Vertragsfreiheit und ihre Materialisierung im Europäischen Binnenmarkt: Die Verbürgung und Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit im Zusammenspiel von EU-Privatrecht, BGB und ZPO 9783161557668, 9783161557651

Die Vertragsfreiheit ist für das Privat- und Wirtschaftsrecht elementar. Doch welchen Platz und welche Gestalt hat die V

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Vertragsfreiheit und ihre Materialisierung im Europäischen Binnenmarkt: Die Verbürgung und Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit im Zusammenspiel von EU-Privatrecht, BGB und ZPO
 9783161557668, 9783161557651

Table of contents :
Cover
Vorwort
Inhaltsübersicht
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Einleitung
A. Ausgangslage und Anlass der Untersuchung
I. Hypotrophie der Vertragsfreiheit im Unionsrecht
II. Orientierungsarmut und interventionistische Tendenzen des Unionsprivatrechts
III. Zurückdrängung mitgliedstaatlicher Garantien der Vertragsfreiheit durch Unionsprivatrecht
1. Unionsgrundrechte überlagern nationale Freiheitsrechte
2. Vorrang unionsprivatrechtlicher Rechtsgrundsätze
IV. Einseitige Konstitutionalisierung des Unionsprivatrechts
V. Zwischenfazit: Vertragsfreiheit als Leitlinie und Selbstbehauptungsinstrument des Privatrechts
B. Forschungslücke, Gegenstand und Ansatz der Untersuchung
I. Forschungsstand: Insulare und diffuse Gewährleistung
II. Ausgangshypothesen zur Verbürgung und Materialisierung der Vertragsfreiheit
1. Doppelköpfigkeit der Vertragsfreiheit im geltenden Unionsrecht
2. Materialisierung durch Unionsprivatrecht, BGB und ZPO
III. Methodik und Bezugsrahmen
1. Unionsrechtsimmanente, rechtsaktsübergreifende und rechtsvergleichende Untersuchung
2. Unionale Vertragsfreiheit in drei Schwerpunktbereichen
3. BGB und bürgerlich-rechtliche Dogmatik als Referenzrahmen
C. Gang der Darstellung entlang sieben Erkenntniszielen
Erster Teil: Grundlegung der Vertragsfreiheit im Unionsrecht
Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit
§ 1 Ideengeschichte der Vertragsfreiheit und Entwicklung des Unionsrechts
A. Triebkräfte vom römischen Recht bis in das 18. Jahrhundert
I. Römisches Recht
II. Römisch-kanonisches Recht
III. Von Naturrechtslehre und Aufklärung bis zur klassischen Ökonomie
B. Verabsolutierung und Kritik im 19. und 20. Jahrhundert
I. Vertragsfreiheit auf dem Scheitelpunkt?
II. Bedrohung der Vertragsfreiheit durch wirtschaftliche Macht
III. „Soziale Aufgabe“ und „Krise“ des Vertragsrechts
C. Ausgangsbasis und Herausforderungen im Unionsrecht
§ 2 Vertragsfreiheit und Wirtschaftsverfassung der Union
A. Begriff und Gestalt der EU-Wirtschaftsverfassung
B. Verhältnis zur Vertragsfreiheit und zu ihren Funktionsvoraussetzungen
C. Fazit
§ 3 Selbstbestimmung und Vertrag als unionsrechtliche Kategorien
A. Prämisse der Selbstbestimmungsfreiheit und Selbstverantwortung
B. Vertragsbegriff des Unionsrechts
I. Unionsrechtsimmanente Begriffsbildung
1. Vertragsbegriff des Sekundärrechts
a) Internationales Unionsprivatrecht
b) Materielles Unionsprivatrecht
2. Vertragsbegriff des Primärrechts
a) Art. 101 AEUV
b) Art. 340 Abs. 1 AEUV
c) Art. 272 AEUV
3. Zwischenfazit
II. Rechtsvergleichendes Spektrum der Vertragsbegriffe
1. Minimalkonsens der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen
2. Ausklammerung von „Seriositätsindizien“
3. Kein Erfordernis der Schadensersatzbewehrung
III. Ertrag
C. Summe des ersten Kapitels
Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen
§ 1 Lückenhafter Schutz und Postulat umfassender Vertragsfreiheit
A. Lückenhafte Gewährleistung im geschriebenen Primärrecht
I. Wirtschaftsverfassung und Grundfreiheiten
1. Keine subjektiv-rechtliche Garantie durch Art. 119 Abs. 1 AEUV
2. Keine umfassende Gewährleistung durch die Grundfreiheiten
a) Begrenzung auf Binnenmarktsachverhalte
b) Beschränkungen sind regelmäßig „zu ungewiss und zu mittelbar“
c) Grundfreiheiten als Schranken der Vertragsfreiheit
II. Insularer Schutz durch kodifizierte Unionsgrundrechte
1. Keine Anbindung an Menschenwürde oder Handlungsfreiheit
2. Nur kontextspezifischer Schutz der Vertragsfreiheit in der GRCh
a) Recht auf Eigentum nach Art. 17 GRCh
b) Unternehmerische Freiheit gemäß Art. 16 GRCh
III. Zwischenfazit und Kritik
B. Fazit
C. Postulat umfassender Vertragsfreiheit im Unionsrecht
I. Sieben anerkannte Facetten unionaler Vertragsfreiheit
1. Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit
2. Inhaltsfreiheit
3. Typenfreiheit
4. Änderungsfreiheit
5. Aufhebungsfreiheit
6. Formfreiheit
7. Parteiautonomie
II. Beschränkung als implizite Anerkennung der Vertragsfreiheit
1. Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit
2. Inhaltsfreiheit
3. Typenfreiheit
4. Änderungsfreiheit
5. Aufhebungsfreiheit
6. Formfreiheit
7. Parteiautonomie
§ 2 Vertragsfreiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts
A. Allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts
I. Arten und Funktionen
1. Allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts
2. Allgemeine Grundsätze i.S.d. Art. 6 Abs. 3 EUV
II. Induktive Gewinnung allgemeiner Rechtsgrundsätze
1. Zweistufiges Begründungsverfahren
2. Unionsrechtsimmanente Betrachtung
3. Rechtsvergleichung und Völkerrecht
III. Zwischenfazit
B. Unionsrechtsimmanente, völkerrechtliche und rechtsvergleichende Bestandsaufnahme
I. Unionsrechtsimmanente Betrachtung
1. Unionsprivatrecht
2. Grundrechtliche Verbürgung
II. Umschau in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen
1. Frankreich
a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts
b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung
2. Deutschland
a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts
b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung
3. Belgien
a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts
b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung
4. Österreich
a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts
b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung
5. Vereinigtes Königreich
a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts
b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung
6. Spanien
a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts
b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung
7. Portugal
a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts
b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung
8. Italien
a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts
b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung
9. Ungarn
a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts
b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung
10. Polen
a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts
b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung
11. Litauen
a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts
b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung
12. Schweden
a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts
b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung
III. Verankerung der Vertragsfreiheit im Völkerrecht
1. Allgemeiner völkervertragsrechtlicher Grundsatz
2. Vertragsfreiheit als Grundprinzip privatrechtsrelevanter völkerrechtlicher Abkommen
3. Grundrechtliche Dimension völkerrechtlicher Abkommen
C. Vertragsfreiheit als Grundsatz des Unionsprivatrechts und Unionsgrundrecht i.S.d. Art. 6 Abs. 3 EUV
I. Unionsprivatrechtlicher Rechtsgrundsatz
II. Vertragsfreiheit als Grundrecht im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV
III. Fazit
§ 3 Gewährleistungsgehalt unionaler Vertragsfreiheit
A. Inhalt
I. Autonomer Schutzbereich
II. Gegenstand, Gehalt und Kernbereich unionaler Vertragsfreiheit
1. Entscheidung über den Vertragsschluss und Vertragspartnerwahl
2. Bestimmung der essentialia negotii
3. Wesensgehalt, Funktionsbestimmung und Menschenwürdekern
III. Abwägung und Beschränkbarkeit
1. Grundrechtliche Schrankensystematik
a) Erfordernis einer Rechtsgrundlage
b) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
c) Wahrung des Wesensgehalts
2. Abwägung unionsprivatrechtlicher Grundsätze
3. Ergebnis
B. Anwendungsbereich
I. Persönlicher Anwendungsbereich: Jedermanns(grund)recht
II. Unionsgrundrechtliche Bindung der EU und ihrer Mitgliedstaaten
1. Durchführung des Unionsrechts
2. Erweiterungen des „Anwendungsbereichs“ des Unionsrechts und der EU-Grundrechte
a) Vertragsfreiheit als Schranke und „Schranken- Schranke“ bei Verkürzungen der Verkehrsfreiheiten
b) Ausdehnung des Anwendungsbereichs durch den Effektivitätsgrundsatz
c) Bindung an die unionale und Überlagerung der nationalen Vertragsfreiheit im Schuldvertragsrecht
aa) Einheitlicher Schutzgegenstand und unteilbare Vertragsfreiheit
bb) Grundsätzlicher Vorrang unionaler Vertragsfreiheit
III. Wirkbereich als privatrechtlicher Rechtsgrundsatz
C. Summe des zweiten Kapitels
Zweiter Teil: Vertragsfreiheit und ihre Materialisierung als Richtschnur des Schuldvertragsrechts der EU und ihrer Mitgliedstaaten
Kapitel 3 – Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell unionaler Vertragsfreiheit
§ 1 Einwirkungsachsen im Privatrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten
A. Privatrechtswirkungen der Vertragsfreiheit als Unionsgrundrecht
I. Autarkie und Grundrechtsbindung des Privatrechts
II. Unionsgrundrechtliche Triebfedern der Privatrechtswirkung
1. Abwehrgrundrecht
2. Schutzpflichtdimensionen unionaler Vertragsfreiheit
3. Grundrechtsnotwendige Institutionen und objektiv-rechtliche Dimension
III. Methodische Einwirkungsebenen
1. Ausgestaltungsvorgaben bei der Rechtsetzung
2. Durch Vorlageverpflichtung flankierte unionsgrundrechtskonforme Auslegung und Rechtsanwendung
3. Mittelbare horizontale Drittwirkung in Privatrechtsbeziehungen
B. Privatrechtswirksamkeit der Vertragsfreiheit als Rechtsgrundsatz
I. Prinzipiengeleitete Auslegung und Rechtsfortbildung
II. Ausgleich mit gegenläufigen Prinzipien und der „prima facie- Vorrang des Prinzips der rechtlichen Freiheit“ im Unionsrecht
C. Multidimensionalität der Privatrechtswirkungen
I. Privatrechtlicher Rechtsgrundsatz und Unionsgrundrecht
II. Interaktion individual-rechtlicher und binnenmarktbezogener Vertragsfreiheit
§ 2 Vertragsfreiheit als Begründung und Begrenzung der Vertragsbindung
A. Pacta sunt servanda im Unionsprivatrecht
I. Vertragsfreiheit als Fundament von Vertragstreue und -bindung
II. Leistungstreue als zentrales Element
1. Verbrauchervertragsrecht und Leistungstreue
2. Leistungs- und Zahlungstreue im Wirtschaftsvertragsrecht
III. Zwischenfazit
B. Personale Relativität vertraglicher Schuldverhältnisse
I. Grundsatz der Relativität im Unionsrecht
II. Verbot von Verträgen zulasten Dritter
III. Verträge zugunsten Dritter und unionale Vertragsfreiheit
C. Ergebnis
§ 3 Vertrags- und Marktmechanismus als prozedurales Funktionsmodell
A. Freiheitsverwirklichung durch den Vertrags- und Marktmechanismus
I. Prozedurale Freiheitsentfaltung durch den Vertragsmechanismus
II. Markt- und wettbewerbsgestütztes Funktionsmodell
B. Richtigkeitsgewähr des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus
I. Vertragsmechanismus und Richtigkeitsvermutung
II. Wettbewerbsmechanismus und Richtigkeitsvermutung
C. Summe des dritten Kapitels
Kapitel 4 – Materialisierung der Vertragsfreiheit durch Unionsrecht
§ 1 Begriff, Gegenstand und Ziel der Materialisierung
A. Evolution des Materialisierungsverständnisses und seiner Bezugspunkte
I. „Sozialmodell“ und „soziale Gerechtigkeit“
II. Rückanbindung an die Vertragsfreiheit im Unionsrecht
B. Werthaltige Selbstbestimmungschancen als Ziel und Schutzpflichten als Antrieb
I. Gewährleistung tatsächlicher Selbstbestimmungschancen
II. Schutzpflichtendimension der Vertragsfreiheit als Triebfeder
III. Materialisierung ex ante und ex post
C. Zwischenfazit
§ 2 Marktkonstitutive und wettbewerbsschützende Materialisierungsinstrumente des Wirtschaftsrechts
A. Kartellrecht
B. Lauterkeitsrecht
C. Zwischenfazit
§ 3 Materialisierung durch Unionsprivatrecht
A. Informationsmodell
I. Elemente und Funktionen
1. Informations-, Transparenz- und Formanforderungen
2. Markt- und vertragsfreiheitsermöglichende Funktion im gesamten EU-Schuldvertragsrecht
II. Ausrichtung und Systematisierung anhand der unionalen Vertragsfreiheit
III. Grenzen der Materialisierung durch das Informationsmodell
B. Restriktionen der Vertragsschlussmodalitäten
C. Diskriminierungsverbote und Kontrahierungszwänge
I. Binnenmarkt- und wettbewerbsbezogene Diskriminierungsverbote
1. Primärrechtliche Verbote
a) Wettbewerbsrecht
b) Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit
2. Dienstleistungsrichtlinie
3. Konvergenz der Diskriminierungsverbote im Bereich der Staatsangehörigkeit?
II. Gesellschaftspolitische Diskriminierungsverbote
III. Binnenmarkt- und wettbewerbsbezogene Kontrahierungszwänge
IV. Gesellschaftspolitische Kontrahierungszwänge
D. Klauselkontrolle
I. Inhaltskontrolle
1. Materialisierung negativer Vertragsfreiheit
2. Erhaltung positiver Vertragsinhaltsfreiheit bezüglich des angestrebten Äquivalenzverhältnisses
3. Unionsrechtlich-autonome und nationale Maßstabbildung
a) Leitbildfunktion dispositiven Rechts
b) Herausbildung unionsrechtliche-autonomer Maßstäbe
aa) Hypothetischer Vertragsmechanismus
bb) Wertungen des Anhangs zur Klauselrichtlinie
c) Zwischenfazit
II. Transparenzkontrolle und „Markttransparenzgebot“
E. Zwingendes Vertragsrecht und Unwirksamkeitstatbestände
F. Materialisierung durch Aktualisierung der Vertragsfreiheit
I. Vertragsbeseitigungsrechte
II. Höchstbindungsdauern im Verbraucher-, Finanzdienstleistungs- und Wirtschaftsvertragsrecht
G. Summe des vierten Kapitels
Kapitel 5 – Indienstnahme des BGB zur Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit
§ 1 Einwirkungsebenen des unionalen Materialisierungsgebots
A. Effektivitätsgrundsatz als Einfallstor
I. Wirksamkeitsorientierte Auslegung und Äquivalenz- sowie Effektivitätsgrundsatz
II. Erweiterungen der unionsgrundrechtskonformen Interpretation durch effet utile und Äquivalenz- sowie Effektivitätsgrundsatz
B. Vertragsfreiheit als unionsgrundrechtliche Triebfeder der Materialisierung
I. Gebot äquivalenter und effektiver Entfaltung unionaler Vertragsfreiheit im nationalen Privat- und Zivilprozessrecht
II. Erfüllung unionsgrundrechtlicher Schutzpflichten durch mitgliedstaatliches Privatrecht
C. Zwischenfazit
§ 2 Interaktion der Materialisierungsinstrumente des BGB und des EU-Privatrechts
A. Anfechtung nach §§ 119, 123 BGB
I. Konflikte mit Materialisierungsinstrumenten des Unionsprivatrechts
1. Anfechtung und Diskriminierungsschutz im Schuldvertragsrecht
2. Unternehmerseitige Anfechtung und Verbraucherwiderruf
a) Lösung im Lichte des effet utile
b) Kipp’sche „Doppelwirkung im Recht“: Widerruf des gemäß § 142 BGB nichtigen Vertrags
c) Einschränkungen bei arglistiger Täuschung durch den Verbraucher
3. Zwischenfazit
II. Koexistenz bei gleicher Zielsetzung unionaler und nationaler Instrumente
1. Grundsatz elektiver Konkurrenz
2. Fortbestand des Vertragsbeseitigungsrechts mangels Belehrung
3. Rechtssicherheit, Vertrauensschutz und Verbot des Rechtsmissbrauchs als Schranken
III. Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit durch §§ 119, 123 BGB
1. Vertragsschlussrelevante Informationspflichten
2. Inhalts- und Erklärungsirrtum im Kontext der E-Commerce-Richtlinie
3. Anwendungsbeispiele aus dem Finanzdienstleistungs- und Verbrauchervertragsrecht
B. Culpa in contrahendo
I. Voraussetzungen der Inanspruchnahme des § 311 Abs. 2 BGB als Materialisierungsinstrument
II. Anordnung vorvertraglicher Informationshaftung bei Versicherungsverträgen und Kapitalanlageprodukten
III. Culpa in contrahendo als Sanktion von Verstößen gegen die Bonitätsprüfungspflicht im Verbraucherkreditvertragsrecht
1. Verletzung der Bonitätsprüfungspflicht und ihre Folgen
2. Unionsrechtliche Vorgaben mit Blick auf § 311 Abs. 2 BGB
IV. Informationshaftung im allgemeinen Verbrauchervertragsrecht
1. Kategorien vertragsentschlussrelevanter Informationspflichten
2. Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz sowie Einwirkung unionaler Vertragsfreiheit
3. Keine Kompensation durch andere privatrechtliche Instrumente
V. Information über Verbraucherwiderrufsrecht als Sonderfall
C. §§ 138, 242 BGB als Generalklauseln des Bürgerlichen Rechts
I. Unionsrechtsoffenheit der Generalklauseln des BGB
1. Berücksichtigung im Geltungsbereich des Unionsrechts
2. Heranziehung als Werteordnung jenseits des Anwendungsbereichs des EU-Rechts
II. Sittenwidriges Rechtsgeschäft und Wucher i.S.d. § 138 BGB
1. Unionale Vertragsfreiheit und „Bürgschaftsfälle“
a) Bürgschaftsverträge im Anwendungsbereich des Unionsrechts
b) Unionale Vertragsfreiheit als Maßstab i.R.d. § 138 Abs. 1 BGB
2. Kein genereller Vorrang der Materialisierungsinstrumente des Unionsprivatrechts vor § 138 BGB
III. § 242 BGB als Ergänzung unionaler Materialisierungsinstrumente
§ 3 Das BGB im hybriden Materialisierungssystem des Unionsprivatrechts
A. Komplementarität der Materialisierungsinstrumente
I. Determinanten des unionsprivatrechtlichen Materialisierungssystems
II. Drei Funktionen des Bürgerlichen Rechts
1. Unionsprivatrechtsakzessorische Ergänzung
2. Teilautonomes Materialisierungsinstrument
3. Unionsgrundrechtsoffene Auffangordnung
B. Summe des fünften Kapitels
Kapitel 6 – Materialisierung durch Zivilprozessrecht
§ 1 Triebkräfte und Ziele der verfahrensrechtlichen Dimension der Materialisierung
A. Zwei zentrale Einfallstore unionsrechtlicher Wertungen
B. Verwirklichung unionaler Vertragsfreiheit durch nationales Prozessrecht
I. Pflicht zur zivilprozessualen Durchsetzung unionsrechtlich determinierter Verträge
II. Kompensation fehlender rechtsgeschäftlicher Selbstbestimmungschancen
§ 2 Materialisierungstendenzen und Prozessmaximen der ZPO
A. Unionsrechtliche Anerkennung von Dispositions-, Verhandlungs-und Beschleunigungsgrundsatz
I. Dispositionsmaxime und Antragsgrundsatz als „Vertragsfreiheit im Prozess“
II. Verhandlungsgrundsatz
III. Konzentrations- und Beschleunigungsgrundsatz
B. Unionsrechtliche Überlagerung der Prozessmaximen in Verfahren mit Verbraucherbeteiligung
I. Durchbrechung des Dispositions- und Antragsgrundsatzes: Anwendung der Materialisierungsinstrumente von Amts wegen
1. Drohende Erosion des Antragsgrundsatzes zugunsten einer Legalitätskontrolle anhand des EU-Verbrauchervertragsrechts
2. Sachgerechte Eingrenzung durch den Streitgegenstand
3. Verwirklichung des Effektivitätsgrundsatzes sowie unionsgrundrechtlicher Schutzpflichten über § 139 ZPO
II. Partielle Abkehr vom Verhandlungs- und Hinwendung zum Untersuchungsgrundsatz
1. Unionsrechtliche determinierte Untersuchungsmaxime
2. Umsetzung im Rahmen der ZPO
a) Materielle Prozessleitung nach §§ 139 ff. ZPO
b) Anordnung der Urkundsvorlage nach § 142 ZPO
c) Inaugenscheinnahme von Amts wegen nach § 144 ZPO
3. Reichweite und Folgefragen der Geltung des Untersuchungsgrundsatzes
III. Einfluss auf den Konzentrations- und Beschleunigungsgrundsatz
1. Präklusion nach § 296 ZPO
2. Tatsachenerfassung und -bewertung im Rechtsmittelverfahren
C. Sicherung der kontradiktorischen Verfahrensgestaltung
I. Unionsrechtlich gebotene Hinweis-, Kenntnisnahme- und Erörterungspflichten
II. Einpassung in das System der deutschen ZPO
§ 3 Zwangsvollstreckungsrecht im Bannkreis unionaler Materialisierungsvorgaben
A. § 767 Abs. 2, § 796 Abs. 2 ZPO und die Ausübung unionsprivatrechtlicher Gestaltungsrechte
B. Keine umfassende Korrektur über das Zwangsvollstreckungsverfahren
I. Vorrang der Materialisierung im Erkenntnisverfahren und Schutz der Rechtskraft
II. Voraussetzungen und Instrumente der subsidiären Materialisierung durch Zwangsvollstreckungsrecht
C. Zwischenergebnis
§ 4 Mahnverfahren und Materialisierung
A. Amtswegige Prüfung des EU-Verbrauchervertragsrechts
B. Kein Untersuchungsgrundsatz im Mahnverfahren
C. Umsetzung der unionsrechtlichen Vorgaben bei Mahnverfahren
I. Lösungsmöglichkeiten vor Titelschaffung
1. Mahnverfahrenssperre für Verbrauchersachen analog § 688 Abs. 2 Nr. 1 ZPO
2. Herausnahme der Verbraucherfälle aus dem automatisierten Mahnverfahren?
II. Nachgelagerte Kontrolle über § 767, § 796 Abs. 2 ZPO und § 826 BGB
III. Zwischenergebnis
§ 5 Zivilprozessrecht als Baustein des unionalen Materialisierungssystems
A. Funktion und Entwicklungstendenzen der Materialisierung durch Zivilverfahrensrecht
I. Ineinandergreifen materiellrechtlicher und prozessualer Materialisierungsinstrumente
1. Durchsetzung privatrechtlicher Materialisierungsinstrumente
2. Zivilprozessrecht als mehrstufige Auffangordnung
II. Materialisierung duch Zivilprozessrecht im Antidiskriminierungs- und Finanzdienstleistungsvertragsrecht
1. Antidiskriminierungsrecht
2. Versicherungsvertragsrecht
B. Summe des sechsten Kapitels
Kapitel 7 – Kompass- und Schrankenfunktion der Vertragsfreiheit
§ 1 Vertragsfreiheit als Leitprinzip und Schranke des unionalen Materialisierungssystems
A. Grenzen der Materialisierungsinstrumente
I. Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus als Erforderlichkeits- und Verhältnismäßigkeitsmaßstab
1. Unionsgrundrechtlicher Rahmen
a) Erforderlichkeit, Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit i.e.S.
b) Typisierende Materialisierungstatbestände und ihre Grenzen
2. Privatrechtliche Anwendungsbeispiele
a) Selbstbestimmungschancen durch den Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus bei „umgekehrten“ Verbraucherverträgen
aa) Fernabsatzverträge
bb) Außergeschäftsraumverträge
b) Keine Stärkung des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus durch bestimmte Informationpflichten des Finanzdienstleistungsvertragsrechts
II. Unionsprivatrechtliche Rechtsgrundsätze als Schranken der Materialisierung
1. Rechtsmissbrauchsverbot und Treu und Glauben
a) Rahmensetzung durch Unionsrecht
b) Autonomes Rechtsmissbrauchsverbot in der EuGH-Judikatur
c) Ausstehende Konturierung des Grundsatzes von Treu und Glauben
2. Begrenzung von Vertragslösungsrechten im Verbraucher-und Finanzdienstleistungsvertragsrecht
a) Ausschluss bei Schädigungs- und Missbrauchsabsicht
b) Instrumentalisierung des Widerrufs zur Erzielung günstigerer Vertragskonditionen
aa) Preisnachlässe bei Fernabsatzverträgen
bb) Nachverhandlung von Kredit- oder Versicherungskonditionen
c) Anwendungsfälle des „halbautonomen“ Grundsatzes von Treu und Glauben
aa) Verwirkung unionaler Materialisierungsinstrumente
bb) Vortäuschen gewerblicher Verwendung
3. Rechtsmissbrauch als Schranke des Diskriminierungsschutzes
III. Unionale Prozessgrundsätze und -rechte als Grenze der Materialisierung durch Zivilverfahrensrecht
1. Parteidisposition als prozessuale Facette der Privatautonomie
2. Grundsatz des fairen kontradiktorischen Verfahrens
3. Zwischenfazit
B. Stufenbau des Materialisierungssystems
I. Drei konzentrische Schutzwälle der Vertragsfreiheit
II. Kaskade der Materialisierungsinstrumente
1. Abstufung der privatrechtlichen Instrumente
2. Materialisierungskaskade im Bereich des Zivilprozessrechts
III. Materialisierung und Vermutung der „Richtigkeit“ des Vertrags
1. Gesteigerte Richtigkeitsgewähr des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus
2. Prozedurale Gerechtigkeit durch materialisierte Vertragsfreiheit
3. Schutz gegen „Extremabweichungen“ zwischen BGB und allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsprivatrechts
C. Partielle Disponibilität der Materialisierung
I. Disposition über Materialisierungsinstrumente im Zivilprozess
II. Erweiterte materiellrechtliche Dispositionsbefugnis als Folge der Materialisierung durch Prozessrecht
1. „Einwilligung“ in missbräuchliche Klauseln
2. Einpassung in die Rechtsgeschäftslehre des BGB
3. Folgen für die Kontrollfähigkeit der Klausel und die Bindung des anderen Vertragsteils
III. Disponibilität materiellrechtlicher Materialisierungsinstrumente jenseits des Zivilverfahrens?
§ 2 Vertragsfreiheit als Grenze der Kontrolle von Vertragsinhalten
A. Inhaltskontrolle jenseits der Klauselrichtlinie
I. Mindestharmonisierung durch die Klauselrichtlinie
II. Art. 8 Klauselrichtlinie und unionale Vertragsfreiheit
B. Schranken der Inhaltskontrolle von Individualvereinbarungen und der essentialia negotii
I. Unionale Vertragsfreiheit als Maßstab angesichts der Bedro-hung der Vertragsfunktion durch die pauschale Inhaltskontrolle
II. Individuell ausgehandelte Vertragsbestimmungen
1. Bedarf es eines pauschalen Kontrollvorbehalts?
2. Vorrang einer anlassbezogenen Individualkontrolle
3. Rückausnahme bei typisierbarem Versagen des Vertrags- und Markmechanismus
III. Inhaltskontrolle der essentialia negotii
C. Folgen für die pauschale Inhaltskontrolle im Schuldvertragsrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten
I. Vertragsfreiheitskonforme Handhabung der mitgliedstaatlichen Inhaltskontrolle
1. Beispiele für die Kontrolle von Individualvereinbarungen und der essentialia negotii
2. Einschränkung der Inhaltskontrolle im Lichte unionaler Vertragsfreiheit
a) Frankreich: Fragwürdigkeit unwiderleglicher Missbräuchlichkeit von Individualvereinbarungen
b) Spanien: Vertragsfreiheitskonforme Begrenzung der Inhaltskontrolle durch das Tribunal Supremo
3. Auswirkungen i.R.d. § 307 Abs. 3 S. 1 BGB: Das Beispiel der Differenzierung zwischen Preisvereinbarungen und Preisnebenabreden
II. Kontrolle von Individualvereinbarungen nach Art. 7 Zahlungsverzugsrichtlinie und § 271a, § 286 Abs. 5 BGB
1. Erforderlichkeit unter institutionellen Gesichtspunkten
2. Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes
III. Zwischenfazit
D. Summe des siebten Kapitels
Zwölf Thesen zur Vertragsfreiheit im Binnenmarkt
I. Vertragsfreiheit als Unionsgrundrecht und als allgemeiner Rechtsgrundsatz des EU-Privatrechts
II. Autonomer Gewährleistungsgehalt und Wirkbereich unionaler Vertragsfreiheit
III. Privatrechtliche Einwirkungsebenen des Unionsgrundrechts
IV. Privatrechtswirksamkeit als allgemeiner Rechtsgrundsatz
V. Freiheitsentfaltung und Richtigkeitsgewähr durch den Vertrags-und Wettbewerbsmechanismus
VI. Materialisierung der Vertragsfreiheit im Binnenmarkt
VII. Interaktion der Materialisierungsinstrumente des BGB und des Unionsprivatrechts
VIII. Indienstnahme des BGB zur Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit
IX. Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit durch Zivilprozessrecht
X. Entwicklung eines Materialisierungssystems um die unionale Vertragsfreiheit
XI. Vertragsfreiheit als Grenze der mitgliedstaatlichen und unionalen Kontrolle von Vertragsinhalten
XII. Vertragsfreiheit und ihre Materialisierung als Richtschnur des Schuldvertragsrechts der EU und ihrer Mitgliedstaaten
Literaturverzeichnis
Verzeichnis wichtiger Entscheidungen
Sachverzeichnis

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Beiträge zum ausländischen und internationalen Privatrecht

120 Herausgegeben vom

Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht Direktoren:

Holger Fleischer und Reinhard Zimmermann

Jan D. Lüttringhaus

Vertragsfreiheit und ihre Materialisierung im Europäischen Binnenmarkt Die Verbürgung und Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit im Zusammenspiel von EU-Privatrecht, BGB und ZPO

Mohr Siebeck

Jan D. Lüttringhaus, geboren 1980; Studium der Rechtswissenschaft in Passau, Aix-enProvence, Bonn, New York; 2009 Promotion; 2011 Otto-Hahn-Medaille der Max-PlanckGesellschaft; 2017 Habilitation; 2007–09 Assistent sowie seit 2011 Referent am MaxPlanck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht und Lehrbeauftragter an der Universität Hamburg.

e-ISBN PDF 978-3-16-155766-8 ISBN 978-3-16-155765-1 ISSN 0340-6709 (Beiträge zum ausländischen und internationalen Privatrecht) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http:// dnb.dnb.de abrufbar. © 2018  Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwer­ tung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruck­­ papier gedruckt und von der Großbuchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.

„Die Jungfer Europa ist verlobt Mit dem schönen Geniusse Der Freiheit, sie liegen einander im Arm, Sie schwelgen im ersten Kusse“. Heinrich Heine, Deutschland. Ein Wintermärchen (1844), Vers 60

Vorwort Vorwort

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2017 von der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg als Habilitationsschrift angenommen. Das Manuskript ist auf dem Stand von September 2017. Mein tiefempfundener Dank gilt meinem Habilitationsbetreuer und langjährigen Förderer, Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Jürgen Basedow, der am MaxPlanck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht optimale Rahmenbedingungen für die Entfaltung akademischer Freiheit geschaffen hat. In diesem Umfeld war es ebenso naheliegend wie erfüllend, die Rolle und die Funktionsbedingungen einer anderen Freiheit zu erforschen. Mein herzlicher Dank gilt Herrn Prof. Dr. Peter Mankowski für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Von Herzen danke ich Herrn Prof. Dr. Heinz-Peter Mansel, der mir gerade in Zeiten der Ungewissheit immer mit wertvollem Rat und aufmunternden Worten zur Seite stand. Großer Dank gebührt allen Freunden und Kollegen, mit denen ich das Vergnügen hatte, ein Stück des Weges in die Wissenschaft gemeinsam gehen zu dürfen. Unter den zahlreichen Wegbegleitern möchte ich nur einige wenige nennen, die sich durch ihre Diskussionsfreunde besonders um die Vertragsfreiheit im Binnenmarkt verdient gemacht haben: Dr. Konrad Duden, Prof. Dr. Anatol Dutta, PD Dr. Matteo Fornasier, Dr. Samuel Fulli-Lemaire, Dr. Tobias Gauer, Jakob Gleim, Prof. Dr. Christian Heinze, Eike Hosemann, Dr. Stefan Korch, PD Dr. Rainer Kulms, Brooke Marshall, Dr. Friedrich Rosenfeld, Prof. Dr. Hannes Rösler, Cara Warmuth, Dr. Johannes Weber und Dr. Denise Wiedemann. Dem Max-Planck-Institut und seinen Direktoren schulde ich Dank für die Übernahme der Druckkosten und für die Aufnahme der Arbeit in die „Beiträge zum ausländischen und internationalen Privatrecht“. Für die Unterstützung bei der Fertigstellung des Manuskripts danke ich sehr herzlich Janina Jentz, Dr. Christian Eckl, Theresa Richter und Cara Warmuth. Ohne sie hätte diese Arbeit niemals so zeitnah erscheinen können. Das Werk widme ich meiner Familie, die durch ihre Liebe und bedingungslose Unterstützung das Fundament gelegt hat, auf dem diese Arbeit ruht. Hamburg, im November 2017

Jan D. Lüttringhaus

Inhaltsübersicht Inhaltsübersicht

Inhaltsübersicht

Vorwort ...................................................................................................... VII Inhaltsverzeichnis ........................................................................................ XI Abkürzungsverzeichnis .......................................................................... XXIX

Einleitung................................................................................................... 1 Erster Teil – Grundlegung der Vertragsfreiheit im Unionsrecht ..................................................................... 29 Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit .......................................................... 31 Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen .................93

Zweiter Teil – Vertragsfreiheit und ihre Materialisierung als Richtschnur des Schuldvertragsrechts der EU und ihrer Mitgliedstaaten .......................................... 251 Kapitel 3 – Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell unionaler Vertragsfreiheit ........................................................ 253 Kapitel 4 – Materialisierung der Vertragsfreiheit durch Unionsrecht .......... 323 Kapitel 5 – Indienstnahme des BGB zur Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit ........................................................ 395 Kapitel 6 – Materialisierung durch Zivilprozessrecht ................................. 459 Kapitel 7 – Kompass- und Schrankenfunktion der Vertragsfreiheit ............ 527

Zwölf Thesen zur Vertragsfreiheit im Binnenmarkt .................... 621 Literaturverzeichnis .................................................................................... 635 Verzeichnis wichtiger Entscheidungen ....................................................... 671 Sachverzeichnis .......................................................................................... 675

Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Vorwort ...................................................................................................... VII Inhaltsübersicht ........................................................................................... IX Abkürzungsverzeichnis .......................................................................... XXIX

Einleitung A. Ausgangslage und Anlass der Untersuchung ........................................... 1 I. Hypotrophie der Vertragsfreiheit im Unionsrecht .............................. 2 II. Orientierungsarmut und interventionistische Tendenzen des Unionsprivatrechts ............................................................................ 4 III. Zurückdrängung mitgliedstaatlicher Garantien der Vertragsfreiheit durch Unionsprivatrecht .......................................... 7 1. Unionsgrundrechte überlagern nationale Freiheitsrechte .............. 7 2. Vorrang unionsprivatrechtlicher Rechtsgrundsätze .....................10 IV. Einseitige Konstitutionalisierung des Unionsprivatrechts .................12 V. Zwischenfazit: Vertragsfreiheit als Leitlinie und Selbstbehauptungsinstrument des Privatrechts .................................15 B. Forschungslücke, Gegenstand und Ansatz der Untersuchung .................16 I. Forschungsstand: Insulare und diffuse Gewährleistung ....................16 II. Ausgangshypothesen zur Verbürgung und Materialisierung der Vertragsfreiheit .......................................................................... 18 1. Doppelköpfigkeit der Vertragsfreiheit im geltenden Unionsrecht ................................................................................ 18 2. Materialisierung durch Unionsprivatrecht, BGB und ZPO ..........19 III. Methodik und Bezugsrahmen ........................................................... 20 1. Unionsrechtsimmanente, rechtsaktsübergreifende und rechtsvergleichende Untersuchung ..............................................21 2. Unionale Vertragsfreiheit in drei Schwerpunktbereichen ............22 3. BGB und bürgerlich-rechtliche Dogmatik als Referenzrahmen .......................................................................... 25 C. Gang der Darstellung entlang sieben Erkenntniszielen ...........................26

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Erster Teil

Grundlegung der Vertragsfreiheit im Unionsrecht 29

Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit ...............................................31 § 1 Ideengeschichte der Vertragsfreiheit und Entwicklung des Unionsrechts ................................................................ 31 A. Triebkräfte vom römischen Recht bis in das 18. Jahrhundert ..................33 I. Römisches Recht .............................................................................. 33 II. Römisch-kanonisches Recht ............................................................. 35 III. Von Naturrechtslehre und Aufklärung bis zur klassischen Ökonomie ........................................................................................ 37 B. Verabsolutierung und Kritik im 19. und 20. Jahrhundert ........................40 I. Vertragsfreiheit auf dem Scheitelpunkt? ..........................................41 II. Bedrohung der Vertragsfreiheit durch wirtschaftliche Macht ...........43 III. „Soziale Aufgabe“ und „Krise“ des Vertragsrechts ..........................45 C. Ausgangsbasis und Herausforderungen im Unionsrecht .........................48 § 2 Vertragsfreiheit und Wirtschaftsverfassung der Union ...........................51 A. Begriff und Gestalt der EU-Wirtschaftsverfassung .................................51 B. Verhältnis zur Vertragsfreiheit und zu ihren Funktionsvoraussetzungen ...................................................................... 53 C. Fazit ....................................................................................................... 55 § 3 Selbstbestimmung und Vertrag als unionsrechtliche Kategorien ............56 A. Prämisse der Selbstbestimmungsfreiheit und Selbstverantwortung .........57 B. Vertragsbegriff des Unionsrechts ............................................................ 63 I. Unionsrechtsimmanente Begriffsbildung .........................................64 1. Vertragsbegriff des Sekundärrechts ............................................65 a) Internationales Unionsprivatrecht ..........................................65 b) Materielles Unionsprivatrecht ................................................70 2. Vertragsbegriff des Primärrechts ................................................76 a) Art. 101 AEUV ...................................................................... 76 b) Art. 340 Abs. 1 AEUV ........................................................... 80 c) Art. 272 AEUV ...................................................................... 82 3. Zwischenfazit ............................................................................. 83

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XIII

II. Rechtsvergleichendes Spektrum der Vertragsbegriffe ......................84 1. Minimalkonsens der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen .........84 2. Ausklammerung von „Seriositätsindizien“ ..................................85 3. Kein Erfordernis der Schadensersatzbewehrung .........................88 III. Ertrag ............................................................................................... 89 C. Summe des ersten Kapitels ..................................................................... 90

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen.....................................................93 § 1 Lückenhafter Schutz und Postulat umfassender Vertragsfreiheit.............93 A. Lückenhafte Gewährleistung im geschriebenen Primärrecht ...................94 I. Wirtschaftsverfassung und Grundfreiheiten .....................................94 1. Keine subjektiv-rechtliche Garantie durch Art. 119 Abs. 1 AEUV ......................................................................................... 94 2. Keine umfassende Gewährleistung durch die Grundfreiheiten .......................................................................... 96 a) Begrenzung auf Binnenmarktsachverhalte .............................96 b) Beschränkungen sind regelmäßig „zu ungewiss und zu mittelbar“ ............................................................................... 98 c) Grundfreiheiten als Schranken der Vertragsfreiheit................99 II. Insularer Schutz durch kodifizierte Unionsgrundrechte .................. 101 1. Keine Anbindung an Menschenwürde oder Handlungsfreiheit ..................................................................... 103 2. Nur kontextspezifischer Schutz der Vertragsfreiheit in der GRCh ....................................................................................... 107 a) Recht auf Eigentum nach Art. 17 GRCh .............................. 107 b) Unternehmerische Freiheit gemäß Art. 16 GRCh ................. 108 III. Zwischenfazit und Kritik ................................................................ 110 B. Fazit ..................................................................................................... 111 C. Postulat umfassender Vertragsfreiheit im Unionsrecht ......................... 113 I. Sieben anerkannte Facetten unionaler Vertragsfreiheit ................... 114 1. Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit ............................. 114 2. Inhaltsfreiheit ........................................................................... 117 3. Typenfreiheit ............................................................................ 121 4. Änderungsfreiheit ..................................................................... 122 5. Aufhebungsfreiheit ................................................................... 124 6. Formfreiheit .............................................................................. 125 7. Parteiautonomie ........................................................................ 126 II. Beschränkung als implizite Anerkennung der Vertragsfreiheit ....... 129 1. Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit ............................. 130

XIV

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2. 3. 4. 5. 6. 7.

Inhaltsfreiheit ........................................................................... 136 Typenfreiheit ............................................................................ 142 Änderungsfreiheit ..................................................................... 143 Aufhebungsfreiheit ................................................................... 145 Formfreiheit .............................................................................. 146 Parteiautonomie ........................................................................ 148

§ 2 Vertragsfreiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts .................................................................................. 150 A. Allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts ................................... 150 I. Arten und Funktionen .................................................................... 151 1. Allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts .............. 152 2. Allgemeine Grundsätze i.S.d. Art. 6 Abs. 3 EUV ..................... 158 II. Induktive Gewinnung allgemeiner Rechtsgrundsätze ..................... 161 1. Zweistufiges Begründungsverfahren ......................................... 161 2. Unionsrechtsimmanente Betrachtung ........................................ 162 3. Rechtsvergleichung und Völkerrecht ........................................ 163 III. Zwischenfazit ................................................................................. 165 B. Unionsrechtsimmanente, völkerrechtliche und rechtsvergleichende Bestandsaufnahme ................................................ 167 I. Unionsrechtsimmanente Betrachtung ............................................. 167 1. Unionsprivatrecht ..................................................................... 167 2. Grundrechtliche Verbürgung .................................................... 168 II. Umschau in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen ................... 171 1. Frankreich ................................................................................ 171 a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts .............................. 171 b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung .................... 172 2. Deutschland .............................................................................. 175 a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts .............................. 175 b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung .................... 175 3. Belgien ..................................................................................... 176 a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts .............................. 176 b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung .................... 177 4. Österreich ................................................................................. 178 a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts .............................. 178 b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung .................... 178 5. Vereinigtes Königreich ............................................................. 180 a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts .............................. 180 b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung .................... 181 6. Spanien ..................................................................................... 183 a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts .............................. 183 b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung .................... 184

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7. Portugal .................................................................................... 185 a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts .............................. 185 b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung .................... 185 8. Italien ....................................................................................... 187 a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts .............................. 187 b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung .................... 187 9. Ungarn ...................................................................................... 188 a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts .............................. 188 b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung .................... 188 10. Polen ........................................................................................ 189 a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts .............................. 189 b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung .................... 190 11. Litauen ..................................................................................... 190 a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts .............................. 190 b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung .................... 191 12. Schweden ................................................................................. 192 a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts .............................. 192 b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung .................... 192 III. Verankerung der Vertragsfreiheit im Völkerrecht .......................... 193 1. Allgemeiner völkervertragsrechtlicher Grundsatz ..................... 193 2. Vertragsfreiheit als Grundprinzip privatrechtsrelevanter völkerrechtlicher Abkommen.................................................... 194 3. Grundrechtliche Dimension völkerrechtlicher Abkommen ....... 196 C. Vertragsfreiheit als Grundsatz des Unionsprivatrechts und Unionsgrundrecht i.S.d. Art. 6 Abs. 3 EUV .......................................... 197 I. Unionsprivatrechtlicher Rechtsgrundsatz ....................................... 197 II. Vertragsfreiheit als Grundrecht im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV.......................................................................... 199 III. Fazit ............................................................................................... 201 § 3 Gewährleistungsgehalt unionaler Vertragsfreiheit ............................... 202 A. Inhalt .................................................................................................... 203 I. Autonomer Schutzbereich .............................................................. 203 II. Gegenstand, Gehalt und Kernbereich unionaler Vertragsfreiheit .............................................................................. 206 1. Entscheidung über den Vertragsschluss und Vertragspartnerwahl ................................................................. 207 2. Bestimmung der essentialia negotii .......................................... 209 3. Wesensgehalt, Funktionsbestimmung und Menschenwürdekern ................................................................. 214 III. Abwägung und Beschränkbarkeit ................................................... 216 1. Grundrechtliche Schrankensystematik ...................................... 216

XVI

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a) Erfordernis einer Rechtsgrundlage ....................................... 217 b) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ............................................ 218 c) Wahrung des Wesensgehalts ................................................ 221 2. Abwägung unionsprivatrechtlicher Grundsätze ......................... 223 3. Ergebnis ................................................................................... 224 B. Anwendungsbereich ............................................................................. 226 I. Persönlicher Anwendungsbereich: Jedermanns(grund)recht ........... 226 II. Unionsgrundrechtliche Bindung der EU und ihrer Mitgliedstaaten .............................................................................. 227 1. Durchführung des Unionsrechts ................................................ 227 2. Erweiterungen des „Anwendungsbereichs“ des Unionsrechts und der EU-Grundrechte ..................................... 229 a) Vertragsfreiheit als Schranke und „SchrankenSchranke“ bei Verkürzungen der Verkehrsfreiheiten ........... 233 b) Ausdehnung des Anwendungsbereichs durch den Effektivitätsgrundsatz .......................................................... 236 c) Bindung an die unionale und Überlagerung der nationalen Vertragsfreiheit im Schuldvertragsrecht .............. 240 aa) Einheitlicher Schutzgegenstand und unteilbare Vertragsfreiheit ............................................................. 240 bb) Grundsätzlicher Vorrang unionaler Vertragsfreiheit ...... 243 III. Wirkbereich als privatrechtlicher Rechtsgrundsatz ......................... 245 C. Summe des zweiten Kapitels ................................................................ 247 Zweiter Teil

Vertragsfreiheit und ihre Materialisierung als Richtschnur des Schuldvertragsrechts der EU und ihrer Mitgliedstaaten 251

Kapitel 3 – Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell unionaler Vertragsfreiheit ............................................. 253 § 1 Einwirkungsachsen im Privatrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten ..................................................................... 253 A. Privatrechtswirkungen der Vertragsfreiheit als Unionsgrundrecht ........ 254 I. Autarkie und Grundrechtsbindung des Privatrechts ........................ 255 II. Unionsgrundrechtliche Triebfedern der Privatrechtswirkung ......... 258 1. Abwehrgrundrecht .................................................................... 258

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XVII

2. Schutzpflichtdimensionen unionaler Vertragsfreiheit................ 259 3. Grundrechtsnotwendige Institutionen und objektivrechtliche Dimension ................................................................ 261 III. Methodische Einwirkungsebenen ................................................... 263 1. Ausgestaltungsvorgaben bei der Rechtsetzung .......................... 264 2. Durch Vorlageverpflichtung flankierte unionsgrundrechtskonforme Auslegung und Rechtsanwendung ..................................................................... 265 3. Mittelbare horizontale Drittwirkung in Privatrechtsbeziehungen ........................................................... 269 B. Privatrechtswirksamkeit der Vertragsfreiheit als Rechtsgrundsatz ........ 272 I. Prinzipiengeleitete Auslegung und Rechtsfortbildung .................... 273 II. Ausgleich mit gegenläufigen Prinzipien und der „prima facieVorrang des Prinzips der rechtlichen Freiheit“ im Unionsrecht ...... 275 C. Multidimensionalität der Privatrechtswirkungen................................... 279 I. Privatrechtlicher Rechtsgrundsatz und Unionsgrundrecht .............. 279 II. Interaktion individual-rechtlicher und binnenmarktbezogener Vertragsfreiheit .............................................................................. 280 § 2 Vertragsfreiheit als Begründung und Begrenzung der Vertragsbindung ................................................................................... 283 A. Pacta sunt servanda im Unionsprivatrecht ........................................... 283 I. Vertragsfreiheit als Fundament von Vertragstreue und -bindung .................................................................................. 285 II. Leistungstreue als zentrales Element .............................................. 287 1. Verbrauchervertragsrecht und Leistungstreue ........................... 287 2. Leistungs- und Zahlungstreue im Wirtschaftsvertragsrecht ....... 289 III. Zwischenfazit ................................................................................. 291 B. Personale Relativität vertraglicher Schuldverhältnisse .......................... 291 I. Grundsatz der Relativität im Unionsrecht ....................................... 291 II. Verbot von Verträgen zulasten Dritter............................................ 294 III. Verträge zugunsten Dritter und unionale Vertragsfreiheit .............. 298 C. Ergebnis ............................................................................................... 301 § 3 Vertrags- und Marktmechanismus als prozedurales Funktionsmodell ................................................................................... 302 A. Freiheitsverwirklichung durch den Vertrags- und Marktmechanismus ............................................................................... 303 I. Prozedurale Freiheitsentfaltung durch den Vertragsmechanismus .................................................................... 305 II. Markt- und wettbewerbsgestütztes Funktionsmodell ...................... 308 B. Richtigkeitsgewähr des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus ........ 311

XVIII

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I. Vertragsmechanismus und Richtigkeitsvermutung ......................... 312 II. Wettbewerbsmechanismus und Richtigkeitsvermutung .................. 316 C. Summe des dritten Kapitels .................................................................. 320

Kapitel 4 – Materialisierung der Vertragsfreiheit durch Unionsrecht........................................................... 323 § 1 Begriff, Gegenstand und Ziel der Materialisierung ............................... 324 A. Evolution des Materialisierungsverständnisses und seiner Bezugspunkte ....................................................................................... 325 I. „Sozialmodell“ und „soziale Gerechtigkeit“ ................................... 328 II. Rückanbindung an die Vertragsfreiheit im Unionsrecht ................. 329 B. Werthaltige Selbstbestimmungschancen als Ziel und Schutzpflichten als Antrieb ................................................................... 331 I. Gewährleistung tatsächlicher Selbstbestimmungschancen .............. 331 II. Schutzpflichtendimension der Vertragsfreiheit als Triebfeder ........ 334 III. Materialisierung ex ante und ex post .............................................. 337 C. Zwischenfazit ....................................................................................... 338 § 2 Marktkonstitutive und wettbewerbsschützende Materialisierungsinstrumente des Wirtschaftsrechts ............................. 338 A. Kartellrecht........................................................................................... 340 B. Lauterkeitsrecht .................................................................................... 341 C. Zwischenfazit ....................................................................................... 344 § 3 Materialisierung durch Unionsprivatrecht ........................................... 346 A. Informationsmodell .............................................................................. 347 I. Elemente und Funktionen ............................................................... 347 1. Informations-, Transparenz- und Formanforderungen ............... 348 2. Markt- und vertragsfreiheitsermöglichende Funktion im gesamten EU-Schuldvertragsrecht ............................................ 351 II. Ausrichtung und Systematisierung anhand der unionalen Vertragsfreiheit .............................................................................. 353 III. Grenzen der Materialisierung durch das Informationsmodell ......... 356 B. Restriktionen der Vertragsschlussmodalitäten ...................................... 358 C. Diskriminierungsverbote und Kontrahierungszwänge ........................... 360 I. Binnenmarkt- und wettbewerbsbezogene Diskriminierungsverbote ................................................................ 361 1. Primärrechtliche Verbote .......................................................... 361 a) Wettbewerbsrecht ................................................................ 361

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b) Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit ......... 362 2. Dienstleistungsrichtlinie ........................................................... 363 3. Konvergenz der Diskriminierungsverbote im Bereich der Staatsangehörigkeit? ................................................................. 364 II. Gesellschaftspolitische Diskriminierungsverbote ........................... 365 III. Binnenmarkt- und wettbewerbsbezogene Kontrahierungszwänge ................................................................... 367 IV. Gesellschaftspolitische Kontrahierungszwänge .............................. 369 Klauselkontrolle ................................................................................... 370 I. Inhaltskontrolle .............................................................................. 371 1. Materialisierung negativer Vertragsfreiheit ............................... 372 2. Erhaltung positiver Vertragsinhaltsfreiheit bezüglich des angestrebten Äquivalenzverhältnisses ....................................... 373 3. Unionsrechtlich-autonome und nationale Maßstabbildung ........ 374 a) Leitbildfunktion dispositiven Rechts .................................... 375 b) Herausbildung unionsrechtliche-autonomer Maßstäbe ......... 377 aa) Hypothetischer Vertragsmechanismus ........................... 377 bb) Wertungen des Anhangs zur Klauselrichtlinie ............... 378 c) Zwischenfazit ...................................................................... 380 II. Transparenzkontrolle und „Markttransparenzgebot“ ...................... 380 Zwingendes Vertragsrecht und Unwirksamkeitstatbestände.................. 383 Materialisierung durch Aktualisierung der Vertragsfreiheit .................. 384 I. Vertragsbeseitigungsrechte ............................................................ 385 II. Höchstbindungsdauern im Verbraucher-, Finanzdienstleistungs- und Wirtschaftsvertragsrecht ...................... 388 Summe des vierten Kapitels ................................................................. 392

Kapitel 5 – Indienstnahme des BGB zur Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit ............................................. 395 § 1 Einwirkungsebenen des unionalen Materialisierungsgebots ................. 395 A. Effektivitätsgrundsatz als Einfallstor .................................................... 396 I. Wirksamkeitsorientierte Auslegung und Äquivalenz- sowie Effektivitätsgrundsatz .................................................................... 397 II. Erweiterungen der unionsgrundrechtskonformen Interpretation durch effet utile und Äquivalenz- sowie Effektivitätsgrundsatz .................................................................... 399 B. Vertragsfreiheit als unionsgrundrechtliche Triebfeder der Materialisierung ................................................................................... 400 I. Gebot äquivalenter und effektiver Entfaltung unionaler Vertragsfreiheit im nationalen Privat- und Zivilprozessrecht.......... 400

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II. Erfüllung unionsgrundrechtlicher Schutzpflichten durch mitgliedstaatliches Privatrecht ....................................................... 402 C. Zwischenfazit ....................................................................................... 403 § 2 Interaktion der Materialisierungsinstrumente des BGB und des EU-Privatrechts ................................................................................... 404 A. Anfechtung nach §§ 119, 123 BGB ...................................................... 404 I. Konflikte mit Materialisierungsinstrumenten des Unionsprivatrechts ......................................................................... 406 1. Anfechtung und Diskriminierungsschutz im Schuldvertragsrecht .................................................................. 406 2. Unternehmerseitige Anfechtung und Verbraucherwiderruf ....... 408 a) Lösung im Lichte des effet utile ........................................... 408 b) Kipp’sche „Doppelwirkung im Recht“: Widerruf des gemäß § 142 BGB nichtigen Vertrags .................................. 409 c) Einschränkungen bei arglistiger Täuschung durch den Verbraucher ......................................................................... 411 3. Zwischenfazit ........................................................................... 413 II. Koexistenz bei gleicher Zielsetzung unionaler und nationaler Instrumente .................................................................................... 413 1. Grundsatz elektiver Konkurrenz ............................................... 414 2. Fortbestand des Vertragsbeseitigungsrechts mangels Belehrung ................................................................................. 415 3. Rechtssicherheit, Vertrauensschutz und Verbot des Rechtsmissbrauchs als Schranken ............................................. 416 III. Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit durch §§ 119, 123 BGB ........................................................................... 418 1. Vertragsschlussrelevante Informationspflichten ........................ 418 2. Inhalts- und Erklärungsirrtum im Kontext der E-Commerce-Richtlinie ............................................................ 421 3. Anwendungsbeispiele aus dem Finanzdienstleistungs- und Verbrauchervertragsrecht .......................................................... 422 B. Culpa in contrahendo ........................................................................... 424 I. Voraussetzungen der Inanspruchnahme des § 311 Abs. 2 BGB als Materialisierungsinstrument ...................................................... 425 II. Anordnung vorvertraglicher Informationshaftung bei Versicherungsverträgen und Kapitalanlageprodukten ..................... 426 III. Culpa in contrahendo als Sanktion von Verstößen gegen die Bonitätsprüfungspflicht im Verbraucherkreditvertragsrecht ........... 428 1. Verletzung der Bonitätsprüfungspflicht und ihre Folgen ........... 429 2. Unionsrechtliche Vorgaben mit Blick auf § 311 Abs. 2 BGB..................................................................... 430

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IV. Informationshaftung im allgemeinen Verbrauchervertragsrecht ............................................................... 433 1. Kategorien vertragsentschlussrelevanter Informationspflichten ............................................................... 433 2. Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz sowie Einwirkung unionaler Vertragsfreiheit ......................................................... 434 3. Keine Kompensation durch andere privatrechtliche Instrumente ............................................................................... 435 V. Information über Verbraucherwiderrufsrecht als Sonderfall ........... 436 C. §§ 138, 242 BGB als Generalklauseln des Bürgerlichen Rechts ........... 438 I. Unionsrechtsoffenheit der Generalklauseln des BGB ..................... 438 1. Berücksichtigung im Geltungsbereich des Unionsrechts ........... 439 2. Heranziehung als Werteordnung jenseits des Anwendungsbereichs des EU-Rechts ........................................ 441 II. Sittenwidriges Rechtsgeschäft und Wucher i.S.d. § 138 BGB ........ 443 1. Unionale Vertragsfreiheit und „Bürgschaftsfälle“ ..................... 443 a) Bürgschaftsverträge im Anwendungsbereich des Unionsrechts ........................................................................ 443 b) Unionale Vertragsfreiheit als Maßstab i.R.d. § 138 Abs. 1 BGB ................................................................ 446 2. Kein genereller Vorrang der Materialisierungsinstrumente des Unionsprivatrechts vor § 138 BGB ..................................... 447 III. § 242 BGB als Ergänzung unionaler Materialisierungsinstrumente ......................................................... 449 § 3 Das BGB im hybriden Materialisierungssystem des Unionsprivatrechts ......................................................................... 452 A. Komplementarität der Materialisierungsinstrumente............................. 452 I. Determinanten des unionsprivatrechtlichen Materialisierungssystems ............................................................... 452 II. Drei Funktionen des Bürgerlichen Rechts ...................................... 454 1. Unionsprivatrechtsakzessorische Ergänzung ............................. 454 2. Teilautonomes Materialisierungsinstrument.............................. 454 3. Unionsgrundrechtsoffene Auffangordnung ............................... 455 B. Summe des fünften Kapitels ................................................................. 456

Kapitel 6 – Materialisierung durch Zivilprozessrecht ................. 459 § 1 Triebkräfte und Ziele der verfahrensrechtlichen Dimension der Materialisierung ................................................................................... 461 A. Zwei zentrale Einfallstore unionsrechtlicher Wertungen ....................... 462

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B. Verwirklichung unionaler Vertragsfreiheit durch nationales Prozessrecht ......................................................................................... 463 I. Pflicht zur zivilprozessualen Durchsetzung unionsrechtlich determinierter Verträge .................................................................. 463 II. Kompensation fehlender rechtsgeschäftlicher Selbstbestimmungschancen ............................................................ 465 § 2 Materialisierungstendenzen und Prozessmaximen der ZPO .................. 467 A. Unionsrechtliche Anerkennung von Dispositions-, Verhandlungsund Beschleunigungsgrundsatz ............................................................. 467 I. Dispositionsmaxime und Antragsgrundsatz als „Vertragsfreiheit im Prozess“ ......................................................... 468 II. Verhandlungsgrundsatz .................................................................. 469 III. Konzentrations- und Beschleunigungsgrundsatz ............................ 470 B. Unionsrechtliche Überlagerung der Prozessmaximen in Verfahren mit Verbraucherbeteiligung ................................................. 470 I. Durchbrechung des Dispositions- und Antragsgrundsatzes: Anwendung der Materialisierungsinstrumente von Amts wegen ......... 471 1. Drohende Erosion des Antragsgrundsatzes zugunsten einer Legalitätskontrolle anhand des EUVerbrauchervertragsrechts ........................................................ 472 2. Sachgerechte Eingrenzung durch den Streitgegenstand ............. 475 3. Verwirklichung des Effektivitätsgrundsatzes sowie unionsgrundrechtlicher Schutzpflichten über § 139 ZPO .......... 476 II. Partielle Abkehr vom Verhandlungs- und Hinwendung zum Untersuchungsgrundsatz ................................................................ 479 1. Unionsrechtliche determinierte Untersuchungsmaxime ............ 479 2. Umsetzung im Rahmen der ZPO............................................... 481 a) Materielle Prozessleitung nach §§ 139 ff. ZPO .................... 481 b) Anordnung der Urkundsvorlage nach § 142 ZPO ................. 482 c) Inaugenscheinnahme von Amts wegen nach § 144 ZPO ...... 484 3. Reichweite und Folgefragen der Geltung des Untersuchungsgrundsatzes ........................................................ 485 III. Einfluss auf den Konzentrations- und Beschleunigungsgrundsatz ............................................................. 487 1. Präklusion nach § 296 ZPO ...................................................... 487 2. Tatsachenerfassung und -bewertung im Rechtsmittelverfahren ............................................................... 488 C. Sicherung der kontradiktorischen Verfahrensgestaltung ....................... 490 I. Unionsrechtlich gebotene Hinweis-, Kenntnisnahme- und Erörterungspflichten....................................................................... 490 II. Einpassung in das System der deutschen ZPO................................ 491

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§ 3 Zwangsvollstreckungsrecht im Bannkreis unionaler Materialisierungsvorgaben ................................................................... 493 A. § 767 Abs. 2, § 796 Abs. 2 ZPO und die Ausübung unionsprivatrechtlicher Gestaltungsrechte ............................................ 494 B. Keine umfassende Korrektur über das Zwangsvollstreckungsverfahren ........................................................... 498 I. Vorrang der Materialisierung im Erkenntnisverfahren und Schutz der Rechtskraft ................................................................... 498 II. Voraussetzungen und Instrumente der subsidiären Materialisierung durch Zwangsvollstreckungsrecht ........................ 500 C. Zwischenergebnis ................................................................................. 501 § 4 Mahnverfahren und Materialisierung ................................................... 503 A. Amtswegige Prüfung des EU-Verbrauchervertragsrechts ..................... 504 B. Kein Untersuchungsgrundsatz im Mahnverfahren ................................ 505 C. Umsetzung der unionsrechtlichen Vorgaben bei Mahnverfahren .......... 508 I. Lösungsmöglichkeiten vor Titelschaffung...................................... 509 1. Mahnverfahrenssperre für Verbrauchersachen analog § 688 Abs. 2 Nr. 1 ZPO ............................................................ 509 2. Herausnahme der Verbraucherfälle aus dem automatisierten Mahnverfahren? ............................................... 510 II. Nachgelagerte Kontrolle über § 767, § 796 Abs. 2 ZPO und § 826 BGB ..................................................................................... 511 III. Zwischenergebnis .......................................................................... 514 § 5 Zivilprozessrecht als Baustein des unionalen Materialisierungssystems ..................................................... 515 A. Funktion und Entwicklungstendenzen der Materialisierung durch Zivilverfahrensrecht ............................................................................. 516 I. Ineinandergreifen materiellrechtlicher und prozessualer Materialisierungsinstrumente ......................................................... 516 1. Durchsetzung privatrechtlicher Materialisierungsinstrumente .................................................... 516 2. Zivilprozessrecht als mehrstufige Auffangordnung ................... 517 II. Materialisierung duch Zivilprozessrecht im Antidiskriminierungs- und Finanzdienstleistungsvertragsrecht....... 519 1. Antidiskriminierungsrecht ........................................................ 519 2. Versicherungsvertragsrecht ....................................................... 521 B. Summe des sechsten Kapitels ............................................................... 523

XXIV

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 7 – Kompass- und Schrankenfunktion der Vertragsfreiheit ................................................................ 527 § 1 Vertragsfreiheit als Leitprinzip und Schranke des unionalen Materialisierungssystems ..................................................... 528 A. Grenzen der Materialisierungsinstrumente ............................................ 528 I. Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus als Erforderlichkeits- und Verhältnismäßigkeitsmaßstab ..................... 528 1. Unionsgrundrechtlicher Rahmen ............................................... 529 a) Erforderlichkeit, Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit i.e.S. .................................................... 529 b) Typisierende Materialisierungstatbestände und ihre Grenzen ............................................................................... 531 2. Privatrechtliche Anwendungsbeispiele ..................................... 532 a) Selbstbestimmungschancen durch den Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus bei „umgekehrten“ Verbraucherverträgen .......................................................... 533 aa) Fernabsatzverträge ........................................................ 535 bb) Außergeschäftsraumverträge ......................................... 536 b) Keine Stärkung des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus durch bestimmte Informationpflichten des Finanzdienstleistungsvertragsrechts ............................... 539 II. Unionsprivatrechtliche Rechtsgrundsätze als Schranken der Materialisierung ............................................................................. 541 1. Rechtsmissbrauchsverbot und Treu und Glauben ...................... 542 a) Rahmensetzung durch Unionsrecht ...................................... 542 b) Autonomes Rechtsmissbrauchsverbot in der EuGH-Judikatur ................................................................... 545 c) Ausstehende Konturierung des Grundsatzes von Treu und Glauben......................................................................... 548 2. Begrenzung von Vertragslösungsrechten im Verbraucherund Finanzdienstleistungsvertragsrecht..................................... 551 a) Ausschluss bei Schädigungs- und Missbrauchsabsicht ......... 551 b) Instrumentalisierung des Widerrufs zur Erzielung günstigerer Vertragskonditionen .......................................... 554 aa) Preisnachlässe bei Fernabsatzverträgen ......................... 555 bb) Nachverhandlung von Kredit- oder Versicherungskonditionen ............................................. 557 c) Anwendungsfälle des „halbautonomen“ Grundsatzes von Treu und Glauben ......................................................... 559 aa) Verwirkung unionaler Materialisierungsinstrumente......................................... 560

Inhaltsverzeichnis

XXV

bb) Vortäuschen gewerblicher Verwendung ........................ 563 3. Rechtsmissbrauch als Schranke des Diskriminierungsschutzes ......................................................... 564 III. Unionale Prozessgrundsätze und -rechte als Grenze der Materialisierung durch Zivilverfahrensrecht................................... 565 1. Parteidisposition als prozessuale Facette der Privatautonomie ........................................................................ 566 2. Grundsatz des fairen kontradiktorischen Verfahrens ................. 567 3. Zwischenfazit ........................................................................... 568 B. Stufenbau des Materialisierungssystems ............................................... 569 I. Drei konzentrische Schutzwälle der Vertragsfreiheit ...................... 569 II. Kaskade der Materialisierungsinstrumente ..................................... 571 1. Abstufung der privatrechtlichen Instrumente ............................ 571 2. Materialisierungskaskade im Bereich des Zivilprozessrechts ..................................................................... 574 III. Materialisierung und Vermutung der „Richtigkeit“ des Vertrags ......................................................................................... 575 1. Gesteigerte Richtigkeitsgewähr des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus ........................................................ 575 2. Prozedurale Gerechtigkeit durch materialisierte Vertragsfreiheit ......................................................................... 576 3. Schutz gegen „Extremabweichungen“ zwischen BGB und allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsprivatrechts ........... 580 C. Partielle Disponibilität der Materialisierung ......................................... 583 I. Disposition über Materialisierungsinstrumente im Zivilprozess ................................................................................... 583 II. Erweiterte materiellrechtliche Dispositionsbefugnis als Folge der Materialisierung durch Prozessrecht ......................................... 584 1. „Einwilligung“ in missbräuchliche Klauseln ............................. 585 2. Einpassung in die Rechtsgeschäftslehre des BGB ..................... 585 3. Folgen für die Kontrollfähigkeit der Klausel und die Bindung des anderen Vertragsteils ............................................ 586 III. Disponibilität materiellrechtlicher Materialisierungsinstrumente jenseits des Zivilverfahrens? ............ 587 § 2 Vertragsfreiheit als Grenze der Kontrolle von Vertragsinhalten ........... 589 A. Inhaltskontrolle jenseits der Klauselrichtlinie ....................................... 591 I. Mindestharmonisierung durch die Klauselrichtlinie ....................... 592 II. Art. 8 Klauselrichtlinie und unionale Vertragsfreiheit .................... 593 B. Schranken der Inhaltskontrolle von Individualvereinbarungen und der essentialia negotii ........................................................................... 595

XXVI

Inhaltsverzeichnis

I.

Unionale Vertragsfreiheit als Maßstab angesichts der Bedrohung der Vertragsfunktion durch die pauschale Inhaltskontrolle .... 595 II. Individuell ausgehandelte Vertragsbestimmungen .......................... 598 1. Bedarf es eines pauschalen Kontrollvorbehalts? ....................... 598 2. Vorrang einer anlassbezogenen Individualkontrolle .................. 599 3. Rückausnahme bei typisierbarem Versagen des Vertragsund Markmechanismus ............................................................. 600 III. Inhaltskontrolle der essentialia negotii ........................................... 600 C. Folgen für die pauschale Inhaltskontrolle im Schuldvertragsrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten .......................................................... 603 I. Vertragsfreiheitskonforme Handhabung der mitgliedstaatlichen Inhaltskontrolle................................................ 603 1. Beispiele für die Kontrolle von Individualvereinbarungen und der essentialia negotii ........................................................ 603 2. Einschränkung der Inhaltskontrolle im Lichte unionaler Vertragsfreiheit ......................................................................... 605 a) Frankreich: Fragwürdigkeit unwiderleglicher Missbräuchlichkeit von Individualvereinbarungen ............... 607 b) Spanien: Vertragsfreiheitskonforme Begrenzung der Inhaltskontrolle durch das Tribunal Supremo ....................... 609 3. Auswirkungen i.R.d. § 307 Abs. 3 S. 1 BGB: Das Beispiel der Differenzierung zwischen Preisvereinbarungen und Preisnebenabreden .................................................................... 610 II. Kontrolle von Individualvereinbarungen nach Art. 7 Zahlungsverzugsrichtlinie und § 271a, § 286 Abs. 5 BGB ............. 613 1. Erforderlichkeit unter institutionellen Gesichtspunkten ............ 614 2. Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ........................ 615 III. Zwischenfazit ................................................................................. 616 D. Summe des siebten Kapitels ................................................................. 617

Zwölf Thesen zur Vertragsfreiheit im Binnenmarkt I.

Vertragsfreiheit als Unionsgrundrecht und als allgemeiner Rechtsgrundsatz des EU-Privatrechts ................................................. 621 II. Autonomer Gewährleistungsgehalt und Wirkbereich unionaler Vertragsfreiheit .................................................................................. 622 III. Privatrechtliche Einwirkungsebenen des Unionsgrundrechts .............. 623 IV. Privatrechtswirksamkeit als allgemeiner Rechtsgrundsatz .................. 623 V. Freiheitsentfaltung und Richtigkeitsgewähr durch den Vertragsund Wettbewerbsmechanismus ........................................................... 624 VI. Materialisierung der Vertragsfreiheit im Binnenmarkt........................ 625

Inhaltsverzeichnis

XXVII

VII. Interaktion der Materialisierungsinstrumente des BGB und des Unionsprivatrechts ............................................................................. 626 VIII. Indienstnahme des BGB zur Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit .................................................................................. 627 IX. Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit durch Zivilprozessrecht ................................................................................ 628 X. Entwicklung eines Materialisierungssystems um die unionale Vertragsfreiheit .................................................................................. 630 XI. Vertragsfreiheit als Grenze der mitgliedstaatlichen und unionalen Kontrolle von Vertragsinhalten .......................................... 631 XII. Vertragsfreiheit und ihre Materialisierung als Richtschnur des Schuldvertragsrechts der EU und ihrer Mitgliedstaaten ...................... 632 Literaturverzeichnis .................................................................................... 635 Verzeichnis wichtiger Entscheidungen ....................................................... 671 Sachverzeichnis .......................................................................................... 675

Abkürzungsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis a. A. anderer Ansicht AJDA L’actualité juridique, droit administratif a. F. alte Fassung ABl. Amtsblatt der Europäischen Union/Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Abs. Absatz AC Law Reports, Appeal Cases AcP Archiv für die civilistische Praxis AGB Allgemeine Geschäftsbedingungen AGBG Gesetz zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen AGG Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz al. alinéa Alt. Alternative ABA J. American Bar Association Journal Abt. Abteilung AEUV Vertrag über die Arbeitsweise der europäischen Union Am. Econ. Rev. The American Economic Review Am. J. of Legal Hist. American Journal of Legal History Anm. Anmerkung An. Der. Civ. Anuario de Derecho Civil AöR Archiv des öffentlichen Rechts ArbG Arbeitsgericht Archives Phil. dr. Archives de Philosophie du Droit Art. Artikel AT Allgemeiner Teil Aufl. Auflage Az. Aktenzeichen BOE BAG BeckOGK BeckOK Begr. Beschl. BGB BGBl. BGH BGHZ

Boletín Oficial del Estado Bundesarbeitsgericht beck-online Großkommentar Beck’scher Online-Kommentar Begründer Beschluss Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen

XXX

Abkürzungsverzeichnis

BISD BKR BT-Drucks. BVerfG BVerfGE bzw.

Basic Instruments and Selected Documents Zeitschrift für Bank- und Kapitalmarktrecht Bundestagsdrucksache Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts beziehungsweise

c. CA Cass. Cass. ass. plén. Cass. civ. Cass. crim. Cass. soc. Ch. CISG CMLR Colum. L. Rev. Cons. const. Current Leg. Probl.

chapter Cour d’Appel Cour de Cassation/Corte di cassazione Cour de Cassation, Assemblée Plénière Cour de Cassation, Chambre civile Cour de Cassation, Chambre criminelle Cour de Cassation, Chambre sociale Chapter/Chambre (United Nations) Convention on Contracts for the International Sale of Goods Common Market Law Review Columbia Law Review Conseil constitutionnel Current Legal Problems

D. D. chron. DB DC DCFR ders. dies. DJT DNotZ DVBl.

Recueil Dalloz Receuil Dalloz Chronique Der Betrieb Contrôle de constitutionnalité des lois Draft Common Frame of Reference derselbe dieselbe, dieselben Deutscher Juristentag Deutsche Notar-Zeitschrift Deutsches Verwaltungsblatt

éd. ed. eds. EG EGBGB EGMR EGV Einl. EJIL ELJ EMRK

édition/éditeur/éditeurs edition/editor editors Europäische Gemeinschaft Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuche Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Einleitung European Journal of International Law European Law Journal Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten European Review of Contract Law European Review of Private Law Europäische Union European Constitutional Law Review

ERCL ERPL EU EuConst

Abkürzungsverzeichnis EuGH EuErbVO

XXXI

EWCA Civ EWHC (QB) EWR EWS

Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Verordnung (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses (Europäisches) Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Europäische) Verordnung über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen Europarecht Vertrag über die Europäische Union Zeitschrift für Europäisches Unternehmens- und Verbraucherrecht Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (Europäisches) Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht England and Wales Court of Appeal (Civil Division) England and Wales High Court (Queen’s Bench Division) Europäischer Wirtschaftsraum Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht

f., ff. Foro it. FS

folgende Il foro italiano Festschrift

GA GLJ GG Giust. civ. Giur. cost. GPR GRCh GrdstVG GRUR GS G.U. GWB GWR

Generalanwalt German Law Journal Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Giustizia civile Giurisprudenza costituzionale Zeitschrift für Gemeinschaftsprivatrecht Charta der Grundrechte der Europäischen Union Grundstückverkehrsgesetz Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht Gedächtnisschrift Gazzetta Ufficiale Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht

Harv. Int. L.J. Herv. d. Verf. HK-BGB HKK Hrsg. Hs.

Harvard International Law Journal Hervorhebung des Verfassers Handkommentar Bürgerliches Gesetzbuch Historisch kritischer Kommentar zum BGB Herausgeber Halbsatz

i.V.m.

in Verbindung mit

EuGVÜ EuGVVO EuR EUV EUVR EuZW EVÜ

XXXII

Abkürzungsverzeichnis

IPR IPRax

Internationales Privatrecht Praxis des internationalen Privat- und Verfahrensrechts

JA JbJZWiss JBl JCP JherJb. JORF JuS JZ

Juristische Arbeitsblätter Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler Juristische Blätter La semaine juridique (juris classeur périodique) Jherings Jahrbücher für die Dogmatik des bürgerlichen Rechts Journal Officiel de la République Française Juristische Schulung Juristenzeitung

KritV

Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft

L. LAG LG lit. LMK LR Eq

Loi Landesarbeitsgericht Landgericht litera Lindenmaier-Möhring – Kommentierte BGH-Rechtsprechung Law Reports, Equity Cases

M.B. Mercer L. Rev. Mich. J. Int. L. Mod. L. Rev. MünchKomm m. w. N.

Moniteur Belge Mercer Law Review Michigan Journal of International Law Modern Law Review Münchener Kommentar mit weiteren Nachweisen

n. n° NJA NJW NJW-RR No. NomosKomm Nr. NZA NZG

numero numéro/número Nytt Juridiskt Arkiv Neue Juristische Wochenschrift Neue Juristische Wochenschrift Rechtsprechungs-Report Number Nomos Kommentar Nummer Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht

OGH OLG

Oberster Gerichtshof Oberlandesgericht

Pasic. PWW

Pasicrisie belge Prütting, Hanns/Wegen, Gerhard/Weinreich, Gerd (Hrsg.): BGB Kommentar

QPC

Question prioritaire de constitutionnalité

Abkürzungsverzeichnis R. RabelsZ RC RdA Rec. red. Rép. dr. civ. RG RGZ RIDC RIS RIW RL Rn. Rom I Rom II Rs. RTD Civ. s. S. S.I. SchwarzArbG

XXXIII

Règlement Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Recurso Recht der Arbeit Recueil des décisions du Conseil constitutionnel redigerad av Répertoire de droit civil Reichsgericht Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Revue internationale de droit comparé Rechtsinformationssystem des Bundes Recht der Internationalen Wirtschaft Richtlinie Randnummer Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht Rechtssache Revue trimestrielle de droit civil

SCAN Slg. StGG SASTJ

section Satz Statutory Instrument Gesetz zur Bekämpfung der Schwarzarbeit und illegalen Beschäftigung Social Cognitive and Affective Neuroscience Sammlung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Österreichisches Staatsgrundgesetz Sumários de Acórdãos do Supremo Tribunal de Justiça

u. a. UKHL UKPC UKSC Urt. UWG

unter anderem/und andere United Kingdom House of Lords United Kingdom Privy Council United Kingdom Supreme Court Urteil Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb

v. verb. Rs. VersR VfGH VfSlg.

von/vom verbundene Rechtssachen Versicherungsrecht Verfassungsgerichtshof Österreich Sammlung der Erkenntnisse und wichtigsten Beschlüsse des Verfassungsgerichtshofes/Ausgewählte Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes (seit 2012) vergleiche Volume

vgl. Vol.

XXXIV

Abkürzungsverzeichnis

VUR VVG

Verbraucher und Recht Versicherungsvertragsgesetz

WiRO WM WRP

Wirtschaft und Recht in Osteuropa Wertpapier-Mitteilungen Wettbewerb in Recht und Praxis

Yale L. J. Y.B. ILC

Yale Law Journal Yearbook of the International Law Commission

z. B. ZaöRV ZEuP ZEuS ZfPW ZHR ZIP ZKG ZPO ZRG GA

zum Beispiel Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für Europäisches Privatrecht Zeitschrift für Europarechtliche Studien Zeitschrift für die gesamte Privatrechtswissenschaft Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht Zeitschrift für Wirtschaftsrecht und Insolvenzpraxis Zahlungskontengesetz Zivilprozessordnung Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte Germanistische Abteilung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft Zeitschrift für Zivilprozess

ZRP ZVglRWiss ZZP

Einleitung Einleitung

Nur wenige Erfindungen dominieren und erleichtern den menschlichen Alltag in gleicher Weise wie der Vertrag: „Comme la roue, le contrat est l’une des créations les plus utiles et les plus simples de l’Humanité“.1 Statt auf das Recht des Stärkeren oder eine prästabilierte Gesellschaftsordnung baut der Vertrag bei der Organisation privatrechtlicher Rechtsverhältnisse zuvörderst auf den Konsens seiner Parteien.2 Konsens kann indes regelmäßig nur über Inhalte erzielt werden, die den Interessen beider Seiten Rechnung tragen. Das Instrument des Vertrags entfaltet somit besondere Überzeugungskraft, weil es eine autonome und bedürfnisgerechte Ordnung der Rechtsbeziehungen ermöglicht. Vor diesem Hintergrund gilt auch die Freiheit, Verträge zu schließen und zu gestalten, vielen als „principe qui va de soi“.3 Warum also ist die Vertragsfreiheit in der Europäischen Union ebenso wie im deutschen Bürgerlichen Recht überhaupt ein Thema? A. Ausgangslage und Anlass der Untersuchung A. Ausgangslage und Anlass der Untersuchung

Zunächst ist das „Problem der Freiheit“ die zentrale Frage jedes Privatrechtssystems: Wie viel Autonomie ist den Akteuren insbesondere im Vertragsrecht zuzuerkennen und wo sind die Grenzen zu ziehen?4 Im Schuldvertragsrecht der EU wird die Beantwortung dadurch erschwert, dass die Vertragsfreiheit als Dreh- und Angelpunkt dieses Freiheitsproblems beim derzeitigen Stand in der Unionsrechtsordnung kaum fassbar ist (I). Dies wirkt sich unmittelbar auf die Gestaltung, Auslegung und auf die Handhabung dieser Materie aus: Solange die Vertragsfreiheit als Kompass fehlt, sind Rechtszersplitterung, Inkohärenz und freiheitsbegrenzende Tendenzen ebenso naheliegende wie unerwünschte Folgen (II). Mousseron, Technique contractuelle (2010), S. 18. Bereits Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797, 1907), AA VI, S. 271 zeigt auf, dass nur durch den Vertrag der Zugang zu fremden Gütern ohne Eigenmacht und ohne äußeren Zwang möglich ist. Dem Gütererwerb durch „eigenmächtig[es]“ Handeln und „rechtswidrige That“ stellt Kant pointiert den konsensualen Erwerb gegenüber: „Der Act der vereinigten Willkür zweier Personen, wodurch überhaupt das Seine des Einen auf den Anderen übergeht, ist der Vertrag“. 3 Vgl. Jamin, in: ders. / Mazeaud (éd.), La nouvelle crise du contrat (2003), S. 7, 18. 4 Vgl. Hallstein, Wiederherstellung des Privatrechts (1946), S. 6 f. 1 2

2

Einleitung

Diese Entwicklungen betreffen auch das deutsche Bürgerliche Recht, weil das EU-Schuldvertragsrecht tief in das BGB hineinwirkt: Beispielsweise sind weite Teile der Klauselkontrolle, des Kaufrechts, der Verzugszinsregelungen und des Finanzdienstleistungsvertragsrechts unionsrechtlich determiniert. Zudem erfassen die zahlreichen Diskriminierungsverbote des EU-Privatrechts nahezu das gesamte deutsche Vertragsrecht von Arbeits-, Versicherungs- und Bankverträgen über Mietverträge bis hin zu Werk- und Kaufverträgen. Ein Rückgriff auf mitgliedstaatliche Verbürgungen der Vertragsfreiheit hilft hier kaum weiter, da diese weder den Unionsgesetzgeber noch den zur letztverbindlichen Auslegung des EU-Schuldvertragsrechts berufenen EuGH binden. Vor allem werden solche nationalen Garantien im Anwendungsbereich des Unionsrechts zunehmend überlagert und zurückgedrängt: Je mehr das EU-Privatrecht also seinen Einfluss auf das deutsche Schuldvertragsrecht ausbaut, desto kleiner werden die Bereiche, in denen die mitgliedstaatliche Vertragsfreiheit den Ton angeben kann (III). Zugleich forciert der EuGH eine einseitige Konstitutionalisierung des Unionsprivatrechts (IV) und trägt Gleichheitsgrundrechte in das Vertragsrecht hinein. Ohne eine sichtbare und umfassende unionsrechtliche Verbürgung der Vertragsfreiheit fehlt dem Schuldvertragsrecht der EU daher nicht nur eine klare Leitlinie, sondern auch ein Gegengewicht zu solchen autonomiebegrenzenden Entwicklungen. Vor diesem Hintergrund ist die Verortung und Konturierung der Vertragsfreiheit im geltenden Recht der Europäischen Union nicht weniger als die Lebensfrage der – mitgliedstaatlichen und unionalen – Privatrechtsordnungen (V). Von ihrer Beantwortung hängt ab, „ob es gelingt, die rechtsgeschäftliche Privatautonomie als Mittel individueller Gestaltung zu bewahren und zugleich ihre Funktionen und ihre Grenzen innerhalb der Rechtsordnung zu bestimmen“.5

I.

Hypotrophie der Vertragsfreiheit im Unionsrecht

Die Vertragsfreiheit ist in der einer „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ verpflichteten Europäischen Union unverzichtbar: Die Preisbildung entsprechend Angebot und Nachfrage ebenso wie der Wettbewerb setzen voraus, dass die Marktakteure nach ihren individuellen Präferenzen über den Vertragsschluss, die Auswahl ihres Vertragspartners und den Vertragsinhalt frei entscheiden können.6 Neben der Eigentumsgarantie und den Grund-

5 Mestmäcker, JZ 1964, 441, 443. Prägnant formuliert auch Jamin, in: ders. / Mazeaud (éd.), La nouvelle crise du contrat (2003), S. 7, 18: „[L]a liberté contractuelle […] et sa portée sont au cœur de la problématique du droit des contrats“. 6 Vgl. GA Kokott Schlussanträge v. 17.9.2009 – Rs. C-441/07 P (Kommission / Alrosa), Slg. 2010, I-5949 Rn. 225. So zuvor allgemein schon Mestmäcker, JZ 1964, 411, 443;

A. Ausgangslage und Anlass der Untersuchung

3

freiheiten zählt die rechtsgeschäftliche Privatautonomie7 zu den Angeln, in denen die Tür zum Binnenmarkt schwingt: Erst diese Gewährleistungen ermöglichen private Initiative und ungehinderten Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen in der EU. Obschon das Unionsrecht so offenkundig auf „das Zusammenspiel von Markt und Vertragsfreiheit“ setzt8 und die Grundfreiheiten sowie der Schutz des freien Wettbewerbs an prominenter Stelle in den Verträgen verankert sind, enthalten weder das primäre noch das sekundäre Unionsrecht explizite Garantien der Vertragsfreiheit.9 Die Bezugnahmen des EuGH wirken bislang eher zufällig, und das geschriebene Unionsrecht bietet allenfalls insularen und reflexhaften Schutz.10 Insbesondere greift der überkommene Verweis auf Canaris, FS Lerche (1993), S. 873, 890; Basedow, AcP 200 (2000), 445, 485 ff.; G. Wagner, in: Blaurock / Hager (Hrsg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), S. 13, 16 f. 7 Wenn der an das deutsche Bürgerliche Recht angelehnte Begriff der „rechtsgeschäftlichen Privatautonomie“ im Folgenden zur Vermeidung von Wiederholungen synonym zur Vertragsfreiheit gesetzt wird, findet diese Terminologie durchaus eine Stütze im Unionsrecht, da das Rechtsgeschäft dort regelmäßig eine vertragliche Transaktion bezeichnet, vgl. nur Erwägungsgrund Nr. 6, Art. 7 Abs. 4 lit. e Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken), ABl. 2005 L 149/22; Erwägungsgründe Nr. 20, 34 und Art. 7 Abs. 2 und Abs. 3 Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20. Januar 2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (EG-Fusionskontrollverordnung), ABl. 2004 L 24/1. Ebenso etwa EuG Urt. v. 11.12.2013 – Rs. T-79/12 (Cisco Systems / Kommission), EU:T:2013:635 Rn. 93. Dies gilt freilich nicht ausnahmslos, und teilweise variieren die Wortbedeutungen sogar in ein und demselben Rechtsakt, vgl. z. B. einerseits die jeweiligen Sprachfassungen der Erwägungsgründe Nr. 19, 44 und andererseits des Art. 59 Verordnung (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses, ABl. 2012 L 201/107; Art. 18 Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I), ABl. 2008 L 177/6 („Rechtsgeschäft“, „contract or an act intended to have legal effect“, „actes juridiques“). 8 Vgl. bereits EuGH Urt. v. 13.5.1981 – Rs. 66/80 (International Chemical Corporation), Slg. 1981, 1191 Rn. 23. 9 Diesen Befund teilt bereits mit Blick auf den EWG-Vertrag Basedow, Von der deutschen zur europäischen Wirtschaftsverfassung (1992), S. 52. 10 Ebenso Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85, 89 ff.; Herresthal, in: Ziegler / Huber (eds.), Current Problems in the Protection of Human Rights (2013), S. 89, 99 und 101. Siehe zur lückenhaften Verbürgung der Vertragsfreiheit im kodifizierten Unionsrecht noch eingehend unten Kapitel 2 § 1.

