spätestens seit Beginn der achtziger Jahre ging auch die Rechtswissenschaft der DDR nicht mehr von einer grundsätzlichen Unvereinbarkeit aus. Der wichtigste Grund für den Verzicht auf eine mit den Grundsätzen des Sozialismus vereinbare Verwaltungskontrolle war die Furcht der SED, sich institutionell dem westlichen Rechtssystem anzunähern. Die verwaltungsrechtliche Forschung der siebziger Jahre diente erklärtermaßen vorrangig der Gewährleistung einer exakten Arbeit des Staatsapparats, der Herstellung einer engeren Verbindung zwischen Staatsapparat und Werktätigen, der Rationalisierung der Staatstätigkeit sowie der Qualifizierung der Kader. Möglichkeiten zur Realisierung subjektiver Rechte standen zunächst nicht im Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit verwaltungsrechtlichen Fragen; ihnen kam eher reflexartig Bedeutung zu. Mit der Differenzierung verwaltungsrechtlicher Normen in Aufgaben- und Regelnormen fand die DDR-Verwaltungsrechtswissenschaft einen grundsätzlich neuen Ansatz zur Charakterisierung des sozialistischen Verwaltungsrechtssystems. Zu Beginn der achtziger Jahre konkretisierte sich zunächst die wissenschaftliche Diskussion um die Schaffung eines einheitlichen Verwaltungsverfahrensrecht. Die Zielsetzungen divergierten stark und reichten von einer Verstärkung kooperativer Regelung im Verhältnis zwischen Bürger und Staatsorganen (Büchner-Uhder) bis hin zur Festigung der juristischen Garantien des Bürgers im Verwaltungsrecht (Bönninger). Im Jahre 1983 fand die Möglichkeit einer Kontrolle von Verwaltungsakten durch die (ordentliche) Gerichtsbarkeit erstmals offizielle Erwähnung. Das unter dem Druck der KSZE-Folgekonferenzen 1987 zustande gekommenen Gesetz über die Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen bildete eine Rechtsweggarantie nur formal nach und blieb in der Praxis bedeutungslos. Wichtigster Grund für das Scheitern des Gesetzes war das Fehlen eines Verwaltungsverfahrensrechtes. Trotzdem schuf das GNV entscheidende Anschlüsse für die Überführung der Verwaltung der DDR in ein rechtsstaatliches gesamtdeutsches System.

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11. Unveröffentlichte Quellen zum zweiten Teil 1. Archivmaterial des Bundesarchivs

a) Bestand: Ministerium der Justiz (DP 1) BArch DP 1 VA Nr. 4606 - Analyse der Eingaben für die Jahre 1973-1979 des Ministeriums der Justiz der DDR.

b) Bestand: Staatsrat (DA 5) BArch DA 5 Nr. 5457 Eingabenberichte. 1. Bericht über den Hauptinhalt und Probleme der an die Volkskammer, den Staatsrat und seinen Vorsitzenden gerichteten Eingaben der Bürger (22. März bis 26. April 1968). 2. wie vorstehend, für den Berichtszeitraum 23.5. bis 22.7.1968. 3. wie vorstehend, für den Berichtszeitraum 23.7. bis 22.8.1969. 4. wie vorstehend, für den Berichtszeitraum 23.8. bis 22.9.1968. 5. wie vorstehend, für den Berichtszeitraum 23.9. bis 22.10.1968. 6. wie vorstehend, für den Berichtszeitraum 23.10. bis 22.11.1968. 7. wie vorstehend, für den Berichtszeitraum 23.12.1968 bis 22.1.1969. 8. Bericht der Rechtsabteilung über den Hauptinhalt und Probleme der im Jahre 1968 bearbeiteten Eingaben an Genossen Vieillard, 16.12.1968. 9. Informationsbericht über den wesentlichen Inhalt der an den Vorsitzenden und die Mitglieder des Staatsrates sowie an die Volkskammer gerichteten Eingaben im Monat April 1968.

Literatur- und Quellenverzeichnis

469

10. wie vorstehend, für den Berichtszeitraum Mai 1968. 11. wie vorstehend, für den Berichtszeitraum Juni 1968. 12. wie vorstehend, für den Berichtszeitraum August 1968. 13. wie vorstehend, für den Berichtszeitraum September 1968. 14. wie vorstehend, für den Berichtszeitraum Oktober 1968. 15. wie vorstehend, für den Berichtszeitraum November 1968. 16. Bericht über den Inhalt und die Bearbeitung der an den Vorsitzenden und die Mitglieder des Staatsrates gerichteten Eingaben im Jahre 1968. BArch DA 5 Nr. 7305

- Entwürfe zur Neufassung des Eingabenerlasses. BArch DA 5 Nr. 7306 Materialien zum Eingabenerlaß.

- Vom Rektor genehmigte Stellungnahme der Akademie für Staat und Recht "Walter Ulbricht" in Potsdam-Babelsberg für den stellvertretenden Staatsratsvorsitzenden Dr. Gerlach zum Entwurf der Novelle des Eingabenerlasses v. 10.1.1969. BArch DA 5 Nr. 7307

- Tätigkeit der Arbeitsgemeinschaft des Staatsrates zur Neufassung des Eingabenerlasses und Bildung von Beschwerdeausschüssen bei den örtlichen Volksvertretungen (beschlossen auf der 8. Sitzung des Staatsrates am 22.4.1968). BArch DA 5 Nr. 7308

- Sitzung der Arbeitsgemeinschaft des Staatsrates zur Neufassung des Eingabenerlasses vom 9.5.1968. BArch DA 5 Nr. 7309

Sitzung der Arbeitsgemeinschaft des Staatsrates zur Neufassung des Eingabenerlasses vom 7.6.1968. BArch DA 5 Nr. 7310

- Sitzung der Arbeitsgemeinschaft des Staatsrates zur Neufassung des Eingabenerlasses vom 27.6.1968. BArch DA 5 Nr. 7311

- Sitzungen der Arbeitsgemeinschaft des Staatsrates zur Neufassung des Eingabenerlasses vom 11.9./17.10.1968.