4

Einleitung

die europäischen Grundfreiheiten als Hort der Vertragsfreiheit zu kurz: Die Verkehrsfreiheiten vermögen die rechtsgeschäftliche Privatautonomie – wenn überhaupt – nur in binnenmarktrelevanten Konstellationen zu gewährleisten, während das Unionsprivatrecht längst auch „rein“ innerstaatliche Sachverhalte umfassend regelt.11 Wenn bereits im Ausgangspunkt ungewiss ist, welche Freiheit durch das EU-Privatrecht überhaupt verwirklicht, beschränkt oder in sonstiger Weise ausgestaltet werden soll, drohen nicht nur inkohärente, sondern auch überbordende Beschränkungen. II. Orientierungsarmut und interventionistische Tendenzen des Unionsprivatrechts Der privatrechtliche Teil des acquis communautaire hat sich zu einer eigenständigen, wenn auch heterogenen Rechtsmaterie, dem Unionsprivatrecht,12 entwickelt: Es umfasst alle material-privatrechtsrelevanten Regelungen, die ihren Geltungsgrund im Recht der EU haben.13 Insbesondere das unionale Schuldvertragsrecht überformt das mitgliedstaatliche Privatrecht in mannigfaltiger Weise: Das Spektrum sekundärrechtlicher Regelungen reicht beispielsweise vom Verbraucher-, Arbeits- und Antidiskriminierungsrecht über das Finanzdienstleistungsvertragsrecht bis hin zu Vorschriften, die, wie etwa diejenigen der Zahlungsverzugsrichtlinie,14 ausschließlich gewerbliche Akteure betreffen. Darüber hinaus wirkt auch das unionale Primärrecht auf das Vertragsrecht ein.15 Die unterschiedlichen Regelungen verbindet häufig allein 11 Dazu noch eingehend unten Kapitel 2 § 1 A I 2. Wie hier Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85, 90. Für die Herleitung der Vertragsfreiheit aus den Grundfreiheiten plädieren dagegen z. B. Schmidt-Leithoff, FS Rittner (1991), S. 597, 606; v. Wilmowsky, JZ 1996, 590, 591; Szczekalla, DVBl. 2005, 286, 287; Busseuil, Contribution à l’étude de la notion de contrat en droit privé européen (2009), S. 202; Mohr, Sicherung der Vertragsfreiheit durch Wettbewerbs- und Regulierungsrecht (2015), S. 113 f. 12 Statt vieler Müller-Graff, in: ders. / Zuleeg (Hrsg.), Staat und Wirtschaft in der EG (1987), S. 17, 37 ff.; Basedow, in: ders. / Hopt / Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009), S. 680; Herresthal, ZEuP 2014, 238, 258 f. 13 Siehe zur Definition des Unionsprivatrechts und zur Abgrenzung gegenüber dem Konventionsprivatrecht sowie dem gemeineuropäischen Privatrecht statt aller Basedow, in: ders. / Hopt / Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009), S. 680 ff., der zudem darauf verweist, dass die einheitliche Geltung in allen Mitgliedstaaten schon deshalb kein Wesensmerkmal des Unionsprivatrechts ist, weil den Mitgliedstaaten zum einen oftmals Gestaltungsspielräume verbleiben und Divergenzen zum anderen auch im System der verstärkten Zusammenarbeit gemäß Art. 20 EUV und Art. 326, 327 sowie 329 AEUV angelegt sind. 14 Richtlinie 2011/7/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr, ABl. 2011 L 48/1. 15 Vgl. etwa Art. 101 AEUV und Art. 157 AEUV. Wie GA Dutheillet de Lamothe Schlussanträge v. 29.4.1971 – Rs. 80/70 (Defrenne I), Slg. 1971, 445, 455 f. zu Recht

A. Ausgangslage und Anlass der Untersuchung

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das Binnenmarktziel als kleinster gemeinsamer Nenner.16 Dieses Ziel bietet für sich genommen freilich wenig Orientierung für eine umfassende und kohärente Ausdifferenzierung des EU-Schuldvertragsrechts.17 Die fragmentarische Natur des Unionsprivatrechts gründet nicht zuletzt darin, dass die EU nur über insulare Rechtsetzungskompetenzen im Privatrecht verfügt, die eng mit bestimmten Politiken verzahnt sind.18 Entsprechend sucht man im Unionsprivatrecht eine explizite, auf das gesamte Schuldvertragsrecht bezogene Verbürgung der Vertragsfreiheit – wie etwa § 311 Abs. 1 BGB oder Art. 1102 französischer Code civil19 – vergebens. Und eine auf den jeweiligen Anwendungsbereich des Unionsprivatrechts beschränkte Normierung liegt betont, war das nunmehr in Art. 157 AEUV enthaltene Verbot der Entgeltdiskriminierung ursprünglich wettbewerbspolitisch motiviert. In den 1970er-Jahren trug der EuGH es jedoch unmittelbar in privatrechtliche Beziehungen hinein, vgl. insbesondere die – freilich einen staatlichen Arbeitgeber betreffende – Entscheidung EuGH Urt. v. 8.4.1976 – Rs. 43/ 75 (Defrenne II), Slg. 1976, 455 Rn. 4 ff. Vgl. sodann zur Erstreckung auf private Arbeitgeber nur EuGH Urt. v. 31.3.1981 – Rs. 96/80 (Jenkins), Slg. 1981, 911 Rn. 18 ff.; EuGH Urt. v. 17.5.1990 – Rs. C-262/88 (Barber), Slg. 1990, I-1889 Rn. 19 f.; EuGH Urt. v. 6.10.1993 – Rs. C-109/91 (Ten Över), Slg. 1993, I-4879 Rn. 11 ff.; EuGH Urt. v. 28.9.1994 – Rs. C-200/91 (Coloroll), Slg. 1994, I-4389 Rn. 18 ff. Zum Ganzen statt vieler Calliess / Ruffert / Krebber (2016), Art. 157 AEUV Rn. 1 und 5 ff.; Riesenhuber, in: ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre (2015), § 10 Rn. 1. 16 Vgl. zum Binnenmarktbezug als Wesensmerkmal des Unionsprivatrechts statt aller Jansen, in: Basedow / Hopt / Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009), S. 548, 550. 17 Basedow, AcP 200 (2000), 449, 485 f. bemerkt daher treffend, dass es dieser Materie „an einer zentralen Idee bzw. einer grundlegenden Wertung“ fehle. Mit Blick auf die Rechtsetzungspraxis im Unionsprivatrecht räumt auch die Europäische Kommission, Grünbuch zur Überprüfung des gemeinschaftlichen Besitzstandes im Verbraucherschutz vom 8.2.2007, KOM(2006) 744 endg., S. 9 f. ein, dass die bisherige „Vorgehensweise […] zu einer Rechtszersplitterung geführt“ hat. 18 Vgl. neben den binnenmarktfokussierten Kompetenznormen in Art. 114 und 115 AEUV nur Art. 19 und 153 (Antidiskriminierungsrecht), Art. 50 Abs. 2 lit. g (Gesellschaftsrecht), Art. 81 (Kollisions- und Zuständigkeitsrecht); Art. 91 und 100 (Transportrecht), Art. 103 (Wettbewerbsrecht) und Art. 118 (einheitliche Schutzrechte des geistigen Eigentums) sowie schließlich auch die Kompetenzergänzungsklausel in Art. 352 AEUV. Siehe hierzu sowie zum grundsätzlichen Marktbezug dieser Kompetenztitel statt aller Basedow, in: ders. / Hopt / Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009), S. 680, 682; ders., AcP 210 (2010), 158, 164 ff. Kompetenzgrundlagen, die das gesamte Privatrecht umfassen, finden sich nämlich weder in den Gründungsverträgen noch im Vertrag von Lissabon, vgl. statt vieler Schwartz, ZEuP 1994, 559, 570; Basedow, AcP 210 (2010), 158, 164 ff. 19 Diese im Zuge der französischen Schuldrechtsreform im Jahr 2016 eingefügte Vorschrift lautet: „Chacun est libre de contracter ou de ne pas contracter, de choisir son cocontractant et de déterminer le contenu et la forme du contrat dans les limites fixées par la loi. La liberté contractuelle ne permet pas de déroger aux règles qui intéressent l’ordre public“.

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Einleitung

dem Unionsgesetzgeber wohl nicht zuletzt deshalb fern, weil die Einzelrechtsakte häufig Regelungen enthalten, die in erster Linie auf die Verkürzung der Vertragsfreiheit zumindest einer Partei zielen. So besehen, ist im Unionsrecht die „Geschichte der Vertragsfreiheit […] die ihrer Beschränkung“.20 Nicht selten hebt das EU-Privatrecht dabei die Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit sogar vollständig auf: Z.B. dürfen Kreditinstitute nach Art. 15 und Art. 16 Zahlungskontenrichtlinie21 Verbrauchern den Abschluss bestimmter Kontoverträge grundsätzlich nicht verweigern. Damit wird die Freiheit der Kreditinstitute, ihren Vertragspartner nach kaufmännischen Kriterien – insbesondere nach Bonität – auszuwählen, negiert. Mag es dafür auch gute Gründe geben,22 so ist es doch frappierend, dass weder im Gesetzgebungsverfahren noch in der Richtlinie die Vertragsfreiheit der Kreditinstitute Erwähnung findet. Hier offenbart sich ein grundlegender Webfehler im Netz des Unionsprivatrechts, der zum „Problem der Freiheit“23 zurückführt: Wie kann die Unionsrechtsordnung die rechtsgeschäftlichen Freiheitssphären der jeweiligen Akteure im Vertragsrecht wahren und gestalten, wenn die Vertragsfreiheit als unverzichtbarer Bezugspunkt des EU-Schuldvertragsrechts weder hinreichend konturiert noch überhaupt sichtbar ist? Wo immer das Unionsrecht auf das Vertragsrecht einwirken soll, muss in einem ersten Schritt nach der Gewährleistung und dem Schutzbereich der Vertragsfreiheit und erst in einem zweiten Schritt nach der vor diesem Hintergrund sachgerechten Ausgestaltung und etwaigen Begrenzung der Vertragsfreiheit gefragt werden. Mangels eindeutiger Anbindung der unionalen Vertragsfreiheit ist es wenig überraschend, dass sowohl der Unionsgesetzgeber als auch der EuGH diesen ersten Schritt in aller Regel überspringen und direkt auf die Ausgestaltung und insbesondere die Beschränkung der Vertragsfreiheit, etwa im Namen bestimmter „Schutzanliegen“, abstellen. Um zu stimmigen Ergebnissen und einem geschlossenen System des unionalen Schuldvertragsrechts zu gelangen, müsste indes zunächst logisch vorrangig geklärt werden, was überhaupt ausgestaltet und eingehegt werden soll. Solange Standort und Gewährleistungsgehalt der Vertragsfreiheit im Unionsrecht unklar sind, drängt sich daher die Frage auf, ob die Freiheitsverbürgungen des mitgliedstaatlichen Rechts in die Bresche springen können.

Leisner, Grundrechte und Privatrecht (1960), S. 323 f. Richtlinie 2014/92/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Juli 2014 über die Vergleichbarkeit von Zahlungskontoentgelten, den Wechsel von Zahlungskonten und den Zugang zu Zahlungskonten mit grundlegenden Funktionen, ABl. 2014 L 257/214. 22 Dazu statt vieler Hopt, Handelsblatt v. 16.7.2013, S. 11. 23 Vgl. Hallstein, Wiederherstellung des Privatrechts (1946), S. 6 f. und siehe erneut oben A. 20 21

A. Ausgangslage und Anlass der Untersuchung

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III. Zurückdrängung mitgliedstaatlicher Garantien der Vertragsfreiheit durch Unionsprivatrecht Da das Unionsprivatrecht zumeist nur punktuelle Regelungen für bestimmte Sachmaterien trifft, beherrscht das nationale Recht grundsätzlich die verbleibenden Fragen. Damit ist es auf den ersten Blick Sache der Mitgliedstaaten, die rechtsgeschäftliche Privatautonomie auch im Anwendungsbereich des EU-Privatrechts zu gewährleisten, soweit die Unionsrechtsakte zur Vertragsfreiheit schweigen. Doch baut das EU-Privatrecht ebenso wie das durch dieses harmonisierte mitgliedstaatliche Schuldvertragsrecht tatsächlich auf die „Vertragsfreiheit der Parteien, so wie sie im Rahmen des […] nationalen Rechts besteht“?24 Bei näherer Betrachtung ist mit dem Verweis auf nationale Freiheitsverbürgungen wenig gewonnen, gleichviel, ob es sich um nationale Grundrechte oder aber um die Vertragsfreiheit als Rechtsgrundsatz des mitgliedstaatlichen Privatrechts handelt. 1. Unionsgrundrechte überlagern nationale Freiheitsrechte In der deutschen Rechtsordnung ist die Vertragsfreiheit als Facette der allgemeinen Handlungsfreiheit durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützt, sofern nicht speziellere Grundrechte eingreifen.25 Wo unionsrechtliche Vorgaben bestehen, kann die im deutschen Grundgesetz angelegte Garantie der Vertragsfreiheit jedoch nicht gegen einen Unionsrechtsakt in Stellung gebracht werden: Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH sind Unionsrechtsakte nicht am Maßstab mitgliedstaatlicher Grundrechte zu prüfen.26 Dies folgt aus den EiVgl. zu einer solchen Annäherung an die Vertragsfreiheit EuGH Urt. v. 7.9.2006 – Rs. C-125/05 (Vulcan Silkeborg), Slg. 2006, I-1451 Rn. 47; EuGH Urt. v. 18.1.2007 – Rs. C-421/05 (City Motors Groep), Slg. 2007, I-653 Rn. 24. In diesem Sinne meinte bereits Rittner, JZ 1990, 838, 841, die EU baue „auf dem Privatrecht der Mitgliedstaaten, genauer: auf der privatautonomen Rechtsgestaltung durch den Einzelnen auf “ (Herv. im Original). In diese Richtung deuten auch Streinz / Leible, EuZW 2000, 459, 465, wenn sie einerseits meinen, das Unionsprivatrecht beruhe „auf der Privatautonomie als dem gemeinsamen Fundament der mitgliedstaatlichen Privatrechtsordnungen“, und andererseits ausführen, dass sich der Eigenbeitrag des Unionsrechts zum Schutz der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie darin erschöpfe, die Vertragsfreiheit mithilfe der Grundfreiheiten auch über Grenzen hinweg zu erstrecken. 25 Z. B. BVerfG Beschl. v. 19.10.1993 – Az. 1 BvR 567/89 u. a., BVerfGE 89, 214, 229 ff.; BVerfG Urt. v. 6.2.2001 – Az. 1 BvR 12/92, BVerfGE 103, 89, 100; BVerfG Beschl. v. 13.5.2015 – Az. 1 BvQ 9/15, NJW 2015, 1815, 1817. Siehe zu spezielleren Verbürgungen der Vertragsfreiheit – z. B. in Art. 12 GG – nur BVerfG Beschl. v. 12.12.2006 – Az. 1 BvR 2576/04, BVerfGE 117, 163, 181; BVerfG Beschl. v. 6.7.2010 – Az. 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286, 300 und 313 ff. 26 Vgl. nur EuGH Urt. v. 17.12.1970 – Rs. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft), Slg. 1970, 1125 Rn. 3. Siehe aus jüngerer Zeit nur EuGH Urt. v. 8.9.2010 – Rs. C-409/06 (Winner Wetten), Slg. 2010, I-8015 Rn. 61. Dazu statt aller Jarass (2016), Art. 53 GRCh 24

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Einleitung

gengesetzlichkeiten des „ordre juridique propre“27 der Europäischen Union, die im Interesse ihrer Kohärenz nur ihre autonomen Rechtsinstitute als Leitlinie heranzieht. Würden nämlich Unionsrechtsakte an den nationalen Grundrechten gemessen und gegebenenfalls für unwirksam erklärt, drohte die Einheitlichkeit des Unionsrechts zerstört zu werden.28 Vorrangiger und oftmals auch alleiniger Kontrollmaßstab ist hier die Unionsrechtsordnung einschließlich der darin verbürgten Grundrechte.29 Nunmehr sind die Europäische Union und unter bestimmten Voraussetzungen auch ihre Mitgliedstaaten an die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh)30 gebunden. Hinzu treten die ungeschriebenen Unionsgrundrechte im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EVU.31 Laut EuGH sind „keine FallRn. 9. Laut EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-399/11 (Melloni), EU:C:2013:107 Rn. 58 f. würde die Kontrolle am Maßstab nationaler Grundrechte „gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verstoßen, da sie es einem Mitgliedstaat erlauben würde, die Anwendung von mit der Charta vollständig im Einklang stehenden Unionsrechtsakten zu verhindern, wenn sie den in der Verfassung dieses Staats garantierten Grundrechten nicht entsprächen“. 27 Diese bekannte Wendung geht auf die französischsprachige Fassung der Entscheidung des EuGH Urt. v. 15.7.1964 – Rs. 6/64 (Costa / E.N.E.L.), Slg. 1964, 1149, 1158, zurück. 28 Laut EuGH Urt. v. 13.12.1979 – Rs. 44/79 (Hauer), Slg. 1979, 3727 Rn. 14 kann „die Frage einer etwaigen Verletzung der Grundrechte durch eine Handlung der Gemeinschaftsorgane nicht anders als im Rahmen des Gemeinschaftsrechts beurteilt werden. Die Aufstellung besonderer, von der Gesetzgebung oder der Verfassungsordnung eines bestimmten Mitgliedstaates abhängiger Beurteilungskriterien würde die materielle Einheit und die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts beeinträchtigen und hätte daher unausweichlich die Zerstörung der Einheit des gemeinsamen Marktes und eine Gefährdung des Zusammenhalts der Gemeinschaft zur Folge“. Deutlich jüngst auch EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 29; EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-399/11 (Melloni), EU:C:2013:107 Rn. 60: Durch nationale Grundrechte dürfe „weder das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden“. 29 Vgl. wiederum EuGH Urt. v. 17.12.1970 – Rs. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft), Slg. 1970, 1125 Rn. 3. Siehe aus jüngerer Zeit nur EuGH Urt. v. 8.9.2010 – Rs. C409/06 (Winner Wetten), Slg. 2010, I-8015 Rn. 61; EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-399/11 (Melloni), EU:C:2013:107 Rn. 59 ff. Siehe mit Blick auf den Schutz der Vertragsfreiheit auch Herresthal, in: Ziegler / Huber (eds.), Current Problems in the Protection of Human Rights (2013), S. 89, 94. 30 ABl. 2007 C 303/1. 31 Der EuGH zieht in seiner ständigen Rechtsprechung überdies die Grundrechte der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) heran und ist hierzu unter Geltung der Charta auch fortan durch Art. 52 GRCh gehalten: Nach dieser Norm sollen zumindest inhaltsgleiche Grundrechte der GRCh und der EMRK in der Regel übereinstimmend ausgelegt werden. Darüber hinaus sieht Art. 6 Abs. 2 EUV den Beitritt der EU zur EMRK vor, jedoch erscheint dieser Beitritt beim derzeitigen Stand unwahrscheinlich, vgl. EuGH Gutachten v. 18.12.2014 – Gutachtenverfahren 2/13 (EMRK-Beitritt II), EU:C:2014:2454. Vgl. schon zuvor EuGH Gutachten v. 28.3.1996 – Gutachtenverfahren C-2/94 (EMRK-Beitritt I), Slg. 1996, I-1759.

A. Ausgangslage und Anlass der Untersuchung

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gestaltungen denkbar, die vom Unionsrecht erfasst würden, ohne dass diese Grundrechte anwendbar wären“.32 Soweit eine unionsprivatrechtliche Regelung existiert, wirft sie also einen unionsgrundrechtlichen Schatten. Entsprechend werden mitgliedstaatliche Freiheitsverbürgungen zurückgedrängt33 und können daher beispielsweise auch keinem der in Art. 21 GRCh normierten zahlreichen Diskriminierungsverbote entgegengehalten werden.34 Dies hat nun auch das deutsche Bundesverfassungsgericht in seinem HoneywellBeschluss mit Blick auf die Gewährleistung der Vertragsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 bzw. Art. 12 Abs. 1 GG bestätigt.35 32 EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-390/12 (Pfleger), EU:C:2014:281 Rn. 34 (Herv. d. Verf.). EuGH Urt. v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 (Association de médiation sociale), EU:C: 2014:2 Rn. 42 verallgemeinert dies dahingehend, „dass nach ständiger Rechtsprechung die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen Anwendung finden“. Dieser lückenlose Schutz durch die Unionsgrundrechte ist nicht zuletzt durch die „Solange“-Rechtsprechungslinie verschiedener mitgliedstaatlicher Verfassungsgerichte motiviert, siehe zu diesem Zusammenhang nur P.M. Huber, in: v. Bogdandy / Cruz Villalón / P. M. Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum II (2008), § 26 Rn. 65 ff. m. w. N. 33 Insoweit haben auch und gerade die Unionsgrundrechte am Vorrang des Unionsrechts teil, siehe nur EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-399/11 (Melloni), EU:C:2013:107 Rn. 58 f. Deutlich auch Lenaerts, EuR 2015, 3, 24: „Unter der Voraussetzung, dass der Unionsrechtsakt […] mit primärem Unionsrecht, insbesondere der Charta, im Einklang steht, müssen nationale Gerichte entgegenstehende nationale Vorschriften, einschließlich solcher von Verfassungsrang, unbeachtet lassen“. Nationale Grundrechte können nur dort neben den Unionsgrundrechten herangezogen werden, wo das „Handeln eines Mitgliedstaats nicht vollständig durch das Unionsrecht bestimmt wird“, EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-399/11 (Melloni), EU:C:2013:107 Rn. 60. In jedem Fall darf durch den Rückgriff auf nationale Grundrechte „weder das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden“, siehe nur EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 29. Dazu statt vieler Wollenschläger, in: Hatje / Müller-Graff (Hrsg.), EnzEuR I: Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht (2014), § 8 Rn. 24; Kingreen, JZ 2013, 801, 803 f.; Jarass (2016), Art. 53 GRCh Rn. 10. 34 Dies übersehen mitgliedstaatliche Gerichte indes häufig, vgl. z. B. BAG Urt. v. 28.5.2009 – Az. 8 AZR 536/08, NJW 2009, 3672, 3677 (Prüfung anhand von Art. 2 Abs. 1 GG). Gleiches gilt für das Schrifttum, vgl. nur Regenfuß, JZ 2016, 1140, 1146 (Prüfung unionsrechtlich fundierter Verbraucherwiderrufsrechte am Maßstab des Art. 2 Abs. 1 GG). Demgegenüber ging im versicherungsvertragsrechtlichen Kontext jüngst BGH Urt. v. 12.3.2014 – Az. IV ZR 295/13, VersR 2014, 567, 570 „europarechtlichen Bedenken unter dem Gesichtspunkt der Vertragsfreiheit“ nach (Herv. d. Verf.). 35 Mit Blick auf die Mangold-Entscheidung des EuGH verneint BVerfG Beschl. v. 6.7.2010 – Az. 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286, 300 ff. ein ultra-vires-Handeln der Union und prüft deshalb eine etwaige unverhältnismäßige Verkürzung der durch das Grundgesetz garantierten Vertragsfreiheit nicht. Vgl. aber auch das abweichende Votum des Richters Landau in besagtem Honywell-Beschluss in BVerfGE 126, 286, 319 ff., wonach die Vertragsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 bzw. Art. 2 Abs. 1 GG als Schranke des im

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Wenn die nationalen Verbürgungen der Vertragsfreiheit im unionsrechtlichen Kontext derart zahnlos bleiben, greift eine Konzeption der Vertragsfreiheit im Binnenmarkt notwendig zu kurz, die allein auf die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zurückfällt. Vor allem lässt sich ein wirksamer und lückenloser Schutz der Vertragsfreiheit in der Unionsrechtsordnung schon deshalb nicht durch mitgliedstaatliche Garantien sicherstellen, weil weder der EUGesetzgeber beim Erlass noch der EuGH bei der verbindlichen Auslegung und Anwendung des EU-Schuldvertragsrechts an nationale Freiheitsverbürgungen gebunden sind. 2. Vorrang unionsprivatrechtlicher Rechtsgrundsätze Soweit selbst nationale Grundrechte nicht gegenüber unionsrechtlichen Regelungen in Stellung gebracht werden können, muss dies erst recht auch für einfachgesetzliche mitgliedstaatliche Regelungen und Grundsätze gelten, wie z. B. die in § 311 Abs. 1 BGB und Art. 1102 französischer Code civil explizierte Vertragsfreiheit. Schließlich darf laut EuGH „die Geltung des Unionsrechts in einem Mitgliedstaat nicht dadurch beeinträchtigt werden, dass dieser Staat Vorschriften des nationalen Rechts, und haben sie auch Verfassungsrang, geltend macht“.36

Entsprechend können mitgliedstaatliche Gerichte unionsprivatrechtlich determinierte Regelungen selbst bei etwaigen Unklarheiten oder Lücken nicht einfach unter Verweis auf einen das nationale Schuldvertragsrecht beherrschenden Grundsatz der Vertragsfreiheit restriktiv – und damit freiheitsfreundlich – auslegen und anwenden.37 Vielmehr ist auch hier die „Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts […] dem System des AEU-Vertrags immanent, da es den nationalen Gerichten dadurch ermöglicht wird, […] die volle Wirksamkeit des Unionsrechts sicherzustellen“.38

unionsrechtlichen Primärrecht angesiedelten – und nunmehr auch in Art. 21 GRCh positivierten – Grundsatzes der Nichtdiskriminierung aufgrund des Alters durchgreifen soll. 36 EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-399/11 (Melloni), EU:C:2013:107 Rn. 59 (Herv. d. Verf.). 37 Deutlich bereits EuGH Urt. v. 12.5.1998 – Rs. C-367/96 (Kefalas), Slg. 1998, I-2843 Rn. 22 f.: „[J]edoch ist daran zu erinnen, daß die Anwendung einer solchen nationalen Rechtsvorschrift nicht die volle Wirksamkeit und die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten beeinträchtigen darf […]. Insbesondere können die nationalen Gerichte bei der Beurteilung der Ausübung eines sich aus einer Gemeinschaftsbestimmung ergebenden Rechtes nicht die Tragweite dieser Bestimmung verändern oder die mit ihr verfolgten Zwecke vereiteln“. 38 Siehe aus der ständigen Rechtsprechung z. B. EuGH Urt. v. 24.1.2012 – Rs. C-282/ 10 (Dominguez), EU:C:2012:33 Rn. 24; EuGH Urt. v. 10.10.2013 – Rs. C-306/12 (Spedition Welter), EU:C:2013:650 Rn. 29. Dieses Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung ist dabei richtigerweise umfassend zu verstehen: Referenzpunkt kann sowohl ein

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Jedenfalls soweit die Einheitlichkeit und praktische Wirksamkeit des Unionsrechts in Gefahr sind, verwehrt die Unionsrechtsordnung den Rückgriff auf einfachgesetzliche nationale Freiheitsverbürgungen. In der Rechtspraxis bemühen Gerichte indes häufig die Vertragsfreiheit als argumentative Stütze und Leitlinie. Ein solcher Bedarf besteht in besonderem Maße bei der Auslegung des nicht selten lückenhaften EU-Schuldvertragsrechts. Statt der Anwendung eines von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat potenziell unterschiedlichen nationalen Grundsatzes liegt es hier nahe, einen autonomen unionsprivatrechtlichen Rechtsgrundsatz der Vertragsfreiheit heranzuziehen.39 Alternativ käme eine unionsrechtskonforme Anwendung der natiRechtssatz des Primär- oder Sekundärrechts als auch beispielsweise ein allgemeiner Grundsatz des Unions(privat)rechts sein. In diese Richtung deuten z. B. auch W.-H. Roth /  Jopen, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre (2015), § 13 Rn. 9 f. Diese Lesart der unionsrechtskonformen Auslegung als Oberbegriff, unter den die primär-, sekundär- und potenziell auch unionsgrundrechtskonforme Auslegung fallen kann, hat bereits EuGH Urt. v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-403/01 u. a. (Pfeiffer u. a.), Slg. 2004, I-8835 Rn. 114 (richtlinienkonforme als Unterfall der unionsrechtskonformen Auslegung) angedeutet und sodann in seiner weiteren Entscheidungspraxis bestätigt: Beispielsweise zieht der Gerichtshof in der Rechtssache Kücükdeveci unter dem Banner der unionsrechtskonformen Auslegung nacheinander Sekundärrechtsakte, allgemeine Grundsätze des Unionsrechts bzw. Unionsgrundrechte als Maßstab heran, vgl. EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 48, 49 und 50. Deutlich auch EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 (Test-Achats), Slg. 2011, I-773 Rn. 28 und 32: „Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangt der Gleichbehandlungsgrundsatz, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleichbehandelt werden […]. Eine solche Bestimmung […] läuft der Verwirklichung des mit der Richtlinie 2004/113 verfolgten Ziels der Gleichbehandlung von Frauen und Männern zuwider und ist mit den Art. 21 und 23 der Charta unvereinbar“ (Herv. d. Verf.). Siehe zur unionsgrundrechtskonformen Auslegung des Privatrechts noch eingehend unten Kapitel 3 § 1 A III 2. 39 Dazu noch eingehend unten Kapitel 2 § 2 C I sowie Kapitel 3 § 1 B. Freilich hat der Gerichtshof bei der Herausbildung privatrechtlicher Rechtsgrundsätze bislang Zurückhaltung geübt, siehe nur Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 352 ff. In jüngerer Zeit rückt er solche Grundsätze nun allmählich stärker in den Fokus: Wo Regelungslücken oder Auslegungszweifel bestehen, können unionsprivatrechtliche Rechtsakte von den mitgliedstaatlichen Gerichten im Einklang mit den privatrechtlichen Rechtsgrundsätzen angewendet werden, vgl. nur EuGH Urt. v. 10.4.2008 – Rs. C-412/06 (Hamilton), Slg. 2008, I-2383 Rn. 42 (Vertragsdurchführung durch vollständige Erfüllung). Vgl. auch EuGH Urt. v. 3.9.2009 – Rs. C-489/07 (Messner), Slg. 2009, I-7315 Rn. 29, der mit Blick auf die „Grundsätz[e] des bürgerlichen Rechts wie […] Treu und Glauben oder […] ungerechtfertigt[e] Bereicherung“ zugleich betont, dass der Rückgriff auf solche Grundsätze nur insoweit möglich ist, als die „Zielsetzung […] und insbesondere die Wirksamkeit und die Effektivität“ des jeweiligen Unionsrechtsakts nicht beeinträchtigt wird. Vgl. ferner nur EuGH Urt. v. 18.7.2007 – Rs. C-277/ 05 (Société thermale), Slg. 2007, I-6415 Rn. 24 f. (Vertragstreue zählt zu den „allgemeinen Grundsätzen des Zivilrechts“); EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-280/13 (Barclays), EU:C:

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onalen Rechtsgrundsätze in Betracht, wobei dies kaum zu einem unterschiedlichen Ergebnis führen dürfte, da ebenfalls nach einem der EU-Rechtsordnung eigenen Freiheitsmaß zu fragen wäre. Dessen Gehalt kann in jedem Fall nur der EuGH letztverbindlich bestimmen. Festzuhalten bleibt, dass nationale Garantien der Vertragsfreiheit das Unionsprivatrecht nicht leiten können. Doch statt die damit umso dringendere Frage nach unionsrechtlichen Freiheitsverbürgungen zu stellen, treibt der EuGH eine ihrer Stoßrichtung nach eher einseitige Konstitutionalisierung des EU-Schuldvertragsrechts voran. IV. Einseitige Konstitutionalisierung des Unionsprivatrechts Die grundrechtliche Durchdringung und Überformung des Privatrechts wird mit dem den Staatswissenschaften40 entlehnten Begriff der Konstitutionalisierung belegt.41 Das dahinterstehende Phänomen ist in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen seit längerem bekannt, obschon der Einwirkungsgrad grundrechtlicher Wertungen unterschiedlich ausfällt.42 Eine unionsrechtliche Dimension gewinnt die Konstitutionalisierung des Privatrechts durch die gemäß Art. 6 Abs. 1 EUV auf Ebene des Primärrechts angesiedelten Unionsgrundrechte der GRCh sowie durch die Grundrechte gemäß Art. 6 Abs. 3 EVU.43 Diese Unionsgrundrechte verlangen auch im gesamten EU-Privatrecht Beachtung, da die „in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen Anwendung finden“.44 In der 2014:279 Rn. 43 f. (Verbraucherschutz und ausgewogene Vertragsverhältnisse betreffende Grundsätze des Unionsrechts). 40 Vgl. zur Bedeutung des Begriffs der Konstitutionalisierung nur Loughlin, in: Dobner /  Loughlin (eds.), The Twilight of Constitutionalism? (2010), S. 47 ff. 41 Siehe zur „constitutionalisation of private law“ bereits Markesinis, Mod. L. Rev. 53 (1990), 1, 10. Siehe ferner nur Kumm, GLJ 7 (2006), 341 ff. Siehe zum Unionsprivatrecht statt vieler Hess, JZ 2005, 540 f.; Colombi Ciacchi, ERCL 2 (2006), 167 ff.; Busseuil, Contribution à l’étude de la notion de contrat en droit privé européen (2009), S. 637 f.; C. Möllers, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht (2009), S. 227, 265 ff. Siehe schließlich zum deutschen Privatrecht nur Jauernig / Mansel (2015), Vor §§ 241 ff. BGB Rn. 2. 42 Siehe nur den umfassenden rechtsvergleichenden Überblick in Brüggemeier / Colombi Ciacchi / Comandé (eds.), Fundamental Rights and Private Law in the European Union I (2010). 43 Obschon ein Beitritt der EU zur EMRK derzeit angesichts EuGH Gutachten v. 18.12.2014 – Gutachtenverfahren 2/13 (EMRK-Beitritt II), EU:C:2014:2454 unwahrscheinlich ist, stützt der EuGH seine Grundrechtsrechtsprechung nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Vorgaben in Art. 52 GRCh auch auf die EMRK. 44 Vgl. aus der ständigen Rechtsprechung nur EuGH Urt. v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 (Association de médiation sociale), EU:C:2014:2 Rn. 42; EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C390/12 (Pfleger), EU:C:2014:281 Rn. 34. Von der „participation des droits fondamentaux à la construction d’un droit européen des contrats“ spricht daher Pelissier, in: Cabrillac / 

A. Ausgangslage und Anlass der Untersuchung

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Tat fordert der Unionsgesetzgeber in jüngeren privatrechtlichen Rechtsakten ausdrücklich, dass diese den Unionsgrundrechten und insbesondere der GRCh genügen müssen.45 Zu den Gewährleistungen der Charta zählen dabei unter anderem der Verbraucherschutz gemäß Art. 38, die Arbeitnehmerrechte nach Art. 27 ff. sowie der Diskriminierungsschutz gemäß Art. 21, 23 GRCh. Auch der EuGH stellt das EU-Schuldvertragsrecht zunehmend unter den Einfluss der Unionsgrundrechte und betont in diesem Zusammenhang vor allem die Gleichheitsgrundrechte.46 So ist beispielsweise das Verbot der Altersdiskriminierung durch die Mangold-Entscheidung zu einem allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts erhoben worden.47 In Anbetracht des unionsgrundrechtlichen Diskriminierungsverbots gemäß Art. 21 GRCh ging der Mazeaud / Prüm (éd.), Le contrat en Europe aujourd‘hui et demain (2008), S. 29. Siehe zu den Privatrechtswirkungen der Unionsgrundrechte und insbesondere der unionalen Vertragsfreiheit noch eingehend unten Kapitel 3 § 1. 45 Vgl z. B. Erwägungsgrund Nr. 5 Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl. 2000 L 303/16 (Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG); Erwägungsgrund Nr. 3 Richtlinie 2002/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. September 2002 zur Änderung der Richtlinie 76/207/ EWG des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen, ABl. 2002 L 269/15; Erwägungsgrund Nr. 46 Richtlinie 2009/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 über die Einsetzung eines Europäischen Betriebsrats oder die Schaffung eines Verfahrens zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in gemeinschaftsweit operierenden Unternehmen und Unternehmensgruppen, ABl. 2009 L 122/28. Vgl. schließlich auch Erwägungsgrund Nr. 37 des – mittlerweile zurückgenommenen – Vorschlags für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht, KOM(2011) 635 endg. Vgl. jüngst auch Erwägungsgrund Nr. 44 Verordnung (EU) 2015/751 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2015 über Interbankenentgelte für kartengebundene Zahlungsvorgänge, ABl. 2015 L 123/1: „Diese Verordnung steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden, vor allem mit […] der unternehmerischen Freiheit sowie dem Verbraucherschutz, und ist im Einklang mit diesen Rechten und Grundsätzen anzuwenden“. 46 Vgl. zum umfassenden Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte im Kontext des EU-Privatrechts nur EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I365 Rn. 22 ff. (diskriminierende Kündigungschutzregelung); EuGH Urt. v. 14.10.2010 – Rs. C-243/09 (Fuß), Slg. 2010 I-9849 Rn. 66 (Arbeitsrecht); EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 (Test-Achats), Slg. 2011, I-773 Rn. 16 ff. (Versicherungsvertragsrecht); EuGH Urt. v. 19.4.2016 – Rs. C-441/14 (Dansk Industri), EU:C:2016:278 Rn. 21 ff. (Arbeitsvertrag und Ausschluss der Abfindung nach dem 60. Lebensjahr). Vgl. vor Inkrafttreten der GRCh bereits EuGH Urt. v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I9981 Rn. 75 ff. (arbeitsvertragliche Befristung). Siehe zu dieser Entwicklung bereits Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85, 102 und 104. 47 EuGH Urt. v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981 Rn. 75 ff.

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Einleitung

EuGH in der Rechtssache Kücükdeveci von der Unanwendbarkeit des § 622 Abs. 2 BGB a. F. aus48 und verbannte durch sein Test-Achats-Judikat sodann bestimmte Vertragsgestaltungen und -inhalte gleich ganz aus dem Privatrecht der Union und ihrer Mitgliedstaaten.49 In den vorgenannten Entscheidungen fokussiert der Gerichtshof allein auf unionsrechtliche Gleichheitsverbürgungen, ohne die Vertragsfreiheit anzusprechen, geschweige denn in eine Abwägung einzutreten.50 Diese einseitige Konstitutionalisierung droht nicht zuletzt deshalb die Grundfesten des überkommenen Vertragsverständnisses zu erschüttern, weil Art. 21 GRCh Ungleichbehandlungen aufgrund 16 Kriterien, einschließlich der „sozialen Herkunft“ und des „Vermögens“, untersagt. Doch welcher Händler möchte schon seine Ware einem Käufer überlassen, der den Kaufpreis aufgrund seiner Vermögensverhältnisse nicht begleichen kann? Welche Bank wird freiwillig einen Kredit- oder auch nur einen Kontovertrag mit einer Partei schließen, die nahezu zahlungsunfähig ist? Vor diesem Hintergrund erkennt das Unionsprivatrecht die Bonität des Vertragspartners als Voraussetzung für einen Vertragsschluss beispielsweise in Art. 8 Verbraucherkreditrichtlinie51 ausdrücklich an. Doch diese Gewissheit gerät zunehmend ins Wanken. So trägt der bereits erwähnte Art. 15 Zahlungskontenrichtlinie das unionsgrundrechtliche Diskriminierungsverbot unmittelbar in das unionale Schuldvertragsrecht hinein: Kreditinstitute dürfen künftig den Abschluss eines Zahlungskontovertrags mit Verbrauchern nicht „aus einem in Artikel 21 der Charta genannten Grund“ ablehnen. Das in Bezug genommene Unionsgrundrecht erfasst auch das „Vermögen“, weshalb nun selbst eine schlechte Bonität keine Verweigerung des Vertragsschlusses mehr rechtfertigt. Obschon hier das Grundrecht des Art. 21 GRCh formal nicht unmittelbar auf die Vertragsbeziehungen Anwendung findet, kommt diese Regelung einer horizontalen (Direkt)Wirkung zwischen Privaten doch sehr nahe: Durch die Verweisungstechnik des Art. 15 Zahlungskontenrichtlinie findet Art. 21 GRCh Eingang in privatrechtliche VerEuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 18 ff. Zuletzt mit Blick auf das dänische Arbeitsrecht bestätigt durch EuGH Urt. v. 19.4.2016 – Rs. C-441/14 (Dansk Industri), EU:C:2016:278 Rn. 21 ff. und insbesondere Rn. 35. 49 EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 (Test-Achats), Slg. 2011, I-773 Rn. 16 ff. 50 Dabei greift EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 (Test-Achats), Slg. 2011, I-773 Rn. 16 ff. besonders tief in die Vertragsfreiheit ein: Sollte der Gerichtshof das Verbot der Benachteiligung aufgrund des Geschlechts künftig auch auf die Risikoprüfung im Versicherungsvertragsrecht beziehen, so dürfte unter anderem „nicht mehr auf Grund geschlechtsspezifischer Vorerkrankungen wie Prostata- oder Brustkrebs differenziert werden. Faktisch könnte dies auf einen Kontrahierungszwang hinauslaufen, wenn der Versicherer das Risiko freiwillig nicht übernehmen würde“, so treffend Armbrüster, LMK 2011, 315339. 51 Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates, ABl. 2008 L 133/66. 48

A. Ausgangslage und Anlass der Untersuchung

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träge über Bankkonten.52 Dies könnte indes nur der Anfang sein, da der EuGH jüngst erstmalig explizit betont hat, dass zumindest das in Art. 21 GRCh wurzelnde „Verbot der Diskriminierung wegen des Alters dem Einzelnen ein subjektives Recht verleiht, das er als solches geltend machen kann und das die nationalen Gerichte auch in Rechtsstreitigkeiten zwischen Privatpersonen verpflichtet“.53

Keine diese Entwicklungen bedeutet für sich genommen, dass das Unionsprivatrecht straff am hoheitlichen Gängelband geführt wird und gesetzgeberische Steuerungsinteressen an die Stelle individueller Willensentfaltung treten. Zu beobachten ist jedoch eine bereichsspezifische und schrittweise Erosion privatautonomer Gestaltungsspielräume. Diese Konstitutionalisierung des Unionsprivatrechts dürfte künftig weiter an Bedeutung gewinnen, so dass sich die Frage aufdrängt, wie ihr die Einseitigkeit genommen werden kann. V. Zwischenfazit: Vertragsfreiheit als Leitlinie und Selbstbehauptungsinstrument des Privatrechts Die Hypotrophie der Vertragsfreiheit im Unionsrecht und ihre Folgen für das Privatrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten bilden den Ausgangsbefund der vorliegenden Abhandlung. Anlass für eine umfassende Untersuchung besteht, weil nur eine unionale Verbürgung der Vertragsfreiheit als einendes Leitbild des fragmentierten EU-Schuldvertragsrechts und als sichtbare Schranke für freiheitsverkürzende Regelungen dienen kann. Die Frage nach dem Standort und dem Gewährleistungsgehalt der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie in der Unionsrechtsordnung stellt sich dabei umso dringender, als angesichts der fortschreitenden Konstitutionalisierung des EU-Schuldvertragsrechts ein schleichender „Autonomieverlust des Privatrechts“ droht.54 Darüber hinaus steht zu erwarten, dass die sekundärrechtliche Vorgabe in Art. 15 Zahlungskontenrichtlinie im Falle eines Vorabentscheidungsersuchens zum EuGH explizit um eine unionsgrundrechtliche Dimension erweitert wird. Für diese Lesart spricht, dass der EuGH auch ohne derart eindeutige Bezugnahmen auf die GRCh im Sekundärrecht bereits zuvor die Grenze zwischen unionsprivatrechtlichen Regelungen einerseits und unionsgrundrechtlichen Gewährleistungen des Art. 21 GRCh andererseits verwischt hat: Beispielsweise geht der EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I365 Rn. 18 ff.; EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 (Test-Achats), Slg. 2011, I-773 Rn. 16 ff. davon aus, dass bestimmte Regelungen des Unionsprivatrechts ein unionsgrundrechtliches Fundament haben und auf diese Weise an der primärrechtlichen Dignität der Unionsgrundrechte teilhaben können. 53 EuGH Urt. v. 19.4.2016 – Rs. C-441/14 (Dansk Industri), EU:C:2016:278 Rn. 36 (Herv. d. Verf.). Allenfalls andeutungsweise zuvor EuGH Urt. v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 (Association de médiation sociale), EU:C:2014:2 Rn. 47. 54 Vgl. G. Wagner, in: Blaurock / Hager (Hrsg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), S. 13, 77 ff. Mehr „Respekt vor der Eigenständigkeit des Privatrechts und der Privatautonomie“ fordert z. B. auch Meyer / Borowsky (2014), Art. 51 GRCh Rn. 31. 52

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Einleitung

Je nachdem, auf welcher normhierarchischen Ebene und in welchem Umfang die Vertragsfreiheit im Unionsrecht gewährleistet wird, könnten die interventionistischen Tendenzen ebenso wie die grundrechtliche Überformung des Unionsprivatrechts entweder rasch ihren Schrecken verlieren55 – oder aber zu einer realen Bedrohung individueller Freiheit erstarken. B. Forschungslücke, Gegenstand und Ansatz der Untersuchung B. Forschungslücke, Gegenstand und Ansatz der Untersuchung

So bestechend und offenkundig der Verweis auf die Vertragsfreiheit als Leitprinzip des unionalen Schuldvertragsrechts erscheint, so schwer gestaltet sich beim gegenwärtigen Stand die Verortung dieser Freiheit im Recht der Europäischen Union (I). Um auf Basis des geltenden Rechtsrahmens ein kohärentes System zur Konzeptualisierung der Vertragsfreiheit zu entwerfen (II), verfolgt diese Abhandlung einen unionsrechtsimmanenten und rechtsvergleichenden Untersuchungsansatz und zieht insbesondere das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch als Referenzrahmen heran (III). Im Fokus der Untersuchung steht dabei die unionale Vertragsfreiheit in drei Schwerpunktbereichen. I.

Forschungsstand: Insulare und diffuse Gewährleistung

Glaubt man den bisherigen Stellungnahmen, so teilt die Vertragsfreiheit das Schicksal ihres wohl wichtigsten Anwendungsfeldes: Ebenso wie das EUSchuldvertragsrecht scheint auch die Vertragsfreiheit in unterschiedliche Rechtsakte und -quellen zersplittert zu sein. Teilweise wird die rechtsgeschäftliche Privatautonomie als Ausfluss der durch Art. 119 AEUV im Binnenmarkt verbürgten freien Marktwirtschaft und Wettbewerbsordnung begriffen.56 Ferner werden die Grundfreiheiten als Standort einer „grenzüberschreitenden Vertragsfreiheit“ benannt.57 Im weiteren Verlauf dieser Abhandlung zeigt sich, dass keiner dieser überkommenen Ansätze zu überzeugen und die rechtsgeschäftliche Privatautonomie umfassend zu gewährleisten vermag.58 Gleiches gilt, soweit in jüngerer Zeit die kodifizierten Unionsgrundrechte der GRCh herangezogen werden. Denn obschon die Charta partielle Garantien der Vertragsfreiheit enthält, bleibt sowohl der sachliche als auch der persönliche Anwendungsbereich stets eng umgrenzt.59 So nennt etwa der Gleichsinnig Herresthal, in: Ziegler / Huber (eds.), Current Problems in the Protection of Human Rights (2013), S. 89, 96. 55 In diesem Sinne schon W.-H. Roth, FS Medicus (2009), S. 393, 419: „Wird der Privatautonomie auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts das ihr zukommende Gewicht beigemessen […], verlieren die Argumente […] an Gewicht“. 56 Hierzu unten Kapitel 2, § 1 A I 1. 57 Vgl. insbesondere Rittner, JZ 1990, 838, 841; Müller-Graff, NJW 1993, 13 f. Siehe zum Ganzen eingehend unten Kapitel 2, § 1 A I 2. 58 Dazu näher unten Kapitel 2, § 1 A III. 59 Ausführlich hierzu unten Kapitel 2, § 1 A II.

B. Forschungslücke, Gegenstand und Ansatz der Untersuchung

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Grundrechtskonvent allein die unternehmerische Freiheit gemäß Art. 16 GRCh als Standort der Vertragsfreiheit.60 Indes kann Art. 16 GRCh die rechtsgeschäftliche Privatautonomie nur für einen bestimmten wirtschaftlich tätigen Personenkreis gewährleisten. Würde dies tatsächlich die einzige oder auch nur die vorrangige Anbindung darstellen, wäre Vertragsfreiheit keineswegs eine „Jedermannsfreiheit“, sondern das Privileg einer bestimmten Gruppe. Wenn demgegenüber von den Generalanwälten des EuGH sowie im rechtswissenschaftlichen Schrifttum eine umfassende Garantie der Vertragsfreiheit im Unionsrecht postuliert wird, bleibt dabei zumeist die normative Qualität dieser Freiheit im Dunkeln. So findet sich teilweise die Bezeichnung als „allgemeiner Rechtsgrundsatz“, ohne dass die Herleitung, Natur und Reichweite dieses Grundsatzes spezifiziert werden.61 Für die Rechtspraxis und die Fortentwicklung des Unionsrechts unbefriedigend sind schließlich Ansätze, die eine rechtsförmige Garantie der Vertragsfreiheit mit dem Argument für verzichtbar halten, dass es sich bei dieser Freiheit um ein apriorisches Prinzip handle.62 Nur eine als verbindlicher Rechtssatz verbürgte Vertragsfreiheit kann als Maßstab und damit als Korrektiv zu den zahlreichen im Unionsrecht positivierten Einschränkungen dieser Freiheit fungieren.63 Das Erkenntnisinteresse dieser Untersuchung ist entspre60 Erläuterungen zur Charta, ABl. 2007 C 303/17, 23. Vgl. sodann z. B. EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C:2013:28 Rn. 42 ff.; EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 30; EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 67 f. 61 GA Kokott Schlussanträge v. 17.9.2009 – Rs. C-441/07 P (Kommission / Alrosa), Slg. 2010, I-5949 Rn. 225: „Die Vertragsfreiheit gehört zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts“. In diese Richtung bereits GA Trstenjak Schlussanträge v. 28.3.2007 – Rs. C-331/05 P (Internationaler Hilfsfonds / Kommission), Slg. 2007, I-5475 Rn. 93. Siehe auch Canaris, FS Lerche (1993), S. 873, 890; Bruns, JZ 2007, 385, 392; Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85, 94 f.; Safjan / Miklaszewicz, ERPL 18 (2010), 475, 484 f. Nachdrücklich gegen die Einordnung der Vertragsfreiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz plädiert indes Prassl, ILJ 42 (2013), 434, 442. 62 In diesem Sinne – wenn auch mit dem Fokus auf der Vertragsbindung – zuletzt z. B. Stöhr, AcP 214 (2014), 425, 441 ff. und 444 m. w. N. („Vertragsfreiheit und Vertragsbindung [sind] der Rechtsordnung […] apriorisch vorgegeben“). Vgl. zur Gewährleistung der „Privatautonomie […] kraft eines vorgesellschaftlichen, jedenfalls vorstaatlichen Anspruchs“ auch Böhm, ORDO 22 (1971), 11, 20 f. 63 Zwar sind Verträge in der Tat schon geschlossen worden, lange bevor rechtsgeschäftliche Selbstbestimmung im (supra-)nationalen Recht gewährleistet werden konnte. In der Europäischen Union bedarf die Freiheit, Verträge zu schließen, indes notwendig der Anerkennung durch die Unionsrechtsordnung, damit der Ausgangs- sowie der Endpunkt dieser Freiheitsausübung überhaupt als „Vertragserklärungen“ und „Vertrag“ im rechtlichen Sinne gelten können, siehe hierzu allgemein nur Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 215 f.; Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang (1999), S. 16 ff.; Repgen, Kein Abschied von der Privatautonomie (2001), S. 76 f.; M.-P. Weller, Die Vertragstreue (2009), S. 171. Mit Blick auf die Unionsrechtsordnung führt Herresthal, in:

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Einleitung

chend juristisch-dogmatischer und nicht nur ethisch-philosophischer Natur, da es auf die in der supranationalen Unionsrechtsordnung geltende Vertragsfreiheit zielt.64 Beim derzeitigen Stand ist weitgehend ungewiss, wo die Vertragsfreiheit verbürgt ist, welche Rechtsnatur sie hat und was sie konkret gewährleistet.65 Diese Forschungslücke sucht die vorliegende Abhandlung zu schließen. II. Ausgangshypothesen zur Verbürgung und Materialisierung der Vertragsfreiheit Die beiden zentralen Ausgangshypothesen orientieren sich an den eingangs konstatierten Defiziten der aktuellen Rechtsentwicklung: Während die Vertragsfreiheit in der Unionsrechtsordnung zum einen weder als privat- noch als grundrechtliche Verbürgung sichtbar ist, werden im Anwendungsbereich des EU-Rechts sowohl sämtliche mitgliedstaatliche Freiheitsgarantien zurückgedrängt als auch EU-Gleichheitsgrundrechte überbetont. Zum anderen erscheint das Schuldvertragsrecht der EU nicht zuletzt auch deshalb zersplittert und inkohärent, weil es der Vertragsfreiheit als zentraler privatrechtlicher Leitidee gebricht, die eine Systematisierung erlaubt. 1. Doppelköpfigkeit der Vertragsfreiheit im geltenden Unionsrecht Vor diesem Hintergrund lautet die erste Hypothese, dass die Vertragsfreiheit in der Unionsrechtsordnung von doppelköpfiger Gestalt ist: Diese Freiheit wird als allgemeiner privatrechtlicher Rechtsgrundsatz und zugleich als Unionsgrundrecht garantiert. In beiden Erscheinungsformen kann die unionale Vertragsfreiheit zunächst als verbindendes Element und Orientierungspunkt des Schuldvertragsrechts der EU dienen. Eine zentrale Funktion kommt dem

Ziegler / Huber (eds.), Current Problems in the Protection of Human Rights (2013), S. 89, 99 treffend aus: „[P]rivately arranged relationships require recognition by a legal system“. Eine apriorische Sicht auf die Vertragsfreiheit kann heutzutage daher bezeichnenderweise nur einnehmen, wer die Vertragsparteien in einen – vermeintlich – rechtsfreien Raum verweist: Beispielsweise schickt Husserl, Rechtskraft und Rechtsgeltung (1925), S. 39 die Adressaten der Vertragsfreiheit in eine Wüste, und nach dem Ansatz von Stöhr, AcP 214 (2014), 425, 445 mischen sich die Vertragsparteien unter indigene Völker Westafrikas. 64 Vgl. zu dieser Unterscheidung zwischen ethisch-philosophischer und juristisch-dogmatischer Fragestellung nur Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 160; M.-P. Weller, Die Vertragstreue (2009), S. 163. Auch unverbindliche akademische Modellregeln zur Vertragsfreiheit, wie beispielsweise Art. 1:102 Principles of European Contract Law (PECL) und Art. II.-1:102 Draft Common Frame of Reference (DCFR), zählen nicht zum geltenden Recht der Union. Solche Modellregeln werden im Folgenden zwar berücksichtigt, ohne jedoch im Fokus der Untersuchung zu stehen. 65 So auch Herresthal, in: Ziegler / Huber (eds.), Current Problems in the Protection of Human Rights (2013), S. 89, 97 f.

B. Forschungslücke, Gegenstand und Ansatz der Untersuchung

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privatrechtlichen Rechtsgrundsatz bei der Auslegung und Lückenfüllung der Rechtsakte des EU-Schuldvertragsrechts zu.66 Durch die unionsrechtliche Verbürgung der Vertragsfreiheit verschiebt sich der Ankerpunkt vieler schuldvertraglicher Regelungen: Sowohl im Unionsrecht als auch in den mannigfaltigen durch das EU-Privatrecht beeinflussten Feldern des mitgliedstaatlichen Rechts wird längst nicht mehr die nationale, sondern vielmehr eine unionale Vertragsfreiheit verwirklicht, beschränkt oder auf sonstige Weise ausgestaltet. Daraus folgt, dass beispielsweise im Geltungsbereich der Klauselrichtlinie die Grenzen der Inhaltskontrolle von Verträgen nunmehr durch die unionale Vertragsfreiheit gezogen werden.67 Selbst die Handhabung des § 138 Abs. 1 BGB mag im Einzelfall unionsrechtliche Vorzeichen erhalten.68 Als unionsgrundrechtliche Gewährleistung stellt die Vertragsfreiheit sodann den wohl bedeutendsten „Vorposten des Privatrechts“ im Primärrecht der Union dar: So kann sie gegen überbordende Freiheitsverkürzungen in Stellung gebracht werden und insbesondere ein Gegengewicht zu den Privatrechtswirkungen der Gleichheitsgrundrechte bilden.69 Damit lässt sich der „Autonomieverlust des Privatrechts“70 paradoxerweise nur verhindern, indem die Konstitutionalisierung des Unionsprivatrechts einerseits als gegeben akzeptiert, diesem Phänomen aber andererseits durch die Betonung der grundrechtlichen Dimension der Vertragsfreiheit die Einseitigkeit genommen wird. 2. Materialisierung durch Unionsprivatrecht, BGB und ZPO Die grundrechtliche Dimension der Vertragsfreiheit gebietet zudem, dass die Vertragspartner ihre jeweilige Freiheit möglichst umfassend verwirklichen können. Damit bedarf es eines angemessenen Ausgleichs dieser FreiheitsSiehe dazu noch eingehend unten Kapitel 3 § 1 B. Siehe hierzu näher unten Kapitel 7 § 2. 68 So ist z. B. zu erwägen, ob das unter bestimmten Voraussetzungen auch auf Bürgschaftsverträge anwendbare EU-Verbrauchervertragsrecht nicht den Anwendungsbereich des Unionsrechts eröffnet, so dass z. B. bei der Prüfung von Angehörigenbürgschaften im Rahmen des § 138 BGB womöglich – zumindest auch – die unionale Vertragsfreiheit zu berücksichtigen wäre, vgl. zum „doppelten“ Verbrauchererfordernis nur EuGH Urt. v. 17.3.1998 – Rs. C-45/96 (Dietzinger), Slg. 1998, I-1199 Rn. 18 ff.; EuGH Urt. v. 23.3.2000 – Rs. C-208/98 (Berliner Kindl), Slg. 2000, I-1741 Rn. 17 ff. und vgl. zur Berücksichtigung der „grundrechtlichen Gewährleistung der Privatautonomie“ im Rahmen des § 138 BGB nur BVerfG Beschl. v. 19.10.1993 – Az. 1 BvR 567/89 u. a., BVerfGE 89, 214, 229 ff. Siehe hierzu eingehend unten Kapitel 5 und dort insbesondere § 2 C II. 69 Vgl. bereits F. Bydlinski, Das Privatrecht im Rechtssystem einer „Privatrechtsgesellschaft“ (1994), S. 75 f. Ebenso zur Rolle der Unionsgrundrechte im Allgemeinen – allerdings ohne die Vertragsfreiheit zu erwähnen – Perner, Grundfreiheiten, GrundrechteCharta und Privatrecht (2013), S. 173. 70 Vgl. wiederum G. Wagner, in: Blaurock / Hager (Hrsg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), S. 13, 77 ff. 66 67

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sphären, wodurch die „Aufgabe der Herstellung praktischer Konkordanz zu einem Thema des Zivilrechts“ wird.71 Die zweite Ausgangshypothese lautet, dass sich unter dem Einfluss der unionalen Vertragsfreiheit ein Normkomplex herausbildet, der auf unterschiedlichen Ebenen und mit einer großen Variationsbreite von Instrumenten den Vertragsparteien werthaltige rechtsgeschäftliche Selbstbestimmung – und damit Vertragsfreiheit „im anspruchsvollen Sinne“72 – zu ermöglichen sucht. Die unionsprivatrechtlichen Regelungen betreffend den Abschluss, die Durchführung sowie die Durchsetzung von Verträgen sind jedoch lückenhaft, so dass dieses System zwangsläufig auch auf mitgliedstaatliche Normen zurückgreifen muss. Insbesondere unter der Einwirkung des Effektivitätsgrundsatzes werden das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch73 sowie die Zivilprozessordnung74 in den Dienst der Verwirklichung unionaler Vertragsfreiheit gestellt. Dieses Phänomen sowie das daraus im weiteren Verlauf der Untersuchung schrittweise zu entwickelnde System werden im Folgenden unter den changeanten Begriff der Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit gefasst.75 III. Methodik und Bezugsrahmen Da die Unionsrechtsordnung einer umfassenden Verbürgung der Vertragsfreiheit bedarf, drängt sich die Folgefrage auf, mithilfe welcher Methoden diese nicht ausdrücklich normierte Freiheit im Recht der EU verortet werden kann. Während bei der Begründung der Vertragsfreiheit im Binnenmarkt notwendigerweise auch ökonomische Argumente einfließen,76 fokussiert diese Untersuchung auf die rechtliche Verbürgung der unionale Vertragsfreiheit.77 Dabei legt die Vielfalt der Rechtsquellen sowie die „Multidimensiona71 So mit Blick auf die Entfaltung der Vertragsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG in der deutschen Rechtsordnung auch Maunz / Dürig / Di Fabio (2016), Art. 2 GG Rn. 112. 72 G. Wagner, in: Blaurock / Hager (Hrsg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), S. 13, 19 f. 73 Siehe unten Kapitel 5. 74 Siehe unten Kapitel 6. 75 Siehe zum Begriff und zum Phänomen der Materialisierung eingehend Kapitel 4, Kapitel 5 und Kapitel 6. Siehe mit Blick auf das deutsche Bürgerliche Recht nur Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers (1998), S. 208 f., 293 ff.; Canaris, AcP 200 (2000), 273, 277 ff. Siehe im Kontext des Unionsprivatrechts – allerdings ohne Bezugnahme auf die unionale Vertragsfreiheit – Riesenhuber, System und Prinzipien des europäischen Vertragsrechts (2003), S. 553 f.; Hess, JZ 2005, 540, 548; G. Wagner, ZEuP 2007, 180, 191 ff.; Fornasier, Freier Markt und zwingendes Vertragsrecht (2013), S. 77 ff. 76 Namentlich baut die EU-Wirtschaftsverfassung auf die Vertragsfreiheit und auch ideengeschichtlich bilden ökonomische Bedürfnisse eine entscheidenden Triebfeder des Siegeszuges der Vertragsfreiheit, siehe eingehend unten Kapitel 1 § 1 und § 2. 77 Siehe zur ökonomischen Begründung der Vertragsfreiheit statt aller G. Wagner, in: Blaurock / Hager (Hrsg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), S. 13, 16 f. m. w. N., der darauf hinweist, dass die Verbindung zwischen der rechtsgeschäftlichen Privatautono-

B. Forschungslücke, Gegenstand und Ansatz der Untersuchung

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lität der Systemzusammenhänge“ im Unionsrecht eine Verschränkung unterschiedlicher Methoden nahe.78 Diese Abhandlung nimmt dabei vor allem drei Sachmaterien in den Blick und stellt die gewonnenen Erkenntnisse in den Kontext der bürgerlich-rechtlichen Dogmatik. 1. Unionsrechtsimmanente, rechtsaktsübergreifende und rechtsvergleichende Untersuchung Den Ausgangspunkt bildet ein unionsrechtsimmanenter, rechtsaktsübergreifender und rechtsvergleichender Untersuchungsansatz. Die unionsrechtsimmanente Betrachtung ist durch die Autonomie des „ordre juridique propre“ der EU vorgegeben: In erster Linie soll das Unionsrecht aus sich selbst heraus ausgelegt und gegebenenfalls fortentwickelt werden.79 Bei der Überprüfung der zentralen Hypothesen dieser Abhandlung reicht ein nach innen gewandten Ansatz indes nicht aus, um zu ermitteln, ob die unionale Vertragsfreiheit ein Unionsgrundrecht und zugleich ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsprivatrechts ist. Vielmehr setzen die Identifikation allgemeiner privatrechtlicher Grundsätze ebenso wie die Herausarbeitung ungeschriebener Unionsgrundrechte im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV voraus, dass in einem ersten Schritt unterschiedliche Referenzmaterien sowohl unionsrechtsimmanent, rechtsakts- übergreifend als auch rechtsvergleichend untersucht werden.80 Da Bezugspunkte somie und dem ökonomischem Maßstab der Wohlfahrtsmaximierung gerade darin liegt, dass „der Effizienz-Begriff an den Nutzenfunktionen der Individuen orientiert ist“. Die unionale Vertragsfreiheit gestattet den Akteuren im Binnenmarkt nun, durch das Instrument des Vertrags entsprechend ebendieser subjektiven Präferenzen zu handeln. Vgl. zur ökonomischen Legitimation der Vertragsfreiheit auch Schäfer / Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts (2012), S. 449 f. sowie mit Blick auf die Parteiautonomie Rühl, Statut und Effizienz (2011), S. 343 ff. 78 Vgl. bereits Basedow, in: Zimmermann / Knütel / Meincke (Hrsg.), Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik (1999), S. 79, 92. Mit Blick auf das Unionsprivatrecht spricht Gsell, AcP 214 (2014), 99, 107 treffend von einer „Methodenpluralität parallel zur Pluralität der Regelsetzer, Rechtsquellen und Rechtsanwender“. 79 Vgl. zur Autonomie des Unionsrechts wiederum grundlegend EuGH Urt. v. 15.7.1964 – Rs. 6/64 (Costa / E.N.E.L.), Slg. 1964, 1149, 1158. Siehe auch Jansen, ZEuP 2004, 441, 443; Heinze, Schadensersatz im Unionsprivatrecht (2017), S. 93 ff. m. w. N. 80 Siehe zum Ganzen noch eingehend unten Kapitel 2 § 2 A II. Siehe mit Blick auf allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechtsrechts Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 37 ff. und 545 f.; Basedow, FS Hopt I (2010), S. 27, 37 ff. und 41; ders., ERPL 24 (2016), 331, 340 ff. und insbesondere 346. Auch nach Art. 6 Abs. 3 EUV sind ungeschriebene Unionsgrundrechte als allgemeine, den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen gemeine, verfassungsrechtliche Gewährleistungen rechtsvergleichend zu ermitteln: „Die Grundrechte, […] wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, sind als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts“. Im Schrifttum wird die Möglichkeit einer

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Einleitung

mit das Unionsrecht und das Recht der Mitgliedstaaten sind, werden bei der Gewinnung allgemeiner Rechtsgrundsätze der acquis commun und der acquis communautaire zusammengeführt.81 Ausweislich des Art. 6 Abs. 3 EUV ist darüber hinaus auch das Völkerrecht in die Betrachtungen einzubeziehen.82 Wenn und soweit sich hieraus eine hinreichende Basis ergibt, kann die Zusammenschau der speziellen Regelungen in einem zweiten Schritt gegebenenfalls einen Induktionsschluss auf einen allgemeinen, hinter all diesen Einzelregelungen stehenden Grundsatz tragen.83 2. Unionale Vertragsfreiheit in drei Schwerpunktbereichen Um Grund und Grenzen der unionalen Vertragsfreiheit bestimmen zu können, müssen somit unterschiedliche Regelungsbereiche durchmessen und auf die Verbürgung und Ausgestaltung dieser Freiheit hin untersucht werden. Der induktive Ansatz setzt eine möglichst breite und heterogene Basis von Referechtsgebietsübergreifenden Systematisierung des Unionsrechts zwar teilweise mit dem Argument verneint, dass insbesondere die zahlreichen Einzelrechtsakte des EU-Privatrechts auf divergierenden Ermächtigungsgrundlagen fußten: Einheitliche Strukturprinzipien, geschweige denn allgemeine Rechtsgrundsätze könnten auf dieser heterogenen Grundlage nicht gedeien, vgl. Schmid, Die Instrumentalisierung des Privatrechts durch die Europäische Union (2010), S. 716. Ähnlich wohl W.-H. Roth, CMLR 40 (2003), 937, 946. Diese Annahme ist bereits mit dem Autonomiepostulat des Unionsrechts schwerlich übereinzubringen, weshalb es kaum Wunder nimmt, dass der EuGH in seiner ständigen Rechtsprechung sehr wohl Elemente aus unterschiedlichen Regelungsbereichen des Unionsrechts ohne Ansehung des jeweils zugrunde liegenden Kompetenztitels betrachtet und zur Fortentwicklung des Unions(privat)rechts fruchtbar macht, vgl. etwa zum Begriff des Versicherungsvertrags im Steuerrecht einerseits und in der Klauselrichtlinie andererseits nur EuGH, Urt. v. 17.1.2013 – Rs. C-224/11 (BGŻ Leasing), EU:C:2013:15 Rn. 58; EuGH Urt. v. 23.4.2015 – Rs. C-96/14 (Van Hove), EU:C:2015:262 Rn. 33 ff. Innerhalb einzelner Regelungsbereiche wird ein rechtsaktsübergreifender Ansatz sogar explizit durch das Unionsrecht vorgegeben, wie neben Art. 6 Abs. 3 EUV z. B. auch Erwägungsgrund Nr. 7 Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I), ABl. 2008 L 177/6 im internationalen Unionsprivatrecht belegt. Wie hier Heinze, Schadensersatz im Unionsprivatrecht (2017), S. 99 ff. m. w. N. aus anderen Sachmaterien. 81 Vgl. zur Abgrenzung statt vieler Jansen / Zimmermann, JZ 2007, 1113, 1115 ff., die insoweit zu Recht hinterfragen, ob das Unionsprivatrecht als privatrechtlicher acquis communautaire überhaupt ohne Bezug auf das gemeineuropäische Privatrecht, also den acquis commun, vollumfänglich verstanden werden kann. 82 Art. 6 Abs. 3 EUV verweist ausdrücklich auch auf das Völkervertragsrecht und namentlich die „Grundrechte, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind“. Siehe hierzu noch eingehend unten Kapitel 2 § 2 A II 3. 83 Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 37 ff. und 545 f.; Basedow, FS Hopt I (2010), S. 27, 37 ff. und 41; ders., ERPL 24 (2016), 331, 346. Siehe dazu umfassend unten Kapitel 2 § 2 A II.

B. Forschungslücke, Gegenstand und Ansatz der Untersuchung

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renzmaterien voraus, zumal der EuGH in der Rechtssache Audiolux explizit betont hat, dass isolierte, bereichsspezifische Vorschriften „für sich genommen noch nicht für den Nachweis der Existenz eines allgemeinen Grundsatzes des [Unions]rechts genüg[en], insbesondere wenn ihr Anwendungsbereich auf sehr genau festgelegte und bestimmte Rechte beschränkt ist“.84

Während solchen speziellen Einzelregelungen damit allenfalls Indizwirkung zukommt, liegt die Annahme eines allgemeinen unionalen Rechtsgrundsatzes näher, wenn ein bestimmter Grundsatz in unterschiedlichen Materien flächendeckend nachweisbar ist.85 Vor diesem Hintergrund ist das gesamte Unionsrecht in den Blick zu nehmen, wobei der Fokus angesichts der unionsprivatrechtlichen Ausrichtung dieser Abhandlung auf drei Schwerpunktbereichen liegt. Erstens wird das weit verästelte Gebiet des Verbrauchervertragsrechts betrachtet. Diese Materie ist zwar einerseits auf die Interessen der Konsumenten ausgerichtet. Andererseits betreffen die Regelungen durchaus sehr unterschiedliche Bereiche, von der Klauselkontrolle über den Verbrauchsgüterkauf bis hin zum Pauschalreiserecht. Auch bewegt sich das Unionsprivatrecht gerade mit der Klauselrichtlinie 86 in Richtung eines allgemeinen unionalen Verbrauchervertragsrechts, das als Querschnittsmaterie einheitliche Regelungen für unterschiedliche Sachbereiche bereithält und diese so miteinander verklammert. Zweitens wird das unionale Finanzdienstleistungsvertragsrecht und damit insbesondere das Bank- und Versicherungsvertragsrecht untersucht. Freilich umfasst diese Materie ebenfalls verbraucherschützende Vorschriften, wie etwa die Wohnimmobilien-87 und die Verbraucherkreditrichtlinie. Hierher gehören z. B. auch die Entgeltregelungen für die Nutzung von Zahlungsdiensten in Art. 19 Verbraucherrechterichtlinie.88 Zugleich finden sich vielfältige Regelungen, die, wie z. B. die Zahlungsdiensterichtline89 und die InterbankenEuGH Urt. v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 34. EuGH Urt. v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 34 und 42 spricht hier insoweit von dem „allgemeine[n] übergreifende[n] Charakter, der […] allgemeinen Rechtsgrundsätzen naturgemäß innewohnt“. Siehe auch Basedow, ERPL 24 (2016), 331, 336 ff. 86 Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. 1993 L 95/29. 87 Richtlinie 2014/17/ЕU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Februar 2014 über Wohnimmobilienkreditverträge für Verbraucher und zur Änderung der Richtlinien 2008/48/EG und 2013/36/EU und der Verordnung (EU) Nr. 1093/2010, ABl. 2014 L 60/34. 88 Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011 über die Rechte der Verbraucher, ABl. 2011 L 304/64. 89 Vgl. insbesondere Art. 30 ff., Art. 40 ff. Richtlinie 2007/64/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2007 über Zahlungsdienste im Binnenmarkt, 84 85

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Einleitung

entgelteverordnung,90 ausschließlich Vertragsverhältnisse professioneller Akteure erfassen. Damit ist das unionale Finanzdienstleistungsvertragsrecht eine Mischmaterie, die sowohl konsumentenschützende Elemente als auch Züge eines allgemeinen Verkehrsrechts für Finanzdienstleister aufweist. Schließlich richtet diese Abhandlung ihr Augenmerk, drittens, auf die vertragsrechtlichen Implikationen des unionalen Wirtschaftsrechts: Das heterogene Rechtsgebiet des Wirtschaftsvertragsrechts umfasst den Bestand unionsrechtlicher Normen, die den Rahmen für die Vertragsbeziehungen im unternehmerischen Verkehr ziehen.91 Diese Materie enthält damit ausschließlich vertragsrechtliche Regelungen für professionelle Wirtschaftsakteure, wobei viele Bestimmungen auch marktordnende Funktionen erfüllen. Insofern hat das unionale Wirtschaftsvertragsrecht eine andere Stoßrichtung als das Verbrauchervertragsrecht sowie das verbraucherschützende Finanzdienstleistungsvertragsrecht.92 Diese Abhandlung untersucht insbesondere auch die vertragsrechtlichen Implikationen des unionalen Kartell- und Wettbewerbssowie des Vergabe- und Infrastrukturrechts, da auch hier die unionale Vertragsfreiheit in vielfältiger Weise betroffen sein kann: So ziehen etwa Art. 101 und 102 AEUV der unternehmerischen Vertragspraxis unmittelbar Schranken.93 Insgesamt garantiert das unionale Wettbewerbsrecht dank seiner „machtbeugenden Wirkung“ tatsächliche Wahlmöglichkeiten am Markt und schafft damit erst die Grundlage für die Ausübung der Vertragsfreiheit.94 Zugleich statuiert das unionale Kartell- ebenso wie das Infrastrukturrecht, zur Änderung der Richtlinien 97/7/EG, 2002/65/EG, 2005/60/EG und 2006/48/EG sowie zur Aufhebung der Richtlinie 97/5/EG, ABl. 2007 L/1. 90 Verordnung (EU) 2015/751 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. April 2015 über Interbankenentgelte für kartengebundene Zahlungsvorgänge, ABl. 2015 L 123/1. 91 Siehe zum Begriff des unionalen Wirtschaftsrechts statt vieler Plate, in: Stober/ Paschke (Hrsg.), Deutsches und internationales Wirtschaftsrecht (2012), S. 12 ff. sowie zum Begriff des Wirtschaftsvertragsrechts nur Paschke, in: Stober / Paschke (Hrsg.), Deutsches und internationales Wirtschaftsrecht (2012), S. 74 ff. 92 Dies darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch das zwischen professionellen Akteuren geltende Sonderprivatrecht zuweilen „Schutzmechanismen“ enthält, wie etwa die Handelsvertreterrichtlinie und die Zahlungsverzugsrichtlinie belegen, vgl. nur Art. 17 und Art. 19 Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter, ABl. 1986 L 382/17; Erwägungsgrund Nr. 28 und Art. 7 Richtlinie 2011/ 7/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr, ABl. 2011 L 48/1. 93 Statt vieler MünchKomm/Busche (2012), Vor § 145 BGB Rn. 4. 94 Siehe zu dieser Wirkung des Wettbewerbs Böhm, in: Institut für ausländisches und internationales Wirtschaftsrecht (Hrsg.), Kartelle und Monopole im modernen Recht I (1961), S. 1, 22; Mestmäcker, JZ 1964, 441, 445. Basedow, LM § 8 AGB-Gesetz Nr. 30 stellt daher mit Blick auf die Vertragsfreiheit heraus, dass diese Freiheit zur Willkür zu werden droht, wo das „Korrelat der machtbeugenden Wirkung des Wettbewerbs fehlt“.

B. Forschungslücke, Gegenstand und Ansatz der Untersuchung

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etwa im Kontext des Zugangs zu Telekommunikations- und Energieleitungsund Transportnetzen, zuweilen Kontrahierungszwänge, die eine empfindliche Beschränkung der unionalen Vertragsfreiheit bedeuten.95 Sollte sich die Vertragsfreiheit durchgängig in allen drei heterogenen Materien nachweisen lassen, mag dies eine besonders breite und belastbare empirische Basis für die induktive Herleitung eines allgemeinen unionalen Rechtsgrundsatzes der Vertragsfreiheit bieten. 3. BGB und bürgerlich-rechtliche Dogmatik als Referenzrahmen Was sodann die Einwirkungsebenen und die Privatrechtsrelevanz der unionalen Vertragsfreiheit anbelangt, bildet das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch einen besonders vielversprechenden Referenzrahmen für die vorliegende Untersuchung: Zahlreiche Elemente des Unionsprivatrechts sind unmittelbar in das BGB inkorporiert worden, so dass die betreffenden Regelungen des BGB potenziell in den Wirkbereich unionaler Vertragsfreiheit gelangen.96 Auch das bereits angesprochene Phänomen der Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit mithilfe des nationalen Privatrechts wird anhand der Instrumente des BGB eingehend untersucht.97 In methodischer Hinsicht bedarf dabei stets die bürgerlich-rechtliche Dogmatik und ihr Verhältnis zu den unionsrechtlichen Vorgaben besonderer Aufmerksamkeit.98

Ferner hat z. B. auch das europäische Vergaberecht insoweit unionsprivatrechtlichen Gehalt, als es das Zustandekommen von Verträgen regelt und die Vertragspartnerwahlsowie die Inhaltsfreiheit der Parteien beschränken kann, dazu statt aller Bittrich, Vergabeverfahren und Bürgerliches Recht (2013), S. 120 und 125 ff. In diesem Sinne auch Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament zum europäischen Vertragsrecht, KOM(2001) 398 endg., S. 48 f.; Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat, Ein kohärentes Europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan, KOM(2003), 68 endg., S. 46 und 51. 96 Dabei haben Vorgaben aus allen drei untersuchten Sachmaterien Eingang in das BGB gefunden: Neben dem EU-Verbrauchervertragsrecht, das unter anderem in §§ 312 ff. und §§ 305 ff. BGB umgesetzt worden ist, sind auch Teilbereiche des Finanzdienstleistungsvertragsrechts, etwa in Gestalt der §§ 491 ff., § 511 BGB, unionsrechtlich determiniert. Schließlich betreffen z. B. die in § 271a, § 286 BGB umgesetzten unionsrechtlichen Vorgaben der Zahlungsverzugsrichtlinie allein Verträge zwischen gewerblich handelnden Akteuren und sind damit dem unionalen Wirtschaftsvertragsrecht zuzuschlagen, vgl. Art. 1 und Art. 2 Nr. 1 Zahlungsverzugsrichtlinie und siehe zur Abgrenzung erneut oben 2. 97 Siehe dazu erneut oben B II 2 sowie umfassend unten Kapitel 5. 98 Vgl. Kapitel 5 und dort beispielsweise § 2 A I 2 b sowie § 2 C II 2 zur „Kipp’schen Doppelwirkung im Recht“ beim Aufeinandertreffen von §§ 119 ff. bzw. § 138 BGB einerseits und unionsprivatrechtlich fundierten Widerrufsrechten andererseits. 95

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Einleitung

C. Gang der Darstellung entlang sieben Erkenntniszielen C. Gang der Darstellung entlang sieben Erkenntniszielen

Die vorliegende Abhandlung untersucht erstmals monographisch, welchen Platz und welche Gestalt die für das Privatrecht elementare Vertragsfreiheit im Gefüge des Unionsrechts einnimmt. Damit die Vertragsfreiheit tatsächlich als „Fixster[n] des Privatrechtssystems“99 der Europäischen Union dienen kann, müssen insbesondere Standort, Inhalt und Konzeption dieser Freiheit bestimmt werden. Die Darstellung gliedert sich in drei Teile und verläuft entlang sieben Erkenntniszielen. Erster Teil: Grundlegung der Vertragsfreiheit im Unionsrecht Das erste Kapitel legt die Grundsteine der weiteren Untersuchung: So erschließen sich die Triebfedern ebenso wie die Grenzen der Vertragsfreiheit im Unionsrecht vollumfänglich erst vor dem Hintergrund der Ideengeschichte der Vertragsfreiheit einerseits und der Rolle dieser Freiheit in der Wirtschaftsverfassung der Union andererseits. Zudem bedarf der Vertragsbegriff des Unionsrechts der Konkretisierung, da dieser nicht zuletzt den Gewährleistungsgehalt unionaler Vertragsfreiheit mitbestimmt. Das zweite Kapitel spürt der Verbürgung der Vertragsfreiheit im geltenden Unionsrecht nach. Ziel ist es, die Vertragsfreiheit normhierarchisch zu verorten und ihren Inhalt zu bestimmten. Der lückenhaften Gewährleistung der Vertragsfreiheit im geschriebenen Primärrecht wird zunächst der Befund gegenübergestellt, dass die Unionsrechtsordnung sieben Facetten der Vertragsfreiheit anerkennt und schützt. Darauf aufbauend ist nach der Rechtsnatur der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie im Unionsrecht zu fragen. Mithilfe der induktiven Methode wird die zentrale These der Arbeit überprüft, derzufolge die Vertragsfreiheit schon beim gegenwärtigen Entwicklungsstand der Unionsrechtsordnung sowohl ein allgemeiner Grundsatz des EU-Privatrechts als auch ein Unionsgrundrecht ist. Erste Konturen gewinnen der Gewährleistungs- und der Wesensgehalt sowie die Schranken der unionalen Vertragsfreiheit im Rahmen einer detaillierten Analyse der Rechtsprechung des EuGH. Zweiter Teil: Vertragsfreiheit und ihre Materialisierung als Richtschnur des Schuldvertragsrechts der EU und ihrer Mitgliedstaaten Im dritten Kapitel werden die privatrechtlichen Einwirkungsachsen sowie das Funktionsmodell der unionalen Vertragsfreiheit in den Blick genommen. Als zivilrechtlicher Rechtsgrundsatz und als Unionsgrundrecht entfaltet die Vertragsfreiheit zahlreiche Privatrechtswirkungen. Insbesondere dient die rechtsgeschäftliche Privatautonomie im EU-Schuldvertragsrecht zugleich als Begründung und als Begrenzung der Vertragsbindung. Hier deutet sich bereits 99

Mestmäcker, AcP 168 (1968), 235, 238.

C. Gang der Darstellung entlang sieben Erkenntniszielen

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an, dass diese Freiheit ein potenziell wirkmächtiges Bindeglied zwischen den auf unterschiedliche Rechtsakte und -materien verstreuten Normen des EUSchuldvertragsrechts ist. Verwirklicht wird die Vertragsfreiheit sodann in erster Linie durch den Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus, wobei die Unionsrechtsordnung eine Richtigkeitsvermutung an diesen prozeduralen Modus der Freiheitsentfaltung knüpft. Dieses Funktionsmodell unionaler Vertragsfreiheit kommt indes nicht ohne Flankierungen aus: Wo der Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus zu versagen droht, muss er punktuell komplementiert und gestärkt werden, damit alle Akteure werthaltige Selbstbestimmungschancen erhalten. Diese Aufgabe übernimmt das Instrumentarium zur Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit, dem sich das vierte Kapitel widmet. Zuvörderst ist der schillernde Begriff der Materialisierung konkretisierungsbedürftig. Auch muss das hiermit beschriebene Phänomen rechtsakts- und rechtsgebietsübergreifend systematisiert werden. In der Unionsrechtsordnung deutet sich dabei eine Zweiteilung in marktkonstitutive sowie wettbewerbsschützende Materialisierungsinstrumente einerseits und unionsprivatrechtliche Instrumente andererseits an. Das fünfte Kapitel zeigt auf, dass das deutsche Bürgerliche Recht nicht nur vielfach in den Wirkbereich unionaler Vertragsfreiheit gerät, sondern auch in den Dienst ihrer Materialisierung gestellt werden kann. Die Interaktion bürgerlich-rechtlicher und unionsprivatrechtlicher Instrumente wird an den Beispielen der Anfechtung, §§ 119 ff. BGB, der culpa in contrahendo, § 311 Abs. 2 BGB, sowie der Generalklauseln der §§ 138, 242 BGB, untersucht. Hierbei zeigt sich, dass das BGB einen festen Platz im hybriden, weil zwischen unionalem und nationalem Privatrecht aufgeteilten, Materialisierungssystem einnimmt. Das sechste Kapitel zeigt auf, wie insbesondere der EuGH zunehmend auch das nationale Zivilprozessrecht als Materialisierungsinstrument in Anspruch nimmt. Im Lichte der Triebkräfte und Ziele dieser verfahrensrechtlichen Dimension der Materialisierung erschließen sich auch die Einwirkungen auf die Prozessstadien im Rahmen der deutschen ZPO: Vom Erkenntnis- über das Mahnverfahren ziehen sich Materialisierungstendenzen bis in das Zwangsvollstreckungsrecht. Soweit das heterogene und zuweilen inkohärente Unionsprivatrecht materiell in Einklang gebracht werden muss, um mit dem Privatrecht der Mitgliedstaaten das Fundament eines „gesamteuropäischen Privatrechts“ bilden zu können, 100 drängt sich die Frage nach dem verbindenden Element auf. Im Schuldvertragsrecht liegt die Vertragsfreiheit als Antwort nahe. Vor diesem Hintergrund führt das siebte Kapitel die bisherigen Erkenntnisse zusammen und untersucht, inwieweit die unionale Vertragsfreiheit als Kompass und 100 Vgl. Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 271 und 464 f.

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Einleitung

Schranke des Privatrechts der EU und ihrer Mitgliedstaaten dienen kann. Dabei wirkt die rechtsgeschäftliche Privatautonomie zwar auf ihre Materialisierung hin. Zugleich gebietet und gestattet sie Interventionen aber nur, soweit diese Freiheit nicht schon durch den Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus entfaltet werden kann. Hieraus ergeben sich zum einen Konturen und Grenzen eines abgestuften Materialisierungssystems in der Unionsrechtsordnung. Zum anderen zieht die unionale Vertragsfreiheit in ihrem Wirkbereich allen freiheitsverkürzenden Privatrechtsnormen, etwa im Kontext der Inhaltskontrolle, Grenzen. Dadurch steckt die unionale Vertragsfreiheit dem Privatrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten insgesamt einen äußeren Rahmen. Zwölf Thesen zur Vertragsfreiheit im Binnenmarkt Im Anschluss an die Zusammenfassung der zentralen Ergebnisse in Thesenform gibt diese Abhandlung einen kurzen Ausblick auf die künftige Bedeutung der Vertragsfreiheit und ihrer Materialisierung im Binnenmarkt.

Erster Teil

Grundlegung der Vertragsfreiheit im Unionsrecht Die Existenz einer unionsrechtlichen Verbürgung der Vertragsfreiheit wird oft stillschweigend vorausgesetzt.1 Die Frage nach der Anbindung, Konzeption und Ausgestaltung dieser Freiheit im Unionsrecht ist dagegen nur vereinzelt gestellt worden.2 Im ersten Teil der Abhandlung werden zunächst die Ausgangsbedingungen und die Legitimation der Vertragsfreiheit im Binnenmarkt untersucht. Auf dieser Grundlage kann die rechtsgeschäftliche Privatautonomie sodann in der Rechtsordnung der Union verortet werden.

1 Deutlich stellt etwa W.-H. Roth, FS Medicus (2009), S. 393, 422 heraus: „Privatautonomie ist auf Ebene des Gemeinschaftsrechts angesiedelt“. Siehe mit Blick auf die Vertragsfreiheit bereits Rösler, Europäisches Konsumentenvertragsrecht (2004), S. 2: „[D]ie europäische Rechtsordnung […] setz[t] sie implizit voraus“ (Herv. im Original). 2 So insbesondere von Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85 ff.

Kapitel 1

Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

Das Recht der Europäischen Union schöpft in vielerlei Hinsicht aus den gemeinsamen Rechtstraditionen ihrer Mitgliedstaaten: Gerade bei der Herausbildung von Unionsgrundrechten und allgemeinen Rechtsgrundsätzen baut die EU jeweils entscheidend auf die verbindenden Elemente der nationalen Rechte.1 So nimmt es kaum Wunder, dass sich auch die Entwicklung, Verbürgung und Ausgestaltung der Vertragsfreiheit in der Rechtsordnung der Europäischen Union nur vor dem Hintergrund der Ideengeschichte dieser Freiheit erschließt (§ 1). Diese erste Annäherung zeigt, dass zugunsten der umfassenden Gewährleistung der Vertragsfreiheit sowohl eine ökonomische als auch eine individualrechtliche Triebfeder wirkt. Diese Antriebskräfte durchziehen auch das Unionsrecht: So steht zum einen die Wirtschaftsverfassung der EU in einer intensiven Wechselbeziehung mit der Vertragsfreiheit (§ 2). Eine entscheidende Determinante ist zum anderen die dem Unionsrechtsordnung zugrunde liegende Konzeption der individuellen Selbstbestimmung durch das Instrument des Vertrags (§ 3).

§ 1 Ideengeschichte der Vertragsfreiheit und Entwicklung des Unionsrechts § 1 Ideengeschichte der Vertragsfreiheit und Entwicklung des Unionsrechts

Die Vertragsfreiheit zählt zum „gemeinsamen rechtskulturellen Erbe der westlichen Welt“ und zum Kern der Vertragsrechtsordnungen aller Mitgliedstaaten der Europäischen Union.2 Doch wie ist der Siegeszug der Vertragsfreiheit zu erklären und wie tief reichen ihre ideengeschichtlichen Wurzeln? Der hier angestrebten abrissartigen Untersuchung der Ideengeschichte ist ein Verweis auf einige Diskontinuitäten vorauszuschicken. Vgl. nur die ausdrückliche Anlehnung an die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in Art. 6 Abs. 3 EUV sowie in Art. 340 Abs. 2 AEUV. Siehe hierzu noch auführlich unten Kapitel 2 § 2. 2 Bruns, JZ 2007, 385, 386. Gleichsinnig z. B. Kleinschmidt, Delegation von Privatautonomie auf Dritte (2014), S. 20. Siehe aus rechtsvergleichender Perspektive eingehend unten Kapitel 2 § 2 B II. 1

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Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

So ist bereits der Terminus „Vertragsfreiheit“ eine relativ neue Erscheinung in der Rechtssprache: Bezugnahmen auf die „liberté contractuelle“ finden sich in Frankreich etwa dreißig Jahre vor Inkrafttreten des Code civil,3 während der Begriff „Vertragsfreiheit“ erst im 19. Jahrhundert in der deutsche Fachsprache nachweisbar ist.4 Vor allem aber kann die Vertragsfreiheit über viele Jahrhunderte hinweg kaum als umfassende Gewährleistung im Sinne eines allgegenwärtigen Rechtsprinzips charakterisiert werden: Zum einen verharrte das Vertragsrecht lange im Korsett der Form- und Typenzwänge römisch-rechtlicher Prägung.5 Zum anderen konnten die Facetten der Vertragsfreiheit gerade in den feudalistisch organisierten Gesellschaften des Mittelalters allenfalls im nicht-agrarischen Bereich aufscheinen, wo der Leistungsaustausch nicht vollständig durch Statusverhältnisse geregelt war.6 Hinzu kommt schließlich, dass selbst der Bezugspunkt der Vertragsfreiheit im Laufe der historischen Entwicklung keineswegs einheitlich war.7 Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden zunächst von einem weiten Verständnis der Vertragsfreiheit ausgegangen, um in einem prinzipiellen Zusammenhang aufzeigen zu können, dass zugunsten dieser Freiheit zwei Antriebe bis in die heutige Zeit hinein wirken: Erstens verlangten die praktischen Bedürfnisse des Güteraustauschs und des Wirtschaftsverkehrs frühzeitig nach 3 Vgl. insbesondere zum Décret d’Allarde sowie der loi Le Chapelier nur Schmoeckel, Rechtsgeschichte der Wirtschaft (2008), S. 245 sowie 125 f. und 151; Kaiser, Zum Verhältnis von Vertragsfreiheit und Gesellschaftsordnung während des 19. Jahrhunderts (1972), S. 93 ff. Vgl. auch Ranouil, L’autonomie de la volonté (1980), S. 41 ff. und 84 ff. 4 Köbler, Werden, Wandel und Wesen des deutschen Privatrechtswortschatzes (2010), S. 197 m. w. N. 5 HKK / Rückert (2003), Vor § 1 BGB Rn. 69 f. verweist zudem darauf, dass bis etwa zum Jahr 1800 mit durchgehenden Rechtsprinzipien, wie der Vertragsfreiheit, nicht gerechnet werden könne, weil es bereits an der Konstituierung des Privatrechts als einheitlichem Rechtsgebiet fehle. Ähnlich Decock, Theologians and Contract Law (2013), 108 (no „universal principle of ‘freedom of contract’“). Weitergehend indes Di Fabio, Die Kultur der Freiheit (2005), S. 85: „[A]ls Rechtsinstitution ist die Vertragsfreiheit keine Erfindung des bürgerlichen Zeitalters, aber seine zur Vollendung getriebene Errungenschaft“. Vgl. auch die Analyse von Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), S. 413 ff.: „Der heute normale Zustand weitgehender ‚Vertragsfreiheit‘ hat keineswegs immer bestanden. Und soweit Vertragsfreiheit bestand, hat sie sich keineswegs immer auf dem Gebiet entwickelt, welches sie heute vornehmlich beherrscht“. 6 Z. B. Kaiser, Zum Verhältnis von Vertragsfreiheit und Gesellschaftsordnung während des 19. Jahrhunderts (1972), S. 27; Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang (1999), S. 47; Kötz, Europäisches Vertragsrecht (2015), S. 7 ff. 7 Beispielsweise führten die Kanonisten die vertragliche Bindung auf einseitige Versprechen zurück, so dass diese Freiheit wohl präziser als „Versprechensfreiheit“ zu fassen wäre, vgl. zur Entwicklung des Konsensualvertrags Gordley, The Philosophical Origins of Modern Contract Doctrine (1991), S. 71 ff. und 79 ff.; Simpson, A History of the Common Law of Contract (1975), S. 465 ff.; Decock, Theologians and Contract Law (2013), S. 107 ff.

§ 1 Ideengeschichte der Vertragsfreiheit und Entwicklung des Unionsrechts

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möglichst weitreichender Vertragsfreiheit. Zweitens wurde die Autonomie des Individuums, einschließlich dessen Freiheit zur rechtsgeschäftlichen Selbstbestimmung und -bindung, zunehmend anerkannt.8 Die vorliegende Abhandlung skizziert zunächst das Aufkommen und das Zusammenspiel dieser beiden Kräfte vom römischen Recht bis in das 18. Jahrhundert (A). Während die Vertragsfreiheit Mitte des 19. Jahrhunderts noch als Motor der Bewegung „from status to contract“ begrüßt wurde,9 mehrten sich wenig später Stimmen, die eine Verabsolutierung der Vertragsfreiheit beklagten (B). Auf dieser Grundlage entstanden Gegenströmungen, deren Kritik an ungezügelter Vertragsfreiheit bis heute nachhallt. Erst in der Zusammenschau dieser Trieb- und Gegenkräfte der Vertragsfreiheit wird das Fundament erkennbar, welches das Unionsrecht in seiner Geburtsstunde vorfand und auf dem es sich – unter dem Einfluss der unterschiedlichen Strömungen – beständig fortentwickelt (C). A. Triebkräfte vom römischen Recht bis in das 18. Jahrhundert Unter dem Eindruck praktischer und insbesondere wirtschaftlicher Bedürfnisse gewinnt die Vertragsfreiheit bereits im römischen Recht zunehmend an Bedeutung (I). Dies manifestiert sich namentlich in der graduellen Lockerung der Typenzwänge sowie der partiellen Abkehr von vertragskonstitutiven Formanforderungen. Entscheidend vorangetrieben wird diese Entwicklung indes erst im kanonischen Recht (II). Zentrale Facetten dessen, was heute als Vertragsfreiheit bezeichnet wird – und insbesondere die Inhalts-, Form-, Typenfreiheit –10 konnten sich erst voll entfalten, nachdem im Gefolge der Naturrechtslehre sowie der Aufklärung und der klassischen Ökonomie (III) der übereinstimmende Parteiwille als Begründungsquelle des konsensualen Vertrags identifiziert wurde. I.

Römisches Recht

Der Weg zur primär willensgetragenen und sodann konsensualen Konzeption des Vertrags war lang und nahm seinen Anfang bereits im römischen Recht. 11 Das klassische römische Recht engte die rechtsgeschäftliche Gestaltungsfreiheit freilich noch durch konstitutive Formalia und Typenzwänge ein: Zumeist bildete nicht der Parteiwille allein, sondern zuvörderst die Vornahme rechtsFreilich ist eine primär individualistische Konzeption, welche den menschlichen Willen zum Maß aller Dinge und damit auch zur Legitimation der Vertragsfreiheit erklärt, ein vergleichsweise junges Phänomen, siehe dazu unten A III. 9 Maine, Ancient Law (1861), S. 170: „[T]he movement of the progressive societies has hitherto been a movement from Status to Contract“ (Herv. im Original). 10 Siehe zu den einzelnen Facetten der unionalen Vertragsfreiheit noch eingehend unten Kapitel 2 § 1 B I. 11 Zimmermann, The Law of Obligations (1996), S. 537 ff.; Decock, Theologians and Contract Law (2013), S. 107 ff. 8

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Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

begründender Formalakte – wie etwa der stipulatio – das Fundament, auf dem die vertragliche Obligation entstand.12 Hier bricht sich noch ein archaischer Glaube an die magische Bindungswirkung von feierlichen Formeln und Formzwängen Bahn.13 Eine formlose Übereinkunft der Parteien genügte hingegen nur bei bestimmten, abschließend vorgegebenen Vertragstypen.14 Entsprechend blieben Obligationen, welche diese Abschlussform- und Typenanforderungen nicht wahrten, undurchsetzbar: ex nudo pacto non oritur actio.15 In dem so gesteckten Rahmen genossen freigeborene, nicht in ihrer Geschäftsfähigkeit beschränkte Personen zwar durchaus die Freiheit, über den Abschluss eines Vertrags sowie die Wahl des Vertragspartners zu entscheiden.16 Die inhaltliche Gestaltungsfreiheit wurde hingegen dadurch relativiert, dass nur aus Vereinbarungen geklagt werden konnte, welche den erwähnten Form- und Typenzwängen genügten.17 Die entscheidende Frage lautete insofern, ob von den Parteien nach ihren individuellen Bedürfnissen gestaltete, jedoch von den überkommenen Typen auch nur minimal abweichende Vereinbarungen in die vorgegebenen Kategorien gezwängt werden konnten.18 In der weiteren Entwicklung des römischen Rechts lassen sich jedoch Tendenzen zur Lockerung der Formstrenge und zur umfassenderen Anerkennung privatautonomer Vertragsgestaltungen beobachten. Auf der einen Seite stand dabei die Tendenz zur „Subjektivierung“, im Zuge derer der individuelle Wille der Vertragsschließenden stärker in den Fokus rückte.19 Zudem bildete sich unter dem Eindruck der alltäglichen Erfordernisse des Rechtsverkehrs 12 Zum Ganzen statt vieler Kaser, Das römische Privatrecht I (1971), S. 477 und 484; HKK / Thier (2007), § 311 I BGB Rn. 4 ff.; M.-P. Weller, Die Vertragstreue (2009), S. 70 f. 13 Zimmermann, The Law of Obligations (1996), S. 82; Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit (2000), S. 16; v. Mehren, Formal Requirements, Int. Enc. Comp. L. VII/1 (2008), Ch. 10, S. 6. 14 Statt aller Zimmermann, The Law of Obligations (1996), S. 508. 15 Vgl. D. 2.14.7.4. Zum Ganzen statt vieler Zimmermann, Law of Obligations (1996), S. 508; HKK / Thier (2007), § 311 I BGB Rn. 10. 16 Eingehend Scherrer, Die geschichtliche Entwicklung des Prinzips der Vertragsfreiheit (1948), S. 9 f.; Kaser, Das römische Privatrecht I (1971), S. 477; Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit (2000), S. 16 ff. Dagegen meint Meyer-Cording, Die Rechtsnormen (1971), S. 12 f. pauschal, es „fehlte die erwünschte Vertragsfreiheit hinsichtlich Inhalt, Abschluß, Partnerwahl“. 17 Kaser, Das römische Privatrecht I (1971), S. 477: „Eine Vertragsfreiheit kennt das klassische Schuldrecht zwar als Freiheit sowohl des Abschlusses wie der Inhaltsbestimmung der Verträge (im Rahmen der einzelnen Typen), aber nicht als Freiheit der Parteien in der Schöpfung neuer Vertragstypen“. 18 Zimmermann, Law of Obligations (1996), S. 530. 19 Statt vieler Zimmermann, The Law of Obligations (1996), S. 564; Kegel, GS Lüderitz (2000), S. 347, 351; M.-P. Weller, Die Vertragstreue (2009), S. 72. Beispielsweise konnte der Parteiwille über den formelhaft vorgegebenen Inhalt einer stipulatio hinaus Beachtung finden, indem eigentlich undurchsetzbare, weil formunwirksame pacta herangezogen wurden, Zimmermann, The Law of Obligations (1996), S. 510 f.

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allmählich eine immer größere Variationsbreite formloser Vereinbarungen heraus, die rechtliche Anerkennung fanden.20 Auf der anderen Seite waren die Bedürfnisse eines intensivierten Handelsverkehrs und die Herausbildung des ius gentium ein weiterer bedeutender Antrieb des „Zug[s] zur Formfreiheit“ und somit zu mehr rechtsgeschäftlicher Autonomie.21 Da das ius gentium auch bestimmte vertragliche Vereinbarungen erfasste,22 konnte das attraktive Konzept des formfreien Vertrags von hier aus auf andere Bereiche einstrahlen.23 Wo praktische und insbesondere wirtschaftliche Erfordernisse drängten, wurden die Formzwänge und das Typenkorsett somit zumindest partiell aufgelockert. Freilich lebten die einer umfassenden Anerkennung privater rechtsgeschäftlicher Autonomie hinderlichen Formalismen wie auch die Vertragstypenlehre und das Aktionensystem des römischen Rechts über das Corpus Iuris Civilis noch bis in die frühe Neuzeit fort.24 Dessen ungeachtet deutet sich aber schon in der Entwicklung des römischen Rechts an, dass gerade ein solch „hochentwickeltes Verkehrsrecht“ der vertraglichen Selbstbestimmungsfreiheit der Parteien nicht auf Dauer allzu enge Fesseln anlegen kann.25 II. Römisch-kanonisches Recht Die Entwicklung weg vom römisch-rechtlichen Typenzwang hin zur grundsätzlichen Klagbarkeit und Verbindlichkeit aller Verträge ging vom kanonischen Recht aus.26 Zur Begründung wurde nicht zuletzt auf das biblische 20 Dazu im Einzelnen Zimmermann, The Law of Obligations (1996), S. 508 ff. und insbesondere 537; HKK / Thier (2007), § 311 I BGB Rn. 8 ff. 21 Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit (2000), S. 15 f. Vgl. zu einer – freilich späteren – Lesart des römischen Rechts auch Gordley, Contract in Pre-Commercial Societies and in Western History, Int. Enc. Comp. L. VII/1 (2008), Ch. 2, S. 15: „[C]onsent to any contract creates an obligation under the ius gentium although not one the civil law would enforce“. 22 Vgl. nur D. 1.1.5: „Ex hoc iure gentium introducta […] commercium, emptiones venditiones, locationes conductiones, obligationes institutae: exceptis quibusdam quae iure civili introductae sunt“. 23 Nach Baldus, in: Andrés Santos / Baldus / Dedek (Hrsg.), Vertragstypen in Europa (2011), S. 39 gründet auch das heutige Vertragsverständnis nicht zuletzt darin, dass „schon die römische Klassik den formfreien konsensualen Vertrag aus dem ius gentium der Republik übernommen und ausgebaut hat“. Siehe zur Förderung der Vertragsfreiheit „in Rom durch die allmähliche Internationalisierung des Rechts“ bereits Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), S. 423. 24 Nanz, Die Entstehung des Vertragsbegriffs im 16. bis 18. Jahrhundert (1985), S. 12 und 41; M.-P. Weller, Die Vertragstreue (2009), S. 72. 25 In diesem Sinne auch Scherrer, Die geschichtliche Entwicklung des Prinzips der Vertragsfreiheit (1948), S. 16; Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit (2000), S. 16. 26 Scherrer, Die geschichtliche Entwicklung des Prinzips der Vertragsfreiheit (1948), S. 26 ff. Siehe auch Zimmermann, The Law of Obligations (1996), S. 580 f.: „at the bottom

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Gebot verwiesen, dass man zu seinem Wort und damit auch seiner Vertragserklärung zu stehen habe: „Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein“.27 Unter Verweis auf das Verbot der Lüge forderte bereits Thomas von Aquin, dass Versprochenes grundsätzlich zu halten sei.28 Das kanonische Recht legte hierdurch das Fundament für die umfassende Anerkennung der Vertragsfreiheit.29 Da kanonische Gerichte ihre Zuständigkeit auf weltliche Geschäfte ausdehnten, konnte die weitreichende Gewährleistung der Vertragsinhaltsfreiheit auch für Vereinbarungen im Handelsverkehr in Anspruch genommen werden.30 In der Folgezeit sickerte die von der kanonischen Lehre geprägte Idee der grundsätzlichen Verbindlichkeit aller Verträge in das weltliche Recht ein.31 Neben den praktischen Bedürfnissen des kaufmännischen Verkehrs wird teilweise auch der Herausbildung einer „international lex Mercatoria […] considerable importance in this respect“ zugeschrieben.32 Bereits die Postglossatoren betonten, dass die fehlende Beachtung von Formalitäten im Handelsverkehr nicht die Durchsetzbarkeit eines nudum pactum hindere.33 of […] the principle that all pacts are actionable […] there lies the specific significance attributed by canon lawyers and moral theologians alike to the human will“. Siehe darüber hinaus zur besonderen Bedeutung der Spätscholastiker jüngst Decock, Theologians and Contract Law (2013). 27 Matthäus 5:37 (Lutherbibel 1912). Vgl. zudem Jakobus 5:12 (Lutherbibel 1912): „Es sei aber euer Wort: Ja, das Ja ist; und: Nein, das Nein ist“. Diese Passage aus der Bergpredigt bezieht sich auf das Eidesverbot. Aus Letzterem wurde geschlussfolgert, dass bereits das nicht-eidlich bekräftigte Wort verbindlich und damit einzuhalten sei, siehe nur Zimmermann, The Law of Obligations (1996), S. 542. 28 Vgl. z. B. v. Aquin, Summa Theologica, IIª–IIae q. 110 a. 3 arg. 5: „Praeterea, mendacium est si quis non impleat quod promisit“. Siehe auch Decock, Theologians and Contract Law (2013), S. 123 f. 29 Der Ausgangspunkt der Kanonisten war freilich nicht die konsensuale Vertragsbegründung, sondern vielmehr der Austausch einseitiger Versprechen (promissio), welche die jeweils versprechende Vertragspartei gegenüber der anderen bindet, siehe nur Kegel, GS Lüderitz (2000), S. 347, 354 f.; Landau, FS Nörr (2003), S. 457, 460; Zimmermann, FS Heldrich (2005), S. 467, 468. 30 Scherrer, Die geschichtliche Entwicklung des Prinzips der Vertragsfreiheit (1948), S. 21; Zimmermann, The Law of Obligations (1996), S. 542. 31 Scherrer, Die geschichtliche Entwicklung des Prinzips der Vertragsfreiheit (1948), S. 21; Gordley, Contract in Pre-Commercial Societies and in Western History, Int. Enc. Comp. L. VII/1 (2008), Ch. 2, S. 12. Vgl. auch das Resümee von Zimmermann, The Law of Obligations (1996), S. 540: „Already by the end of the Middle Ages, every informal agreement had, for practical purposes, become legally binding“ (Herv. im Original). 32 Zimmermann, The Law of Obligations (1996), S. 540. Auch Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), S. 423 nennt in diesem Kontext die „Internationalisierung“ und die „Handelsbedürfnisse“ als Antriebskräfte. Zurückhaltender mit Blick auf das „Geschichtsbild“ einer einheitlichen lex mercatoria hingegen z. B. Scherner, ZRG GA 118 (2001), 148 ff.; Cordes, ZRG GA 118 (2001), 168 ff. 33 Dazu eingehend statt vieler Zimmermann, The Law of Obligations (1996), S. 540; Landau, FS Nörr (2003), S. 457, 471 f.

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Und im Jahr 1607 stellt Antoine Loysel mit Blick auf die zu dieser Zeit in Frankreich vorherrschenden coutumes prägnant heraus: „On lie les bœufs par les cornes, et les hommes par les paroles; et autant vaut une simple promesse ou convenance, que les stipulations du droit romain.“34

Diese Entwicklung war keineswegs auf die kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen beschränkt: Auch das common law erkannte formlosen Verträgen grundsätzlich Bindungswirkung zu.35 III. Von Naturrechtslehre und Aufklärung bis zur klassischen Ökonomie Den Siegeszug der Vertragsfreiheit trieben die Naturrechtslehre und die Ideen der Aufklärung entscheidend voran, weil sie die Grundlagen für eine individualistische, vom Menschen her gedachte Rechtfertigung dieser Freiheit lieferten. Weitreichende Privatautonomie im Vertragsrecht postulierte bereits Hugo Grotius, der den individuellen Willen des Versprechenden in den Mittelpunkt rückte und sich damit gegen den Formalismus des römischen Rechts stellte.36 Als Ausdruck der naturgegebenen Autonomie des Menschen erscheint die Freiheit, Verträge zu schließen, auch in den Werken Samuel Pufendorfs,37 Christian Thomasius’ 38 und Christian Wolffs.39 Hier werden erstmals die einzelnen zentralen Facetten der Vertragsfreiheit deutlich: So postuliert Pufendorf weitreichende Abschluss- sowie Inhaltsfreiheit und auch das Wolff’sche Vertragsverständnis baut auf die Autonomie der Parteien, in freier Selbstbestimmung Verträge auszugestalten.40 Die Naturrechtslehre ebnet damit den Weg für eine umfassende Anerkennung der Vertragsfreiheit und des Vertrags als Instrumente menschlicher Selbstbestimmung.

34 Loysel, Institutes coutumières I (1607, 1846), S. 359. Siehe zu den im Beweisrecht wurzelnden Einschränkungen der Formfreiheit Scherrer, Die geschichtliche Entwicklung des Prinzips der Vertragsfreiheit (1948), S. 23 f. 35 Vgl. nur Winter v. Foweracres (1618) 2 Rolle Rep. 19, 39: „A contract by parole on good consideration is as binding [fort] as a covenant by deed“ (zitiert nach Simpson, A History of the Common Law of Contract (1975), S. 468). Siehe auch Ibbetson, A Historical Introduction to the Law of Obligations (1999), S. 74 ff. 36 Vgl. etwa Grotius, De iure belli ac pacis (1625, 1919), Lib. II Cap. XI § 4, 3 (S. 255): „Possunt autem naturaliter deliberati animi alia esse signa praeter stipulationem, aut si quid ei simile ad actionem pariendam lex civilis postulat“. Eingehend zur Autonomieprämisse Grotius’ z. B. Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit (2000), S. 27 ff. Siehe ferner nur Pound, Yale L. J. 18 (1909), 454, 455. 37 Zu nennen ist insbesondere De Iure Naturae et Gentium Libri Octo (1672). 38 Siehe vor allem Institutiones Iurisprudentiae Divinae (1688). 39 Siehe insbesondere Institutiones juris naturae et gentium (1750). 40 Siehe nur Nanz, Die Entstehung des Vertragsbegriffs im 16. bis 18. Jahrhundert (1985), S. 151 f. und 169; Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit (2000), S. 30 f.; Stoffels, Gesetzlich nicht geregelte Schuldverträge (2001), S. 59 und 61, jeweils m. w. N.

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Im siècle des lumières erhielt die Vertragsfreiheit dabei weiteren Auftrieb durch die auf Grotius und Jean-Jacques Rousseau41 zurückgehende Vorstellung, dass der Staat und seine Rechtsordnung ihrerseits auf einem „Gesellschaftsvertrag“ beruhen. Damit gewann damit die Idee an Überzeugungskraft, dass sich der vernunftbegabte Mensch auch auf anderen Ebenen nach seinem Belieben durch Verträge binden können muss. Die Vertragsfreiheit geriet damit zum universellen „Hebel dieser Welt“, der sowohl die Ordnung von Staat und Gesellschaft als auch die individuelle Persönlichkeitsentfaltung ermöglicht.42 Weil ein Vertrag – der kantischen Terminologie folgend – seinem Wesen nach ein „Act der vereinigten Willkür“ ist, muss allerdings immer „die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit“ in Ausgleich gebracht werden.43 Die individualistische Sicht auf die Freiheit, Verträge einzugehen, bereitete zugleich den Boden für die Willenstheorie, derzufolge der Vertragsschluss die Übereinstimmung des tatsächlichen subjektiven Willens im Sinne eines consensus ad idem oder „meeting of the minds“ erfordert.44 Damit war der Grundstein für das moderne Verständnis des konsensualen Vertrags gelegt,45 und fortan konnte ebendiese Willensübereinkunft der Parteien den Bezugspunkt der Vertragsfreiheit bilden. Schließlich stellte die klassische Ökonomie dieser individualistischen Legitimation alsbald eine (gesamt)wirtschaftliche Rechtfertigung der Vertragsfreiheit zur Seite. In „Wealth of Nations“ begründete Adam Smith, dass die allgemeine Wohlfahrt gesteigert wird, wenn die Marktakteure ihre jeweiligen wirtschaftlichen Eigeninteressen frei verfolgen.46 Das Wirken dieser „unsichtbaren Hand“ setzt die Freiheit zum konsensualen, rechtsgeschäftlichen Rousseau, Du Contrat Social (1762, 1963). Vgl. Meyer-Cording, Die Rechtsnormen (1971), S. 13 f.: Der Vertrag wurde „zum juristischen Universalwerkzeug“. 43 Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797, 1907), AA VI, S. 230 und 271. 44 Statt vieler Ranouil, L’autonomie de la volonté (1980), S. 10 und 84 ff.; Whittaker, ERCL 7 (2011), 371, 373 f.; M.-P. Weller, GS Hübner (2012), S. 435 ff. Obschon heute im Interesse des Verkehrsschutzes auch objektive Elemente – in Deutschland etwa im Rahmen der „Erklärungstheorie“ – berücksichtigt werden, bedeutet dies in der Sache keine Abkehr von der Konstruktion des Geltungsgrundes des Vertrags: Der übereinstimmende Wille der Vertragsparteien bildet nach wie vor das Fundament des vertraglichen Bandes, statt aller Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung (1996), S. 316. 45 Der Weg hin zu einer konsensualen Vertragskonzeption wurde freilich schon früher gebnet: So findet sich das Erfordernis einer Annahmeerklärung z. B. bereits bei Wolff, dazu eingehend Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit (2000), S. 29 ff. und insbesondere 33. 46 Smith, Wealth of Nations I (1976, 2004), S. 456: „[E]very individual necessarily labours to render the annual revenue of the society as great as he can. He generally, indeed, neither intends to promote the public interest, nor knows how much he is promoting it. By […] directing that industry in such a manner as its produce may be of the greatest value, he 41 42

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Austausch von Gütern und Dienstleistungen notwendig voraus. Vor diesem Hintergrund verteidigte Smith diese Freiheit gegenüber hoheitlicher Einflussnahme.47 Hinzu trat alsbald eine utilitaristische Begründung der Vertragsfreiheit: Beispielsweise sah Jeremy Bentham die umfassende rechtsgeschäftliche Autonomie als Instrument zur Maximierung individuellen Glücks in einer Welt knapper Ressourcen: „[N]o man of ripe years and of sound mind, acting freely, and with his eyes open, ought to be hindered, with a view to his advantage, from making such bargain, in the way of obtaining money, as he thinks fit: nor, (what is a necessary consequence) any body hindered from supplying him, upon any terms he thinks proper to accede to.“48

Diese Sichtweise prägte im 19. Jahrhundert ganz entscheidend die Haltung des common law zur Vertragsfreiheit,49 wie auch die berühmte – und nahezu wortlautgleiche – Stellungnahme von Lord Jessel, in Printing and Numerical Registering Co. v Sampson verdeutlicht.50 Kontinentaleuropäische Juristen rückten die ökonomischen Vorteile der Vertragsfreiheit ebenfalls frühzeitig in den Mittelpunkt: So betonte v. Tevenar bereits im Jahr 1801 die gesamtwirtschaftliche Notwendigkeit dieser Freiheit und plädierte dafür, Beschränkungen nur nach einer Abwägung der Vor- und Nachteile für die gesamte „gemein[e] Wohlfahrth“ zuzulassen.51 Ökonomische Argumentationsmuster klingen selbst in Dernburgs Pandektenlehrbuch an, intends only his own gain; and he is in this, as in many other cases, led by an invisible hand to promote an end which was no part of his intention“ (Herv. d. Verf.). 47 Smith, Wealth of Nations I (1976, 2004), S. 687 sowie S. 435: Nicht zuletzt mit Blick auf das „obvious and simple system of natural liberty“ besteht „perfect security that the freedom of trade, without any attention of government, will always supply us“ (Herv. d. Verf.). 48 Bentham, Defence of Usury: Letter I, January, 1787 (1816), S. 3 (Herv. im Original) führt dort ferner aus: „Among the various species or modifications of liberty, of which on different occasions we have heard so much in England, I do not recollect ever seeing any thing yet offered in behalf of the liberty of making one’s own terms in money-bargains. From so general and universal a neglect, it is an old notion of mine, as you well know, that this meek and unassuming species of liberty has been suffering much injustice“. Siehe zur utilitaristischen Legitimation der Vertragsfreiheit statt vieler Kötz, Europäisches Vertragsrecht (2015), S. 10. 49 Vgl. nur Pound, Yale L. J. 18 (1909), 454, 456; Atiyah, The Rise and Fall of Freedom of Contract (1985), S. 221 und 299; Trebilcock, The Limits of Freedom of Contract (1993), S. 21 sowie 241; Cheshire, Fifoot & Furmston’s Law of Contract (2012), S. 22 f.; Halsbury’s Laws (2012) Vol. 22 Rn. 202. 50 Vgl. Printing and Numerical Registering Co. v Sampson (1875) LR 19 Eq 462, 465 (Lord Jessel): „[M]en of full age and competent understanding shall have the utmost liberty in contracting, and […] their contracts, when entered freely and voluntarily, shall be held sacred and shall be enforced by the Courts of justice“. 51 v. Tevenar, Versuch über die Rechtsgelahrheit (1801), S. 20 und 46: „Das wahre Interesse des Staates wird mehr durch Industrie, und Freyheit in Geschäften, als durch viele Einschränkungen der Privatangelegenheiten befördert […]. Die Freyheit der Handlung,

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wenn dort die Wirkmacht der Vertragsfreiheit im Wirtschaftsverkehr beschrieben wird: „Indem sie jedem gestattet, das eigene Interesse rücksichtslos zu wahren, spornt sie die Kräfte und fördert sie die Entwicklung des Verkehrs“.52

B. Verabsolutierung und Kritik im 19. und 20. Jahrhundert Im 19. Jahrhundert erkannte Sir Henry Maine in der Vertragsfreiheit nicht nur die Vorbedingung individueller und wirtschaftlicher Entfaltung, sondern zugleich den Antrieb des gesamtgesellschaftlichen Fortschritts „from status to contract“.53 Vor diesem Hintergrund nimmt es kaum Wunder, dass das Motiv der Verabsolutierung dieser „modernen“ Freiheit sowohl in den kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen54 als auch im common law55 gängig wurde. Grenzenlose rechtsgeschäftliche Privatautonomie gab es freilich auch im 19. Jahrhundert weder in Deutschland noch in Frankreich oder im Vereinigten Königreich.56 Wenn diese Zeit zuweilen zu einem Hort der – je nach Standpunkt entweder unverfälschten oder aber ungezügelten – Vertragsfreiund die Befugniß dadurch Rechte und Verbindlichkeiten zuwege zu bringen, muß durch Gesetze nur in dem Fall eingeschränkt werden, wenn solche der gemeinen Wohlfahrth, oder, nach einem Durchschnitt genommen, der handelnden Person schädlich ist; solchemnach der Nachtheil, welcher daher entsteht, daß aus diesen Handlungen Gerechtsame und Verbindlichkeiten verstattet werden, den Vortheil überwiegt, wenn es bey der natürlichen Form und Freyheit der Handlung gelassen wird “ (Herv. d. Verf.). 52 Dernburg, Pandekten (1903), S. 48. 53 Maine, Ancient Law (1861), S. 170. Gleichsinnig sodann z. B. Sidgwick, The Elements of Politics (1891), S. 82: „Suppose contracts freely made and effectively sanctioned, and the most elaborate social organisation becomes possible“. Aufgrund ihres engen Bezuges zur allgemeinen Selbstbestimmungsfreiheit forderten liberale Vordenker, wie Mill, On Liberty (1859), S. 183 f. darüber hinaus, dass die Vertragsfreiheit schon um ihrer selbst willen gewährleistet werden müsse: „[T]he liberty of the individual, in things wherein the individual is alone concerned, implies a corresponding liberty in any number of individuals to regulate by mutual agreement such things as regard them jointly“ (Herv. d. Verf.). Prägnant formuliert Pound, Yale L. J. 18 (1909), 454, 457 hinsichtlich der Grundhaltung Mills und seiner Mitstreiter zur Vertragsfreiheit: „They adopted it as a means, and made it an end“. 54 So meint mit Blick auf das deutsche Privatrecht etwa Dernburg, Pandekten (1903), S. 49: „In der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts suchte man die Vertragsfreiheit absolut durchzuführen“. Ähnliche Stellungnahmen finden sich auch mit Blick auf das französische Privatrecht, siehe statt aller Flour / Aubert / Savaux, Les Obligations 1: L’acte juridique (2010), Rn. 69 und 98. 55 Halsbury’s Laws (2012) Vol. 22 Rn. 202: „In the nineteenth century, […] two ideas led the common law to the view that there should be almost complete freedom and sanctity of contract“. Gleichsinnig etwa Wilson, RabelsZ 28 (1964), 644. Auch Lord Mance spricht in PST Energy 7 Shipping LLC & Anor v OW Bunker Malta Ltd & Anor [2016] UKSC 23 in diesem Zusammenhang von einer „era when freedom of contract and trade were axiomatically accepted as beneficial“.

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heit stilisiert wird, so spiegelt dies eher eine verbreitete Wahrnehmung denn die Rechtswirklichkeit wider. Dennoch genoss die rechtsgeschäftliche Privatautonomie vergleichsweise große Freiräume (I). In der Folge mehrten sich indes Stimmen, die auf die Gefahren ungehemmter Vertragsfreiheit hinwiesen: Zum einen drohten ausgerechnet privatautonom geschaffene Kartelle die Grundlagen dieser Freiheit selbst zu zerstören (II). Zum anderen wurde eine Einhegung der Vertragsfreiheit frühzeitig unter Verweis auf die oftmals sehr unterschiedlichen Ausgangsbedingungen der Vertragsparteien gefordert. Hier kündigte sich eine Gegenbewegung an, die insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an Momentum gewinnen sollte (III). Diese plakativ als Aufstieg und Fall der Vertragsfreiheit57 umschriebene Entwicklung lässt sich dabei sowohl im common-law- als auch im civil-law-Rechtskreis nachvollziehen und führt zur Ausgangslage, die das Unionsprivatrecht zur Stunde seiner Geburt vorfand. I.

Vertragsfreiheit auf dem Scheitelpunkt?

Detaillierte und umfassende Begrenzungen der Vertragsfreiheit sucht man in den ursprünglichen Fassungen der „großen“ Zivilgesetzbücher vergebens. Sowohl das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch als auch der französische Code Prägnant bemerkte schon Byles, Observations on Usury Laws (1845), S. 73: „[T]he laws of all nations frequently recognise the claims of the weaker party to extraordinary legislative protection“. Gleichsinnig Epstein, in: Buckley (ed.), The Fall and Rise of Freedom of Contract (1999), S. 25, 58 f., der unter anderem darauf verweist, dass selbst in der oft als Beispiel – vermeintlich – uferloser Vertragsfreiheit angeführten Leitentscheidung Printing and Numerical Registering Co. v Sampson (1875) LR 19 Eq 462, 465 (Lord Jessel) sehr wohl auf die Grenzen dieser Freiheit hingewiesen wird. Die bereits von Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), S. 413, eingenommene Sichtweise, dass die Vertragsfreiheit „in keiner Rechtsordnung eine schrankenlose“ sei, bestätigen mit Blick auf die Privatrechtsentwicklung im 19. Jahrhundert insbesondere die Abhandlungen von Repgen, Die soziale Aufgabe des Privatrechts (2001), S. 24 ff. sowie 519 ff.; Hofer, Freiheit ohne Grenzen? (2001), S. 1 ff.; Zimmermann, Current Leg. Prob. 58 (2005), 415, 419 ff.; Auer, Der privatrechtliche Diskurs der Moderne (2014), S. 4. Auch nachdem die Vertragsfreiheit in Deutschland im Jahr 1919 in Art. 152 Abs. 1 WRV verankert wurde, stellte das Reichsgericht heraus: „Danach hat also der Grundsatz der Vertragsfreiheit keine unantastbare Geltung; er wird vielmehr nur ‚nach Maßgabe der Gesetze‘ geschützt, so daß Einschränkungen, sofern sie durch ‚Gesetz‘ erfolgen zulässig sind“, RG Urt. v. 14.7.1924 – Az. III 634/24, RGSt 58, 269 f. Vgl. auch RG Urt. v. 14.7.1924 – Az. III 634/24, RGSt 58, 269, 270; RG Urt. v. 23.10.1923 – Az. IV 567/23, RGSt 57, 384. Siehe zum französischen Privatrecht schließlich nur Rouhette, in: Rabello / Sarcevic (eds.), Freedom of Contract and Constitutional Law (1998), S. 23, 31; Leveneur, AJDA 1998, 676 ff.; Bürge, Das französische Privatrecht im 19. Jahrhundert (1991), S. 413 ff. 57 So der Titel des Werkes von Atiyah, The Rise and Fall of Freedom of Contract (1979), der freilich den Aufstieg ebenso wie den vermeintlichen Fall der Vertragsfreiheit jeweils weiter zurückdatiert. 56

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civil nehmen das Ideal rechtlicher Gleichheit und Freiheit zum Ausgangspunkt und erheben die Vertragsfreiheit zum Leitmotiv des Schuldvertragsrechts. Zugleich existieren durchaus Instrumente zur Reaktion auf eine fehlerhafte Willensbildung, und es werden darüber hinaus, insbesondere im Fall von Gesetzesverstößen, keineswegs alle Vertragsergebnisse hingenommen. Sozialpolitisch motivierte Korrekturen blieben dagegen ursprünglich vor allem „helfendem und schützenden Spezialrecht […] und dem entsprechenden öffentlichen Recht“ überlassen.58 Dieser Privatrechtskonzeption liegt das Idealbild freier und im Wesentlichen gleicher Vertragsparteien zugrunde, die ihre jeweiligen Interessen im Zuge der Vertragsverhandlungen zu wahren vermögen und deren selbstbestimmte Entscheidung für den Vertragsschluss daher regelmäßig zu respektieren ist.59 Auch das englische common law des 19. Jahrhundert baute auf dieser Annahme auf, wie Lord Jessel in Printing and Numerical Registering Co. v Sampson prägnant herausstellte: „[M]en of full age and competent understanding shall have the utmost liberty in contracting, and […] their contracts, when entered freely and voluntarily, shall be held sacred and shall be enforced by the Courts of justice“.60

Insbesondere sah das englische common law die Vertragsfreiheit ebenfalls sowohl individualrechtlich als auch gerade ökonomisch legitimiert.61 Diese marktbezogene und an der individuellen Freiheit zur Selbstbindung orientierte Rechtfertigung62 wurde in den USA durch den Supreme Court um eine weitere Dimension ergänzt: Im ausgehenden 19. Jahrhundert begann der Supreme Court, die Vertragsfreiheit erstmals als verfassungsrechtliche Gewährleistung gegenüber Freiheitsbeschränkungen in gliedstaatlichen Gesetzen in Stellung zu bringen.63 Während dieser rund vierzig Jahre währenden Loch58 Rückert, JZ 2003, 749, 751 nennt in diesem Zusammenhang etwa das Abzahlungsgesetz v. 16. Mai 1894, RGBl. 1894, 450. Eingehend mit weiteren Beispielen Zimmermann, Current Leg. Prob. 58 (2005), 415, 422 ff. Vgl. auch schon v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts I (1840), S. 371, der Schutz gegen soziale Härten „nicht auf dem Boden des Privatrechts, sondern auf dem des öffentlichen Rechts“ gewährleisten wollte. 59 Eingehend statt aller HKK / Rückert (2003), Vor § 1 BGB Rn. 38 ff. m. w. N. 60 Printing and Numerical Registering Co. v Sampson (1875) LR 19 Eq 462, 465 (Herv. d. Verf.). Wie bereits angemerkt, befindet sich Lord Jessel damit auf einer gedanklichen Linie mit Bentham, Defence of Usury: Letter I, January, 1787 (1816), S. 3: „[N]o man of ripe years and of sound mind, acting freely, and with his eyes open, ought to be hindered, with a view to his advantage, from making such bargain, in the way of obtaining money, as he thinks fit: nor, (what is a necessary consequence) any body hindered from supplying him, upon any terms he thinks proper to accede to.“ (Herv. im Original). Vgl. auch zuvor schon Byles, Observations on Usury Laws (1845), S. 54 ff. 61 Siehe nur Halsbury’s Laws (2012) Vol. 22 Rn. 202. 62 Vgl. zur individual-rechtlichen Begründung der Vertragsfreiheit nur die Ausführungen von Supreme Court Justice Thompson in Ogden v Saunders, 25 U.S. 213, 222 (1827). 63 Den Ausgangspunkt bildete die Entscheidung Allgeyer v. Louisiana, 165 U.S. 578, 593 (1897), in der erstmals der verfassungsrechtliche Schutz der Vertragsfreiheit durch die

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ner-Ära64 erklärte der Supreme Court wiederholt Rechtsakte der US-Bundesstaaten mit dem Argument für verfassungswidrig, es bestehe „no reasonable ground for interfering with […] the right of free contract“.65 Die Lochner-Ära markierte den Scheitelpunkt einer Welle – vermeintlich – absoluter rechtsgeschäftlicher Privatautonomie.66 Angesichts dieser Tendenzen wurden auf beiden Seiten des Atlantiks vermehrt Stimmen laut, die unter verschiedenen Gesichtspunkten eine Einhegung der Vertragsfreiheit forderten. II. Bedrohung der Vertragsfreiheit durch wirtschaftliche Macht Die Ruf nach einer Begrenzung der Vertragsfreiheit war nicht zuletzt von der Einsicht getragen, dass es „das ewige Dilemma der Privatautonomie [ist], daß diese immer wieder durch ungleiche Machtverteilung in Frage gestellt wird“.67 Dass ungezügelte Vertragsfreiheit ihre eigenen Funktionsvoraussetzungen beeinträchtigen kann, wurde bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts offenbar, als im Zuge der Industrialisierung Kartelle entstanden.68 Die beteiligten Unternehmen beseitigten den Wettbewerb durch privatautonome Vereinbarung und konzentrierten auf diese Weise wirtschaftliche „due process clause“ des XIV. Amendments zur US-Verfassung bejaht wurde. Dazu statt aller Mayer, Mercer L. Rev. 60 (2009) 563. 64 Namensgeberin war die Leitentscheidung Lochner v New York, 198 U.S. 45 (1905). Dazu statt vieler Farnsworth, in: Rabello / Sarcevic (eds.), Freedom of Contract and Constitutional Law (1998), S. 261, 262 ff. 65 Geprägt wurde diese Formel in Lochner v New York, 198 U.S. 45, 57 (1905), wo der Supreme Court mit Blick auf Höchstarbeitszeiten für Bäcker in New York weiter ausführte, es gebe „no contention that bakers as a class are not equal in intelligence and capacity to men in other trades […] or that they are not able to assert their rights and care for themselves without the protecting arm of the state, interfering with their independence of judgment and of action“. Wegen Verstoßes gegen die verfassungsrechtlich garantierte Vertragsfreiheit wurden in der Folgezeit z. B. Gesetze betreffend Mindestlöhne, Gewerkschaftszugehörigkeit und Kinderarbeit für unwirksam erklärt, vgl. nur Adkins v Children‘s Hospital, 261 U.S. 525 (1923); Adair v United States, 208 U.S. 161 (1908); Hammer v Dagenhart, 247 U.S. 251 (1918). Diese Rechtsprechungslinie endete erst im Jahr 1937 mit der Entscheidung West Coast Hotel Co. v Parrish, 300 U.S. 379 (1937). Anlass dieser Rechtsprechungsänderung war eine Verschiebung der politischen Mehrheitsverhältnisse im Supreme Court und der Einfluss der „New Deal Revolution“, eingehend hierzu Mayer, Liberty of Contract (2011), S. 97 ff. und 105 ff. 66 Zu der auch im US-amerikanischen Diskurs verbreiteten These der „Verabsolutierung“ der Vertragsfreiheit während der Lochner-Ära will indes nicht recht passen, dass der Supreme Court durchaus eine Differenzierung und Abwägung vornahm, siehe z. B. Adkins v Children’s Hospital, 261 U.S. 525, 546 (1923): „There is, of course no such things as absolute freedom of contract. It is subject to a great variety of restraints. Freedom of contract is, nevertheless, the general rule and restraint the exeption“. 67 Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts II (1979), S. 10. 68 Siehe zur Entwicklung dies- und jenseits des Atlantiks nur Schmoeckel, Rechtsgeschichte der Wirtschaft (2008), S. 245 ff. m. w. N.

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Macht – insbesondere zur einseitigen Preisfestsetzung. Gerade von der Warte der Vertragsfreiheit aus besehen, stellt sich daher das „Problem der privaten Macht“:69 Die Ausübung der Vertragsfreiheit setzt schließlich voraus, „daß die einzelnen sich mit der Macht zur Selbstbestimmung gegenüberstehen und nicht durch die Macht des einen statt der beiderseitigen Selbstbestimmung eine einseitige Fremdbestimmung eintritt“.70

Wer als Vertragsprätendent auf Kartellanten in einem Markt ohne Wettbewerb trifft, kann nicht auf alternative Angebote ausweichen und muss entweder die Vertragskonditionen der Kartellbeteiligten akzeptieren oder vom Vertragsschluss absehen. Die Antwort auf dieses Machtungleichgewicht hält das Kartellrecht bereit: Weil nur der freie Wettbewerb „willensbeugende und entmachtende Wirkung“ entfaltet, gilt es ihn wiederherzustellen.71 In den USA nahm diese Entwicklung mit dem Sherman Antitrust Act 72 bereits im Jahr 1890 ihren Anfang und wurde alsbald im Vereinigten Königreich73 und – deutlich später – auch in kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen rezipiert.74 Indem das Kartellrecht den Wettbewerb aufrechterhält, schafft es echte Wahlmöglichkeiten und damit die äußeren Voraussetzungen für die Ausübung der Vertragsfreiheit. Allerdings adressiert das Kartellrecht seinem Wesen nach grundsätzlich nur Machtungleichgewichte auf Ebene bestimmter Märkte. Im ausgehenden 19. Jahrhundert wurde zunehmend erkannt, dass auch auf individualvertraglicher Ebene eine Imparität bestehen kann, die einem Vertragsteil echte Selbstbestimmung erschwert oder gar unmöglich macht. Hierin

Böhm, Die Justiz 1928, 324. Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts II (1979), S. 10. Bereits Böhm, Die Justiz 1928, 324, 334 bemerkte, dass die „freie Willensbetätigung einem machtüberlegenen Partner gegenüber in der Regel zur bedeutungslosen, leeren Fiktion wird“. 71 Statt vieler Mestmäcker, JZ 1964, 441, 445. Siehe zuvor schon Böhm, in: Institut für ausländisches und internationales Wirtschaftsrecht (Hrsg.), Kartelle und Monopole im modernen Recht I (1961), S. 1, 22. 72 15 U.S.C. 73 Vgl. bereits Mogul Steamship Co Ltd v McGregor, Gow & Co [1892] AC 25. 74 Besonders hervorzuheben ist, dass gerade deutsche Nationalökonomen Kartelle anfangs noch als willkommene Instrumente sahen, um durch Überproduktion geschaffene Wirtschaftskrisen abzumildern, vgl. nur Kleinwächter, Die Kartelle (1883), S. 143 sowie 157 („Kinder der Noth“). In Deutschland legalisierte das RG Urt. v. 4.2.1897 – Az. VI 307/96, RGZ 38, 155, 158 zudem im Ergebnis Kartelle, wenngleich es sich zivilrechtliche Nichtigkeitssanktionen in Konstellationen vorbehielt, in denen das Kartell „ersichtlich auf die Herbeiführung eines thatsächlichen Monopols und die wucherische Ausbeutung der Konsumenten abgesehen ist, oder diese Folgen doch durch die getroffenen Vereinbarungen und Einrichtungen thatsächlich herbeigeführt werden“. Erst mit der Verordnung gegen Missbrauch wirtschaftlicher Machtstellungen v. 2.11.1923 gewann das Kartellrecht auch in Deutschland schärfere Konturen, siehe hierzu sowie zur weiteren Entwicklung statt vieler Schmoeckel, Rechtsgeschichte der Wirtschaft (2008), S. 255 ff. m. w. N. 69 70

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gründet die Forderung, dass das Vertragsrecht fortan selbst eine „soziale Aufgabe“ übernehmen soll.75 III. „Soziale Aufgabe“ und „Krise“ des Vertragsrechts Der Ruf nach einer Einschränkung der Vertragsfreiheit im Interesse des Schutzes bestimmter Parteien war wesentlich durch die Entdeckung unterschiedlicher „millieu[s] contractuel[s]“ motiviert: Jede dieser Gruppen fände bei der Ausübung der Vertragsfreiheit andere Ausgangsbedingungen vor.76 Insbesondere angesichts wirtschaftlicher, aber auch informationeller und intellektueller Unterschiede sei zu hinterfragen, ob die in dem jeweiligen Punkt unterlegene Partei überhaupt eine selbstbestimmte Vertragsentscheidung treffen kann.77 Die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen und die daraus potenziell resultierende Imparität der Vertragspartner sind freilich keine neuen Entdeckungen, sondern wurden beispielsweise schon von Adam Smith diskutiert.78 Weite Verbreitung fand die Forderung nach dem Schutz sogenannter schwächerer Vertragsparteien allerdings erst Mitte des 19. Jahrhunderts unter dem Eindruck des durch die industrielle Revolution angestoßenen gesellschaftlichen Wandels. In Deutschland bezweifelte Eugen Dühring bereits im Jahr 1865, „ob zwischen dem wirthschaftlich Ohnmächtigen und der ökonomischen Uebermacht ein in materieller Hinsicht freier Vertrag denkbar sei“.79 Die daran anknüpfende Forderung nach einer Intervention zugunsten des „schwächeren“ Vertragsteils wurde zunächst auf Arbeitsverhältnisse bezogen und alsbald auch auf andere Bereiche des Vertragsrechts ausgedehnt. So gab Otto v. Gierke im Zuge der Beratungen des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches bereits allgemein zu bedenken, dass Vertragsfreiheit eine „fürchterliche Waffe in der Hand des Starken, ein stumpfes Werkzeug in der Siehe vor allem v. Gierke, Die soziale Aufgabe des Privatrechts (1889). Eingehend zu dieser Entwicklung Repgen, Die soziale Aufgabe des Privatrechts (2001), S. 3 ff. 76 Vgl. Lévy, La vision socialiste du droit (1926), S. 99. 77 Deutlich etwa Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), S. 454: „Das Resultat der Vertragsfreiheit ist […] in erster Linie: die Eröffnung der Chance, durch kluge Verwendung von Güterbesitz auf dem Markt diesen unbehindert durch Rechtsschranken als Mittel der Erlangung von Macht über andere zu nutzen“. 78 Smith, Wealth of Nations I (1976, 2004), S. 83 f. führt mit Blick auf die vertragliche Vereinbarung der Lohnhöhe aus: „What are the common wages of labour, depends everywhere upon the contract usually made between those two parties, whose interests are by no means the same. The workmen desire to get as much, the masters to give as little, as possible […]. It is not, however, difficult to foresee which of the two parties must, upon all ordinary occasions, have the advantage in the dispute, and force the other into a compliance with their terms“. 79 Dühring, Capital und Arbeit (1865), S. 157 f. vertrat freilich zudem rassistische sowie antisemitische Lehren und propagierte in späteren Schriften einen „Sozialismus des arischen Volkes“. 75

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Hand des Schwachen“ sein könne und betont die „soziale Aufgabe des Privatrechts“.80 Das Vertragsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches nahm sich jedoch dieser Aufgabe zunächst nicht an und genügte insoweit der Savigny’schen Forderung, dass Abhilfe gegen soziale Härten „nicht auf dem Boden des Privatrechts, sondern auf dem des öffentlichen Rechts“ entspringen müsse.81 Daher klang der Ruf nach einer stärkeren „sozialen“ Einfärbung des Zivilrechts auch Jahrzehnte später beispielsweise in den Werken Max Webers,82 Gustav Radbruchs 83 und Franz Wieackers 84 fort. Ähnliche Forderungen wurden Anfang des 20. Jahrhunderts auch in Frankreich85 sowie im common-lawRechtskreis formuliert.86 In den USA gewann die Kritik dabei insbesondere nach dem Ende der verfassungsrechtlich begründeten Dominanz der Ver80 v. Gierke, Die soziale Aufgabe des Privatrechts (1889), S. 28 f. Auch Dernburg, Pandekten (1903), S. 48 stellt heraus: „Die Vertragsfreiheit ist die Grundlage des Obligationenrechts […]. Aber sie birgt Gefahren, wenn die Lage der Vertragsschließenden eine sehr ungleiche ist“. 81 Vgl. v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts I (1840), S. 371: „Daher kann der Reiche den Armen untergehen lassen durch […] harte Ausübung des Schuldrechts, und die Hülfe, die dagegen Statt findet, entspringt nicht auf dem Boden des Privatrechts, sondern auf dem des öffentlichen Rechts“. Siehe zu „sozialem Recht“ im Schuldrecht des BGB aber auch Repgen, Die soziale Aufgabe des Privatrechts (2001), S. 213 ff. 82 Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), S. 454: „Die Entwicklung der rechtlich geordneten Beziehungen zur Kontraktgesellschaft und des Rechts selber zur Vertragsfreiheit […] pflegt man als […] Zunahme individualistischer Freiheit zu charakterisieren […]. [D]ie formal noch so große Mannigfaltigkeit der zulässigen Kontraktschemata und auch die formale Ermächtigung, nach eigenem Belieben […] Kontraktinhalte zu schaffen, gewährleistet an sich in keiner Art, daß diese formalen Möglichkeiten auch tatsächlich Jedermann zugänglich sind […]. Die relative Zurückdrängung des durch Gebots- und Verbotsnormen angedrohten Zwanges durch steigende Bedeutung der ‚Vertragsfreiheit‘ […] ist formell gewiß eine Verminderung des Zwangs […]. Inwieweit dadurch materiell das Gesamtquantum von ‚Freiheit‘ innerhalb einer gegebenen Rechtsgemeinschaft vermehrt wird, ist aber durchaus eine Frage der konkreten Wirtschaftsordnung“ (Herv. d. Verf.). 83 Radbruch, Rechtsphilosophie (1932), S. 144: „Ferner aber konnte nur in einer Gesellschaft gleich Mächtiger […] die Vertragsfreiheit eine Vertragsfreiheit für alle sein. Wenn sich die Kontrahenten als Besitzende und Besitzlose gegenüberstehen, wird die Vertragsfreiheit zur Diktatfreiheit des sozial Mächtigen, zur Diktathörigkeit des sozial Ohnmächtigen […]. Wird so die juristische Vertragsfreiheit zu sozialer Vertragsknechtung, so entsteht für das Gesetz die Aufgabe, durch Einschränkungen der Vertragsfreiheit die soziale Vertragsfreiheit wiederherzustellen“. 84 Vgl. Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher und die Entwicklung der modernen Gesellschaft (1953), S. 8 und 18, der die Vertragsfreiheit „im Früh- und Hochkapitalismus“ zunächst als „Freiheit zur Unterwerfung unter die größere wirtschaftliche Macht“ begreift und sodann in der Mitte des 20. Jahrhunderts aber „die formale Freiheitsethik, die der deutschen Privatrechtsordnung zugrundelag, in eine materiale Ethik sozialer Verantwortung zurückverwandelt“ sieht. 85 Siehe nur Ripert, FS Gény II (1934), S. 347, 348 f. m. w. N., der allerdings bereits die damaligen gesetzgeberischen Interventionen im Vertragsrecht als zu weitgehend kritisiert.

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tragsfreiheit während der Lochner-Ära an Fahrt. In den Fokus gerieten dabei zunächst einseitig gestellte Standardklauseln in Verträgen,87 die freilich bereits seit dem 19. Jahrhundert gebräuchlich und zuweilen gerade im Hinblick auf die Vertragsfreiheit als problematisch empfunden worden waren.88 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde auch das deutsche Bürgerliche Recht um Sonderregelungen, beispielsweise im Bereich des Wohnraummietrechts, ergänzt.89 Zugleich entwickelten Rechtsprechung und Gesetzgebung auf beiden Seiten des Atlantiks schrittweise Spezialregelungen zugunsten bestimmter Vertragsparteien, wie insbesondere Verbraucher.90 Die damit verbundene zunehmende Einhegung der Vertragsfreiheit ist zuweilen als Umkehrung der von Maine beschriebenen Entwicklung „from status to contract“ gedeutet worden: Nicht das vertraglich Vereinbarte, sondern vielmehr der Status der Vertragspartner, etwa als Verbraucher oder Ar-

86 Deutlich etwa Byles, Sophisms of Free-trade and Popular Political Economy Examined (1872), S. 79: „It is a sound principle of universal law established by the wisdom of more than two thousand years, that where in the necessary imperfection of human affairs, the parties to a contract or dealing do not stand on an equal footing […] the law should step in to succor the weaker party“. Vgl. ferner nur Crozier, The Wheel of Wealth (1906), S. 377: „There must always be an inequality of bargaining power between masters and men in every contract“. 87 Unter Verweis auf Ungleichgewichtslagen begründete vor allem Kessler, Colum. L. Rev. 43 (1943), 629, 632 f., die Schutzbedüftigkeit „schwächerer Vertragsparteien“ vor einseitig gestellten, vorformulierten Vertragsklauseln: „Standard contracts are typically used by enterprises with strong bargaining power. The weaker party, in need of the goods or services, is frequently not in a position to shop around for better terms […]. His contractual intention is but a subjection more or less voluntary to terms dictated by the stronger party, terms whose consequences are often understood only in a vague way, if at all“ (Herv d. Verf.). Auch behandelt z. B. Schroeder Music Publishing Co Ltd v Macaulay [1974] 1 WLR 1308, 1316 (Lord Diplock) das einseitige Stellen der Vertragsbedingungen als „a classic instance of superior bargaining power“. 88 Vgl. zur Entstehung sowie zur Inhaltskontrolle allgemeiner Geschäftsbedingungen im 19. Jahrhundert Hellwege, Allgemeine Geschäftsbedingungen (2010), S. 19 ff. sowie 138 ff. m. w. N. 89 Zu dieser Entwicklung statt vieler Basedow, FS Lazar (2014), S. 109, 118 f.; Hosemann, in: Jansen/Zimmermann (eds.), Commentaries on European Contract Laws (2018), Art. 1:102 Rn. 11 ff. 90 Siehe zu den Anfängen dieser Entwicklung, insbesondere im Vereinigten Königreich, etwa Wilson, RabelsZ 28 (1964), 644, 646 ff. sowie aus der Rechtsprechung nur Lowe v Lombank [1960] 1 All ER 611 (Lord Diplock); Schroeder Music Publishing Co Ltd v Macaulay [1974] 1 WLR 1308, 1316 (Lord Diplock). Vgl. auch George Mitchell (Chesterhall) Ltd v Finney Lock Seeds Ltd [1983] QB 284, 296 f. (Lord Denning). In den USA setzte John f. Kennedy dieses Thema im Jahr 1962 unter dem programmatischen Titel „Protecting the Consumer Interest“ auf die politische Agenda, vgl. Kennedy, Special Message to the Congress on Protecting the Consumer Interest, March 15, 1962, Public Papers of the President, S. 235 ff.

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beitnehmer, sei fortan ausschlaggebend.91 Während die autonome Gestaltung des Vertrags den Parteien zunehmend entzogen werde, träten gesetzlich – und damit heteronom – bestimmte Vertragsinhalte in den Vordergrund.92 Mit Blick auf diese Tendenz ist im 20. Jahrhundert wiederholt eine „Krise“ des Vertrags und der Vertragsfreiheit diagnostiziert worden: Über die Grenzen ihrer nationalen Rechtsordnungen hinweg beklagten beispielsweise Henri Battifol,93 Ernst Kramer 94 und Patrick Atiyah95 einstimmig die Zurückdrängung des Vertrags als wichtigster Ausdrucksform privater rechtsgeschäftlicher Autonomie und damit einen graduellen Bedeutungsverlust der Vertragsfreiheit.96 Das Unionsprivatrecht entstand just zu einer Zeit, als die Privatrechtsordnungen der Mitgliedstaaten begannen, – je nach Standpunkt – ihrer „sozialen Aufgabe“ nachzukommen bzw. eine „Krise“ der Vertragsfreiheit einzuläuten. C. Ausgangsbasis und Herausforderungen im Unionsrecht In der Zusammenschau der ideengeschichtlichen Trieb- und Gegenkräfte der Vertragsfreiheit wird zugleich das Fundament sichtbar, welches das Unionsprivatrecht in seiner Geburtsstunde vorfand und auf dem es sich fortan weiterentwickelt hat. Das europäische Integrationsprojekt war zwar frühzeitig von der Einsicht getragen, dass der freie Wettbewerb als Grundlage und Funktionsvoraussetzung der Vertragsfreiheit erhalten werden muss. Das zuvörderst der Marktordnung verpflichtete Recht der EWG schützte aber die Vertragsfreiheit selbst zunächst nur reflexhaft dort, wo diese Freiheit dem Binnen91 Vgl. frühzeitig etwa Pound, ABA J. 16 (1930), 553 ff. („The New Feudalism“); Ripert, FS Gény II (1934), S. 347, 348 f. Auch bemerkt bereits Kahn-Freund, Mod. Law Rev. 30 (1967), 635: „Contemporary writers are fond of reiterating that, under the impact of modern developments, Western society is moving from ‚contract‘ to ‚status‘“. Siehe zu diesem „movement from contract to status“ auch Atiyah, The Rise and Fall of Freedom of Contract (1979), S. 716; Bruns, JZ 2007, 385. 92 Eine solche Tendenz beklagte bereits Ripert, FS Gény II (1934), S. 347, 348 f.: „Nous connaissons aujourd’hui des contrats qui naissent comme autrefois sous le signe de la liberté mais ne peuvent y vivre. La volonté n’a d’autre force que la soumission au régime légal […]. Ainsi le contrat perd sa force en tant que créateur d’obligations […]. [P]rennant prétexte de la faiblesse présumée de l’un des combattants, le législateur a réglé minutieusement les conditions du contrat“ (Herv. d. Verf.). 93 Vgl. zur „crise du contrat et sa portée“ Battifol, Archives Phil. dr. 13 (1968), S. 13 ff. 94 Kramer, Die „Krise“ des liberalen Vertragsdenkens (1974). 95 Atiyah, The Rise and Fall of Freedom of Contract (1979), S. 716 konstatiert „that freedom of contract, or even contract itself, has declined in importance“ und führt dies unter anderem auf „the declining importance attached to the value of free choice“ (Herv. d. Verf.) zurück. Vgl. mit Blick auf das US-amerikanische Recht auch schon Gilmore, The Death of Contract (1974). 96 Siehe zum wiederkehrenden Motiv der „Krise“ des Vertragsrechts zudem bereits Reinhardt, FS Schmidt-Rimpler (1957), S. 115 ff. m. w. N.

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marktziel förderlich war.97 Bis heute sucht man eine explizite Garantie der Vertragsfreiheit im Unionsrecht und sogar im Unionsprivatrecht vergebens.98 Eine Begründung dafür liefert – neben der Kompetenzverteilung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten – gerade der Entstehungszeitpunkt dieser Materie: Das Privatrecht der Union kam zu einer Zeit auf, in der Restriktionen der Vertragsfreiheit im Namen sozialpolitischer Ziele, wie etwa des Verbraucherschutzes, in den mitgliedstaatlichen Privatrechtsordnungen im Vordringen waren. So nimmt es kaum Wunder, dass diese Bestrebungen auch ihren Weg auf die Agenda der EWG fanden: Das erste Programm „für eine Politik zum Schutz und zur Unterrichtung der Verbraucher“ wurde bereits im Jahr 1972 angestoßen und im Jahr 1975 verabschiedet.99 Auf Grundlage des zweiten Programms100 gediehen sodann zentrale Rechtsakte des Unionsprivatrechts, die sich dem rollenspezifischen Schutz bestimmter Vertragsparteien, wie z. B. Verbrauchern, widmen.101 Paradigmatisch dafür sind die Haustürgeschäfterichtlinie aus dem Jahr 1985102 und die Verbraucherkreditrichtlinie aus dem Jahr 1987, die ausweislich ihrer Erwägungsgründe zugleich das „Funktionieren des Gemeinsamen Marktes“ und den „Schutz […] der Verbraucher“ sicherstellen sollen. Auch in anderen Bereichen gehen binnenmarktzentrierte Regelungsziele, wie die Wahrung gleicher Wettbewerbsbedingungen einerseits, und Schutzanliegen andererseits nahtlos ineinander über, wie etwa das unionale Handelsvertreterrecht verdeutlicht.103 Vor allem erstarkte das zunächst allein wettbewerbspolitisch motivierte primärrechtliche Verbot der Entgeltdiskrimimierung in Art. 119 EWG (nun Art. 157 AEUV) just in den Anfangsjahren Insoweit zutreffend Comparato / Micklitz, in: Bernitz / Groussot / Schulyko (eds.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), S. 121, 128: „It cannot be disconnected from the internal market, from the freedom to do business across borders“. Siehe auch Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85, 102. 98 Dazu sogleich noch eingehend unten Kapitel 2 § 1. 99 Entschließung des Rates vom 14. April 1975 betreffend ein Erstes Programm der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft für eine Politik zum Schutz und zur Unterrichtung der Verbraucher, ABl. 1975 C 92/1. 100 Entschließung des Rates vom 19. Mai 1981 betreffend ein zweites Programm der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft für eine Politik zum Schutz und zur Unterrichtung der Verbraucher, ABl. 1981 C 133/1. 101 Siehe zur „Verbraucherrolle“ als Unterscheidungskriterium nur Medicus, FS Kramer (2004), S. 211 ff.; Zimmermann, Current Leg. Prob. 58 (2005), 415, 418. 102 Richtlinie 85/577/EWG des Rates vom 20. Dezember 1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, ABl. 1985 L 372/31. 103 Vgl. nur Erwägungsgrund Nr. 2 Handelsvertreterrichtlinie: „Die Unterschiede zwischen den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Handelsvertretungen beeinflussen die Wettbewerbsbedingungen und die Berufsausübung innerhalb der Gemeinschaft spürbar und beeinträchtigen den Umfang des Schutzes der Handelsvertreter“. 97

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des Unionsprivatrechts zu einer unmittelbar in Arbeitsvertragsbeziehungen wirksamen und damit dem individuellen Schutz vor Benachteiligung dienenden Norm.104 Hier zeigt sich bereits eine deutliche Tendenz, worauf das Hauptaugenmerk des Unionsgesetzgebers beim Erlass privatrechtsrelevanter Rechtsakte gerichtet war. Anders als vergleichbare Vorschriften des nationalen Privatrechts dienen die vorgenannten bereichsspezifischen unionalen Regelungen jedoch nicht nur der Ergänzung eines seit langem bestehenden, kohärenten und dem Leitprinzip der Vertragsfreiheit verpflichteten Zivilrechtssystems. Stattdessen setzt sich das Mosaik des Unionsprivatrechts überhaupt erst aus diesen punktuellen Regelungsfeldern gewidmeten Einzelrechtsakten zusammen. Das unionale Schuldvertragsrecht steht deshalb bis heute vor der Herausforderung, dass diese Materie von Anbeginn auf die Ausgestaltung – und häufig auf die Beschränkung – einer Vertragsfreiheit gerichtet ist, deren Standort und Gewährleistungsgehalt im Unionsrecht im Dunklen bleibt. Im Interesse eines kohärenten, freiheitlichen Unionsprivatrechtssystems ist es indes unerlässlich, dass die Vertragsfreiheit als Fundament und Richtschnur des unionalen Schuldvertragsrechts zunächst klar umrissen wird, bevor hierauf ein immer dichterer Wildwuchs an Rechtsakten entsteht. Erste Ansatzpunkte für die Verortung der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie in der Unionsrechtsordnung liefert dabei die historische Umschau: Zugunsten der umfassenden Anerkennung der Vertragsfreiheit wirken mit der ökonomischen und der individualrechtlichen Triebfeder gleich zwei ideengeschichtlich tief verwurzelte Kräfte.105 Ausgehend von der Erkenntnis, dass alle hochentwickelten Verkehrsgesellschaften der umfassenden Gewährleistung der Vertragsfreiheit bedürfen, liegt es nahe, dass die Vertragsfreiheit auch in der Rechtsordnung der Europäischen Union eine wirtschaftliche und eine individualfreiheitsrechtliche Legitimation erfährt. Besonderes Augenmerk verdient dabei zunächst die enge Verbindung zwischen der Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union und der Gewährleistung der Vertragsfreiheit.

104 Siehe zur ursprünglichen Funktion des Verbots der Entgeltdiskriminierung nur GA Dutheillet de Lamothe Schlussanträge v. 29.4.1971 – Rs. 80/70 (Defrenne I), Slg. 1971, 445, 455 f. Vgl. sodann die einen Arbeitsvertrag mit einer staatlichen Gesellschaft betreffende Entscheidung EuGH Urt. v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 (Defrenne II), Slg. 1976, 455 Rn. 4 ff. Siehe sodann zur Erstreckung auf private Arbeitgeber nur EuGH Urt. v. 31.3.1981 – Rs. 96/80 (Jenkins), Slg. 1981, 911 Rn. 18 ff.; EuGH Urt. v. 17.5.1990 – Rs. C-262/88 (Barber), Slg. 1990, I-1889 Rn. 19 f.; EuGH Urt. v. 6.10.1993 – Rs. C-109/91 (Ten Över), Slg. 1993, I-4879 Rn. 11 ff.; EuGH Urt. v. 28.9.1994 – Rs. C-200/91 (Coloroll), Slg. 1994, I-4389 Rn. 18 ff. 105 Siehe erneut oben A und B.

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§ 2 Vertragsfreiheit und Wirtschaftsverfassung der Union § 2 Vertragsfreiheit und Wirtschaftsverfassung der Union

Wie der Rückblick auf die Ideengeschichte gezeigt hat, zwangen die Erfordernisse des Wirtschaftsverkehrs frühzeitig zu einer immer umfassenderen Gewährleistung der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie. Da das europäische Integrationsprojekt angetreten ist, einen gemeinsamen Markt ohne Binnengrenzen zu schaffen, ist die ökonomische Triebfeder der Vertragsfreiheit in der Europäischen Union besonders ausgeprägt. Namentlich steht bereits die Wirtschaftsverfassung der EU (A) in einer engen Wechselbeziehung zu dieser Freiheit (B): Einerseits ermöglicht erst die Vertragsfreiheit überhaupt die in Art. 119 Abs. 1 AEUV verankerte „offen[e] Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“. Andererseits schafft und erhält die unionale Wirtschaftsverfassung die faktischen Grundlagen für die umfassende Ausübung aller Facetten der Vertragsfreiheit.106 A. Begriff und Gestalt der EU-Wirtschaftsverfassung Der Begriff der Wirtschaftsverfassung ist zuerst in den Wirtschaftswissenschaften verwendet worden.107 Nach der insbesondere durch Walter Eucken geprägten Lesart ist unter der Wirtschaftsverfassung „die Gesamtentscheidung über die Ordnung des Wirtschaftslebens eines Gemeinwesens“ zu verstehen.108 Als rechtswissenschaftliche Kategorie bezeichnet die Wirtschaftsverfassung die Summe aller grundlegenden Normen, welche die Wirtschaftsordnung bestimmen.109 Die Frage nach der Existenz und konkreten Gestalt der Wirtschaftsverfassung hat dabei rasch eine europäische Dimension erreicht.110 Ein ausdrückliches Bekenntnis der Europäischen Union und ihrer 106 G. Wagner, in: Blaurock / Hager (Hrsg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), S. 13, 19 f. spricht in diesem Zusammenhang plastisch von „Vertragsfreiheit im anspruchsvollen Sinne“. 107 Der Begriff wird z. B. frühzeitig von Sombart, Der moderne Kapitalismus I (1902), S. 68 und 336 bemüht. 108 Eucken, Die Grundlagen der Nationalökonomie (1965), S. 52. Siehe zu den unterschiedlichen Definitionen und Konzeptionen der Wirtschaftsverfassung statt vieler Nörr, Die Republik der Wirtschaft I (1999), S. 81 ff. m. w. N. 109 Statt aller Rittner / Dreher, Europäisches und deutsches Wirtschaftsrecht (2008), § 2 Rn. 20 ff. In der deutschen Debatte wird der Normenbestand der Wirtschaftsverfassung teilweise auf das Verfassungsrecht im engeren Sinne beschränkt. Mit Blick auf die Wirtschaftsverfassung des Unionsrechts wird hingegen – zu Recht – ein weiteres Verständnis zugrunde gelegt, siehe zum Ganzen nur Hatje, in: v. Bogdandy / Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht (2009), S. 801, 804 ff. m. w. N. 110 Siehe zur Diskussion um eine europäische Wirtschaftsverfassung z. B. bereits Ophüls, ZHR 124 (1962), 136 ff. Siehe aus jüngerer Zeit nur Basedow, Von der deutschen zur europäischen Wirtschaftsverfassung (1992), S. 9 f. und 26 ff.; Poiares Maduro, We the Court: The European Court of Justice and the European Economic Constitution (1998); Paganetto, in: ders. (ed.), The Political Economy of the European Constitution (2007),

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Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

Mitgliedstaaten zur „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ brachte indes erst der Vertrag von Maastricht.111 Wenngleich der Vertrag von Lissabon auch soziale Ziele herausstellt, hat sich an der nunmehr in Art. 119 Abs. 1 AEUV enthaltenen fundamentalen Systementscheidung112 zugunsten einer marktwirtschaftlichen Wettbewerbsordnung nichts geändert.113 Insbesondere wird das Konzept der europäischen Wirtschaftsverfassung auch von den Generalanwälten und Richtern des EuGH zugrunde gelegt.114 Allerdings sind weder Art. 119 Abs. 1 AEUV noch die Vorgängerregelung des EG-Vertrags „Bestimmungen, die den Mitgliedstaaten klare und unbedingte Verpflichtungen auferlegen“ oder gar individuelle Rechte der Marktbürger begründen: Vielmehr wird nur eine allgemeine wirtschaftsverfassungsrechtliche Leitlinie aufgestellt.115. Unmittelbare normative Wirkmacht entfalten dagegen die Instrumente, welche die „offen[e] Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ herstellen und aufrechterhalten sollen. Doch welche Elemente bilden die Strukturprinzipien der Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union? Mangels einer Verfassung im engeren Sinne sind die Determinanten zuvörderst im unionalen Primärrecht zu suchen: Zu den Ecksteinen der EU-Wirtschaftsverfassung zählen neben den Grundfreiheiten des Binnenmarktes nach Art. 28 ff. AEUV vor allem die unionalen Wettbewerbsregeln der Art. 101 ff. AEUV. Sie bilden laut Generalanwalt Jääskinen „ein Schlüsselelement der Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union“116 und stellen nach Auffassung des EuGH somit „grundlegende Bestimmung[en] dar, die für die Erfüllung der Aufgaben der Gemeinschaft und insbesondere für das Funktionieren des Binnenmarktes unerlässlich“ sind.117

S. 3 ff.; Debarge / Georgopoulos / Rabaey, La Constitution économique de l’Union européenne (2008); Dreher, JZ 2014, 185, 186. 111 Vgl. Art. 3a Abs 1, Art. 102a EGV. 112 So schon zum EWG-Vertrag Basedow, Von der deutschen zur europäischen Wirtschaftsverfassung (1992), S. 26 ff. 113 Ohnehin strebte bereits Art. 2 EGV ein „hohes Maß an sozialem Schutz“ an. Siehe auch Basedow, EuZW 2008, 225; Riesenhuber, GS Wolf (2011), S. 123, 129. 114 Siehe nur GA Jääskinen Schlussanträge v. 11.12.2014 – Rs. C-352/13 (CDC), EU: C:2014:2443 Rn. 27. Vgl. auch EuGH Urt. v. 9.9.2003 – Rs. C-198/01 (CIF), Slg. 2003 I-8055 Rn. 47. Besonders herausgestellt wird die Bedeutung der EU-Wirtschaftsverfassung ferner z. B. durch Poiares Maduro, We the Court: The European Court of Justice and the European Economic Constitution (1998) sowie Lenaerts, DVBl. 2014, 1417. 115 Vgl. nur EuGH Urt. v. 3.10.2000 – Rs. C-9/99 (Echirolles Distribution), Slg 2000, I-8207 Rn. 25 („allgemeine[r] Grundsatz“). Dessen ungeachtet sind die in Art. 119 Abs. 1 AEUV verwendeten Rechtsbegriffe durchaus justiziabel, Hatje, in: v. Bogdandy / Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht (2009), S. 801, 810. 116 GA Jääskinen Schlussanträge v. 11.12.2014 – Rs. C-352/13 (CDC), EU:C:2014: 2443 Rn. 27. 117 Z. B. EuGH Urt. v. 1.6.1999 – Rs. C-126/97 (Eco Swiss), 1999 I-3055 Rn. 36.

§ 2 Vertragsfreiheit und Wirtschaftsverfassung der Union

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Zudem hat die Wirtschaftsverfassung der EU nicht zuletzt durch die GRCh eine bislang wenig beachtete, freiheitsgrundrechtliche Dimension gewonnen: Die GRCh kodifiziert insbesondere mit der unternehmerischen Freiheit nach Art. 16 sowie dem Eigentum gemäß Art. 17 wirtschaftlich bedeutende Grundrechte.118 Mithilfe dieser Instrumente steckt das Unionsrecht den Rahmen der EU-Wirschaftsverfassung sowohl für die Union selbst als auch für ihre Mitgliedstaaten ab. Angesichts ihrer primärrechtlichen Natur können die zentralen Bausteine der EU-Wirtschaftsverfassung tief in die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen hineinwirken und kraft des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts nationale Wirtschaftsverfassungen partiell überformen.119 In der Summe ergibt sich daraus eine unionsweit bindende liberale Wirtschaftsverfassung.120 Vor diesem Hintergrund ist die – in Deutschland allein auf das Grundgesetz bezogene –121 These völliger wirtschaftspolitischer Neutralität der Mitgliedstaaten angesichts des Einflusses der unionalen Wirtschaftsverfassung kaum haltbar: Allen mitgliedstaatlichen Gestaltungsspielräumen zum Trotz hat das Unionsrecht eine Systementscheidung zugunsten einer dem Wettbewerb verpflichteten – sozialen – Marktwirtschaft getroffen und sichert diese Wirtschaftsverfassung primärrechtlich ab.122 B. Verhältnis zur Vertragsfreiheit und zu ihren Funktionsvoraussetzungen Die Vertragsfreiheit entfaltet in der Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union – zusammen mit der Gewährleistung des Eigentums und anderer subjektiver Rechte –123 zuvörderst eine Ermöglichungsfunktion: Der Markt als „Ort […], an dem sich durch Zusammentreffen von Angebot und Nachfrage die Preisbildung vollzieht“,124 setzt voraus, dass sowohl auf Anbieter- als auch auf Nachfragerseite die individuelle Entscheidung über den Abschluss Siehe zur Bedeutung der Unionsgrundrechte der GRCh in der EU-Wirtschaftsverfassung Lenaerts, DVBl. 2014, 1417, 1418. 119 Statt vieler Ruffert, AöR 134 (2009), 197, 201 m. w. N. Ablehnend indes Jungbluth, EuR 2010, 471 ff., der allerdings allein auf Art. 119 Abs. 1 AEUV abhebt und die diversen Konkretisierungen und Flankierungen der unionalen Wirtschaftsverfassung – etwa durch die Unionsgrundrechte – übergeht. 120 Im Ergebnis ebenso schon Sodan, JZ 1998, 421, 425. Calliess, JbJZWiss. 2000 (2001), S. 85, 108 spricht treffend von „Normen, die den vom Grundgesetz gewährten Spielraum im Hinblick auf die Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung in Richtung auf ein marktwirtschaftliches Modell hin einschränken“. 121 Vgl. nur BVerfG Urt. v. 1.3.1979 – Az. 1 BvR 532/77 u. a., BVerfGE 50, 290, 336 ff. 122 Statt vieler Hatje, in: v. Bogdandy / Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht (2009), S. 801, 809 ff. A. A. Jungbluth, EuR 2010, 471 ff. und insbesondere 489, der die „These des BVerfG von der wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes“ sogar für „aktueller denn je“ hält. 123 Siehe nur Mestmäcker / Schweizer, Europäisches Wettbewerbsrecht (2014), § 3 Rn. 4. 124 Gabler Wirtschafts-Lexikon (1983), Markt, S. 222. 118

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Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

von Verträgen und die Auswahl des Vertragspartners autonom gebildet und sodann auch rechtlich anerkannt wird.125 Die als Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union in Art. 119 Abs. 1 AEUV verankerte „offen[e] Marktwirtschaft“ ist damit von der Gewährleistung der Vertragsfreiheit abhängig und kann nur durch diese Freiheit überhaupt praktisch wirksam werden.126 Eine ähnliche Verbindungslinie besteht zwischen der Vertragsfreiheit und dem freien Wettbewerb als weiteres zentrales Element der unionalen Wirtschaftsverfassung. Freier Wettbewerb entsteht erst, wo die Marktakteure ihre Handlungsfreiheiten im Wirtschaftsverkehr gebrauchen und Verträge entsprechend ihrer individuellen Präferenzen schließen.127 Dieser Interaktionsprozess kann sich nur entfalten, wenn die Rechtsordnung allen Beteiligten gestattet, autonome Entscheidungen über die Wahl ihres Vertragspartners sowie über das „Ob“ und das „Wie“ des Vertragsschlusses zu treffen: Erst diese umfassende „Ausübung der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie führt zum Wettbewerb“.128 Mit Blick auf die Unionsrechtsordnung bezeichnet Generalanwalt Wahl den freien Wettbewerb daher als „Korollar“ der Vertragsfreiheit.129 Ebenso wie für den Markt ist die Vertragsfreiheit demnach für den freien Wettbewerb schlechthin konstitutiv. Zugleich besteht hier eine bedeutsame Wechselbeziehung: Während der freie Wettbewerb einerseits der Vertragsfreiheit als Grundlage bedarf, so schafft, erhält und erweitert er andererseits die Auswahlmöglichkeiten der Marktakteure.130 Hierdurch legt der Wettbewerb die Basis für eine Vertragsfreiheit im anspruchsvollen Sinne, die auf die Bereitstellung von Alternativen – sowohl hinsichtlich der Auswahl des Vertragspartners als auch des Vertragsinhalts – angewiesen ist.131 Ein Mehr an Vgl. zur Funktion der „Wirtschaftsermöglichung“ bereits Fleischer, Informationsasymmetrie im Vertragsrecht (2001), S. 186 f. 126 Basedow, AcP 200 (2000), 445, 486; Hatje, in: v. Bogdandy / Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht (2009), S. 801, 811 („Grundbedingung eines marktwirtschaftlichen Systems“); G. Wagner, in: Blaurock / Hager (Hrsg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), S. 13, 17. Vgl. aus ökonomischer Perspektive etwa Fleischer, Informationsasymmetrie im Vertragsrecht (2001), S. 178 ff. sowie z. B. Hermalin / Katz / Craswell, Contract Law, in: Polinsky / Shavell (eds.), Handbook of Law and Economics I (2007), S. 7: „The Essence of a free-market economy is the ability of private parties to enter into voluntary agreements that govern the economic exchange between them“. 127 Z. B. Mestmäcker, JZ 1964, 441, 443; Mestmäcker / Schweizer, Europäisches Wettbewerbsrecht (2014), § 3 Rn. 4; Möschel, FS Mestmäcker (2006), S. 355, 366. Vgl. zur europäischen Wirtschaftsverfassung bereits Basedow, Von der deutschen zur europäischen Wirtschaftsverfassung (1992), S. 6 ff.; Rittner / Dreher, Europäisches und deutsches Wirtschaftsrecht (2008), § 2 Rn. 6 ff. 128 Mestmäcker, AcP 168 (1968), 235. 129 GA Wahl Schlussanträge v. 12.2.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:85 Rn. 105. 130 So bereits L. Raiser, Das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (1935), S. 277; Mestmäcker, JZ 1964, 441, 445 f. Siehe auch MünchKommBGB / Busche (2015), §§ 145 BGB Rn. 11. 125

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Wettbewerb bedeutet ein Mehr an Wahlmöglichkeiten und bietet den Marktakteuren damit größere tatsächliche Spielräume für die Ausübung aller Facetten ihrer Vertragsfreiheit. Hinzu kommt, dass rechtsgeschäftliche Privatautonomie die Konzentration von Macht in den Händen bestimmter Akteure ermöglicht, was den Wettbewerb und damit den Gebrauch der Vertragsfreiheit durch andere Akteure beeinträchtigen kann.132 Indem es die „entmachtende“ Wirkung des Wettbewerbs erhält,133 schützt das Kartellrecht der Europäischen Union zugleich die Grundlagen der Vertragsfreiheit.134 So besehen setzt die in Art. 119 Abs. 1 AEUV verbürgte unionale Wirtschaftsverfassung die Vertragsfreiheit als gegeben voraus und dient zugleich der Schaffung, Erhaltung und Stärkung ihrer Funktionsvoraussetzungen. Im Lichte dieser Interaktion von Vertragsfreiheit und Wettbewerb lässt sich die Wettbewerbsordnung der Europäischen Union treffend als die „Zusammenführung von Autonomie, Eigennutz und Machtbegrenzung durch das Recht“ beschreiben.135 C. Fazit Die Vertragsfreiheit ist ein zentraler Pfeiler der Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union, da ohne sie weder freier Wettbewerb noch überhaupt eine offene Marktwirtschaft möglich ist. Die Ausschaltung der Vertragsfreiheit in den Rechtsordnungen der EU und ihrer Mitgliedstaaten wäre demnach mit der Systementscheidung in Art. 119 Abs. 1 AEUV unvereinbar. Die Vertragsfreiheit ist aus Sicht der unionalen Wirtschaftsverfassung konstitutiv für das Funktionieren des Binnenmarktes sowie für die Wirkmacht des freien Wettbewerbs und der Verkehrsfreiheiten. Insoweit erfährt diese Freiheit in der EU-Rechtsordnung eine institutionelle, binnenmarktbezogene Legitimation. Die ideengeschichtliche Annäherung an die Vertragsfreiheit hat gezeigt, dass neben die wirtschaftliche im Laufe der Zeit auch eine individualrechtli131 In diesem Sinne bereits Basedow, AcP 200 (2000), 445, 486; G. Wagner, in: Blaurock / Hager (Hrsg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), S. 13, 19 f. 132 Statt aller Mestmäcker / Schweizer, Europäisches Wettbewerbsrecht (2014), § 3 Rn. 12. 133 Mestmäcker, JZ 1964, 441, 445. Siehe zum Wettbewerb als „Entmachtungsinstrument“ bereits Böhm, in: Institut für ausländisches und internationales Wirtschaftsrecht (Hrsg.), Kartelle und Monopole im modernen Recht I (1961), S. 1, 22. 134 Zu den Nachteilen, die das unionale Wettbewerbsrecht zu verhindern sucht, zählt EuGH Urt. v. 21.5.2015 – Rs. C-352/13 (CDC), EU:C:2015:335 Rn. 43 entsprechend die „Beschränkung der Vertragsfreiheit durch [ein] Kartell, die dazu führt, dass es für die Käufer unmöglich wird, ihren Bedarf zu einem nach den Gesetzen des Marktes gebildeten Preis zu decken“ (Herv. d. Verf.). Vgl. wiederum auch Basedow, LM § 8 AGB-Gesetz Nr. 30, der im Kontext der Klausekontrolle herausstellt, dass ungehemmte Vertragsfreiheit dort „zur Willkür“ zu werden droht, wo das „Korrelat der machtbeugenden Wirkung des Wettbewerbs fehlt“. 135 Vgl. Basedow, Von der deutschen zur europäischen Wirtschaftsverfassung (1992), S. 13.

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Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

che, aus der Autonomie des Menschen fließende Rechtfertigung getreten ist: Die Freiheit, Verträge zu schließen, wird demnach anerkannt, weil sie Ausdruck der Selbstbestimmung und Persönlichkeitsentfaltung des vernunftbegabten Individuums in der rechtsgeschäftlichen Sphäre ist. Hierin besteht die individualistische Legitimation der Vertragsfreiheit: Soweit sie Ausdruck des freien Willens und der Selbstbestimmung der Person ist, muss diese Freiheit bereits um ihrer selbst willen gewährleistet werden. Doch erkennt das Unionsrecht auch diese individualrechtliche Dimension der Vertragsfreiheit an? Dies führt zunächst zur Frage, inwieweit die Rechtsordnung der Europäischen Union von der Prämisse der natürlichen Selbstbestimmungs- und Willensfreiheit des Menschen ausgeht und die Handlungsform des „Vertrages“ als Instrument zur Verwirklichung rechtsgeschäftlicher Selbstbestimmung anerkennt.

§ 3 Selbstbestimmung und Vertrag als unionsrechtliche Kategorien § 3 Selbstbestimmung und Vertrag als unionsrechtliche Kategorien

Vertragsfreiheit baut notwendig auf der Willensfreiheit und der Selbstbestimmung des Menschen auf.136 Diese Konzepte haben indes in unterschiedlichen Disziplinen einen schweren Stand: Beispielsweise hinterfragt die Neurobiologie wie auch die Verhaltensökonomie die menschliche Fähigkeit zur rechtsgeschäftlichen Selbstbestimmung in einzelnen Bereichen oder gleich insgesamt.137 Da eine detaillierte Aufgliederung der zahlreichen Diskussionsstränge den Rahmen dieser Untersuchung sprengen würde, begnügt sich die vorliegende Darstellung mit der ökonomisch fundierten Erkenntnis, dass Gradmesser der Selbstbestimmung nur beschränkte, nicht aber vollkommene Rationalität sein kann: Weil typischerweise Entscheidungen unter Unsicherheit getroffen werden und die Ressourcen des Entscheidenden zudem begrenzt sind, kann es nur um die jeweils menschenmögliche autonome Nutzung von Handlungsspielräumen gehen.138 136 Statt vieler Mestmäcker, JZ 1964, 441; Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts II (1979), S. 1; Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers (1998), S. 208; Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang (1999), S. 52; auch Auer, Materialisierung, Flexibilierung, Richterfreiheit (2005), S. 12 ff.; M.-P. Weller, Die Vertragstreue (2009), S. 156. 137 Vgl. zur neurobiologischen Sicht auf die Fähigkeit, Finanzdienstleistungsverträge in bestimmten Altersstufen abzuschließen nur Weierich/Kensinger / Munnell et al., SCAN 6 (2011), 195. Siehe statt vieler auch Mankowski, AcP 211 (2011), 153 („Verändert die Neurobiologie die rechtliche Sicht auf Willenserklärungen?“); Cording / Roth, NJW 2015, 26 („Zivilrechtliche Verantwortlichkeit und Neurobiologie – ein Widerspruch?“). Vgl. zu den Implikationen der Verhaltensökonomie statt vieler Fleischer / Schmolke / Zimmer, in: Fleischer / Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht (2011) S. 9, 12 ff.