470

Literatur- und Quellenverzeichnis

BArch DA 5 Nr. 7312 - Reise in die Sowjetunion zum Erfahrungsaustausch über die Eingabenbearbeitung vom 27.5.-1.6.1968. BArch DA 5 Nr. 7314 - Eingabenerlaß vom 20.11.1969. BArch DA 5 Nr. 9013 Informationen aus den Abteilungen/Abteilung Eingaben. 1. Erfahrungen aus der Tätigkeit von Beschwerdeausschüssen örtlicher Volksvertretungen, Bericht des Vorsitzenden des Ausschusses für Eingaben der Bürger (der Volkskammer) an den Sekretär des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik, Heinz Eichier, den Ersten Stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Horst Sindermann, und den Leiter der Abteilung Staats- und Rechtsfragen beim Zentralkomitee der SED, Dr. Klaus Sorgenicht, vom 21. Juli 1972. 2. Vertraulicher Vermerk über Eingaben zu Reiseverkehrsfragen des Vorsitzenden des Eingabenausschusses der Volkskammer, Heinz Eichler, vom 26.10.1972. 3. Vermerk (s. Ziffer 2) vom 2.11.1972. 4. Vermerk (s. Ziffer 2) vom 10.11.1972. BArch DA 5 Nr. 11367 Eingabenberichte des Staatsrates. 1. Auszug aus dem Jahresbericht 1961 über die Bearbeitung der Eingaben der Bürger in der Kanzlei des Staatsrates. 2. Bemerkungen des Genossen Ulbricht zu Fragen der Eingaben. BArch DA 5 Nr. 11370 Jahresbericht 1964 und Materialien der Staatsratssitzung. 1. Bericht über den Inhalt der an den Staatsrat gerichteten Eingaben und über Erfahrungen bei der Durchführung des Eingabenerlasses. (Stücknr. 7200) 2. Geheime Staatsratsangelegenheit Nr. 10/65: Bericht über die Verwirklichung des Erlasses des Staatsrates über die Eingaben der Bürger und die Bearbeitung durch die Staatsorgane in der Tätigkeit des Ministerrates und seiner Organe. (Stücknr. 7209) 3. Diskussionsbeitrag für die Sitzung des Staatsrates am 27.1.65. 4. Schlußwort Walter Ulbrichts auf der Sitzung des Staatsrates am 27.1.1965. BArch DA 5 Nr. 11372 Bericht des Staatsrates auf der 18. Sitzung der Volkskammer am 21.12.1965. 1. Bericht des Stellvertreters des Vorsitzenden des Staatsrates, Dr. Manfred Gerlach, über die Durchführung des Erlasses über die Eingaben der Bürger und die Bearbeitung durch die Staatsorgane vom 27.2.1961.

Literatur- und Quellenverzeichnis

471

2. Antrag des Staatsrates der DDR zum Bericht des Staatsrates über Erfahrungen bei der Durchführung des Eingabenerlasses im Jahre 1965. Eingabenberichte höchster Staatsorgane (Staatsrat, Ministerrat, Generalstaatsanwalt, Oberstes Gerichts), jeweils mit statistischem Anhang. 1971 - BArch DA 5 Nr. 11379

1973 - BArch DA 5 Nr. 11380 1974 - BArch DA 5 Nr. 11381 1975 - BArch DA 5 Nr. 11382 1976 - BArch DA 5 Nr. 11383 1977 - BArch DA 5 Nr. 11384 1978 - BArch DA 5 Nr. 11385 1979 - BArch DA 5 Nr. 11386 1980 - BArch DA 5 Nr. 11387 c) Bestand: Ministerrat (DC 20 1/3) BArch DC 20 1/3 Nr. 1247 90. Sitzung des Staatsrats v. 15. Mai 1975, Protokollband I. - Beschluß zum Entwurf des Gesetzes über die Bearbeitung der Eingaben der Bürger - Eingabengesetz; Entwurf des Eingabengesetzes. (BI. 176-185) BArch DC 20 1/3 Nr. 1435 23. Sitzung des Ministerrates vom 29. September 1977, Protokollband 11. 1. Beschluß des Ministerrates zum Bericht über die Durchführung des Eingabengesetzes vom 29. September 1977. 2. Bericht des Rats der Stadt Leipzig an den Ministerrat über die Durchführung des Eingabengesetzes vom 29. September 1977. (BI. 126-142) 3. Stellungnahme des Komitees der Arbeiter-und-Bauern-Inspektion zum Bericht des Rates des Bezirkes Leipzig über die Durchführung des Eingabengesetzes. (BI. 143-149) BArch DC 20 1/3 Nr. 1932/1 52. Sitzung des Ministerrates vom 12. Mai 1983. 1. Beschluß zur Auswertung der Fest1egungen auf der Sitzung des Staatsrates der DDR vom 25. April 1983 (mit Anlagen). 2. (Anlage 4) Bericht über den Hauptinhalt der an den Staatsrat gerichteten Eingaben der Bürger im Jahre 1982. (BI. 260-272) 3. (Anlage 5) Bericht des Obersten Gerichts über die Bearbeitung von Eingaben im Jahre 1982. (BI. 273-285) 4. (Anlage 6) Bericht über die Arbeit der Staatsanwaltschaft mit den Eingaben im Jahre 1982. (BI. 286-300)

472

Literatur- und Quellenverzeichnis

BArch DC 20 1/3 Nr. 2140 108. Sitzung des Ministerrates vom 14. März 1985, Bd. 3. 1. Beschluß über die Auswertung der Tagung des Staatsrates der DDR vom 4. März 1985 zur Arbeit mit den Eingaben der Bürger und zum Bericht über die an den Ministerrat im Jahre 1984 gerichteten Eingaben. 2. Anlage: Übersicht über Eingaben und Zuschriften im Jahre 1984. (BI. 96)