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Von hier ausgehend ist der Frage nachzuspüren, inwieweit das Unionsrecht die so verstandene Selbstbestimmungfähigkeit der Marktbürger postuliert (A). Für die Untersuchung der Vertragsfreiheit im Binnenmarkt ist darüber hinaus die unionale Konzeption des Vertrags (B) von fundamentaler Bedeutung. Das Vertragsverständnis bestimmt die Reichweite sowie den Gewährleistungsgehalt der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie, da es darüber entscheidet, welche Erscheinungen des unionalen und mitgliedstaatlichen Privatrechts auf Ebene des Unionsrechts als Vertrag anerkannt und geschützt werden. Dabei ist der unionsrechtliche Vertragsbegriff zwar einerseits notwendig autonom zu verstehen und insofern von den Kategorien des mitgliedstaatlichen Privatrechts entkoppelt. Andererseits muss der unionale Vertragsbegriff grundsätzlich das gesamte Spektrum der nationalen Vertragskonzepte in sich aufnehmen können. Damit schließt sich hier zugleich der Kreis zur ideengeschichtlichen Entwicklung der Vertragsfreiheit und des Vertrags in den EUMitgliedstaaten (C). A. Prämisse der Selbstbestimmungsfreiheit und Selbstverantwortung Eine der menschlichen Freiheit verpflichtete Rechtsordnung kommt ohne die Anerkennung der natürlichen Freiheit zur Selbstbestimmung und Selbstverantwortung nicht aus.139 Dies gilt auch und gerade für die Europäische Union, die ausweislich der Grundrechtecharta „die Person in den Mittelpunkt ihres Handelns“ stellt und gemäß Art. 2 EUV sowohl die Menschenwürde als auch die Freiheit zu ihren Grundwerten zählt. Vor diesem Hintergrund betont Generalanwältin Stix-Hackl in ihren Schlussanträgen zur Rechtssache Omega prägnant die „Bezogenheit des Würdebegriffs zur Selbstbestimmung und 138 In diesem Sinne auch G. Wagner, in: Blaurock / Hager (Hrsg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), S. 13, 20. Siehe zur heutigen Sicht auf diese „bounded rationality“ nur den Überblick bei Selten, in: Gigerenzer / Selten (eds.), Bounded Rationality (2002), S. 13 ff. Als „frei“ wird man den Willen und als „selbstbestimmt“ die darauf beruhenden Handlungen in Anlehnung an den z. B. schon bei Kant, v. Savigny und v. Hayek anzutreffenden negativen Freiheitsbegriff grundsätzlich bezeichnen können, wenn die Willensbildung und -äußerung autonom durch das Individuum in Abwesenheit externen und insbesondere hoheitlichen Zwangs erfolgt: So definiert Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797, 1907), AA VI, S. 237 Freiheit als „Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür“. Auch v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts I (1840), S. 333 betont, dass „dem individuellen Willen ein Gebiet angewiesen ist, in welchem er unabhängig von jedem fremden Willen zu herrschen hat“. Siehe auch v. Hayek, The Constitution of Liberty (1960, 2011), S. 63 und 65 („‚freedom‘ in the sense of absence of coercion“). 139 Prägnant M.-P. Weller, Die Vertragstreue (2009), S. 165. Zumindest mit Blick auf das Verbrauchervertragsrecht skeptisch indes Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbrauchervertragsrechts (2004), S. 326: „Offenbar sieht das europäische Verbrauchervertragsrecht die individuelle Selbstbestimmung nicht als eigenständigen Wert an“.

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Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

Freiheit des Menschen“.140 Auch hat der EGMR die „personal autonomy“ des Menschen bereits zuvor als allgemeines Prinzip identifiziert, welches insbesondere die Auslegung und Anwendung des Konventionsgrundrechts auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 EMRK leiten soll.141 Da gemäß Art. 52 Abs. 3 dem wortlautgleichen Art. 7 Abs. 1 GRCh grundsätzlich dieselbe Bedeutung und Tragweite wie Art. 8 EMRK zukommt,142 findet das Prinzip der Selbstbestimmung und -verantwortung insoweit Eingang in das Unionsrecht. Die Ausrichtung des Unionsrechts an der Autonomie des Einzelnen geht auch aus Art. 3 Abs. 2 lit. a GRCh besonders klar hervor, wenn dort im Kontext des Unionsgrundrechts auf Unversehrtheit z. B. medizinische Eingriffe stets an „die freie Einwilligung des Betroffenen“ gekoppelt werden.143 Auch darüber hinaus enthält das Primärrecht Anhaltspunkte dafür, dass die gesamte Unionsrechtsordnung auf der Prämisse der Selbstbestimmungsfreiheit und der Selbstverantwortung ruht: Beispielsweise hat der EuGH im kartellrechtlichen Kontext wiederholt ein „Selbstständigkeitspostulat“ bemüht und zusammen mit der „Entscheidungsautonomie“ der Marktakteure als „Grundgedanke[n] der Wettbewerbsvorschriften des Vertrags“ identifiziert.144 Nach der Lesart der Generalanwälte des EuGH untersagt das Unionsrecht 140 Vgl. zur mittlerweile in Art. 1 GRCh ausdrücklich geschützten Menschenwürde GA Stix-Hackl Schlussanträge v. 18.3.2004 – Rs. C-36/02 (Omega), Slg. 2004, I-9609 Rn. 78 f.: „Die Menschenwürde wurzelt insgesamt tief in der Entstehung eines Menschenbildes im europäischen Kulturkreis, der den Menschen als zur Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung begabtes Wesen begreift. Aufgrund seiner Fähigkeit zur eigenen, freien Willensbildung ist er Subjekt und darf nicht zur Sache, zum Objekt, herabgewürdigt werden“. 141 Mit Blick auf Art. 8 Abs. 1 EMRK führt der EGMR Urt. v. 29.4.2002 – Nr. 2346/02 (Petty / United Kingdom), Rn. 61 aus: „Although no previous case has established as such any right to self-determination as being contained in Article 8 of the Convention, the Court considers that the notion of personal autonomy is an important principle underlying the interpretation of its guarantees“ (Herv. d. Verf.). Gleichsinnig z. B. EGMR Urt. v. 12.6.2014 – Nr. 56030/07 (Fernández Martínez / Spain), Rn. 126. 142 Art. 52 Abs. 3 GRCh lautet auszugsweise: „Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird“. 143 EuGH Urt. v. 9.10.2001 – Rs. C-377/98 (Niederlande / Europäisches Parlament und Rat), Slg. 2001, I-7079 Rn. 78 und 69 fordert für eine solche Einwilligung „die unbeeinflusste Zustimmung […] in voller Kenntnis der Sachlage“ und postuliert im medizinischen Kontext zudem ein „Recht des Menschen […], durch Zustimmung in voller Kenntnis der Sachlage über sich selbst zu verfügen“. 144 Z. B. EuGH Urt. v. 28.5.1998 – Rs. C-7/95 P (John Deere / Kommission), Slg. 1998, I-3111 Rn. 87 f.; EuGH Urt. v. 2.10.2003 – Rs. C-194/99 P (Thyssen / Kommission), Slg. 2003, I-10821 Rn. 82 f. Vgl. auch schon EuGH Urt. v. 16.12.1975 – verb. Rs. 40/73 u. a. (Suiker Unie u. a./Kommission), Slg. 1975, 1663 Rn. 173; EuGH Urt. v. 14.7.1981 – Rs. 172/80 (Züchner), Slg. 1981, 2021 Rn. 13; GA Lenz Schlussanträge v. 19.4.1989 – Rs. C-62/86 (AKZO/Kommission), Slg. 1991, I-3396 Rn. 147.

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zudem Diskriminierungen gemäß Art. 21, 23 GRCh sowie kraft der auf Basis des Art. 19 AEUV ergangenen Rechtsakte deshalb, weil hierdurch die natürliche Freiheit zur Selbstbestimmung – auch und gerade im rechtsgeschäftlichen Bereich – beeinträchtigt werde.145 Im Sekundärrecht scheint das Postulat umfassender Selbstbestimmungsund Willensfreiheit in nahezu allen unionsrechtlichen Materien und Regelungszusammenhängen auf: Zunächst achtet das Recht der Europäischen Union auch hier den naturgegebenen „freie[n] Wille[n] und die freie Wahl“ in allen Fragen, welche die körperliche Sphäre und grundlegende menschliche Bedürfnisse, wie etwa die Ernährung, betreffen.146 Zudem nennt das Unionsrecht die „Entscheidungsfreiheit“ als zentrales Charakteristikum der europäischen Marktbürger.147 Entsprechend wird das unionale Lauterkeitsrecht ebenfalls vom Selbstverantwortungs- und Selbstbestimmungsprinzip beherrscht, zumal die Lauterkeitsrichtlinie148 explizit den „Durchschnittsverbraucher, der angemessen gut unterrichtet und angemessen aufmerksam und kritisch ist,“ zum Leitbild wählt.149 Siehe im Kontext der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG nur GA Poiares Maduro Schlussanträge v. 31.8.2008 – Rs. C-303/06 (Coleman), Slg. 2008, I-5603 Rn. 10 f.: „Das Ziel des Art. 13 EG und der Richtlinie ist es, die Würde und das Selbstbestimmungsrecht von Menschen zu schützen […]. Entsprechend bedeutet ein Bekenntnis zum Selbstbestimmungsrecht, dass Menschen in Bereichen, die für ihr Leben von grundlegender Bedeutung sind, nicht dadurch wertvolle Wahlmöglichkeiten genommen werden dürfen, dass auf fragwürdige Kategorien abgestellt wird“. Gleichsinnig GA Sharpston Schlussanträge v. 22.5.2008 – Rs. C-427/06 (Bartsch), Slg. 2008, I-7425 Rn. 98, die zudem explizit auf die „Bedeutung der Entscheidungsfreiheit für die Selbstbestimmung“ verweist (dort in Fn. 90). 146 Vgl. im Kontext der Richtlinie 98/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juli 1998 über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen, ABl. 1998 L 213/13 etwa EuGH Urt. v. 9.10.2001 – Rs. C-377/98 (Niederlande / Europäisches Parlament und Rat), Slg. 2001, I-7079 Rn. 69. Deutlich tritt die apriorische Konzeption hervor, wenn der „freie Wille und die freie Wahl“ in Ernährungsfragen betont werden, siehe dazu nur die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 25. September 2008 zu dem Weißbuch zu Ernährung, Übergewicht, Adipositas: eine Strategie für Europa, ABl. 2010 C 8E/97, 102. 147 So wird mithilfe dieses Merkmals der „wirtschaftliche Entscheidungsträger“ im Binnenmarkt für die Zwecke der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung in der Europäischen Union definiert, siehe Anhang A Kapitel 2 Nr. 2.12 Verordnung (EG) Nr. 2223/96 des Rates vom 25. Juni 1996 zum Europäischen System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen auf nationaler und regionaler Ebene in der Europäischen Gemeinschaft, ABl. 1996 L 310/1: Vermöge seiner „Entscheidungsfreiheit“ kann der Marktbürger demnach unter anderem „Verträge abschließen“. 148 Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken von Unternehmen gegenüber Verbrauchern im Binnenmarkt und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. 2005 L 149/22. 145

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Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

Die Prämisse der natürlichen Willens- und Selbstbestimmungsfreiheit beherrscht darüber hinaus gerade das gesamte Privatrecht der Union, wobei das Verbrauchervertragsrecht keine Ausnahme bildet, sondern von den Konsumenten gerade „Eigenverantwortung [verlangt], wo es darum geht, ihre Interessen geltend zu machen“.150 Insbesondere überträgt der EuGH nun das autonomiezentrierte Konsumentenbild der Grundfreiheiten und des unionalen Lauterkeitsrechts ausdrücklich auf das EU-Verbrauchervertragsrecht: Hier wie dort bildet also der „normal informierte, angemessen aufmerksame und verständige Durchschnittsverbraucher“ den Maßstab.151 Der Grundsatz der Selbstbestimmung scheint überdies beispielsweise im Recht der Klauselkontrolle,152 in der Verbraucherrechte-153 und Verbraucherkreditrichtlinie,154 im internationalen Unionsprivatrecht,155 im Finanzdienstleistungsvertrags- und 149 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 18 Lauterkeitsrichtlinie. Vgl. aber zur gruppenspezifischen Maßstabbildung auch Erwägungsgrund Nr. 19 sowie z. B. EuGH Urt. v. 18.10.2012 – Rs. C-428/11 (Purely Creative), EU:C:2012:651 Rn. 53. Mit Blick auf die Lauterkeitsrichtlinie führt GA Trstenjak Schlussanträge v. 24.3.2010 – Rs. C-540/08 (Mediaprint), Slg. 2010, I-10909 Rn. 96 zudem aus: „Schutzgut dieser Regelung ist die Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers“. Vgl. zur „Entscheidungs- oder Verhaltensfreiheit“ zudem nur Art. 8 sowie zur „Wahlfreiheit der Verbraucher“ nur Erwägungsgründe Nr. 7 und 16 Lauterkeitsrichtlinie. 150 Vgl. nur Europäische Kommission, Verbraucherpolitischer Aktionsplan 1999–2001, KOM(1998) 696 endg., S. 10. Auch die Europäische Kommission, Verbraucherpolitische Strategie 2002–2006, KOM(2002) 208 endg., S. 6 sucht die Verbraucher lediglich in die Lage zu versetzen „ihre Interessen selbst wahrzunehmen“. 151 Beispielsweise bewertet EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C: 2014:282 Rn. 74 die Transparenz einer Klausel in einem Darlehensvertrag gerade aus der Perspektive ebendieses „Durchschnittsverbraucher[s]“. Siehe zuletzt auch EuGH Urt. v. 23.4.2015 – Rs. C-96/14 (Van Hove), EU:C:2015:262 Rn. 47. Die Brücke zwischen Lauterkeits- und Verbrauchervertragsrecht hat bereits frühzeitig GA Trstenjak Schlussanträge v. 29.11.2011 – Rs. C-453/10 (Pereničová), EU:C:2011:788 Rn. 99 f. und 121 ff. geschlagen. Siehe zum Wandel des Verbraucherleitbildes statt vieler auch Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers (1998), S. 414 ff.; BeckOGK / Alexander (2016) § 13 BGB Rn. 354 ff. 152 Deutlich z. B. GA Wahl Schlussanträge v. 12.2.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C: 2014:85 Rn. 3 („Grundsätze der Willensautonomie und der Vertragsfreiheit“). 153 So betont etwa EuGH Urt. v. 17.12.2009 – Rs. C-227/08 (Martín Martín), Slg. 2009, I-11939 Rn. 34 im Hinblick auf Art. 4 Haustürgeschäfterichtlinie (nunmehr: Art. 6 Verbaucherrechterichtlinie), dass hierdurch die freie Willensbildung des Verbrauchers gewährleistet werden solle. 154 Vgl. zur freien Willensbildung sowie zur „Beeinflussung der Willensbildung des Verbrauchers“ im Kontext der Verbraucherkreditrichtlinie nur GA Trstenjak Schlussanträge v. 29.11.2011 – Rs. C-453/10 (Pereničová), EU:C:2011:788 Rn. 99, 124 f. und 127. 155 Siehe zur Willensfreiheit als Voraussetzung der Rechts- bzw. Gerichtsstandswahl im internationalen Unionsprivatrecht nur GA Bot Schlussanträge v. 19.5.2009 – Rs. C133/08 (ICF), Slg. 2009, I-9687 Rn. 10 und 36; GA Trstenjak Schlussanträge v. 16.12.2010 – Rs. C-29/10 (Koelzsch), Slg. 2011, I-1595 Rn. 47; GA Jääskinen Schlussan-

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Antidiskriminierungsrecht156 sowie im Kontext von Arbeitsverhältnissen157 auf. Gleiches gilt in den Teildisziplinen des unionalen Wirtschaftsvertragsrechts, wie etwa im Marken- und Sortenschutzrecht,158 im Vergaberecht159 und in den Regelungen zu Betriebsübergängen160 sowie im Treibhausgasemissionshandel.161 Dabei erkennt das Unionsrecht grundsätzlich auch juristischen Personen und sonstigen Verbänden die – von der Rechtsfähigkeit nach mitgliedstaatlichem Recht unabhängige – Selbstbestimmungsfreiheit zu162 und sichert sie durch Art. 12 GRCh in gewissem Rahmen nunmehr auch unionsgrundrechtlich ab.163 Wenn die natürliche Selbstbestimmungsfreiheit allerdings zum Zweck des Vertragsschlusses eingesetzt wird, bedarf diese Freiheitsbetätigung der Aner-

träge v. 18.10.2012 – Rs. C-543 (Refcomp), EU:C:2012:637 Rn. 41; GA Wahl Schlussanträge v. 16.4.2013 – Rs. C-64/12 (Schlecker), EU:C:2013:241 Rn. 21. Vgl. bereits zuvor GA Darmon Schlussanträge v. 19.2.1991 – Rs. C-190/89 (Rich), Slg. 1991, I-3865 Rn. 13. 156 Mit Blick auf die Anwendung des Art. 119 EGV (nun: Art. 157 AEUV) im versicherungsrechtlichen Kontext fordert z. B. GA van Gerven Schlussanträge v. 4.5.1994 – Rs. C-408/92 (Avdel Systems), Slg. 1994, I-4437 Rn. 23 den „Respekt vor der Willensfreiheit der Parteien“. 157 Vgl. zur „Willenautonomie“ beim Abschluss von Arbeitsverträgen nur GA Léger Schlussanträge v. 8.7.2004 – Rs. C-409/02 P (Pflugradt / EZB), Slg. 2004, I-9873 Rn. 28. 158 Vgl. zum „Grundsatz der Willensfreiheit“ im Kontext des unionalen Markenrechts etwa GA Colomer Schlussanträge v. 19.1.2006 – Rs. C-259/04 (Emanuel), Slg. 2006, I3092 Rn. 35 sowie zum unionalen Sortenschutz z. B. GA Colomer Schlussanträge v. 9.2.2006 – verb. Rs. C-7/05 u. a. (Saatgut-Treuhandverwaltung), Slg. 2006, I-5048 Rn. 51. 159 Deutlich etwa GA Colomer Schlussanträge v. 8.11.2006 – Rs. C-412/04 (Kommission/Italien), Slg. 2007, I-619 Rn. 29 („Willensfreiheit“); GA Mengozzi v. 27.2.2014 – Rs. C-574/12 (SUCH u. a.), EU:C:2014:120 Rn. 49 („Willensautonomie“). 160 Vgl. GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 19.2.2013 – Rs. C-426/11 (AlemoHerron), EU:C:2013:82 Rn. 56 („Willensautonomie“). 161 Vgl. nur EuG Urt. v. 7.11.2007 – Rs. T-374/04 (Deutschland / Kommission), Slg. 2007, II-4431 Rn. 95 („Willensfreiheit“). 162 Vgl. z. B. EuGH Urt. v. 28.5.1998 – Rs. C-7/95 P (John Deere / Kommission), Slg. 1998, I-3111 Rn. 87 f. Vgl. zur Selbstbestimmungsfreiheit von Verbänden zudem nur GA Fennelly Schlussanträge v. 6.6.1996 – verb. Rs. C-267/95 u. a. (Merck u. a.), Slg. 1996, I6289 Rn. 113. 163 Der Schutzbereich der unionalen Vereinigungsfreiheit nach Art. 12 GRCh erfasst auch wirtschaftliche Vereinigungen und schließt jedenfalls solche Aktivitäten ein, die – wie etwa die organisatorische Willensbildung und Selbstbestimmung – wesentlich sowohl für die Wahrnehmung der Freiheit durch die dahinterstehenden natürlichen Personen als auch für die Betätigung der Vereinigung sind, statt vieler Meyer / Bernsdorff (2014), Art. 12 GRCh Rn. 15; Jarass (2016), Art. 12 GRCh Rn. 21 ff. Vgl. zum Schutz der Vereinigungsfreiheit gemäß Art. 11 EMRK sowie dem hieraus abgeleiteten allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts schon zuvor EuGH Urt. v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4921 Rn. 79; EuGH Urt. v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 (Werhof), Slg. 2006, I-2397 Rn. 33.

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kennung durch die Unionsrechtsordnung.164 So hängen beispielsweise die rechtlichen Wirkungen der Willensbetätigung unter anderem davon ab, ob der Erklärende rechts-165 und geschäftsfähig166 ist und die Erklärung zudem etwaige formale167 und materiale168 Voraussetzungen erfüllt. Dabei baut das Unionsrecht häufig auf den Anforderungen des mitgliedstaatlichen Privatrechts, insbesondere betreffend die Geschäftsfähigkeit sowie das Recht der Willenserklärungen, auf.169 Einzelne Aspekte regelt das Unionsrecht aber schon beim derzeitigen Stand selbst.170 Dies gilt insbesondere für die Konzeption des Vgl. erneut oben Einleitung B I. Einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts, demzufolge „die Rechtsfähigkeit mit der Geburt erworben wird“ postuliert GA Tizzano Schlussanträge v. 18.5.2004 – Rs. C200/02 (Zhu und Chen), Slg. 2004, I-9925 Rn. 45. Vgl. zu Art. 18 und Art. 49 EG (Art. 21 und Art. 56 AEUV) auch EuGH Urt. v. 19.10.2004 – Rs. C-200/02 (Zhu und Chen), Slg. 2004, I-9925 Rn. 20. Siehe bereits zuvor Basedow, Von der deutschen zur europäischen Wirtschaftsverfassung (1992), S. 33. 166 Vgl. zur Rechts- und Geschäftsfähigkeit nur EuGH Urt. v. 17.11.1993 – Rs. C-71/92 (Kommission / Spanien), Slg. 1993, I-5978 Rn. 39 ff. Vgl. ferner zum „Grundsatz des Schutzes der Personen, die nach dem Recht der Mitgliedstaaten nicht geschäftsfähig sind, wie zum Beispiel Minderjährige“ z. B. Art. 3 Abs. 2 Richtlinie 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. September 2002 über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher und zur Änderung der Richtlinie 90/619/EWG des Rates und der Richtlinien 97/7/EG und 98/27/EG, ABl. 2002 L 271/16. 167 Vgl. z. B. zur Form von Gerichtsstandsvereinbarungen nur Art. 25 Abs. 1 Brüssel Ia. 168 Im Kontext des Art. 17 Brüssel Ia bedarf es laut EuGH Urt. v. 20.1.2005 – Rs. C27/02 (Engler), Slg. 2005, I-481 Rn. 53 in materialer Hinsicht stets einer Vertragsofferte, die „allein dem Willen ihres Urhebers entspringt“ und EuGH Urt. v. 14.5.2009 – Rs. C180/06 (Ilsinger), Slg. 2009, I-3961 Rn. 54 f. fordert darüber hinaus konkret, dass der Antragende ein „verbindliches Angebot macht, das hinsichtlich seines Gegenstands und seines Umfangs so klar und präzise ist, dass eine Vertragsbeziehung […] entstehen kann“, weil er darin seinen „Willen zum Ausdruck gebracht [hat], im Fall einer Annahme durch die andere Partei […] gebunden zu sein“. 169 Dies gilt nicht zuletzt dann, wenn sich die Union selbst – vermittelt durch ihre Organe – vertraglicher Handlungsformen bedient, vgl. nur Art. 335 AEUV, wonach die EU zu diesem Zwecke „in jedem Mitgliedstaat die weitestgehende Rechts- und Geschäftsfähigkeit [genießt], die juristischen Personen nach dessen Rechtsvorschriften zuerkannt ist“. 170 Siehe nur Art. 42 Nr. 6 lit. a i. V. m. Art. 44 Abs. 1 Zahlungsdiensterichtlinie (Erklärungswirkung des Schweigens auf ein Angebot); Art. 6 Abs. 5 und Art. 22 Verbraucherrechterichtlinie („ausdrückliche Zustimmung“ als Voraussetzung einer wirksamen Einigung über Zusatzentgelte). Vgl. zudem Art. 8 Abs. 1 Verordnung (EU) Nr. 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung), ABl. 2016 L 119/1, der die Erklärung Minderjähiger in Bezug auf die Verarbeitung personenbezogener Daten im geschäftlichen Verkehr regelt. Obschon diese Vorschrift ausweislich ihres Abs. 3 das „allgemeine Vertragsrecht der Mitgliedstaaten, wie etwa die Vorschriften zur Gültigkeit, zum Zustandekommen oder zu den Rechtsfolgen eines Vertrags in Bezug auf ein Kind, unberührt“ lassen soll, dürften hier durchaus Wechselwirkungen bestehen: Schließlich ist die Preisgabe der Daten regelmäßig das „Entgelt“ für die Nutzung von Internetdiensten. 164 165

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Vertrags als Endpunkt der rechtsgeschäftlichen Willensbetätigung: Was von der Warte der EU-Rechtsordnung als „Vertrag“ zu behandeln ist, muss notwendig unionsrechtlich-autonom bestimmt werden. B. Vertragsbegriff des Unionsrechts „Omnis definitio in iure civile periculosa est“ – diese Warnung vor den Gefahren starrer Definitionen im Zivilrecht formulierten bereits die Digesten.171 Allein: Die unionale Vertragsfreiheit zu erforschen, ohne zuvor den Begriff des Vertrags und damit den Gewährleistungsgegenstand dieser Freiheit mit Inhalt gefüllt zu haben, „hieße einen Kirchthurm in die leere Luft stellen“.172 Die Umrisse des unionsrechtlichen Vertragsbegriffs lassen sich dabei nur vor dem Hintergrund der Konzeption sowie der Funktionen des Vertrags in der Unionsrechtsordnung bestimmen. Der Begriff muss zum einen alle Spielarten des Vertrags im Unionsprivatrecht und in anderen Sekundärrechtsakten sowie insbesondere im Primärrecht erfassen. Damit ist der Vertrag als Gewährleistungsgegenstand unionaler Vertragsfreiheit notwendig eine von dem jeweiligen mitgliedstaatlichen Begriffsverständnis entkoppelte, unionsrechtlichautonome Kategorie, was methodisch eine primär unionsrechtsimmanente Betrachtung nahelegt (I). Bei der Konturierung des unionalen Vertragsbegriffs ist jedoch zum anderen auch zu beachten, dass das Unionsrecht in mannigfaltiger Weise mit dem mitgliedstaatlichen Recht verzahnt ist: So regelt das Unionsprivatrecht gerade im Verbraucher-, Finanzdienstleistungs- und Wirtschaftsvertragsrecht häufig nur bestimmte schuldrechtliche Aspekte, wohingegen andere Fragen, wie etwa das Zustandekommen des Vertrags, dem mitgliedstaatlichen Privatrecht unterliegen. 173 Gerade weil das Unionsrecht in grundlegenden Fragen auf dem nationalen Recht aufbaut, muss jeder in Übereinstimmung mit dem nationalen Zivilrecht geschlossene Vertrag auch auf Ebene des Unionsrechts als solcher anerkannt und in den Gewährleistungsbereich der unionalen Vertragsfreiheit einbezogen werden. Folglich muss der unionale Vertragsbegriff so konzipiert sein, dass er grundsätzlich sämtliche in den Mitgliedstaaten bekannten Erscheinungen des Vertrags in sich aufzunehmen vermag. Dies streitet methodisch für eine auch rechtsvergleichende Annäherung an die unionale Vertragskonzeption (II). Erst in der Zusammenschau der unionsrechtsimmanent sowie rechtsvergleichend gewonnenen Erkenntnisse – und mithin als Synthese des acquis communautaire und des acquis commun – nimmt das unionale Vertragsverständnis Gestalt an (III). 171 D. 50.17.202. Freilich wandte sich Lucius Iavolenus Priscus mit diesem Ausspruch zuvörderst gegen verallgemeinernde, das heißt also vom individuellen Fall gelöste, Ansätze. 172 Vgl. zu dieser Wendung nur Kahn, JherJb. 40 (1899), 1, 54. 173 Vgl. nur Erwägungsgründe Nr. 14 und Nr. 42 sowie Art. 3 Abs. 5 Verbraucherrechterichtline.

64 I.

Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

Unionsrechtsimmanente Begriffsbildung

Hinsichtlich des unionalen Vertragsbegriffs wird häufig ausschließlich auf die Definitionen in akademischen Vorarbeiten für ein europäisches Vertragsrecht, wie etwa die Principles of European Contract Law (PECL) und den Draft Common Frame of Reference (DCFR), sowie auf rechtsvergleichende Betrachtung verwiesen.174 Wenngleich der europäische acquis commun unbedingt berücksichtigt werden muss, übergehen solche Ansätze die aus Sicht des Unionsrechts vorrangige Frage, ob sich im acquis communautaire bereits ein eigenständiger Vertragsbegriff herausgebildet hat. Dass weder der Unionsgesetzgeber noch der EuGH bislang eine allgemeine, für sämtliche Einzelrechtsakte maßgebliche Vertragsdefinition entwickelt haben, dürfte zunächst vorrangig der Heterogenität und Zersplitterung des geschriebenen Privatrechts der Union geschuldet sein. Dies bedeutet indes keineswegs, dass das Unionsprivatrecht nicht schon beim derzeitigen Entwicklungsstand auf einer autonomen Vertragskonzeption aufbaut. Womöglich lassen sich die Bausteine des Vertragsbegriffs durch die Gegenüberstellung unterschiedlicher Rechtsakte und Regelungsbereiche des Unionsprivatrechts identifizieren. Dabei gilt es zunächst, die oftmals nur oberflächlichen terminologischen Unterschiede Schicht für Schicht abzutragen, um sodann die Gemeinsamkeiten herausarbeiten zu können. Einen vielversprechenden Ausgangspunkt für diese unionsrechtsimmanente Betrachtung bildet das Sekundärrecht der Union einschließlich der hierzu ergangenen Rechtsprechung des EuGH (1). So hat der Gerichtshof insbesondere im internationalen Unionsprivatrecht frühzeitig erste Konturen eines autonomen Vertragsverständnisses aufgezeigt.175 Der Ansatz des EuGH ist deshalb von besonderem Interesse, weil der in dieser Materie gewonnene Vertragsbegriff Ähnliches leisten muss wie der für die hiesige Abhandlung zu entwickelnde: Namentlich ist der Begriff einerseits vom Verständnis in den nationalen Privatrechtsordnungen entkoppelt und muss andererseits doch alle in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen als Verträge anerkannten Instrumente erfassen. Darüber hinaus lässt sich auch das Primärrecht der Union zur Konturierung des unionalen Vertragsbegriffs fruchtbar machen (2). Schließlich sind die unionsrechtsimmanent gewonnenen Erkenntnisse zu einem verallgemeinerungsfähigen Konzept zusammenzuführen (3).

174 So z. B. Busseuil, Contribution à l’étude de la notion de contrat en droit privé européen (2009), S. 275 ff.; Urlaub, Einseitig verpflichtende Rechtsgeschäfte im internationalen Privatrecht (2010), S. 7 ff., 79 ff. und 107 ff. Ähnlich Ghestin / Loiseau / Serinet, La formation du contrat I (2013), Rn. 58 ff. 175 Siehe zum EuGVÜ schon EuGH Urt. v. 22.3.1983 – Rs. 34/82 (Peters), Slg. 1983, 987 Rn. 9 f. Siehe mit Blick auf die Brüssel Ia zuletzt z. B. EuGH Urt. v. 13.3.2014 – Rs. C-548/12 (Brogsitter), EU:C:2014:148 Rn. 18.

§ 3 Selbstbestimmung und Vertrag als unionsrechtliche Kategorien

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1. Vertragsbegriff des Sekundärrechts a) Internationales Unionsprivatrecht In seiner Rechtsprechung zum internationalen Unionsprivatrecht stand der EuGH vor der Herausforderung, Grundzüge eines eigenständigen Vertragsbegriffs zu entwickeln: Namentlich galt es für die Zwecke des Vertrags- und Verbrauchergerichtsstandes nach Art. 7 Nr. 1 bzw. Art. 17 Abs. 1 Brüssel Ia176 stets zunächst zu klären, ob die geltend gemachten Ansprüche „unabhängig von ihrer Qualifizierung nach nationalem Recht vertraglicher Natur sind“.177 Entsprechend ist die Bezugnahme auf einen „Vertrag“ sowohl in Art. 7 Nr. 1 als auch in Art. 17 Abs. 1 Brüssel Ia „als autonomer Begriff anzusehen“.178 Die Konturen dieses Begriffs bleiben allerdings im Rahmen des Art. 7 Nr. 1 Brüssel Ia eher vage: Laut EuGH setzt der unionale Vertragsbegriff hier zumindest eine „von einer Partei gegenüber einer anderen freiwillig eingegangene Verpflichtung“ voraus.179 Bereits aus dieser rudimentären Definition geht hervor, dass der Gerichtshof den Vertrag als ein – mindestens – bipolares Phänomen begreift,180 dessen Entstehung und Bindungswirkung jeweils auf dem Parteiwillen beruht.181 Soweit der EuGH überdies auf eine „Verpflichtung“ abhebt,182 deutet dies darauf hin, dass gerade eine rechtserhebli176 Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Neufassung), ABl. 2012 L 351/1. 177 Mit Blick auf die Vorgängerregelung zuletzt etwa EuGH Urt. v. 13.3.2014 – Rs. C548/12 (Brogsitter), EU:C:2014:148 Rn. 31. Vgl. bereits zuvor nur EuGH Urt. v. 1.10.2002 – Rs. C-167/00 (Henkel), Slg. 2002, I-8111 Rn. 37. 178 So zum EuGVÜ grundlegend EuGH Urt. v. 22.3.1983 – Rs. 34/82 (Peters), Slg. 1983, 987 Rn. 9 f. Siehe mit Blick auf die Brüssel Ia zuletzt z. B. EuGH Urt. v. 25.10.2011 – Rs. C-509/09 u. a. (eDate Advertising u. a.), Slg. 2011, I-10269 Rn. 38; EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-147/12 (ÖFAB), EU:C:2013:490 Rn. 27; EuGH Urt. v. 13.3.2014 – Rs. C-548/12 (Brogsitter), EU:C:2014:148 Rn. 18. Siehe zu Art. 17 Brüssel Ia nur GA Szpunar Schlussanträge v. 3.9.2014 – Rs. C-375/13 (Kolassa), EU:C:2014:2135 Rn. 33. 179 Vgl. nur EuGH Urt. v. 17.6.1992 – Rs. C-26/91 (Handte), Slg. 1992, I-3967 Rn. 15; EuGH Urt. v. 27.10.1998 – Rs. C-51/97 (Réunion européenne), Slg. 1998, I-6511 Rn. 17; EuGH Urt. v. 17.9.2002 – Rs. C-334/00 (Tacconi), Slg. 2002, I-7357 Rn. 23; EuGH Urt. v. 5.2.2004 – Rs. C-265/02 (Frahuil), Slg. 2004, I-1543 Rn. 24; EuGH Urt. v. 20.1.2005 – Rs. C-27/02 (Engler), Slg. 2005, I-481 Rn. 50 ff.; EuGH Urt. v. 11.10.2007 – Rs. C-98/06 (Freeport), Slg. 2007, I-8319 Rn. 23; EuGH Urt. v. 14.3.2013 – Rs. C-419/11 (Feichter), EU:C:2013:165 Rn. 45 ff.; EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-147/12 (ÖFAB), EU:C:2013: 490 Rn. 33. 180 Vgl. statt vieler EuGH Urt. v. 17.6.1992 – Rs. C-26/91 (Handte), Slg. 1992, I-3967 Rn. 15: „gegenüber einer anderen [Partei]“. 181 Vgl. nur EuGH Urt. v. 17.6.1992 – Rs. C-26/91 (Handte), Slg. 1992, I-3967 Rn. 15: „freiwillig[e] eingegangenen Verpflichtung“. 182 Vgl. nur EuGH Urt. v. 17.6.1992 – Rs. C-26/91 (Handte), Slg. 1992, I-3967 Rn. 15: „freiwillig […] eingegang[en]“ (Herv. d. Verf.).

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Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

che Willenserklärung erforderlich ist, da nur so eine über die bloße moralische Bindung hinausgehende rechtliche Verpflichtung eintreten kann. Dennoch sind Zweifel angebracht, ob diese Kriterien Grundlage eines allgemeinen unionalen Vertragsbegriffs sein können: Da der EuGH nur auf die freiwillige Verpflichtung einer Partei abstellt, ließe sich daraus schlussfolgern, dass potenziell auch die einseitige Erklärung des Verpflichteten bereits als Vertrag im Unionsrecht aufzufassen ist. Generalanwalt Jacobs versteht den Gerichtshof in ebendiesem Sinne und schlägt „die Frage, ob ein freiwillig gegebenes Versprechen eine vertragliche Verpflichtung entstehen lässt“, dem Vertragsrecht zu.183 Dieser Ansatz verwischt indes die Grenzen zwischen Vertrag und Versprechen184 und erinnert an das kanonistische Konzept nicht annahmebedürftiger, einseitig bindender Versprechen.185 Mag die Lehre vom einseitig bindenden Versprechen auch partiell in akademischen Projekten zum europäischen Vertragsrecht fortwirken,186 so gründet die weite Definition des EuGH bei näherem Hinsehen allein darin, dass Art. 7 Nr. 1 Brüssel Ia keineswegs den Abschluss und damit das Zustandekommen eines Vertrags voraussetzt: Vielmehr soll die Vorschrift als Generalklausel für vertragliche Streitigkeiten auch auf unwirksame Verträge und in Konstellationen anwendbar sein, in denen das Zustandekommen des Vertrags gerade umstritten ist. 187 Während das Erfordernis einer „freiwillig eingegangenen Verpflichtung“ als Minimalanforderung durchaus auf andere Bereiche des Unionsprivatrecht übertragbar sein dürfte, ist der zu Art. 7 Brüssel Ia entwickelte Vertragsbegriff den besonderen Funktionen des unionalen internationalen Zuständigkeitsrechts geschuldet, welches mit weit gesteckten Systembegriffen operiert. Bei der Suche nach einem verallgemeinerungsfähigen unionalen Vertragsbegriff gilt es mithin zusätzliche Kriterien zu identifizieren, denen ein Vertrag im unionsrechtlich-autonomen Sinne genügen muss. Im Bereich des internationalen Unionsprivatrechts ist unter diesem Gesichtspunkt zunächst die Rechtsprechung des EuGH zu Art. 17 Abs. 1 von 183 GA Jacobs Schlussanträge v. 8.7.2004 – Rs. C-27/02 (Engler), Slg. 2005, I-484 Rn. 45 (Herv. d. Verf.). 184 Dazu rechtsvergleichend Hogg, Promises and Contract Law (2014), S. 50 ff. 185 Siehe zur kanonistischen Vertragskonzeption sowie zur Pollizitationstheorie nur Zimmermann, Law of Obligations (1996), S. 495 (dort in Fn. 115), 572 ff.; ders., FS Heldrich (2005), S. 467 ff.; Kleinschmidt, Der Verzicht im Schuldvertragsrecht (2004), S. 70 ff.; M.-P. Weller, GS Hübner (2012), S. 435, 440 f. 186 Siehe mit Blick auf Art. 2:107 PECL sowie Art. II.-1:103 und Art. II-4:301 ff. DCFR nur Zimmermann, FS Heldrich (2005), S. 467 ff.; M.-P. Weller, GS Hübner (2012), S. 435, 440. 187 Z. B. EuGH Urt. v. 4.3.1982 – Rs. 38/81 (Effer), Slg. 1982, 825 Rn. 7; EuGH Urt. v. 28.1.2015 – Rs. C-375/13 (Kolassa), EU:C:2015:37 Rn. 38; EuGH Urt. v. 21.4.2016 – Rs. C-572/14 (Austro-Mechana), EU:C:2016:286 Rn. 34. Im unionalen Kollisionsrecht geht dies ausdrücklich aus Art. 10 Abs. 1 („Einigung und materielle Wirksamkeit“) sowie aus Art. 12 Abs. 1 lit. e Rom I („Folgen der Nichtigkeit des Vertrags“) hervor.

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besonderem Interesse, da diese Vorschrift den Abschluss eines Vertrags voraussetzt.188 Hier geht der EuGH ohne weiteres von der Geltung des Konsensprinzips aus, wie die Entscheidungen in den Rechtssachen Gabriel,189 Engler190 und Ilsinger191 verdeutlichen: Ausgangspunkt ist eine Vertragsofferte, die „allein dem Willen ihres Urhebers entspringt“.192 Der Antragende muss ein „verbindliches Angebot mach[en], das hinsichtlich seines Gegenstands und seines Umfangs so klar und präzise ist, dass eine Vertragsbeziehung […] entstehen kann“.193 Vor allem muss der Antragende klar seinen „Willen zum Ausdruck gebracht haben, im Fall einer Annahme durch die andere Partei […] gebunden zu sein“.194 Der EuGH fordert hier also zum einen gerade den Willen der Parteien, sich rechtlich durch den Vertrag zu binden. Der Wille zielt entsprechend auf die Herbeiführung eines rechtlichen Erfolgs. Zum anderen stellt der Gerichtshof klar, dass ein einseitiger Verpflichtungswille für sich genommen keinesfalls ausreicht, um einen von Art. 17 Abs. 1 Brüssel Ia erfassten Vertrag zur Entstehung zu bringen. Erforderlich ist vielmehr, dass der andere Teil auch „die Annahme des Angebots […] erklärt hat“.195 Erst „durch diese Willenseinigung der beiden Parteien [entstehen] gegenseitige, voneinander abhängige Pflichten im Rahmen eines Vertrags“ im Sinne des Art. 17 Abs. 1 Brüssel Ia.196 Erforderlich ist also eine freiwillige, wechselbezügliche Selbstbindung und mithin der Konsens durch übereinstimmende, auf Herbeiführung eines rechtlichen Erfolges gerichtete Willenserklärungen mindestens zweier Parteien. In dieselbe Richtung weist die Rechtsprechung des EuGH zu Gerichtsstandsvereinbarungen, zumal solche Vereinbarungen im internationalen Unionsprivatrecht ausweislich des Art. 25 Abs. 5 Brüssel Ia eigenständige Ver-

188 Vgl. Art. 17 Abs. 1 Brüssel Ia („geschlossen hat“). Laut EuGH Urt. v. 14.3.2013 – Rs. C-419/11 (Česká spořitelna), EU:C:2013:165 Rn. 30; EuGH Urt. v. 28.1.2015 – Rs. C375/13 (Kolassa), EU:C:2015:37 Rn. 23 muss entsprechend „ein Vertrag […] tatsächlich geschlossen worden sein“. 189 EuGH Urt. v. 11.7.2002 – Rs. C-96/00 (Gabriel), Slg. 2002, I-6367. 190 EuGH Urt. v. 20.1.2005 – Rs. C-27/02 (Engler), Slg. 2005, I-481. 191 EuGH Urt. v. 14.5.2009 – Rs. C-180/06 (Ilsinger), Slg. 2009, I-3961. 192 EuGH Urt. v. 20.1.2005 – Rs. C-27/02 (Engler), Slg. 2005, I-481 Rn. 53. 193 EuGH Urt. v. 14.5.2009 – Rs. C-180/06 (Ilsinger), Slg. 2009, I-3961 Rn. 54. 194 EuGH Urt. v. 14.5.2009 – Rs. C-180/06 (Ilsinger), Slg. 2009, I-3961 Rn. 55. 195 EuGH Urt. v. 11.7.2002 – Rs. C-96/00 (Gabriel), Slg. 2002, I-6367 Rn. 48. Dabei kann die Annahme gerade auch konkludent erfolgen, EuGH Urt. v. 14.5.2009 – Rs. C180/06 (Ilsinger), Slg. 2009, I-3961 Rn. 53 ff. Vgl. zudem EuGH Urt. v. 20.1.2005 – Rs. C-27/02 (Engler), Slg. 2005, I-481 Rn. 52 ff. 196 EuGH Urt. v. 11.7.2002 – Rs. C-96/00 (Gabriel), Slg. 2002, I-6367 Rn. 49. In diesem Sinne stellt auch GA Jacobs Schlussanträge v. 8.7.2004 – Rs. C-27/02 (Engler), Slg. 2005, I-484 Rn. 45 heraus, dass „ein zweiseitiges Verhältnis“ der Rechte und Pflichten der Vertragsparteien „weithin als zentrales Charakteristikum eines Vertrags angesehen wird“.

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Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

träge – wenngleich mit prozessualer Zielrichtung –197 darstellen.198 Der Gerichtshof fordert, dass die Wahl des Gerichtsstandes „tatsächlich Gegenstand einer Willenseinigung zwischen den Parteien“ ist.199 Die Art. 25 Brüssel Ia zugrunde liegende Vertragskonzeption ist damit ebenfalls konsensbasiert und setzt die Beteiligung mindestens zweier Parteien voraus, die ihre Willenserklärungen auf einen rechtlichen Erfolg in Gestalt der Gerichtsstandswahl richten. Das Konsenserfordernis ist dabei laut EuGH unmittelbar in Art. 25 Brüssel Ia angelegt und bildet daher – ebenso wie der Begriff der Gerichtsstandsvereinbarung selbst – ein unionsrechtlich-autonomes Konzept, das unabhängig vom jeweiligen nationalen Verständnis beurteilt werden muss.200 Der Konsens ist von der Warte des Unionsrechts das tragende Element der 197 Gebauer, IPRax 2001, 471, 472; Rauscher / Mankowski (2015), Art. 25 Brüssel Ia Rn. 136. 198 Art. 25 Abs. 5 Brüssel Ia hebt hervor, dass eine „Gerichtsstandsvereinbarung, die Teil eines Vertrags ist, […] als eine von den übrigen Vertragsbestimmungen unabhängige Vereinbarung“ behandelt werden muss. Entsprechend kann eine Gerichtsstandsvereinbarung als Rahmenvereinbarung für hinreichend bestimmte künftige Rechtsverhältnisse getroffen und von einem konkreten Einzelvertrag entkoppelt werden, vgl. nur EuGH Urt. v. 10.3.1992 – Rs. C-214/89 (Powell Duffryn), Slg. 1992, I-1745 Rn. 30 ff.; EuGH Urt. v. 7.3.2013 – Rs. C-543/10 (Refcomp), EU:C:2013:62 Rn. 29 ff. Dazu statt aller Kropholler /  v. Hein (2011), Art. 23 EuGVVO Rn. 25 und 69 f. Siehe zu Art. 17 EuGVÜ auch EuGH Urt. v. 24.6.1986 – Rs. 22/85 (Anterist), Slg. 1986, 1951 Rn. 14: „Da Artikel 17 des Übereinkommens eine Bestätigung des Grundsatzes der Parteiautonomie darstellt, ist sein Absatz 3 so auszulegen, dass der gemeinsame Wille der Parteien bei Abschluss des Vertrags respektiert wird“ (Herv. d. Verf.). 199 So im Kontext des Art. 17 EuGVÜ bereits EuGH Urt. v. 14.12.1976 – Rs. 24/76 (Estasis Salotti), Slg. 1976, 1831 Rn. 7; EuGH Urt. v. 14.12.1976 – Rs. 25/76 (Segoura), Slg. 1976, 1851 Rn. 6. Siehe zuletzt nur EuGH Urt. v. 21.5.2015 – Rs. C-322/14 (El Majdoub), EU:C:2015:334 Rn. 26 ff.; EuGH Urt. v. 7.7.2016 – Rs. C-222/15 (Hőszig), EU:C:2016:525 Rn. 36; EuGH Urt. v. 28.6.2017 – Rs. C-436/16 (Leventis und Vafias), EU:C:2017:497 Rn. 33. Vgl. zum Erfordernis der „Willensübereinstimmung“ z. B. GA Capotorti Schlussanträge v. 17.11.1976 – Rs. 24/76 (Estasis Salotti), Slg. 1976, 1844 Rn. 3 ff.; GA Capotorti Schlussanträge v. 17.11.1976 – Rs. 25/76 (Segoura), Slg. 1976, 1863 Rn. 2 und 5. Siehe zur Ausnahmeregelung in Art. 25 Abs. 1 lit. c Brüssel Ia, derzufolge „die Willenseinigung der Vertragsparteien über eine Gerichtsstandsvereinbarung vermutet [wird], wenn in dem betreffenden Geschäftszweig des internationalen Handelsverkehrs entsprechende Handelsbräuche bestehen“ nur EuGH Urt. v. 20.2.1997 – Rs. C106/95 (MSG), Slg. 1997, I-911 Rn. 19 f. Siehe hierzu statt aller Rauscher / Mankowski (2015), Art. 25 Brüssel Ia Rn. 134 ff., dort auch m. w. N. zur AGB-rechtlichen Dimension. 200 Namentlich betont EuGH Urt. v. 9.12.2003 – Rs. C-116/02 (Gasser), Slg. 2003, I14721 Rn. 51, dass „das Vorliegen einer Willenseinigung der Parteien, […] in Artikel 17 EuGVÜ ausgedrückt ist“ und, dass dies ebenso wie auch die „Gerichtsstandsvereinbarung […] als autonomer Begriff anzusehen ist, der allein anhand des Tatbestands des Artikels 17 zu beurteilen ist“. Gleichsinnig schon EuGH Urt. v. 10.3.1992 – Rs. C-214/89 (Powell Duffryn), Slg. 1992, I-1745 Rn. 14. Siehe zuletzt auch EuGH Urt. v. 7.7.2016 – Rs. C222/15 (Hőszig), EU:C:2016:525 Rn. 29 ff.

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Gerichtsstandsvereinbarung und Ausdruck „des Grundsatzes der Vertragsautonomie“201 respektive der „Privatautonomie im Hinblick auf die Bestimmung des zuständigen Gerichts”.202 Auf ebendiesen „Grundsatz der Vertragsautonomie“ führt der EuGH in seiner Unamar-Entscheidung die in Art. 3 Rom I ebenso wie auch in Art. 14 Abs. 1 Rom II203 verankerte Rechtswahlfreiheit zurück.204 Womöglich lässt sich dieses Leitprinzip des unionalen Kollisionsrechts auch für den unionsrechtlich-autonomen Vertragsbegriff fruchtbar machen: Schließlich handelt es sich bei der Rechtswahlvereinbarung gemäß Art. 14 Abs. 1 Rom II und Art. 3 Rom I um einen von dem Hauptvertrag entkoppelten Verweisungsvertrag. 205 Diesen Vertrag behandelt Art. 3 Abs. 5 Rom I auf Ebene des unionalen Kollisionsrechts als eigenständiges Rechtsgeschäft, für dessen Zustandekommen Art. 10, 11 und 13 Rom I Anwendung finden. Mithin liegt ein Vertrag im unionsrechtlich-autonomen Sinne vor. Für das Zustandekommen fordert Art. 3 Abs. 5 Rom I explizit eine „Einigung der Parteien“, wobei hier wiederum das 201 EuGH Urt. v. 7.2.2013 – Rs. C-543/10 (Refcomp), EU:C:2013:62 Rn. 27 f.; EuGH Urt. v. 21.5.2015 – Rs. C-322/14 (El Majdoub), EU:C:2015:334 Rn. 26; EuGH Urt. v. 28.6.2017 – Rs. C-436/16 (Leventis und Vafias), EU:C:2017:497 Rn. 33. 202 Vgl. schon zum EuGVÜ GA Capotorti Schlussanträge v. 24.10.1979 – Rs. 25/79 (Sanicentral), Slg. 1979, 3431, 3433. Auch Erwägungsgründe Nr. 15 und 19 Brüssel Ia stützen die Gerichtsstandswahl nach Art. 25 Brüssel Ia nun ausdrücklich auf die „Vertragsfreiheit der Parteien“. Siehe nun auch EuGH Urt. v. 7.7.2016 – Rs. C-222/15 (Hőszig), EU:C:2016:525 Rn. 44: „Parteiautonomie im Bereich von Vereinbarungen über die gerichtliche Zuständigkeit“. 203 Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom II), ABl. 2007 L 199/40. 204 Siehe zum internationalen Zivilprozessrecht nur EuGH Urt. v. 21.5.2015 – Rs. C322/14 (El Majdoub), EU:C:2015:334 Rn. 26. Siehe zum Kollisionsrecht nur EuGH Urt. v. 17.10.2013 – Rs. C-184/12 (Unamar), EU:C:2013:663 Rn. 49: „Um dem Grundsatz der Vertragsautonomie der Parteien, dem Eckstein des Übereinkommens von Rom, der in der Rom-I-Verordnung übernommen wurde, volle Wirksamkeit zu verleihen, muss somit nach Art. 3 Abs. 1 des Übereinkommens von Rom dafür gesorgt werden, dass die freie Entscheidung der Vertragsparteien hinsichtlich des im Rahmen ihrer Vertragsbeziehung anwendbaren Rechts respektiert wird“. Ebenso sieht z. B. GA Kokott Schlussanträge v. 6.11.2014 – Rs. C-564/13 P (Planet AE/Kommission), EU:C:2014:2352 Rn. 32 f. in der Rechtswahl eine Form des „privatautonomen Zugriff[s]“. Schließlich begreift auch die EUKommission die Rechtswahl als Ausübung von Vertragsfreiheit, wenn sie meint, ein optionales Instrument auf dem Gebiet des Vertragsrechts könne „die Vertragsfreiheit auf zweierlei Art sicher stellen: erstens, weil die Parteien dieses Instrument als das anwendbare Recht wählen können, und zweitens, weil die Parteien die betreffenden Bestimmungen grundsätzlich abändern können“ (Herv. d. Verf.), siehe Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat – Ein kohärenteres europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan, ABl. 2003 C 61/1, 16. 205 Siehe statt vieler MünchKommBGB / Martiny (2015), Art. 3 Rom I Rn. 104; Staudinger / Magnus (2016), Art. 3 Rom I Rn. 166.

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Erfordernis der Mehrpoligkeit der vertraglichen Beziehung aufscheint.206 Zudem sind die Willenserklärungen auch im Rahmen des Art. 3 Rom I auf die Herbeiführung eines rechtlichen Erfolgs in Form der Rechtswahl gerichtet. Dass im internationalen Unionsprivatrecht insgesamt ein einheitliches Vertragsverständnis zugrundezulegen ist, betont der EuGH nun auch in seiner ERGO-Entscheidung: Hier überträgt der Gerichtshof den im Rahmen der Brüssel Ia entwickelten Vertragsbegriff explizit auf Rom I und Rom II.207 Fasst man den Befund zum internationalen Unionsprivatrecht zusammen, so erfordert der unionsrechtlich-autonome Vertragsbegriff grundsätzlich, dass mindestens zwei Parteien Konsens durch übereinstimmende und auf Herbeiführung eines rechtlichen Erfolges gerichtete Willenserklärungen erzielen. Diese Vertragskonzeption gilt es im Folgenden anhand weiterer unionaler Rechtsakte zunächst auf ihre Verallgemeinerungsfähigkeit im Bereich des Sekundärrechts hin zu überprüfen. b) Materielles Unionsprivatrecht Paradigmatisch für die terminologische Inkonsistenz des Unionsprivatrechts ist die Verwendung der Begriffe „Vertrag“ und „Vereinbarung“: So definierte etwa Art. 2 Nr. 5 Pauschalreiserichtlinie a. F.208 einen Vertrag für die Zwecke dieses Sekundärrechtsakts als „die Vereinbarung, die den Verbraucher an den Veranstalter und/oder Vermittler bindet“.209 In der Sache hält hieran auch Art. 7 Abs. 2 Pauschalreiserichtlinie210 weiter fest. Die Vereinbarung („agreeVgl. wiederum Art. 3 Abs. 5 Rom I. Darüber hinaus verdeutlicht beispielsweise auch Art. 3 Abs. 1 lit. b Verordnung (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses, ABl. 2012 L 201/107 (im Folgenden: EuErbVO), dass das internationale Unionsprivatrecht von der Beteiligung mindestens zweier Parteien ausgeht und sodann sowohl zwei- als auch einseitig verpflichtende Verträge anerkennt: Diese Vorschrift definiert den Erbvertrag für die Zwecke des internationalen Unionsprivatrechts nämlich als „eine Vereinbarung […], die mit oder ohne Gegenleistung Rechte am künftigen Nachlass oder künftigen Nachlässen einer oder mehrerer an dieser Vereinbarung beteiligter Personen begründet, ändert oder entzieht“. 207 EuGH Urt. v. 21.1.2016 – verb. Rs. C-359/14 u. a. (ERGO u. a.), EU:C:2016:40 Rn. 43 ff. 208 Richtlinie 90/314/EWG des Rates vom 13. Juni 1990 über Pauschalreisen, ABl. 1990 Nr. L 158/59. 209 Vgl. dazu auch EuGH Urt. v. 30.4.2002 – Rs. C-400/00 (Club-Tour), Slg. 2002, I4051 Rn. 19 f. 210 Richtlinie (EU) 2015/2302 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen, zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 90/314/EWG des Rates, ABl. 2015 L 326/1. 206

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ment“) soll auch ausweislich Art. 2:101 PECL211 und Art. II.-4:101 DCFR.212 ein entscheidendes Element des Vertrags sein. Diesen Ansatz wählt nun auch Art. 2 lit. h des Kommissionsvorschlags für eine Richtlinie über vertragsrechtliche Aspekte des Online-Warenhandels213 sowie Art. 2 Nr. 7 des Vorschlags für eine Richtlinie über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte:214 Vertrag im Sinne dieser Vorschläge ist „eine Vereinbarung, die darauf abzielt, Pflichten zu begründen oder andere rechtliche Wirkungen herbeizuführen“.215 Allerdings setzt das Sekundärrecht die Begriffe Vertrag und Vereinbarung an anderer Stelle teilweise gleich216 oder bezieht den Terminus Vereinbarung nur auf eine einzelne Vertragsklausel.217 Hier bewahrheitet sich auch im Unionsrecht die These von der „Relativität der Rechtsbegriffe“, derzufolge gleichlautende Begriffe in verschiedenen Zusammenhängen einen unterArt. 2.101(1) PECL (Conditions for the Conclusion of a Contract) lautet: „A contract is concluded if: (a) the parties intend to be legally bound, and (b) they reach a sufficient agreement without any further requirement“. 212 Art. II.-4:101 DCFR (Requirements for the conclusion of a contract) lautet: „A contract is concluded, without any further requirement, if the parties: (a) intend to enter into a binding legal relationship or bring about some other legal effect; and (b) reach a sufficient agreement“. 213 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte des Online-Warenhandels und anderer Formen des Fernabsatzes von Waren, KOM(2015) 635 endg. 214 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte, KOM(2015) 634 endg. 215 Vgl. auch schon Art. 2 lit. a des Vorschlags für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht, KOM(2011) 635 endg. (nachfolgend: GEK-E). In die gleiche Richtung weist – allerdings im internationalen Unionsprivatrecht – Art. 3 Abs. 1 lit. b EuErbVO, welcher den Erbvertrag ebenfalls als eine „Vereinbarung“ definiert. 216 Vgl. z. B. Art. 2 Nr. 15 Verbraucherrechterichtlinie. Vgl. im Kontext von Altersvorsorgeinstrumenten nur Art. 6 lit. b Richtlinie 2003/41/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. Juni 2003 über die Tätigkeiten und die Beaufsichtigung von Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung, ABl. 2003 L 235/10. Vgl. zur Austauschbarkeit der Begriffe „agreement“ und „contract“ beispielsweise die englische Fassung der Verbraucherkreditrichtlinie („credit agreements“). Zudem führen die Erwägungsgründe Nr. 15 und 19 die Wahl des Gerichtsstandes nach Art. 25 Brüssel Ia ausdrücklich auf die „Vertragsfreiheit der Parteien“ zurück, was – insbesondere in der Zusammenschau mit Art. 25 Abs. 5 Brüssel Ia – nahelegt, dass es sich bei dieser „Vereinbarung“ ebenfalls um einen Vertrag im Sinne des Unionsrechts handelt. 217 Vgl. nur Art. 15 Abs. 2 Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt. ABl. 2000 L 178/1 (nachfolgend: E-Commerce-Richtlinie). Kritisch hierzu Kähler, in: Arnold (Hrsg.), Grundlagen eines europäischen Vertragsrechts (2014), S. 79, 80 ff. 211

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Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

schiedlichen Bedeutungsgehalt haben können.218 Sowohl in den deutschen als auch in den anderen Sprachfassungen unionaler Sekundärrechtsakte besteht indes eine starke Tendenz, die „Vereinbarung“ als Synonym der Einigung und damit als Kernelement eines jeden Vertrags im unionsrechtlichen Sinne zu behandeln.219 Eine Stütze findet diese Lesart, wenn man den acquis communautaire bereits an dieser Stelle mit dem acquis commun in Beziehung setzt und das Phänomen im breiteren Kontext der europäischen Privatrechtsentwicklung betrachtet. So war die Definition des Vertrags anhand der conventio bereits dem römischen Recht bekannt.220 Dieses Verständnis wirkt bis heute z. B. im italienischen Codice civile fort, wo der Vertrag bis heute mithilfe der Vereinbarung („accordo“) definiert wird.221 Dieser Ansatz hat auch die common-law-Jurisdiktionen beeinflusst, und das „agreement“ zählt dort ebenfalls zu den zentralen Bestandteilen der Vertragsdefinition.222 Allen vor-

218 Grundlegend Müller-Erzbach, JherJb. 61 (1912), 343 ff. Siehe zum Unionsprivatrecht nur Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht (2006), S. 325; Lüttringhaus, RabelsZ 77 (2013), 31, 32. 219 Vgl. neben den bereits genannten Beispielen etwa Art. 3 Nr. 16 Richtlinie 2012/34/ EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. November 2012 zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraums (Neufassung), ABl. 2012 L 343/32 („einen Vertrag oder eine entsprechende Vereinbarung“). Vgl. zur Definition des Vertrags als „agreement“, „arrangement“ und „accord“ z. B. die englische und französische Sprachfassung von Art. 2 Nr. 5 Pauschalreiserichtline a. F. sowie des Erwägungsgrundes Nr. 8 und Art. 2 Nr. 15 Verbraucherrechterichtlinie. 220 Vgl. mit Blick auf das Konsenserfordernis nur Zimmermann, Law of Obligations (1996), S. 563 ff.; Paricio, in: Andrés Santos / Baldus / Dedek (Hrsg.), Vertragstypen in Europa (2011), S. 12 ff. 221 Art. 1321 italienischer Codice civile lautet: „Il contratto è l‘accordo di due o più parti per costituire, regolare o estinguere tra loro un rapporto giuridico patrimoniale“ (Herv. d. Verf.). Ähnlich formuliert auch Art. 1254 spanischer Código civil: „El contrato existe desde que una o varias personas consienten en obligarse, respecto de otra u otras, a dar alguna cosa o prestar algún servicio“ (Herv. d. Verf.). Vgl. auch Zimmermann, Law of Obligations (1996), S. 566 f. Gleiches galt bis zur Schuldrechtsreform auch für den französischen Code civil, dessen Art. 1131 in der alten Fassung lautete: „Le contrat est une convention par laquelle une ou plusieurs personnes s‘obligent, envers une ou plusieurs autres, à donner, à faire ou à ne pas faire quelque chose“ (Herv. d. Verf.). 222 Vgl. insbesondere zum Einfluss der Arbeiten Pothiers in diesem Zusammenhang nur Foster v Wheeler (1887) 36 Ch D 695, 698 (Lord Kekewich): „Definitions of ‚contract‘ are to be found in the text-books, and I have consulted several of them, including an American one […]. They are all founded on, and many of them simply adopt, the definition given by Pothier […]: ‚An agreement by which two parties reciprocally promise and engage, or one of them singly promises and engages to the other to give some particular thing, or to do or abstain from doing some particular act‘“. Siehe auch Cheshire, Fifoot & Furmston's Law of Contract (2012), S. 22 sowie zur Bedeutung des agreement im common law zudem Hogg, Promises and Contract Law (2014), S. 50 f.

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genannten Rechtsordnungen ist gemein, dass die Bezugnahme auf eine Vereinbarung Sinnbild des Konsenserfordernisses ist.223 Diese Übereinstimmung legt bereits nahe, dass der Vereinbarung im Unionsrecht eine ähnliche Bedeutung zukommt. In der Tat findet diese Lesart im Unionsprivatrecht eine breite Stütze: So behandelt der EuGH die Vereinbarung beispielsweise im Kontext von Pauschalreiseverträgen als Synonym des Konsenses: Abgestellt wird auf den „Zeitpunkt, in dem die Parteien zu einer Vereinbarung gelangen und den Vertrag schließen“.224 Auch kommt aus Sicht des Unionsrechts ein Vertrag nicht zustande, sofern „kein Angebot und keine Annahme vorliegen, die zu einer Vereinbarung der Parteien […] führen“.225 Das Konsenserfordernis als Grundelement des unionalen Vertragsbegriffs wird auch in der Zusammenschau anderer Regelungsbereiche des Unionsprivatrechts bestätigt: So setzt ein Vertrag nach der Verbraucherrechterichtlinie eine „Einigung“ durch Angebot und Annahme voraus.226 Gleiches gilt nach Art. 14 Abs. 6 Wohnimmobilienkreditrichtlinie beim Abschluss des Kreditvertrages.227 Zudem hat der Gerichtshof im Kontext der Betriebsübergangsrichtlinie228 betont, dass ein Arbeitsvertrag prinzipiell nur durch eine „Wil-

223 Deutlich wird dies auch in Art. 1254 spanischer Código civil („consienten“), dazu Paricio, in: Andrés Santos / Baldus / Dedek (Hrsg.), Vertragstypen in Europa (2011), S. 12. Vgl. in diesem Kontext auch Cheshire, Fifoot & Furmston's Law of Contract (2012), S. 22 („agreement“ as „result of consenting minds“). Siehe zur Bedeutung der conventio auch Zimmermann, Law of Obligations (1996), S. 563 („appears more or less to be a synonym for consensus“). Siehe zum französischen Vertragsrecht vor der Schuldrechtsreform im Jahr 2016 nur Ghestin / Loiseau / Serinet, La formation du contrat I (2013), Rn. 40 und vgl. auch bereits Domat, Les lois civiles dans leur ordre naturel I (1703), S. 20: „La convention est le consentement de deux, ou plusieurs personnes pour former entr‘eux quelque engagement“ (Herv. d. Verf.). 224 EuGH Urt. v. 30.4.2002 – Rs. C-400/00 (Club-Tour), Slg. 2002, I-4051 Rn. 19. 225 So im Kontext des Versicherungsvertragsrechts GA Sharpston Schlussanträge v. 11.7.2013 – Rs. C-209/12 (Endress), EU:C:2013:472 Rn. 60 (Herv. d. Verf.). Vgl. auch EuGH Urt. v. 7.7.2016 – Rs. C-476/14 (Citroën Commerce), EU:C:2016:527 Rn. 30. 226 Vgl. zum Einigungserfordernis und dem (Vertrags)Angebot nur Erwägungsgründe Nr. 14 und 34; Art. 2 Nr. 8 lit. b; Art. 5 Nr. 1; Art. 6 Nr. 1;Art. 8 Nr. 6; Art. 12 lit. b. Vgl. zum Annahmeerfordernis in Gestalt einer „Zustimmung“ zu dem Angebot nur Art. 22, Art. 27 Verbraucherrechterichtlinie. 227 Vgl. Art. 14 Abs. 6 Unterabs. 3 Wohnimmobilienkreditvertragsrichtlinie: „Legt ein Mitgliedstaat eine Bedenkzeit vor dem Abschluss eines Kreditvertrags fest, a) so bleibt das Angebot während dieses Zeitraums für den Kreditgeber verbindlich und b) kann der Verbraucher das Angebot während dieses Zeitraums jederzeit annehmen“. 228 Richtlinie 2001/23/EG des Rates vom 12. März 2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen, ABl. 2001 L 82/16.

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Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

lenseinigung zustande kommen“ könne.229 Schließlich scheint das unionale Verständnis des Vertrags als freiwillig eingegangene Verpflichtung auch im europäischen Vergaberecht und namentlich in der Vergaberichtinie 2004/18/ EG230 betreffend Bau-, Liefer- und Dienstleistungsaufträge auf.231 In diesem Zusammenhang definiert die unionale Rechtsprechung einen Vertrag zum einen über das Zusammentreffen „zweier übereinstimmender selbständiger Willenserklärungen“ im Sinne eines Konsenses232 und zum anderen über die mindestens zweipolige Rechtsbeziehung.233 Auch soweit die Anstellungsver229 Weil dieser Grundsatz das Unionsrecht beherrsche, könne laut EuGH Beschl. v. 15.9.2010 – Rs. C-386/09 (Briot), Slg. 2010, I-8471 Rn. 34 entsprechend „die Nichterneuerung eines befristeten Leiharbeitsvertrags wegen des Fehlens einer neuen Willenseinigung zwischen dem Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer nicht einer Kündigung im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23 gleichgestellt werden“. Gleichsinnig schon EuGH Urt. v. 4.10.2001 – Rs. C-438/99 (Jiménez Melgar), Slg. 2001, I-6915 Rn. 45. Im Übrigen legt der Gerichtshof das Konzept „vertragliche Übertragung“ gemäß Art. 1 Abs. 1 Betriebsübergangsrichtlinie grundsätzlich dahingehend aus, dass ein Vertrag im Sinne dieser Vorschrift eine „Willensübereinstimmung“ und mithin den Konsens der Parteien voraussetzt, vgl. nur EuGH Urt. v. 14.9.2000 – Rs. C-343/98 (Collino und Chiappero), Slg. 2000, I6659 Rn. 34; EuGH Urt. v. 29.7.2010. – Rs. C-151/09 (UGT-FSP), Slg. 2010 I-7591 Rn. 25; EuGH Urt. v. 6.9.2011 – Rs. C-108/10 (Scattolon), Slg. 2011, I-7491 Rn. 63. Vgl. auch EuGH Urt. v. 15.6.1988 – Rs. 101/87 (Bork International), Slg. 1988, 3057, Rn. 13; EuGH Urt. v. 19.5.1992 – Rs. C-29/91 (Redmond Stichting), Slg. 1992, I-3189 Rn. 11. Freilich legt der Gerichtshof den Begriff „vertragliche Übertragung“ entlang des Schutzzwecks der Betriebsübergangsrichtlinie sehr weit aus, wobei unter anderem genügen soll, dass „die für den Betrieb des Unternehmens verantwortliche natürliche oder juristische Person, die die Arbeitgeberverpflichtungen gegenüber den Beschäftigten des Unternehmens eingeht, im Rahmen vertraglicher Beziehungen wechselt“ (Herv. d. Verf.), EuGH Urt. v. 7.3.1996 – verb. Rs. C-171/94 u. a. (Merckx u. a.), Slg. 1996, I-1253 Rn. 28; EuGH Urt. v. 10.12.1998 – verb. Rs. C-127/96 (Hernández Vidal u. a.), Slg. 1998, I-8179 Rn. 28; EuGH Urt. v. 20.1.2011 – Rs. C-463/09 (CLECE), Slg. 2011, I-95 Rn. 30. Vgl. ferner EuGH Urt. v. 10.12.1998 – verb. Rs. C-127/96 u. a. (Hernández Vidal u. a.), Slg. 1998, I8179 Rn. 25. 230 Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge, ABl. 2004 L 134/114. 231 Vgl. z. B. EuGH 5.10.2000 – Rs. C-337/98 (Kommission / Frankreich), Slg. 2000, I8377 Rn. 44 und 46; EuGH Urt. v. 19.6.2008 – Rs. C-454/06 (pressetext), Slg. 2008, I4401 Rn. 34 ff., wo der Gerichtshof in Bezug auf Neuverhandlungen wesentlicher Vertragsbestimmungen gerade den „Willen der Parteien“ zum Ausgangspunkt nimmt. Siehe dazu auch Bittrich, Vergabeverfahren und Bürgerliches Recht (2013), S. 265. 232 Siehe z. B. mit Blick auf die Abgrenzung der sogenannten In-House-Vergabe anhand des Vorliegens eines Vertrags nur GA Cosmas Schlussanträge v. 1.7.1999 – Rs. C107/98 (Teckal), Slg. 1999 I-8123 Rn. 64; GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 19.7.2012 – verb. Rs. C-182/11 u. a. (Econord u. a.), EU:C:2012:494 Rn. 43; GA Mengozzi Schlussanträge v. 23.1.2014 – Rs. C-15/13 (Datenlotsen), EU:C:2014:23 Rn. 41, jeweils m. w. N. 233 Z. B. EuGH Urt. v. 18.11.1999 – Rs. C-107/98 (Teckal), Slg. 1999 I-8121 Rn. 49: „Zur Beantwortung der Frage, ob ein Vertrag vorliegt, muß das vorlegende Gericht prüfen,

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hältnisse von Mitarbeitern der EU-Institutionen „vertraglicher Natur“ sind, entspricht es der ständigen Rechtsprechung des EuGH, dass solche Verträge „aus übereinstimmenden Willenserklärungen“ und namentlich einem Angebot und einer deckungsgleichen Annahmeerklärung hervorgehen.234 Dabei bezeichnet der EuGH das Konsenserfordernis in diesem Zusammenhang gerade als allgemeinen und somit potenziell im gesamten Unionsrecht geltenden Grundsatz.235 Als weiteres im Privatrecht der Union anzutreffendes Erfordernis ist schließlich hervorzuheben, dass der Konsens auch darauf abzielen muss, „rechtliche Wirkungen herbeizuführen“.236 Entsprechend fallen von der Warte des Unionsrechts rechtlich unverbindliche Vereinbarungen, wie etwa gesellschaftliche Verabredungen oder reine Gefälligkeiten, nicht unter den Vertragsbegriff. ob eine Vereinbarung zwischen zwei verschiedenen Personen getroffen wurde“. Gemäß Art. 1 Abs. 2 lit. a und b Vergaberichtinie 2004/18/EG bilden zudem nur synallagmatische Verträge den Gegenstand „öffentlicher Aufträge“ bzw. „Bauaufträge“: Laut EuGH Urt. v. 25.3.2010 – Rs. C-451/08 (Müller), Slg. 2010, I-2673 Rn. 60 „wird der öffentliche Bauauftrag in Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2004/18 als ein entgeltlicher Vertrag definiert. Diesem Begriff liegt der Gedanke zugrunde, dass sich der Auftragnehmer verpflichtet, die Leistung, die Gegenstand des Vertrags ist, gegen eine Gegenleistung zu erbringen“. 234 So mit Blick auf die Rechtsverhältnisse zwischen der EIB sowie der EZB und ihren Bediensteten EuGH Urt. v. 17.11.1976 – Rs. 110/75 (Mills / EIB), Slg. 1976, 955 Rn. 22; EuGH Urt. v. 14.10.2004 – Rs. C-409/02 P (Pflugradt / EZB), Slg. 2004, I-9889 Rn. 32; EuG Urt. v. 18.10.2001 – Rs. T-333/99 (X/EZB), Slg. 2001, II-3021 Rn. 60. Vgl. auch EuGH Urt. v. 2.10.2001 – Rs. C-449/99 P (EIB/Hautem), Slg. 2001, I-6733 Rn. 93. Siehe zum Erfordernis von Angebot und Annahme bereits EuGH Urt. v. 12.12.1955 – Rs. 10/55 (Mirossevich / Hohe Behörde), Slg. 1955, 385, 401: „Die Hohe Behörde hat der Klägerin daher ein mündliches Angebot gemacht, […] das die Klägerin […] angenommen hat, so dass ein mündlicher Einstellungsvertrag […] zustande gekommen ist“. Laut EuGH Urt. v. 16.12.1960 – Rs. 44/59 (Fiddelaar / Kommission), Slg. 1960, 1121, 1133 „ergibt sich der zwischen den Parteien abgeschlossene Anstellungsvertrag aus der stillschweigenden Einigung der Parteien“. 235 EuGH Urt. v. 17.11.1976 – Rs. 110/75 (Mills / EIB), Slg. 1976, 955 Rn. 22; EuGH Urt. v. 14.10.2004 – Rs. C-409/02 P (Pflugradt / EZB), Slg. 2004, I-9889 Rn. 32; EuG Urt. v. 18.10.2001 – Rs. T-333/99 (X/EZB), Slg. 2001, II-3021 Rn. 60: „Sonach ist das Rechtsverhältnis zwischen der Bank und ihren Bediensteten vertraglicher Natur und beruht auf dem Grundsatz, dass sich die Einzelverträge zwischen der Bank und ihren Bediensteten aus übereinstimmenden Willenserklärungen ergeben“ (Herv. d. Verf.). Freilich sind Rechtsverhältnisse ihrem Wesen nach nicht allein privatrechtlich ausgestaltet, vgl. zu den dienstrechtlichen Komponenten nur EuGH Urt. v. 16.12.1960 – Rs. 44/59 (Fiddelaar/ Kommission), Slg. 1960, 1121, 1133; EuGH Urt. v. 14.10.2004 – Rs. C-409/02 P (Pflugradt/EZB), Slg. 2004, I-9889 Rn. 32 ff. 236 Siehe nur Art. 2 lit. h des Kommissionsvorschlags für eine Richtlinie über vertragsrechtliche Aspekte des Online-Warenhandels; Art. 2 Nr. 7 des Vorschlags für eine Richtlinie über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte. Vgl. auch schon Art. 2 lit. a GEK-E, KOM(2011) 635 endg. Darüber hinaus stellt z. B. auch Art. II.-4:101 DCFR explizit auf den Willen der Parteien ab, rechtlich gebunden zu sein.

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Festzuhalten bleibt, dass ein Vertrag demnach auch im materiellen Unionsprivatrecht voraussetzt, dass mindestens zwei Parteien Konsens durch übereinstimmende und auf Herbeiführung eines rechtlichen Erfolges gerichtete Willenserklärungen erzielen.237 2. Vertragsbegriff des Primärrechts Obschon das unionale Primärrecht die privatrechtliche Handlungsform des Vertrags an unterschiedlichen Stellen voraussetzt, wird dieses Instrument ausdrücklich nur in Art. 101, 272 und 340 Abs. 1 AEUV erwähnt. Sollte sich hier eine mit dem sekundärrechtlichen Befund konvergierende Terminologie feststellen lassen, mag gerade die inhaltliche und normhierarchische Diversität der Regelungen für die Verallgemeinerungsfähigkeit des Begriffsverständnisses sprechen. a) Art. 101 AEUV Die überkommene Frage, ob eine Wettbewerbsbeschränkung eine vertragliche Abrede der Kartellanten voraussetzt,238 ist sowohl für das nationale als auch für das unionale Kartellrecht längst dahingehend entschieden worden, dass dieses Konzept nicht auf vertragliche Handlungsformen verengt werden darf.239 Dennoch mag gerade die Rechtsprechung des EuGH in diesem Bereich zur Erhellung der unionalen Vertragskonzeption beitragen, da der Gerichtshof im Kontext des Art. 101 Abs. 1 AEUV ein originär unionales, von den nationalen Anforderungen entkoppeltes Begriffsverständnis zugrunde legt.240 Voraussetzung einer „Vereinbarung“ ist zunächst das Vorliegen

237 Ähnlich bereits z. B. Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts (2003), S. 315 ff. 238 Vgl. zum deutschen Recht nur einerseits BGH Beschl. v. 17.12.1970 – Az. KRB 1/70, NJW 1971, 521, 524 f. sowie andererseits BKartA Beschl. v. 28.11.1967 – B3 442100 A 232/67, WuW/E BKartA 1179, 1183. Vgl. mit Blick auf das unionale Wettbewerbsrecht auch noch EuGH Urt. v. 14.7.1972 – Rs. 49/69 (BASF/Kommission), Slg. 1972, 713 Rn. 22: „Artikel 85 stellt den Begriff „aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen“ neben die Begriffe „Vereinbarungen zwischen Unternehmen“ und „Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen“, um durch seine Verbotsvorschrift eine Form der Koordinierung zwischen Unternehmen zu erfassen, die […] noch nicht bis zum Abschluß eines Vertrags im eigentlichen Sinne gediehen ist“. 239 Statt aller Immenga / Mestmäcker / Zimmer (2014), § 1 GWB Rn. 81 ff. m. w. N. Ohnehin fokussiert das unionale Wettbewerbsrecht eher auf die ökonomischen Folgen denn auf die konkrete rechtliche Gestalt der Abrede, was etwa EuGH Urt. v. 30.5.2013 – Rs. C70/12 P (Quinn Barlo / Kommission), EU:C:2013:351 Rn. 40 besonders deutlich herausstellt: „[T]he system of competition established by Articles 101 TFEU and 102 TFEU is concerned with the economic consequences of agreements, or of any comparable form of concertation or coordination, rather than with their legal form“.

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„übereinstimmend[er] Willenserklärung[en]“241 der Parteien.242 Art. 101 Abs. 1 AEUV geht somit vom Konsensualprinzip aus, was den bereits für das Sekundärrecht herausgearbeiteten Befund stützt,243 dass der Begriff der „Vereinbarung“ im Unionsrecht als Synonym für den Konsens der Parteien verwendet wird. Freilich muss eine Vereinbarung im Sinne des Art. 101 Abs. 1 AEUV nicht zwingend die Gestalt eines nach nationalem Privatrecht verbindlichen Vertrags angenommen haben.244 Wohl aber erfasst die Norm zumindest auch Wettbewerbsbeschränkungen durch privatrechtliche Verträge: Dies folgt bereits daraus, dass Art. 101 Abs. 2 AEUV eine Nichtigkeitssanktion anordnet, die bei unverbindlichen Abreden ins Leere liefe.245 Statt vieler W.-H. Roth / Ackermann, in: Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht (2011), Art. 1 GWB Rn. 72; v. d. Groeben / Schwarze / Hatje / Schröter / Voet van Vormizeele (2015), Art. 101 AEUV Rn. 39. 241 Vgl. GA Slynn Schlussanträge v. 16.10.1984 – Rs. 35/83 (BAT/Kommission), Slg. 1984, 363, 367. 242 Deutlich etwa EuGH Urt. v. 11.1.1990 – Rs. C-277/87 (Sandoz / Kommission), Slg. 1990, I-45 Rn. 2: „Um eine Vereinbarung im Sinne des Artikels 85 Absatz 1 EWG-Vertrag darzustellen, genügt es, daß eine Klausel Ausdruck des Willens der Vertragsparteien ist“. Ebenso EuGH Urt. v. 6.1.2004 – verb. Rs. C-2/01 P u. a. (Bundesverband der ArzneimittelImporteure), Slg. 2004, I-23 Rn. 97. Siehe ferner nur EuG Urt. v. 7.7.1994 – Rs. T-43/92 (Dunlop Slazenger), Slg. 1994, II-441 Rn. 60 und 127; EuG Urt. v. 24.10.1991 – Rs. T1/89 (Rhône-Poulenc / Kommission), Slg. 1991, II-867 Rn. 120; EuG Urt. v. 17.12.1991 – Rs. T-7/89 (Hercules Chemicals / Kommission), Slg. 1991, II-1711 Rn. 256; EuG Urt. v. 14.5.1998 – Rs. T-347/94 (Mayr-Melnhof / Kommission), Slg. 1998, II-1751 Rn. 65; EuG Urt. v. 20.3.2002 – Rs. T-9/99 (HFB Holding u. a./Kommission), Slg. 2002, II-1487 Rn. 199; EuG Urt. v. 16.6.2011 – Rs. T-240/07 (Heineken / Kommission), Slg. 2011, II3355 Rn. 44 („Willensübereinstimmung“). Vgl. auch EuGH Urt. v. 29.10.1980 – verb. Rs. 209 u. a. (van Landewyck u. a./Kommission), Slg. 1980, 3125 Rn. 85 f.; EuGH Urt. v. 15.7.1970 – Rs. 41/69 (ACF Chemiefarma / Kommission), Slg. 1970, 661 Rn. 112 („gemeinsamer Wille“). 243 In diesem Sinne auch v. d. Groeben / Schwarze / Hatje / Schröter / Voet van Vormizeele (2015), Art. 101 AEUV Rn. 39. Siehe zum Sekundärrecht erneut oben 1. 244 EuGH Urt. v. 11.1.1990 – Rs. C-277/87 (Sandoz / Kommission), Slg. 1990, I-45 Rn. 2 betont, dass die Vereinbarung nicht unbedingt ein „nach dem nationalen Recht verbindlicher und wirksamer Vertrag sein“ muss. Ebenso z. B. EuGH Urt. v. 30.5.2013 – Rs. C-70/12 P (Quinn Barlo / Kommission), EU:C:2013:351 Rn. 40. Vgl. mit Blick auf eine als gentleman’s agreement bezeichnete Vereinbarung auch EuGH Urt. v. 15.7.1970 – Rs. 41/69 (ACF Chemiefarma / Kommission), Slg. 1970, 661 Rn. 106 ff.; EuG Urt. v. 20.3.2002 – Rs. T-9/99 (HFB Holding u. a./Kommission), Slg. 2002, II-1487 Rn. 200. 245 Darüber hinaus legt auch die Regelungssystematik des Art. 101 Abs. 1 AEUV nahe, dass die Norm auf regelmäßig bindende Vereinbarungen ausgerichtet ist: So unterscheidet Art. 101 Abs. 1 AEUV deutlich zwischen kraft Willensübereinkunft erzielten „Vereinbarungen“ einerseits und tatsächlich „abgestimmten Verhaltensweisen“ andererseits. Im Unterschied zur „Vereinbarung“ handelt es sich bei „abgestimmten Verhaltensweisen“ nach ständiger Rechtsprechung des EuGH gerade um „eine Form der Koordinierung zwischen Unternehmen, die […] noch nicht bis zum Abschluss eines Vertrags im eigentlichen 240

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Für diese Abhandlung von besonderem Interesse ist nun die Frage, wie das Unionsrecht im Rahmen des Art. 101 Abs. 2 AEUV zwischen „Vereinbarungen“ mit sowie ohne Vertragscharakter differenziert und welche Anforderungen damit an einen Vertrag im Rahmen des Art. 101 Abs. 1 AEUV zu stellen sind. Neben dem Konsens der Parteien über ein bestimmtes Marktverhalten246 nennt die unionale Rechtsprechung in diesem Zusammenhang gerade den Willen zur Herbeiführung rechtlicher Wirkungen. Aus Sicht des Unionsrechts Sinne gediehen ist (Herv. d. Verf.)“, siehe nur EuGH Urt. 14.7.1972 – Rs. 48/69 (Imperial Chemical Industries / Kommission), Slg. 1972, 619 Rn. 64; EuGH Urt. v. 16.12.1975 – verb. Rs. 40/73 u. a. (Suiker Unie u. a./Kommission), Slg. 1975, 1663 Rn. 26; EuGH Urt. v. 31.3.1993 – Rs. C-89/85, C-104/85 u. a. (Ahlström u. a./Kommission), Slg. 1993, I-1307 Rn. 63; EuGH Urt. v. 8.7.1999 – Rs. C-49/92 P (Kommission / Anic Partecipazioni), Slg. 1999, I-4125 Rn. 115; EuGH Urt. v. 8.7.1999 – Rs. C-199/92 P (Hüls / Kommission), Slg. 1999, I-4287 Rn. 158. Siehe zuletzt etwa EuG Urt. v. 16.6.2011 – Rs. T-240/07 (Heineken /  Kommission), Slg. 2011, II-3355 Rn. 46. Auch die Generalanwälte des EuGH gehen explizit vom Vertragscharakter der „Vereinbarung“ aus, vgl. z. B. GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 25.10.2012 – Rs. C-32/11 (Allianz Hungária), EU:C:2012:663 Rn. 67 sowie sodann EuGH Urt. v. 14.3.2013 – Rs. C-32/11 (Allianz Hungária), EU:C:2013:160 Rn. 42. Ein ähnliches Bild findet sich in diversen Gruppenfreistellungsverordnungen: So ist etwa von den „Vertragsparteien“ der Vereinbarung die Rede in Art. 1 Abs. 1 lit. b, p Verordnung (EU) Nr. 1218/2010 der Kommission vom 14. Dezember 2010 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf bestimmte Gruppen von Spezialisierungsvereinbarungen, ABl. 2010 L 335/43; Art. 3 f. Verordnung (EU) Nr. 330/2010 der Kommission vom 20. April 2010 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen, ABl. 2010 L 102/1; Art. 3 ff. Verordnung (EU) Nr. 316/2014 der Kommission vom 21. März 2014 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Gruppen von Technologietransfer-Vereinbarungen, ABl. 2014 L 93/17. 246 So bedarf es im Rahmen des Art. 101 Abs. 1 AEUV der „Feststellung des subjektiven Elements […], das den Begriff der Vereinbarung kennzeichnet, d. h. einer Willensübereinstimmung zwischen Wirtschaftsteilnehmern in Bezug auf […] ein bestimmtes Marktverhalten“, EuG Urt. v. 26.10.2000 – Rs. T-41/96 (Bayer / Kommission), Slg. 2000, II-3383 Rn. 173 f. sowie ferner Rn. 77 ff. Siehe auch EuG Urt. v. 16.6.2011 – Rs. T-240/07 (Heineken / Kommission), Slg. 2011, II-3355 Rn. 45: „Vom Abschluss einer Vereinbarung im Sinne von Art. 81 Abs. 1 EG kann ausgegangen werden, wenn hinsichtlich der Wettbewerbsbeschränkung als solcher ein übereinstimmender Wille vorliegt“. Gleichsinnig EuG Urt. v. 20.3.2002 – Rs. T-9/99 (HFB Holding u. a./Kommission), Slg. 2002, II-1487 Rn. 155, 157 und 206. Vgl. ferner EuGH 18.9.2003 – Rs. C-338/00 P (Volkswagen / Kommission), Slg. 2003, I-9189 Rn. 66 f.; EuGH Urt. v. 6.1.2004 – verb. Rs. C-2/01 P u. a. (Bundesverband der Arzneimittel-Importeure), Slg. 2004, I-23. GA Mengozzi Schlussanträge v. 30.1.2014 – Rs. C-382/12 P (MasterCard u. a./Kommission), EU:C:2014:42 Rn. 42 fasst dies plastisch dahingehend, dass die Übereinkunft nach der Intention der Beteiligten „Beschränkungen ihrer wirtschaftlichen Autonomie mit sich bring[en] und Leitlinien für ihr wechselseitiges Handeln bestimm[en]“ muss. In diesem Sinne auch z. B. EuG Urt. v. 16.12.2003 – verb. Rs. T-5/00 u. a. (FEG/Kommission), Slg. 2003, II-5761 Rn. 324; EuGH Urt. v. 21.9.2006 – Rs. C-105/04 P (FEG/Kommission), Slg. 2006, I-8725 Rn. 124.

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steht und fällt der Vertragscharakter mit ebendiesem Rechtsbindungswillen: Für eine rechtlich unverbindliche „Vereinbarung“ genügt es daher, wenn sich die Parteien nur „tatsächlich oder moralisch […] verpflichtet hielten, sich absprachegemäß zu verhalten“.247 Als Beispiel hierfür mag ein „Gentlemen’s Agreement“ der Beteiligten dienen.248 Ein privatrechtlicher Vertrag liegt von der Warte des Unionsrechts dagegen vor, wenn die Kartellanten mit dem Willen handelten, privatrechtliche Rechtsfolgen zu setzen und „sich die Unternehmen für […] rechtlich […] verpflichtet hielten“, die wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung zu erfüllen.249 Wenngleich es für die Anwendbarkeit des Art. 101 Abs. 1 AEUV in der Tat „auf den Rechtsfolgewillen nicht ankommt“,250 so liegt doch im unionsrechtlich-autonomen Sinne eine Vereinbarung in Gestalt eines privatrechtlichen Vertrags vor, wenn die Kartellanten mit dem entsprechenden Rechtsbindungswillen gehandelt haben.251 Für ebendiese Fälle ist die Nichtigkeitssanktion des Art. 101 Abs. 2 AEUV konzipiert. Damit enthält auch Art. 101 Abs. 1 AEUV erste Eckpunkte eines unionalen Vertragsbegriffs: In seiner ständigen Rechtsprechung knüpft der EuGH eine „Vereinbarung“ zunächst an das Vorliegen „übereinstimmend[er] Willenserklärung[en]“252 und mithin den Konsens mindestens zweier Parteien.253 Für 247 EuG Urt. v. 14.5.1998 – Rs. T-347/94 (Mayr-Melnhof / Kommission), Slg. 1998, II1751 Rn. 65; EuG Urt. v. 20.3.2002 – Rs. T-9/99 (HFB Holding u. a./Kommission), Slg. 2002, II-1487 Rn. 200; EuG Urt. v. 8.7.2008 – Rs. T-53/03 (BPB/Kommission), Slg. 2008, II-1333 Rn. 82. In diese Richtung deuten auch v. d. Groeben / Schwarze / Hatje / Schröter /  Voet van Vormizeele (2015), Art. 101 AEUV Rn. 39. 248 Vgl. nur EuGH Urt. v. 15.7.1970 – Rs. 41/69 (ACF Chemiefarma / Kommission), Slg. 1970, 661 Rn. 106 ff.; EuG Urt. v. 8.7.2008 – Rs. T-53/03 (BPB/Kommission), Slg. 2008, II-1333 Rn. 82. 249 Vgl. wiederum EuG Urt. v. 14.5.1998 – Rs. T-347/94 (Mayr-Melnhof / Kommission), Slg. 1998, II-1751 Rn. 65; EuG Urt. v. 20.3.2002 – Rs. T-9/99 (HFB Holding u. a./Kommission), Slg. 2002, II-1487 Rn. 200; EuG Urt. v. 8.7.2008 – Rs. T-53/03 (BPB/ Kommission), Slg. 2008, II-1333 Rn. 82. Vgl. auch EuGH Urt. v. 14.7.1972 – Rs. 49/69 (BASF/Kommission), Slg. 1972, 713 Rn. 22. In diesem Sinne auch v. d. Groeben /  Schwarze / Hatje / Schröter / Voet van Vormizeele (2015), Art. 101 AEUV Rn. 39. 250 Mestmäcker / Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht (2014), § 10 Rn. 1. 251 In diese Richtung deuteten auch Mestmäcker / Schweizer, Europäisches Wettbewerbsrecht (2014), § 11 Rn. 24, wenn sie mit Blick auf die Kategorien des Art. 101 AEUV betonen, dass „[w]ettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen […] rechtswirksame Verträge“ sein können. 252 Vgl. GA Slynn Schlussanträge v. 16.10.1984 – Rs. 35/83 (BAT/Kommission), Slg. 1984, 363, 367. 253 Deutlich etwa EuGH Urt. v. 11.1.1990 – Rs. C-277/87 (Sandoz / Kommission), Slg. 1990, I-45 Rn. 2: „Um eine Vereinbarung im Sinne des Artikels 85 Absatz 1 EWG-Vertrag darzustellen, genügt es, daß eine Klausel Ausdruck des Willens der Vertragsparteien ist“. Ebenso EuGH Urt. v. 6.1.2004 – verb. Rs. C-2/01 P u. a. (Bundesverband der ArzneimittelImporteure), Slg. 2004, I-23 Rn. 97. Siehe ferner nur EuG Urt. v. 7.7.1994 – Rs. T-43/92 (Dunlop Slazenger), Slg. 1994, II-441 Rn. 60 und 127; EuG Urt. v. 24.10.1991 – Rs. T-

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eine Vereinbarung mit Vertragscharakter ist im Rahmen des Art. 101 AEUV zusätzlich der Wille der Parteien zur Setzung privatrechtlicher Rechtsfolgen erforderlich. Als weitere Vorschrift des unionalen Wettbewerbsrechts vermag womöglich auch Art. 102 AEUV Aufschluss über das Konzept des Vertrags im Unionsrecht zu geben. Diese Norm statuiert unter bestimmten Voraussetzungen einen kartellrechtlichen Kontrahierungszwang, etwa im Fall sogenannter standardessenzieller Patente.254 Ein „Vertrag“ als Gegenstand und Ziel dieses unionalen Kontrahierungszwangs kommt nach der Lesart des EuGH nur zustande, wenn die Parteien eine Einigung erzielen.255 Auch im Rahmen des Art. 102 AEUV postuliert der EuGH damit ein auf Angebot und Annahme fußendes, konsensuales Vertragsmodell.256 Ein Vertrag als Bezugspunkt des Kontrahierungszwangs nach Art. 102 AEUV erfordert mithin auf die Setzung privatrechtlicher Rechtsfolgen zielende übereinstimmende Willenserklärungen mindestens zweier Parteien.257 b) Art. 340 Abs. 1 AEUV Ein unionsrechtsautonomes Vertragsverständnis ist auch im Kontext der vertraglichen Haftung der Union nach Art. 340 Abs. 1 AEUV zugrunde zu legen, um die vertragliche gegenüber der außervertraglichen Sphäre abzugrenzen. Eine klare Trennung ist schon deshalb notwendig, weil die jeweiligen Haf-

1/89 (Rhône-Poulenc / Kommission), Slg. 1991, II-867 Rn. 120; EuG Urt. v. 17.12.1991 – Rs. T-7/89 (Hercules Chemicals / Kommission), Slg. 1991, II-1711 Rn. 256; EuG Urt. v. 14.5.1998 – Rs. T-347/94 (Mayr-Melnhof / Kommission), Slg. 1998, II-1751 Rn. 65; EuG Urt. v. 20.3.2002 – Rs. T-9/99 (HFB Holding u. a./Kommission), Slg. 2002, II-1487 Rn. 199; EuG Urt. v. 16.6.2011 – Rs. T-240/07 (Heineken / Kommission), Slg. 2011, II3355 Rn. 44 („Willensübereinstimmung“). Vgl. auch EuGH Urt. v. 29.10.1980 – verb. Rs. 209 u. a. (van Landewyck u. a./Kommission), Slg. 1980, 3125 Rn. 85 f.; EuGH Urt. v. 15.7.1970 – Rs. 41/69 (ACF Chemiefarma / Kommission), Slg. 1970, 661 Rn. 112 („gemeinsamer Wille“). 254 Siehe nur EuGH Urt. v. 16.7.2015 – Rs. C-170/13 (Huawei Technologies), EU:C: 2015:477 Rn. 2 ff. 255 Vgl. EuGH Urt. v. 16.7.2015 – Rs. C-170/13 (Huawei Technologies), EU:C:2015: 477 Rn. 63 ff. und 68. 256 Namentlich hat der Patentinhaber dem interessierten Wettbewerber ein annahmefähiges Angebot auf Abschluss eines Lizenzvertrags zu unterbreiten. Der Vertrag ist geschlossen, sobald der Wettbewerber die Annahme dieses Angebots erklärt. Sollte das Angebot dem interessierten Wettbewerber nicht zusagen, kann er dem Patentinhaber ein Gegenangebot machen, welches dann der Annahme durch den Patentinhaber bedarf, siehe wiederum nur EuGH Urt. v. 16.7.2015 – Rs. C-170/13 (Huawei Technologies), EU:C: 2015:477 Rn. 63 und 66 ff. 257 Vgl. erneut EuGH Urt. v. 16.7.2015 – Rs. C-170/13 (Huawei Technologies), EU:C: 2015:477 Rn. 66 und 68.

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tungsregimes regelmäßig unterschiedlichen Gerichtsbarkeiten unterliegen.258 Art. 340 Abs. 1 AEUV unterstellt die vertragliche Haftung zwar „dem Recht, das auf den betreffenden Vertrag anzuwenden ist“ und mithin dem jeweils durch das Kollisionsrecht zum Vertragsstatut bestimmten nationalen Privatrecht.259 Bevor jedoch auf das internationale Privatrecht zurückgegriffen werden kann, muss zunächst auf Ebene und anhand der Kategorien des primären Unionsrechts geklärt werden, ob überhaupt ein Vertrag im Sinne des Art. 340 Abs. 1 AEUV vorliegt. Dabei ist in jedem Fall ein von den nationalen Kategorien entkoppeltes Vertragsverständnis maßgeblich.260 Weil Art. 340 Abs. 1 AEUV sachrechtliche Ziele verfolgt, ist eine unbesehene Übertragung des Vertragsbegriffs aus dem internationalen Unionsprivatrecht keineswegs zwingend. Allerdings sprechen diverse inhaltliche Verschränkungen dieser Materien für eine einheitliche Begriffsbildung: Zunächst baut Art. 340 Abs. 1 AEUV teilweise auf den Normen des unionalen IPR auf. Darüber hinaus weist dieser Regelungsbereich weitere Gemeinsamkeiten mit dem internationalen Unionsprivatrecht auf: Ebenso wie im unionalen IPR der Schuldverhältnisse soll nach der Rechtsprechung der EuGH auch im Rahmen des Art. 340 AEUV neben vertraglichen und außervertraglichen Schuldverhältnissen keine dritte Kategorie existieren – tertium non datur.261 Auch wird hier wie dort die vorvertragliche Haftung dem außervertraglichen Bereich zugeschlagen.262 Ähnlich verhält es sich bei Bereicherungsansprüchen. 263 258 Siehe mit Blick auf die Zuständigkeit der Gerichte der Union nach Art. 268 AEUV einerseits und der Gerichte der Mitgliedstaaten gemäß Art. 274 AEUV andererseits Gundel, EWS 2013, 65; v. d. Groeben / Schwarze / Hatje / Augsberg (2015), Art. 340 AEUV Rn. 3 und Art. 268 AEUV Rn. 2. 259 Vgl. Art. 340 Abs. 1 AEUV. 260 So zu Recht auch v. d. Groeben / Schwarze / Hatje / Augsberg (2015), Art. 340 AEUV Rn. 3. 261 Vgl. zu Art. 340 AEUV nur EuGH Urt. v. 29.7.2010 – Rs. C-377/09 (HanssensEnsch), Slg. 2010, I-7751 Rn. 25: „Folglich findet sich für die Ansicht der Klägerin, dass es neben der vertraglichen Haftung und der außervertraglichen Haftung […] eine dritte Haftungskategorie gebe, […] keine Stütze“. Kritisch zum internationalen Unionsprivatrecht Freitag, FS Spellenberg (2010), S. 169 ff. 262 Vgl. z. B. EuG Urt. v. 17.12.1998 – Rs. T-203/96 (Embassy / Rat), Slg. 1998, II-4239 Rn. 40 ff. sowie 74 ff.; EuG Urt. v. 8.5.2007 – Rs. T-271/04 (Citymo / Kommission), Slg. 2007, II-1375 Rn. 86 ff.; EuG Urt. v. 28.1.2009 – Rs. T-125/06 (Manieri / Parlament), Slg. 2009, II-69 Rn. 95 ff.; EuG Beschl. v. 11.3.2013 – Rs. T-4/13 R (Communicaid/Kommission), EU:T:2013:121 Rn. 28 f. Siehe nur Grabitz / Hilf / Nettesheim/v. Bogdandy/Jacob (2014), Art. 340 AEUV Rn. 20. Vgl. zum internationalen Unionsprivatrecht nur Art. 12 Rom II sowie EuGH Urt. v. 17.9.2002 – Rs. C-334/00 (Tacconi), Slg. 2002, I-7357 Rn. 23 ff. 263 So hat EuGH Urt. v. 16.12.2008 – Rs. C-47/07 P (Masdar / Kommission), Slg. 2008, I-9761 Rn. 48 ff. im Kontext des Art. 288 EGV (nunmehr Art. 340 AEUV) entschieden, dass „jede sich aus ungerechtfertigter Bereicherung ergebende Verpflichtung zwangsläufig außervertraglicher Natur ist“. Ebenso schon EuGH Urt. v. 5.3.1991 – Rs. C-330/88 (Grifo-

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Angesichts der Verwobenheit des Art. 340 Abs. 1 AEUV mit dem internationalen Unionsprivatrecht und vor dem Hintergrund der gleichlaufenden Rechtsprechungslinien sollte der Vertragsbegriff im Rahmen des Art. 340 Abs. 1 AEUV parallel zu demjenigen des internationalen Unionsprivatrechts gebildet werden.264 c) Art. 272 AEUV Die unionale Rechtsprechung hat auch im Kontext der Einbeziehung einer Schiedsklausel in einen von der Union geschlossenen Vertrag nach Art. 272 AEUV erste Konturen eines autonomen Vertragsverständnisses entwickelt. Obschon auf den in Art. 272 AEUV erwähnten „privatrechtlichen Vertrag“ das vermöge der kollisionsrechtlichen Verweisung bestimmte nationale Recht Anwendung findet,265 ist der Vertragsbegriff notwendig unionsrechtsimmanent mit Inhalt zu füllen: Art. 272 AEUV greift nur bei einer Schiedsklausel Platz, die in einem „Vertrag“ enthalten ist, so dass diese Anwendungsvoraussetzung ebenso wie die zuständigkeitsbegründende Wirkung der Schiedsklausel allein dem Unionsrecht unterliegt.266 Da der Vertrag im Sinne des Art. 272 AEUV somit notwendig autonom zu verstehen ist,267 bleibt zu fragen, welche Elemente diesen Begriff prägen. Wie schon im Kontext des Art. 340 Abs. 1 ni / Kommission), Slg. 1991, I-1045 Rn. 20. Im internationalen Unionsprivatrecht sieht Art. 10 Rom II eine Kollisionsnorm für Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung vor und schlägt solche Fragen damit prima facie ebenfalls dem außervertraglichen Bereich zu. Allerdings erfasst das Vertragsstatut gemäß Art. 12 Abs. 1 lit. e Rom I durchaus die „Folgen der Nichtigkeit des Vertrags“, eingehend hierzu statt aller Staudinger / Magnus (2016), Art. 12 Rom I Rn. 76 ff. 264 Siehe zum Vertragsbegriff im internationalen Unionsprivatrecht erneut oben 1 a. Wie hier im Ergebnis auch Streinz / Gellermann (2012), Art. 340 AEUV Rn. 4; Grabitz /  Hilf / Nettesheim / v. Bogdandy / Jacob (2014), Art. 340 AEUV Rn. 20. 265 Vgl. nur EuG Urt. v. 8.7.2007 – Rs. T-271/04 (Citymo / Kommission), Slg. 2007, II1375 Rn. 61 ff.; EuG Urt. v. 17.6.2010 – verb. Rs. T-428/07 u. a. (CEVA/Kommission), Slg. 2010, II-2431 Rn. 60; EuG Urt. v. 17.12.2010 – Rs. T-460/08 (Kommission / Acentro Turismo), Slg. 2010, II-6351 Rn. 37; Grabitz / Hilf / Nettesheim / Karpenstein (2014), Art. 272 AEUV Rn. 25 f. 266 EuGH Urt. v. 26.2.2015 – Rs. C-564/13 P (Planet AE/Kommission), EU:C:2015:124 Rn. 21: „Insoweit hat der Gerichtshof bereits ausgeführt, dass es zwar vorkommen kann, dass er im Rahmen einer gemäß Art. 272 AEUV vereinbarten Schiedsklausel den Rechtsstreit auf der Grundlage des für den betreffenden Vertrag maßgeblichen nationalen Rechts zu entscheiden hat; seine Zuständigkeit für die Entscheidung eines Rechtsstreits über diesen Vertrag bestimmt sich jedoch allein nach diesem Artikel und den Bestimmungen der Schiedsklausel, ohne dass […] Vorschriften des nationalen Rechts entgegengehalten werden können“ (Herv. d. Verf.). Ebenso bereits EuGH Urt. v. 8.4.1992 – Rs. C-209/90 (Kommission / Feilhauer), Slg. 1992, I-2613 Rn. 13; EuG Urt. v. 8.7.2007 – Rs. T-271/04 (Citymo / Kommission), Slg. 2007, II-1375 Rn. 55; EuG Urt. v. 17.12.2010 – Rs. T-460/08 (Kommission / Acentro Turismo), Slg. 2010, II-6351 Rn. 37.

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AEUV sind primäres Unionsrecht und – im Regelfall gleichsam unionsrechtliches – IPR miteinander verzahnt. Diese Verbindung mag wiederum dafür sprechen, ein gleichlaufendes unionales Begriffsverständnis in diesen Materien zugrunde zu legen.268 In der Tat zieht die unionale Rechtsprechung bei Art. 272 AEUV im Wesentlichen die gleichen Kriterien zur Definition des Vertrags heran wie auch im Kontext des internationalen Unionsprivatrechts und des Art. 340 AEUV: So wird zunächst das Konsenserfordernis als zentrales Element herausgestellt. 269 Das Konsensualprinzip umschreibt das EuG beispielsweise damit, dass die Schiedsklausel gemäß Art. 272 AEUV Ausdruck des „Willens der Parteien“ sei und daher vereinbart werden müsse.270 Darüber wird im Rahmen des Art. 272 AEUV auch ein auf Setzung privatrechtlicher Rechtsfolgen gerichteter Wille271 mindestens zweier Parteien272 gefordert. Demnach scheint in den primärrechtlichen Regelungen der Art. 101 Abs. 1, Art. 102, Art. 340 Abs. 1 und Art. 272 AEUV eine übergreifende unionsrechtliche Vertragskonzeption auf. 3. Zwischenfazit Führt man die Befunde zum Sekundärrecht und zum Primärrecht zusammen, wird ein übergreifendes unionsrechtliches Vertragsverständnis erkennbar: Ein Vertrag setzt demnach voraus, dass mindestens zwei Parteien Konsens durch übereinstimmende und auf Herbeiführung eines rechtlichen Erfolges gerichte267 Eingehend zur unionsrechtlich-autonomen Lesart des Art. 272 AEUV GA Kokott Schlussanträge v. 6.11.2014 – Rs. C-564/13 P (Planet AE/Kommission), EU:C:2014:2352 Rn. 28 ff. 268 Siehe zu Art. 340 Abs. 1 AEUV erneut oben b. 269 EuG Urt. v. 8.7.2007 – Rs. T-271/04 (Citymo / Kommission), Slg. 2007, II-1375 Rn. 53; EuG Urt. v. 19.9.2012 – Rs. T-168/10 und T-572/10 (Kommission / SEMEA u. a.), EU:T:2012:435 Rn. 137; EuGH Urt. v. 19.6.2014 – Rs. C-531/12 P (SEMEA/Kommission), EU:C:2014:2008 Rn. 50 ff. Die Zielsetzung der primärrechtlichen Vorschrift beschreibt auch GA Kokott Schlussanträge v. 6.11.2014 – Rs. C-564/13 P (Planet AE/Kommission), EU:C:2014:2352 Rn. 22 treffend: „Art. 272 AEUV ist […] ein offener Tatbestand, der den Zugang zu den Unionsgerichten kraft privatautonom vereinbarter Schiedsklausel […] eröffnet“ (Herv. d. Verf.). 270 EuG Urt. v. 8.7.2007 – Rs. T-271/04 (Citymo / Kommission), Slg. 2007, II-1375 Rn. 53 ff.; EuG Urt. v. 19.9.2012 – Rs. T-168/10 u. a. (Kommission / SEMEA u. a.), EU:T:2012:435 Rn. 137. Vgl. ferner EuGH Urt. v. 19.6.2014 – Rs. C-531/12 P (SEMEA/ Kommission), EU:C:2014:2008 Rn. 50 ff. Deutlich zuletzt GA Kokott Schlussanträge v. 6.11.2014 – Rs. C-564/13 P (Planet AE/Kommission), EU:C:2014:2352 Rn. 22 und 28 ff. 271 Vgl. zur angestrebten rechtlichen Bindung der Vertragsparteien etwa EuG Urt. v. 19.9.2012 – Rs. T-168/10 u. a. (Kommission / SEMEA u. a.), EU:T:2012:435 Rn. 134 und 137 f. 272 So stellt beispielsweise EuG Beschl. v. 9.9.2013 – Rs. T-489/12 (Planet AE/ Kommission), EU:T:2013:496 Rn. 53 „les actes adoptés par les institutions qui s’inscrivent dans un cadre purement contractuel“ ausdrücklich den „actes unilatéraux“ gegenüber.

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te Willenserklärungen erzielen. Diese unionale Konzeption ist im Folgenden mit dem Spektrum der Vertragsverständnisse in den EU-Mitgliedstaaten abzugleichen. II. Rechtsvergleichendes Spektrum der Vertragsbegriffe Während der Vertragsbegriff in der Rechtsordnung der EU einerseits eine autonome Kategorie bildet, steht die unionale den nationalen Vertragskonzeptionen jedoch andererseits nicht völlig unverbunden gegenüber. Namentlich muss das Vertragsverständnis des Unionsrechts den Minimalkonsens der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen abbilden, um die dort anzutreffenden Verträge in sich aufnehmen zu können (1). Inwieweit das unionsrechtsimmanent entwickelte Verständnis dies zu leisten imstande ist, kann daher nur beantwortet werden, nachdem die Gemeinsamkeiten der nationalen Definitionen identifiziert sind. Dabei zeigt sich, dass weder „Seriositätsindizien“273 (2) noch die Schadensersatzbewehrung274 (3) zu den Wesensmerkmalen eines Vertrags zählen. 1. Minimalkonsens der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen Die Mitgliedstaaten der EU legen indes keinen uniformen Vertragsbegriff zugrunde, und überdies sind kodifizierte Definitionen selten. Eine prominente Ausnahme bildet der französische Code civil, der in Art. 1101 folgende Umschreibung voranstellt: „Le contrat est un accord de volontés entre deux ou plusieurs personnes destiné à créer, modifier, transmettre ou éteindre des obligations“.

Als zentrales Kriterium findet sich das Konsenserfordernis in der Vertragsdefinition aller mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen:275 Dies trifft z. B. auf das deutsche bürgerliche Recht ebenso wie auf das schwedische276 sowie das finnische Privatrecht zu.277 Als Grundanforderung an einen Vertrag stellt auch Art. 1108 des belgischen und des luxemburgischen Code civil „[l]e consentement“, Art. 1325 italienischer Codice civile „l‘accordo delle parti“ und Art. 1261 spanischer Código civil das „[c]onsentimiento“ voran. In der „overeenkomst“ nach niederländischem Recht ist der Konsens bereits begriffZum Begriff Kötz, in: Basedow / Hopt / Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009), S. 1397 ff. 274 Für die Berücksichtigung dises Kriteriums plädiert Schmidt-Kessel, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre (2015), § 17 Rn. 5. 275 Vgl. nur die Übersicht bei Schlesinger (ed.), Formation of Contract I (1968), S. 75 ff., 119 ff. sowie 615 ff. 276 Vgl. §§ 1 ff. Lag om avtal och andra rättshandlingar på förmögenhetsrättens område, SFS 1915:218. 277 Vgl. § 1 Laki varallisuusoikeudellisista oikeustoimista 13.6.1929/228. 273

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lich angelegt und wird durch Art. VI:217 und VI:213 Burgerlijk Wetboek in die Vertragsdefinition einbezogen.278 Auch im österreichischen Vertragsrecht kommt nach § 861 AGBGB nur „durch den übereinstimmenden Willen beyder Theile ein Vertrag zu Stande“. Neben das Konsenserfordernis treten sodann zwei weitere Voraussetzungen: Zum einen muss die Einigung zwischen mindestens zwei Parteien erzielt werden, und zum anderen müssen die übereinstimmenden Willenserklärungen gerade auf die Herbeiführung eines rechtlichen Erfolges gerichtet sein.279 Ein Vertrag setzt schließlich auch im englischen common law voraus, dass die „parties […] intend to create legal relations as a consequence of their agreement“.280 Bereits an dieser Stelle ist damit festzuhalten, dass im Spektrum der mitgliedstaatlichen Vertragsdefinitionen der auf Setzung von Rechtsfolgen zielende Konsens mindestens zweier Parteien den kleinsten gemeinsamen Nenner bildet. 2. Ausklammerung von „Seriositätsindizien“ Aus rechtsvergleichender Perspektive werden darüber hinaus vereinzelt noch weitere Kriterien zum Bestandteil eines unionalen Vertragsbegriffs gerechnet.281 Um die Belastbarkeit dieser Annahme überprüfen zu können, ist eine funktionale Dreiteilung der nationalen Vertragskonzeptionen hilfreich:282 Eine erste Gruppe bilden Rechtsordnungen, die – wie etwa das deutsche, österreichische, schottische und niederländische Recht – grundsätzlich den auf die Setzung von Rechtsfolgen gerichteten Konsens der Parteien genügen lassen. Eine zweite Kategorie von Rechtssystemen, namentlich das common law, fordert über diesen Konsens hinaus das Vorliegen der consideration.283 Dieses Element wird zuweilen als integraler Bestandteil des Vertragsverständnisses aufgefasst.284 Gewissermaßen zwischen den beiden vorgenannten 278 Art. VI:213 l Burgerlijk Wetboek autet: „Een overeenkomst in de zin van deze titel is een meerzijdige rechtshandeling, waarbij een of meer partijen jegens een of meer andere een verbintenis aangaan“ und Art. VI:217(1) Burgerlijk Wetboek präzisiert sodann: „Een overeenkomst komt tot stand door een aanbod en de aanvaarding daarvan“. 279 Vgl. nur die rechtsvergleichende Übersicht bei Schlesinger (ed.), Formation of Contract I (1968), S. 75 ff., 119 ff. sowie 615 ff. Besonders deutlich wird dies etwa in der im Zuge der Reform des französischen Schuldrechts neugefassten Vertragsdefinition in Art. 1101 Code civil: „Le contrat est un accord de volontés entre deux ou plusieurs personnes destiné à créer, modifier, transmettre ou éteindre des obligations“. 280 Statt aller Halsbury’s Laws (2012) Vol. 22 Rn. 203 und 300 ff. m. w. N. 281 In diesem Sinne z. B. GA Tizzano Schlussanträge v. 23.1.2001 – verb. Rs. C-108/99 u. a. (Cantor u. a.), Slg. 2001 I-7177 Rn. 27. 282 Graziadei, in: Schulze (ed.), New Features in Contract Law (2007), S. 311, 314 ff. In diesem Sinne schon Alpa, RIDC 1988, 327, 333 ff. 283 Siehe nur Halsbury’s Laws (2012) Vol. 22 Rn. 203. 284 Dazu z. B. Halsbury’s Laws (2012) Vol. 22 Rn. 203.

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Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

Konzepten angesiedelt sind als dritte Gruppe diejenigen romanischen Rechtsordnungen, welche nach einer verbreiteten Lesart die causa285 – und bis zur Reform des französischen Schuldrechts 2016 die cause286 – zur Vertragsdefinition rechnen.287 Gegen die Einbeziehung der consideration oder causa in eine unionale Vertragsdefinition spricht bereits, dass diese Kriterien selbst in den mitgliedstaatlichen Privatrechtsordnungen, denen solche Anforderungen bekannt sind, nicht Voraussetzung eines Vertrags sind: Bei den fraglichen Elementen handelt es sich vielmehr um „Seriositätsindizien“,288 welche zwar die Wirksamkeit- oder Durchsetzbarkeit eines Vertrags betreffen, nicht aber zu dessen Wesensmerkmalen zählen.289 Anders gewendet liegt also im common law und lag auch z. B. im französischen Schuldrecht bis zu dessen Reform durchaus ein Vertrag vor, obwohl consideration oder cause fehlen – nur handelt es sich in solchen Fällen dann entsprechend um einen undurchsetzbaren bzw. unwirksamen Vertrag.290 Die Einbeziehung solcher Kriterien in die Vertragsdefinition würde zudem in eine petitio principii münden: Bevor ein Rechtsanwender zur Frage der Wirksamkeit oder Durchsetzbarkeit eines Vertrags gelangen kann, muss schließlich zunächst geklärt werden, ob der fragliche Vor-

285 Vgl. nur Art. 1325, Art. 1343 und Art. 1418 italienischer Codice civile sowie z. B. Art. 1261, 1274 ff. spanischer Código civil. 286 Vgl. Art. 1108, Art. 1131 und Art. 1133 französischer Code civil a. F. 287 Für die Einbeziehung in die Vertragsdefinition plädiert mit Nachdruck etwa Monateri, RIDC 1984, 7, 21 ff. Ähnlich GA Tizzano Schlussanträge v. 23.1.2001 – verb. Rs. C108/99 u. a. (Cantor u. a.), Slg. 2001 I-7177 Rn. 27. Vgl. ferner Graziadei, in: Schulze (ed.), New Features in Contract Law (2007), S. 311, 317 sowie 314 ff. Vgl. zudem nur Art. 1325 italienischer Codice civile: „I requisiti del contratto sono: […] la causa“; Art. 1261 spanischer Código civil: „No hay contrato sino cuando concurren los requisitos siguientes: […] Causa de la obligación que se establezca“; Art. 1108 französischer Code civil a. F.: „Quatre conditions sont essentielles pour la validité d’une convention: […] Une cause licite dans l’obligation“. 288 Kötz, in: Basedow / Hopt / Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009), S. 1397 ff. 289 Vor diesem Hintergrund spitzt Kennedy, Colum. L. Rev. 100 (2000), 94, 108 das Verhältnis von consideration und Konsenserfodernis allgemein wie folgt zu: „Within ‚true‘ contract law, consideration doctrine is opposed to offer and acceptance, because the consideration requirement is imposed by the will of the sovereign on the parties, regardless of their wishes, say, to make an offer gratuitously irrevocable, whereas offer and acceptance is about finding the ‚meeting of the minds‘ of the parties“. 290 Mit Blick auf das common law sehen z. B. Cheshire, Fifoot & Furmston's Law of Contract (2012), S. 98 in der consideration entsprechend „the oldest of the requirements for a binding contract“ (Herv. d. Verf.), und auch unter Geltung der alten Fassung des französischen Code civil war die cause gerade eine „condition de validité du contrat“, statt aller Ghestin / Loiseau/ Serinet, La formation du contrat II (2013), Rn. 526 ff. Dies übergehen etwa Monateri, RIDC 1984, 7, 21 ff.; Alpa, RIDC 1988, 327, 333 ff.

§ 3 Selbstbestimmung und Vertrag als unionsrechtliche Kategorien

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gang überhaupt in die Kategorie des Vertrags einzuordnen und damit den jeweiligen Anforderungen an die causa bzw. consideration zu unterwerfen ist. Dass diese Elemente nicht Bestandteil eines unionsrechtlich-autonomen Vertragsbegriffs sind, findet schließlich auch eine Stütze in der Rechtsprechung des EuGH: Obschon sich die Generalanwälte ebenso wie nationale Gerichte in Vorabentscheidungsverfahren gelegentlich auf die Konzepte der causa291 oder der consideration292 stützten, hat der Gerichtshof diese Kriterien bislang in keiner seiner Entscheidungen als Elemente eines unionalen Vertragsbegriffs rezipiert. Paradigmatisch ist hierfür die Rechtssache Cantor, in welcher der Generalanwalt Tizzano das Konzept der „[c]ausa des Rechtsgeschäfts im Sinne der Rechtstradition mehrerer europäischer Länder“ gerade zu den „vorherrschenden Merkmale[n] eines […] Vertrags“ rechnet.293 Der EuGH hat diesen Ansatz – zu Recht – nicht aufgegriffen.294 Auch soweit der Begriff der consideration vereinzelt in der englischen Fassung von Unionsrechtsakten – wie z. B. Art. 157 Abs. 2 AEUV295 sowie der Lauterkeits-296 und der Mehrwertsteuerrichtline297 – aufscheint, wird damit keineswegs ein Element des unionsrechtlichen Vertragsverständnisses, sondern nur die Gegenseitigkeit oder Entgeltlichkeit der Verträge angesprochen. Diese Lesart wird 291 Vgl. nur GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 28.6.2012 – verb. Rs. C-124/11 u. a. (Dittrich u. a.), EU:C:2012:398 Rn. 45 (dort in Fn. 11). 292 Vgl. etwa GA Slynn Schlussanträge v. 28.10.1987 – Rs. 102/86 (Apple and Pear Development Council), Slg. 1988, 1455, 1458 ff. mit Blick auf die Wendung „supply of goods for consideration“ in der englischsprachigen Fassung der Mehrwertsteuerrichtlinie, vgl. z. B. Art. 2 Abs. 1 lit. a Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, ABl. 2006 L 347/1 (nachfolgend: Mehrwertsteuerrichtlinie). 293 GA Tizzano Schlussanträge v. 23.1.2001 – verb. Rs. C-108/99 u. a. (Cantor u. a.), Slg. 2001 I-7177 Rn. 27 will mithilfe der causa namentlich bestimmen, ob ein Vertrag über die „Vermietung und Verpachtung“ im Sinne des Art. 13 Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage, ABl. 1977 L 145/1, vorliegt. 294 Vgl. EuGH Urt. v. 9.10.2001 – Rs. C-108/99 (Cantor), Slg. 2001 I-7257. 295 Art. 157 Abs. 2 AEUV lautet in der englischen Fassung: „For the purpose of this article, ‘pay’ means the […] salary and any other consideration […] which the worker receives […] in respect of his employment“. 296 Vgl. Anhang I Nr. 14 Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken), ABl. 2005 L 149/22 („gives consideration for“). 297 Vgl. zum „supply of goods for consideration“ Art. 2 Abs. 1 lit. a Mehrwertsteuerrichtlinie.

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Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

sowohl durch den Abgleich der fraglichen Wendung mit anderen Sprachfassungen als auch insbesondere durch die EuGH-Judikatur bestätigt.298 3. Kein Erfordernis der Schadensersatzbewehrung Vereinzelt wird darüber hinaus die Durchsetzbarkeit der vertraglichen Bindung im Wege des Schadensersatzes zur Definition des Vertrags gerechnet.299 Wenngleich dies von der Warte des Unionsrechts eine gewisse Stütze in der primärrechtlichen Regelung des Art. 340 Abs. 1 AEUV finden mag, so ist Schadensersatz jedoch weder eine notwendige Folge der Verletzung von Vertragspflichten noch kommt diesem Instrument überhaupt die Funktion der lückenlosen Durchsetzung der eingegangenen Vertragsbindung zu. Besonders augenfällig wird dies zum einen in Konstellationen, in denen die Parteien Schadensersatzansprüche individualvertraglich so weit wie nach der jeweiligen Rechtsordnung möglich ausschließen: Liegt hier allein deshalb kein Vertrag im unionsrechtlich-autonomen Sinne vor, weil in der Regel keine Ersatzansprüche bei vertragswidrigem Verhalten Platz greifen? Dagegen spricht schon, dass weder in den nationalen Rechtsordnungen noch im Unionsprivatrecht jede Vertragsverletzung mit Schadensersatzansprüchen sanktioniert wird: Sowohl im mitgliedstaatlichen Vertragsrecht als auch beispielsweise nach der europäischen Verbrauchsgüterkaufrichtlinie können Ersatzansprüche in bestimmten Konstellationen sogar von vornherein ausge298 Beispielsweise wird die Wendung „any other consideration“ in der englischen Sprachfassung des Art. 157 Abs. 2 AEUV in der deutschen Fassung mit „alle sonstigen Vergütungen“, in der französischen mit „tous autres avantages“ sowie in der italienischen mit „tutti gli altri vantaggi“ übersetzt, siehe zu dieser – zuerst in der Tat umstrittenen – Lesart der englischen Sprachfassung GA Warner Schlussanträge v. 11.12.1980 – Rs. 69/80 (Lloyd’s Bank), Slg. 1981, 796, 804 f.; EuGH Urt. v. 16.2.1982 – Rs. 19/81 (Burton), Slg. 1982, 556, 560. Soweit Art. 2 Abs. 1 lit. a Mehrwertsteuerrichtlinie auf den „supply of goods for consideration“ Bezug nimmt, ist hierunter bei der gebotenen Zusammenschau der Sprachfassung die Entgeltlichkeit des Vertrags zu verstehen: So ist z. B. in der deutschen Fassung von „gegen Entgelt“, in der französischen von „à titre onéreux“, in der italienischen von „a titolo oneroso“ und in der spanischen schließlich von „a título oneroso“ die Rede, siehe auch GA Slynn Schlussanträge v. 28.10.1987 – Rs. 102/86 (Apple and Pear Development Council), Slg. 1988, 1455, 1458 ff.; EuGH Urt. v. 8.3.1988 – Rs. 102/86 (Apple and Pear Development Council), Slg. 1988, 1443 Rn. 11 ff. Ähnlich verhält es sich mit der Wendung „gives consideration for“ in Anhang I Nr. 14 Lauterkeitsrichtlinie: Beispielsweise lautet die spanische Sprachfassung „realice una contraprestación a cambio“, die italienische „fornisce un contributo in cambio“, die französische „verse une participation en échange“ und die portugiesische „dá a sua própria contribuição em troca“, vgl. mit Blick auf Verträge innerhalb eines „Schneeballsystems“ auch GA Sharpston Schlussanträge v. 19.12.2013 – Rs. C-515/12 (4finance), EU:C:2013:868 Rn. 23 ff.; EuGH Urt. v. 3.4.2014 – Rs. C-515/12 (4finance), EU:C:2014:211 Rn. 13 f. und 23 ff. 299 Schmidt-Kessel, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre (2015), § 17 Rn. 5.

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schlossen sein,300 ohne dass dies etwas an der vertraglichen Natur des Schuldverhältnisses zu ändern vermag. Zu erwähnen sind zum anderen auch Vertragsarten, bei denen die vertragsbrüchige Partei keine – oder zumindest keine nennenswerten – schadensersatzrechtlichen Folgen zu gewärtigen hat: So zieht z. B. im Dienstvertragsrecht eine Schlechtleistung des Dienstverpflichteten angesichts der persönlichen Prägung der Leistung regelmäßig keine schadensersatzrechtliche Sanktion nach sich.301 Überdies bestehen gerade im Arbeitsvertragsrecht eine Reihe von Haftungsprivilegierungen, welche zu einem weitreichenden Ausschluss der vertraglichen Haftung führen.302 Wollte man die Durchsetzbarkeit der Vertragsbindung durch Schadensersatzansprüche zum Gegenstand des Vertragsbegriffs erheben, müssten alle vorgenannten Verträge aus der Definition herausfallen. Entsprechend handelt es sich bei der schadensersatzrechtlichen Komponente weder um eine Voraussetzung des Vertrags im Sinne des nationalen noch des unionalen Privatrechts. Zusammenfassend bleibt damit festzuhalten, dass weder die causa oder consideration noch das Erfordernis der Schadensersatzbewehrung von Pflichtverletzungen in die unionsrechtlich-autonome Definition des Vertrags einzubeziehen sind.303 Hingegen setzt ein Vertrag in allen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen voraus, dass mindestens zwei Parteien übereinstimmende Willenserklärungen mit dem Ziel abgeben, sich rechtlich zu binden.304 III. Ertrag In der Unionsrechtsordnung muss der Vertragsbegriff autonom verstanden und damit grundsätzlich von dem nationalen Vertragsverständnis der EUMitgliedstaaten entkoppelt werden. Dennoch steht das unionale Vertragsverständnis den nationalen Vertragskonzeptionen nicht völlig unverbunden gegenüber, sondern bildet vielmehr den Minimalkonsens der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen ab, da es auch nationale Erscheinungsformen des Vertrags in sich aufnehmen muss. Beispielsweise liegt nach Art. 2 Abs. 3 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie bei Kenntnis oder Kennenmüssen des Verbrauchers bereits keine Vertragswidrigkeit vor, so dass der Verkäufer dem Verbraucher nicht im Sinne des Art. 3 Abs. 1 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie haftet. 301 Prägnant beispielsweise LG Köln Urt. v. 13.8.2013 – 29 O 22/13, BeckRS 2014, 10498: „Dabei gibt die bloße Schlechtleistung des Dienstverpflichteten, soweit kein darüber hinausgehender Schaden entstanden ist, dem Dienstberechtigten grundsätzlich keinen Anspruch auf Schadensersatz“. 302 Siehe zu § 619a BGB sowie den sonstigen Privilegierungen im deutschen Arbeitsrecht statt aller MünchKommBGB / Henssler (2016), § 619a BGB Rn. 5 ff. 303 Wie hier im Ergebnis z. B. auch Ghestin / Loiseau / Serinet, La formation du contrat I (2013), Rn. 52. 304 Vgl. nur die Übersicht bei Schlesinger (ed.), Formation of Contract I (1968), S. 75 ff., 119 ff. sowie 615 ff. 300

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Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

Die breit angelegte unionsrechtsimmanente Untersuchung hat die Säulen des unionalen Vertragsbegriffs sichtbar gemacht, die nicht zuletzt auch auf einem soliden rechtvergleichenden Fundament ruhen. Zum Begriffskern der unionalen Vertragskonzeption zählt der vom (i) Rechtsbindungswillen getragene (ii) Konsens (iii) mindestens zweier Parteien. C. Summe des ersten Kapitels Den Siegeszug der Vertragsfreiheit trieben im Wesentlichen zwei Entwicklungen voran: Erstens hat die Intensivierung des Handelsverkehrs schon frühzeitig nach einem dessen Bedürfnissen angepassten Verkehrsrecht verlangt. Wie ein roter Faden zieht sich diese ökonomische Wirkmacht vom römischen über das kanonische Recht bis hin zur modernen Rechtsentwicklung. Zweitens wirkte auch die Tendenz, Rechtsbeziehungen zu „subjektivieren“, schon im nachklassischen römischen Recht als Triebfeder der Erweiterung rechtsgeschäftlicher Autonomie und rückte auch den individuellen Willen der Parteien im Vertragsrecht allmählich in den Vordergrund.305 Volle Fahrt konnte diese Entwicklung indes erst unter dem Eindruck aufklärerischer Ideen aufnehmen, welche die vertragliche Selbstbestimmung als bedeutende Facette der Freiheit des vernunftbegabten Individuums identifizieren. So besehen kreuzen sich in der Vertragsfreiheit die Verbindungslinien zwischen den wirtschaftlichen Erfordernissen des Handelsverkehrs einerseits und individual-freiheitsrechtlichen Errungenschaften des siècle des lumières andererseits. Sowohl die wirtschaftliche als auch die individuelle Antriebskraft der Vertragsfreiheit wirkt auch heute in der Rechtsordnung der Europäischen Union fort: Zum einen zählt die Vertragsfreiheit zu den Strukturprinzipen der unionalen Wirtschaftsverfassung, da ohne sie weder der freie Wettbewerb noch überhaupt eine offene Marktwirtschaft möglich ist. 306 Vor diesem Hintergrund legt das Unionsrecht eine eigene, binnenmarktbezogene Legitimation der Vertragsfreiheit zugrunde. Zum anderen postuliert die Unionsrechtsordnung die natürliche Willens- und Selbstbestimmungsfreiheit der Person. Hierauf kann eine individualistische Legitimation der Vertragsfreiheit aufbauen: Die Freiheit, Verträge zu schließen, ist demnach anzuerkennen, weil sie Ausdruck der Selbstbestimmung und Persönlichkeitsentfaltung des vernunftbegabten Individuums in der rechtsgeschäftlichen Sphäre ist. Generalanwältin Trstenjak fasst den gegenwärtigen Stand der Rechtsentwicklung daher wie folgt treffend zusammen: 305 Zimmermann, The Law of Obligations (1996), S. 564: „[T]here was a general tendency (prevalent in other developed legal systems too) […] to ‚subjectivize‘ legal relations and to pay attention to the individual will rather than to strict and archetypal behavior patterns, to move from form to formlessness, from a nearly exclusive emphasis on certainty of law to equity“. 306 In diesem Sinne auch GA Trstenjak Schlussanträge v. 29.10.2009 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 63.

§ 3 Selbstbestimmung und Vertrag als unionsrechtliche Kategorien

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„Die [Unions]rechtsordnung wie auch die Rechtsordnungen ihrer Mitgliedstaaten beruhen […] auf dem Gedanken der Freiheit und der Eigenverantwortung des Individuums. Ihnen ist gemeinsam, dass sie ihm die Entscheidung überlassen, wie es seine schutzwürdigen Interessen am besten wahrt“.307

Da der Vertrag ein unverzichtbares Instrument der rechtsgeschäftlichen Selbstbestimmung ist, muss er zugleich eine feste Kategorie des Unionsrechts bilden. In der Tat lässt sich bereits eine eigenständige, unionsrechtlich-autonome Konzeption des Vertragsbegriffs ausmachen, die ihrerseits auf der Selbstbestimmungs- und Willensfreiheit des Individuums aufbaut. Ein Vertrag setzt demnach voraus, dass (i) mindestens zwei Parteien (ii) Konsens durch übereinstimmende und (iii) auf Herbeiführung eines rechtlichen Erfolges gerichtete Willenserklärungen erzielen. Der Vertragsbegriff des Unionsrechts ist nicht zuletzt deshalb von besonderer Bedeutung für die nachfolgende Untersuchung, weil hiervon sowohl der Gegenstand als auch der Umfang der Gewährleistung unionaler Vertragsfreiheit abhängt. Dies führt zur Frage, inwieweit und an welcher Stelle die Unionsrechtsordnung ebendiese Freiheit verbürgt.

307 GA Trstenjak Schlussanträge v. 28.3.2007 – Rs. C-331/05 P (Internationaler Hilfsfonds), Slg. 2007, I-5475 Rn. 93.

Kapitel 2

Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

In der Rechtsordnung der Europäischen Union besteht ein offener Widerspruch zwischen dem umfassenden Postulat der Vertragsfreiheit einerseits und der allenfalls lückenhaften Anbindung im geschriebenen Unionsrecht andererseits (§ 1). Dabei liegt es nahe, dass die unionale Vertragsfreiheit korrespondierend zu ihrer sowohl binnenmarktbezogenen als auch individualistischen Rechtfertigung1 gleich auf zwei Ebenen des Unionsrechts verankert ist. Namentlich streitet die marktbezogene Legitimation dafür, dass diese Freiheit das Leitprinzip des für den Austausch im Binnenmarkt unverzichtbaren Verkehrsrechts bildet: Demnach wäre die Vertragsfreiheit ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsprivatrechts. Zugleich deutet die individualfreiheitsrechtliche Rechtfertigung der Vertragsfreiheit darauf hin, dass die rechtsgeschäftliche Privatautonomie auch als Unionsgrundrecht verbürgt wird. Durch die Zusammenschau einer breiten Basis unionaler Rechtsakte sucht die vorliegende Abhandlung diese Ausgangshypothesen zu bestätigen (§ 2). Darauf aufbauend sind sodann der Gewährleistungsgehalt und die Privatrechtswirkungen unionaler Vertragsfreiheit in den Blick zu nehmen (§ 3).

§ 1 Lückenhafter Schutz und Postulat umfassender Vertragsfreiheit § 1 Lückenhafter Schutz und Postulat umfassender Vertragsfreiheit

Die Vertragsfreiheit wird im geschriebenen Primärrecht der Union bislang nur bereichsspezifisch garantiert (A). Dass die rechtsgeschäftliche Privatautonomie im Unionsrecht indes keineswegs einen in personeller und sachlicher Hinsicht eng umgrenzten Anwendungsbereich haben kann, folgt bereits daraus, dass die umfassende Gewährleistung der Vertragsfreiheit für jedermann sowohl im unionalen Primärrecht als auch in unterschiedlichen Sekundärrechtsakten als gegeben vorausgesetzt wird (B).

1

Siehe erneut oben Kapitel 1 § 2 C sowie Kapitel 1 § 3 C.

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Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

A. Lückenhafte Gewährleistung im geschriebenen Primärrecht Weder die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union noch die Grundfreiheiten (I) oder die kodifizierten Unionsgrundrechte (II) können einen umfassenden Schutz der Vertragsfreiheit im Binnenmarkt sicherstellen.2 I.

Wirtschaftsverfassung und Grundfreiheiten

1. Keine subjektiv-rechtliche Garantie durch Art. 119 Abs. 1 AEUV Die Rechtsordnung der Europäischen Union ist gemäß Art. 119 Abs. 1 AEUV einer „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ verpflichtet. Wenngleich seit dem Vertrag von Lissabon soziale Ziele stärker auf Ebene des unionalen Primärrechts herausgestellt werden, hat sich indes an der fundamentalen Systementscheidung3 zugunsten einer marktwirtschaftlichen Wettbewerbsordnung nichts geändert.4 Doch beinhaltet das Bekenntnis der Union zum freien Wettbewerb und zur offenen Marktwirtschaft bereits eine Garantie der Vertragsfreiheit im Sinne eines subjektiven Rechts der Marktbürger? Dies mögen beispielsweise die Schlussanträge der Generalanwältin Trstenjak in der Rechtssache Caja de Ahorros nahelegen: „Nach den Grundprinzipien einer liberalen Wirtschaftsordnung leg[en] die Vertragspartner Leistung und Gegenleistung, um deren Austausch willen der Vertrag geschlossen wird, autonom fest“.5

Vor diesem Hintergrund wird teilweise angenommen, dass die Vertragsfreiheit bereits durch das Bekenntnis der Union zum freien Wettbewerb und zur offenen Marktwirtschaft gewährleistet werde.6 Gegen eine solche Lesart des 2 Ähnlich bereits Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit im deutschen und europäischen Arbeitsrecht (2014), S. 265, der zu Recht betont, „dass die allgemeine Vertragsfreiheit keine ausdrückliche Aufnahme in die Grundrechte-Charta gefunden hat und auch nicht ohne weiteres aus den […] speziellen Grundrechten abzuleiten ist“. 3 So schon zum EWG-Vertrag Basedow, Von der deutschen zur europäischen Wirtschaftsverfassung (1992), S. 26 ff. 4 Basedow, EuZW 2008, 225; Riesenhuber, GS Wolf (2011), S. 123, 129. 5 So mit Blick auf Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie GA Trstenjak Schlussanträge v. 29.10.2009 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 63. 6 In diesem Sinne etwa Knobel, Wandlungen im Verständnis der Vertragsfreiheit (2000), S. 197; Laumann, Der privatrechtliche Vertragsschluss in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (2005), S. 72. Ähnlich Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang (1999), S. 35 f.; Schulze, GPR 2005, 56, 57 f.; MünchKommBGB / Busche (2015), Vor §§ 145 ff. BGB Rn. 4, die allerdings zusätzlich auf die Grundfreiheiten sowie einen „Grundsatz der allgemeinen Handlungsfreiheit“ rekurrieren. In diese Richtung weist auch Rossi, EuR 2000, 197, 217 mit der Bezugnahme auf die „dem EGV zugrunde liegend[e] und von ihm geschützt[e] Privatautonomie“. Siehe zu der Frage, ob die Grundfreiheiten des Binnenmarktes sowie die allgemeine Handlungsfreiheit als Anbindung der unionalen Vertragsfreiheit dienen können, eingehend unten I 2 sowie unten II 1.

§ 1 Lückenhafter Schutz und Postulat umfassender Vertragsfreiheit

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Art. 119 Abs. 1 AEUV streitet indes, dass diese Norm lediglich die Grundsätze der europäischen Wirtschaftsverfassung niederlegt und nach ständiger Rechtsprechung des EuGH keine Bestimmung ist, „auf die sich die Einzelnen vor den nationalen Gerichten berufen können“.7 Aber auch unter einem anderen Gesichtspunkt erscheint die Anbindung der unionalen Vertragsfreiheit an Art. 119 Abs. 1 AEUV zweifelhaft: Schließlich setzen der freie Wettbewerb ebenso wie eine offene Marktwirtschaft die Vertragsfreiheit als gegeben voraus und bedürfen ihrer, um effektiv zu sein.8 Anders gewendet kommt zwar ein offener Markt mit freiem Wettbewerb nicht ohne Vertragsfreiheit aus, wohl aber kann Vertragsfreiheit als rechtliche Gewährleistung auch in Abwesenheit jeglichen Wettbewerbs existieren und ausgeübt werden. Beispielsweise ist auch die bloß binäre Entscheidung, ein Vertragsangebot eines Monopolisten anzunehmen oder abzulehnen, immer noch Ausdruck individueller Freiheit in Gestalt der Abschlussfreiheit.9 Hier gilt es daher genau zwischen rechtlicher Freiheitsgewährleistung einerseits und tatsächlicher Freiheitsausübungsmöglichkeit andererseits zu trennen. Nur Letztere vermag der durch Art. 119 zum Element der Wirtschaftsverfassung erhobene und durch Art. 101 ff. AEUV geschützte freie Wettbewerb zu garantieren.10 Denn fraglos ist die Vertragsfreiheit ohne Wettbewerb weitgehend entwertet: Alle Facetten dieser Freiheit können sich nämlich nur entfalten, wenn echte Wahlmöglichkeiten – etwa betreffend den Vertragspartner und den Vertragsinhalt – am Markt bestehen.11 So besehen garantiert die Systementscheidung in Art. 119 Abs. 1 AEUV ein besonders günstiges Umfeld für die Ausübung der Vertragsfreiheit, da ein Mehr an Wettbewerb ein So z. B. EuGH Urt. v. 3.10.2000 – Rs. C-9/99 (Echirolles Distribution), Slg 2000, I8207 Rn. 25; EuGH Urt. v. 3.6.2010 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 46 ff. Vgl. auch EuGH Urt. v. 24.1.1991 – Rs. C-339/89 (Alsthom Atlantique), Slg. 1991, I-107 Rn. 8 ff. Siehe zur unionalen Wirtschaftsverfassung erneut oben Kapitel 1 § 2 A. 8 Siehe oben Kapitel 1 § 2 B sowie z. B. Canaris, FS Lerche (1993), S. 873, 890. 9 Vgl. Basedow, AcP 200 (2000), 445, 486. 10 Abzulehnen ist deshalb die vereinzelt gebliebene Auffassung von Laumann, Der privatrechtliche Vertragsschluss in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (2005), S. 72 und 76, wonach Art. 81 EGV bzw. Art. 85 EWG (nun Art. 101 AEUV) „Ausdruck des Grundsatzes der Vertragsfreiheit“ im Unionsrecht seien. Dieser Ansatz beruht auf einem Missverständnis der Entscheidung EuGH Urt. v. 30.3.2000 – Rs. C-265/ 97 P (VBA u. a./Kommission), Slg. 2000, I-2061 Rn. 134, in welcher der Gerichtshof zum einen nur die Rechtsansichten der Verfahrensbeteiligten referiert – ohne sich diese zu eigen zu machen – und zum anderen Art. 85 EWG nur als Beschränkung, nicht aber als Standort der Vertragsfreiheit im Unionsrecht behandelt. Die unionalen Wettbewerbsregeln fungieren auch nach Auffassung der GA Trstenjak Schlussanträge v. 29.10.2009 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 97 nicht als Garantie umfassender Vertragsfreiheit, denn „[d]en Bestimmungen des Wettbewerbsrechts lässt sich […] nichts entnehmen, was hoheitliche Eingriffe in die Privatautonomie […] verbieten würde“. 11 Basedow, AcP 200 (2000), 445, 486. 7

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Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

Mehr an Wahlmöglichkeiten bedeutet.12 Damit dient die in Art. 119 Abs. 1 AEUV verbürgte „offen[e] Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ also der Schaffung, Erhaltung und Stärkung der Funktionsvoraussetzungen der Vertragsfreiheit.13 Eine rechtliche Verbürgung der Vertragsfreiheit als individuelles unionales Freiheitsrecht enthält Art. 119 AEUV dagegen nicht. 2. Keine umfassende Gewährleistung durch die Grundfreiheiten Der ungehemmte grenzüberschreitende Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital ist ohne den freien Abschluss privatrechtlicher Verträge kaum denkbar.14 Vor diesem Hintergrund ist die Vertragsfreiheit frühzeitig als die „wahre Grundfreiheit“ bezeichnet worden.15 Bisweilen werden die Grundfreiheiten zudem selbst als Ankerpunkt der Vertragsfreiheit in der Unionsrechtsordnung gesehen.16 Dies begegnet jedoch gleich unter mehreren Gesichtspunkten Bedenken. a) Begrenzung auf Binnenmarktsachverhalte Zunächst folgt aus dem Umstand, dass die Ausübung der Grundfreiheiten die Vertragsfreiheit notwendig voraussetzt,17 keineswegs zwingend, dass die Grundfreiheiten des Binnenmarktes selbst die Vertragsfreiheit als subjektives Recht umfassend verbürgen. Dagegen spricht unter systematischen Aspekten bereits, dass die Grundfreiheiten der Verwirklichung des Binnenmarktes und damit einer institutionellen Zielsetzung dienen.18 Der Schutz der grenzüberschreitenden Ausübung individueller Vertragsfreiheit ist gewissermaßen lediglich ein Reflex des übergeordneten Binnenmarktziels und reicht immer

Siehe auch erneut oben Kapitel 1 § 2 B. Dazu noch eingehend unten Kapitel 4 § 1 B. 14 Prägnant Müller-Graff, NJW 1993, 13 f.: „Das Integrationskonzept des EWG-Vertrags zielt demzufolge zuvörderst auf die Wahrnehmung von Grundfreiheiten […] und setzt damit auf die verbindenden Kräfte der möglichst ungehindert grenzüberschreitend initiativen Privatautonomie“. Ähnlich bereits zuvor Rittner, JZ 1990, 838, 841. 15 Mülbert, ZHR 159 (1995), 2, 8. 16 In diesem Sinne statt vieler Schmidt-Leithoff, FS Rittner (1991), S. 597, 606; v. Wilmowsky, JZ 1996, 590, 591; Szczekalla, DVBl. 2005, 286, 287; Busseuil, Contribution à l’étude de la notion de contrat en droit privé européen (2009), S. 202; Wolf /  Lindacher / Pfeiffer, AGB-Recht (2013), Vor Art. 1 Klauselrichtlinie Rn. 11 sowie Art. 8 Klauselrichtlinie Rn. 22; Mohr, Sicherung der Vertragsfreiheit durch Wettbewerbs- und Regulierungsrecht (2015), S. 113 f. 17 Frenz, Handbuch Europarecht IV: Europäische Grundrechte (2009), Rn. 2698 spricht treffend von der „Grundlagenfunktion“ der Vertragsfreiheit. Ähnlich auch Reich, General Principles of EU Civil Law (2014), S. 20: „[F]undamental freedoms […] presuppose freedom of contract“. 18 Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht (2004), S. 111. 12 13

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nur so weit, wie die institutionelle Zielsetzung dies erfordert.19 Bereits in der Rechtssache Keck hat der EuGH daher klargestellt, dass sich Wirtschaftsteilnehmer keineswegs auf die Warenverkehrsfreiheit berufen können, „um jedwede Regelung zu beanstanden, die sich als Beschränkung ihrer geschäftlichen Freiheit auswirkt, auch wenn sie nicht auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten gerichtet ist“.20 Schließlich besteht die Funktion der Grundfreiheiten in der „Liberalisierung des […] Handels [innerhalb der Union, und nicht darin,] die freie Ausübung der Handelstätigkeit in den einzelnen Mitgliedstaaten [zu] fördern“.21 Entsprechend setzt die Anwendung der Verkehrsfreiheiten einen Binnenmarktbezug voraus, der regelmäßig durch einen grenzüberschreitenden Sachverhalt hergestellt wird.22 Hier offenbart sich die erste Schwachstelle der Anbindung der unionalen Vertragsfreiheit an die Grundfreiheiten: Die Verkehrsfreiheiten können die Vertragsfreiheit niemals umfassend um ihrer selbst willen, sondern einzig und allein in binnenmarktrelevanten Sachverhalten gewährleisten.23 In „rein“ innerstaatlichen Konstellationen entfiele daher dieser unionsrechtliche Schutz der Vertragsfreiheit.24 Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht (2004), S. 111. Ähnlich Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbrauchervertragsrechts (2004), S. 330; Comparato / Micklitz, in: Bernitz / Groussot / Schulyko (eds.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), S. 121, 128. 20 EuGH Urt. v. 24.11.1993 – verb. Rs. C-267/91 u. a. (Keck u. a.), Slg. 1993, I-6097 Rn. 14. 21 GA Wahl Schlussanträge v. 5.9.2013 – verb. Rs. C-159/12 u. a. (Venturini u. a.), EU:C:2013:529 Rn. 27 in Anlehnung an GA Tesauro Schlussanträge v. 27.10.1993 – Rs. C-292/92 (Hünermund), Slg. 1993, I-6800 Rn. 28. 22 Vgl. nur EuGH Urt. v. 17.6.1997 – Rs. C-70/95 (Sodemare), Slg. 1997, I-3395 Rn. 38. Siehe ferner z. B. Frenz, Handbuch Europarecht I: Europäische Grundfreiheiten (2004), Rn. 769; Grabitz / Hilf / Nettesheim / Leible / T. Streinz (2015), Art. 34 AEUV Rn. 33. Calliess / Ruffert / Kingreen (2016), Art. 36 AEUV Rn. 16 sieht in dem grenzüberschreitenden Bezug zwar keine selbständige Anwendungsvoraussetzung, sondern will dieses Erfordernis im Rahmen der Beeinträchtigung berücksichtigen. Vgl. zum Kriterium des Binnenmarktbezugs jüngst EuGH Urt. v. 14.11.2013 – Rs. C-221/12 (Belgacom), EU:C:2013:736 Rn. 28 ff. sowie eingehend Wollenschläger, FS Müller-Graff (2015), S. 443 ff. 23 Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH sind die Grundfreiheiten „nicht auf Betätigungen anwendbar […], deren Merkmale sämtlich nicht über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen“, siehe nur EuGH Urt. v. 22.12.2010 – Rs. C-245/09 (Omalet), Slg. 2010, I-13771 Rn. 12; EuGH Urt. v. 12.12.2013 – Rs. C-292/12 (Ragn-Sells), EU:C:2013: 820 Rn. 70, jeweils m. w. N. Freilich stellt der Gerichtshof zuweilen nur geringe Anforderungen an den grenzüberschreitenden Bezug, vgl. etwa EuGH Urt. v. 8.5.2013 – verb. Rs. C-197/11 u. a. (Libert u. a.), EU:C:2013:288 Rn. 34 f. 24 Dies wird z. B. in den im Gefolge von EuGH Urt. v. 10.1.1985 – Rs. 229/83 (Leclerc u. a.), Slg. 1985, Rn. 25 ff. entschiedenen Rechtssachen gerade mit Blick auf die Preisfreiheit als Facette der Vertragsinhaltsfreiheit offensichtlich: So stellt EuGH Urt. 23.10.1986 – Rs. 355/85 (Driancourt), Slg. 1986, 3231 Rn. 5, 12; EuGH Urt. v. 25.2.1987 – Rs. 168/86 (Rousseau), Slg. 1987, 995 Rn. 7 heraus, dass „für Bücher, die in dem betreffenden Mitgliedstaat selbst verlegt und gedruckt wurden, freie Preise gelten, wenn sie nach ihrer 19

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b) Beschränkungen sind regelmäßig „zu ungewiss und zu mittelbar“ Selbst wo ein Binnenmarktsachverhalt vorliegt, können die Grundfreiheiten im schuldrechtlichen Kontext allenfalls begrenzt in Stellung gebracht werden.25 So bietet beispielsweise die Warenverkehrsfreiheit nach der KeckEntscheidung des EuGH regelmäßig26 keinen Schutz gegen Verkaufsmodalitäten, die alle im Inland tätigen in- und ausländischen Wirtschaftsakteure „rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren“.27 Dies dürfte indes auf die überwiegende Vielzahl der Regelungen des mitgliedstaatlichen Vertragsrechts zutreffen.28 Freilich enthält das nationale Vertragsrecht dort Produktvorschriften, wo es Rechtsprodukte, wie insbesondere Versicherungsverträge,29 prägt. Obschon solche Regelungen potenziell geeignet sind, die Dienstleistungsfreiheit zu beeinträchtigen,30 muss allgemein bezweifelt werden, ob die Vertragsfreiheit durch die Grundfreiheiten hinreichend geschützt werden kann. Der Gerichtshof wertet etwaige Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten durch vertragsrechtliche Normen nämlich in der Regel als „zu ungewiss und zu mittelbar“.31 Infolgedessen vermögen die Grundfreiheiten im Ausfuhr in einen anderen Mitgliedstaat reimportiert wurden, während für Bücher, die nicht Gegenstand eines grenzüberschreitenden Handels innerhalb der Gemeinschaft waren, der Preis vom Verleger vorgeschrieben“ werden könne (Herv. d. Verf.). 25 Schon mit Blick auf Art. 30 EWG hat GA Darmon Schlussanträge v. 10.3.1989 – verb. Rs. 266/87 u. a. (Royal Pharmaceutical Society u. a.), Slg. 1989, 1295 Rn. 22 herausgestellt, dass selbst wenn Einfuhren im Binnenmarkt ausnahmsweise einmal „davon ab[hängen], ob die Grundsätze des Vertragsrechts beachtet würden oder nicht“, die Einhaltung allgemeiner vertragsrechtlicher Grundsätze wie etwa des Grundsatzes „Pacta sunt servanda [niemals] gegen Artikel 30 verstieße […]. Diese Grundsätze stehen […] ganz offenkundig als solche außerhalb jeden Zusammenhangs mit den Einfuhren“. 26 Ausnahmen können freilich dort bestehen, wo unterschiedslos anwendbare Maßnahmen den Marktzugang von Wirtschaftsakteuren aus anderen Mitgliedstaaten erschweren, vgl. z. B. EuGH Urt. v. 10.5.1995 – Rs. C-384/93 (Alpine Investments), Slg. 1995, I-1141 Rn. 23 ff.; EuGH Urt. v. 29.3.2011 – Rs. C-565/08 (Kommission / Italien), Slg. 2011, I2101 Rn. 46. 27 Vgl. EuGH Urt. v. 23.11.1993 – verb. Rs. C-267/91 u. a. (Keck u. a.), Slg. 1993, I6097 Rn. 16 sowie zuletzt etwa EuGH Urt. v. 8.5.2014 – Rs. C-483/12 (Pelckmans Turnhout), EU:C:2014:304 Rn. 24. 28 So auch z. B. Remien, Zwingendes Vertragsrechts und Grundfreiheiten des EGVertrages (2003), S. 193 ff. und 498; Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts (2003), S. 94 ff. A. A. Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht (1996), S. 107 sowie 99 ff. 29 Vgl. statt aller Dreher, Versicherung als Rechtsprodukt (1991). 30 Siehe vor allem W.-H. Roth, VersR 1993, 129, 135. Vgl. zum Bankvertragsrecht jüngst auch z. B. EuGH Urt. v. 12.7.2012 – Rs. C-602/10 (Volksbank România), EU:C: 2012:443 Rn. 77 ff. 31 Vgl. nur EuGH Urt. v. 13.10.1993 – Rs. C-93/92 (CMC), Slg. 1993, I-500 Rn. 12; EuGH Urt. v. 27.1.2000 – Rs. C-190/98 (Graf), Slg. 2000, I-493 Rn. 25. Dazu statt vieler Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85, 90; Kohler / Puffer-Mariette, ZEuP

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privatrechtlichen Kontext kaum eine lückenlose Aussage darüber zu treffen, ob, wie und in welchem Umfang die Vertragsfreiheit einerseits verbürgt sein muss und andererseits ausgestaltet und beschränkt werden darf.32 Dies wird besonders deutlich in der Rechtssache Volksbank România, in welcher der EuGH eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit durch das Verbot bestimmter Bankprovisionen im rumänischen Bankvertragsrecht mit dem Argument verneint, solche Beeinträchtigungen durch das mitgliedstaatliche Vertragsrecht seien „zu ungewiss und zu mittelbar“.33 Obwohl die Banken zweifelsohne in ihrer Inhaltsfreiheit betroffen sind und ihre Vertragsklauseln anpassen müssen, sieht der EuGH hierin von der Warte der Grundfreiheiten keinerlei „Einmischung in die Vertragsfreiheit dieser Institute“.34 Wo aber nach der Lesart des Gerichtshofs noch nicht einmal der Schutzbereich der Grundfreiheiten berührt ist, können Inhalt und Schranken der Vertragsfreiheit schwerlich umrissen werden. Von der Vertragsfreiheit als Garantin der rechtsgeschäftlichen Autonomie des Einzelnen bleibe bei einer Anbindung an die Grundfreiheiten somit wenig übrig. c) Grundfreiheiten als Schranken der Vertragsfreiheit Die Grundfreiheiten des Binnenmarktes gewährleisten nicht nur Handlungsfreiräume, sondern setzen der Vertragsfreiheit teilweise auch Grenzen. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH sind die Verkehrsfreiheiten unter bestimmten Voraussetzungen nicht nur an die Mitgliedstaaten gerichtet, sondern auch im Verhältnis zwischen privaten Akteuren zu beachten: Namentlich sah der Gerichtshof bereits in seiner Walrave-Entscheidung die Verkehrsfreiheiten potenziell dadurch bedroht, „dass privatrechtliche Vereinigungen oder Einrichtungen kraft ihrer rechtlichen Autonomie“ Hindernisse für die Ausübung der Grundfreiheiten errichten, etwa mithilfe von „Verträge[n] und sonstige[n] Rechtsgeschäfte[n], die von Privatpersonen geschlossen“ werden.35 Vor diesem Hintergrund soll das Diskriminierungsverbot im Kontext der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 ff. AEUV), der Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 ff.

2014, 696, 713. Eine Ausnahme bildet aber etwa die von Amts wegen durch belgische Gerichte zu prüfende Nichtigkeit von Vertragsdokumenten und insbesondere Rechnungen, die nicht in einer der Amtssprachen Belgiens abgefasst sind, vgl. EuGH Urt. v. 21.6.2016 – Rs. C-15/15 (New Valmar), EU:C:2016:464 Rn. 45 f. 32 Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85, 90. Vgl. auch Rutgers, ERCL 5 (2009), 95, 105. 33 EuGH Urt. v. 12.7.2012 – Rs. C-602/10 (Volksbank România), EU:C:2012:443 Rn. 81. 34 EuGH Urt. v. 12.7.2012 – Rs. C-602/10 (Volksbank România), EU:C:2012:443 Rn. 77. 35 EuGH Urt. v. 12.12.1974 – Rs. 36/74 (Walrave), Slg. 1974, 1405 Rn. 16 ff. Gleichsinnig zuletzt z. B. EuGH Urt. v. 17.7.2008 – Rs. C-94/07 (Raccanelli), Slg. 2008 I-5939 Rn. 45.

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AEUV) sowie des Art. 18 AEUV jeweils „horizontale Wirkung“ entfalten36 und sowohl Sportverbände,37 berufsständische Vertretungen,38 Gewerkschaften,39 Krankenhäuser40 und Arbeitgeber41 binden.42 Hinzu kommt, dass der Gerichtshof jüngst auch eine private Zertifizierungsgesellschaft durch die Warenverkehrsfreiheit im Verhältnis zu einem anderen Privaten verpflichtet sah.43 Gleichviel, ob diese Beeinflussung privatrechtlicher Beziehungen systematisch als unmittelbare44 oder mittelbare45 Drittwirkung einzuordnen ist, wirken hier die Grundfreiheiten für die durch sie verpflichtete Partei nicht als Garanten, sondern, ganz im Gegenteil, als Beschränkungen der rechtsgeschäftlichen Au-

Mit Blick auf die Warenverkehrsfreiheit nach Art. 34 ff. AEUV hat EuGH Urt. v. 22.1.1981 – Rs. 58/80 (Dansk Supermarked), Slg. 1981, 181 Rn. 17 eine horizontale Wirkung zwischen Privaten zwar zunächst bejaht, sodann aber in nunmehr ständiger Rechtsprechung abgelehnt, siehe EuGH Urt. v. 5.4.1984 – verb. Rs. 177/82 u. a. (van de Haar), Slg. 1984, 1797 Rn. 11 ff.; EuGH Urt. v. 1.10.1987 – Rs. 311/85 (Vlaamse Reisbureaus), Slg. 1987, 3801 Rn. 30; EuGH Urt. v. 27.9.1988 – Rs. 65/86 (Bayer), Slg. 1988, 5249 Rn. 11; EuGH Urt. v. 6.6.2002 – Rs. C-159/00 (Sapod Audic), Slg. 2002, I-5031 Rn. 74. 37 EuGH Urt. v. 12.12.1974 – Rs. 36/74 (Walrave), Slg. 1974, 1405 Rn. 16 ff.; EuGH Urt. v. 14.7.1976 – Rs. 13/76 (Donà), Slg. 1976, 1333 Rn. 17 ff.; EuGH Urt. v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4921 Rn. 82; EuGH Urt. v. 11.4.2000 – verb. Rs. C51/96 u. a. (Deliège), Slg. 2000, I-2549 Rn. 47; EuGH Urt. v. 13.4.2000 – Rs. C-176/96 (Lehtonen), Slg. 2000, I-2681 Rn. 35. Vgl. zuletzt etwa EuGH Urt. v. 18.7.2006 – Rs. C519/04 P (Meca-Medina), Slg. 2006, I-6991 Rn. 24. 38 EuGH Urt. v. 19.2.2002 – Rs. C-309/99 (Wouters), Slg. 2002, I-1577 Rn. 120. 39 EuGH Urt. v. 11.12.2007 – Rs. C-438/05 (Viking), Slg. 2007, I-10779 Rn. 32 ff. und 56 ff.; EuGH Urt. v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05 (Laval), Slg. 2007, I-11767 Rn. 98 ff. 40 Siehe zu einem unterschiedlichen Behandlungsgebührensatz für Behandlungsverträge mit In- und Ausländern EuGH Urt. v. 3.10.2000 – Rs. C-411/98 (Ferlini), Slg. 2000, I8081 Rn. 47 ff. 41 EuGH Urt. v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 (Angonese), Slg. 2000, I-4139 Rn. 31 ff.; EuGH Urt. v. 17.7.2008 – Rs. C-94/07 (Raccanelli), Slg. 2008 I-5939 Rn. 45; EuGH Urt. v. 28.6.2012 – Rs. C-172/11 (Daimler), EU:C:2012:399 Rn. 48. 42 Siehe zur „horizontalen“ Wirkung bzw. Drittwirkung der Grundfreiheiten statt vieler Jarass, EuR 2000, 705, 715 f.; Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht (2004), S. 722 ff.; Schepel, ERPL 21 (2013), 1211 1213 ff. Eine Drittwirkung des grundfreiheitlichen Beschränkungsverbots bejaht darüber hinaus unter bestimmten Voraussetzungen W.-H. Roth, FS Medicus (2009), S. 393, 410 ff. 43 EuGH Urt. v. 12.7.2012 – Rs. C-171/11 (Fra.bo), EU:C:2012:453 Rn. 21 ff. Zu den Besonderheiten des Falles statt vieler W.-H. Roth, EWS 2013, 16 ff. 44 Eine unmittelbare horizontale Wirkung bejahen v. d. Groeben / Schwarze / MüllerGraff (2003), Art. 28 EGV Rn. 306; W.-H. Roth, FS Medicus (2009), S. 393, 418 f. 45 Für eine lediglich mittelbare Drittwirkung plädieren beispielsweise Rossi, EuR 2000, 197, 217; Canaris, in: Bauer / Cybulka / Kahl u. a. (Hrsg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht (2002), S. 29, 37 ff. und insbesondere 49 f.; Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts (2003), S. 103 f.; Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht (2004), S. 804 ff.; MünchKommBGB / Armbrüster (2015), § 134 BGB Rn. 38. 36

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tonomie.46 Entsprechend kann die Vertragsfreiheit in solchen Konstellationen zur Rechtfertigung von Verkürzungen der Verkehrsfreiheiten herangezogen werden: Generalanwalt Poiares Maduro fordert in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Viking daher eine Abwägung zwischen „der Schwere des der Ausübung der Verkehrsfreiheit entgegenstehenden Hindernisses und der Bedeutung sowie der Stichhaltigkeit hiermit konkurrierender Belange der Privatautonomie“.47

Die Grundfreiheiten wirken demnach mitnichten nur als Freiheitsverbürgungen, sondern können die rechtsgeschäftliche Autonomie empfindlich verkürzen.48 In der Summe bleibt festzuhalten, dass die Grundfreiheiten des Binnenmarktes sich nicht als Grundlage einer allgemeinen und umfassenden Gewährleistung der Vertragsfreiheit im Unionsrecht eignen.49 II. Insularer Schutz durch kodifizierte Unionsgrundrechte Bei der „Durchführung des Rechts der Union“ und somit auch des Unionsprivatrechts sind die EU-Mitgliedstaaten an die GRCh gebunden. Hinzu treten die ungeschriebenen Unionsgrundrechte im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV. Während die EMRK einen bedeutenden Referenzpunkt in der Rechtsprechung des EuGH bildet, liegt der Fokus im Folgenden auf den Unionsgrundrechten, weil diese zum einen ohnehin das Mindestschutzniveau korrespondierender Grundrechte 46 Prägnant W.-H. Roth, FS Medicus (2009), S. 393, 413 ff.; Köndgen, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre (2015), § 6 Rn. 32. 47 GA Poiares Maduro Schlussanträge v. 23.5.2007 – Rs. C-438/05 (Viking), Slg. 2007, I-10779 Rn. 49 (Herv. d. Verf.). Ebenso Nowak, FS Müller-Graff (2015), S. 475, 478 ff. Cremer, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 1 Rn. 162 bemerkt treffend: „Werden aber Private durch das Unionsrecht zugunsten anderer Privater in die Pflicht genommen […], ist schwerlich einzusehen, weshalb sie einer solchen Belastung nicht ihrerseits Grundrechte entgegenhalten können sollten; dies würde insbesondere einer unverhältnismäßigen Beschränkung ihrer Freiheit wehren – einer Freiheit, die nach der Logik des Grundanliegens der Binnenmarktes, europaweit freie Marktwirtschaft zu verwirklichen, an sich allen privaten Marktsubjekten zuzugestehen ist“. 48 Z. B. Canaris, in: Bauer / Cybulka / Kahl u. a. (Hrsg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht (2002), S. 29, 44 ff.; v. d. Groeben / Schwarze / Müller-Graff (2003), Art. 28 EGV Rn. 306. 49 Ebenso Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85, 90; Rutgers, ERCL 5 (2009), 95, 98 ff. Dessen ungeachtet mögen die Verkehrsfreiheiten in Binnenmarktsachverhalten bestimmte von der Vertragsfreiheit umfasste Garantien durchaus grundfreiheitlich untermauern: So können etwa gesetzliche Beschränkungen der freien Wahl eines Vertragspartners aus einem anderen Mitgliedstaat an den Grundfreiheiten zu messen sein, vgl. GA Sharpston Schlussanträge v. 16.7.2009 – Rs. C-325/08 (Olympique Lyonnais), Slg. 2010, I2177 Rn. 43; EuGH Urt. v. 16.3.2010 – Rs. C-325/08 (Olympique Lyonnais), Slg. 2010, I2177 Rn. 35. In diese Richtung deutet nun auch EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 62 ff. Siehe zu dieser Interaktion binnenmarktbezogener und individual-rechtlicher Vertragsfreiheit näher unten Kapitel 3 § 1 C II.

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der EMRK wahren50 und die Konvention zum anderen mangels Beitritts der EU nicht Teil der Unionsrechts ist.51 Ein wesentlicher Unterschied zwischen den Grundfreiheiten und den Unionsgrundrechten besteht darin, dass die Grundrechte auch in innerstaatlichen Sachverhalten zu beachten sein können: Anders als bei den Verkehrsfreiheiten führt hier nämlich nicht der Binnenmarktbezug, sondern vielmehr schon eine bestimmte Verbindung zum Unionsrecht zur Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte.52 Dabei geht der EuGH in seiner jüngeren Rechtsprechung grundsätzlich von einem einheitlichen Anwendungsbereich der unterschiedlichen Unionsgrundrechte aus53 und rekurriert auf diese Grundrechtsverbürgungen bereits dann, wenn der „Geltungsbereich des Unionsrechts“ eröffnet ist.54 Ausweislich des Art. 6 Abs. 1 EUV sind „die Charta der 50 Gemäß Art. 52 Abs. 3 GRCh haben die Unionsgrundrechte grundsätzlich „die gleiche Bedeutung und Tragweite“ wie gleichlautende Grundrechte der EMRK, wobei das „Recht der Union aber einen weitergehenden Schutz“ gewähren kann. Siehe zum Vorrang der GRCh nur GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 14.4.2011 – Rs. C-70/10 (Scarlet Extended), Slg. 2011, I-11959 Rn. 29 ff. 51 Siehe zur ablehnenden Haltung des Gerichtshofs gegenüber dem in Art. 6 Abs. 2 EUV vorgesehenen Beitritt jüngst EuGH Gutachten v. 18.12.2014 – Gutachtenverfahren 2/13 (EMRK-Beitritt II), EU:C:2014:2454. Vgl. schon zuvor EuGH Gutachten v. 28.3.1996 – Gutachtenverfahren C-2/94 (EMRK-Beitritt I), Slg. 1996, I-1759. Freilich berücksichtigt der EuGH dessen ungeachtet die Grundrechte der EMRK insbesondere im Kontext der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts nach Art. 6 Abs. 3 EUV, dazu eingehend GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 14.4.2011 – Rs. C-70/10 (Scarlet Extended), Slg. 2011, I11959 Rn. 29 ff. 52 Statt vieler Frenz, Handbuch Europarecht I: Europäische Grundfreiheiten (2004), Rn. 61. Vgl. zu solchen Fallgestaltungen im Kontext des Art. 21 GRCh jüngst etwa EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 (Test-Achats), Slg. 2011, I-773 Rn. 2 ff. und 30 ff.; EuGH Urt. v. 8.9.2011 – verb. Rs. C-297/10 u. a. (Hennings u. a.), Slg. 2011, I-7965 Rn. 28 ff. und 46 ff. Siehe zu Grundrechten im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV nur EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 12 und 50 f. 53 Deutlich stellt zuletzt etwa EuGH Urt. v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 (Association de médiation sociale), EU:C:2014:2 Rn. 42 heraus, „dass nach ständiger Rechtsprechung die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen Anwendung finden“ (Herv. d. Verf.). 54 Siehe hierzu noch ausführlich unten § 3 B II. Siehe zur Anwendung der Unionsgrundrechte der GRCh im „Geltungsbereich des Unionsrechts“ nur EuGH Urt. v. 15.11.2011 – Rs. C-256/11 (Dereci), Slg. 2011, I-11315 Rn. 71 f.; EuGH Urt. v. 7.6.2012 – Rs. C-27/11 (Vinkov), EU:C:2012:326 Rn. 58; EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 19 ff. und 45 ff.; EuGH Urt. v. 26.9.2013 – Rs. C-418/11 (Texdata), EU:C:2013:588 Rn. 73; EuGH Urt. v. 26.9.2013 – Rs. C-476/11 (HK Danmark), EU:C:2013:590 Rn. 19 f.; EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-390/12 (Pfleger), EU: C:2014:281 Rn. 33 f.; EuGH Urt. v. 10.7.2014 – Rs. C-198/13 (Hernández), EU:C:2014: 2055 Rn. 32 ff.; EuGH Urt. v. 5.2.2015 – Rs. C-117/14 (Nisttahuz Poclava), EU:C:2015:60 Rn. 28 ff. In diesem Sinne wohl bereits EuGH Urt. v. 22.12.2010 – Rs. C-279/09 (DEB), Slg. 2010, I-13849 Rn. 29 ff. sowie 59 ff. Siehe zum Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte vor dem Inkrafttreten der GRCh z. B. EuGH Urt. v. 18.6.1991 – Rs. C-260/89

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Grundrechte und die Verträge […] rechtlich gleichrangig“. Im gesamten Unionsprivatrecht treten daher entsprechend die auf Ebene des Primärrechts angesiedelten unionalen Grundrechte in den Vordergrund, während nationale grundrechtliche Gewährleistungen der Vertragsfreiheit, wie in Deutschland z. B. Art. 2 Abs. 1 GG, zurückgedrängt werden.55 Allerdings widmet sich keine der Bestimmungen der GRCh ausdrücklich der Vertragsfreiheit. Insbesondere gewährleisten weder Art. 1 noch Art. 6 GRCh die rechtsgeschäftliche Privatautonomie (1). Die Vertragsfreiheit wird in der Charta vielmehr nur kontextspezifisch und reflexhaft geschützt (2). 1. Keine Anbindung an Menschenwürde oder Handlungsfreiheit „To be free to choose, and not to be chosen for, is an inalienable ingredient in what makes human beings human“56 – dieser Erkenntnis Isaiah Berlins folgend, ist die Menschenwürde wiederholt als Anbindung der Vertragsfreiheit genannt worden.57 Allerdings schützt die Menschenwürdegarantie des Art. 1 GRCh nur vor extremen „Situationen depersonalisierter Beherrschung“. 58 Art. 1 GRCh ist überdies nicht als Auffanggrundrecht im Sinne einer allgemeinen Handlungsfreiheit, sondern vielmehr als spezielles und höchstrangiges Grundrecht konzipiert.59 Während andere grundrechtliche Verbürgungen zwar durch Art. 1 GRCh um einen Menschenwürdekern verstärkt werden mögen,60 (ERT), Slg. 1991, I-2925 Rn. 42; EuGH Urt. v. 24.3.1994 – Rs. C-2/92 (Bostock), Slg. 1994, I-955 Rn. 16; EuGH Urt. v. 27.6.2006 – Rs. C-540/03 (Parlament / Rat), Slg. 2006, I5769 Rn. 105. Für diese weite Lesart des Art. 51 GRCh zu Recht schon Schwarze / Hatje (2012), Art. 51 GRCh Rn. 18 f. 55 Siehe erneut oben Einleitung A III sowie statt vieler Wollenschläger, in: Hatje /  Müller-Graff (Hrsg.), EnzEuR I: Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht (2014), § 8 Rn. 91. Nationale Grundrechte können nach Art. 53 GRCh nur neben den Unionsgrundrechten herangezogen werden, wenn das „Handeln eines Mitgliedstaats nicht vollständig durch das Unionsrecht bestimmt wird“ und „sofern durch diese Anwendung weder das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden“, siehe dazu wiederum nur EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-399/11 (Melloni), EU:C:2013:107 Rn. 60; EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 29. 56 Berlin, Four Essays on Liberty (1969), S. LX. 57 Z. B. von Canaris, FS Lerche (1993), S. 873, 881 und 889; Repgen, Kein Abschied von der Privatautonomie (2001), S. 73. 58 Dazu z. B. v. d. Groeben / Schwarze / Hatje / Augsberg (2015), Art. 1 GRCh Rn. 6. Vgl. zur Garantie der Menschenwürde im Unionsrecht bereits vor Inkrafttreten der GRCh nur EuGH Urt. v. 9.10.2001 – Rs. C-377/98 (Niederlande / Europäisches Parlament und Rat), Slg. 2001, I-7079 Rn. 70 ff.; EuGH Urt. v. 14.10.2004 – Rs. C-36/02 (Omega), Slg. 2004, I-9609 Rn. 34. 59 Statt vieler Tettinger / Stern / Höfling (2006), Art. 1 GRCh Rn. 18; Meyer / Borowski (2014), Art. 1 GRCh Rn. 34; Jarass (2016), Art. 1 GRCh Rn. 9. 60 Siehe mit Blick auf die Vertragsfreiheit unten § 3 A II 3.