BArch DC 20 1/3 Nr. 2788 91. Sitzung des Ministerrates vom 23. März 1989, Bd. 2. 1. Beschluß über die Auswertung der Tagung des Staatsrates der DDR am 3. März 1989 zur Arbeit mit den Eingaben der Bürger und zum Bericht über die an den Ministerrat im Jahre 1989 gerichteten Eingaben der Bürger. 2. Anlage Nr. 3: "Bericht über die an die Staatsanwaltschaft gerichteten Eingaben der Bürger im Jahre 1988". (BI. 147-158) 3. Schreiben Heinz Eichlers an Willi Stoph. (BI. 180) 4. Bericht über die Tätigkeit der Öffentlichen Sprechstunde des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR im Jahre 1988. (BI. 181 f.) 5. Übersicht über Eingaben und Zuschriften im Jahr 1988. (BI. 184) 6. Übersicht zur Sozialstruktur der Eingabeneinsender und deren Anliegen. (BI. 186) 7. Übersicht über die Ergebnisse der an die Staats- und Wirtschaftsorgane übergebenen Eingaben im Jahr 1988. (BI. 187) 8. Durch die Gerichte der DDR ausgesprochene Verurteilungen im Verhältnis zu den durch das Oberste Gericht überprüften Kassationsanregungen auf dem Gebiet des Strafrechts. (BI. 188) 9. Bei den Gerichten der DDR anhängige Verfahren im Verhältnis zu den durch das Oberste Gericht überprüften Kassationsentscheidungen auf dem Gebiet des Zivil-, Familien- und Arbeitsrechts. (BI. 189) d) Präsidium des Ministerrats (DC 201/4)

BArch DC 20 1/4 Nr. 4247 104. Sitzung des Präsidiums des Ministerrats vom 11. Januar 1979, Band 5. 1. Schreiben des Außenministers der DDR Oskar Fischer an den Leiter des Sekretariats des Ministerrats der DDR, Staatssekretär Dr. Kurt Kleinert, bezüglich der Behandlung von Eingaben aus dem Ausland vom 29.12.1979. (BI. 68) 2. Beschluß des Präsidiums des Ministerrats Nr. 104/1. 16.4/79 vom 9. Januar 1979 bezüglich der Behandlung von Personen aus anderen Staaten oder aus Berlin (West), die bei Staatsorganen der DDR wegen angeblicher Verletzungen der Menschenrechte in der DDR vorstellig werden. (BI. 66 f.)

Literatur- und Quellenverzeichnis

473

BArch DC 20 1/4 Nr. 5487 153. Sitzung des Präsidiums des Ministerrats vom 25. Oktober 1984, Bd. 11. I. Beschluß zum Bericht des Rates des Bezirkes Dresden über die ordnungsgemäße Arbeit mit den Eingaben der Bürger (mit Anlagen). 2. (Anlage 1) Bericht des Rats des Bezirks Dresden. (BI. 136-147) 3. (Anlage 2) Stellungnahme des Komitees der Arbeiter-und-Bauern-Inspektion. (BI. 150-156) e) Bestand: "Volkskammer" (DA 1)

BArch DA 1 Nr. 12725 1. Antrag des Ministerrats vom 29. Mai 1975 auf Beschluß des Gesetzes über die Bearbeitung der Bürger - Eingabengesetz - durch die Volkskammer. 2. Stenografisches Protokoll der Sitzung des Verfassungs- und Rechtsausschusses der Volkskammer am 12. Juni 1975. 2. Archivmaterial der Stiftung der Parteien und Massenorganisationen (SAPMO) Bestand "Zentralkomitee der SED/Abteilung Staats- und Rechtsfragen

SAPMO BArch DY 30 IV 2/13 Nr. 15 (FBS 178/8734) Auswertung und Durchführung der Beschlüsse der 3. Parteikonferenz. 1. Arbeitsprogramm der Abteilung zur Auswertung der Beschlüsse der 3. Parteikonferenz (o.B.) 2. Schlussfolgerungen aus der 3. Parteikonferenz für die staatlichen Organe. 3. Ausarbeitung "Die Rolle der Arbeiter-und-Bauern-Macht in der DDR" von Karl Polak.

SAPMO Barch DY 30 IV 2/13 Nr. 45 (FBS 178/8749) Grundsatzfragen, Sitzungen der Kommission für Staats- und Rechtswissenschaft beim Politbüro am 7. Juli, 11. August und 20. Oktober 1958. I. Programm der Realisierung der auf der Babelsberger Konferenz am 2. und 3. April 1958 gegebenen Hinweise für die Änderung der staats- und rechtswissenschaftlichen Forschungs-, Lehr-, und Erziehungsarbeit in der DDR. 2. Auswertung des V. Parteitages der SED für die Ausarbeitung und Propagierung der Probleme des Arbeiter-und-Bauern-Staates und der Fragen der Kodifizierung. SAPMO BArch DY 30 IV 2/13 Nr. 94 (FBS 178/8779) Analyse der Entwicklung der Eingaben und der Mitarbeit der Bevölkerung an der Lenkung und Leitung des Staates 1955-1957 sowie 1960. I. Aktennotiz des Sektors Örtliche Räte betreffend die Bearbeitung der Beschwerden der Bevölkerung durch die Staatsorgane vom 18.5.1955. (BI. 1-6)

474

Literatur- und Quellenverzeichnis

2. Analyse der eingegangenen Beschwerden und Anfragen in den Monaten April bis Juni 1956 des Sektors Leitende Räte vom 6. 7. 1956. (BI. 12-14) 3. Analyse der eingegangenen Beschwerden und Anträge im 3. Quartal 1956 des Sektors Leitende Staatsorgane vom 13.10.1956. (BI. 19-21) 4. Analyse der Beschwerden für das III. Quartal 1956 des Sektors Justiz - undatiert. (BI. 22-23) 5. Beschwerdeanalyse des Sektors Örtliche Organe Juli bis September 1956 - undatiert. (BI. 24-27) 6. Analyse der eingegangenen Beschwerden und Anträge im 4. Quartal 1956 des Sektors Leitende Staatsorgane vom 2.1.1957. (BI. 28-30) 7. Analyse der Beschwerden für das IV. Quartal 1956 des Sektors Justiz vom 9.1.1957. (BI. 31-32) 8. Beschwerdeanalyse für das IV. Quartal des Sektors Örtliche Organe vom 15.1.1957. (BI. 33-36) 9. Analyse der eingegangenen Beschwerden und Anfragen im 1. Quartal 1957 des Sektors Leitende Staatsorgane. (BI. 37-38) 10. Beschwerdeanalyse für das 1. Quartal 1957 des Sektors Staats- und Rechtsfragen vom 15.4.1957. (BI. 39-41) 11. Analyse der Beschwerden für das 1. Quartal 1957 des Sektors Justiz vom 24.4.1957. (BI. 42-43) 12. Analyse der Beschwerden für das 11. Quartal 1957 des Sektors Justiz vom 4. Juli 1957. (BI. 44-45) 13. Analyse der eingegangenen Beschwerden und Anträge im 2. Quartal 1957 des Sektors Leitende Staatsorgane vom 9.7.1957. (BI. 46-47) 14. Bericht über den Stand der Entwicklung der Eingaben und der Mitarbeit der Bevölkerung an der Lenkung und Leitung des Staates. (BI. 48-162) SAPMO BArch DY 30 IV 2/13 Nr. 96 (FBS 178/8780) Grundsatzfragen zur Festigung der sozialistischen Gesetzlichkeit, Verordnungen und Gesetzgebungsarbeiten der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands und der DDR 1945-1963, Eingabe-, Vorschlags-, und Beschwerderecht der Bürger der DDR.