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kann diese Norm für sich genommen nicht Standort der Vertragsfreiheit auf Ebene der Unionsgrundrechte sein.61 Womöglich ist die Vertragsfreiheit in der Rechtsordnung der EU jedoch als Facette des Freiheitsrechts gemäß Art. 6 GRCh gewährleistet.62 In diesem Sinne argumentiert etwa der Richter am EuGH Safjan: „[F]reedom of contract is undoubtedly also protected by the Charter, especially as inalienable part of the general guarantees provided by the Article 6 (right to liberty)“.63

Obwohl Art. 6 GRCh dem Wortlaut nach ein Recht auf „Freiheit und Sicherheit“ verbürgt, handelt es sich hierbei nicht um ein allgemeines Freiheitsgrundrecht, welches die Vertragsfreiheit einschließt. Dies verdeutlichen die bei der Auslegung gemäß Art. 52 Abs. 7 verbindlichen Erläuterungen zu Art. 6 GRCh, die zum einen vornehmlich auf Strafsachen verweisen64 und zum anderen den Gewährleistungsgehalt des Art. 6 GRCh mit demjenigen des Art. 5 EMRK gleichsetzen.65 Art. 5 EMRK schützt nach ständiger Rechtsprechung des EGMR nur die physische Bewegungsfreiheit.66 Da der Grundrechtekonvent bewusst auf die Aufnahme der allgemeinen Handlungsfreiheit verzichtet hat,67 kann weder Art. 6 GRCh noch einer anderen Bestimmung der Charta ein solches Auffanggrundrecht entnommen werden.68 Im Ergebnis ebenso Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85, 86. Z. B. Rengeling, Grundrechtsschutz in der EG (1993), S. 21 f. und 135 f.; Knobel, Wandlungen im Verständnis der Vertragsfreiheit (2000), S. 197 f.; Haratsch, in: Heselhaus / Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte (2006), § 18 Rn. 13; Calliess / Ruffert / Calliess (2016), Art. 6 GRCh Rn. 12 f.; Kroll-Ludwigs, Die Rolle der Parteiautonomie im europäischen Kollisionsrecht (2013), S. 261 f. und 252 ff. 63 Safjan, in: Bernitz / Groussot / Schulyko (eds.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), S. 155, 162 f. (Herv. d. Verf.). Siehe zu den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, welche die Vertragsfreiheit unter anderem aus der allgemeinen Handlungsfreiheit herleiten, unten § 2 B II. 64 Vgl. Erläuterungen zur Charta, ABl. 2007 C 303/17, 20. 65 Erläuterungen zur Charta, ABl. 2007 C 303/17, 19: „Die Rechte nach Artikel 6 entsprechen den Rechten, die durch Artikel 5 EMRK garantiert sind“. Dieser Auslegungsgleichklang ist auch durch Art. 52 Abs. 3 GRCh vorgezeichnet. 66 Siehe z. B. EGMR Urt. v. 6.11.1980 – Nr. 7367/76 (Guzzardi / Italy), Rn. 92; EGMR Urt. v. 25.6.1996 – Nr. 19776/92 (Amuur / France), Rn. 40 ff. Vgl. nun auch z. B. EuGH Urt. v. 29.1.2013 – Rs. C-393/11 (Radu), EU:C:2013:39 Rn. 30; GA Sharpston Schlussanträge v. 18.10.2012 – Rs. C-396/11 (Radu), EU:C:2012:648 Rn. 14 und 54 ff.; GA Szpunar Stellungnahme v. 14.5.2014 – Rs. C-146/14 PPU (Mahdi), EU:C:2014:1936 Rn. 2 f. 67 Tettinger / Stern / Höfling (2006), Art. 1 GRCh Rn. 18; Meyer / Borowski (2014), Art. 1 GRCh Rn. 34; Jarass (2016), Art. 1 GRCh Rn. 9. 68 Siehe z. B. Haratsch, in: Heselhaus / Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte (2006), § 18 Rn. 4; Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85, 90; Streinz / ders. (2012), Art. 6 GRCh Rn. 4; Riesenhuber, GS Wolf (2011), S. 123, 131; Schwarze / Knecht (2012), Art. 6 GRCh Rn. 4; Meyer / Bernsdorff (2014), Art. 6 GRCh Rn. 15. Ferner scheidet insbesondere auch Art. 7 GRCh (Achtung des Privat- und Famili61 62

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Insbesondere im deutschen Schrifttum ist versucht worden, aus der EuGHJudikatur ein ungeschriebenes Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit herzuleiten, welches auch die Vertragsfreiheit einschließen soll.69 Zwar hat der EuGH die „allgemeine Handlungsfreiheit“ in der Rechtssache Rau als „allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts“ bezeichnet: Dies geschah jedoch im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf freie Berufsausübung und der Wettbewerbsfreiheit und mithin in einem Kontext, in dem es auf die etwaige Gewährleistung der allgemeinen Handlungsfreiheit gar nicht ankam. 70 Die Bezugnahme des EuGH auf die Handlungsfreiheit erklärt sich vielmehr durch die Formulierung der Vorlagefrage des deutschen Gerichts.71 Vor diesem Hintergrund nimmt es kaum Wunder, dass der Gerichtshof in seiner weiteren rund dreißigjähigen Entscheidungspraxis nicht mehr auf diesen Grundsatz Bezug genommen hat. Auch in den als Belege für die Existenz eines Unionsgrundrechts der allgemeinen Handlungsfreiheit angeführten Rechtssachen Dow Chemical und Hoechst hat der EuGH nur entschieden, dass Eingriffe in die „Sphäre privater Betätigung“ immer einer gesetzlichen Rechtsgrundlage bedürfen, um einen „Schutz gegen willkürliche oder unverhältnismäßige Eingriffe“

enlebens) als Standort der Handlungs- und Vertragsfreiheit aus, a. A. mit Blick auf die korrespondierende Norm des Art. 8 EMRK aber Colombi Ciacchi, ERPL 13 (2005), 285, 306: „Article 8 ECHR does not merely protect the private life in a strict sense, but also the personal autonomy in general“. Diese Lesart findet aber weder eine Stütze in der Rechtsprechungspraxis des EGMR und des EuGH noch in den Begründungserwägungen zu Art. 7 GRCh, vgl. Erläuterungen zur Charta, ABl. 2007 C 303/17, 20. Insbesondere behandelt der EGMR die Selbstbestimmung nur als Auslegungsleitlinie im Rahmen des Art. 8 EMRK, siehe zur Frage der Strafbarkeit der Beihilfe zum Selbsttötung EGMR Urt. v. 29.4.2002 – Nr. 2346/02 (Petty / United Kingdom), Rn. 61: „Although no previous case has established as such any right to self-determination as being contained in Article 8 of the Convention, the Court considers that the notion of personal autonomy is an important principle underlying the interpretation of its guarantees“ (Herv. d. Verf.). 69 Siehe vor allem Rengeling, Grundrechtsschutz in der EG (1993), S. 21 f.; Knobel, Wandlungen im Verständnis der Vertragsfreiheit (2000), S. 197 f.; Haratsch, in: Heselhaus / Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte (2006), § 18 Rn. 6 ff.; Schwarze / Hatje (2012), Art. 6 EUV Rn. 22; Streinz / ders. (2012), Art. 6 GRCh Rn. 5; Kroll-Ludwigs, Die Rolle der Parteiautonomie im europäischen Kollisionsrecht (2013), S. 261 f. und 252 ff. 70 Vgl. EuGH Urt. v. 21.5.1987 – verb. Rs. 133/85 u. a. (Rau u. a.), Slg. 1987, 2289 Rn. 15. Wie hier bereits Frenz, Handbuch Europarecht IV: Europäische Grundrechte (2009), Rn. 1065 ff. 71 EuGH Urt. v. 21.5.1987 – verb. Rs. 133/85 u. a. (Rau u. a.), Slg. 1987, 2289 Rn. 15: „Die dritte Frage geht im Wesentlichen dahin, ob gemeinschaftliche Maßnahmen, die die Wettbewerbsposition bestimmter Unternehmen verbessern und sich dadurch nachteilig für deren Konkurrenten auswirken, den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts, insbesondere den Grundsätzen der freien Berufsausübung, der allgemeinen Handlungsfreiheit und der Wettbewerbsfreiheit zuwiderlaufen.“

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sicherzustellen.72 Diese Entscheidungen lassen sich daher als schlichter Hinweis auf die unionsrechtlichen Grundsätze der Gesetzlichkeit und der Verhältnismäßigkeit verstehen. 73 Der Gerichtshof hat diese Judikate in seiner späteren Rechtsprechung in ebendiesem Sinne interpretiert.74 In Summe kann ein Unionsgrundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit schwerlich auf die vorgenannte Judikatur des EuGH gestützt werden.75 Schon kontextbedingt konnte der Gerichtshof nämlich jeweils nicht auf eine allgemeine, sondern allenfalls auf die „wirtschaftlich[e] Handlungsfreiheit“76 der betroffenen Unternehmen eingehen, die nunmehr als Berufs- bzw. Unternehmerfreiheit durch Art. 15 bzw. Art. 16 GRCh geschützt wird. Selbst wenn man – ohne das nach Art. 6 Abs. 3 EUV erforderliche rechtsvergleichende Fundament –77 ein ungeschriebenes Unionsgrundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit konstruieren möchte, läge hierin allenfalls ein Auffanggrundrecht, das hinter spezielleren Unionsgrundrechten zurückträte. Vor diesem Hintergrund ist vorrangig zu fragen, ob und inwieweit die Vertragsfreiheit von den spezifischen unionsgrundrechtlichen Gewährleistungen der GRCh umfasst wird. EuGH Urt. v. 21.9.1989 – verb. Rs. 46/87 u. a. (Hoechst / Kommission), Slg. 1989, 2859 Rn. 19. Gleichsinnig EuGH Urt. v. 17.10.1989 – Rs. verb. C-97/87 u. a. (Dow Chemical u. a./Kommission), Slg. 1989, 3165 Rn. 16. 73 In diesem Sinne auch z. B. Hilf / Hörmann, NJW 2003, 1, 6; Grabitz / Hilf /  Nettesheim / Mayer (2014), Nach Art. 6 EUV Rn. 121 f.; Gräditz, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 4 Rn. 46 ff. Zu Recht skeptisch mit Blick auf die Herleitung der unionalen Vertragsfreiheit aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auch Starke, EU-Grundrechte und Vertragsrecht (2016), S. 263 f. 74 Vgl. mit Blick auf die Rechtssache Hoechst nur EuGH Urt. v. 22.10.2002 – Rs. C94/00 (Roquette Frères), Slg. 2002, I-9011 Rn. 27 und 35 ff.; EuGH Urt. v. 15.10.2002 – verb. Rs. C-238/99 P u. a. (Limburgse Vinyl Maatschappij), Slg. 2002 I-8375 Rn. 252. 75 Zu Recht ablehnend daher Hilf / Hörmann, NJW 2003, 1, 6; Lindner, ZRP 2007, 54, 56; Frenz, Handbuch Europarecht IV: Europäische Grundrechte (2009), Rn. 1065 ff.; Jarass (2016), Einl. GRCh Rn. 31. Zurückhaltend auch Mayer, Int. J. Const. L. 11 (2013), 1003, 1006; Gräditz, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 4 Rn. 46 ff. 76 Siehe zu der so verstandenen Handlungsfreiheit nur EuGH Urt. v. 29.4.2004 – Rs. C418/01 (IMS Health), Slg. 2004, I-5039 Rn. 48. Vgl. zuvor etwa EuGH Urt. v. 7.2.1985 – Rs. 240/83 (ADBHU), Slg. 1985, 531 Rn. 9 („grundrechtliche Handelsfreiheit“). 77 Siehe zur Bedeutung der Rechtsvergleichung als Methode zur Gewinnung allgemeiner Grundsätze im Rahmen des Art. 6 Abs. 3 EUV sogleich eingehend unten § 2 A II 3. Bereits an dieser Stelle sei angemerkt, dass vielen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen eine grundrechtliche Verbürgung der allgemeinen Handlungsfreiheit – einschließlich der Vertragsfreiheit – nach dem Vorbild des Art. 2 Abs. 1 GG unbekannt ist, vgl. dazu sogleich unten § 2 B III und siehe ferner nur Haratsch, in: Heselhaus / Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte (2006), § 18 Rn. 9 f.; Tettinger / Stern / Tettinger (2006), Art. 6 GRCh Rn. 17; Schwarze / Knecht (2012), Art. 6 GRC Rn. 4; Meyer /  Bernsdorff (2014), Art. 6 GRCh Rn. 15. 72

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2. Nur kontextspezifischer Schutz der Vertragsfreiheit in der GRCh Die GRCh schützt in Art. 9 die Eheschließungsfreiheit als spezielle Spielart der Vertragsfreiheit.78 Mit der Vereinigungsfreiheit nach Art. 12 sowie der Berufswahlfreiheit gemäß Art. 15 umfasst die GRCh schließlich zwei weitere kontextspezifische und in ihrem Schutzbereich eng umgrenzte Ausprägungen der Vertragsfreiheit.79 Da die vorliegende Abhandlung der umfassenden Verbürgung der Vertragsfreiheit im Unionsrecht nachspürt, werden im Folgenden insbesondere das Recht auf Eigentum gemäß Art. 17 GRCh sowie die unternehmerische Freiheit nach Art. 16 GRCh in den Blick genommen. Zumindest letztere Norm haben sowohl der Grundrechtskonvent als auch der EuGH explizit als Standort der unionalen Vertragsfreiheit ausgemacht. a) Recht auf Eigentum nach Art. 17 GRCh Der EGMR sieht die Vertragsfreiheit bislang nur durch Art. 1 des 1. Protokolls zur EMRK als Facette des Eigentumsrechts geschützt.80 Entsprechend 78 Siehe zu dem grundrechtlich geschützen „Recht, eine Ehe einzugehen“ nur Meyer /  Bernsdorff (2014), Art. 9 GRCh Rn. 15; Jarass (2016), Art. 9 GRCh Rn. 10. Dagegen verbürgt der an Art. 8 EMRK angelehnte Art. 7 GRCh nur den Schutz des Privat- und Familienlebens im engeren Sinne und gewährleistet nicht auch die Vertragsfreiheit, statt vieler Jarass (2016), Art. 7 GRCh Rn. 6 ff. m. w. N. Anders mit Blick auf Art. 8 EMRK wohl Herresthal, in: Ziegler / Huber (eds.), Current Problems in the Protection of Human Rights (2013), S. 89, 92. 79 Siehe zu diesen Ausprägungen der Vertragsfreiheit statt aller Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85, 90. Vgl. zu den Querbezügen von Vertrags- und Vereinigungsfreiheit zudem nur EuGH Urt. v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 (Werhof), Slg. 2006, I2397 Rn. 23 und 33 ff. Überdies hat der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung herausgestellt, dass die Berufsfreiheit auch die „freie Wahl des Geschäftspartners“ umfasst, z. B. EuGH Urt. v. 10.7.1991 – verb. Rs. C-90/90 u. a. (Neu), Slg. 1991, I-3617 Rn. 13; EuGH Urt. v. 16.12.1993 – Rs. C-307/91 (Luxlait), Slg. 1993, I-6835 Rn. 14. Entsprechendes muss nun auch im Rahmen des Art. 15 sowie Art. 16 GRCh gelten, siehe nur W.-H. Roth, FS Medicus (2009), S. 393, 416. 80 Siehe z. B. EGMR Urt. v. 19.6.2006 – Nr. 35014/97 (Hutten-Czapska / Poland), Rn. 160 f. „In assessing compliance with Article 1 of Protocol No. 1, the Court must make an overall examination of the various interests in issue […]. [T]hat assessment may involve […] the extent of the State’s interference with freedom of contract and contractual relations” (Herv. d. Verf.). Gleichsinnig bereits EGMR Urt. v. 19.12.1989 – Nr. 10522/83 u. a. (Mellacher u. a./Austria), Rn. 50 ff.; EGMR Urt. v. 21.11.1995 – Nr. 18072/91 (Velosa Barreto / Portugal), Rn. 33; EGMR Urt. v. 26.9.2006 – Nr. 35349/05 (Fleri Soler u. a./Malta), Rn. 70; EGMR Urt. v. 12.6.2012 – Nr. 13221/08 (Lindheim u. a./Norway), Rn. 119. Siehe mit Blick auf gesetzliche Begrenzungen der Miethöhe („Mietpreisbremse“) im slowakischen Mietrecht zuletzt etwa EGMR Urt. v. 28.1.2014 – Nr. 30255/09 (Bittó u. a./Slovakia), Rn. 97 f. und 101: Hier prüft der Gerichtshof unter anderem „the conditions for reducing the rent received by individual landlords and the extent of the State’s interference with freedom of contract and contractual relations in the rental market“ und zählt die

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bildet das Recht auf Eigentum nach Art. 17 GRCh einen weiteren Anknüpfungspunkt der Vertragsfreiheit im Unionsrecht, da die Grundrechtsverbürgungen der Charta und der EMRK gemäß Art. 52 Abs. 3 GRCh im Gleichklang auszulegen sind.81 Die Anbindung an das Eigentumsrecht hat indes erhebliche Schwächen: Der Schutzbereich des Art. 1 des 1. Protokolls zur EMRK – und damit auch des Art. 17 GRCh – erfasst nämlich grundsätzlich nur bestehende Verträge, wohingegen z. B. die bloße Anbahnung und die Erwartung künftiger vertraglicher Ansprüche nicht geschützt werden.82 Demnach vermag Art. 17 GRCh die rechtsgeschäftliche Privatautonomie gerade in der entscheidenden Phase der Vertragsanbahnung potenziell nicht zu gewährleisten.83 Als Ankerpunkt einer allgemeinen, umfassenden Vertragsfreiheit kommt Art. 17 GRCh daher nicht in Betracht. b) Unternehmerische Freiheit gemäß Art. 16 GRCh Die unionsrechtliche Verbürgung der unternehmerischen Freiheit ist durch den EuGH seit der Nold-Entscheidung in ständiger Rechtsprechung anerkannt84 und dabei sowohl auf die Ebene eines allgemeinen Grundsatzes als auch eines Grundrechts gehoben worden.85 Während diese Freiheit bislang nicht ausdrücklich im primären Unionsrecht kodifiziert und damit gemeinhin sichtbar war,86 ist die unternehmerische Freiheit nun als Unionsgrundrecht in Art. 16 GRCh verankert. Nimmt man die gemäß Art. 52 Abs. 7 verbindlichen Vertragsfreiheit ausdrücklich zu den „requirements of the protection of the individual’s fundamental rights“. 81 Siehe nur Schöbener / Stork, ZEuS 2004, 43, 57; Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85, 90 f. Art. 52 Abs. 3 GRCh lautet: „Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird“. 82 Vgl. nur EKMR Beschl. v. 11.10.1990 – Nr. 15673/89 (Haye u. a./The Netherlands), Rn. 3: „The mere expectation of future claims cannot be considered as a property right“). Siehe zum Ganzen nur Dolzer, in: Merten / Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte VI/1 (2010), § 140 Rn. 8; G. Wagner, in: Blaurock / Hager (Hrsg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), S. 13, 59. 83 Vgl. zur Berücksichtung der Rechtsprechung des EGMR bei der Auslegung der Unionsgrundrechte der GRCh nur EuGH Urt. v. 22.10.2010 – Rs. C-279/09 (DEB), Slg. 2010, I-13849 Rn. 35 ff. 84 EuGH Urt. v. 14.5.1974 – Rs. 4/73 (Nold / Kommission), Slg. 1974, 491 Rn. 14. 85 Vgl. zur Einordnung der unternehmerischen Freiheit als Unionsgrundrecht bzw. allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts frühzeitig etwa EuGH Urt. v. 27.9.1979 – Rs. 230/78 (Eridania), Slg. 1979, 2749 Rn. 20 und 31; EuGH Urt. v. 7.2.1985 – Rs. 240/83 (ADBHU), Slg. 1985, 531 Rn. 9; EuGH Urt. v. 21.2.1991 – verb. Rs. C-143/88 u. a. (Zuckerfabrik Süderdithmarschen), Slg. 1991, I-415 Rn. 72 ff. 86 Dies beklagte mit Blick auf den EWG-Vertrag etwa Basedow, Von der deutschen zur europäischen Wirtschaftsverfassung (1992), S. 52.

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Erläuterungen zum Ausgangspunkt, so enthält Art. 16 GRCh nach Auffassung des Grundrechtskonvents die einzige geschriebene Garantie der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie in der Charta.87 Entsprechend nennt auch der EuGH in seiner Rechtsprechung zur Grundrechtecharta bislang allein Art. 16 GRCh als Standort der Vertragsfreiheit: In den Rechtssachen Sky Österreich,88 Schaible,89 Alemo-Herron,90 Pillbox 38,91 Lidl92 und AGET Iraklis 93 sieht der Gerichtshof in dieser Freiheit einen Aspekt der unternehmerischen Freiheit. Korrespondierend mit dem persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich dieses Grundrechts schützt Art. 16 GRCh die Vertragsfreiheit damit zum einen nur im erwerbswirtschaftlichen Kontext. 94 Zum anderen hat der EuGH in den Rechtssachen Sokoll-Seebacher und Pfleger angedeutet, dass der Gewährleistungsgehalt des Art. 16 GRCh in bestimmten Fallgestaltungen nicht über denjenigen der Grundfreiheiten hinausgehen könnte.95 SollErläuterungen zur Charta, ABl. 2007 C 303/17, 23. Statt vieler Remien, EuR 2005, 699, 716; Frenz, Handbuch Europarecht IV: Europäische Grundrechte (2009), Rn. 2702 und 2484; W.-H. Roth, FS Medicus (2009), S. 393, 418; Oliver, in: Bernitz / Groussot /  Schulyko (eds.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), S. 281, 285 ff. 88 EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C:2013:28 Rn. 42. 89 EuGH Urt. v. 17.10.2013 – Rs. C-101/12 (Schaible), EU:C:2013:661 Rn. 25. 90 EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 31 f.: „Art. 16 der Charta […] umfasst insbesondere die Vertragsfreiheit, wie sich aus den Erläuterungen ergibt, die als Anleitung für die Auslegung der Charta der Grundrechte verfasst wurden […] und die gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 7 der Charta für deren Auslegung zu berücksichtigen sind“. Vgl. zudem nur EuG Urt. v. 26.9.2014 – Rs. T-614/13 (Romota / Kommission), EU:T:2014:835 Rn. 56. 91 EuGH Urt. v. 4.5.2016 – Rs. C-477/14 (Pillbox 38), EU:C:2016:324 Rn. 155. 92 EuGH Urt. v. 30.6.2016 – Rs. C-134/15 (Lidl), EU:C:2016:498 Rn. 28. 93 EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 66 ff. 94 Vgl. zum Anwendungsbereich des Art. 16 GRCh nur EuGH Urt. v. 6.9.2012 – Rs. C544/10 (Deutsches Weintor), EU:C:2012:526; EuGH Urt. v. 13.2.2014 – Rs. C-367/12 (Sokoll-Seebacher), EU:C:2014:68; EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-390/12 (Pfleger), EU: C:2014:281. Siehe auch Grabenwarter, in: ders. (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 13 Rn. 28 („Tätigkeiten mit Erwerbsabsicht“); Everson / Correia Gonçalves, in: Peers / Hervey / Kenner (eds.), EU Charter (2014), Art. 16 Rn. 16.01 ff. 95 EuGH Urt. v. 13.2.2014 – Rs. C-367/12 (Sokoll-Seebacher), EU:C:2014:68 Rn. 21 ff.: „Zur Bestimmung der Tragweite der unternehmerischen Freiheit verweist [Art. 16 der Charta] u. a. auf das Unionsrecht. Diese Verweisung ist so zu verstehen, dass Art. 16 der Charta u. a. auf Art. 49 AEUV verweist, der die Ausübung der Niederlassungsfreiheit, einer Grundfreiheit, garantiert“. Laut EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-390/12 (Pfleger), EU:C: 2014:281 Rn. 58 ff. soll zumindest in der fraglichen Rechtssache „eine nicht gerechtfertigte oder im Hinblick auf den in Art. 56 AEUV verankerten freien Dienstleistungsverkehr unverhältnismäßige Einschränkung auch nicht nach Art. 52 Abs. 1 der Charta in Bezug auf deren Art. 15 bis 17 zulässig“ sein. GA Sharpston Schlussanträge v. 14.11.2014 – Rs. C390/12 (Pfleger), EU:C:2013:747 Rn. 70 f. geht auch auf den umgekehrten Fall ein: „Meiner Meinung nach stellen die Art. 15 bis 17 der Charta keine strengeren Voraussetzungen 87

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te der Gerichtshof diese Rechtsprechungslinie festigen, wäre der Schutz der Vertragsfreiheit durch Art. 16 GRCh womöglich ähnlichen Bedenken ausgesetzt, wie sie bereits gegen die Anbindung der Vertragsfreiheit an die Grundfreiheiten vorgebracht worden sind.96 III. Zwischenfazit und Kritik Im geschriebenen unionalen Primärrecht gleicht die Vertragsfreiheit eher einem Nischen- denn einem Jedermannsrecht. Weder die unionale Wirtschaftsverfassung noch die Grundfreiheiten können diese für den Binnenmarkt unverzichtbare Freiheit umfassend garantieren. Auch auf Ebene der kodifizierten Unionsgrundrechte wird die Vertragsfreiheit nur bereichsspezifisch und lückenhaft, etwa durch das Eigentumsrecht nach Art. 17 GRCh, gewährleistet.97 Im System der Grundrechtecharta ist ursprünglich sogar nur die unternehmerische Freiheit gemäß Art. 16 GRCh als Standort der Vertragsfreiheit vorgesehen worden.98 Die Anbindung einer tagtäglich von jedermann in Anspruch genommenen Freiheit an Unionsgrundrechte, deren sachlicher und personaler Wirkbereich eng umgrenzt ist, vermag indes kaum zu überzeugen. An dieser Stelle ist daher kritisch zu hinterfragen, weshalb der Grundrechtskonvent wie auch der EuGH die rechtsgeschäftliche Privatautonomie bislang primär als Privileg von Unternehmern behandelt. Die Erläuterungen zur Grundrechtecharta begründen die Anbindung der Vertragsfreiheit an Art. 16 GRCh mit den Entscheidungen des EuGH in den Rechtssachen Sukkerfabriken Nykøbing99 und Spanien/Kommission.100 Das zuerst genannte Urteil erwähnt die Vertragsfreiheit im Kontext der Auslegung einer europäischen Verordnung betreffend den Kauf von Zuckerrüben durch Zuckerher-

für die Zulässigkeit einer Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs auf als diejenigen, die sich bereits der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 56 AEUV entnehmen lassen […]. Sofern eine Beschränkung diese Kriterien erfüllt, stehen ihr die Art. 15, 16 und 17 der Charta nicht entgegen“. Vgl. hierzu auch Wollenschläger, EuZW 2014, 577, 580. 96 Siehe erneut oben I 2. Allerdings begründet der Gerichtshof den Gleichlauf der Gewährleistungen des Art. 16 GRCh einerseits und der Niederlassungsfreiheit andererseits teilweise mit den Eigenheiten der Vorlagefragen, vgl. EuGH Urt. v. 13.2.2014 – Rs. C367/12 (Sokoll-Seebacher), EU:C:2014:68 Rn. 23. 97 Siehe wiederum Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit im deutschen und europäischen Arbeitsrecht (2014), S. 265, der treffend betont, „dass die allgemeine Vertragsfreiheit keine ausdrückliche Aufnahme in die Grundrechte-Charta gefunden hat und auch nicht ohne weiteres aus den […] speziellen Grundrechten abzuleiten ist“. 98 Vgl. erneut Erläuterungen zur Charta, ABl. 2007 C 303/17, 23. 99 EuGH Urt. v. 16.1.1979 – Rs. 151/78 (Sukkerfabriken Nykøbing), Slg. 1979, 1 Rn. 19. 100 EuGH Urt. v. 5.10.1999 – Rs. C-240/97 (Spanien / Kommission), Slg. 1999, I-6571 Rn. 99.

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steller.101 In der Rechtssache Spanien/Kommission unterstreicht der EuGH die Vertragsfreiheit sodann im Zusammenhang mit sekundärrechtlichen Bestimmungen zur Förderung der gewerblichen Verarbeitung von Zitrusfrüchten.102 Die von den jeweiligen Verordnungen erfassten Geschäfte wurden somit allein von unternehmerisch handelnden Personen getätigt. Aus den vorgenannten Judikaten lässt sich demnach nur entnehmen, dass nach Auffassung des EuGH Unternehmer jedenfalls Vertragsfreiheit genießen, nicht jedoch, dass sie die einzigen Träger dieser Freiheit sind. Ebenso verhält es sich auch mit der jüngeren Entscheidungspraxis des Gerichtshofs: Die zur unionalen Vertragsfreiheit ergangenen Urteile, etwa in den Rechtssachen Sky Österreich, Schaible, Alemo-Herron, AGET Iraklis und Asklepios Kliniken behandeln allein die Freiheitsrechte unternehmerisch handelnder Akteure.103 Hier hatte der EuGH also keinen Anlass, über Art. 16 GRCh hinaus nach einer allgemeinen Verbürgung der unionalen Vertragsfreiheit zu fragen, weil Letztere ohnehin gegenüber dem speziellen Grundrecht der unternehmerischen Freiheit subsidiär wäre. Obwohl die Vertragsfreiheit im geschriebenen unionalen Primärrecht bislang nur vereinzelt und insbesondere im Kontext des Art. 16 GRCh aufscheint, bedeutet dies keineswegs, dass diese Freiheit in der EU-Rechtsordnung nicht doch für jedermann garantiert wird.104 Die Frage nach dem Standort, der Natur und der Reichweite solcher umfassenden Freiheitsgewährleistungen kann indes nur im Wege einer eingehenden Analyse des Unionsrechts sowie der EuGH-Rechtsprechung beantwortet werden. B. Fazit In Anlehnung an Platons Höhlengleichnis105 lässt sich der vorstehende Befund dahingehend zusammenfassen, dass im geschriebenen Unionsrecht nur 101 Verordnung (EWG) Nr. 741/75 des Rates vom 18. März 1975 zur Aufstellung besonderer Regeln für den Kauf von Zuckerrüben, ABl. 1975 L 74/2. 102 Verordnung (EG) Nr. 3119/93 des Rates vom 8. November 1993 über Sondermaßnahmen zur Förderung der Verarbeitung bestimmter Zitrusfrüchte, ABl. 1993 L 279/17. 103 Vgl. erneut nur EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU: C:2013:28; EuGH Urt. v. 17.10.2013 – Rs. C-101/12 (Schaible), EU:C:2013:661; EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521; EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972; EuGH Urt. v. 27.4.2017 – Rs. C-680/15 u.a. (Asklepios Kliniken u.a.), EU:C:2017:317. 104 Demgegenüber will Grabenwarter, in: ders. (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 13 Rn. 31 den grundrechtlichen Schutz der Vertragsfreiheit wohl auf Art. 16 und 17 GRCh verengen, wenn er neben der unternehmerischen Freiheit nur die in der EMRK anerkannte Gewährleistung des Eigentums als „andere[s] Standbein der Begründung eines Schutzes der Vertragsfreiheit“ nennt. Ähnlich auch Everson / Correia Gonçalves, in: Peers / Hervey / Kenner (eds.), EU Charter (2014), Art. 16 Rn. 16.44 ff. 105 Platon, Politeia 514a–515b.

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die Schattenbilder einer allgemeinen Verbürgung der Vertragsfreiheit erkennbar werden, ohne dass sich die eigentliche Quelle und Gestalt dieser Freiheitsgarantie offenbaren. Selbst in der Grundrechtecharta wird die rechtsgeschäftliche Privatautonomie allenfalls bereichsspezifisch und sachlich eng begrenzt geschützt, etwa durch Art. 17 GRCh sowie zugunsten unternehmerisch handelnder Personen gemäß Art. 16 GRCh. Gerade angesichts der mannigfaltigen Verkürzungen der Vertragsfreiheit, insbesondere durch Diskriminierungsverbote, drängt sich daher die Frage auf, ob die unionale Vertragsfreiheit nicht doch eine „Jedermannfreiheit“ ist, die z. B. auch und gerade Verbrauchern zusteht. Andernfalls droht die im Binnenmarkt so bedeutende Nachfragerfreiheit dieser Personengruppe übergangen zu werden: Beispielsweise geht der EuGH in seiner Test-Achats-Entscheidung zu sogenannten Unisex-Versicherungstarifen mit keinem Wort darauf ein, ob – neben den unternehmerischen Belangen der Versicherer – nicht auch die Freiheit der Versicherungsnehmer, ein bestimmtes geschlechtsspezifisches Versicherungsprodukt nachzufragen, Schutz verdient.106 Für eine umfassende Verbürgung der Vertragsfreiheit im Unionsrecht streitet bereits die Umschau im Sekundärrecht sowie in der Judikatur des EuGH: Die rechtsgeschäftliche Privatautonomie wird zunächst ganz selbstverständlich auch Personen zuerkannt, die weder unternehmerisch im Sinne des Art. 16 GRCh noch in einer von Art. 17 GRCh erfassten Konstellation handeln. Mag die ausdrückliche Erwähnung der Vertragsfreiheit im geschriebenen Unionsrecht dabei auch zuweilen eher zufällig wirken, so ist diese Freiheit doch in allen untersuchten Sachmaterien präsent. Bei genauerer Analyse werden beim derzeitigen Stand bereits sieben Facetten der unionalen Vertragsfreiheit im Unionsrecht sowie in der ständigen Rechtsprechung des EuGH explizit vorausgesetzt: Dies trifft neben 1. der Abschluss- und Auswahlfreiheit, 2. Inhalts-, 3. Typen-, 4. Änderungs-, 5. Aufhebungs- und 6. Formfreiheit schließlich auch 7. auf die Parteiautonomie als international-privatrechtliche Ausdrucksform der Vertragsfreiheit zu. Dieses ausdrückliche Freiheitspostulat findet eine Bestätigung in der umfassenden impliziten Anerkennung der Vertragsfreiheit durch die zahlreichen Beschränkungen all ihrer Facetten im geschriebenen Unionsrecht. Ein derart dichtes Netz an Einschränkungen deutet zum einen darauf hin, dass das sekundäre Unionsrecht von einem umfassenden Grundsatz der Vertragsfreiheit ausgeht und sich darauf zurückzieht, die Grenzen dieser Freiheit im Privatrecht abzustecken.107 Zum anderen streitet dieser Regelungsansatz dafür, dass die unionale Vertragsfreiheit Normcharakter hat: Schließlich bedarf nur ein EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 (Test-Achats), Slg. 2011, I-773 Rn. 16 ff. berücksichtigt nicht einmal die durch Art. 16 GRCh geschützte Vertrags(inhalts)freiheit der Versicherer. 107 In diesem Sinne auch Schulze, GPR 2005, 56, 58. 106

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Rechtssatz, der seinerseits gilt und mithin normative Kraft besitzt, überhaupt der Einschränkung durch einen gegenläufigen Rechtssatz. Wäre die Vertragsfreiheit nur ein unverbindliches Prinzip im Sinne eines leitenden Rechtsgedankens,108 wäre die Grenzziehung durch Unionsrechtsakte entbehrlich. Gerade die Beschränkungen der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie liefert somit ein Argument dafür, dass die Unionsrechtsordnung die Vertragsfreiheit als rechtssatzförmigen Rechtsgrundsatz109 anerkennt. Den Widerspruch zwischen den lückenhaften geschriebenen primärrechtlichen Gewährleistungen und der durch den Unionsgesetzgeber wie auch durch den EuGH postulierten umfassenden Verbürgung der Vertragsfreiheit gilt es im weiteren Verlauf der Untersuchung aufzulösen. C. Postulat umfassender Vertragsfreiheit im Unionsrecht Schon ein Blick auf das Sekundärecht der EU verdeutlicht, dass die Vertragsfreiheit im Unionsrecht nicht als Privileg von Eigentümern und Unternehmern konzipiert sein kann. Denn trotz ihrer primären Anbindung an Art. 16 und Art. 17 GRCh110 wird die Vertragsfreiheit auch und gerade in Bereichen als gegeben vorausgesetzt, in denen das geschriebene Primärrecht als Ankerpunkt dieser Freiheit in persönlicher oder sachlicher Hinsicht ausfällt. So postuliert der Unionsgesetzgeber etwa die Freiheit aller Binnenmarktakteure, Verträge zu schließen, gleichviel ob sie erwerbswirtschaftliche Zwecke verfolgen oder nicht.111 Insbesondere im Unionsprivatrecht wird die rechtsgeschäftliche Privatautonomie als „Jedermannfreiheit“ behandelt, wie etwa Art. 3 Abs. 2 Unisexrichtlinie 2004/113/EG112 hervorhebt: „Für jede Person gilt der Grundsatz der Vertragsfreiheit“. Die folgende Synopse des Verbraucher-, Finanzdienstleistungs- und Wirtschaftsvertragsrechts verdeutlicht, dass das Unionsrecht auf dem Postulat einer in jeder Hinsicht umfassenden rechtsgeschäftlichen Privatautonomie aufbaut. Zum einen wird die Vertragsfreiheit allen Akteuren rechtsgebietsVgl. zu diesem Begriff nur Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1991), S. 479. 109 Vgl. wiederum Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1991), S. 479 f. 110 Vgl. dazu erneut oben A II 2. 111 Vgl. nur Anhang A Kapitel 2 Nr. 2.12 Verordnung (EG) Nr. 2223/96 des Rates vom 25. Juni 1996 zum Europäischen System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen auf nationaler und regionaler Ebene in der Europäischen Gemeinschaft, ABl. 1996 L 310/1. Der „Grundsatz der Vertragsfreiheit“ gilt zudem gerade auch zugunsten von Verbrauchern, vgl. nur Erwägungsgrund Nr. 22 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte des Online-Warenhandels und anderer Formen des Fernabsatzes von Waren, KOM(2015) 635 endg. 112 Richtlinie 2004/113/EG des Rates vom 13. Dezember 2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, ABl. 2004 L 373/37. 108

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und rechtsaktsübergreifend zuerkannt. Zum anderen ist auch der Inhalt dieser Freiheit weit ausdifferenziert: Die Unionsrechtsordnung verbürgt sieben Facetten der Vertragsfreiheit (I). Neben diese explizite tritt eine implizite Anerkennung der Vertragsfreiheit: Die rechtsgeschäftliche Privatautonomie wird auch insofern im Unionsrecht vorausgesetzt, als mannigfaltige Einschränkungen aller Aspekte der Vertragsfreiheit vorgesehen sind (II). I.

Sieben anerkannte Facetten unionaler Vertragsfreiheit

Zu den sieben im Unionsrecht zugunsten jedermann gewährleisteten Facetten der Vertragsfreiheit zählen neben der Abschluss- und Auswahlfreiheit (1) insbesondere die Inhalts- (2), Typen- (3), Änderungs- (4), Aufhebungs- (5) und die Formfreiheit (6). Schließlich behandelt das Unionsrecht auch die Parteiautonomie als international-privatrechtliche Erscheinungsform der Vertragsfreiheit (7). Damit entsprechen diese – zuweilen miteinander verzahnten – Facetten im Wesentlichen den in den Privatrechtsordnungen der EUMitgliedstaaten anerkannten Emanationen der Vertragsfreiheit.113 Im Unterschied zum nationalen Recht sind die Ausdrucksformen der unionalen Vertragsfreiheit bislang noch nicht umfassend beleuchtet worden.114 Ohne Kenntnis der einzelnen Facetten können aber weder Inhalt und Grenzen der unionalen Vertragsfreiheit bestimmt noch die zur Ausgestaltung dieser Freiheit erlassenen unionsprivatrechtlichen Regelungen systematisiert und bewertet werden. 1. Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit Der EuGH hat in seiner Rechtsprechungspraxis zum Unionsprivatrecht ausdrücklich anerkannt, dass die Entscheidung über den Vertragsschluss in den Siehe aus deutscher Sicht statt vieler Bork, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches (2016), Rn. 661 sowie aus französischer Perspektive Malaurie / Aynès / StoffelMunck, Droit des obligations (2016), Rn. 449 und vgl. aus Sicht des englischen common law nur Photo Production Ltd v Securicor Transport Ltd [1980] AC 827, 848 (Lord Diplock); Street v Mountford [1985] AC 809, 819 (Lord Templeman). 114 So erwähnen etwa Frenz, Handbuch Europarecht IV: Europäische Grundrechte (2009), Rn. 2699 ff.; Meyer / Bernsdorff (2014), Art. 16 GRCh Rn. 12; Grabenwarter, in: ders. (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 13 Rn. 31; Jarass (2016), Art. 16 GRCh Rn. 9 lediglich die Vertragspartnerwahl-, Vertragsinhalts- und Vertragsänderungsfreiheit. Weitere Facetten identifizieren hingegen Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), 85, 88 f. und 98 f.; Herresthal, in: Ziegler / Huber (eds.), Current Problems in the Protection of Human Rights (2013), 89, 99. Zumindest einzelne Elemente scheinen auch in Art. II.–1:102(1) DCFR; Art. 1:102 PECL sowie in Art. 1 GEK-E auf. Demgegenüber ist in dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte des Online-Warenhandels und anderer Formen des Fernabsatzes von Waren, KOM(2015) 635 endg. nur noch in Erwägungsgrund Nr. 22 allgemein von einem „Grundsatz der Vertragsfreiheit“ die Rede. 113

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Bereich der Vertragsfreiheit der Parteien fällt.115 Der Gerichtshof postuliert damit die Gewährleistung der Abschlussfreiheit als „ursprünglichste“116 Ausprägung der Vertragsfreiheit. Diese Freiheit umfasst sowohl die Entscheidung darüber, einen Vertrag einzugehen (positive Abschlussfreiheit), als auch die Freiheit, von einem Vertragsschluss Abstand zu nehmen (negative Abschlussfreiheit).117 Vor diesem Hintergrund erkennt die unionale Rechtsprechung ein „Recht auf Absehen vom Vertragsschluss“ an,118 und der EuGH wertet beispielsweise einen Kontrahierungszwang als Eingriff in die negative Abschlussfreiheit des Verpflichteten.119 Auch ist ein Konsument nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH zum Verbrauchervertragsrecht völlig frei bei seiner Entscheidung, „ob er sich […] vertraglich binden möchte“.120 Im Wirtschaftsvertragsrecht scheint die Abschlussfreiheit z. B. im Vergaberecht in Art. 41 Abs. 1 Vergaberichtinie Bau-, Liefer- und Dienstleistungsaufträge auf, wo ausdrücklich vorausgesetzt wird, dass es dem Auftraggeber freisteht, „auf den Abschluss einer Rahmenverein-

115 EuGH Urt. v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 (Werhof), Slg. 2006, I-2397 Rn. 23. Ebenso z. B. EuGH Urt. v. 18.7.2007 – Rs. C-277/05 (Société thermale), Slg. 2007, I-6415 Rn. 21. 116 Nipperdey, Kontrahierungszwang und diktierter Vertrag (1920), S. 4 f. 117 Deutlich etwa EuGH Urt. v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 (Werhof), Slg. 2006, I-2397 Rn. 23; GA Jacobs Schlussanträge v. 23.3.2000 – verb. Rs. C-180/98 u. a. (Pavlov), Slg. 2000, I-6451 Rn. 150; GA Geelhoed Schlussanträge v. 31.1.2002 – Rs. C-334/00 (Tacconi), Slg. 2002, I-7357 Rn. 55; GA Kokott Schlussanträge v. 17.9.2009 – Rs. C-441/07 P (Kommission / Alrosa), Slg. 2010, I-5949 Rn. 227 f. Siehe mit Blick auf das deutsche Privatrecht statt vieler Staudinger / Bork (2015), Vor § 145 BGB Rn. 12 ff.; MünchKommBGB /  Busche (2015), § 145 BGB Rn. 11. Siehe aus der Diskussion zum Unionsprivatrecht etwa Whittaker, ERCL 7 (2011), 371, 374. 118 Siehe im Kontext des fiskalischen Handels der Kommission und der außervertraglichen Haftung der Union EuG Urt. v. 8.5.2007 – Rs. T-271/04 (Citymo / Kommission), Slg. 2007 II-1375 Rn. 100 und 103. 119 Z. B. stellt nach EuGH Urt. v. 28.4.2009 – Rs. C-518/06 (Kommission / Italien), Slg. 2009, I-3491 Rn. 66 „die Auferlegung eines Kontrahierungszwangs […] eine erhebliche Einmischung in die den Wirtschaftsteilnehmern grundsätzlich zustehende Vertragsfreiheit dar“. Siehe auch EuG Urt. v. 18.9.1992 – Rs. T-24/90 (Automec / Kommission), Slg. 1992, II-2223 Rn. 51: „Da die Vertragsfreiheit die Regel bleiben muß, kann der Kommission im Rahmen der Anordnungsbefugnisse, über die sie zur Abstellung von Zuwiderhandlungen gegen Artikel 85 Absatz 1 verfügt, grundsätzlich nicht die Befugnis zuerkannt werden, einer Partei die Begründung vertraglicher Beziehungen aufzugeben“. Siehe zur Einordnung einer Aufnahmeverpflichtung in der privaten Krankenversicherung als „Kontrahierungszwang, [der] die geschäftliche Entscheidungsfreiheit der PK-Träger“ beschränkt EuG Urt. v. 12.2.2008 – Rs. T-289/03 (BUPA), Slg. 2008, II-81 Rn. 190 ff. 120 Siehe zuletzt nur EuGH Urt. v. 7.9.2016 – Rs. C-310/15 (Deroo-Blanquart), EU:C: 2016:633 Rn. 40. So bereits zuvor z. B. EuGH Urt. v. 31.3.2013 – Rs. C-92/11 (RWE), EU: C:2013:180 Rn. 44; EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:282, Rn. 70.

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barung oder die Vergabe eines Auftrags […] zu verzichten“.121 Gleiches gilt auch im unionsrechtlich überformten Urhebervertragsrecht: Hier überlässt die Datenbankenschutzrichtlinie122 nach der Lesart des EuGH den Abschluss eines Vertrags gerade der autonomen Entscheidung des Urhebers.123 Der Gerichtshof hat überdies frühzeitig die Vertragspartnerwahlfreiheit anerkannt und betont, dass es einer Vertragspartei nach dem Unionsrecht freistehe, die Vertragspartner „auszuwählen, mit denen sie kontrahieren will“.124 Mit Blick auf diese Facette der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie hat der Gerichtshof sodann im Kontext der Betriebsübergangsrichtlinie herausgestellt, dass ein Arbeitnehmer „nicht verpflichtet werden kann, für einen Arbeitgeber zu arbeiten, den er nicht frei gewählt hat“, da eine solche Verpflichtung unweigerlich „gegen Grundrechte des Arbeitnehmers“ verstieße.125 Im unionalen Kartellrecht betont die Europäische Kommission in ihrer Mitteilung aus dem Jahr 2009 zu Art. 82 EGV (nun: Art. 102 AEUV) das Recht jedes Unternehmens, „seine Handelspartner frei zu wählen“.126 Die Kontrahentenwahlfreiheit ist dabei nicht auf Spezialmaterien beschränkt, sondern erfasst das gesamte Schuldvertragsrecht: So betonen Erwägungsgrund 14 und Art. 3 Abs. 2 Unisexrichtlinie 2004/113/EG mit Blick auf das allgemeine zivilrechtliche Diskriminierungsverbot beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, dass „der Grundsatz der Vgl. hierzu auch z. B. EuGH Urt. v. 16.9.1999 – Rs. C-27/98 (Metalmeccanica Fracasso), Slg. 1999, I-5697 Rn. 25; EuGH Beschl. v. 16.10.2003 – Rs. C-244/02 (Kauppatalo Hansel Oy), Slg. 2003, I-12139 Rn. 36. Eingehend Bittrich, Vergabeverfahren und Bürgerliches Recht (2013), S. 122. 122 Vgl. insbesondere Erwägungsgrund Nr. 34 Richtlinie 96/9/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. März 1996 über den rechtlichen Schutz von Datenbanken, ABl. 1996 L 77/20. 123 EuGH Urt. v. 15.1.2015 – Rs. C-30/14 (PR Aviation), EU:C:2015:10 Rn. 43. 124 EuGH Urt. v. 28.6.1984 – verb. Rs. 187/83 und 190/83 (Nordbutter), Slg. 1984, 2553 Rn. 15 erkannte einer Molkerei die Freiheit zu, „die Tierhalter auszuwählen, mit denen sie kontrahieren will“. Vgl. auch EuGH Urt. v. 30.3.2000 – Rs. C-265/97 P (VBA u. a./Kommission), Slg. 2000, I-2061 Rn. 134 ff. Gleichsinnig mit Blick auf die aus dem allgemeinen Grundsatz der freien Berufsausübung abgeleitete „freie Wahl des Geschäftspartners“ EuGH Urt. v. 10.7.1991 – verb. Rs. C-90/90 u. a. (Neu), Slg. 1991, I-3617 Rn. 13; EuGH Urt. v. 16.12.1993 – Rs. C-307/91 (Luxlait), Slg. 1993, I-6835 Rn. 14. Ebenso geht EuG Urt. 12.2.2008 – Rs. T-289/03 (BUPA), Slg. 2008, II-81 Rn. 190 ff. davon aus, dass das Wesen einer „völlig frei ausgeübten Tätigkeit“ gerade darin besteht, „den anderen Vertragspartner zurückweisen zu können“. 125 EuGH Urt. v. 16.12.1992 – verb. Rs. C-132/91 u. a. (Katsikas u. a.), Slg. 1992, I6577 Rn. 31 f. Vgl. auch schon EuGH Urt. v. 11.7.1985 – Rs. 105/84 (Mikkelsen), Slg. 1985, 2639 Rn. 16. 126 Vgl. Mitteilung der Kommission, Erläuterungen zu den Prioritäten der Kommission bei der Anwendung von Artikel 82 des EG-Vertrags auf Fälle von Behinderungsmissbrauch durch marktbeherrschende Unternehmen, ABl. 2009 C 45/7 (dort insbesondere Rn. 75 ff.). 121

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Vertragsfreiheit […] die freie Wahl des Vertragspartners für eine Transaktion einschließt“. Im Finanzdienstleistungsvertragsrecht schützt Art. 180 Solvency II127 wie bereits zuvor Art. 33 der Vierten Lebensversicherungsrichtline128 die freie Wahl des Vertragspartners durch den Versicherungsnehmer.129 In diesem Zusammenhang ist ferner die Entscheidungslinie des EuGH zu Art. 4 Abs. 1 Rechtschutzversicherungsrichtlinie130 zu nennen, wonach das nunmehr in Art. 201 Solvency II verbürgte Recht auf die freie Wahl des Rechtsbeistands auf einem allgemeinen „Grundsatz der Wahlfreiheit“ beruht, der „allgemeine Bedeutung hat und verbindlich ist“.131 Die Kontrahentenwahlfreiheit scheint darüber hinaus im Wirtschaftsvertragsrecht und namentlich z. B. im Vergaberecht auf, wo die unionale Rechtsprechung das Interesse des Auftraggebers anerkennt, nur an den von ihm gewählten Vertragspartner gebunden zu sein: Entsprechend setzt die Erteilung eines Unterauftrags durch den Verpflichteten voraus, dass ihr der „Auftraggeber entweder bei Vertragsschluss oder während der Durchführung des Vertrags zugestimmt hat“.132 2. Inhaltsfreiheit „Nach den Grundprinzipien einer liberalen Wirtschaftsordnung leg[en] die Vertragspartner Leistung und Gegenleistung, um deren Austausch willen der

127 Richtlinie 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit, ABl. 2009 L 335/1. Die betreffende Norm lautet: „Weder der Mitgliedstaat, in dem das Risiko belegen ist, noch der Mitgliedstaat der Verpflichtung darf den Versicherungsnehmer daran hindern, einen Vertrag mit einem gemäß Artikel 14 zugelassenen Versicherungsunternehmen abzuschließen, solange der Vertragsabschluss nicht im Widerspruch zu den Rechtsvorschriften des Allgemeininteresses steht, die in dem Mitgliedstaat, in dem das Risiko belegen ist, oder dem Mitgliedstaat der Verpflichtung gelten“. 128 Richtlinie 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. November 2002 über Lebensversicherungen, ABl. 2002 L 345/1. 129 Siehe dazu nur Engeländer, VersR 2007, 1297, 1310. 130 Richtlinie 87/344/EWG des Rates vom 22. Juni 1987 zur Koordinierung der Rechtsund Verwaltungsvorschriften für die Rechtsschutzversicherung, ABl. 1987 L 185/77. 131 EuGH Urt. v. 26.5.2011 – Rs. C-293/10 (Stark), Slg. 2011, I-4713 Rn. 29; EuGH Urt. v. 7.11.2013 – Rs. C-442/12 (Sneller), EU:C:2013:717 Rn. 25; EuGH Urt. v. 7.4.2016 – Rs. C-460/14 (Massar), EU:C:2016:216 Rn. 18 und 23. Gleichsinnig EuGH Urt. v. 10.9.2009 – Rs. C-199/08 (Eschig), Slg. 2009, I-8295 Rn. 47. 132 GA Bot Schlussanträge v. 27.10.2009 – Rs. C-91/08 (Wall), Slg. 2010, I-2815 Rn. 60. Ebenso EuGH Urt. v. 18.3.2004 – Rs. C-314/01 (Siemens und ARGE Telekom), Slg. 2004, I-2549 Rn. 45 f. Siehe ferner z. B. Grünbuch über unlautere Handelspraktiken in der B2B-Lieferkette für Lebensmittel und Nicht-Lebensmittel in Europa, KOM(2013) 37 endg., S. 6: „Die Vertragsfreiheit ist ein Eckstein […] der Marktwirtschaft; Vertragsparteien sollten Verträge so ausgestalten können, wie es ihren Bedürfnissen am besten entspricht“.

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Vertrag geschlossen wird, autonom fest“.133 Vor diesem Hintergrund identifiziert der Gerichtshof die Inhaltsfreiheit als bedeutende Facette der Vertragsfreiheit und setzt sie in allen Bereichen des Vertragsrechts voraus. Beispielsweise fällt laut EuGH die Einbeziehung einer Individualabrede in einen Mietvertrag stets unter die Vertragsfreiheit der Parteien.134 Gleiches gilt etwa hinsichtlich der Vereinbarung einer Anzahlung im Rahmen eines Beherbergungsvertrages,135 der Wahl der Vertragssprache,136 der Gestaltung der Arbeitsbedingungen nach einem Betriebsübergang,137 der Aufrundung von Preisen nach einer Währungsumrechnung,138 der Ausgestaltung der Prämie und des Versicherungsschutzes in privaten Krankenversicherungsverträgen139 oder den Modalitäten eines Liefervertrages zwischen einer Molkerei und ihren Milchproduzenten.140 Die individuelle inhaltliche Ausgestaltungsfrei133 So mit Blick auf Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie GA Trstenjak Schlussanträge v. 29.10.2009 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 63. 134 EuGH Urt. v. 22.3.2007 – Rs. C-437/04 (Kommission / Belgien), Slg. 2007, I-2513 Rn. 51 führt aus, dass „es unter deren Vertragsfreiheit fällt, eine solche Klausel in den Vertrag aufzunehmen“. 135 EuGH Urt. v. 18.7.2007 – Rs. C-277/05 (Société thermale), Slg. 2007, I-6415 Rn. 21 stellt heraus, dass dies „in den Bereich der Vertragsfreiheit der Parteien fällt“. 136 Vgl. EuGH Urt. v. 16.4.2013 – Rs. C-202/11 (Las), EU:C:2013:239 Rn. 31; EuGH Urt. v. 21.6.2016 – Rs. C-15/15 (New Valmar), EU:C:2016:464 Rn. 39 ff. („Freiheit der Parteien, einen […] Vertrag in der Sprache ihrer Wahl abzufassen“). 137 EuGH Urt. v. 27.4.2017 – Rs. C-680/15 u.a. (Asklepios Kliniken u.a.), EU:C:2017: 317 Rn. 19 ff. Laut EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013: 521 Rn. 32 ff. gebietet die in Art. 16 GRCh grundrechtlich verbürgte Vertragsfreiheit, dass es dem Betriebserwerber möglich ist, „die die Entwicklung der Arbeitsbedingungen seiner Arbeitnehmer bestimmenden Faktoren mit Blick auf seine künftige wirtschaftliche Tätigkeit auszuhandeln“. Vgl. schon EuGH Urt. v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 (Werhof), Slg. 2006, I-2397 Rn. 37. 138 Siehe mit Blick auf Art. 3 Verordnung (EG) Nr. 1103/97 des Rates vom 17. Juni 1997 über bestimmte Vorschriften im Zusammenhang mit der Einführung des Euro, ABl. 1997 L 162/1 (im Folgenden: Euro-Einführungsverordnung), nur GA Poiares Maduro Schlussanträge v. 25.3.2004 – Rs. C-19/03 (O2), Slg. 2004, I-8183 Rn. 31 und 46. 139 Im Kontext privater Krankenversicherungsverträge führt das EuG Urt. v. 12.2.2008 – Rs. T-289/03 (BUPA), Slg. 2008, II-81 Rn. 192 f. mit Blick auf die Prämienfestsetzung und den Umfang des Versicherungsschutzes aus, dass Versicherer grundsätzlich „geschäftliche Entscheidungsfreiheit […] bei der inhaltlichen Ausgestaltung der PK-Verträge“ genießen (Herv. d. Verf.). 140 EuGH Urt. v. 28.6.1984 – verb. Rs. 187/83 und 190/83 (Nordbutter), Slg. 1984, 2553 Rn. 17: „Keine Vorschrift des Gemeinschaftsrechts verbietet nämlich, daß eine Molkerei in den Liefervertrag, den sie mit den einzelnen Tierhaltern schließt, Bestimmungen aufnimmt, nach denen sich der Tierhalter verpflichtet, einem Beauftragten der Molkerei den Zutritt zum Betrieb zu gestatten und alle für den Nachweis einer der Gemeinschaftsregelung und den eingegangenen Verpflichtungen entsprechenden Verwendung der Milch zweckdienlichen Unterlagen und erforderlichen Informationen beizubringen. Auch hindert nichts eine Molkerei, den Abschluß des Vertrags von der Aufnahme von Klauseln abhän-

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heit legt auch die Pauschalreiserichtlinie zugrunde, da „besondere Vorgaben des Reisenden, die der Reiseveranstalter akzeptiert hat“, Vertragsbestandteil werden.141 Das unionale Urhebervertragsrecht postuliert in Erwägungsgrund Nr. 34 Datenbankenschutzrichtlinie ebenfalls umfassende Inhaltsfreiheit: Die Art und Weise der Nutzung – und mithin der Vertragsinhalt – sollen grundsätzlich autonom „in dem Lizenzvertrag mit dem Rechtsinhaber festgelegt“ werden können.142 Die Inhaltsfreiheit betreffen schließlich auch unionsprivatrechtliche Rechtsakte, wie etwa die Erwägungsgründe Nr. 8 und 9 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie143 sowie Art. 6 und Art. 15 Abs. 5 Handelsvertreterrichtlinie.144 Die Vertragsinhaltsfreiheit umfasst nicht zuletzt die „Freiheit, den Preis für eine Leistung festzulegen“145 und die Zahlungsmodalitäten zu

gig zu machen, die bewirken sollen, daß die Tierhalter selbst die finanziellen Folgen von Verstößen gegen ihre Verpflichtungen zu tragen haben, wie die Stellung von Kautionen und Bankbürgschaften oder auch die Zustimmung zu Abzügen im Wege der Aufrechnung bei der monatlichen Milchgeldabrechnung, wenn die vertragsbrüchigen Tierhalter auch Lieferanten der Molkerei sind“. 141 Laut Anhang lit. j Pauschalreiserichtlinie a. F. werden alle „Sonderwünsche, die der Verbraucher dem Veranstalter oder dem Vermittler bei der Buchung mitgeteilt hat und die beide Parteien akzeptiert haben“, Bestandteil des Vertrags. Entsprechend hebt EuGH Urt. v. 30.4.2002 – Rs. C-400/00 (Club-Tour), Slg. 2002, I-4051 Rn. 15 mit Blick auf diese Regelung hervor, dass zu „einem durch die Richtlinie erfassten Vertrag alle Sonderwünsche [gehören], die der Verbraucher dem Veranstalter oder dem Vermittler bei der Buchung mitgeteilt hat und die beide Parteien akzeptiert haben“. 142 So nun auch deutlich EuGH Urt. v. 15.1.2015 – Rs. C-30/14 (PR Aviation), EU:C: 2015:10 Rn. 43: „Entscheidet sich der Hersteller einer durch die Richtlinie 96/9 geschützten Datenbank, die Benutzung seiner Datenbank oder einer Kopie davon zu gestatten, steht es ihm daher – wie auch der 34. Erwägungsgrund dieser Richtlinie bestätigt – frei, diese Benutzung durch eine mit dem rechtmäßigen Benutzer geschlossene Vereinbarung zu regeln, in der […] die ‚Zwecke und … Art und Weise‘ der Benutzung dieser Datenbank oder ihrer Kopie festgelegt werden“ (Herv. d. Verf.). 143 Erwägungsgrund Nr. 9 der Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Mai 1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 L 171/12, lautet: „Diese Richtlinie berührt nicht den Grundsatz der Vertragsfreiheit in den Beziehungen zwischen dem Verkäufer, dem Hersteller, einem früheren Verkäufer oder einer anderen Zwischenperson“. Der auf die widerlegbare Vermutung der Vertragsmäßigkeit bezogene Erwägungsgrund Nr. 8 lautet: „Diese Vermutung stellt keine Einschränkung des Grundsatzes der Vertragsfreiheit dar“. 144 Z. B. Art. 6 und Art. 15 Abs. 5 Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter, ABl. 1986 L 382/17. Dazu Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), 85, 91. 145 EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C:2013:28 Rn. 43. In diesem Sinne schon zuvor z. B. EuGH Urt. v. 22.3.2007 – Rs. C-437/04 (Kommission/ Belgien), Slg. 2007, I-2513 Rn. 51.

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bestimmen.146 Dieser Aspekt der Vertragsinhaltsfreiheit wird beispielsweise in Art. 15 Tabaksteuerrichtlinie,147 in Art. 21 Abs. 1 Luftverkehrsdiensteverordnung148 und nach der Lesart des EuGH zudem im unionalen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsdienste verbürgt.149 Eine besondere Spielart der Inhaltsfreiheit ist schließlich die sekundärrechtlich verbürgte Tariffreiheit im Versicherungsrecht.150 Generalanwältin Stix-Hackl hat die Tariffreiheit im Versicherungsvertragsrecht als Facette der Vertragsfreiheit identifiziert,151 und der EuGH spricht in diesem Zusammen146 EuGH Urt. v. 19.4.2012 – Rs. C-213/10 (F-Tex), EU:C:2012:215 Rn. 45. Siehe zur Vertragsinhaltsfreiheit statt vieler Grabenwarter, in: ders. (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 13 Rn. 31; Jarass (2016), Art. 16 GRCh Rn. 9. 147 Richtlinie 2011/64/EU des Rates vom 21. Juni 2011 über die Struktur und die Sätze der Verbrauchsteuern auf Tabakwaren, ABl. 2011 L 176/24. Siehe aus der ständigen Rechtsprechung nur EuGH Urt. v. 19.10.2000 – Rs. C-216/98 (Kommission /  Griechenland), Slg. 2000, I-8921 Rn. 21; EuGH Urt. v. 27.2.2002 – Rs. C-302/00 (Kommission / Frankreich), Slg. 2002, I-2055 Rn. 15. 148 Art. 22 Abs. 1 („Preisfreiheit“) der Verordnung (EG) Nr. 1008/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. September 2008 über gemeinsame Vorschriften für die Durchführung von Luftverkehrsdiensten in der Gemeinschaft (Neufassung), ABl. 2008 L 293/3, lautet: „Die Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft und – auf der Grundlage der Reziprozität – die Luftfahrtunternehmen von Drittländern legen ihre Flugpreise und Frachtraten für innergemeinschaftliche Flugdienste unbeschadet des Artikels 16 Absatz 1 frei fest“. Der EuGH Urt. v. 18.9.2014 – Rs. C-487/12 (Vueling Airlines), EU:C:2014:2232 Rn. 28, 43 und 48 f. betont, dass diese Freiheit gerade auch die Gestaltung der Beförderungsvertragsbedingungen umfasst: Namentlich könnten die Luftfahrtunternehmen zusätzlich zum Entgelt für den Flugschein weitere Kosten für das aufgegebene Gepäck der Fluggäste in Rechnung stellen. Zwingendes mitgliedstaatliches Recht, das die Erhebung von Zusatzentgelten für die Beförderung von aufgegebenem Gepäck untersagt, sei mit dem Unionsrecht unvereinbar, weil hierdurch „die freie Preisfestsetzung für die Beförderung von Fluggästen“ verhindert werde. 149 EuGH Urt. v. 7.11.2013 – Rs. C-518/11 (UPC Nederland), EU:C:2013:709 Rn. 62 f. hebt unter anderem mit Blick auf die Richtlinie 2002/21/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. März 2002 über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste, ABl. 2002 L 108/33, hervor, dass deren Regelungen gerade „die Freiheit der Preisbestimmung“ bzw. die „Preisgestaltungsfreiheit“ des Anbieters elektronischer Kommunikationsdienste unterstreichen. 150 Siehe zuletzt nur EuGH Urt. v. 7.3.2013 – Rs. C-577/11 (DKV Belgium), EU:C: 2013:146 Rn. 20, der diese Freiheit unter anderem aus Art. 29, Art. 39 Abs. 2 und Abs. 3 der Dritten sowie aus Art. 8 Abs. 3 der Ersten Schadensversicherungsrichtlinie herleitet, wonach die Mitgliedstaaten kein System der vorherigen Genehmigung oder der systematischen Übermittlung von Versicherungstarifen einführen dürfen. Siehe nunmehr Art. 182 zur Lebens- und Art. 182 Solvency II zur Nichtlebensversicherung sowie allgemein Art. 21 sowie Art. 154 Solvency II. 151 Vgl. GA Stix-Hackl Schlussanträge v. 30.3.2004 – Rs. C-346/02 u. a. (Kommission /  Luxemburg u. a.), Slg. 2004, I-7517 Rn. 55: „Zugleich zeigt sich, dass im Versicherungsbereich die Tariffreiheit in engem Zusammenhang zur Vertragsfreiheit steht“ (Herv. d. Verf.). Die „geschäftliche Entscheidungsfreiheit“ bei der Tarifgestaltung betont EuG Urt.

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hang nun ausdrücklich von einem übergreifenden „Grundsatz“.152 Allgemein gilt somit für „die in einem Vertrag vereinbarten Bedingungen […] das Prinzip der Privatautonomie“.153 3. Typenfreiheit Eine bedeutende und daher gesondert zu untersuchende Facette der Vertragsinhaltsfreiheit ist die Vertragstypenfreiheit. Diese besagt, dass die Vertragsparteien zum einen die gesetzlich vorgesehenen Vertragstypen nach ihrem Willen frei modifizieren und auch kombinieren können.154 Zum anderen steht es den Vertragspartnern frei, über den gesetzlich vorgesehenen Katalog an Vertragstypen hinaus eigene, neue Kategorien von Verträgen entsprechend ihren individuellen Bedürfnissen zu schaffen.155 Die Typenfreiheit schafft damit die Voraussetzungen für die vertragliche Regelung neuer, innovativer Transaktionen und ist damit in einer offenen, auf Fortschritt ausgerichteten Marktwirtschaft unverzichtbar. Angesichts ihrer zentralen Bedeutung nimmt es kaum Wunder, dass der EuGH diese Facette der Vertragsfreiheit in seiner ständigen Rechtsprechung betont: So ist zum einen die Typenmischung im Unionsprivatrecht grundsätzlich umfassend gewährleistet.156 Zum anderen 12.2.2008 – Rs. T-289/03 (BUPA), Slg. 2008, II-81 Rn. 192. Vgl. auch schon EuGH Urt. v. 25.2.2003 – Rs. C-59/01 (Kommission / Italien), Slg. 2003, I-1759 Rn. 29 ff. 152 Siehe zu diesem Grundsatz („principe de la liberté tarifaire“; „principle of freedom to set rates“) nur EuGH Urt. v. 7.9.2004 – Rs. C-347/02 (Kommission / Frankreich), Slg. 2004, I-7557 Rn. 22 ff.; EuGH Urt. v. 7.9.2004 – Rs. C-346/02 (Kommission / Luxemburg), Slg. 2004, I-7517 Rn. 21 ff.; EuGH Urt. v. 28.4.2009 – Rs. C-518/06 (Kommission /  Italien), Slg. 2009, I-3491 Rn. 101 und 103; EuGH Urt. v. 7.3.2013 – Rs. C-577/11 (DKV Belgium), EU:C:2013:146 Rn. 21 ff. 153 GA Sharpston Schlussanträge v. 12.5.2016 – Rs. C-555/14 (IOS Finance), Rn. 43 unter Berufung auf EuGH Urt. v. 20.5.2010 – Rs. C-434/08 (Harms), Slg. 2010 I-4431 Rn. 36. 154 Diese Facette der Vertragsfreiheit wird z. B. im italienischen Recht in Art. 1323 sowie vor allem in Art. 1322 Abs. 2 Codice civile ausdrücklich genannt: „Le parti possono anche concludere contratti che non appartengano ai tipi aventi una disciplina particolare, purché siano diretti a realizzare interessi meritevoli di tutela secondo l’ordinamento giuridico“. Siehe zur Vertragstypenfreiheit statt vieler H.P. Westermann, Vertragsfreiheit und Typengesetzlichkeit im Recht der Personengesellschaften (1970), S. 97; Stoffels, Gesetzlich nicht geregelte Schuldverträge (2001), S. 32. 155 Vgl. z. B. H.P. Westermann, Vertragsfreiheit und Typengesetzlichkeit im Recht der Personengesellschaften (1970), S. 42; Stoffels, Gesetzlich nicht geregelte Schuldverträge (2001), S. 31 ff. und 101. 156 Siehe mit Blick auf Art. 16 Nr. 1 EuGVÜ nur EuGH Urt. v. 26.2.1992 – Rs. C280/90 (Hacker), Slg. 1992, I-1111 Rn. 14; EuGH Urt. v. 27.1.2000 – Rs. C-8/98 (Dansommer), Slg. 2000, I-393 Rn. 30 f.; EuGH Urt. v. 13.10.2005 – Rs. C-73/04 (Klein), Slg. 2005, I-8681 Rn. 27 f. Siehe im Kontext des unionalen Vergaberechts nur EuGH Urt. v. 19.4.1994 – Rs. C-331/92 (Gestión Hotelera Internacional), Slg. 1994, I-1329 Rn. 26 ff.; EuGH Urt. v. 18.1.2007 – Rs. C-220/05 (Auroux u. a.), Slg. 2007, I-385 Rn. 37;

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erkennt das Unionsrecht laut Generalanwalt Colomer auch die Freiheit der Parteien an, neue, zuvor unbekannte Vertragskategorien privatautonom zu schaffen.157 4. Änderungsfreiheit Auf „dem Grundsatz der Vertragsfreiheit beruht“ laut EuGH zudem „das Recht der Parteien, von ihnen geschlossene Verträge zu ändern“.158 Im Unionsprivatrecht scheint diese Vertragsänderungsfreiheit etwa in Art. 8 Abs. 2 Verbraucherkreditrichtlinie auf: Demnach können „die Parteien übereinkommen, den Gesamtkreditbetrag nach Abschluss des Kreditvertrages zu ändern“. Die Änderungsfreiheit setzten ferner z. B. Art. 28 Abs. 4 WohnimmobilienkEuGH Urt. v. 21.2.2007 – Rs. C-412/04 (Kommission / Italien), Slg. 2007, I-619 Rn. 47 f.; EuGH Urt. v. 29.10.2009 – Rs. C-536/07 (Kommission / Deutschland), Slg. 2009, I-10355 Rn. 28, 57 und 61; EuGH Urt. v. 6.5.2010 – verb. Rs. C-145/08 u. a. (Club Hotel Loutraki u. a.), Slg. 2010, I-4165 Rn. 46 ff.; EuGH Urt. v. 22.12.2010 – Rs. C-215/09 (Mehiläinen und Terveystalo Healthcare), Slg. 2010, I-13749 Rn. 36. Vgl. schließlich im Kontext des unionalen Mehrwertsteuerrechts nur EuGH Urt. v. 27.9.2012 – Rs. C-392/11 (Field Fisher Waterhouse), EU:C:2012:597 Rn. 13 ff.; EuGH Urt. v. 16.4.2015 – Rs. C-42/14 (Minister Finansów), EU:C:2015:229 Rn. 29 ff.: Hier grenzt der Gerichtshof jeweils im Rahmen eines einheitlichen Vertrags mehrere zusammengesetzte Hauptleistungen gegenüber reinen Nebenleistungen ab. 157 Laut GA Colomer Schlussanträge v. 8.11.2006 – Rs. C-412/04 (Kommission/ Italien), Slg. 2007, I-619 Rn. 29 f. ermöglicht die Vertragsfreiheit „das Erscheinen neuer Vertragstypen, die Bestandteile verschiedener Typen miteinander verbinden, um die von den Vertragsschließenden verfolgten Ziele besser zu verwirklichen. Es gibt unzählige Kombinationsmöglichkeiten in Bezug auf den Vertragsinhalt, denn es besteht die Möglichkeit, dass ein einziges Rechtsgeschäft mehrere umfasst, dass eine Mehrzahl von Vertragsgegenständen existiert und dass dabei jede Partei unterschiedliche Leistungen erbringt“ (Herv. d. Verf.). 158 EuGH Urt. v. 5.10.1999 – Rs. C-240/97 (Spanien / Kommission), Slg. 1999, I-6571 Rn. 99. In diesem Sinne hat schon GA Jacobs Schlussanträge v. 1.7.1992 – Rs. 142/91 (Cebag / Kommission), Slg. 1993 I-553 Rn. 9 betont, bei „einer vertraglichen Beziehung […] stünde es den Partnern […] frei, den Vertragsinhalt zu ändern“. Auch nach Auffassung von GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 19.2.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:82 Rn. 36 sind die Parteien eines Vertrags im Anwendungsbereich der europäischen Betriebsübergangsrichtlinie grundsätzlich „durch nichts daran gehindert, die Vertragsklausel[n] […] neu auszuhandeln“. Die Vertragsänderungsfreiheit wird überdies implizit vorausgesetzt, wenn der EuGH Urt. v. 18.11.2004 – Rs. C-284/03 (Temco), Slg. 2004, I-11237 Rn. 22 im Kontext der Mehrwertsteuerrichtlinie hervorhebt: „Die Mietdauer kann aber während der Durchführung des Vertrags einvernehmlich durch die Parteien verkürzt oder verlängert werden“. Siehe zur unionsrechtlichen Gewährleistung der Vertragsänderungsfreiheit nur Frenz, Handbuch Europarecht IV: Europäische Grundrechte (2009), Rn. 2700; Meyer / Bernsdorff (2014), Art. 16 GRCh Rn. 12; Grabenwarter, in: ders. (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 13 Rn. 31; Jarass (2016), Art. 16 GRCh Rn. 9.

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reditvertragsrichtlinie,159 Art. 13 Handelsvertreterrichtlinie,160 Art. 3 EuroEinführungsverordnung,161 Art. 20 Abs. 2 Universaldienstrichtlinie,162 Art. 11 Teil C Abs. 1 Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie163 sowie Art. 10 und Art. 11 Pauschalreiserichtlinie voraus.164 Ebenso verhält es sich mit Art. 42 Nr. 6 lit. a i.V.m. Art. 44 Abs. 1 Zahlungsdiensterichtlinie,165 der es den Parteien gestattet, dem Schweigen auf ein Angebot zur Vertragsänderung Erklärungsgehalt beizumessen. Zudem wird die Vertragsänderungsfreiheit beispielsweise in Art. 6 Abs. 5 Verbraucherrechterichtlinie ebenso wie auch in Art. 5 Abs. 2 Time-Sharing-Richtlinie166 postuliert, da ausweislich dieser Vorschriften bestimmte sekundärrechtlich vorgegebene Vertragsbestandteile auch nachträglich geändert werden dürfen, wenn „die Vertragsparteien […] aus-

Gemäß dieser Vorschrift steht es den Parteien eines Kreditvertrags auch nach Vertragsschluss frei, „sich ausdrücklich darauf zu einigen, dass die Rückgabe oder Übertragung der Sicherheit oder des Erlöses aus der Verwertung der Sicherheit als für die Tilgung des Kredits ausreichend angesehen wird“. 160 Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter, ABl. 1986 L 382/17. 161 Artikel 3 Euro-Einführungsverordnung lautet: „Die Einführung des Euro […] gibt […] [k]einer Partei das Recht, ein Rechtsinstrument einseitig zu ändern oder zu beenden. Diese Bestimmung gilt vorbehaltlich etwaiger Vereinbarungen der Parteien“. 162 Namentlich geht diese Bestimmung der Richtlinie 2002/22/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über den Universaldienst und Nutzerrechte bei elektronischen Kommunikationsnetzen und -diensten (Universaldienstrichtlinie), ABl. 2002 L 108/51, davon aus, dass Anbieter von Universaldiensten „Änderungen der Vertragsbedingungen“ vorschlagen und ihre Vertragspartner „die neuen Bedingungen […] annehmen“ können. 163 Hier setzt der EuGH namentlich voraus, „dass eine solche nachträgliche Änderung der vertraglichen Beziehungen“ möglich und von der betreffenden Vorschrift der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage, ABl. 1977 L 145/1, erfasst sein muss, vgl. EuGH Urt. v. 29.5.2001 – Rs. C-86/99 (Freemans), Slg. 2001 I-4167 Rn. 32 f. 164 Z. B. sieht Art. 11 Abs. 2 Pauschalreiserichtlinie vor, dass ein Reisender bei Änderungen „der wesentlichen Eigenschaften der Reiseleistungen“ der vom Reiseveranstalter „vorgeschlagenen Änderung zustimmen“ und so den Inhalt des Pauschalreisevertrags modifizieren kann. 165 Richtlinie 2007/64/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2007 über Zahlungsdienste im Binnenmarkt, zur Änderung der Richtlinien 97/7/EG, 2002/65/EG, 2005/60/EG und 2006/48/EG sowie zur Aufhebung der Richtlinie 97/5/EG, ABl. 2007 L/1. 166 Richtlinie 2008/122/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Januar 2009 über den Schutz der Verbraucher im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Teilzeitnutzungsverträgen, Verträgen über langfristige Urlaubsprodukte sowie Wiederverkaufsund Tauschverträgen, ABl. 2008 L 33/10. 159

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drücklich etwas anderes“ vereinbaren.167 Soweit man die Parteiautonomie als Facette der unionalen Vertragsfreiheit begreift,168 lässt sich auch Art. 3 Abs. 2 Rom I als Verbürgung der Änderungsfreiheit verstehen, da diese Norm „jederzeit“ eine abweichende Rechtswahl gestattet.169 5. Aufhebungsfreiheit Die Freiheit der Parteien, den Vertrag aufzuheben, bildet eine weitere Facette der Vertragsfreiheit.170 Im Kontext der Betriebsübergangsrichtlinie hat der EuGH hervorgehoben, dass dieser Sekundärrechtsakt den Arbeitnehmer keineswegs zur Fortsetzung des Arbeitsvertrages verpflichtet, sondern die Vertragsaufhebungsfreiheit wahrt: „Dieser von der Richtlinie beabsichtigte Schutz ist jedoch gegenstandslos, wenn der […] Arbeitsvertrag […] aufgrund einer aus freien Stücken zwischen dem Arbeitnehmer und dem Veräußerer bzw. dem Erwerber des Unternehmens getroffenen Vereinbarung beendet wird“.171

Aber auch in anderen Materien des Unionsrechts ist anerkannt, dass „die Aufhebung eines Vertrags von der übereinstimmenden Willenserklärung beider Parteien abhängt“ und mithin grundsätzlich Vertragsaufhebungsfreiheit gewährleistet ist.172

167 Dies betrifft namentlich die Infomationen nach Art. 6 Abs. 1 Verbraucherrechtebzw. Art. 4 Abs. 1 Teilzeitnutzungsrechterichtlinie, die grundsätzlich fester Bestandteil des Vertrags sind. 168 Dazu sogleich ausführlich unten 7. 169 In diesem Sinne auch Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85, 98. 170 EuGH Urt. v. 11.7.1985 – Rs. 105/84 (Mikkelsen), Slg. 1985, 2639 Rn. 16; EuGH Urt. v. 16.12.1992 – verb. Rs. C-132/91 u. a. (Katsikas u. a.), Slg. 1992, I-6577 Rn. 30 ff. Vgl. zu einem Aufhebungsvertrag zudem nur EuGH Urt. v. 11.11.2015 – Rs. C-422/14 (Pujante Rivera), EU:C:2015:743 Rn. 15 und 50. 171 EuGH Urt. v. 11.7.1985 – Rs. 105/84 (Mikkelsen), Slg. 1985, 2639 Rn. 16. Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei, dass der Gerichtshof die Vertragsaufhebungsfreiheit des Arbeitnehmers gerade unionsgrundrechtlich verbürgt sieht: Eine Lesart der Betriebsübergangsrichtlinie, wonach der Arbeitnehmer trotz einer einvernehmlichen Vertragsaufhebung oder einer Kündigung für den Betriebserwerber weiterarbeiten müsste, „verstieße gegen Grundrechte des Arbeitnehmers“ (Herv. d. Verf.), EuGH Urt. v. 16.12.1992 – verb. Rs. C-132/91 u. a. (Katsikas u. a.), Slg. 1992, I-6577 Rn. 31 f. 172 Vgl. nur GA Slynn Schlussanträge v. 16.10.1984 – Rs. 35/83 (BAT/Kommission), Slg. 1984, 363, 367. Siehe mit Blick auf die Beendigung von Arbeitsverträgen nun auch EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 69: „Es lässt sich daher nicht bestreiten, dass die Schaffung einer Rahmenregelung für Massenentlassungen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende eine Beschränkung der Ausübung der unternehmerischen Freiheit und insbesondere der Vertragsfreiheit darstellt, über die die Unternehmen grundsätzlich, insbesondere gegenüber den von ihnen beschäftigten Arbeitnehmern, verfügen“ (Herv. d. Verf.).

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6. Formfreiheit Die Formfreiheit ist eine weitere wichtige Facette der Vertragsfreiheit: Sie besagt, dass die Wirksamkeit der von den Parteien getroffenen Vereinbarung in der Regel nicht von der Einhaltung eines bestimmten Formerfordernisses abhängen soll.173 Besondere Bedeutung hat dieser Grundsatz in dem auf Einfachheit und Schnelligkeit angewiesenen kaufmännischen Verkehr, weshalb die Formfreiheit nicht zuletzt in internationalen Übereinkommen, etwa in Art. 11 CISG,174 verbürgt ist.175 Auch der EuGH betont im Kontext des unionalen Wirtschaftsvertragsrechts ausdrücklich „die Erfordernisse des internationalen Handelsverkehrs in Bezug auf Formfreiheit“.176 Mit Blick auf die Handelsvertreterrichtlinie hat der Gerichtshof wiederholt auf diesen Aspekt der Vertragsfreiheit Bezug genommen: Namentlich baue die Richtlinie auf dem „Grundsatz der Formfreiheit des Vertrags“ auf, so dass sekundärrechtlich nicht vorgesehene „Ausnahmen vom Grundsatz der Formfreiheit gegen die Richtlinie verstoßen“ würden.177 Dieser Grundsatz hat zudem in Art. 3 Abs. 1 Finanzsicherheitenrichtlinie178 Niederschlag gefunden. Ebenso wie die Handelsvertreterrichtlinie begrenzt dieser Sekundärrechtsakt den Spielraum der Mitgliedstaaten, die Wirksamkeit vertraglicher Abreden einer bestimmten Form zu unterwerfen.179 Die Formfreiheit scheint zudem im Verbrauchervertragsrecht insoweit auf, als bestimmte Erklärungen im Rahmen des Vertragsverhältnisses grundsätz-

173 Dazu z. B. Riesenhuber, System und Prinzipien des europäischen Vertragsrechts (2003), S. 559, 323 ff. 174 United Nations Convention on Contracts for the International Sale of Goods v. 11.4.1980, 1489 UNTS, 3. 175 Siehe zur Formfreiheit im Besonderen und zur Vertragsfreiheit im Allgemeinen nur Staudinger / Magnus (2013), Art. 11 CISG Rn. 1 ff. 176 Siehe mit Blick auf die Erleichterungen der Formerfordernisse für Gerichtsstandsvereinbarungen in Art. 17 EuGVÜ (nun Art. 25 Brüssel Ia) nur EuGH Urt. v. 20.2.1997 – Rs. C-106/95 (MSG), Slg. 1997, I-911 Rn. 18. 177 EuGH Urt. v. 30.4.1998 – Rs. C-215/97 (Bellone), Slg. 1998, I-2191 Rn. 14 f.: „Bezüglich der Form des Handelsvertretervertrages gestattet Artikel 13 Absatz 2 der Richtlinie in Kapitel IV mit der Überschrift ‚Abschluß und Beendigung des Handelsvertretervertrages‘ den Mitgliedstaaten, ‚vorzuschreiben, daß ein Vertretungsvertrag nur in schriftlicher Form gültig ist‘. Die Richtlinie geht somit von dem Grundsatz der Formfreiheit des Vertrags aus […]. Wenn Artikel 13 Absatz 2 der Richtlinie den Mitgliedstaaten also nur die Möglichkeit beläßt, die Schriftform vorzuschreiben, folgt daraus, daß andere Ausnahmen vom Grundsatz der Formfreiheit gegen die Richtlinie verstoßen“ (Herv. d. Verf.). Siehe auch EuGH Urt. v. 6.3.2003 – Rs. C-485/01 (Caprini), Slg. 2003, I-2371 Rn. 5 und 16 ff. 178 Richtlinie 2002/47/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juni 2002 über Finanzsicherheiten, ABl. 2002 L 168/43. 179 Vgl. aber z. B. auch Art. 3 Abs. 1 S. 2 und Abs. 3 Finanzsicherheitenrichtlinie.