1. Grundsätze für das Gesetz über das Eingaberecht der Bürger der DDR. (BI. 287-291) 2. Entwurf eines Gesetzes über die Errichtung von Beschwerdeausschüssen bei den Organen der staatlichen Verwaltung. (BI. 292-296) 3. Aktennotiz (vermutlich von Professor Weichelt) bzg1. eines Gesetzes über das Eingaberecht der Bürger. (BI. 297-298) 4. Erster Entwurf eines Gesetzes über das Vorschlags- und Beschwerderecht der Bürger der Deutschen Demokratischen Republik und seine Gewährleistung undatiert. (BI. 299-310) 5. Vierter Entwurf eines Gesetzes "über das Vorschlags- und Beschwerderecht der Bürger der DDR und seine Gewährleistung". (BI. 311-318)

Literatur- und Quellenverzeichnis

475

6. Bericht über den Stand der Vorbereitungen für den Gesetzentwurf Vorschlagsund Beschwerderecht der Bürger - undatiert. (BI. 319-334) 7. Aktennotiz für Klaus (vennutlich Klaus Sorgenicht) über den Entwurf eines Eingabengesetzes vom 25.9.1959. 8. Beschluß über das Eingaberecht der Bürger. (BI. 339-349) SAPMO BArch DY 30 IV 2//3 Nr. IIO - Protokoll der Tagung für aktuelle Fragen der Staatsverwaltung und Koordinierung der Landespolitik in Werder an der Havel am 23. und 24. Juli 1948. 1. Die neuen Aufgaben der staatlichen Verwaltung, Referent: Walter Ulbricht. (BI. 11-49).

2. Die Einheit der demokratischen Verwaltung und die Erfahrungen der Verwaltungsarbeit der DWK und der Landes- und Kreisverwaltungen, Referent: Erwin Lampka. (BI. 50-66) 3. Die Personalpolitik in der Verwaltung, Referent: Erich Mielke. (BI. 67-76) 4. Aussprache zum ersten Verhandlungstag. (BI. 105-166) 5. Die neuen Aufgaben im Finanzwesen und Spannaßnahmen in der Verwaltung, Referent: Henry Meyer. (BI. 183-205) 6. Die Funktionen der Kontrollkommissionen und der Volkskontrollorgane, Referent: Fritz Lange. (BI. 211) 7. Schlußwort von Walter Ulbricht. (BI. 167-182) SAPMO BArch DY 30 IV 2/13/254 (FBS 178/8853) Vorbereitung der Arbeit und Struktur des Staatsrates. 1. Bericht über den Eingabenerlaß 1961-1962.

2. Ausführungen von Walter Ulbricht zum Eingabenerlaß. SAPMO BArch DY 30 IV 2/13/255 (FBS 178/8854)

- Eingabenanalysen des Staatsrates 1961-1962 SAPMO BArch DY 30 IV 2//3/447 (FBS /78/8957) Berichte und Infonnationen des Ministeriums der Justiz über die Arbeit der Konfliktkommissionen und über Bevölkerungseingaben 1959-1961. - Vorlage für das Kollegium des Ministeriums der Justiz: Analyse des Beschwerdereferats des Ministeriums der Justiz über die Eingaben der Bevölkerung im Jahre 1960.

3. Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA) Rep. 410 Nr. /329 Bezirkstag und Rat des Bezirkes Potsdarn: Allgemeiner Schriftverkehr zu den Beschwerdeanalysen sowie Material zur Erarbeitung der Analysen, Jahre 1953 bis 1956.

1. Punkte für die Beschwerdebearbeitung, gegeben von der Präsidialkanzlei, Januar 1956. (BI. 13)

476

Literatur- und Quellenverzeichnis

2. Ratsvorlage über die Bearbeitung von Vorschlägen und Beschwerden im Bezirk Potsdarn. (BI. 28-43) Rep. 410 Nr. 1388 Bezirkstag und Rat des Bezirkes Potsdarn.

- Beschwerdestatistiken und -analysen des Vorsitzenden sowie der Stellvertreter des Vorsitzenden (1955 und 1956). Rep. 410 Nr. 1389 Bezirkstag und Rat des Bezirkes Potsdarn.

- Bericht des Bevollmächtigten der ZKK im Bezirk Potsdarn, Kontrollgruppe "Briefe der Werktätigen" über die Überprüfung der Bearbeitung und Auswertung von Beschwerden beim Rat des Kreises Nauen (im 2. Halbjahr 1953). Signatur: 12803 Bezirkstag und Rat des Bezirks Potsdarn.

Eingabenbearbeitung 1967. Signatur: 3658 Bezirkstag und Rat des Bezirks Potsdam.

- Bericht des Rates des Bezirkes Potsdam über den Stand der Durchführung des Erlasses des Staatsrates vorn 27.2.1961 über die Eingaben der Bürger und die Bearbeitung der Staatsorgane im 1. Halbjahr 1963. Signatur: 5340

13. Sitzung des Bezirkstages vorn 25. Februar 1970. Signatur: 5344

17. Sitzung des Bezirkstages vorn 21. Dezember 1970. Signatur: 5348

20. Sitzung des Bezirkstages vorn 27. September 1971. Signatur: 5351

3. Sitzung des Bezirkstages vorn 27. April 1972. Signatur: 5354

6. Sitzung des Bezirkstages vorn 21. Dezember 1972. Signatur: 7613 Bezirkstag und Rat des Bezirks Potsdarn.

- Eingabenanalysen der Strukturteile des Rates für 1971.