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lich formfrei wirksam sein sollen.180 Im Finanzdienstleistungsvertragsrecht wird die Form rechtsgeschäftlicher Erklärungen teilweise ausdrücklich zur Disposition der Parteien gestellt: So soll beispielsweise die Zustimmung zu Zahlungsvorgängen gemäß Art. 54 Zahlungsdiensterichtlinie nur „der zwischen dem Zahler und seinem Zahlungsdienstleister vereinbarten Form“ unterliegen.181 Ebenso wie im Rahmen des Art. 11 CISG ist also auch im Kontext des Art. 54 Zahlungsdiensterichtlinie die Möglichkeit, eine bestimmte Form zu vereinbaren, gerade Ausdruck der grundsätzlichen Form- und damit Vertragsfreiheit.182 7. Parteiautonomie Weil die Parteiautonomie die Wahl zwischen staatlichen Rechtsordnungen und Gerichtsbarkeiten eröffnet, wird diese Freiheit zuweilen als vorstaatliche und somit apriorische Freiheit verstanden.183 Die vorliegende Arbeit untersucht indes allein die Gewährleistung der Vertragsfreiheit und all ihrer Facetten im geltenden Unionsrecht und erfasst diese Freiheit mithin als juristischnormative Kategorie.184 Denn ungeachtet des theoretischen Fundaments der Parteiautonomie muss sich die Wahl eines bestimmten Rechts oder Gerichts stets in dem durch das Unionsrecht gesteckten Rahmen bewegen, um von der EU-Rechtsordnung als wirksam anerkannt zu werden.185 Ihrem Erkenntnisin180 Vgl. zum Grundsatz der Formfreiheit der Geltendmachung des Rücktrittsrechts im Rahmen der nur EuGH Urt. v. 22.4.1999 – Rs. C-423/97 (Travel Vac), Slg. 1999 I-2195 Rn. 45 ff. 181 Nach Art. 54 Zahlungsdiensterichtlinie wird das Verfahren – einschließlich etwaiger Formerfordernisse – „für die Erteilung der Zustimmung […] zwischen dem Zahler und dem Zahlungsdienstleister vereinbart“. 182 Siehe im Kontext von Art. 6 sowie Art. 11 CISG nur Staudinger / Magnus (2013), Art. 11 CISG Rn. 18 f. 183 In diesem Sinne z. B. Jayme, Rapport définitif, in: Institut de droit international, Annuaire 64 I (1991), S. 62, 65 ff.; Rühl, Statut und Effizienz (2011), S. 343 ff.; Basedow, RabelsZ 75 (2011), 32, 38 ff. sowie 54 ff. („Aprioristische […] Bedeutung der Parteiautonomie“; „Rechtswahlfreiheit als vorstaatliches Recht“); ders., The Law of Open Societies (2015), S. 146 ff. („Pre-Governmental Right“). Zurückhaltender mit Blick auf das internationale Unionsprivatrecht Mansel, in: Leible / Unberath (Hrsg.), Brauchen wir eine Rom 0Verordnung?, S. 241, 262 ff. 184 Siehe erneut oben Einleitung B I. 185 Beispielsweise unterstellen Art. 3 Abs. 5, Art. 10 Rom I das Zustandekommen und die materielle Wirksamkeit der Rechtswahlvereinbarung dem von den Parteien gewählten Recht. Diese Lösung stellt zwar dem Parteiwillen in den Mittelpunkt, unterwirft die Rechtswahl aber fraglos den kollisionsrechtlichen Regelungen des Unionsrechts, siehe nur Basedow, The Law of Open Societies (2015), S. 135 f. Soweit die Parteiautonomie ein unionsgrundrechtliches Fundament hat, müssen die Normen des internationalen Unionsprivatrechts freilich ihrerseits am Maßstab dieser international-privatrechtlichen Facette der Vertragsfreiheit gemessen werden, Lüttringhaus, IPRax 2014, 146, 149. Vgl. auch

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teresse entsprechend nimmt diese Abhandlung vorrangig das internationale Unionsprivatrecht der Schuldverhältnisse in den Blick.186 Hier ist zunächst zu hinterfragen, ob die Parteiautonomie im geltenden Unionsrecht als international-privatrechtliche Entsprechung der sachrechtlichen Vertragsfreiheit konzipiert ist. Dafür streitet bereits, dass Ausdruck und Endpunkt der Parteiautonomie ebenfalls die Handlungsform des Vertrags ist. Sowohl bei der Gerichtstands- als auch bei der Rechtswahlvereinbarung handelt es sich um einen Vertrag im unionsrechtlich-autonomen Sinne.187 Vor allem interpretiert der EuGH die Parteiautonomie ausdrücklich als international-privatrechtliches Pendant der Vertragsfreiheit: Namentlich dient Art. 25 Abs. 1 Brüssel Ia „der Wahrung der Privatautonomie“,188 verstanden als die „Privatautonomie im Hinblick auf die Bestimmung des zuständigen Gerichts“.189 Diese Lesart des EuGH hat der europäische Gesetzgeber in den Erwägungsgründen Nr. 15 und 19 Brüssel Ia aufgegriffen, welche explizit „die Vertragsfreiheit der Parteien hinsichtlich der Wahl des Gerichtsstands“ betonen.190 Entsprechend postuliert Basedow, The Law of Open Societies (2015), S. 148 f. Vgl. zur grundrechtlichen Dimension der Parteiautonomie auch Leible, FS Jayme I (2004), S. 485, 488; Rühl, Statut und Effizienz (2011), S. 343 ff. 186 Keine Berücksichtigung findet damit etwa die – begrenzte – Parteiautonomie nach Art. 22 sowie Art. 5 EuErbVO. Diese Fragen sind Gegenstand der umfassenden Untersuchung von Kroll-Ludwigs, Die Rolle der Parteiautonomie im europäischen Kollisionsrecht (2013). 187 Siehe dazu erneut oben Kapitel 1 § 3 B I 1 a. Art. 25 Abs. 5 Brüssel Ia bestimmt explizit, dass eine „Gerichtsstandsvereinbarung, die Teil eines Vertrags ist, […] als eine von den übrigen Vertragsbestimmungen unabhängige Vereinbarung“ zu behandeln ist. Auch kann diese Vereinbarung als Rahmenvereinbarung gerade losgelöst von einem konkreten sachrechtlichen Einzelvertrag geschlossen werden, vgl. nur EuGH Urt. v. 10.3.1992 – Rs. C-214/89 (Powell Duffryn), Slg. 1992, I-1745 Rn. 30 ff.; EuGH Urt. v. 7.3.2013 – Rs. C-543/10 (Refcomp), EU:C:2013:62 Rn. 29 ff. Bei der Rechtswahlvereinbarung gemäß Art. 14 Abs. 1 Rom II und Art. 3 Rom I handelt es sich um einen vom Hauptvertrag entkoppelten Verweisungsvertrag, was sich auch darin zeigt, dass Art. 3 Abs. 5 Rom I diesen Vertrag als eigenständiges Rechtsgeschäft behandelt. Dazu statt aller Staudinger / Magnus (2016), Art. 3 Rom I Rn. 166. 188 Siehe zur Ableitung der Parteiautonomie aus der Privatautonomie mit Blick auf Art. 17 Abs. 1 EuGVÜ bereits EuGH Urt. v. 9.11.1978 – Rs. 23/78 (Meeth), Slg. 1978, 2133 Rn. 8 und 5. Vgl. auch EuGH Urt. v. 24.6.1986 – Rs. 22/85 (Anterist), Slg. 1986, 1951 Rn. 14; EuGH Urt. v. 9.11.2000 – Rs. C-387/98 (Coreck Maritime), Slg. 2000, I9337 Rn. 14; EuGH Urt. v. 12.5.2005 – Rs. C-112/03 (Société financière), Slg. 2005, I3707 Rn. 33; EuGH Urt. v. 7.2.2013 – Rs. C-543/10 (Refcomp), EU:C:2013:62 Rn. 27 f.; EuGH Urt. v. 21.5.2015 – Rs. C-322/14 (El Majdoub), EU:C:2015:334 Rn. 26. 189 GA Capotorti Schlussanträge v. 24.10.1979 – Rs. 25/79 (Sanicentral), Slg. 1979, 3431, 3433. 190 Wortlautgleich wurde die Vertragsfreiheit bereits im Vorgängerrechtsakt als Grundlage der Gerichtsstandwahl identifiziert, siehe Erwägungsgründe Nr. 11 und 14 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zustän-

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beispielsweise Generalanwalt Jääskinen im Kontext des Art. 25 Brüssel Ia den umfassenden „Vorrang der Vertragsfreiheit der Parteien“191 und der EuGH selbst geht ebenfalls von einem „Grundsatz der Anerkennung der Parteiautonomie bei Gerichtsstandsvereinbarungen“ aus.192 In seiner jüngeren Entscheidungspraxis verwendet der EuGH in diesem Zusammenhang nun überdies den synonymen Begriff der „Vertragsautonomie“.193 Im europäischen Kollisionsrecht der Schuldverhältnisse normieren unter anderem Art. 3 Rom I und Art. 14 Rom II die Rechtswahlfreiheit der Parteien.194 Generalanwältin Kokott sieht in der Rechtswahlmöglichkeit zutreffend nur eine besondere Ausdrucksform des „privatautonomen Zugriff[s]“.195 Entsprechend führt der EuGH die kollisionsrechtliche Parteiautonomie in seiner Unamar-Entscheidung wiederum auf den „Grundsatz der Vertragsautonomie“ bzw. auf das „principle of the freedom of contract of the parties to a contract“ zurück.196 Damit stellt der Gerichtshof nicht nur den Bezug zur Vertragsfreiheit her, sondern schlägt zugleich den Bogen zu Art. 25 Brüssel Ia und verdigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. 2000 L 12/1. 191 Vgl. GA Jääskinen Schlussanträge v. 11.12.2014 – Rs. C-353/13 (CDC), EU:C: 2014:2443 Rn. 106 f. 192 EuGH Beschl. v. 6.11.2014 – Rs. C-366/14 (Herrenknecht), EU:C:2014:2353 Rn. 20. 193 Z. B. EuGH Urt. v. 7.2.2013 – Rs. C-543/10 (Refcomp), EU:C:2013:62 Rn. 27 f.; EuGH Urt. v. 21.5.2015 – Rs. C-322/14 (El Majdoub), EU:C:2015:334 Rn. 26. Siehe zur „Vertragsautonomie“ („contractual freedom“, „autonomie contractuelle“) als Synonym der Vertragsfreiheit im sachrechtlichen Kontext nur EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:282 Rn. 47. 194 Laut Erwägungsgrund Nr. 11 Rom I ist die „freie Rechtswahl der Parteien […] einer der Ecksteine des Systems der Kollisionsormen im Bereich der vertraglichen Schuldverhältnisse“. Vgl. auch bereits das obiter dictum des EuGH Urt. v. 24.1.1991 – Rs. C-339/89 (Alsthom Atlantique), Slg. 1991, I-107 Rn. 15, wonach „es den Parteien eines internationalen Kaufvertrags im Allgemeinen frei [steht], das auf ihre Vertragsbeziehungen anwendbare Recht zu bestimmen“. Vgl. darüber hinaus zur Rechtswahl außerhalb des Schuldrechts durch Vereinbarung der Parteien nur Art. 5 Verordnung (EU) Nr. 1259/2010 des Rates vom 20. Dezember 2010 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich des auf die Ehescheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebandes anzuwendenden Rechts, ABl. 2010 L 343/10. 195 GA Kokott Schlussanträge v. 6.11.2014 – Rs. C-564/13 P (Planet AE/Kommission), EU:C:2014:2352 Rn. 32 f. 196 EuGH Urt. v. 17.10.2013 – Rs. C-184/12 (Unamar), EU:C:2013:663 Rn. 49: „Um dem Grundsatz der Vertragsautonomie der Parteien, dem Eckstein des Übereinkommens von Rom, der in der Rom-I-Verordnung übernommen wurde, volle Wirksamkeit zu verleihen, muss somit nach Art. 3 Abs. 1 des Übereinkommens von Rom dafür gesorgt werden, dass die freie Entscheidung der Vertragsparteien hinsichtlich des im Rahmen ihrer Vertragsbeziehung anwendbaren Rechts respektiert wird“. Die Erwägungen des EuGH zu Art. 3 Rom I dürften grundsätzlich auch auf andere Rechtswahlmöglichkeiten, z. B. nach Art. 14 Abs. 1 Rom II, übertragbar sein.

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deutlich so die einheitliche und übergreifende Konzeption der Parteiautonomie im internationalen Unionsprivatrecht.197 Damit erschöpft sich die Parteiautonomie nicht nur in den jeweiligen kontextspezifischen Gewährleistungen der vorgenannten Sekundärrechtsakte, sondern bildet im System der Unionsrechtsordnung einen Aspekt der Vertragsfreiheit.198 II. Beschränkung als implizite Anerkennung der Vertragsfreiheit Die Mehrzahl der unionsprivatrechtlichen Regelungen legt nicht nur den Rechtsrahmen für vertragliche Transaktionen fest, sondern widmet sich auch – wenn nicht sogar vorrangig – dem rollenspezifischen Schutz bestimmter Akteure.199 Wann immer das Privatrecht der Union zugunsten von Verbrauchern, Handelsvertretern, Arbeit- und Versicherungsnehmern interveniert oder im Wirtschaftsvertragsrecht beispielsweise wettbewerbswidrige Vereinbarungen sanktioniert und partiell Kontrahierungszwänge aufstellt, wird dadurch die Vertragsfreiheit zumindest einer Vertragspartei verkürzt. Derartige Beschränkungen ergeben indes überhaupt nur Sinn, wenn im Anwendungsbereich des Unionsrechts im Grundsatz zunächst vollumfängliche Vertragsfreiheit herrscht.200 Anders gewendet bedarf es eines dichten Netzes an detaillierten und materienübergreifenden Verkürzungen der Vertragsfreiheit in der Unionsrechtsordnung nur, wenn die rechtsgeschäftliche Privatautono197 Vgl. einerseits EuGH Urt. v. 7.2.2013 – Rs. C-543/10 (Refcomp), EU:C:2013:62 Rn. 27 f.; EuGH Urt. v. 21.5.2015 – Rs. C-322/14 (El Majdoub), EU:C:2015:334 Rn. 26 und andererseits EuGH Urt. v. 17.10.2013 – Rs. C-184/12 (Unamar), EU:C:2013:663 Rn. 49. Ein solches übergreifendes Verständnis der Parteiautonomie im internationalen Unionsprivatrecht deutet sich bereits in EuGH Urt. v. 24.6.1986 – Rs. 22/85 (Anterist), Slg. 1986, 1951 Rn. 14 an: „Da Artikel 17 des Übereinkommens eine Bestätigung des Grundsatzes der Parteiautonomie darstellt, ist sein Absatz 3 so auszulegen, dass der gemeinsame Wille der Parteien bei Abschluss des Vertrags respektiert wird“ (Herv. d. Verf.). Schließlich sieht auch die Europäische Kommission in der Parteiautonomie eine Facette der Vertragsfreiheit: Laut der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat, Ein kohärenteres europäisches Vertragsrecht: Ein Aktionsplan, ABl. 2003 C 61/1, 16, würde ein optionales Instrument auf dem Gebiet des Vertragsrechts nämlich „die Vertragsfreiheit auf zweierlei Art sicherstellen: erstens, weil die Parteien dieses Instrument als das anwendbare Recht wählen können, und zweitens, weil die Parteien die betreffenden Bestimmungen grundsätzlich abändern können“. 198 In diesem Sinne GA Kokott Schlussanträge v. 6.11.2014 – Rs. C-564/13 P (Planet AE/Kommission), EU:C:2014:2352 Rn. 32 f. „[S]pezifisch kollisionsrechtliche Spielarten der Vertragsfreiheit“ sieht hierin auch Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85, 91 f. und 98. Ebenso Lüttringhaus, IPRax 2014, 146, 149 f. 199 Vgl. zum Verbraucherrecht als rollenspezifischem Schutzregime nur Medicus, FS Kramer (2004), S. 211 ff.; Zimmermann, Current Leg. Prob. 58 (2005), 415, 418. 200 Müller-Graff, in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung (2011), S. 139, 148.

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mie nicht nur bereichsspezifisch und isoliert, sondern vielmehr als durchgängiges Leitprinzip in all ihren sieben Facetten anerkannt wird.201 1. Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit Die freie Entscheidung, ob und gegebenenfalls mit wem ein Vertrag geschlossen wird, bildet das Fundament, auf dem alle weiteren Aspekte der Vertragsfreiheit aufbauen. Gleichwohl wird diese grundlegende Ausprägung der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie sowohl im europäischen Verbraucher- und Finanzdienstleistungs- als auch insbesondere im Wirtschaftsvertragsrecht wiederholt beschränkt. In allen vorgenannten Materien des Unionsprivatrechts wird die Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit zunächst durch sozialpolitisch motivierte wie auch durch binnenmarktbezogene Diskriminierungsverbote beeinträchtigt:202 Die durch Art. 21 und Art. 23 GRCh unionsgrundrechtlich untermauerten sozialpolitischen Diskriminierungsverbote erfassen neben dem Arbeitsvertragsrecht sowie dem allgemeinen Schuldvertragsrecht unter anderem das Versicherungs- und Bankvertragsrecht.203 Obschon die unionalen Antidiskriminierungsrichtlinien keinen Kontrahierungszwang anordnen, können die Mitgliedstaaten bei der Richtlinien-

In diesem Sinne auch Müller-Graff, in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung (2011), S. 139, 148. Ähnlich bereits Schulze, GPR 2005, 56, 58; Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85, 92. 202 Siehe zu dieser Unterscheidung der Diskriminierungsverbote des Unionsrechts Basedow, ZEuP 2008, 230, 234; ders., in: ders. / Hopt / Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009), S. 316, 317 ff. 203 Vgl. insbesondere Art. 3 Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft, ABl. 2000 L 180/22 (Gleichbehandlungsrichtlinie 2000/43/EG); Art. 3 Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG; Art. 3 Unisexrichtlinie 2004/113/EG; Art. 1 Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (Neufassung), ABl. 2006 L 204/23 (Arbeitnehmergleichbehandlungsrichtlinie 2006/54/EG); Art. 1 Richtlinie 2010/41/ EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. Juli 2010 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen, die eine selbständige Erwerbstätigkeit ausüben, und zur Aufhebung der Richtlinie 86/613/EWG des Rates, ABl. 2010 L 180/1 (Selbstständigengleichbehandlungsrichtlinie 2010/41/EU). Siehe auch Art. 15 Zahlungskontenrichtlinie: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verbraucher mit rechtmäßigem Aufenthalt in der Union, wenn diese Verbraucher ein Zahlungskonto oder den Zugang zu einem solchen Konto innerhalb der Union beantragen, nicht von Kreditinstituten aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit oder ihres Wohnsitzes oder aus anderen in Artikel 21 der Charta genannten Gründen diskriminiert werden. Die Bedingungen für das Unterhalten eines Zahlungskontos mit grundlegenden Funktionen dürfen keinesfalls diskriminierend sein“. 201

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umsetzung durchaus diese Rechtsfolge wählen.204 Vor allem setzen auch andere an der Verweigerung von Vertragsschlüssen anknüpfenden Sanktionen einen starken Anreiz zu kontrahieren.205 Auf Ebene des Sekundärrechts statuiert etwa Art. 20 Abs. 2 Dienstleistungsrichtlinie206 ein binnenmarktbezogenes Diskriminierungsverbot, insbesondere für den Bereich des Wirtschaftsvertragsrechts.207 Schließlich mag auch das primärrechtliche Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit in vertraglichen Beziehungen zwischen Privaten Beachtung verlangen und die Abschluss- sowie die Vertragspartnerwahlfreiheit verkürzen.208

Vgl. bereits EuGH Urt. v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 (Colson u. a.), Slg. 1984, 1891 Rn. 18; EuGH Urt. v. 10.4.1984 – Rs. 79/83 (Harz), Slg. 1984, 1921 Rn. 18: „[Z]u solchen Maßnahmen könnten zum Beispiel Vorschriften gehören, die den Arbeitgeber zur Einstellung des diskriminierten Bewerbers verpflichten“. Für den Kontrahierungszwang als Sanktionsinstrument plädieren etwa G. Wagner / Potsch, JZ 2006, 1085, 1098 f. Thüsing / v. Hoff, NJW 2007, 21, 22 ff. Ablehnend hingegen etwa Armbrüster, NJW 2007, 1494 ff. 205 Vgl. zur Wirkung von Diskriminierungsverboten und damit korrespondierenden Gleichbehandlungspflichten allgemein EuGH Urt. v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 55: „Diese Pflicht zwänge […] zum Vertragsabschluss mit allen Minderheitsaktionären zu denselben Bedingungen wie denen, die beim Erwerb einer die Kontrolle verschaffenden oder verstärkenden Beteiligung vereinbart wurden, und führte zu einem entsprechenden Recht aller Aktionäre, ihre Aktien an den Hauptaktionär zu verkaufen“ (Herv. d. Verf.). Bezeichnenderweise nehmen z. B. sowohl die englische als auch die französische Sprachfassung des Urteils explizit auf einen Kontrahierungszwang Bezug („obligation […] to contract“; „obligation […] de contracter“). 206 Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt, ABl. 2006 L 376/36. 207 Art. 20 Abs. 2 Dienstleistungsrichtlinie verbietet grundsätzlich an der Staatsangehörigkeit oder an dem Wohnsitz eines Dienstleistungsempfängers ansetzende diskriminierende Bestimmungen in „allgemeinen Bedingungen für den Zugang zu einer Dienstleistung“. Siehe dazu statt aller v. d. Groeben / Schwarze / Hatje / Tiedje (2015), Art. 57 AEUV Rn. 85 ff. 208 EuGH Urt. v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 (Angonese), Slg. 2000, I-4139 Rn 35 f. scheint arbeitsvertragliche Beziehungen an Art. 18 AEUV messen zu wollen. EuGH Urt. v. 17.7.2008 – Rs. C-94/07 (Raccanelli), Slg. 2008, I-5939 Rn. 45 deutet darüber hinaus an, dass Art. 18 AEUV für „alle Verträge zwischen Privatpersonen“ Geltung beanspruchen könnte. In der Tat hat bereits EuGH Urt. v. 13.12.1984 – Rs. 251/83 (Haug-Adrion), Slg. 1984, 4277 Rn. 18 und 6, die einem Versicherungsvertrag zugrunde liegenden Allgemeinen Versicherungsbedingungen an Art. 18 AEUV gemessen, wobei solche Versicherungsbedingungen zum damaligen Zeitpunkt noch der aufsichtsbehördlichen Vorabgenehmigung bedurften. Im Einzelnen ist freilich umstritten, inwieweit Art. 18 AEUV und die spezielleren grundfreiheitlichen Diskriminierungsverbote auf die Rechtsbeziehungen Privater einwirken, siehe zu den unterschiedlichen Ansätzen nur Frenz, Handbuch Europarecht I: Europäische Grundfreiheiten (2004), Rn. 342 ff.; Streinz / ders. (2012), Art. 18 AEUV Rn. 43; Grabitz / Hilf / Nettesheim / v. Bogdandy (2014), Art. 18 AEUV Rn. 28; Dauses /  W.-H. Roth, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts (2014), E. I. Rn. 30, dort jeweils m. w. N. 204

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In einzelnen Teilbereichen existieren zudem Kontrahierungszwänge: Eine Beschränkung speziell der Nachfragefreiheit bewirken etwa die unionsrechtlich fundierten Versicherungspflichten für Kraftfahrzeuge, 209 Luftverkehrsunternehmen,210 Rechtsanwälte211 und Versicherungsvermittler.212 Bei Energieversorgungsverträgen erlegen sowohl Art. 3 Abs. 3 Elektrizitäts-213 als auch Art. 3 Abs. 3 Erdgasbinnenmarktrichtlinie214 sogenannten Grundversorgern eine Verpflichtung zum Vertragsschluss auf, soweit Verträge mit „Haushaltskunden“ und anderen „schutzbedürftigen“ Endkunden in Rede stehen.215 Im Bereich der Telekommunikationsdienste enthält die Universaldienstrichtlinie216 einen Kontrahierungszwang: Namentlich haben Endnutzer nach Art. 20 Vgl. Art. 3 Richtlinie 2009/103/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und die Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht, ABl. 2009 L 263/11. 210 Vgl. Art. 11 Luftverkehrsdiensteverordnung; Art. 4 ff. Verordnung (EG) Nr. 785/ 2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 über Versicherungsanforderungen an Luftfahrtunternehmen und Luftfahrzeugbetreiber, ABl. 2004 L 138/1. 211 Vgl. Art. 6 Abs. 3 Richtlinie 98/5/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 1998 zur Erleichterung der ständigen Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Qualifikation erworben wurde, ABl. 1998 L 77/36. 212 Art. 4 Abs. 3 Richtlinie 2002/92/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Dezember 2002 über Versicherungsvermittlung, ABl. 2003 L 9/3. Siehe zum Ganzen Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85, 98. 213 Diese Bestimmung der Richtlinie 2009/72/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/54/EG, ABl. 2009 L 211/55 lautet auszugsweise: „Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass alle Haushaltskunden und, soweit die Mitgliedstaaten dies für angezeigt halten, Kleinunternehmen […] in ihrem Hoheitsgebiet über eine Grundversorgung verfügen, also das Recht auf Versorgung mit Elektrizität […] haben. […] Die Mitgliedstaaten erlegen Verteilerunternehmen die Verpflichtung auf, Kunden […] an ihr Netz anzuschließen“. 214 Diese Regelung der Richtlinie 2009/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/55/EG, ABl. 2009 L 211/94 lautet auszugsweise: „Die Mitgliedstaaten ergreifen geeignete Maßnahmen zum Schutz der Endkunden und tragen insbesondere dafür Sorge, dass für schutzbedürftige Kunden ein angemessener Schutz besteht“. Anhang I präzisiert dies für „Haushaltskunden“ sodann dahingehend, dass „Kunden […] Anspruch auf einen Vertrag mit ihren Anbietern von Gasdienstleistungen haben“. 215 Siehe zum Instrument des Kontrahierungszwangs nach diesen Rechtsakten und den Bezügen zu anderen Rechtsakten des Verbrauchervertragsrechts nur EuGH Urt. v. 23.10.2014 – verb. Rs. C-359/11 u. a. (Schulz u. a.), EU:C:2014:2317 Rn. 38 ff. Siehe auch Anhang I Erdgasbinnenmarktrichtlinie sowie ferner GA Wahl Schlussanträge v. 8.5.2014 – verb. Rs. C-359/11 u. a. (Schulz u. a.), EU:C:2014:319 Rn. 34. 216 Richtlinie 2002/22/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über den Universaldienst und Nutzerrechte bei elektronischen Kommunikationsnetzen und -diensten (Universaldienstrichtlinie), ABl. 2002 L 108/51. 209

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Abs. 1 der Richtlinie „Anspruch auf einen Vertrag“ mit Unternehmen, die eine „Verbindung mit einem öffentlichen Kommunikationsnetz und/oder öffentlich zugänglichen elektronischen Kommunikationsdiensten bereitstellen“. Auch über sektorspezifische Kontrahierungszwänge hinaus sieht das Unionsprivatrecht teilweise die Möglichkeit vor, einem Vertragsteil gegen dessen Willen einen neuen Vertragspartner aufzudrängen. So gestattet etwa Art. 9 Pauschalreiserichtlinie dem Verbraucher, der einen Pauschalreisevertrag geschlossen hat, diesen Vertrag unter bestimmten Voraussetzungen auch ohne Zustimmung des Reiseveranstalters auf einen Dritten zu übertragen.217 Damit schränkt sie die Vertragspartnerwahlfreiheit des Veranstalters empfindlich ein.218 Ein ähnlicher Vertragsübernahmemechanismus ist dem unionalen Finanzdienstleistungsvertragsrecht bekannt: Auch bei der Übertragung eines Bestandes an Versicherungsverträgen von einem Versicherer auf einen anderen verzichtet das Unionsrecht auf die eigentlich in allen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen – und z. B. im deutschen Zivilrecht nach § 415 BGB – erforderliche Zustimmung der betroffenen Versicherungsnehmer.219 Obschon eine Aufsichtsbehörde den Übergang der Verträge erst zur Wahrung der Belange der Versicherten prüfen und genehmigen muss,220 sehen sich die Versicherungsnehmer hier kraft unionsrechtlicher Vorgaben ohne ihr Zutun einem neuen Vertragspartner gegenüber, den sie sich nicht haben aussuchen können. Darüber hinaus stellt das unionale Finanzdienstleistungsvertragsrecht etwa im Kontext von Bankverträgen einen Kontrahierungszwang auf: Gemäß Art. 16 Abs. 2 Zahlungskontenrichtlinie221 müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, 217 Nach Art. 9 Abs. 1 Pauschalreiserichtlinie kann „ein Reisender den Pauschalreisevertrag auf eine Person, die alle Vertragsbedingungen erfüllt, übertragen […], nachdem er den Reiseveranstalter auf einem dauerhaften Datenträger innerhalb einer angemessenen Frist vor Beginn der Pauschalreise davon in Kenntnis gesetzt hat“. Aus Perspektive des deutschen Rechts handelt es sich um eine gesetzlich erzwungene Vertragsübernahme: Anders als in § 415 Abs. 1 S. 1 BGB vorgesehen, hängt die Wirksamkeit der Vertragsübernahme nicht von der Genehmigung des Reiseveranstalters ab, sondern der Reisende hat Anspruch darauf, „dass statt seiner ein Dritter in die Rechte und Pflichten aus dem Reisevertrag eintritt“, siehe nur Staudinger / A. Staudinger (2016), § 651b BGB Rn. 4. 218 Gemäß Art. 9 Abs. 2 Pauschalreiserichtlinie haftet der ursprüngliche Reisende indes weiterhin als Gesamtschuldner neben dem Dritten, so dass finanzielle Einbußen des Veranstalters nicht zu besorgen sind. Der Veranstalter kann die Übernahme des Vertrags durch den Dritten aber nur verhindern, wenn Letzterer nicht alle Vertragsbedingungen im Sinne des Art. 9 Abs. 1 Pauschalreiserichtlinie erfüllt. Angesprochen sind damit etwa behördliche Ausreiseverbote, vgl. nur Staudinger / A. Staudinger (2016), § 651b BGB Rn. 4; MünchKommBGB / Tonner (2016), § 651b BGB Rn. 2. 219 Vgl. Art. 39 Abs. 6 und Art. 164 Abs. 6 Solvency II. 220 Vgl. Art. 39 Abs. 1 bis 5 und Art. 164 Abs. 1 bis 5 Solvency II. 221 Richtlinie 2014/92/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Juli 2014 über die Vergleichbarkeit von Zahlungskontoentgelten, den Wechsel von Zahlungskonten und den Zugang zu Zahlungskonten mit grundlegenden Funktionen, ABl. 2014 L 257/214.

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„dass Verbraucher […] das Recht haben, ein Zahlungskonto mit grundlegenden Funktionen bei in ihrem Hoheitsgebiet ansässigen Kreditinstituten zu eröffnen und zu nutzen“.222

Besonders zahlreich sind unionsrechtlich fundierte Kontrahierungszwänge im Wirtschaftsvertragsrecht. So nimmt es kaum Wunder, dass der EuGH in diesem Bereich bereits erste Leitlinien aufstellen konnte, wie ein unter Kontrahierungszwang geschlossener Vertrag zustande kommt und wieviel Gestaltungsfreiheit den Parteien verbleiben muss.223 Zunächst kann im unionalen Kartellrecht nach ständiger Rechtsprechung des EuGH224 aus Art. 102 AEUV unter bestimmten Voraussetzungen „ein Kontrahierungszwang für das marktbeherrschende Unternehmen folgen“.225 Dies betrifft unterschiedliche Fallgruppen, in denen das marktbeherrschende Unternehmen seinen Wettbewerbern durch die Verweigerung von Vertragsschlüssen z. B. den Zugang zu „unentbehrlichen Gütern, Dienstleistungen oder Daten“ verschließt.226 Einem Kontrahierungszwang können etwa Inhaber von Patenten unterliegen, wenn ihre Schutzrechte integraler Bestandteil eines technischen Standards sind.227 Die Vorschrift lautet im Übrigen auszugsweise: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass in ihrem Hoheitsgebiet Verbrauchern Zahlungskonten mit grundlegenden Funktionen von allen oder einer ausreichend großen Zahl von Kreditinstituten angeboten werden, damit alle Verbraucher garantierten Zugang zu einem solchen Konto haben und Wettbewerbsverzerrungen vermieden werden“ (Herv. d. Verf.). 223 Vgl. etwa EuGH Urt. v. 16.7.2015 – Rs. C-170/13 (Huawei Technologies), EU:C: 2015:477 Rn. 63 ff. Siehe zu dieser Frage aus Perspektive des deutschen Rechts nur Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang (1999), S. 245 ff.; Möslein, Dispositives Recht (2011), S. 180 ff. 224 Vgl. z. B. EuGH Urt. v. 5.10.1988 – Rs. 238/87 (Volvo), Slg. 1988, 6211 Rn. 9; EuGH Urt. v. 26.11.1998 – Rs. C-7/97 (Bronner), Slg. 1998, I-7791, Rn. 38 ff., EuGH Urt. v. 29.4.2004 – Rs. C-418/01 (IMS Health), Slg. 2004, I-5039 Rn. 37. Vgl. zur Lieferverweigerung EuGH Urt. v. 16.9.2008 – Rs. C-478/06 (GSK), Slg. 2008, I-7174 Rn. 34: „Aus der gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofs geht hervor, dass die Weigerung eines Unternehmens, das auf dem Markt für ein bestimmtes Erzeugnis über eine beherrschende Stellung verfügt, die Bestellungen eines früheren Kunden auszuführen, eine missbräuchliche Ausnutzung dieser beherrschenden Stellung im Sinne von Art. 82 EG darstellt, wenn dieses Verhalten – ohne eine sachliche Rechtfertigung – geeignet ist, den Wettbewerb von Seiten eines Geschäftspartners auszuschalten“. 225 Zusammenfassend GA Kokott Schlussanträge v. 13.3.2008 – Rs. C-454/06 (pressetext), Slg. 2008, I-4401 Rn. 133. Siehe ferner nur Mestmäcker / Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht (2014), § 19 Rn. 46 ff.; Dauses / Emmerich, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts (2015), H. I. § 3. Art. 102 AEUV Rn. 102 ff. 226 Vgl. wiederum GA Kokott Schlussanträge v. 13.3.2008 – Rs. C-454/06 (pressetext), Slg. 2008, I-4401 Rn. 133. Siehe zu den einzelnen Facetten und Fallgruppen statt vieler Immenga / Mestmäcker / Fuchs / Möschl (2012), Art. 102 AEUV Rn. 305 ff.; Langen / Bunte /  Bulst (2014), Art. 102 AEUV Rn. 263 ff. und 303 ff.; Dauses / Emmerich, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts (2015), H. I. § 3. Art. 102 AEUV Rn. 102 ff. und 111 ff. 227 Der Inhaber solcher standardessenzieller Patente kann eine marktbeherrschende Stellung im Sinne des Art. 102 AEUV innehaben, wenn die in dem jeweiligen Markt täti222

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Unter bestimmten Voraussetzungen verpflichtet das unionale Kartellrecht die Inhaber solcher standardessenziellen Patente zum Abschluss eines Lizenzvertrages mit den Wettbewerbern.228 Der Vertragsschluss unter Kontrahierungszwang folgt dabei nach der Lesart des EuGH grundsätzlich dem auf Angebot und Annahme fußenden Modell: Auf Anfrage des interessierten Wettbewerbers hat der Patentinhaber ersterem ein annahmefähiges und mithin alle essentialia negotii umfassendes Angebot auf Abschluss eines Lizenzvertrags zu unterbreiten.229 Der Vertrag kommt sodann durch Einigung der Parteien zustande, wenn der Wettbewerber das Angebot annimmt.230 Während der EuGH durch den Kontrahierungszwang nach Art. 102 AEUV zwar die Abschlussund Vertragsinhaltsfreiheit verkürzt sieht, so ist der Gerichtshof hingegen bemüht, den Parteien möglichst umfassende Vertragsinhaltsfreiheit zu belassen und insbesondere „Verhandlungen über die Erteilung von Lizenzen“ zu ermöglichen.231 Im Wirtschaftsvertragsrecht ist ein weiterer Vertragsschlusszwang in Art. 15 Mediendienstleistungsrichtlinie232 angelegt. Diese Regelung gen Wettbewerber den Standard zwingend einhalten müssen, weil sie nicht „von dem betreffenden Patent [abweichen können], ohne die grundlegenden Funktionen des fraglichen Produkts zu gefährden“.Vgl. EuGH Urt. v. 16.7.2015 – Rs. C-170/13 (Huawei Technologies), EU:C:2015:477 Rn. 49 f. Eingehend Hauck, NJW 2015, 2767, 2769. 228 Der Kontrahierungszwang kraft Art. 102 AEUV besteht auch dann, wenn sich der Patentinhaber bereits gegenüber der Standardisierungsorganisation selbst verpflichtet hat, mit Wettbewerbern Lizenzverträge zu fairen, vernünftigen und nichtdiskriminierenden Bedingungen zu schließen („FRAND“-Verpflichtung: fair, reasonable and non-discriminatory): Allerdings ist hier „der Patentinhaber nach Art. 102 AEUV nur verpflichtet, eine Lizenz zu FRAND-Bedingungen zu erteilen“ (Herv. d. Verf.), EuGH Urt. v. 16.7.2015 – Rs. C-170/13 (Huawei Technologies), EU:C:2015:477 Rn. 54. 229 Laut EuGH Urt. v. 16.7.2015 – Rs. C-170/13 (Huawei Technologies), EU:C:2015: 477 Rn. 63 obliegt es in einer Konstellation, in welcher der Patentinhaber eine FRANDVerpflichtung übernommen hat, diesem „Patentinhaber […] ein konkretes schriftliches Lizenzangebot zu FRAND-Bedingungen zu unterbreiten und insbesondere die Lizenzgebühr sowie die Art und Weise ihrer Berechnung anzugeben“. 230 Vgl. EuGH Urt. v. 16.7.2015 – Rs. C-170/13 (Huawei Technologies), EU:C:2015: 477 Rn. 66 ff. Sollte das Angebot dem interessierten Wettbewerber nicht zusagen, so kann er dem Patentinhaber „ein konkretes Gegenangebot mach[en]“. Dieses Gegenangebot bedarf wiederum der Annahme durch den Patentinhaber. Der EuGH stellt abschließend noch Folgendes heraus: „Im Übrigen haben die Parteien, wenn nach dem Gegenangebot des angeblichen Verletzers keine Einigung über die Einzelheiten der FRANDBedingungen erzielt wurde, die Möglichkeit, im gegenseitigen Einvernehmen zu beantragen, dass die Lizenzgebühren durch einen unabhängigen Dritten […] festgelegt werden“. 231 Vgl. EuGH Urt. v. 16.7.2015 – Rs. C-170/13 (Huawei Technologies), EU:C:2015: 477 Rn. 67 f. und 65, wobei der Gerichtshof die Vertragsverhandlungen bestimmten Regeln unterwirft: Namentlich muss der interessierte Wettbewerber auf das Vertragsangebot des Patentinhabers „mit Sorgfalt, gemäß den in dem Bereich anerkannten geschäftlichen Gepflogenheiten und nach Treu und Glauben, […] reagieren, was auf der Grundlage objektiver Gesichtspunkte zu bestimmen ist und u. a. impliziert, dass keine Verzögerungstaktik verfolgt wird“.

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„hat zur Folge […] dass der Inhaber exklusiver Fernsehübertragungsrechte nicht frei wählen kann, mit welchen Fernsehveranstaltern er eine Vereinbarung über die Einräumung eines Kurzberichterstattungsrechts schließt“.233

Schließlich erlegt auch Art. 15 Abs. 2 Übernahmerichtlinie234 Aktionären einen Kontrahierungszwang gegenüber Bietern im Übernahmeverfahren auf, die bereits 90 Prozent der Gesellschaftsanteile einer Zielgesellschaft halten. Hierdurch wird die Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit der verpflichteten Parteien empfindlich verkürzt. 2. Inhaltsfreiheit Das unionale Verbraucher-, Finanzdienstleistungs- und Wirtschaftsvertragsrecht schränkt die Inhaltsfreiheit im Wesentlichen auf zwei Wegen ein: Auf der einen Seite stehen unionale Verbots- und Unwirksamkeitstatbestände, die sich gegen konkrete Vertragsgestaltungen wenden.235 Auf der anderen Seite sind zwingende Unionsrechtsakte zu nennen, die bestimmte Vertragsinhalte verbindlich vorgeben und damit der Disposition der Vertragsparteien entziehen. Da aus der zwingenden Vorgabe einer bestimmten inhaltlichen Ausgestaltung zugleich die Unwirksamkeit abweichender Parteivereinbarungen folgt, werden die beiden Fallgruppen im Folgenden zusammen untersucht. Zunächst wendet sich das Unionsrecht bereichsspezifisch gezielt gegen bestimmte Vertragsinhalte und Vertragsgestaltungen. Als Quelle solcher Verbotstatbestände kommen dabei sowohl das unionale Primärecht als auch das Sekundärrecht in Betracht. Offenkundig gegen die Wirksamkeit privatrechtlicher Verträge gerichtete Verbote primärrechtlicher Provenienz finden sich z. B. in Art. 101 Abs. 2 AEUV, solche auf Ebene des Sekundärrecht dagegen etwa in unionsrechtlichen Embargobestimmungen und dem Gesundheitsschutz dienenden VerordRichtlinie 2010/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. März 2010 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung audiovisueller Mediendienste, ABl. L 95/1. Art. 15 lautet auszugsweise: „Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass jeder Fernsehveranstalter, der in der Union niedergelassen ist, zum Zwecke der Kurzberichterstattung […] Zugang zu Ereignissen hat, die von großem öffentlichen Interesse sind und die von einem der Rechtshoheit der Mitgliedstaaten unterworfenen Fernsehveranstalter exklusiv übertragen werden“. 233 EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C:2013:28 Rn. 44. 234 Richtlinie 2004/25/EG des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend Übernahmeangebote, ABl. 2004 L 142/12. 235 Wenngleich im Kontext von zur Vertragsnichtigkeit führenden Verbotsnormen teilweise von „Abschlussverboten“ gesprochen wird, darf dies nicht zu der Annahme verleiten, dass diese Vorschriften die Vertragsabschlussfreiheit stets vollends beseitigen. Vielmehr betreffen solche Normen in aller Regel – und so auch die nachstehend exemplarisch aufgeführten unionsrechtlichen Fallgruppen – gerade die Vertragsinhaltsfreiheit, ohne jedoch die Abschlussfreiheit per se aufzuheben, vgl. zum deutschen Privatrecht statt aller Staudinger / Bork (2015), Vor § 145 BGB Rn. 13. 232

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nungen.236 Zu den primärrechtlichen Normen, die den Inhalt privatrechtlicher Verträge unmittelbar beeinflussen können, zählt nicht zuletzt Art. 157 AEUV.237 Überdies können nach gefestigter Rechtsprechung des EuGH auch private Akteure unter bestimmten Voraussetzungen an die Verkehrsfreiheiten des Binnenmarktes sowie an das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit gebunden sein.238 Wo die Grundfreiheiten horizontale Wirkung entfalten, muss vertraglichen Abreden die rechtliche Durchsetzbarkeit verwehrt werden, soweit sie mit den Verkehrsfreiheiten unvereinbar sind.239 Diese primärrechtlich vorgezeichnete Unwirksamkeit der betreffenden Vertragsbestimmungen bedeutet eine Verkürzung der Vertragsinhaltsfreiheit.240 Ähnlich verhält es sich z. B. mit dem Verbot der Entgeltdiskrimi236 Siehe beispielsweise zur Verordnung (EWG) Nr. 2340/90 des Rates vom 8. August 1990 zur Verhinderung des Irak und Kuwait betreffenden Handelsverkehrs der Gemeinschaft, ABl. 1990 L 213/1 etwa BGH Urt. v. 27.1.1994 – III ZR 42/92, BGHZ 125, 27, 30; MünchKommBGB / Armbrüster (2015), § 134 BGB Rn. 37; Herresthal, in: Langenbucher (Hrsg.), Europäisches Privat- und Wettbewerbsrecht (2014), § 2 Rn. 108. Siehe zu weiteren Verbotsnormen nur Staudinger / Sack / Seibl (2011), § 134 BGB Rn. 44 und 313. 237 Siehe neben EuGH Urt. v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 (Defrenne II), Slg. 1976, 455 Rn. 4 ff. nur EuGH Urt. v. 31.3.1981 – Rs. 96/80 (Jenkins), Slg. 1981, 911 Rn. 18 ff.; EuGH Urt. v. 28.9.1994 – Rs. C-200/91 (Coloroll), Slg. 1994, I-4389 Rn. 18 ff. 238 Bereits EuGH Urt. v. 12.12.1974 – Rs. 36/74 (Walrave), Slg. 1974, 1405 Rn. 16 ff. sah die Verkehrsfreiheiten dadurch bedroht, „dass privatrechtliche Vereinigungen oder Einrichtungen kraft ihrer rechtlichen Autonomie“ Hindernisse für die Ausübung der Grundfreiheiten errichten, etwa mithilfe von „Verträge[n] und sonstige[n] Rechtsgeschäfte[n], die von Privatpersonen geschlossen“ werden. Siehe zur Bindung von Arbeitgebern an das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit nur EuGH Urt. v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 (Angonese), Slg. 2000, I-4139 Rn. 31 ff.; EuGH Urt. v. 17.7.2008 – Rs. C-94/07 (Raccanelli), Slg. 2008 I-5939 Rn. 45; EuGH Urt. v. 28.6.2012 – Rs. C172/11 (Daimler), EU:C:2012:399 Rn. 48. 239 So hat der EuGH Urt. v. 23.10.2011 – verb. Rs. C-403/08 u. a. (Murphy u. a.), Slg. 2011 I-9083 Rn. 88 zu Gebietsbeschränkungsklauseln in Nutzungsvereinbarungen für Satellitenfernsehdecoder entschieden, dass das Privatrecht der Mitgliedstaaten solche Klauseln nicht aufrechterhalten darf, wenn dadurch im Ergebnis die Dienstleistungsfreiheit verkürzt wird: „Zwar liegt die Hauptursache für die Behinderung des Empfangs solcher Dienste in den zwischen den Sendeunternehmen und ihren Kunden geschlossenen Verträgen, in denen sich die Gebietsbeschränkungsklauseln widerspiegeln, die in den zwischen den Sendeunternehmen und den Inhabern der Rechte des geistigen Eigentums geschlossenen Verträgen enthalten sind. Da aber die fragliche Regelung diese Beschränkungen unter rechtlichen Schutz stellt und ihre Einhaltung unter Androhung zivilrechtlicher und finanzieller Sanktionen vorschreibt, beschränkt sie selbst den freien Dienstleistungsverkehr“ (Herv. d. Verf.). Siehe zuvor schon W.-H. Roth, FS Medicus (2009), S. 393, 421. 240 Allerdings ist umstritten, ob die Grundfreiheiten im deutschen Privatrecht unmittelbar anwendbare Verbotsgesetze im Sinne des § 134 BGB sind – dafür etwa W.-H. Roth, FS Medicus (2009), S. 393, 421 – oder, ob die Unwirksamkeit im Wege einer mittelbaren Drittwirkung aus § 138 BGB folgt – dafür z. B. MünchKommBGB / Armbrüster (2015), § 134 BGB Rn. 38 m. w. N.

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nierung: Im Anwendungsbereich des Art. 14 Arbeitnehmergleichbehandlungsrichtlinie 2006/54/EG sind arbeitsvertragliche Vereinbarungen, die geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Bezahlung vorsehen, potenziell sowohl sekundär- als auch primärrechtswidrig, da sie zugleich gegen den nach Auffassung des EuGH in Vertragsverhältnisse hineinwirkenden Art. 157 AEUV verstoßen.241 Wendet man sich den einzelnen Sachmaterien des Unionsprivatrechts zu, so gibt im Verbrauchervertragsrecht zunächst Art. 7 Abs. 1 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie die grundsätzlich zwingende Natur der Richtlinienbestimmungen vor und verwehrt entsprechend allen Vertragsklauseln die Wirksamkeit, „durch welche die mit dieser Richtlinie gewährten Rechte unmittelbar oder mittelbar außer Kraft gesetzt oder eingeschränkt werden“.242 In die gleiche Richtung weist z. B. Art. 12 Produkthaftungsrichtlinie,243 der eine vertragliche Haftungsfreizeichnung des Herstellers in Bezug auf die durch die Richtlinie garantierten Ansprüche des Geschädigten verhindert.244 Auch bei den Normen der Verbraucherrechterichtlinie handelt es sich ausweislich ihres Art. 25 um (halb)zwingendes Recht zugunsten des Verbrauchers.245 So begrenzt etwa Art. 19 dieser Richtlinie die Höhe der Entgelte für die Nutzung von Zahlungsdiensten und beschränkt damit die Vertragsinhaltsfreiheit.246 Zudem 241 Vgl. zunächst EuGH Urt. v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 (Defrenne II), Slg. 1976, 455 Rn. 4 ff. (Staatsbetrieb als Arbeitgeber) und sodann zur Erstreckung des Verbots der Entgeltdiskriminierung auf private Arbeitgeber nur EuGH Urt. v. 6.10.1993 – Rs. C-109/91 (Ten Över), Slg. 1993, I-4879 Rn. 11 ff.; EuGH Urt. v. 28.9.1994 – Rs. C-200/91 (Coloroll), Slg. 1994, I-4389 Rn. 18 ff. 242 Siehe zur Einschränkung der Inhaltsfreiheit durch die Umsetzungsvorschrift des § 475 BGB nur MünchKommBGB / S. Lorenz (2016), § 475 BGB Rn. 1. 243 Richtlinie 85/374/EWG des Rates vom 25. Juli 1985 zur Angleichung der Rechtsund Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte, ABl. 1985 L 210/29. 244 Die Vorschrift lautet: „Die Haftung des Herstellers aufgrund dieser Richtlinie kann gegenüber dem Geschädigten nicht durch eine die Haftung begrenzende oder von der Haftung befreiende Klausel begrenzt oder ausgeschlossen werden“. Gleichviel ob die Norm dem Verbraucherschutzrecht zuzuschlagen ist – dagegegen etwa MünchKommBGB /  Wagner (2013), § 14 ProdHaftG Rn. 1 –, enthält sie jedenfalls eine zwingende Regelung, die bestimmten individualvertraglichen Vereinbarungen entgegensteht. Entsprechend sieht die deutsche Umsetzungsvorschrift in § 14 S. 2 ProdHaftG vor, dass anderslautende Abreden „nichtig“ sind. 245 Nach Art. 6 Abs. 5 Verbraucherrechterichtlinie sind bei Fernabsatz- und außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen überdies grundsätzlich alle zwingend zu erteilenden „Informationen nach Absatz 1 […] fester Bestandteil des Fernabsatzvertrags oder des außerhalb von Geschäftsräumen abgeschlossenen Vertrags und dürfen nicht geändert werden“. 246 Die Vorschrift lautet: „Die Mitgliedstaaten verbieten Unternehmern, von Verbrauchern für die Nutzung von Zahlungsmitteln Entgelte zu verlangen, die über die Kosten hinausgehen, die dem Unternehmer für die Nutzung solcher Zahlungsmittel entstehen“.

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versagt die Fluggastrechteverordnung247 nach der Lesart des EuGH vertraglichen Abreden der Parteien über die Ankunftszeit des Flugzeugs die Wirksamkeit.248 Gleiches gilt nach Art. 15 Abs. 2 Fluggastrechteverordnung für Verträge, in denen der Fluggast einer Ausgleichsleistung zustimmt, die das in der Verordnung vorgesehene Niveau unterschreitet.249 Im Finanzdienstleistungsvertragsrecht untersagt Art. 12 Abs. 1 Wohnimmobilienkreditvertragsrichtlinie grundsätzlich „den Abschluss eines Kreditvertrags in einem Paket gemeinsam mit anderen gesonderten Finanzprodukten oder -dienstleistungen“, sofern der Kreditvertrag nur in Form dieses Kopplungsgeschäfts und nicht auch separat abgeschlossen werden kann.250 Im Bankvertragsrecht fallen zunächst die Inhaltsfreiheit beschränkende Vorschriften betreffend die Preisfestsetzung ins Auge: Neben der bereits erwähnten Beschränkung der Entgelte bei der Nutzung von Zahlungsdiensten durch Verbraucher gemäß Art. 19 Verbraucherrechterichtlinie verbietet Art. 32 Zahlungsdiensterichtlinie auch die Erhebung von Entgelten für bestimmte Informationen im Verhältnis von Zahlungsdienstleistern und (gewerblichen) Nutzern.251 Im Versicherungsvertragsrecht können laut EuGH Abreden in Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91, ABl. 2004 L 46/1. 248 Namentlich soll mit Blick auf den Begriff „tatsächliche Ankunftszeit“ laut EuGH Urt. v. 4.9.2014 – Rs. C-452/13 (Germanwings), EU:C:2014:2141 Rn. 17 f. und 11 „die vertragliche Festlegung […] durch die Beteiligten von vornherein ausscheiden“. 249 Wird nach Art. 15 Abs. 2 in einem von dieser Verordnung erfassten Fall „der Fluggast nicht ordnungsgemäß über seine Rechte unterrichtet und hat er aus diesem Grund einer Ausgleichsleistung zugestimmt, die unter der in dieser Verordnung vorgesehenen Leistung liegt, so ist der Fluggast weiterhin berechtigt, […] eine zusätzliche Ausgleichsleistung zu erhalten“. 250 Vgl. Art. 4 Nr. 26 Wohnimmobilienkreditvertragsrichtlinie. Eine Ausnahme von diesem Kopplungsverbot enthält Art. 12 Abs. 4 Wohnimmobilienkreditvertragsrichtlinie: Soweit dies die Mitgliedstaaten vorsehen, können Kreditgeber vom Verbraucher den Abschluss einer mit dem Wohnimmobilienkreditvertrag in Verbindung stehenden Versicherung verlangen. Allerdings muss der Kreditgeber in diesem Fall auch die Versicherung dieser Risiken durch einen anderen als den von ihm im Rahmen des Kopplungsgeschäfts eigentlich bevorzugten Versicherer akzeptieren, wenn und soweit die Deckungsleistungen gleichwertig sind. Hier scheint das Ziel des Unionsgesetzgebers auf, zwar einerseits den legitimen Interessen des Kreditgebers Rechnung zu tragen, andererseits aber dem Verbraucher gerade die Vertragspartnerwahlfreiheit hinsichtlich des Versicherers zu überlassen. Dies gilt umso mehr, als diese Wahlfreiheit als Facette der unionalen Vertragsfreiheit im europäischen Binnenmarkt für Versicherungen auch über die Grenzen der Mitgliedstaaten hinaus gewährleistet und grundfreiheitlich untermauert ist. 251 Art. 32 Abs. 1 Zahlungsdiensterichtlinie lautet: „Der Zahlungsdienstleister darf dem Zahlungsdienstnutzer die Bereitstellung von Informationen nach diesem Titel nicht in Rechnung stellen“. Siehe zum Ganzen nur Piekenbrock, GPR 2014, 26 ff. 247

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Rechtsschutzversicherungsverträgen unter bestimmten Voraussetzungen wegen Verstoßes gegen das Recht auf freie Anwaltswahl nach Art. 201 Solvency II unwirksam sein.252 Im heterogenen Feld des Wirtschaftsvertragsrechts normiert Art. 101 Abs. 2 AEUV zunächst eine unmittelbar im Primärrecht wurzelnde Nichtigkeitssanktion für wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen.253 Anders als das unionale Kartellrecht geht das europäische Beihilferecht nicht ausdrücklich auf etwaige Unwirksamkeitsfolgen im Vertragsrecht ein. Allerdings enthält Art. 108 Abs. 3 S. 3 AEUV nach Auffassung des EuGH ein Verbot „der Durchführung der Beihilfen, das unmittelbare Wirkung hat“254 und dessen Verletzung gerade „die Gültigkeit“255 der zur Beihilfegewährung getroffenen vertraglichen Abreden betreffen kann.256 Entsprechend wendet sich der EuGH 252 Noch mit Blick auf Art. 4 Abs. 1 lit. a Rechtschutzversicherungsrichtlinie führt EuGH Urt. v. 7.11.2013 – Rs. C-442/12 (Sneller), EU:C:2013:717 Rn. 29 aus, dass diese Norm untersagt, „dass ein Rechtsschutzversicherer, der in seinen Versicherungsverträgen festlegt, dass rechtlicher Beistand grundsätzlich von seinen Mitarbeitern gewährt wird, sich darüber hinaus ausbedingt, dass die Kosten für rechtlichen Beistand durch einen vom Versicherungsnehmer frei gewählten Rechtsanwalt oder Rechtsvertreter nur dann übernahmefähig sind, wenn der Versicherer der Ansicht ist, dass die Bearbeitung der Angelegenheit einem externen Rechtsvertreter übertragen werden muss“. 253 Mit Blick auf die Reichweite der Nichtigkeitssanktion stellt EuGH Urt. v. 11.9.2008 – Rs. C-279 (CEPSA), Slg. 2008, I-6681 Rn. 80 heraus, dass „nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs die Nichtigkeit kraft Gesetzes einer Vereinbarung im Sinne des Art. 81 Abs. 2 EG nur für die von dem Verbot nach Art. 81 Abs. 1 EG erfassten Teile oder aber, falls diese Teile nicht von der Vereinbarung an sich zu lösen sind, für die Vereinbarung insgesamt gilt“. 254 Siehe bereits zu Art. 93 Abs. 3 EGW z. B. EuGH Urt. v. 2.8.1993 – Rs. C-266/91 (Celulose Beira Industrial), Slg. 1993, I-4337 Rn. 23. 255 EuGH Urt. v. 21.11.2013 – Rs. C-284/12 (Flughafen Frankfurt Hahn), EU:C:2013: 755 Rn. 30. Siehe zuvor z. B. EuGH Urt. v. 21.10.2003 – verb. Rs. C-261/01 (van Calster), Slg. 2003, I-12249 Rn. 64; EuGH Urt. v. 21.7.2005 – Rs. C-71/04 (Xunta de Galicia), Slg. 2005, I-7419 Rn. 49; EuGH Urt. v. 7.9.2006 – Rs. C-526/04 (Laboratoires Boiron), Slg. 2006, I-7529 Rn. 29. 256 Vgl. EuGH Urt. v. 8.12.2011 – Rs. C-275/10 (Residex Capital IV), Slg. 2011, I13043 Rn. 44 ff. Vgl. jüngst zudem die Klage v. 30.12.2014 – Rs. T-700/13 (Bankia/ Kommission), ABl. 2014 C 52/45, die sich im beihilferechtlichen Kontext gegen einen Beschluss der Kommission richtet: „Mit ihrem fünften Nichtigkeitsgrund legt die Klägerin dar, aus welchen Gründen der angefochtene Beschluss zudem gegen […] Art. 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verstoße, soweit er sich zur Wirksamkeit von Vertragsklauseln in privaten Verträgen äußere, die nach spanischem Recht zwischen den Investoren und anderen privaten Marktteilnehmern abgeschlossen worden seien“ (Herv. d. Verf.). Eine Nichtigkeitssanktion befürwortete bereits zuvor BGH Urt. v. 5.7.2007 – Az. IX ZR 256/06, BGHZ 173, 129, 137 ff. Siehe auch BGH Urt. v. 4.4.2003 – V ZR 314/02, EuZW 2003, 444, 445; BGH Urt. v. 20.1.2004 – XI ZR 53/03, EuZW 2004, 252, 253; BGH Urt. v. 10.2.2011 – I ZR 136/09, EuZW 2011, 440, 444. Ebenso z. B. Verse /  Wurmnest, AcP 204 (2004), 855 ff.; Fronczak, EuR 2014, 576, 580; Staudinger / Sack / Seibl

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in der Rechtssache Klausner nun explizit dagegen, dass Verträge, die eine unter Verstoß gegen Art. 108 Abs. 3 S. 3 AEUV durchgeführte Beihilfe enthalten, nach nationalem Privat- und Zivilprozessrecht fortbestehen können.257 Neben diesen Regelungen des unionalen Primärrechts kann auch das sekundärrechtliche Wirtschaftsvertragsrecht den Bestand von Verträgen beeinflussen. So schreibt etwa das harmonisierte Vergaberecht in Art. 2d Nachprüfungsrichtlinie258 unter bestimmten Voraussetzungen die Unwirksamkeit vergaberechtswidriger Verträge vor.259 Das sekundäre Unionsrecht wendet sich darüber hinaus gegen Vertragsgestaltungen, die ungedeckte Leerverkäufe bestimmter Finanzinstrumente zum Gegenstand haben260 oder die Haftung von Ratingagenturen beschränken.261 Zwingendes Recht enthält auch Art. 19 Handelsvertreterrichtlinie,262 der den Parteien vor Beendigung des Vertrags untersagt, den Ausgleichsanspruch des Handelsvertreters durch vertragliche Vereinbarung zu beschneiden.263 Gemäß Art. 7 Abs. 2 Zahlungsverzugsrichtlinie264 können die Parteien im Wirtschaftsverkehr grundsätzlich keinen vertraglichen Ausschluss von Verzugszinsen vereinbaren.265 (2011), § 134 BGB Rn. 313; MünchKommBGB / Armbrüster (2015), § 134 BGB Rn. 37 jeweils m. w. N. auch zur Gegenauffassung. 257 EuGH Urt. v. 11.11.2015 – Rs. C-505/14 (Klausner), EU:C:2015:742 Rn. 44 ff. und Rn. 27 ff. fordert sogar die Durchbrechung der Rechtskraft eines Urteils, welches die Wirksamkeit der als Beihilfe eingestuften Verträge feststellt. 258 Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge, ABl. 1989 L 395/33. 259 Der deutsche Gesetzgeber ist dieser Vorgabe in § 101b GWB nachgekommen, zum Ganzen statt vieler Bittrich, Vergabeverfahren und Bürgerliches Recht (2013), S. 544 ff. Siehe zur Frage, inwieweit darüber hinaus auch Verstöße gegen das sogenannte Vergabeprimärrecht eine Nichtigkeitssanktion im Vertragsrecht nach sich ziehen, Dreher / Motzke /  Dörr (2013), Einl. Rn. 160 f. 260 Vgl. Art. 12 ff. Verordnung (EU) Nr. 236/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. März 2012 über Leerverkäufe und bestimmte Aspekte von Credit Default Swaps, ABl. 2012 L 86/1. Vgl. dazu auch EuGH Urt. v. 22.1.2014 – Rs. C-270/12 (Vereinigtes Königreich / Rat und Parlament), EU:C:2014:18. 261 Gemäß Art. 35a Abs. 3 Verordnung (EG) Nr. 1060/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über Ratingagenturen, ABl. 2009 L 302/1, darf die zivilrechtliche Haftung von Ratingagenturen nur unter bestimmten Voraussetzungen durch vorherige vertragliche Vereinbarung beschränkt werden. Genügt die privatautonome Haftungsbeschränkung diesen Anforderungen nicht, so hat sie gemäß Art. 35a Abs. 3 Unterabs. 2 der Verordnung „keine rechtliche Wirkung“. 262 Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter, ABl. 1986 L 382/17. 263 Siehe zur zwingenden Natur des Ausgleichsanspruchs z. B. EuGH Urt. v. 23.3.2006 – Rs. C-465/04 (Honyvem), Slg. 2006 I-2879 Rn. 22. 264 Richtlinie 2011/7/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr, ABl. 2011 L 48/1.

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Der EuGH sieht die Inhaltsfreiheit ferner z. B. durch Art. 15 Abs. 1 Mediendienstleistungsrichtlinie beschränkt: Nach dieser Regelung können die Inhaber exklusiver Fernsehübertragungsrechte „nicht frei über den Preis entscheiden“, den sie für die Verwendung der Inhalte zum Zwecke der Kurzberichterstattung in Rechnung stellen.266 Im Bereich des Urhebervertragsrechts ordnet Art. 15 Datenbankenschutzrichtlinie schließlich an, dass „vertragliche Bestimmungen […] nichtig“ sind, soweit sie den sekundärrechtlichen Vorgaben zuwiderlaufen und die vom Urheber zu gestattenden Handlungen oder die Rechte rechtmäßiger Datenbanknutzer einschränken. Aus dieser bereichsspezifischen Verkürzung der Vertragsinhaltsfreiheit folgert der EuGH im Umkehrschluss, dass die Parteien im Übrigen den Vertragsinhalt nach ihrem Ermessen festlegen können: Namentlich stehe es dem Datenbankinhaber „frei, diese Benutzung durch eine mit dem rechtmäßigen Benutzer geschlossene Vereinbarung zu regeln“.267 Der EuGH stellt damit das RegelAusnahmeverhältnis klar und stützt so die eingangs formulierte These, dass die mannigfaltigen Verkürzungen der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie durch Unionsrechtsakte nur als Ausnahmen von der grundsätzlich umfassenden Gewährleistung der Vertrags(inhalts)freiheit zu verstehen sind. 3. Typenfreiheit Eine ausdrückliche und abschließende Fixierung bestimmter Vertragstypen ist dem Unionsrecht grundsätzlich fremd. Allerdings folgt aus den zwingenden Regelungen des Unionsprivatrechts, insbesondere im Verbrauchervertragsrecht, oftmals auch eine Beschränkung der Typenfreiheit: Beispielsweise untersagt Art. 7 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie alle vom sekundärrechtlichen Leitbild abweichenden vertraglichen Regelungen, welche die Verkäuferpflichten einerseits und die Rechte des Verbrauchers bei vertragswidriger Lieferung sowie die Ausgestaltung des Nacherfüllungsanspruchs andererseits betreffen. Der Rahmen für die Parteien, einen Vertrag über den Kauf von Verbrauchsgütern im Sinne der Richtlinie zu schließen, ist damit denkbar eng gezogen und erlaubt keine grundsätzlichen Abweichungen von der sekundärNach dieser Vorschrift ist „[e]ine Vertragsklausel oder eine Praxis […] als grob nachteilig im Sinne von Absatz 1 anzusehen, wenn in ihr Verzugszinsen ausgeschlossen werden“. 266 Hierin erblickt EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C: 2013:28 Rn. 44 ff. und Rn. 55 ff. eine Verkürzung der durch Art. 16 GRCh geschützten Vertragsfreiheit. Anders fiel dagegen die Überprüfung einer vergleichbaren Beschränkung durch ein – nicht durch eine unionsrechtliche Richtlinie fundiertes – deutsches Gesetz am Maßstab des Art. 12 GG aus, siehe BVerfG Urt. v. 17.2.1998 – Az. 1 BvF 1/91, BVerfGE 97, 228, 252 ff. 267 EuGH Urt. v. 15.1.2015 – Rs. C-30/14 (PR Aviation), EU:C:2015:10 Rn. 42 f. betont dabei auch das „rechtliche und wirtschaftliche Interesse einer Person, die in die Herstellung einer Datenbank investiert hat“. 265

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rechtlich vorgezeichneten Vertragsgestalt. Vor diesem Hintergrund ist die Einschätzung nicht von der Hand zu weisen, dass Art. 7 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie „die ursprüngliche archaische Funktion der Vertragstypen partiell wieder belebt hat: Ein Verbrauchsgüterkauf ist danach nur wirksam, wenn sein Inhalt genau den im Gesetz vorgebildeten Regelungen entspricht“.268

Diese Konsequenz zeigt sich etwa im deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch, wo sich nach § 475 BGB der Unternehmer auf eine die Verbraucherrechte in unzulässiger Weise einschränkende Abrede „nicht berufen“ kann: Hier wird der Verbrauchsgüterkaufvertrag folglich stets auf den in der Richtlinie vorgezeichneten Typus zurückgeführt.269 4. Änderungsfreiheit Viele zwingende Bestimmungen des Unionsprivatrechts verkürzen zugleich auch die Vertragsänderungsfreiheit. Beispielsweise steht das Antidiskriminierungsrecht Vertragsänderungen entgegen, die zu einem Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot führen würden: So können die Parteien eines Arbeitsvertrags kaum nachträglich vereinbaren, dass eine Arbeitnehmerin allein aufgrund ihres Geschlechts fortan weniger Lohn erhalten soll. Eine solche Änderung verstößt neben Art. 14 Arbeitnehmergleichbehandlungsrichtlinie 2006/54/EG auch gegen das in privatrechtlichen Verträgen zu beachtende primärrechtliche Verbot der Entgeltdiskriminierung nach Art. 157 AEU.270 Desgleichen berühren die zwingenden Bestimmungen des Verbrauchervertragsrechts ebenfalls die Freiheit, nach Vertragsschluss von den Verbraucherschutzbestimmungen abweichende Vereinbarungen zu treffen. So können etwa beim Verbrauchsgüterkauf die Mängelgewährleistungsrechte nicht vor Bekanntwerden eines Mangels durch einen Änderungsvertrag zulasten des Verbrauchers eingeschränkt werden.271 Entsprechend steht Art. 7 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie allen „mit dem Verkäufer vor dessen Unterrichtung über die Vertragswidrigkeit getroffene[n]“ – und damit gerade auch in einem Änderungsvertrag enthaltenen – Vereinbarungen entgegen.272 Darüber 268 So mit Blick auf den der Umsetzung des Art. 7 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie dienenden § 475 Abs. 1 BGB Staudinger / Oechsler, Eckpfeiler des Zivilrechts (2014), M Rn. 2. 269 Entgegen § 139 BGB ist nicht der gesamte Vertrag, sondern nur die Beschränkung der Verbraucherrechte unwirksam, siehe nur MünchKommBGB / S. Lorenz (2016), § 475 BGB Rn. 12. 270 Siehe zur Einwirkung des Verbots der Entgeltdiskriminierung auf Arbeitsverträge z. B. EuGH Urt. v. 6.10.1993 – Rs. C-109/91 (Ten Över), Slg. 1993, I-4879 Rn. 11 ff.; EuGH Urt. v. 28.9.1994 – Rs. C-200/91 (Coloroll), Slg. 1994, I-4389 Rn. 18 ff. 271 Vgl. Art. 7 Abs. 1 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie. 272 Statt aller MünchKommBGB / S. Lorenz (2016), § 475 BGB Rn. 11.

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Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

hinaus wenden sich Nr. 1 lit. j bis l des Anhangs zur Klauselrichtlinie gegen bestimmte Modalitäten der Vertragsänderung und verkürzen insoweit potenziell die Änderungsfreiheit.273 Im Finanzdienstleistungsvertragsrecht erfasst beispielsweise das grundsätzliche Verbot der Erhebung von Entgelten für Informationen nach Art. 32 Zahlungsdiensterichtlinie auch nachträgliche Änderungsverträge zwischen Zahlungsdienstleistern und Nutzern. Im unionalen Wirtschaftsvertragsrecht untersagt Art. 19 Handelsvertreterrichtlinie nicht nur vertragliche Vereinbarungen, die den Ausgleichsanspruch des Handelsvertreters von Anfang an beschränken, sondern die Regelung steht – wie die Zusammenschau mit Art. 13 der Richtlinie verdeutlicht – auch nachträglichen Vertragsänderungen mit dieser Zielrichtung entgegen.274 Dies folgt gerade aus dem Umstand, dass sich Art. 19 Handelsvertreterrichtlinie explizit gegen alle (Änderungs)Vereinbarungen wendet, die „vor Ablauf des Vertrags“ geschlossen werden. Im Anwendungsbereich der Massenentlassungsrichtlinie275 kann eine nachträgliche Änderung des Arbeitsvertrags unter bestimmten Voraussetzungen als (indirekte) „Entlassung“ oder sonstige Beendigung des Arbeitsvertrags gemäß Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie einzuordnen und entsprechend an den sekundärrechtlichen Vorgaben zu messen sein.276 Darüber steht auch das unionale Vergaberecht einer Vertragsänderung jedenfalls dann entgegen, wenn durch wesentliche Änderungen ein neues Vergabeverfahren erforderlich wird.277 Schließlich wollte die Europäische Kommission in ihrem 273 Hierbei geht es um die auch aus Sicht des Unionsprivatrechts grundsätzlich zulässige – vgl. nur GA Kokott Schlussanträge v. 3.9.2015 – Rs. C-422/14 (Pujante Rivera), EU:C:2015:544 Rn. 55 – vertragliche Delegation des Rechts zur Vertragsänderung auf einen Vertragsteil: So erwähnt der Anhang zur Klauselrichtlinie in Nr. 1 lit. j z. B. Klauseln, die darauf abzielen, dass „der Gewerbetreibende die Vertragsklauseln einseitig ohne triftigen und im Vertrag aufgeführten Grund ändern kann“. Nr. 1 lit. k richtet sich gegen Klauseln, denen zufolge „der Gewerbetreibende die Merkmale des zu liefernden Erzeugnisses oder der zu erbringenden Dienstleistung einseitig ohne triftigen Grund ändern kann“. Nr. 1 lit. l des Anhangs nennt schließlich Gestaltungen, bei denen „der Verkäufer einer Ware oder der Erbringer einer Dienstleistung den Preis zum Zeitpunkt der Lieferung […] erhöhen kann“. 274 Siehe zur zwingenden Natur des Ausgleichsanspruchs z. B. EuGH Urt. v. 23.3.2006 – Rs. C-465/04 (Honyvem), Slg. 2006 I-2879 Rn. 22. 275 Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen, ABl. 1998 L 225/16. 276 Als Rechtsfolge sieht Art. 4 Massenentlassungsrichtlinie dabei eine zeitlich begrenzte Entlassungssperre vor, siehe nur GA Kokott Schlussanträge v. 3.9.2015 – Rs. C422/14 (Pujante Rivera), EU:C:2015:544 Rn. 57; EuGH Urt. v. 11.11.2015 – Rs. C-422/14 (Pujante Rivera), EU:C:2015:743 Rn. 47 ff. 277 Deutlich etwa GA Kokott Schlussanträge v. 13.3.2008 – Rs. C-454/06 (pressetext), Slg. 2008, I-4401 Rn. 44 f.: „Grundsätzlich ist es nicht von vornherein ausgeschlossen, dass spätere inhaltliche Änderungen an bestehenden Verträgen […] den Tatbestand der Vergabe eines öffentlichen Auftrags erfüllen, mit der Folge, dass ein Vergabeverfahren durchzuführen ist“. Vgl. auch EuGH Urt. v. 19.6.2008 – Rs. C-454/06 (pressetext), Slg. 2008, I-4401

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Grünbuch zu unlauteren Handelspraktiken in der B2B-Lieferkette die Vertragsparteien bereichsspezifisch gerade an der vertraglichen Vereinbarung „rückwirkender Vertragsänderungen“ hindern.278 5. Aufhebungsfreiheit Die Aufhebungsfreiheit wird ebenfalls in unterschiedlichen Bereichen des Unionsprivatrechts eingeschränkt. So wäre beispielsweise selbst eine individualvertraglich vereinbarte Kündigungsmöglichkeit für den Fall der Schwangerschaft nicht mit den Vorgaben des unionalen Antidiskriminierungsrechts und insbesondere mit Art. 14 Arbeitnehmergleichbehandlungsrichtlinie übereinzubringen.279 Und an der Schnittstelle von unionalem Verbraucher- und Finanzdienstleistungsvertragsrecht zwingt Art. 16 Abs. 2 Zahlungskontenrichtlinie die betroffenen Kreditinstitute gerade nicht nur dazu, einen Kontoführungsvertrag mit allen interessierten Verbrauchern abzuschließen, sondern schränkt darüber hinaus auch die Möglichkeiten der Vertragsbeendigung durch die Banken ein: Namentlich müssen die Kreditinstitute den Kunden ermöglichen, „ein Zahlungskonto […] zu eröffnen und zu nutzen“.280 Ebenso wird die Aufhebungsfreiheit in all jenen Materien des Wirtschaftsvertragsrechts verkürzt, in denen das Unionsrecht einen Kontrahierungszwang statuiert: Andernfalls könnte die zum Vertragsschluss verpflichtete Partei durch privatautonome Vereinbarung eines Vertragsaufhebungsrechts oder durch den Rückgriff auf bestehende Vertragsbeendigungstatbestände des Privatrechts den unionalen Kontrahierungszwang umgehen.281 So folgt beispielsweise aus dem unionsrechtlich fundierten Kontrahierungszwang nach der Erdgas- und Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie laut EuGH gerade, dass die Energieversorgungsunternehmen „sich die andere Vertragspartei nicht aussuchen und den Vertrag nicht beliebig beenden können“.282 In der Tat wäre ein Kontrahierungszwang wirkungslos, wenn der zum Vertragsschluss Rn. 47, 59 f. Siehe zu „De-facto-Vergaben“ durch Vertragsänderungen und den Rechtsfolgen nur Poschmann, Vertragsänderungen unter dem Blickwinkel des Vergaberechts (2010), S. 116 ff., 307 ff.; Bittrich, Vergabeverfahren und Bürgerliches Recht (2013), S. 135 ff. 278 Vgl. Grünbuch der Europäischen Kommission vom 31.3.2013 über unlautere Handelspraktiken in der B2B-Lieferkette für Lebensmittel und Nicht-Lebensmittel in Europa, KOM(2013) 37 endg., S. 21. 279 Vgl. bereits EuGH Urt. v. 5.5.1994 – Rs. C-421/92 (Habermann-Beltermann), Slg. 1994, I-1657 Rn. 15 ff. 280 Siehe zur Umsetzung im BGB nur Herresthal, BKR 2016, 133, 140. 281 Siehe zu diesem Zusammenhang statt aller Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang (1999), S. 70: „Dort, wo das Gesetz einen Kontrahierungszwang statuiert, ist zugleich die Vertragsabänderungs- und -beendigungsfreiheit beschränkt“. 282 EuGH Urt. v. 23.10.2014 – verb. Rs. C-359/11 u. a. (Schulz u. a.), EU:C:2014:2317 Rn. 44 (Herv. d. Verf.).

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Verpflichtete sich dem Schuldverhältnis durch umgehende Vertragsaufsage wieder entziehen könnte. Entsprechend ist die Verkürzung der Vertragsbeendigungsfreiheit nach zutreffender Lesart des Generalanwalts Wahl bereits in den Richtlinien angelegt.283 Im unionalen Kartellrecht kann zudem Art. 102 AEUV im Einzelfall einem – nach Maßgabe des jeweiligen mitgliedstaaatlichen Privatrechts eigentlich zulässigen – Abbruch von Vertragsbeziehungen entgegenstehen.284 Darüber hinaus sieht Art. 19 Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie Eingriffsbefugnisse der Regulierungsbehörden bezüglich der Vertragsverhältnisse von „Personen der Unternehmensleitung und/oder Mitgliedern der Verwaltungsorgane des Übertragungsnetzbetreibers“ vor, wenn „Zweifel an der Berechtigung einer vorzeitigen Vertragsbeendigung bestehen“. Eine Verkürzung der Vertragsbeendigungsfreiheit beinhaltet schließlich auch die Massenentlassungsrichtlinie, soweit sie in Art. 4 eine Entlassungssperre vorsieht.285 6. Formfreiheit Besonders augenfällige und zugleich für alle hier untersuchten Sachmaterien gleichermaßen relevante Anforderungen an die Form von Willenserklärungen enthält die Signaturenrichtlinie.286 Ausweislich dieses Sekundärrechtsakts müssen sogenannte qualifizierte elektronische Signaturen „die rechtlichen Anforderungen an eine Unterschrift in Bezug auf in elektronischer Form vorliegende Daten in gleicher Weise erfüllen wie handschriftliche Unterschriften in Bezug auf Daten, die auf Papier vorliegen“.287 Auch das unionale 283 GA Wahl Schlussanträge v. 8.5.2014 – verb. Rs. C-359/11 u. a. (Schulz u. a.), EU:C:2014:319 Rn. 34: „Ebenso engen diese Bestimmungen die Möglichkeiten der Anbieter erheblich ein, Verträge mit solchen Kunden zu beenden (eine Form des Eingriffs, die eindeutig in der Absicht von Art. 3 der Energierichtlinien liegt, wonach die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, durch Maßnahmen dafür Sorge zu tragen, dass ein Ausschluss von der Versorgung vermieden wird)“. 284 Vgl. zur Lieferverweigerung „eines Unternehmens, das auf dem Markt für ein bestimmtes Erzeugnis über eine beherrschende Stellung verfügt, die Bestellungen eines früheren Kunden auszuführen“ nur EuGH Urt. v. 16.9.2008 – Rs. C-478/06 (GSK), Slg. 2008, I-7174 Rn. 34. Eingehend statt vieler Dauses / Emmerich, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts (2015), H. I. § 3. Art. 102 AEUV Rn. 102 ff.; Langen / Bunte / Bulst (2014), Art. 102 AEUV Rn. 248 ff., 263 ff. und 303 ff., dort jeweils m. w. N. 285 Vgl. auch EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 69: „Es lässt sich daher nicht bestreiten, dass die Schaffung einer Rahmenregelung für Massenentlassungen […] eine Beschränkung der Ausübung der unternehmerischen Freiheit und insbesondere der Vertragsfreiheit darstellt“. 286 Richtlinie 1999/93/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 1999 über gemeinschaftliche Rahmenbedingungen für elektronische Signaturen, ABl. 2000 L 13/12. 287 Vgl. Art. 5 Signaturenrichtlinie. Siehe nur Herresthal, in: Langenbucher (Hrsg), Europäisches Privat- und Wirtschaftsrecht (2013), S. 142 f. Im deutschen Bürgerlichen Ge-

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Verbrauchervertragsrecht schränkt die Formfreiheit beispielsweise in Art. 8 Abs. 2 Unterabs. 2 Verbraucherrechterichtlinie ein. Diese Vorschrift gibt zwingende „formale Anforderungen bei Fernabsatzverträgen“ im elektronischen Geschäftsverkehr vor und sanktioniert deren Nichteinhaltung.288 Eine weitere, nunmehr unter anderem in § 126b BGB mit Blick auf die Textform umgesetzte Vorgabe enthält die Verbraucherrechterichtlinie in Bezug auf die Speicherbarkeit der Erklärung auf einem dauerhaften Datenträger.289 Darüber hinaus bestimmt z. B. Art. 5 Abs. 1 Time-Sharing-Richtlinie, dass der Vertrag „schriftlich in Papierform oder auf einem anderen dauerhaften Datenträger“ abgefasst werden muss.290 Ähnliche Regelungen enthält etwa die Pauschalreiserichtlinie.291 Im Finanzdienstleistungsvertragsrecht fordert Art. 10 Verbraucherkreditrichtlinie, dass Kreditverträge „auf Papier oder auf einem anderen dauerhaften Datenträger erstellt“ werden.292 Ebensolche Vorgaben macht auch Art. 41 Zahlungsdiensterichtlinie mit Blick auf sogenannte Rahmenverträge. An der Schnittstelle von Verbraucher- und Wirtschaftsvertragsrecht293 verlangt Art. 10 Abs. 3 E-Commerce-Richtlinie,294 dass dem Nutzer die „Vertragsbestimmungen und die allgemeinen Geschäftsbedingunsetzbuch ist diese Vorgabe durch § 126a BGB sowie das Signaturengesetz umgesetzt worden, dazu statt aller Jauernig / Mansel (2015), § 126a BGB Rn. 1 ff. 288 Die Norm lautet auszugsweise: „Wenn der Bestellvorgang die Aktivierung einer Schaltfläche oder eine ähnliche Funktion umfasst, ist diese Schaltfläche oder entsprechende Funktion gut lesbar ausschließlich mit den Worten „zahlungspflichtig bestellen“ […] zu kennzeichnen, die den Verbraucher darauf hinweist, dass die Bestellung mit einer Zahlungsverpflichtung gegenüber dem Unternehmer verbunden ist. Wenn der Unternehmer diesen Unterabsatz nicht einhält, ist der Verbraucher durch den Vertrag oder die Bestellung nicht gebunden“ (Herv. d. Verf.). Siehe zur Einordnung als Formvorschrift nur MünchKommBGB / Wendehorst (2016), § 312j BGB Rn. 32. 289 Vgl. z. B. Art. 7 Abs. 1 und 4, Art. 8 Abs. 1 und 6 Verbraucherrechterichtlinie. Siehe dazu nur Jauernig / Mansel (2015), § 126b BGB Rn. 1. 290 Dieses Formerfordernis gilt nach Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie auch für Vertragsänderungen, soweit diese die in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie genannten Informationen betreffen. 291 Art. 7 Abs. 1 Pauschalreiserichtlinie lautet: „Bei Abschluss des Pauschalreisevertrags bzw. unverzüglich danach stellt der Reiseveranstalter oder Reisevermittler dem Reisenden eine Kopie oder eine Bestätigung des Vertrags auf einem dauerhaften Datenträger zur Verfügung“. 292 Weitere Formerfordernisse enthalten z. B. Art. 11 Abs. 1, Art. 12, Art. 13 Abs. 1 und Art. 18 Abs. 1 Verbraucherkreditrichtlinie. 293 Obschon die E-Commerce-Richtlinie auch Sonderregelungen für Verbraucher vorsieht, definiert sie in Art. 2 lit. d „Nutzer“ allgemein als „jede natürliche oder juristische Person, die zu beruflichen oder sonstigen Zwecken einen Dienst der Informationsgesellschaft in Anspruch nimmt, insbesondere um Informationen zu erlangen oder zugänglich zu machen“. 294 Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt, ABl. 2003 L 178/1.

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Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

gen […] so zur Verfügung gestellt werden, daß er sie speichern und reproduzieren kann“. Formerfordernisse finden sich auch in den Teildisziplinen des Wirtschaftsvertragsrechts: So muss z. B. laut Art. 17 Abs. 3 Gemeinschaftsmarkenverordnung295 „die rechtsgeschäftliche Übertragung der Gemeinschaftsmarke schriftlich erfolgen und bedarf der Unterschrift der Vertragsparteien […]; anderenfalls ist sie nichtig“. Eine gleichlautende Regelung enthält Art. 23 Sortenschutzverordnung.296 Ein Schriftformerfordernis stellte z. B. auch die – mittlerweile aufgehobene – Verordnung über Lagerverträge für Tafelwein auf.297 Schließlich sieht auch Art. 1 Abs. 2 lit. a und b Vergaberichtlinie 2004 die Schriftlichkeit „öffentlicher Aufträge“ bzw. „Bauaufträge“ im unionalen Vergaberecht vor.298 Beachtung verdient schließlich, dass das Unionsrecht jeweils ein autonomes, von den nationalen Kategorien entkoppeltes Verständnis der Formerfordernisse und Formzwecke299 zugrunde legt.300 7. Parteiautonomie Die Parteiautonomie wird durch zahlreiche Regelungen des internationalen Unionsprivatrechts eingeschränkt. Beispielsweise bestimmt Art. 25 Abs. 4, dass Gerichtsstandsvereinbarungen „keine rechtliche Wirkung“ haben, wenn sie Art. 15, 19 oder 23 Brüssel Ia zuwiderlaufen. Die zuletzt genannten Vorschriften lassen Zuständigkeitsvereinbarungen in Versicherungs-, Arbeitssowie in Verbrauchersachen nur unter engen Voraussetzungen zu.301 Eine Verordnung (EG) Nr. 207/2009 des Rates vom 26. Februar 2009 über die Gemeinschaftsmarke, ABl. 2009 L 78/1. 296 Verordnung (EG) Nr. 2100/94 des Rates vom 27. Juli 1994 über den gemeinschaftlichen Sortenschutz, ABl. 1994 L 227/1. 297 Verordnung (EWG) Nr. 1437/70 der Kommission vom 20. Juli 1970 über die Lagerverträge für Tafelwein, ABl. 1970 L 160/16. Vgl. zu diesem Schriftformerfordernis auch EuGH Urt. v. 27.1.1981 – Rs. 1251/79 (Italien / Kommission), Slg. 1981, 205 Rn. 13; GA Verloren van Themaat Schlussanträge v. 18.3.1982 – verb. Rs. 66/81 u. a. (Pommerehnke u. a.), Slg. 1982, 1380, 1384. 298 Dabei stellt Art. 1 Abs. 12 Vergaberichtlinie 2004 klar: „Der Begriff ‚schriftlich‘ umfasst jede aus Wörtern oder Ziffern bestehende Darstellung, die gelesen, reproduziert und mitgeteilt werden kann. Darin können auch elektronisch übermittelte und gespeicherte Informationen enthalten sein“. 299 Vgl. auch Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85, 98 f. 300 Vgl. allgemein etwa EuGH Urt. v. 24.1.2002 – Rs. C-170/00 (Finnland /  Kommission), Slg. 2002, I-1007 Rn. 28 ff. Zur Schriftform nach Art. 4 Verbraucherkreditrichtlinie a. F. führt BGH Urt. v. 6.12.2005 – Az. XI ZR 139/05 NJW 2006, 681, 683 aus, dass diese „Schriftform nicht mit der strengen schriftlichen Form des § 126 BGB gleichzusetzen, sondern eher als „Schriftlichkeit” des Vertrags zu verstehen ist“. 301 Dahinter steht die in Erwägungsgrund Nr. 18 Brüssel Ia aufscheinende Ratio, dass bei „Versicherungs-, Verbraucher- und Arbeitsverträgen […] die schwächere Partei durch Zuständigkeitsvorschriften geschützt werden [sollte], die für sie günstiger sind als die 295

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weitere Beschränkung der zuständigkeitsrechtlichen Parteiautonomie folgt neben dem Schriftformerfordernis in Art. 25 Abs. 1 Brüssel Ia302 gerade aus den ausschließlichen Zuständigkeiten nach Art. 24, Art. 25 Abs. 4 Brüssel Ia.303 Im Kollisionsrecht schränken neben Eingriffsnormen304 und der OrdrePublic-Klausel305 unter bestimmten Voraussetzungen auch einfach zwingende Regelungen des mitgliedstaatlichen und des unionalen Rechts306 sowie schließlich besondere Kollisionsnormen für Arbeit- und Versicherungsnehmer und Verbraucher die Parteiautonomie ein.307 Anders als die vorstehend behandelten sechs sachrechtlichen Facetten der unionalen Vertragsfreiheit wird die Parteiautonomie zumindest auf Ebene des Sekundärrechts explizit und umfassend verbürgt: So geht etwa Art. 3 Rom I wie auch Art. 14 Rom II von der Rechtswahlfreiheit aus.308 Gleichsam sind Gerichtsstandsvereinbarungen als zuständigkeitsrechtlicher Ausdruck der Parteiautonomie in Art. 25 Brüssel Ia vorgesehen.309 Hier wird deutlich, wie das Regel-Ausnahmeverhältnis im gesamten Unionsrecht beschaffen ist: Den Grundsatz und den Ausgangspunkt bildet immer die umfassende Gewährleistung der unionalen Vertragsfreiheit in all ihren Facetten. Die Einschränkung der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie hingegen ist die – begründungsund stets gesondert regelungsbedürftige – Ausnahme.

allgemeine Regelung“. Entsprechend soll nach Erwägungsgrund Nr. 19 Brüssel Ia „bei Versicherungs-, Verbraucher- und Arbeitsverträgen, […] nur eine begrenztere Vertragsfreiheit zulässig“ sein. 302 Vgl. z. B. EuGH Urt. v. 14.7.1983 – Rs. 201/82 (Gerling), Slg. 1983, 2503 Rn. 13 sowie zuletzt etwa EuGH Urt. v. 21.5.2015 – Rs. C-322/14 (El Majdoub), EU:C:2015:334 Rn. 26 ff. m. w. N. 303 So wahrt die Brüssel Ia ausweislich ihres Erwägungsgrundes Nr. 19 „die Vertragsfreiheit der Parteien hinsichtlich der Wahl des Gerichtsstands“ gerade nur „[v]orbehaltlich der in dieser Verordnung festgelegten ausschließlichen Zuständigkeiten“. 304 Vgl. z. B. Art. 9 Rom I, Art. 16 Rom II. 305 Vgl. z. B. Art. 21 Rom I, Art. 26 Rom II. 306 Vgl. z. B. Art. 3 Abs. 3 und 4 Rom I, Art. 14 Abs. 2 und 3 Rom II. 307 Vgl. nur Art. 6, Art. 7, Art. 8 Rom I. Zum Ganzen statt vieler Staudinger / Magnus (2016), Art. 3 Rom I Rn. 22 ff., 130 ff., 149 ff.; Basedow, The Law of Open Societies (2015), S. 136 ff. 308 Vgl. auch Erwägungsgrund Nr. 11 Rom I: „Die freie Rechtswahl der Parteien sollte einer der Ecksteine des Systems der Kollisionsnormen im Bereich der vertraglichen Schuldverhältnisse sein“. Vgl. ferner Erwägungsgrund Nr. 31 Rom II: „Um den Grundsatz der Parteiautonomie zu achten […], sollten die Parteien das auf ein außervertragliches Schuldverhältnis anzuwendende Recht wählen können“. 309 Laut Erwägungsgrund Nr. 19 Brüssel Ia „sollte die Vertragsfreiheit der Parteien hinsichtlich der Wahl des Gerichtsstands […] gewahrt werden“.

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Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

§ 2 Vertragsfreiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts § 2 Vertragsfreiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts

Ausgehend vom Spektrum allgemeiner Grundsätze des Unionsrechts (A) ist zu fragen, inwieweit die Vertragsfreiheit beim derzeitigen Stand sowohl ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsprivatrechts als auch ein Unionsgrundrecht im Sinne eines allgemeinen Grundsatzes nach Art. 6 Abs. 3 EUV (B) ist. Von einer solch doppelköpfigen Natur allgemeiner Grundsätze des Unionsrechts geht der EuGH beispielsweise im Antidiskriminierungsrecht aus: So ist insbesondere das Verbot der Altersdiskriminierung nach der Lesart des Gerichtshofs nicht nur im Sekundärrecht verankert, sondern zugleich Ausdruck eines allgemeinen Grundsatzes des Unionsrechts310 und Schutzgegenstand der in Art. 21, 23 GRCh garantierten Unionsgrundrechte.311 Da die gesellschaftspolitischen Diskriminierungsverbote die rechtsgeschäftliche Privatautonomie besonders einschneidend verkürzen, liegt es nahe, dass die Vertragsfreiheit als wohl bedeutendstes Gegengewicht die normhierarchische und -systematische Stellung der Diskrimimierungsverbote in der Unionsrechtsordnung teilt. A. Allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts Der Unionsrechtsordnung sind bereits seit den Gründungsverträgen allgemeine Rechtsgrundsätze bekannt, welche das lückenhafte Regelungsgefüge dieser Materie ergänzen.312 Auch die Vertragsfreiheit wird bisweilen von den Generalanwälten des EuGH als ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts behandelt.313 Bevor der Frage nachgegangen werden kann, ob diese Einordnung auf einem soliden Fundament ruht, sind zunächst die dem Unionsrecht bekannten allgemeinen Rechtsgrundsätze zu identifizieren und zu systematisieren. Dabei strebt die vorliegende Abhandlung keine umfassende 310 Vgl. EuGH Urt. v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981 Rn. 74 ff. Mit Blick auf das Unionsprivatrecht sehen Basedow, ZEuP 2008, 230, 244; Metzger, RabelsZ 75 (2011), 845, 879 f. hierin zumindest ein „heuristisches Prinzip“. 311 Deutlich EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 18 ff. Vgl. erneut auch EuGH Urt. v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981 Rn. 74 ff. 312 Vgl. zum „Grundsatz von Treu und Glauben“ z. B. schon EuGH Urt. v. 15.7.1960 – verb. Rs. 43/59 u. a. (Lachmüller u. a.), Slg. 1960, 967, 989; EuGH Urt. v. 16.12.1960 – Rs. 44/59 (Fiddelaar / Kommission), Slg. 1960, 1117, 1139. Eingehend mit weiteren Beispielen Zweigert, RabelsZ 28 (1964), 601, 607 ff.; Tridimas, The General Principles of EU Law (2006), S. 7 ff. 313 Siehe z. B. GA Kokott Schlussanträge v. 17.9.2009 – Rs. C-441/07 P (Kommission /  Alrosa), Slg. 2010, I-5949 Rn. 225. In diesem Sinne bereits GA Trstenjak Schlussanträge v. 28.3.2007 – Rs. C-331/05 P (Internationaler Hilfsfonds / Kommission), Slg. 2007, I-5475 Rn. 93.