Literatur- und Quellenverzeichnis

477

Signatur: 7614 Bezirkstag und Rat des Bezirks Potsdarn. - Eingabenanalysen der Räte der Städte und Kreise für 1971. Signatur: 8515 Bezirkstag und Rat des Bezirks Potsdarn. - Eingaben 1973-1974. Signatur: 8516 Bezirkstag und Rat des Bezirks Potsdam. - Eingaben, die im Jahr 1974 an den Rat des Bezirks Potsdam gerichtet wurden. Signatur: 8517 Bezirkstag und Rat des Bezirks Potsdarn. - Eingaben 1974 (hieraus zitiert: Eingabenvorgang Nr. 40 vom 19.3.1974 ). 11I. Archivmaterial zum dritten Teil

1. Bundesarchiv Berlin-Lichterfe1de BArch DP 1 (VA) Nr. 8758 Handakte von Staatssekretär im MdJ Dr. Peiler. Denkschrift "Konsequenzen aus der Erweiterung der gerichtlichen Nachpüfung von Verwaltungsentscheidungen für die Stellung der Gerichte und für die Gestaltung des Gerichtsverfassungsrechts" vom 16.11.1988. BArch DP 1 (SE) Nr. 2057 Abteilung Öffentliches Recht (1988-1989), Vorbereitung und Erweiterung sowie Entwürfe zur Gerichtlichen Nachprüfung (GNV) - Material unsortiert, Verzeichnis in chronologischer Reihenfolge. 1. Studie: "Möglichkeiten und Grenzen der Inanspruchnahme der Gerichte bei rechtswidrigen Entscheidungen von Organen des Staatsapparates gegenüber Bürgern" vom 30. Januar 1980. (Verfaßt von den Dozenten der Akademie für Staat und Recht Dr. sc. jur. Sighart Lörler [Leiter des Lehrstuhls Wirtschaftsrecht], Dr. jur. Günther Duckwitz und Dr. jur. Heidrun Pohl [beide Lehrstuhl Verwaltungsrecht] unter der Leitung von Prof. Dr. sc. jur. Gerhard Schulze [1. Prorektor der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR)) 2. "Konzeption über die nächsten Aufgaben zur Anleitung der Rechtsarbeit der örtlichen Staatsorgane und auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts" des Ministeriums der Justiz der DDR vom 20. Januar 1988. 3. Rechtsgutachten ,,zu den Möglichkeiten und Grenzen einer gerichtlichen Überprüfung von Verwaltungsrechtsentscheidungen" vom 2. Mai 1988 (verfaßt von Prof. Dr. sc. Gotthold Bley, Dozent Dr. sc. Helmut Grieger, Dozent Dr. sc. Frohmut Müller).

478

Literatur- und Quellenverzeichnis

4. "Gedanken und Probleme zur Studie ,Möglichkeiten und Grenzen der gerichtlichen Überprüfung von Verwaltungsentscheidungen '" von Prof. Dr. sc. Gerhard Schulze, Potsdam, 10. Mai 1988. 5. "Bemerkungen zur Erweiterung der gerichtlichen Zuständigkeit in Verwaltungsangelegenheiten" (mit Anschreiben des Leiters der Abteilung Verwaltungsrecht beim Ministerium der Justiz der DDR, Dr. Christoph, an die Leitein des Lehrstuhls Verwaltungsrecht bei der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR Potsdam-Babelsberg vom 16. Mai 1988. 6. "Position zur Erweiterung der Zuständigkeit der Gerichte zur Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen" des Ministeriums der Justiz vom 8. Juni 1988. 7. Ergebnisprotokoll der Arbeitsgruppe zur Erweiterung der gerichtlichen Zuständigkeit vom 10. Juni 1988. 8. Erster Entwurf des Gesetzes über die gerichtliche Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen vom 17. Juni 1988. 9. Ergebnisprotokoll der Sitzung der Arbeitsgruppe zur Erweiterung der gerichtlichen Zuständigkeit am 24. Juni 1988. 10. Protokoll über die konstituierende Sitzung der Gesetzgebungskommission zum gerichtlichen Verfahren in Verwaltungsangelegenheiten und den sich daraus ergebenden Aufgaben für die Gesetzgebung und die Gerichtsorganisation am 23.06.1988 im Ministerium der Justiz vom 24. Juni 1988. 11. Vorlage für das Politbüro des ZK der SED betreffs Maßnahmen zur Erweiterung der Möglichkeiten der Überprüfung bestimmter Verwaltungsentscheidungen durch die Gerichte vom 27. Juli 1988 (mit Begründung). 12. Position zur Erweiterung der Zuständigkeit der Gerichte zur Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen des Ministeriums der Justiz vom 8. August 1988. 13. Ergebnisprotokoll über die am 12.8.1988 durchgeführte Beratung der Gesetzgebungskommission zur Erweiterung der Zuständigkeit der Gerichte. 14. Konzeption für die Ausführungen des Ministers zur Eröffnung der Beratung am 16. August 1988 (Ministertagung). 15. Schreiben des Ministers für Hoch- und Fachschulwesen, Böhme, an den Minister der Justiz, Dr. Heusinger, vom 18. August 1988. 16. Einschätzung des Umfangs der bei einer Erweiterung der Zulässigkeit des Gerichtsweges für Verwaltungsangelegenheiten zu erwartenden Verfahren des Staatssekretärs im Ministerium der Justiz vom 22. August 1988. 17. Schreiben des Ministers für Staatssicherheit, Mielke, an den Minister der Justiz, Dr. Heusinger, bezüglich GNV-Entwürfe vom 22. August 1988. 18. Position zur gerichtlichen Nachprüfung von Entscheidungen zu § 10 (3) RVO des Ministeriums der Justiz der DDR vom 3. August 1989. 19. Position zur schrittweisen Erweiterung der gerichtlichen Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen des Ministeriums der Justiz vom 12. September 1989. 20. Vorlage Nr. 01-01/89 zur Kollegiumssitzung des Ministeriums der Justiz am 3. November 1989. 21. Entwurf einer Neufassung des Gesetzes über die Zuständigkeit und das Verfahren der Gerichte zur Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen vom 9. November 1989.

Literatur- und Quellenverzeichnis

479

BArch DP 1 (SE) Nr. 2058 Materialien zum GNV: Entwürfe der Anpassungsvorschriften, Vorbereitung der Gerichte, Schulungsmaßnahmen, Fragestellung zum GNV, Nachfolgegesetzgebung, Konsultativrat.

1. Standpunkt Nr. 2 des Konsultativrats "Gerichtliche Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen" zum Thema "Stellung und Rechte des Staatsanwalts im gerichtlichen Nachprüfungsverfahren" vom 3. Februar 1989. 2. "Orientierung" des Ministeriums der Justiz "zur Bearbeitung von Eingaben der Bürger im Zusammenhang mit Verwaltungsentscheidungen, die der gerichtlichen Nachprüfung unterliegen" (Juni 1989). BArch DP 1 (SE) Nr. 2063 Materialien zur Neufassung des Gesetzes über die Zuständigkeit und das Verfahren der Gerichte zur Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen - GNV - 1989/90.

1. Schreiben von Prof. Dr. Wünsche an den Vorsitzenden des Rechtsausschusses der Volkskammer der DDR, Hans-Joachim Hacker, vom 20.7.1990. 2. Begründung des MdJ zum Entwurf der Neufassung des GNV vom 16.4.1990. BArch DP 1 (SE) Nr. 2070: Abteilung Öffentliches Recht, Erfahrungen und Materialien zu verwaltungsverfahrensrechtlichen Regelungen anderer Länder - VRP, UdSSR, VRB, BRD, UVR, Rumänien, FSRJ, VR China - 1987-1990).

1. Schreiben des Ministers der Justiz, Dr. Heusinger, an den Minister für Auswärtige Angelegenheiten, Fischer. Anlage: Fragebogen bezüglich der gerichtlichen Verwaltungskontrolle in anderen sozialistischen Staaten (undatiert). 2. Schreiben des Staatssekretärs im ungarischen Justizministerium, Dr. Gyula Borics, an den Minister der Justiz der DDR, Dr. Heusinger, vom 28. Juni 1988. 3. Schreiben des Ministers der Justiz der Tschechischen Sozialistischen Republik an Minister Heusinger vom 1. Juli 1988. 4. Schreiben des Ministers der Justiz der Slowakischen Sozialistischen Republik, Milan Cic, an Minister Heusinger vom 20.6.1988. 5. Schreiben des Ministers der Justiz der Volksrepublik Bulgarien an Minister Heusinger vom 22.7.1988. 6. Rechtsvergleichende Information: "Zur Zuständigkeit von Gerichten in europäischen sozialistischen Staaten bei Einsprüchen von Bürgern in Verwaltungsentscheidungen" des Ministeriums der Justiz (Abteilung Internationale Beziehungen) vom 17.8.1988. 7. Übersichten über den Zustand des Verwaltungsverfahrensrechts in anderen sozialistischen Staaten vom 23.1.1989 (Erstellt von Mitarbeitern des Lehrstuhls Verwaltungsrecht der Sektion Staats- und Rechtswissenschaften der FriedrichSchiller-Universität Jena unter Leitung von Prof. Dr. sc. jur. Wolfgang Bernet für das Ministerium der Justiz, Abteilung Verwaltungsrecht). 8. Information des Ministeriums der Justiz der DDR zur Situation des Verwaltungsverfahrens in der UdSSR.

480

Literatur- und Quellenverzeichnis

BArch DP 1 (SE) Nr. 3757/1: Eingabenarbeit: Grundsätzliches - Regelungen 1971- 1978. l. Hausverfügung Nr. 26/75 zur Bearbeitung und Analyse der Eingaben der Bürger durch die Gerichte vom 15.12.1975. 2. Stellungnahme zu den rechtlichen Beziehungen zwischen Eingaben und Entscheidungen, die im Zuge der gerichtlichen Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen getroffen werden der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR vom 9. November 1988. 2. Archivmaterial der Stiftung der Parteien und Massenorganisationen (SAPMO) (Bestand "Zentralkomitee der SED/ Abteilung Staats- und Rechtsfragen)

SAPMO BArch DY 30 J IV 2/2A Vorlagen für die Tagung des Politbüros des Zentralkomitees der SED am 10. Mai 1988. - Vorlage der Abteilung Internationale Verbindungen des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten bezüglich "Ergänzung der Direktive für das Auftreten der DDR-Delegation in der Redaktionsarbeit des Wiener Folgetreffens der Teilnehmerstaaten der KSZE in der Frage rechtlicher Verfahren bei der Inanspruchnahme von Menschenrechten und Grundfreiheiten" vom 3. Mai 1988.

Personenverzeichnis Anschütz, Gerhard 100 Benjamin, Hilde 33 f., 39 f., 50, 79, 170,297 Benjamin, Michael 384, 388, 394 f. Bernet, Wolfgang 399 ff., 419, 434 Bertz, Paul 51 ff. Bönninger, Karl 176 ff., 187 f., 191 f., 228,351, 386, 390 ff., 395 ff., 434 Brachmann, Ronald 419 BrilI, Hermann 70 f. Büchner-Uhder, Willi 376 ff., 385 Churchill, Winston 111 Chrustchow, Nikita 185 Ebert, Friedrich 294 f. Ehard, Hans 130 Eichler, Heinz 287 f., 366 Engels, Friedrich 150 Gentz, Karl 50 Gerlach, Manfred 251 f., 320, 329 ff., 346, 353 Gneist, Rudolf (von) 91 f., 94 ff. Groener, Wilhe1m 42 Grotewohl, Otto 67 f., 132, 133, 200 Haupt, Lucie 341, 352 Heusinger, Hans-Joachim 314 ff., 415, 418 Heym, Stephan 160 ff. Himmler, Heinrich 55 Hochbaum, Hans-Ulrich 180, 187, 192, 214,389,394 Honecker, Erich 383 Hönl, Karl 201, 206 f. 31 Hoeck

Jellinek, Georg 47, 101 Jellinek, Walter 84, 94 f., 110 Knauth, Rudolf 71 Koenen, Wilhelm 68 f. Kollreuther, Otto 94 Krenz, Egon 422 Kröger, Herbert 372 Kühnau, Karl-Heinz 337, 370 Laband, Paul 186, 389 f. Lassalle, Ferdinand 129 Lenin, Wladimir Iljitsch 150, 154 f., 199 Loening, Hellmuth 72 ff., 76 f., 90, 97, 124 f. Marx:, Karl 60, 139 ff., 150 Mayer, Otto 389 f. Melsheimer, Ernst 39 f., 50, 56, 67 f., 98, 104 f., 108 Menzel, Wolfgang 179 ff., 207, 209, 241 f., 376 ff. Mollnau, Karl August 189 f., 434 ff. Paul, Rudolf 71 ff., 76 Pieck, Wilhelm 30 f., 53, 132, 200 Pohl, Heidrun 419 Polak, Karl 40, 56 ff., 65 ff., 144, 158 f., 322 f. Popitz, Johannes 55 Poppe, Eberhard 378 ff., 385 Preuß, Hugo 93 Radbruch, Gustav 47, 61

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Personen verzeichnis

Schiffer, Eugen 36 f., 39 ff., 76, 89 ff., 110, 112, 127 Schrnidt, Hennann 52 Schukow, Georgi 27 f., 31 ff., 40 Schulze, Gerhard 372, 385, 409 ff., 419 Sindennann, Horst 366 Sokolowski, Wassili 27, 35 Sorgenicht, Klaus 237, 254 ff., 280 ff., 367 Stalin, Josef Wisarionowitsch 29 f., 151, 199 Steiniger, Alfons 24, 136, 163 f., 176 Stoph, Willi 266 ff., 378 Such, Heinz 375 f.

Thoma, Richard 92 Tschuikow, Wassili 27 Ulbricht, Walter 22, 30, 39 ff., 48, 50, 63 f., 143, 175, 182, 185 ff., 199 f., 217, 238 ff., 252, 321 ff., 329 ff., 345,371, 383 Weichelt, Wolfgang 236, 343 Westen, Klaus 320, 368, 420 Wirth, Joseph 133 Wittenbeck, Siegfried 422 Wünsche, Kurt 425 Wyschinski, Andrej 137, 150, 176

Sachverzeichnis (Deutsche) Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft 57, 61, 185 ff., 207, 236, 341, 347, 371 ff., 385 ff., 409 ff., 418 f. Aktivistenbewegung 292 ff. Aktualisierungskompetenz (der Grundrechte) 147, 153 Alliierter Kontrollrat (AKR) 24 ff., 38, 81 ff., 101, 131 Amtshaftung 104, 163 ff., 397 Arbeiter- und Bauern-Inspektion (ABI) 346,355 Babelsberger Konferenz 22, 185 ff., 202, 369, 371, 378, 381 f., 442 21 f., 203, Beschwerdeausschüsse 226 ff., 320, 328 ff., 337 ff., 340 ff., 355 ff. Beschwerdeordnung 21, 202 f., 204 ff., 217 ff., 237 Beschwerderecht 82 Bodenreform 29, 66, 104 Bundesverfassungsgericht 188 ff. Dekontamination (des reichseinheitlichen Normenbestands) 84 ff., 88 Demokratischer Zentralismus 154 ff., 179,239,325,417 Deutsche Wirtschaftskommission (DWK) 111, 132 Deutsche Zentralverwaltung für Justiz (DJV) 31 ff., 88 ff., 112 ff., 126 ff., 132 Deutschlandpolitik 22, 26 Eingabenanalyse 213 f., 244, 246 ff., 262 f., 280 f. Eingabengesetz (von 1975) 203, 384 31*

Entnazifizierung 33 f., 64 f. Erlaß des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik über die Bearbeitung der Eingaben der Bürger und die Bearbeitung durch die Staatsorgane - von 1961 202, 217 ff., 233, 248 ff., 276 ff., 279 ff., 320, 327, 331, 337, 343 - von 1969 203, 320, 329 ff. Erlaß über die Behandlung von Eingaben und Beschwerden der Bürger des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR (1968) 332 ff. GeneralklauseI (verwaltungsrechtliche) 63, 99 ff., 110, 113 f., 119, 122 f., 125 Gerichtsverfassung 26, 33, 49, 73 ff., 158, 164, 166, 184,410,434 Gesetz über die Bearbeitung der Eingaben der Bürger (1975): siehe Eingabengesetz. Gesetz über die Errichtung des Obersten Gerichtshofes und der Obersten Staatsanwaltschaft der Deutschen Demokratischen Republik 164 Gesetz über die örtlichen Organe der Staatsmacht 158 ff. Gesetz über die örtlichen Volksvertretungen und ihre Organe 366 Gesetz über die weitere Demokratisierung des Aufbaus und der Arbeitsweise der staatlichen Organe in den Ländern der Deutschen Demokratischen Republik 157 f., 160 Gesetz über die Zuständigkeit und das Verfahren der Gerichte zur Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen (GNV) 21, 23, 204, 402 ff.

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Sachverzeichnis

Gesetzlichkeitsaufsicht 20, 82, 162, 168 ffo, 305 f. Gewaltendifferenzierung 138, 143 Gewalteneinheit 19, 109, 136 ffo, 183, 325, 345, 368 Gewaltenkonzentration (siehe Gewalteneinheit) Gewaltenteilung 47 f., 57 ff., 102, 166, 183,418 Grundrechte 65 ff., 133 f., 145 ff., 412 ff. Grundsatz der Einheit von Beschlussfassung, Durchführung (und Kontrolle) 138 ffo, 325, 345, 368 ff., 389 Grundsatz der Interessenidentität 19, 143 ff., 147, 202, 209, 239, 322, 341 Gründungsverfassung (der DDR) 129 ff., 164, 168, 202, 324 f.

Mauerbau 276 ffo Ministerrat (der DDR) 250, 279 ffo, 297, 340, 342 Ministerium der Justiz (der 307 ffo, 313 ff., 411, 412, 428, 430 ff., 433 Ministerium für Staatssicherheit 416

Heidelberger Entwurf (einer Verwaltungsgerichtsordnung) 84, 110

Pariser Kommune 139 ffo Pariser Konferenz 112 Petitionsrecht 20, 194 ff., 269 Politbüro (des ZK der SED) 225, 271 ff., 385, 417 f. Potsdamer Abkommen 25, 31, 111 Prager Frühling 329, 349 Präsidialkanzlei (der DDR) 208 f., 218, 237 Präsidium des Ministerrats der DDR 229 ffo, 237 Preußisches Oberverwaltungsgericht 90, 196 Prinzip der doppelten Unterstellung 156 f. Programmatische Erklärung (des Staatsratsvorsitzenden von 1960) 237 ff., 256

Juristenkonferenzen (der SED) 62 Justizländerkonferenz (der DJV) 89 ff. Justizstaat 67 ff., 87, 89, 90 ff.

Kammergericht 39,94 Kassation 165, 298 ff. Konstitutionalismus 58 Kontrollratsgesetz Nr. 36 (über Verwaltungsgerichte ) 70, 81 ffo, 88 ffo, 118 Kosmopolismus 111 KSZE-Folgekonferenzen 412 ff., 430 f. Kybernetik 379 fo

Länderverfassungen (in der SBZ) 35, 63, 115 Landtage (in der SBZ) 29,35, 71 Lastenausgleich 104 ffo Legitimationsfunktion (des Eingabenwesens) 269 fo, 276 ffo Leitungsrecht 379 ffo

271 ffo, DDR) 415 ff., 295 f.,

Neuererbewegung 235, 292 Neues Ökonomisches System (NÖS) 379 Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung (NÖSPL) 374 Normenkontrolle 58 fo, 110 Oberstes Gericht (OG) 163 ffo, 297 ffo, 308, 328, 342

Rechtsanwaltschaft 216, 299 f., 309 f., 398,428 Rechtsentwicklungsstaat 436 Rechtsmittelverfahren, förmliches 171 ff., 180 ff., 230 ff., 352 ff., 386, 400 Rechtsstaat 57, 59 ffo, 72, 322 fo Regelnormen 390 ffo

Sachverzeichnis Regierungsakt 73, 102 ff., 114 f., 123 f., 126 Reichsgericht 47, 58, 64, 94 Reichsgewerbeordnung 113 Reichsleistungsgesetz 77 f. Reichsverwaltungsgericht 47, 86 Reiseverkehr 249, 281, 286 ff., 414 ff., 417,431 f. Richterstaat 190 f. Selbstentscheidungsrecht (der Verwaltung) 211, 257 f. Signalisierungsfunktion (des Eingabenwesens) 195, 246 ff., 276 ff. Sowjetische Kontrollkommission (SKK) 27, 132 Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) 27 ff., 33, 35 ff., 70, 76, 88 ff., 109, 111 ff., 126 ff., 132 Sozialistische Gesetzlichkeit 149 ff., 323 ff., 326, 417 Sozialistische Menschengemeinschaft 321 f., 362 Sozialistischer Rechtsbegriff 151 ff., 326 Sozialistischer Rechtsstaat 322 f., 434 ff. Sozialistischer Verwaltungsakt 228 f., 393 Staatliche Notariate 309 f. Staatsanwaltschaft 82, 107 ff., 161 f., 168 ff., 227, 235, 250, 302 ff., 308, 328, 346, 400 f., 420, 422 Staatsrat (der DDR) 173, 248 ff., 250 ff., 265 ff., 320, 328, 340, 343, 369 Staatsratsverfassung 233, 320, 324 ff., 329, 337, 366 Strafvollzug 302, 305 Suprematie (der SED) 137 f., 383 These vom Absterben des Staates 21, 145, 150 Thüringische Landesverwaltungsordnung 70 ff., 99 ff., 103 f., 123 ff.

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Thüringisches Oberverwaltungsgericht (in Jena) 36 f., 72 ff., 76 ff., 128 Transformation 439 Unabhängigkeit des Richters 45 ff., 75, 101 f., 115 f., 122, 124, 433 Unverbrüchlichkeit (staatlicher Akte) 178, 391 Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 93 ff., 106 f. Verfassung der DDR - von 1949: siehe "Gründungsverfassung" - von 1961: siehe "Staatsratsverfassung" Verfassungsentwürfe (der SED) 65 f., 68 f. Verordnung über die Behandlung der Vorschläge und Beschwerden der Bürger: siehe "Beschwerdeordnung" Vertreter des öffentlichen Interesses 107 ff. Verwaltungsgerichtsbarkeit - in der SBZI DDR 20, 22, 26, 41, 67 ff., 70 ff., 81 ff., 107, 109, 125, 135 ff., 158, 160 ff., 179 ff., 192, 195, 216, 306 f., 325, 327, 386, 399 ff., 402 ff. - in Rumänien 403 f. - in Bulgarien 404 - in Polen 404 ff., 421 Verwaltungsgerichtsgesetz (VGG) 123 ff. Verwaltungsrechtslehrbuch - der UdSSR 205 f., 213 - der DDR von 1957 228 f., 386,411 - der DDR von 1979 385 ff., 396, 411 Verwaltungsverfahrensrecht 193, 227 ff., 338, 387, 390 ff., 396 ff., 399, 416, 419 250, 268, 326, 345, Volkskammer 367 f. Volkskongreßbewegung 130 ff. Volksrichter 49, 116

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Sachverzeichnis

Wahleingaben 221 Weimarer Reichsverfassung 57, 77, 92 ff., 134 f., 145, 163 f., 324, 325 f. Wohnraumlenkung 218, 249, 253, 266 ff., 277, 281, 282 ff., 316 ff., 357,425

Zentrale Kommission für Staatliche Kontrolle (ZKSK) 221 ff., 237, 249, 250, 252 ff., 254 ff., 277, 280 Zentralkomitee der SED 22, 218, 225 ff., 237 ff., 263 ff., 422 Zentralsekretariat der SED 117, 120 ff., 190