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Typologie unionaler Rechtsgrundsätze an, sondern fokussiert allein auf die privatrechtsrelevanten Erscheinungsformen.314 Obschon der Gerichtshof zuweilen auf eine genaue Differenzierung verzichtet,315 lassen sich in diesem Bereich mindestens zwei wesentliche Kategorien ausmachen: Zum einen enthält die Unionsrechtsordnung allgemeine Rechtsgrundsätze im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV und zum anderen existieren allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts (I).316 Den unterschiedlichen Arten und Funktionen allgemeiner Rechtsgrundsätze zum Trotz gleichen sich die Methoden zur Identifikation und Gewinnung dieser Grundsätze im Unionsrecht (II). I.

Arten und Funktionen

Sowohl in der Rechtsprechungspraxis des EuGH als auch in den Schlussanträgen seiner Generalanwälte findet sich bisweilen ein geradezu monolithisches Verständnis allgemeiner Rechtsgrundsätze des Unionsrechts: Hierunter sollen nur solche Grundsätze fallen, die in den Mitgliedstaaten mit verfassungsrechtlicher Dignität ausgestattet sind und die zudem ein derart hohes Abstraktionsniveau erreichen, dass sie rechtsgebietsübergreifend gelten.317 Diese Sichtweise orientiert sich ersichtlich an Art. 6 Abs. 3 EUV, der bestimmt: „Die Grundrechte, […] wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, sind als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts“. 314 Entsprechend werden im Folgenden etwa solche allgemeinen Rechtsgrundsätze ausgeklammert, die – wie etwa das Subsidiaritätsprinzip – der Unionsrechtsordnung inhärent sind, siehe zu dieser Kategorie von Rechtsgrundsätzen nur GA Trstenjak Schlussanträge v. 30.6.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 69; Basedow, FS Hopt I (2010), S. 27, 44. 315 So z. B. in EuGH Urt. v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 63. Vgl. auch GA Trstenjak Schlussanträge v. 30.6.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 84 ff. 316 Auch GA Trstenjak Schlussanträge v. 30.6.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 69 und 71, verweist einerseits auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze, „die den Rechts- und Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind“, und arbeitet andererseits heraus, dass im Unionsrecht auch Rechtsgrundsätze existieren, „die dem Vertragsrecht nicht fremd sind, wie z. B. der allgemeine Rechtsgrundsatz pacta sunt servanda“ (Herv. im Original). Siehe ferner nur Basedow, ERPL 24 (2016), 331, 346 ff. 317 Dafür insbesondere EuGH Urt. v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 63: „Die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts haben nämlich Verfassungsrang“. Ebenso GA Trstenjak Schlussanträge v. 30.6.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 84 ff. sowie 69, wobei diese Lesart schwerlich mit der gleichzeitigen Bejahung genuin privat- und insbesondere vertragsrechtlicher allgemeiner Rechtsgrundsätze des Unionsrechts (vgl. Rn. 71) übereinzubringen ist. Siehe aus dem Schrifttum nur Van Ommeslaghe, Droit des obligations (2010), S. 114 („égaux aux règles issues du Traité“); Lang, in: Bernitz / Groussot / Schulyko (eds.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), S. 65, 68 („General principles have constitutional status […] [and] they can override secondary EU legislation and national law“).

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Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

Die Reduktion der allgemeinen Rechtsgrundsätze auf solche mit Grundrechtsqualität findet indes keine Stütze im Unionsrecht. Beispielsweise geht schon aus den Bestimmungen zur außervertraglichen Haftung der EU hervor, dass allgemeine Grundsätze des Unionsrechts existieren, die weder grundrechtlichen Status haben noch überhaupt rechtsgebietsübergreifende Geltung beanspruchen können: Gemäß Art. 340 Abs. 2 AEUV haftet die Union „nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind“.318 Der EuGH hat solche allgemeine Rechtsgrundsätze des unionalen Haftungsrechts etwa im Bereich des Mitverschuldens und der Verzinsung von Schadensersatzansprüchen entwickelt.319 Vor allem ist der Gerichtshof in jüngerer Zeit wiederholt von der Existenz „allgemeiner Grundsätze des Zivilrechts“ ausgegangen.320 Dem Untersuchungsgegenstand dieser Abhandlung entsprechend gilt das Augenmerk zunächst solchen allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsprivatrechts (1). Sodann werden die Grundsätze im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV in den Blick genommen (2). Dabei wird vor allem zu belegen sein, dass die beiden unterschiedlichen Kategorien allgemeiner Rechtsgrundsätze jeweils eine andere normhierarchische Stellung und Funktion im Unionsrecht haben. 1. Allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts Allgemeine Grundsätze des Unionsprivatrechts existieren sowohl im Bereich vertraglicher als auch außervertraglicher Schuldverhältnisse.321 BeispielsweiVgl. hierzu z. B. schon EuGH Urt. v. 3.5.1978 – Rs. 112/77 (Töpfer / Kommission), Slg. 1978, 1019 Rn. 19. 319 So hat EuGH Urt. v. 4.10.1979 – Rs. 238/78 (Ireks-Arkady / Kommission), Slg. 1979, 2955 Rn. 20 zur außervertraglichen Haftung der Union entschieden, dass „im Lichte der den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsamen allgemeinen Rechtsgrundsätze […] ein Zinsanspruch grundsätzlich gegeben“ sei. Siehe dazu Basedow, FS Hopt I (2010), S. 27, 42; ders., AcP 210 (2010), 158, 178; Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 349. 320 EuGH Urt. v. 18.7.2007 – Rs. C-277/05 (Société thermale), Slg. 2007, I-6415 Rn. 24 f. (Herv. d. Verf.). Siehe auch z. B. EuGH Urt. v. 10.4.2008 – Rs. C-412/06 (Hamilton), Slg. 2008, I-2383 Rn. 42; EuGH Urt. v. 3.9.2009 – Rs. C-489/07 (Messner), Slg. 2009, I-7315 Rn. 26; EuGH Urt. v. 15.4.2010 – Rs. C-215/08 (E. Fritz), Slg. 2010, I-2947 Rn. 48; EuGH Urt. v. 19.12.2013 – Rs. C-174/12 (Hirmann), EU:C:2013:856 Rn. 61. Vgl. zu einem „Grundsatz des Zivilrechts, genauer: des Schuldrechts“ auch bereits EuGH Urt. v. 2.4.1998 – Rs. C-296/95 (EMU Tabac) Slg. 1998 I-1605 Rn. 31. Siehe zudem GA Mancini Schlussanträge v. 6.10.1983 – Rs. 92/82 (Gutmann / Kommission), Slg. 1983, 3136 Rn. 3; GA Kokott Schlussanträge v. 30.1.2014 – Rs. C-557/12 (Kone), EU:C:2014:45 Rn. 74. 321 Statt vieler Metzger, Extra legem, intra ius – Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 323 ff.; Hartkamp, RabelsZ 75 (2011), 241, 255 ff.; S. Martens, Methodenlehre des Unionsrechts (2013), S. 155 f.; Hesselink, in: Leczykiewicz / Weatherill (eds.), The Involvement of EU Law in Private Law Relationships (2013), 318

§ 2 Vertragsfreiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts

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se haben der EuGH und seine Generalanwältin Kokott im Kontext zivilrechtlicher Schadensersatzforderungen gegen Kartellbeteiligte jüngst mit den „allgemeinen Grundsätzen des Zivilrechts“ argumentiert, wonach sich das Verschulden nicht auch auf den eingetretenen Schaden in seiner konkreten Gestalt beziehen muss.322 Im Bereich des Vertragsrechts erwähnt der EuGH den „Grundsatz, dass Verträge eingehalten werden müssen“,323 und erkennt des Weiteren einen Grundsatz an, „dass sich die vollständige Durchführung eines Vertrags in der Regel aus der Erbringung der gegenseitigen Leistungen der Vertragsparteien und der Beendigung des entsprechenden Vertrags ergibt“.324 Zudem postuliert der Gerichtshof einen Grundsatz des Zivilrechts, demgemäß rechtsgrundlos zu viel gezahlte Beträge zurückgefordert werden können.325

S. 131 ff. Wendehorst, GPR 2015, 55, 57; Heinze, Schadensersatz im Unionsprivatrecht (2017), S. 12 ff. Kritisch zu dieser Entwicklung Weatherill, ERCL 6 (2010), 74, 78 ff. 322 Siehe mit Blick auf sogenannte Preisschirmeffekte im Zusammenhang mit der privatrechtlichen Durchsetzung unionalen Kartellrechts GA Kokott Schlussanträge v. 30.1.2014 – Rs. C-557/12 (Kone), EU:C:2014:45 Rn. 74: „Es kommt aber nicht darauf an, ob die Kartellbeteiligten darüber hinaus auch die konkret eingetretenen Schäden vorsätzlich oder fahrlässig verursacht haben. Ein solches Verschuldenserfordernis wäre mit den allgemeinen Grundsätzen des Zivilrechts nicht vereinbar und würde die praktische Durchsetzung der Wettbewerbsregeln übermäßig erschweren“ (Herv. d. Verf.). Vgl. sodann auch EuGH Urt. v. 5.6.2014 – Rs. C-557/12 (Krone u. a.), EU:C:2014:1317 Rn. 31 ff. und insbesondere Rn. 34. 323 EuGH Urt. v. 18.7.2007 – Rs. C-277/05 (Société thermale), Slg. 2007, I-6415 Rn. 24 f.: „Nach den allgemeinen Grundsätzen des Zivilrechts hat nämlich jede Vertragspartei den Vertrag einzuhalten und die vertraglich bedungene Leistung zu erbringen” (Herv. d. Verf.). Siehe zum Grundsatz pacta sunt servanda im Vertragsrecht auch EuG Urt. v. 25.5.2004 – T-154/01 (Distilleria f. Palma) Slg. 2004, II-1493 Rn. 45 sowie z. B. GA Darmon Schlussanträge v. 10.3.1989 – verb. Rs. 266/87 u. a. (Royal Pharmaceutical Society u. a.), Slg. 1989, 1295 Rn. 22; GA Poiares Maduro Schlussanträge v. 25.3.2004 – Rs. C-19/03 (O2 Germany), Slg. 2004, I-8183 Rn. 24; GA Colomer Schlussanträge v. 19.1.2006 – Rs. C-259/04 (Emanuel), Slg. 2006, I-3089 Rn. 38; GA Trstenjak Schlussanträge v. 15.11.2007 – Rs. C-404/06 (Quelle), Slg. 2008, I-2685 Rn. 64; GA Trstenjak Schlussanträge v. 30.6.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 71; GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C:2011:559 Rn. 96. 324 EuGH Urt. v. 10.4.2008 – Rs. C-412/06 (Hamilton), Slg. 2008, I-2383 Rn. 42. 325 Siehe bereits GA Mancini Schlussanträge v. 6.10.1983 – Rs. 92/82 (Gutmann /  Kommission), Slg. 1983, 3136 Rn. 3 und nunmehr auch z. B. EuGH Urt. v. 3.9.2009 – Rs. C-489/07 (Messner), Slg. 2009, I-7315 Rn. 26; EuGH Urt. v. 16.5.2013 – Rs. C-191/12 (Alakor), EU:C:2013:315 Rn. 25 und 28. Auch im Bereich der außervertraglichen Haftung der Union im Sinne des Art. 288 Abs. 2 EG (nunmehr Art. 340 Abs. 2 AEUV) erkennt der EuGH Urt. v. 16.12.2008 – Rs. C-47/07 P (Masdar / Kommission), Slg. 2008, I-9761 Rn. 44 ff. das Rechtsinstitut der ungerechtfertigten Bereicherung als allgemeinen Rechtsgrundsatz an: „Nach den Grundsätzen, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind, hat eine Person, die einen Verlust erlitten hat, der zu einem Vermögenszuwachs bei einer anderen Person geführt hat, ohne dass ein Rechtsgrund für diese Bereiche-

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Schließlich zählt auch das Verbot des Rechtsmissbrauchs bereits zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsprivatrechts.326 Allerdings schwankt der EuGH bei der normhierarchischen Einordnung der allgemeinen Grundsätze des Unionsprivatrechts. So klang etwa in der Audiolux-Entscheidung an, dass allgemeine Rechtsgrundsätze ausnahmslos auf Ebene des Primärrechts stehen und somit als höherrangiges Recht Geltungsvorrang327 vor dem geschriebenen Sekundärrecht beanspruchen können.328 In der Rechtssache Barclays geht der Gerichtshof nun jedoch davon aus, dass die Klauselrichtlinie eine lex specialis zu den ihr zugrunde liegenden – genuin privatrechtlichen – „den Verbraucherschutz und ausgewogene Vertragsverhältnisse betreffenden Grundsätzen des Unionsrechts“ ist.329 rung besteht, im Allgemeinen gegen den Bereicherten einen Herausgabeanspruch bis zur Höhe dieses Verlustes“. 326 Eingehend Basedow, FS Stathopoulos I (2010), S. 159 ff. m. w. N. Siehe zum internationalen Unionsprivatrecht jüngst EuGH Urt. v. 21.5.2015 – Rs. C-352/13 (CDC), EU:C:2015:335 Rn. 29 ff.; v. Hein, LMK 2015, 373398. Siehe zum allgemeinen Verbot des Rechtsmissbrauchs nur EuGH Urt. v. 2.5.1996 – Rs. C-206/94 (Brennet), Slg. 1996, I2357 Rn. 24; EuGH Urt. v. 14.12.2000 – Rs. C-110/99 (Emsland-Stärke), Slg. 2000, I11569 Rn. 52 ff.; EuGH Urt. v. 29.4.2004 – verb. Rs. C-487/01 u. a. (Gemeente Leusden u. a.), Slg. 2004 I-5337 Rn. 78 sowie zuletzt – zusammenfassend – beispielsweise GA Szpunar Schlussanträge v. 20.5.2014 – Rs. C-202/13 (McCarthy), EU:C:2014:345 Rn. 108 ff. Teilweise wird auch Treu und Glauben als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts angesehen, dafür etwa GA Trstenjak Schlussanträge v. 2.6.2011 – Rs. C-118/09 (Koller), Slg. 2010, I-13627 Rn. 81 (dort in Fn. 36); Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 348 f.; Stempel, Treu und Glauben im Unionsprivatrecht (2016). In der Tat postuliert EuGH Urt. v. 3.9.2009 – Rs. C-489/07 (Messner), Slg. 2009, I-7315 Rn. 29 die Existenz von „Grundsätzen des bürgerlichen Rechts wie denen von Treu und Glauben“. Siehe zum Ganzen noch eingehend unten Kapitel 7 § 1 A II 1. 327 Das Konzept des Geltungsvorrangs besagt, dass ein höherrangiger den nachrangigen Rechtsatz seiner Geltung beraubt, statt aller Calliess / Ruffert (2016), Art. 1 AEUV Rn. 18 m. w. N. 328 Vgl. wiederum EuGH Urt. v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I9823 Rn. 63. GA Trstenjak Schlussanträge v. 30.6.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 70 verortet die Grundsätze ausnahmslos im „Primärrecht innerhalb der Normhierarchie der Gemeinschaftsrechtsordnung“. In diesem Sinne z. B. auch Tridimas, The General Principles of EU Law (2006), S. 31 ff. Dagegen aber zu Recht Basedow, AcP 210 (2010), 158, 179 f.; Metzger, RabelsZ 75 (2011), 845, 879; Basedow, ERPL 24 (2016), 331, 336 ff. 329 EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-280/13 (Barclays), EU:C:2014:279 Rn. 43 f.: „Zu den den Verbraucherschutz und ausgewogene Vertragsverhältnisse betreffenden Grundsätzen des Unionsrechts ist festzustellen, dass die Richtlinie 93/13 deren Beachtung dadurch sicherstellen soll, dass in Verbraucherverträgen missbräuchliche Klauseln als Ausdruck einer Unausgewogenheit zwischen den Vertragsparteien beseitigt werden […]. Wenn eine lex specialis wie die Richtlinie 93/13 vorhanden ist, die einen Fall wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden aus ihrem Anwendungsbereich ausschließt, können die ihr

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Gleichviel, ob man diese Grundsätze anzuerkennen bereit ist,330 will der EuGH mithilfe des lex specialis-Grundsatzes hier offenkundig einen Normenkonflikt gleichrangiger Regeln auflösen331 und verortet die hinter der Richtlinie stehenden allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts somit nicht im Primär-, sondern vielmehr im Sekundärrecht. Von hier ausgehend bedürfen die Natur und die Beziehung dieser Grundsätze zum geschriebenen Unionsprivatrecht näherer Betrachtung. Zunächst erscheint zweifelhaft, ob der vom EuGH herangezogene Satz lex specialis derogat legi generali das Verhältnis des Sekundärrechts zu den allgemeinen unionsprivatrechtlichen Grundsätzen treffend beschreibt. Denn obschon allgemeine Rechtsgrundsätze abstrakt-generell gefasst sind,332 enthalten sie doch gerade im EU-Privatrecht zuweilen konkretere und umfassendere Regelungen als die Unionsrechtsakte in diesem Bereich.333 Vor allem

zugrunde liegenden allgemeinen Grundsätze daher keine Anwendung finden“ (Herv. d. Verf.). In der Rechtssache war die Klauselrichtlinie nicht anwendbar, da nach den Vorlagefragen Normen des spanischen Vertragsrechts auf ihre Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht hin überprüft werden sollten. Auf Rechtsnormen findet die Klauselrichtlnie indes ausweislich ihres Art. 1 Abs. 2 und des Erwägungsgrundes Nr. 13 keine Anwendung. 330 Einen allgemeinen Grundsatz des Verbraucherschutzes deutete bereits EuGH Urt. v. 10.3.2005 – Rs. C-336/03 (Easycar), Slg. 2005, I-1947 Rn. 21 an: „Stehen diese Begriffe wie im Ausgangsverfahren in einer Bestimmung, die eine Ausnahme von einem allgemeinen Grundsatz oder, spezifischer, von gemeinschaftsrechtlichen Verbraucherschutzvorschriften darstellt, so sind sie außerdem eng auszulegen“ (Herv. d. Verf.). Im Schrifttum hat insbesondere Rösler, Europäisches Konsumentenvertragsrecht (2004), S. 6 und 135 f. diese Sichtweise bereits frühzeitig eingenommen: So spricht er von einem „rechtsordnungsimmanenten Schutzprinzip“ (Herv. im Original) und von einem „auf europäischer Ebene auch in den grundlegenden Dokumenten der Gemeinschaft wie dem EG-Vertrag und der Grundrechtscharta verankert[en]“ Rechtsprinzip. Dezidiert a. A. Riesenhuber, System und Prinzipien des europäischen Vertragsrechts (2003), S. 575. Zurückhaltend auch Heiderhoff, Europäisches Privatrecht (2016), S. 124, die aber im Ergebnis ebenfalls für die Herausbildung spezifischer Grundsätze des Verbraucherschutzes eintritt, welche das gesamte Verbraucherrecht durchdringen und „insbesondere als Auslegungshilfe dienen“ sollen. 331 Siehe zur Funktion des Grundsatzes lex specialis derogat legi generali als Instrument zur Auflösung eines Konfliktes gleichrangiger Regeln nur Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 77 f. 332 In diesem Sinne EuGH Urt. v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I9823 Rn. 50 und 63; GA Trstenjak Schlussanträge v. 30.6.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 84. 333 Als Beispiel mag der seinem Gegenstand nach sehr spezifische unionsprivatrechtliche Grundsatz der Nichtdiskriminierung aufgrund des Alters dienen: Dieser ist weitaus enger gefasst als die sekundärrechtlichen Diskriminierungsverbote in Art. 1 und Art. 3 Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG, vgl. zum – allerdings wohl unionsgrundrechtlich konzipierten – allgemeinen Grundsatz des Verbots der Diskrimimierung aufgrund des Alters nur EuGH Urt. v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981 Rn. 74 ff.; EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 18 ff. Anhand weiterer Beispiele hat Basedow, FS Hopt I (2010), S. 27, 42 f., für das

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dienen allgemeine unionsprivatrechtliche Grundsätze nach der Lesart der Generalanwälte des EuGH zuvörderst der Auslegung des geschriebenen Zivilrechts der Union sowie ferner der Ausfüllung unionsrechtsinterner Regelungslücken334 in Rechtsakten des EU-Privatrechts.335 Diese Funktion käme kaum zum Tragen, wenn das geschriebene Privatrecht der Union stets spezieller wäre.336 Schließlich wird vielfach angenommen, dass die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts regelmäßig erst dann normative Kraft entfalten, nachdem sie mit konfligierenden Grundsätzen abgewogen und in Ausgleich gebracht worden sind.337 In der Summe streitet dies dafür, dass es sich bei den allgemeinen Grundsätzen des Unionsprivatrechts um Rechtsprinzipien handelt: Die Funktion als Auslegungsleitlinie und Instrument zur Lückenfüllung ist für Rechtsprinzipien ebenso charakteristisch wie das Erfordernis der Abwägung mit gegenläufigen Prinzipien.338 Der Terminologie Alexys folgend, sind Prinzipien Normen, die als „Optimierungsgebote“ nur „gebieten, daß etwas in einem relativ auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten möglichst hohen Maße realisiert wird“.339 Treffen widerstreitende Rechtsprinzipien aufeinander, setzt sich daher nicht etwa ein spezifisches Prinzip automatisch durch, sondern es ist erst im Rahmen einer AbUnionsprivatrecht nachgewiesen, dass durchaus auch „sehr spezifische Fragen Gegenstand eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes sein“ können. 334 Eine unionsrechtsinterne Regelungslücke zeichnet sich dadurch aus, dass sie aus der Warte des Unionsgesetzgebers gerade durch das Unionsrechts selbst und nicht etwa durch die Bestimmungen des Privatrechts der EU-Mitgliedstaaten geschlossen werden muss, siehe nur Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft (1999), S. 605 f.; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht (2009), S. 26 f.; Neuner, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre (2015), § 12 Rn. 28 ff. 335 GA Mazák Schlussanträge v. 15.2.2007 – Rs. C-411/05 (Palacios de la Villa), Slg. 2007, I-8531 Rn. 134 ff.; GA Trstenjak Schlussanträge v. 30.6.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 68; GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C:2011:559 Rn. 93. Siehe auch Basedow, FS Hopt I (2010), S. 27, 45; Lenaerts / Gutiérrez-Fons, CMLR 47 (2010), 1629. 336 EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-280/13 (Barclays), EU:C:2014:279 Rn. 44 deutet an, dass es für den Ausschluss der Anwendung allgemeiner Grundsätze bereits ausreichen könnte, dass überhaupt „eine lex specialis wie die Richtlinie 93/13 vorhanden ist“ – mag sie auch auslegungsbedürftig oder lückenhaft sein. 337 Hartkamp, RabelsZ 75 (2011), 241, 256: „Where principles are conflicting in a private law context – as e.g. the principle of non-discrimination and the principle of freedom of contract may in some situations be – the outcome is […] dependent upon […] a weighing process which is conditioned by the circumstances of the case“. Ebenso Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 546 („Abwägungsgebote und vermutlich verbindliche Sätze“); ders., RabelsZ 75 (2011), 845, 879. 338 Siehe im Kontext des Unionsprivatrechts eingehend Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 14 ff., 389 ff., 395 ff., 545 f.; ders., RabelsZ 75 (2011), 845, 879. 339 Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 71 f. sowie 75 und 87 f.

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wägung zu ermitteln, welchem Rechtsprinzip mehr Gewicht zukommt.340 Anders verhält es sich, wenn Prinzipien mit geschriebenen Regeln zusammentreffen: Hier gebührt Letzteren im Konfliktfall grundsätzlich Vorrang.341 Versteht man die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts vor diesem Hintergrund als Prinzipien, so lässt sich das vom EuGH in der Rechtssache Barclays postulierte Vorrangverhältnis des geschriebenen Sekundärrechts ebenso wie die Funktion der Grundsätze bei der Auslegung und Lückenfüllung jeweils in befriedigender Weise erklären: Zunächst treten die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts gewöhnlich hinter den Regeln des geschriebenen Privatrechts zurück.342 Dieser Vorrang reicht aber nur so weit, wie das geschriebene Recht tatsächlich eine eindeutige Regelung trifft. Der Rückgriff auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts bleibt möglich, wo z. B. in europäischen Richtlinien oder Verordnungen eine Lücke oder zumindest Auslegungsbedarf besteht.343 Vor diesem Hintergrund erfüllen die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts eine Ergänzungs- und Reservefunktion. Beim Rückgriff auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts sind damit zwei Methoden des Unionrechts miteinander verschränkt: Zum einen verlangt das Unionsprivatrecht bei Unklarheiten oder Lücken dass seine Rechtssätze in einer Weise interpretiert oder ergänzt werden, die mit den diese Materie beherrschenden Grundsätzen konform geht. Somit liegt ein Fall der „unionsprivatrechtskonformen“ Auslegung vor. In der Tat legt die Rechtsprechungspraxis des EuGH344 ein umfassendes Verständnis der unionsrechtskonformen Auslegung dahingehend nahe, dass ihr Referenzpunkt sowohl ein Rechtssatz des Primär- oder Sekundärrechts als auch ein allgemeiner

Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 78 f. Siehe – auch zu möglichen Ausnahmen – wiederum nur Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 76 und 121, der unter Regeln „Festsetzungen im Raum des tatsächlich und rechtlich Möglichen“ versteht, wobei eine Regel – anders als das nur auf Optimierung zielende Prinzip – stets gebiete, „genau das zu tun, was sie verlangt“ (Herv. im Original). 342 Vgl. mit Blick auf allgemeine Grundsätze des Unionsrechts auch Basedow, FS Hopt I (2010), S. 27, 43: „[D]och haben diese Grundsätze ersichtlich keinen Vorrang vor dem sekundären Gemeinschaftsrecht, sondern nur Nachrang; sie sind subsidiär“. 343 Z. B. GA Mazák Schlussanträge v. 15.2.2007 – Rs. C-411/05 (Palacios de la Villa), Slg. 2007, I-8531 Rn. 134 ff.; GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C:2011:559 Rn. 93. Siehe auch Basedow, FS Hopt I (2010), S. 27, 45. 344 Vgl. nur EuGH Urt. v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-403/01 u. a. (Pfeiffer u. a.), Slg. 2004, I-8835 Rn. 114 (richtlinienkonforme als Unterfall der unionsrechtskonformen Auslegung); EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 48, 49 und 50; EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 (Test-Achats), Slg. 2011, I-773 Rn. 28 und 32 (richtlinien- und unionsgrundrechtskonforme Auslegung im Lichte des Diskriminierungsverbots); EuGH Urt. v. 11.11.2015 – Rs. C-505/14 (Klausner), EU:C:2015:742 Rn. 32 (einheitliche Grenze der unionsrechtskonformen Auslegung). 340 341

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Grundsatz des Unionsrechts sein kann.345 Weil die allgemeinen privatrechtlichen Rechtsgrundsätze Bestandteil der Unionsrechtsordnung – und namentlich des EU-Privatrechts als einem ihrer Teilbereiche – sind, bezeichnet die vorliegende Abhandlung den Rekurs auf diese Rechtsgrundsätze als Unterfall der unionsrechtskonformen Auslegung und Rechtsanwendung. Werden die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts auf diese Weise fruchtbar gemacht, so steht zum anderen stets die Frage nach dem Telos des konkreten Unionsprivatrechtsakts im Raum: Die Auslegung und Lückenfüllung im Lichte unionsprivatrechtlicher Rechtsprinzipien setzt nämlich voraus, dass der vorwiegend hinter der jeweiligen Regelung stehende allgemeine Rechtsgrundsatz identifiziert wird. Kommen mehrere konfligierende Rechtsgrundsätze in Betracht, sind diese gegeneinander abzuwägen.346 Dies führt zwangsläufig zum konkreten Zweck der Regelung. Methodisch wirken die als Rechtsprinzipien verstandenen allgemeinen Rechtsgrundsätze daher zugleich im Wege einer – prinzipiengeleiteten – teleologischen Auslegung sowie gegebenenfalls einer teleologischen Rechtsfortbildung347 in das EU-Privatrecht und in das unionsrechtlich determinierte Zivilrecht der Mitgliedstaaten hinein.348 2. Allgemeine Grundsätze i.S.d. Art. 6 Abs. 3 EUV Bereits in der Rechtssache Stauder hat der EuGH ungeschriebene „Grundrechte der Person“ aus „allgemeinen Grundsätzen“ abgeleitet.349 Gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV sind die aus der EMRK sowie „aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten“ folgenden Grundrechte „als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts“.350 Diese ungeschriebenen 345 In diesem Sinne auch W.-H. Roth, EWS 2005, 385, 386; T. Möllers, GS Wolf (2011), S. 669, 670; W.-H. Roth / Jopen, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre (2015), § 13 Rn. 9 f. 346 Siehe nur Hartkamp, RabelsZ 75 (2011), 241, 256; Metzger, RabelsZ 75 (2011), 845, 879 sowie eingehend unten § 3 A III 2. Vgl. erneut auch EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-280/13 (Barclays), EU:C:2014:279 Rn. 43. 347 Statt vieler Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht (2009), S. 26 f. 348 Riesenhuber, in: ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre (2015), § 10 Rn. 42 hebt dabei zu Recht hervor, dass dabei die hinter unionalen Rechtsakten stehenden Rechtsprinzipien bzw. „Schutzrichtungen“ wie z. B. der „Verbraucherschutz“ zu unspezifisch sind und daher stets eine Ausdifferenzierung der konkreten Inhalte erforderlich ist. Anders gewendet müssen also die im jeweiligen Einzelfall betroffenen Facetten der – notwendig abstrakt gehaltenen – Rechtsprinzipien identifiziert werden. 349 EuGH Urt. v. 12.11.1969 – Rs. 29/69 (Stauder), Slg.1969, 419 Rn. 7. Siehe ferner nur EuGH Urt. v. 13.12.1979 – Rs. 44/79 (Hauer), Slg. 1979, 3727 Rn. 15. 350 Diese Normgruppe wird auch in der Auslegungsregel des Art. 52 Abs. 4 GRCh insoweit angesprochen, als sich die in der GRCh enthaltenen Unionsgrundrechte einerseits und die Grundrechte im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV andererseits decken: „Soweit in dieser Charta Grundrechte anerkannt werden, wie sie sich aus den gemeinsamen Verfas-

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Unionsgrundrechte stehen normhierarchisch auf Ebene des Primärrechts.351 Teilweise wird zwar angenommen, dass seit Inkrafttreten der GRCh Art. 6 Abs. 3 EUV als „Notnagel prätorischer Rechtsfortbildung eigentlich nicht mehr benötigt“ werde.352 Dem ist schon deshalb zu widersprechen, weil die Grundrechte der GRCh lückenhaft sind 353 und sie ausweislich des Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 EUV zudem auf gleicher Stufe mit den RechtsgrundsatzGrundrechten stehen.354 Sowohl die Generalanwälte als auch der EuGH gehen vor diesem Hintergrund davon aus, dass die ungeschriebenen Unionsgrundrechte jedenfalls insoweit neben die Charta-Grundrechte treten, als die GRCh keine spezielleren oder abschließenden Regelungen enthält.355 Hier können sungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, werden sie im Einklang mit diesen Überlieferungen ausgelegt“. Siehe dazu nur Meyer / Borowsky (2014), Art. 52 GRCh Rn. 44 ff. Darüber hinaus kennt die GRCh auch noch eine weitere Kategorie von Grundsätzen: Namentlich unterscheidet Art. 52 GRCh „Rechte“ auf der einen und „Grundsätze“ auf der anderen Seite. In Art. 52 Abs. 5 GRCh wird sodann nahegelegt, dass der Grad der Verbindlichkeit solcher Grundsätze hinter dem der Rechte zurückbleibt: „Die Bestimmungen dieser Charta, in denen Grundsätze festgelegt sind, können durch Akte der Gesetzgebung und der Ausführung der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union sowie durch Akte der Mitgliedstaaten zur Durchführung des Rechts der Union in Ausübung ihrer jeweiligen Zuständigkeiten umgesetzt werden. Sie können vor Gericht nur bei der Auslegung dieser Akte und bei Entscheidungen über deren Rechtmäßigkeit herangezogen werden“ (Herv. d. Verf.). 351 In diesem Sinne z. B. GA Mazák Schlussanträge v. 15.2.2007 – Rs. C-411/05 (Palacios de la Villa), Slg. 2007, I-8531 Rn. 136 („Teil des primären Gemeinschaftsrechts“); GA Trstenjak Schlussanträge v. 30.6.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 70 („Rang als Primärrecht“). Siehe statt vieler S. Martens, Methodenlehre des Unionsrechts (2013), S. 157 ff.; Jarass (2016), Einl. GRCh Rn. 27. Vgl. zu den Grundrechten der GRCh auch Art. 6 Abs. 1 EUV. 352 Calliess / Ruffert / Kingreen (2016), Art. 6 EUV Rn. 18. Gleichsinnig Oliver, in: Bernitz / Groussot / Schulyko (eds.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), S. 281, 283 ff. 353 Siehe mit Blick auf die Gewährleistung der Vertragsfreiheit erneut oben § 1 A II. Siehe im Übrigen nur GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C:2011:559 Rn. 127; Jarass (2016), Einl. GRCh Rn. 30. 354 GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C:2011:559 Rn 127. 355 Der EuGH greift entsprechend auch nach Inkrafttreten der GRCh auf Art. 6 Abs. 3 EUV und die dort angesprochenen allgemeinen Grundsätze zurück, siehe z. B. EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 21 ff.; EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 (Test-Achats), Slg. 2011, I-773 Rn. 15 ff.; EuGH Urt. v. 24.4.2012 – Rs. C-571/10 (Kamberaj), EU:C:2012:233 Rn. 60 f. Vgl. zudem nur EuG Urt. v. 20.9.2011 – Rs. T-232/10 (Couture Tech), Slg. 2011, II-6469 Rn. 68; EuGH Urt. v. 29.9.2011 – Rs. C-521/09 P (Elf Aquitaine), Slg. 2011, I-8947 Rn. 112; EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 44. Auch GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 14.4.2011 – Rs. C-70/10 (Scarlet Extended), Slg. 2011, I-11959 Rn. 30 stellt heraus, dass „ein Rückgriff auf die […] allgemeinen Grundsätze” des Unionsrecht

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und müssen die allgemeinen Grundsätze im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV eine Auffangfunktion übernehmen, um Inkohärenzen und Schutzdefizite im System der Unionsgrundrechte zu verhindern. Angesichts der primärrechtlichen Natur der allgemeinen Rechtsgrundsätze nach Art. 6 Abs. 3 EUV ist das Unionsprivatrecht an diesen ungeschriebenen Unionsgrundrechten zu messen. Soweit eine unionsprivatrechtliche Regelung eine nicht zu rechtfertigende Verkürzung der Unionsgrundrechte enthält, beanspruchen die allgemeinen Grundsätze nach Art. 6 Abs. 3 EUV – ebenso wie auch die geschriebenen Unionsgrundrechte der GRCh – Geltungsvorrang und führen zur Unwirksamkeit der entgegenstehenden sekundärrechtlichen Regelung.356 Im Verhältnis zum nationalen Recht der Mitgliedstaaten, das eine Richtlinienvorgabe umsetzt und daher in den Anwendungsbereich des Unionsrechts gelangt, entfalten die ungeschriebenen Unionsgrundrechte dagegen im Konfliktfall nur Anwendungsvorrang.357 Aufgrund ihrer primärnur insoweit nicht mehr erforderlich sei, als „diese mit den in der Charta niedergelegten übereinstimmen“. Noch weiter geht GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C282/10 (Dominguez), EU:C:2011:559 Rn 131, wenn sie meint, es sei „nicht auszuschließen, dass die aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen abgeleiteten und sich weiterentwickelnden Grundrechte einen umfangreicheren Schutz als die Grundrechte der Charta gewähren“. Ebenso wohl auch GA Sharpston Schlussanträge v. 18.10.2012 – Rs. C-396/11 (Radu), EU:C:2012:648 Rn. 45 ff.: „Meines Erachtens stellt Art. 6 Abs. 1 und 3 EUV lediglich eine […] „Kodifizierung“ der früher bestehenden Rechtslage dar […]. Sie stellt keinerlei grundsätzlichen Wandel dar“. Für eine umfassendes Nebeneinander von GRCh und allgemeinen Grundsätzen plädieren z. B. Mayer, Int. J. Const L. 11 (2013), 1003, 1007, Hofman /  Mihaescu, EuConst 9 (2013) 73, 77 ff. 356 So hat EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 (Test-Achats), Slg. 2011, I-773 Rn. 16 ff. und 32 f. eine sekundärrechtliche Regelung wegen Verstoßes gegen Art. 21, 23 GRCh für unwirksam erklärt: „Die Bestimmung ist […] als ungültig anzusehen“. Allerdings hat der Gerichtshof in dieser Entscheidung eine Übergangsfrist im Urteil bestimmt. Vgl. zur Wirkung der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV auch EuGH Urt. v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 63; GA Trstenjak Schlussanträge v. 30.6.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 70. 357 Der Anwendungsvorrang besagt, dass „die Verträge und das von der Union auf der Grundlage der Verträge gesetzte Recht […] Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten“ haben, siehe Anhang zur konsolidierten Fassung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union: Erklärungen zur Schlussakte der Regierungskonferenz (17. Erklärung zum Vorrang), ABl. 2008 C 115/344 sowie grundlegend EuGH Urt. v. 15.7.1964 – Rs. 6/64 (Costa / ENEL), Slg. 1964, 1259, 1270. Vgl. zur Wirkung der Unionsgrundrechte im Kontext des Unionsprivatrechts nur EuGH Urt. v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981 Rn. 74 ff. sowie insbesondere 78. Sodann begründet auch EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 19 ff. und insbesondere 27 sowie 50 f. die Verpflichtung nationaler Gerichte, das nationale Recht unangewendet zu lassen, nicht nur unter Verweis auf die sekundärrechtlichen Vorgaben, sondern nimmt ausdrücklich auf den allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts Bezug: „Daraus folgt, dass die Frage, ob das Unionsrecht einer nationalen Regelung wie der im Ausgangs-

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rechtlichen Natur wirken die allgemeinen Grundsätze im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV somit auf andere Weise auf das Privatrecht ein als die allgemeinen Grundsätze des Unionsprivatrechts. Darüber hinaus sind die Grundsätze nach Art. 6 Abs. 3 EUV nicht nur bei Lücken oder Unklarheiten in Rechtsakten des EU-Privatrechts heranzuziehen: Vielmehr ist im Wege der unionsgrundrechtskonformen Auslegung stets sicher zu stellen, dass das Privatrecht der EU im Einklang mit den Unionsgrundrechten interpretiert und angewendet wird.358 II. Induktive Gewinnung allgemeiner Rechtsgrundsätze Wenngleich keine durchgehend einheitliche Methode zur Gewinnung allgemeiner Rechtsgrundsätze in der Rechtsprechung des EuGH feststellbar ist, lassen sich doch drei wesentliche Elemente identifizieren, derer sich der Gerichtshof bei der Ermittlung von Rechtsgrundsätzen des Unionsrechts bedient: Im Zentrum steht ein Induktionsschluss (1), der sowohl auf unionsrechtsimmanente Quellen (2) als auch auf rechtsvergleichend und durch die Heranziehung völkervertraglicher Abkommen (3) gewonnene Erkenntnisse gestützt werden kann. Bestätigt wird diese Lesart nicht zuletzt durch Art. 6 Abs. 3 EUV, der mit Blick auf die – induktive – Ermittlung ungeschriebener Unionsgrundrechte ausdrücklich die Berücksichtigung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen und der EMRK verlangt. 1. Zweistufiges Begründungsverfahren Die allgemeinen Grundsätze im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV ebenso wie die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts sind im Wege einer induktiven Verallgemeinerung zu ermitteln: Dabei wird von speziellen Rechtsregeln auf den dahinterstehenden allgemeinen Rechtsgrundsatz geschlossen.359 Im Anschluss an Basedow baut diese Abhandlung bei der Gewinnung allgemeiner Rechtsgrundsätze des Unionsrechts auf ein zweistufiges verfahren fraglichen entgegensteht, auf der Grundlage des jede Diskriminierung wegen des Alters verbietenden allgemeinen Grundsatzes des Unionsrechts, wie er in der Richtlinie 2000/78 konkretisiert ist, zu prüfen ist […]. Es obliegt daher dem nationalen Gericht […], die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten, indem es erforderlichenfalls jede diesem Verbot entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet lässt “ (Herv. d. Verf.). 358 Siehe zur unionsgrundrechtskonformen Auslegung als Form der Privatrechtswirkung der Unionsgrundrechte im Privatrecht noch eingehend unten Kapitel 3 § 1 A III 2. Vgl. zudem nur EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 (Test-Achats), Slg. 2011, I-773 Rn. 16 ff.; EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 30 ff. 359 Siehe mit Blick auf allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 37 ff.; Basedow, FS Hopt I (2010), S. 27, 33 ff.

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Begründungsverfahren: Auf der ersten Stufe wird das empirische Fundament für den Induktionsschluss gelegt.360 Dies erfolgt durch eine Zusammenschau all jener Regelungen des Unionsrechts, des nationalen Rechts der EUMitgliedstaaten und des Völkerrechts, die als spezifischer Ausdruck des zu ermittelnden allgemeinen Rechtsgrundsatzes in Betracht kommen.361 Auf zweiter Stufe ist sodann zu prüfen, ob die empirische Basis einen Induktionsschluss dahingehend rechtfertigt, dass in der Unionsrechtsordnung ein allgemeiner Grundsatz entsprechenden Inhalts besteht.362 2. Unionsrechtsimmanente Betrachtung Den Eckstein des empirischen Fundaments zur induktiven Gewinnung allgemeiner unionsrechtlicher Grundsätze bildet eine Bestandsaufnahme in der Rechtsordnung der EU.363 Nach der Rechtsprechung des EuGH ist jedoch zu beachten, dass die Existenz nur bereichsspezifischer Vorschriften „für sich genommen noch nicht für den Nachweis der Existenz eines allgemeinen Grundsatzes des Gemeinschaftsrechts genügt, insbesondere wenn ihr Anwendungsbereich auf sehr genau festgelegte und bestimmte Rechte beschränkt ist“.364

Während speziellen und eher vereinzelten Regelungen damit allenfalls Indizwirkung zukommt, liegt die Annahme eines allgemeinen Grundsatzes des Unionsrechts umso näher, je umfassender ein bestimmter Grundsatz in unterschiedlichen Materien nachweisbar ist.365 Regelmäßig ist daher zwar zu fordern, dass ein Rechtsgrundsatz „mehrere Verankerungen im positiven Recht gefunden hat und auf diese Weise seine grundlegende Bedeutung erkennen

360 Basedow, FS Hopt I (2010), S. 27, 41 und 44; ders., ERPL 24 (2016), 331, 346. In diese Richtung weist auch die „prozedurale Theorie“ von Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 545 f. 361 Basedow, FS Hopt I (2010), S. 27, 41; ders., ERPL 24 (2016), 331, 346. Siehe auch Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 379 ff. und insbesondere 384. 362 Basedow, FS Hopt I (2010), S. 27, 41 bezeichnet dies als „argumentative Phase, in der der Induktionsschluss von den besonderen Regeln auf den Bestand eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes gerechtfertigt wird“. 363 Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 380 spricht auch von „durch Gesamtanalogie aus mehreren Vorschriften des acquis communautaire gewonnenen Rechtsprinzipien“. 364 EuGH Urt. v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 34. 365 EuGH Urt. v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 34 und 42 betont insoweit den „allgemeine[n] übergreifende[n] Charakter, der […] allgemeinen Rechtsgrundsätzen naturgemäß innewohnt“. Auch laut Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 383 ist der „Grad an insitutioneller Verkörperung eines Prinzips im positiven Recht […] entscheidend für seine Überzeugungskraft“.

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lässt“.366 Zugleich ist die Ermittlung wie auch die Überzeugungskraft von Rechtsgrundsätzen des Unionsrechts keineswegs an feste Kennziffern gebunden: Da es um allgemeine Grundsätze geht, muss weniger nach einer Mindestanzahl positiv-rechtlicher Verbürgungen als vielmehr nach der Weite ihres Anwendungsbereichs und damit nach der Verbreitung des dahinterstehenden Prinzips gefragt werden.367 Selbst wenn das empirische Fundament für den Induktionsschluss nur aus wenigen Vorschrifen besteht, kann diese Grundlage bereits ausreichen, sofern die betreffenden Regelungen einen ausgedehnten, rechtsgebietsübergreifenden Anwendungsbereich beanspruchen.368 Nach der Lesart des EuGH können allerdings nur solche Vorschriften den Induktionsschluss stützen, die den ihnen zugrunde liegenden allgemeinen Rechtsgrundsatz und seinen Inhalt unzweideutig erkennen lassen.369 3. Rechtsvergleichung und Völkerrecht Als Fundament der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts können darüber hinaus Regelungen der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen sowie des Völkerrechts dienen.370 Dies gilt sowohl für die Ermittlung unionsprivatrechtlicher Grundsätze als auch für die Unionsgrundrechte im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV. Bei Letzteren kommt der EMRK als völkervertraglichem Übereinkommen besondere Bedeutung zu: Gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV sind nämlich 366 Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 384. Vgl. auch GA Trstenjak Schlussanträge v. 30.6.2009 – Rs. C101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 94. 367 Vgl. wiederum EuGH Urt. v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I9823 Rn. 34. Vgl. auch GA Trstenjak Schlussanträge v. 30.6.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 69; GA Mazák Schlussanträge v. 20.7.2008 – Rs. C-47/07 P (Masdar), Slg. 2008, I-9761 Rn. 45. Somit stellt auch Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 60, zu Recht heraus, dass die Existenz eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes nicht allein „von einer möglichst hohen Zahl von Rechtsregeln ab[hängt], welche den Grundsatz stützen“. 368 Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 384. 369 EuGH Urt. v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 34 („zwingend formuliert“). Vgl. bereits EuGH Urt. v. 12.7.2001 – Rs. C-189/01 (Jippes), Slg. 2001, I-5689 Rn. 74. 370 Siehe schon EuGH Urt. v. 13.7.1989 – Rs. 5/88 (Wachauf), Slg. 1989, 2609 Rn. 17: „Nach ständiger Rechtsprechung […] gehören die Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die der Gerichtshof zu wahren hat. Bei der Gewährleistung dieser Rechte hat der Gerichtshof von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten auszugehen […]. Auch die völkerrechtlichen Verträge über den Schutz der Menschenrechte […] können Hinweise geben, die im Rahmen des Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen sind“. Ebenso auch z. B. EuGH Urt. v. 18.6.1991 – Rs. C-260/89 (ERT), Slg. 1991, I-2925 Rn. 42; EuGH Urt. v. 18.12.1997 – Rs. C-309/96 (Annibaldi), Slg. 1997, I-7493 Rn. 12.

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„[d]ie Grundrechte, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, […] als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts“.

Zugleich verpflichtet Art. 6 Abs. 3 EUV zur Verfassungsrechtsvergleichung, wobei allerdings ein von nationalen Konzeptionen entkoppeltes, unionsrechtlich-autonomes Verfassungsverständnis maßgeblich ist: Schon weil die EU selbst beim derzeitigen Stand der Rechtsentwicklung nicht über ein klassisches Verfassungsdokument verfügt,371 spricht vieles dafür, dass auch bei Art. 6 Abs. 3 EUV kein formales Verständnis der Verfassung angelegt werden darf. Die Bezugnahme auf die Verfassungsüberlieferungen ist zudem auch nach dem Sinn und Zweck des Art. 6 Abs. 3 EUV weit zu verstehen, da nur auf diese Weise überhaupt die Rechtsordnungen aller Mitgliedstaaten – und damit auch solche ohne Verfassung im kontinental-europäischen Sinne – in die Betrachtungen einbezogen werden können. Diese Lesart findet eine Stütze in den Ausführungen der Generalanwältin Trstenjak, die in ihren Schlussanträgen in der Rechtssache Dominguez mit Blick auf die Ermittlung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes des Unionsrechts herausstellt: „Unschädlich ist dabei, dass nicht alle Mitgliedstaaten ihm Verfassungsrang innerhalb ihrer Rechtsordnungen einräumen, denn jedenfalls wird er als ein Kernbestandteil des nationalen Rechts angesehen“.372

Art. 6 Abs. 3 EUV verlangt somit eine wertende Rechtsvergleichung durch den EuGH,373 bei der weder „die Methode des kleinsten gemeinsamen Nenners“ angewendet wird noch überhaupt gefordert wird, dass die „Rechtsgrundsätze in ihrer konkreten Ausformulierung auf Gemeinschaftsebene immer in allen verglichenen Rechtsordnungen gleichzeitig vorkommen“.374 Die im Zuge der rechtsvergleichenden Bestandsaufnahme wie auch die durch die Analyse des Völkerrechts identifizierten Regeln sind demnach keine verbindlichen „Rechtsquellen, sondern […] Rechtserkenntnisquellen“, mit deren Hilfe eigenständige allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts identifi-

Basedow, FS Hopt I (2010), S. 27, 41. GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C:2011:559 Rn 112 (Herv. d. Verf.). 373 Statt vieler Schwarze / Hatje (2012), Art. 6 EUV Rn. 18 m. w. N. 374 GA Trstenjak Schlussanträge v. 30.6.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I9823 Rn. 69. Auch GA Mazák Schlussanträge v. 20.7.2008 – Rs. C-47/07 P (Masdar), Slg. 2008, I-9761 Rn. 45 wendet sich dagegen „dass die von den Gemeinschaftsgerichten angewandten Grundsätze der außervertraglichen Haftung den Grundsätzen, die in den Rechtsordnungen sämtlicher Mitgliedstaaten vorhanden sind, genau entsprechen müssen – oder können – oder dass sie in gewisser Weise „automatisch“ als gemeinsame Nenner aus den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten abgeleitet werden können“. 371 372

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ziert werden können.375 Dies eröffnet denkbar weite Spielräume, wie insbesondere die Rechtssache Mangold verdeutlicht: Der dort postulierte allgemeine Rechtsgrundsatz des Verbots der Diskriminierung aufgrund des Alters ist – abgesehen von der finnischen Verfassung – kaum einer Rechtsordnung der EU-Mitgliedstaaten in dieser Form bekannt.376 Sieht man von dieser Ausnahme ab, so fordert der Gerichtshof in seiner bisherigen Spruchpraxis in der Regel zumindest eine gewisse Konvergenz der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen.377 Jedenfalls sobald ein Grundsatz in der „Verfassungsüberlieferung“ einer überwiegenden Mehrheit der Mitgliedstaaten enthalten ist, liegt die Existenz eines entsprechenden allgemeinen Grundsatzes des Unionsrechts durchaus nahe.378 Sowohl bei der Identifikation allgemeiner privatrechtlicher Grundsätze als auch bei der Ermittlung der Grundsätze im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV muss das rechtsvergleichend gelegte empirische Fundament demnach kein monolithischer Block sein, um einen Induktionsschluss tragen zu können. Erforderlich und zugleich ausreichend sind vielmehr „grundlegendend[e] Rechtsgedanken und Wertvorstellungen, die einer Rechtsordnung eigen sind“, sofern diese einen „allgemeinen übergreifenden Charakter“ haben.379 III. Zwischenfazit Die Unionsrechtsordnung enthält allgemeine Rechtsgrundsätze verschiedener Abstraktionsgrade, die unterschiedliche Funktionen erfüllen und auf verschiedenen normhierarchischen Stufen angesiedelt sind.380 Für die Zwecke 375 Streinz / ders. (2012), Art. 6 AEUV Rn. 25. Ebenso Jarass (2016), Einl. Rn. 29. Tridimas, The General Principles of EU Law (2006), S. 6 formuliert treffend, die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts seien zwar häufig „children of national law but as brought up by the Court, they become enfants terribles: they are extended, narrowed, restated, transformed by a creative and eclectic judicial process“ (Herv. im Original). 376 Anklänge finden sich allenfalls noch in der spanischen Verfassung, dazu statt vieler GA Mazák Schlussanträge v. 15.2.2007 – Rs. C-411/05 (Palacios de la Villa), Slg. 2007, I8531 Rn. 88; Mayer, Int. J. Const. L. 11 (2013), 1003, 1008. Tridimas, The General Principles of EU Law (2006), S. 6 meint gar, der EuGH könne auch einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts anerkennen, ohne dass dieser Grundsatz überhaupt nur in einer einzigen mitgliedstaatlichen Rechtsordnung bekannt ist. 377 EuGH Urt. v. 28.3.2000 – Rs. 7/98 (Krombach), Slg. 2000, I-1935 Rn. 25 verlangt zumindest „Hinweise“ in den jeweiligen Rechtsordnungen. 378 GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C:2011:559 Rn 111 (dort in Fn. 115); Lenaerts / Gutiérrez-Fons, CMLR 47 (2010), 1629, 1633. 379 So schon Basedow, FS Hopt I (2010), S. 27, 41 unter Bezugnahme auf GA Trstenjak Schlussanträge v. 30.6.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn 87 sowie 84. 380 Schon ausweislich des Wortlauts des Art. 6 Abs. 3 EUV „sind […] allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts“, ohne dass es irgendwelcher konstitutiver Zwischenschritte bedürfte. Keine Zustimmung verdient daher Starke, EU-Grundrechte und Vertrags-

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dieser Untersuchung werden zwei Kategorien allgemeiner Rechtsgrundsätze aufgrund ihrer besonderen Privatrechtsrelevanz in den Blick genommen: Auf der einen Seite stehen allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts. Hierbei handelt es sich um Rechtsprinzipien, die regelmäßig der Abwägung mit gegenläufigen Prinzipien bedürfen. Im Anschluss an die in der französischen Rechtswissenschaft verbreitete Aufgliederung381 hat Metzger drei wesentliche Funktionen solcher allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts identifiziert: Sie dienen der Gesetzesauslegung (secundum legem), der Gesetzesergänzung (praeter legem) und in besonderen Ausnahmefällen auch der Gesetzeskorrektur (contra legem).382 Auf der anderen Seite existieren ungeschriebene Unionsgrundrechte in Gestalt allgemeiner Grundsätze gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV, die primärrechtlichen Rang haben. Im Einzelfall können allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts freilich mit den allgemeinen Grundsätzen gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV oder auch mit geschriebenen Unionsgrundrechten zusammenfallen.383 recht (2016), S. 262 f., soweit er meint, die Frage, ob die Vertragsfreiheit ein allgemeinem Rechtsgrundsatz des EU-Rechts sei, führe in eine Sackgasse, weil allgemeine Rechtsgrundsätze nur das Produkt von „in Urteile gegeossene[n] Schaffensakten“ des EuGH seien. Wie Art. 6 Abs. 3 EUV verdeutlicht, werden allgemeinen Rechtsgrundsätze nicht erst im Wege der richterrechtlichen Rechtsfortbildung geschaffen, sondern durch den EuGH allenfalls als Teil der Unionsrechtsordnung identifiziert. Wie hier mit Blick auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts auch Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 107 („nicht Teil des Richterrechts“, sondern „geltendes Recht“). 381 Vgl. nur Terré, Introduction générale au droit (2009), S. 279 f. m. w. N. 382 Metzger, Extra legem, intra ius – Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 179 ff., 183 ff., 185 ff. sowie zusammenfassend S. 553. Ebenso nun auch Hartkamp, RabelsZ 75 (2011), 241, 242; Hesselink, in: Leczykiewicz / Weatherill (eds.), The Involvement of EU Law in Private Law Relationships (2013), S. 131, 149; S. Martens, Methodenlehre des Unionsrechts (2013), S. 155 ff. 383 Ein Beispiel hierfür ist wiederum das Verbot der Diskrimimierung aufgrund des Alters: Dieses durch EuGH Urt. v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981 Rn. 74 ff. zunächst als allgemeiner Grundsatz im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV bezeichnete Verbot ist beim derzeitigen Stand der Rechtsentwicklung sowohl ein Unionsgrundrecht nach Art. 21 GRCh als auch ein allgemeiner Grundsatz des Unionsprivatrechts im Sinne eines Prinzips, welches mit anderen Prinzipien abgewogen und in Ausgleich gebracht werden muss, in diese Richtung z. B. Basedow, ZEuP 2008, 230, 244; Metzger, RabelsZ 75 (2011), 845, 879 f. Ein weiterer doppelköpfiger allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts ist der „Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub“: Dieser ist zunächst als Rechtsprinzip bei der Auslegung und Lückenfüllung des unionalen Sekundärrechts zu berücksichtigen, vgl. nur EuGH Urt. v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C:2012:33 Rn. 16, m. w. N. aus der ständigen Rechtsprechung. Dem steht laut EuGH Urt. v. 22.5.2014 – Rs. C-539/12 (Lock), EU:C:2014:351 Rn. 14 gerade nicht entgegen, dass dieser Grundsatz zusätzlich („im Übrigen“) auch „in Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausdrücklich verankert [ist], der in Art. 6 Abs. 1 EUV derselbe rechtliche Rang wie den Verträgen zuerkannt wird“.

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Die allgemeinen Grundsätze des Unionsprivatrechts ebenso wie die Grundsätze im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV sind im Rahmen eines zweistufigen Verfahrens zu identifizieren: Zunächst muss die empirische Basis für den Induktionsschluss ermittelt werden, indem diejenigen Regelungen des Unionsrechts, des nationalen Rechts der EU-Mitgliedstaaten und des Völkerrechts in den Blick genommen werden, die als spezifischer Ausdruck des zu ermittelnden allgemeinen Rechtsgrundsatzes in Betracht kommen. Sodann ist zu prüfen, ob diese Grundlage einen Induktionsschluss dahingehend rechtfertigt, dass in der Unionsrechtsordnung ein allgemeiner Grundsatz entsprechenden Inhalts besteht. Dabei sind folgende Anforderungen an einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts zu stellen: Erstens muss der Grundsatz jeweils zum „Kernbestandteil“ der supranationalen und mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen sowie des Völkerrechts zählen.384 Zweitens muss der Grundsatz „allgemeine Geltung“385 beanspruchen und darf daher regelmäßig nicht nur auf einen isolierten Rechtsbereich beschränkt sein. Drittens muss der Rechtsgrundsatz auch ein „Mindestmaß an normativer Bestimmtheit“ aufweisen.386 B. Unionsrechtsimmanente, völkerrechtliche und rechtsvergleichende Bestandsaufnahme Durch eine Bestandsaufnahme im Unionsrecht (I) sowie in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen (II) und im Völkerrecht (III) wird im Folgenden zunächst das erforderliche empirische Fundament gelegt, bevor sodann ein allgemeiner unionsgrund- und unionsprivatrechtlicher Grundsatz der Vertragsfreiheit induktiv begründet werden kann. I.

Unionsrechtsimmanente Betrachtung

1. Unionsprivatrecht Wie bereits ausgeführt, anerkennt das Unionsrecht die Vertragsfreiheit in sieben Facetten sowohl ausdrücklich als auch implizit durch die vielfaltigen Beschränkungen dieser Freiheit.387 Das Spektrum der Materien, in denen der Unionsgesetzgeber und der EuGH einen „Grundsatz der Vertragsfreiheit“ postulieren, reicht dabei vom Verbraucher- über das Finanzdienstleistungs-

384 Vgl. GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C: 2011:559 Rn. 112. 385 GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C: 2011:559 Rn. 112. 386 Vgl. GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C: 2011:559 Rn. 112. 387 Siehe bereits ausführlich oben § 1 B I und II.

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Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

bis hin zum Wirtschaftsvertragsrecht.388 Darüber hinaus erheben auch rechtsgebietsübergreifende Rechtsakte, wie etwa das EU-Antidiskriminierungsrecht, die Vertragsfreiheit zur Regel.389 Erkennt man überdies die Parteiautonomie als Facette der unionalen Vertragsfreiheit an,390 so finden sich gerade in der Judikatur des Gerichtshofs weitere Hinweise auf die Omnipräsenz und den übergreifenden Charakter dieser Freiheit. Namentlich hat der EuGH im internationalen Zuständigkeitsrecht bereits in der Rechtsache Anterist angedeutet, dass die in Art. 17 EuGVÜ verbürgte Freiheit zum Abschluss von Gerichtsstandsvereinbarungen nur „eine Bestätigung des Grundsatzes der Parteiautonomie darstellt“ und diese Autonomie somit nur eine Ausprägung eines übergeordneten Grundsatzes des internationalen Unionsprivatrechts ist.391 Ganz in diesem Sinne begreift der Gerichtshof in seiner Unamar-Entscheidung nun auch die kollisionsrechtliche Parteiautonomie gemäß Art. 3 Rom I als Ausdruck des allgemeinen „Grundsatz[es] der Vertragsautonomie der Parteien“.392 In der Zusammenschau liefert somit bereits die unionsrechtsimmanente Betrachtung eine breite Basis für einen Induktionsschluss dahingehend, dass das Unionsprivatrecht einen allgemeinen Grundsatz der Vertragsfreiheit enthält. 2. Grundrechtliche Verbürgung Dass die Charta und insbesondere deren Art. 16 GRCh kaum die einzige unionsgrundrechtliche Verbürgung der Vertragsfreiheit in der EU-RechtsordSiehe erneut eingehend oben § 1 B I und II. Siehe wiederum nur Art. 3 Abs. 2 Unisexrichtlinie 2004/113/EG: „Für jede Person gilt der Grundsatz der Vertragsfreiheit“. 390 Vgl. erneut oben § 1 B I 7 und II 7. Siehe zur „Vertragsfreiheit der Parteien hinsichtlich der Wahl des Gerichtsstands“ erneut Erwägungsgründe Nr. 15 und 19 Brüssel Ia sowie zum umfassenden „Vorrang der Vertragsfreiheit der Parteien“ im Rahmen des Art. 25 Brüssel Ia nur GA Jääskinen Schlussanträge v. 11.12.2014 – Rs. C-353/13 (CDC), EU:C:2014:2443 Rn. 106 f. Siehe zum Grundsatz der „Vertragsautonomie“ schließlich nur EuGH Urt. v. 7.2.2013 – Rs. C-543/10 (Refcomp), EU:C:2013:62 Rn. 27 f.; EuGH Urt. v. 21.5.2015 – Rs. C-322/14 (El Majdoub), EU:C:2015:334 Rn. 26; EuGH Urt. v. 17.10.2013 – Rs. C-184/12 (Unamar), EU:C:2013:663 Rn. 49. 391 EuGH Urt. v. 24.6.1986 – Rs. 22/85 (Anterist), Slg. 1986, 1951 Rn. 14: „Da Artikel 17 des Übereinkommens eine Bestätigung des Grundsatzes der Parteiautonomie darstellt, ist sein Absatz 3 so auszulegen, dass der gemeinsame Wille der Parteien bei Abschluss des Vertrags respektiert wird“. Der EuGH sieht die Legitimation der freien Gerichtsstandswahl auch unter der Brüssel Ia weiterhin in dem allgemeinen „Grundsatz der Vertragsautonomie“, siehe nur EuGH Urt. v. 7.2.2013 – Rs. C-543/10 (Refcomp), EU:C:2013:62 Rn. 27 f.; EuGH Urt. v. 21.5.2015 – Rs. C-322/14 (El Majdoub), EU:C:2015:334 Rn. 26. 392 EuGH Urt. v. 17.10.2013 – Rs. C-184/12 (Unamar), EU:C:2013:663 Rn. 49. Ebenso sieht z. B. GA Kokott Schlussanträge v. 6.11.2014 – Rs. C-564/13 P (Planet AE/Kommission), EU:C:2014:2352 Rn. 32 f. in der Rechtswahl gerade eine Form des „privatautonomen Zugriff[s]“. 388 389

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nung enthalten, legt schon folgende Erwägung nahe: Sowohl das Vereinigte Königreich als auch Polen haben gemäß Protokoll Nr. 30 einen Vorbehalt gegen die Anwendung der GRCh eingelegt.393 Wäre die Vertragsfreiheit nur in der GRCh verbürgt, gäbe es keinerlei unionsrechtlichen Schutz der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie, soweit dieser Vorbehalt in Protokoll Nr. 30 reicht.394 Zu Recht führt Lenaerts daher mit Blick auf das Protokoll Nr. 30 allgemein aus: „General principles […] take over where the scope of application of the Charter ends“.395 In der Tat finden sich zahlreiche Anhaltspunkte dafür, dass die Vertragsfreiheit als ungeschriebenes Unionsgrundrecht im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV garantiert wird. Namentlich gehen der Gerichtshof und seine Generalanwälte davon aus, dass der „Grundsatz der Vertragsfreiheit“ in der Unionsrechtsordnung als subjektives Abwehrrecht gegen hoheitliche Interventionen verbürgt ist.396 Für die grundrechtliche Dignität und mithin für die primär393 Laut Art. 1 Abs. 1 Protokoll (Nr. 30) über die Anwendung der Charta der Grundrechte auf Polen und das Vereinigte Königreich, ABl. 2008 C 115/313, bewirkt die GRCh „keine Ausweitung der Befugnis des Gerichtshofs der Europäischen Union oder eines Gerichts Polens oder des Vereinigten Königreichs zu der Feststellung, dass die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die Verwaltungspraxis oder -maßnahmen Polens oder des Vereinigten Königreichs nicht mit den durch die Charta bekräftigten Grundrechten, Freiheiten und Grundsätzen im Einklang stehen“. 394 Der EuGH Urt.v. 21.12.2011 – verb. Rs. C-411/10 (N.S.), Slg. 2011, I-13905 Rn. 119 f. sieht in besagtem Protokoll allerdings ohnehin nur eine Auslegungsregel zu Art. 51 GRCh und gerade keinen Vorbehalt gegen die Anwendung der Charta: „Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung ergibt sich, […] dass das Protokoll (Nr. 30) nicht die Geltung der Charta für das Vereinigte Königreich oder für Polen in Frage stellt“. 395 Lenaerts / Gutiérrez-Fons, CMLR 47 (2010), 1629, 1659. Siehe auch Wollenschläger, in: Hatje / Müller-Graff (Hrsg.), EnzEuR I: Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht (2014), § 8 Rn. 97; Grabitz / Hilf / Nettesheim / Mayer (2015), Nach Art. 6 EUV Rn. 62. Zweifelnd Schwarze / Hatje (2012), Art. 51 GRCh Rn. 21. 396 Siehe z. B. EuGH Urt. v. 5.10.1999 – Rs. C-240/97 (Spanien / Kommission), Slg. 1999, I-6571 Rn. 99 (unionsrechtliche Zulässigkeit von Vertragsänderungen im Kontext von Beihilfen für die Verarbeitung von Zitrusfrüchten); EuGH Urt. v. 28.4.2009 – Rs. C518/06 (Kommission / Italien), Slg. 2009, I-3491 Rn. 66 (Kontrahierungszwang als Eingriff in die Vertragsfreiheit von Versicherern); EuGH Urt. v. 14.10.2010 – Rs. C-61/09 (Landkreis Bad Dürkheim), Slg. 2010, I-9763 Rn. 55 (unionsrechtliche Zulässigkeit einer vertraglichen Flächenüberlassung im Kontext landwirtschaftlicher Beihilfen); EuGH Urt. v. 29.6.2010 – Rs. C-441/07 P (Kommission / Alrosa), Slg. 2010, I-5949 Rn. 109 ff. (Wettbewerbsrecht als Schranke der Vertragsfreiheit im Unionsrecht); EuG Urt. v. 18.9.1992 – Rs. T-24/90 (Automec / Kommission), Slg. 1992, II-2223 Rn. 51 f. (unionsrechtliche Zulässigkeit eines Kontrahierungszwangs); EuG Urt. v. 12.12.2000 – Rs. T-128/98 (Aéroports de Paris / Kommission), Slg. 2000, II-3929 Rn. 82 f. (Vertragsfreiheit als Maßstab für Weisungen der Kommission). Siehe ferner nur GA Cosmas Schlussanträge v. 24.9.1998 – verb. Rs. C-127/96 u. a. (Hernández Vidal), Slg. 1998, I-8179 Rn. 87 (Wahrung der Vertragsfreiheit beim Betriebsübergang); GA Jacobs Schlussanträge v. 28.1.1999 – verb. Rs. C-

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rechtliche Natur dieses Grundsatzes streitet, dass der Unionsgesetzgeber die Mitgliedstaaten in einigen Rechtsakten ausdrücklich verpflichtet, die „Vertragsfreiheit gemäß dem Unionsrecht“ zugunsten Privater zu gewährleisten.397 Darüber hinaus wird die rechtsgeschäftliche Privatautonomie gerade als Rechtfertigung für die Beschränkung der Grundfreiheiten des Binnenmarktes ins Feld geführt.398 Vor allem ordnen sowohl der Gerichtshof als auch seine Generalanwälte einzelne Facetten des „Grundsatzes der Vertragsfreiheit“ explizit als grundrechtliche Garantien ein: Dies betrifft insbesondere die Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit, aber auch die Inhaltsfreiheit als Kernelemente der Vertragsfreiheit.399 67/96 u. a. (Albany), Slg. 1999, I-5751 Rn. 161 (Verhandlungen als unionsgrundrechtlich durch die Vertragsfreiheit geschützte Tätigkeit). 397 Siehe nur Art. 12 Abs. 1 lit. g Richtlinie 2011/98/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über ein einheitliches Verfahren zur Beantragung einer kombinierten Erlaubnis für Drittstaatsangehörige, sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufzuhalten und zu arbeiten, sowie über ein gemeinsames Bündel von Rechten für Drittstaatsarbeitnehmer, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten, ABl. 2011 L 343/1; Art. 23 Abs. 1 lit. e Richtlinie 2014/36/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zwecks Beschäftigung als Saisonarbeitnehmer, ABl. 2014 L 94/375; Art. 18 Abs. 2 lit. e Richtlinie 2014/66/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen im Rahmen eines unternehmensinternen Transfers, ABl. 2014 L 157/1. Siehe ferner schon Art. 14 Abs. 2 Richtlinie 2009/50/EG des Rates vom 25. Mai 2009 über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer hochqualifizierten Beschäftigung, ABl. 2009 L 155/17 („Vertragsfreiheit nach Maßgabe des Gemeinschaftsrechts“). In diese Richtung weist auch z. B. Art. 37 Abs. 1 lit. l Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie und Art. 41 Abs. 1 lit. l Erdgasbinnenmarktrichtlinie. 398 Vgl. GA Poiares Maduro Schlussanträge v. 23.5.2007 – Rs. C-438/05 (Viking), Slg. 2007, I-10779 Rn. 49: „Der Gerichtshof kann unterschiedliche Prüfungsmaßstäbe anlegen, abhängig vom Ursprung und der Schwere des der Ausübung der Verkehrsfreiheit entgegenstehenden Hindernisses und der Bedeutung sowie der Stichhaltigkeit hiermit konkurrierender Belange der Privatautonomie“ (Herv. d. Verf.). 399 So stellt EuGH Urt. v. 16.12.1992 – verb. Rs. C-132/91 u. a. (Katsikas u. a.), Slg. 1992, I-6577 Rn. 32 im Kontext der Betriebsübergangsrichtlinie heraus, dass kein Arbeitnehmer „verpflichtet werden kann, für einen Arbeitgeber zu arbeiten, den er nicht frei gewählt hat“, da eine solche Verpflichtung „gegen Grundrechte des Arbeitnehmers“ verstieße. Gleichsinnig EuGH Urt. v. 11.7.1985 – Rs. 105/84 (Mikkelsen), Slg. 1985, 2639 Rn. 16. Siehe nun mit Blick auf die Arbeitgeberseite – freilich im Rahmen des Art. 16 GRCh – auch EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 30 ff. Die Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit betont zudem etwa GA Jacobs Schlussanträge v. 28.5.1998 – Rs. C-7/97 (Bronner), Slg. 1998, I-7794 Rn. 56. Die Freiheit, den Inhalt einer Vereinbarung auszuhandeln, sieht GA Jacobs Schlussanträge v. 28.1.1999 – verb. Rs. C-67/96 u. a. (Albany), Slg. 1999, I-5751 Rn. 161 grundrechtlich bereits „durch den allgemeinen Grundsatz der Vertragsfreiheit geschützt. Ein besonderer Grundrechtsschutz wird daher nicht benötigt“.

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II. Umschau in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen Sowohl die Europäische Kommission400 als auch der EuGH401 und seine Generalanwälte402 postulieren, dass die Vertragsfreiheit in den Rechtsordnungen aller Mitgliedstaaten der Union verankert ist. Diese Annahme wird nachfolgend im Rahmen einer rechtsvergleichenden Umschau überprüft. Um eine möglichst breite und repräsentative Basis von Rechtsordnungen zu gewinnen, gilt die Aufmerksamkeit – jenseits der überkommenen Einteilung in Rechtskreise – gerade auch den Rechtsystemen solcher Staaten, die erst seit jüngerer Zeit zu den Mitgliedern der EU zählen. Neben Frankreich (1), Deutschland (2), Belgien (3), Österreich (4), dem Vereinigten Königreich (5), Spanien (6), Portugal (7) und Italien (8) werden daher auch Ungarn (9), Polen (10), Litauen (11) sowie schließlich Schweden (12) in den Blick genommen. Dabei ist jeweils der Frage nachzuspüren, ob die Vertragsfreiheit jeweils als allgemeiner Grundsatz sowohl des Privatrechts als auch des Verfassungsrechts verankert ist. 1. Frankreich a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts Der französische Code civil setzt die Vertragsfreiheit unter anderem in Art. 6403 sowie in Art. 1105404 voraus, und seit der Schuldrechtsreform betont Art. 1102 nun ausdrücklich die „liberté contractuelle“: „Chacun est libre de contracter ou de ne pas contracter, de choisir son cocontractant et de déterminer le contenu et la forme du contrat dans les limites fixées par la loi“.405

Laut Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat – Ein kohärenteres europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan, ABl. 2003 C 61/1, 14 bildet die Vertragsfreiheit „in allen Mitgliedstaaten das Kernstück des Vertragsrechts“. 401 Z. B. EuGH Urt. v. 16.12.1981 – Rs. 244/80 (Foglia), Slg. 1981, 3045 Rn. 29; EuGH Urt. v. 7.9.2006 – Rs. C-125/05 (Vulcan Silkeborg), Slg. 2006, I-1451 Rn. 47; EuGH Urt. v. 18.1.2007 – Rs. C-421/05 (City Motors Groep), Slg. 2007, I-653 Rn. 24. 402 Z. B. GA Jacobs Schlussanträge v. 28.5.1998 – Rs. C-7/97 (Bronner), Slg. 1998, I7794 Rn. 56; GA Poiares Maduro Schlussanträge v. 23.5.2007 – Rs. C-438/05 (Viking), Slg. 2007, I-10779 Rn. 49 ff. Zuletzt spricht etwa GA Wahl Schlussanträge v. 12.2.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:85 Rn. 29 von „den fest in den Rechtstraditionen der Mehrzahl der Mitgliedstaaten im Bereich des Vertragsrechts verankerten Grundsätzen der Willensautonomie und der Vertragsfreiheit“. 403 Die Norm lautet: „On ne peut déroger, par des conventions particulières, aux lois qui intéressent l‘ordre public et les bonnes mœurs“. 404 Die Norm setzt namentlich die Vertragstypenfreiheit voraus und lautet auszugsweise: „Les contrats, qu’ils aient ou non une dénomination propre, sont soumis à des règles générales“. 405 Art. 1102 al. 2 Code civil stellt sodann heraus: „La liberté contractuelle ne permet pas de déroger aux règles qui intéressent l’ordre public“. Siehe dazu statt aller Malaurie /  Aynès / Stoffel-Munck, Droit des obligations (2016), Rn. 449. 400

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Überdies stellt Art. 1103 (vormals Art. 1134) Code civil heraus: „Les contrats légalement formés tiennent lieu de loi à ceux qui les ont faits“.406

Vor diesem Hintergrund nimmt es kaum Wunder, dass die Vertragsfreiheit auch in der französischen Rechtsprechung als allgemeiner Grundsatz des Zivil- und Handelsrechts anerkannt wird: Die Cour de cassation spricht in diesem Kontext von einem übergreifenden „principe de la liberté contractuelle“, das sich nicht zuletzt bei der Auslegung und Anwendung des Code civil entfaltet.407 Als Facetten der Vertragsfreiheit werden unter anderem die Abschluss-408 und Vertragspartnerwahlfreiheit,409 die Typen-410, Vertragsbeendigungs-411 sowie die Form- und Inhaltsfreiheit412 geschützt.413 Damit ist die Vertragsfreiheit als allgemeiner privatrechtlicher Grundsatz fest in der französischen Rechtsordnung verankert. b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung „La liberté contractuelle, [est-elle] un droit de l’homme?“414 – Während sich der französische Code civil eindeutig zur Vertragsfreiheit bekennt, rankte Siehe zur Herleitung und Verortung der Vertragsfreiheit im Rahmen des Code civil statt vieler Terneyre, FS Peiser (1995), S. 473 ff.; Leveneur, AJDA 1998, 676 ff.; Malaurie / Aynès / Stoffel-Munck, Droit des obligations (2016), Rn. 449. 407 Deutlich etwa Cass. soc. v. 1.12.1999 – n° 97-43.496 (non publié); Cass. com. v. 29.11.2011 – n° 10-26.060 (non publié); Cass. com. v. 10.9.2013 – n° 12-21.804, D. 2013, 2812; Cass. 1re civ. v. 16.10.2013 – n° 12-27.574 (non publié); Cass. 3ème civ. v. 17.2.2015 – n° 14-13.703 (non publié). Siehe insbesondere auch Cass. ass. plén. v. 26.3.1999 – n° 9717.136, D. 1999, 369 m. Anm. Delebecque („la liberté contractuelle […] a une valeur de principe“) sowie Mestre, RTD Civ. 1999, 615 („valeur normative du principe de liberté contractuelle“). Dagegen bemerken Malaurie / Aynès / Stoffel-Munck, Droit des obligations (2016), Rn. 449 mit Blick auf die ausdrückliche Erwähnung der Vertragsfreiheit in Art. 1102 Code civil: „[L]‘ordonnance de 2016 est la première à en faire un principe de droit privé “ (Herv. d. Verf.). 408 Siehe zur „liberté de ne pas conclure“ z. B. Cass. com. v. 18.9.2012 – n° 11-19.629, RTD Civ. 2012, 721; Cass. 1re civ. v. 11.9.2013 – n° 12-20.844 (non publié). Siehe auch CA Versailles v. 28.11.2013 – n° 11/06741 (non publié). Gleichsinnig („la liberté contractuelle implique le droit de ne pas contracter“) auch z. B. CA Nancy v. 25.11.2013 – n° 13/02298 (non publié). 409 Z. B. Cass. soc. v. 11.3.2015 – n° 13-19.545 (non publié); CA Paris Pôle 5 Ch. 11 v. 25.10.2013 – n° 11/11656 (non publié). 410 Vgl. wiederum Art. 1105 Code civil. 411 Z. B. Cass. com.v. 8.10.2013 – n° 12-22.952, D. 2013, 2617. 412 Z. B. Cass. 1re civ. v. 16.10.2013 – n° 12-27.574 (non publié). 413 Zum Ganzen statt vieler Leveneur, AJDA 1998, 676 ff.; Terré / Simler / Lequette, Droit civil – Les obligations (2013), Rn. 24, 203 sowie 264; Fages, Droit des Obligations (2013), Rn. 31, 44, 59 und 165. 414 Kayanama, in: Chabot / Didier / Ferrand (éd.), Le code civil et les droits de l’homme (2005), S. 131 ff. 406

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lange Zeit ein erbitterter Streit darum, ob diese Freiheit auch grundrechtlich garantiert wird.415 Der Conseil constitutionnel stellte sich zunächst auf den Standpunkt, „qu‘aucune norme de valeur constitutionnelle ne garantit le principe de la liberté contractuelle“.416 Demgegenüber hat das Schrifttum die Grundrechtsqualität der Vertragsfreiheit frühzeitig mit der Déclaration des droits de l‘homme et du citoyen de 1789 und insbesondere unter Verweis auf deren Art. 4 begründet.417 Nach anfänglichem Schwanken macht sich der französische Conseil constitutionnel diese Lesart nun zu eigen und betont, „que le législateur ne saurait porter à l‘économie des conventions et contrats légalement conclus une atteinte d‘une gravité telle qu'elle méconnaisse manifestement la liberté découlant de l‘article 4 de la Déclaration des droits de l‘homme et du citoyen de 1789“.418

Der Conseil anerkennt und schützt seither in ständiger Rechtsprechung „la liberté contractuelle, qui découle de l‘article 4 de la Déclaration de 1789“.419 Gesetze, welche die Vertragsfreiheit unverhältnismäßig verkürzen, erklärt der Conseil constitutionnel seither für unvereinbar mit der Verfassung.420 Das Siehe zu dieser Kontroverse nur Terneyre, FS Peiser (1995), 473 ff. m. w. N. Siehe aus jüngerer Zeit sodann z. B. Fages, Droit des Obligations (2013), Rn. 31. 416 Zuletzt z. B. Cons. const. DC v. 3.8.1994 – n° 94-348, Rec. 1994, 117 Rn. 9; Cons. const. DC v. 20.3.1997 – n° 97-388, Rec. 1997, 31 Rn. 48 („que le principe de liberté contractuelle n’a pas en lui-même valeur constitutionnelle; […] que ne résulte ni de l‘article 4 de la Déclaration des droits de l’homme et du citoyen ni d‘aucune autre norme de valeur constitutionnelle un principe constitutionnel dit de l‘autonomie de la volonté“). 417 Vgl. nur Carbonnier, Droit civil II (1956, 2004), S. 1946. Art. 4 Déclaration des droits de l‘homme et du citoyen de 1789 lautet: „La liberté consiste à pouvoir faire tout ce qui ne nuit pas à autrui: ainsi, l’exercice des droits naturels de chaque homme n’a de bornes que celles qui assurent aux autres Membres de la Société la jouissance de ces mêmes droits. Ces bornes ne peuvent être déterminées que par la Loi“. 418 So im Kontext der Einführung der 35-Stunden-Woche erstmals Cons. const. DC v. 10.6.1998 – n° 98-401, Rec. 1998 Rn. 29 Siehe ferner nur Cons. const. DC v. 19.12.2000 – n° 2000-437 Rec. 2000, 190 Rn. 37; Cons. const. DC v. 13.6.2013 – n° 2013-672, Rec. 2013, 817 Rn. 6 ff.; Cons. const. QPC v. 1.8.2013 – n° 2013-337, JORF 2013, 13319 Rn. 4 und 9; Cons. const. DC v. 29.12.2013 – n° 2013-682 Rec. 2013, 1094 Rn. 43 ff.; Cons. const. DC v. 20.3.2014 – n° 2014-691 JORF 2014, 5925 Rn. 7, 35 und 69. Vgl. zur Anbindung an die „liberté d’entreprendre“ schon Cons. const. DC v. 8.1.1991 – n° 90-283, Rec. 1991, 11 Rn. 12 ff. Im Übrigen wird die Vertragsfreiheit auch in anderen Bereichen gesondert geschützt, vgl. etwa zur „liberté contractuelle du défunt“ nur Cons. const. QPC v. 1.8.2013 – n° 2013-337, JORF 2013, 13319 Rn. 2, 4 und 9 sowie zur Eheschließungsfreiheit z. B. Cons. const. DC v. 13.8.1993 – n° 93-325, Rec. 1993, 224 Rn. 3 ff. und schließlich zur Vereinigungsfreiheit nur Cons. const. DC v. 19.7.1971 – n° 71-44, Rec. 1971, 29 Rn. 2. 419 Z. B. Cons. const. QPC v. 1.8.2013 – n° 2013-337, JORF 2013, 13319 Rn. 4. Ohne Analyse der französischen Rechtsprechung a. A. dennoch z. B. Starke, EU-Grundrechte und Vertragsrecht (2016), S. 262 f. (dort insbesondere in Fn. 81). 420 Siehe zur „déclaration d‘inconstitutionnalité“ etwa Cons. const. DC v. 13.6.2013 – n° 2013-672, Rec. 2013, 817 Rn. 11 ff. und insbesondere 13 f. („Considérant […] que les dispositions de l‘article L. 912-1 du code de la sécurité sociale portent à la liberté 415

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Verdikt der Verfassungswidrigkeit ereilte beispielsweise Teile der Loi n° 89462 du 6 juillet 1989:421 In einigen Bestimmungen dieses Gesetzes, das – ähnlich der in Deutschland in §§ 556d ff. BGB eingefügten „Mietpreisbremse“ – 422 Mieterhöhungen nur noch unter engen Voraussetzungen zulässt, sah der Conseil constitutionnel einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Vertragsfreiheit der Vermieter.423 Aufwind hat die Überprüfung privatrechtlicher und insbesondere vertragsrechtsrelevanter Regelungen am Maßstab der Grundrechte durch die Einführung des Normenkontrollverfahrens der „question prioritaire de constitutionalité“ im Jahre 2010 gewonnen. 424 Darüber hinaus wirkt die Rechtsprechung des Conseil constitutionnel zur „liberté contractuelle“ auch in zivilrechtliche Verfahren hinein, da sowohl die Gerichte als auch die Parteien vermehrt mit der grundrechtlichen Verbürgung der Vertragsfreiheit argumentieren.425

d‘entreprendre et à la liberté contractuelle une atteinte disproportionnée au regard de l‘objectif poursuivi […] ces dispositions […] doivent être déclarées contraires à la Constitution“). In diesem Sinne schon zuvor Terneyre, AJDA 1998, 676, 682 f., der zumindest eine „quasi-constitutionnalisation“ der Vertragsfreiheit feststellt. 421 Loi n° 89-462 du 6 juillet 1989 tendant à améliorer les rapports locatifs et portant modification de la loi n° 86-1290 du 23 décembre 1986, JORF 1989, 8541. 422 Eingefügt durch Gesetz zur Dämpfung des Mietanstiegs auf angespannten Wohnungsmärkten und zur Stärkung des Bestellerprinzips bei der Wohnungsvermittlung (Mietrechtsnovellierungsgesetz – MietNovG) vom 21. April 2015, BGBl. I 2015, S. 610. 423 Zu diesem Zweck wird ein regionaler Referenzmietpreis durch eine Behörde erstellt, von dem nur bei „außergewöhnlichen“ Mietsachen unter engen Voraussetzungen Abweichungen zulässig sein sollten. Hierin sah der Cons. const. DC v. 20.3.2014 – n° 2014-691, JORF 2014, 5925 Rn. 25 f., eine unverhältnismäßige Verkürzung der Vertragsfreiheit: „[L]e législateur a […] ainsi porté à […] la liberté contractuelle une atteinte disproportionnée à l’objectif poursuivi; que, par suite, […] l’article 17 de la loi du 6 juillet 1989, dans sa rédaction résultant de l’article 6, le mot « exceptionnel » doit être déclaré contraire à la Constitution“. 424 Vgl. Art. 61 al. 1 Constitution française du 4 octobre 1958, eingefügt durch Loi constitutionnelle n° 2008-724 du 23 juillet 2008 de modernisation des institutions de la Ve République, JORF 2008, 11890. Jüngere Beispiele sind etwa mit Blick auf Art. 918 Code civil Cons. const. QPC v. 1.8.2013 – n° 2013-337, JORF 2013, 13319 sowie im Kontext der Art. L. 1226-4 und R. 4624-35 Code du travail Cass. soc. 2.10.2013 – n° 13-40.051 (non publié). 425 Vgl. nur CA Colmar v. 23.10.2013 – n° 11/03900 (non publié): „La SARL […] considère que le premier juge a fait une mauvaise interprétation des dispositions de l‘article L 145-39 du code de commerce en portant une atteinte grave au principe de la liberté contractuelle et à l'article 4 de la Déclaration des droits de l'homme, de sorte que la demande de révision aurait du être déclarée irrecevable. Elle entend faire prévaloir le principe de la liberté contractuelle ayant valeur constitutionnelle sur les dispositions précitées du code de commerce“ (Herv. d. Verf.). Vgl. ferner nur CA Versailles v. 31.10.2013 – n° 12/04024 (non publié); CA Aix-en-Provence v. 26.11.2013 – n° 13/00470 (non publié).

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2. Deutschland a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts Das deutsche Privatrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches baut auf dem Grundsatz der Vertragsfreiheit auf, der in § 311 Abs. 1 BGB vorausgesetzt wird.426 Bereits die Motive stellen die Vertragsfreiheit ins Zentrum: „Vermöge des Prinzipes der Vertragsfreiheit, von welchem das Recht der Schuldverhältnisse beherrscht wird, können die Parteien ihre Rechts- und Vertragsbeziehungen nach ihrem Ermessen mit obligatorischer Wirkung unter sich bestimmen“.427

Auch in der ständigen Rechtsprechung des Reichsgerichts428 und sodann des Bundesgerichtshofs429 sowie des Bundesverfassungsgerichts430 wird der „Grundsatz der Vertragsfreiheit“ zum Ausgangspunkt im Vertragsrecht genommen. Bemerkenswert ist dabei, dass der Bundesgerichtshof der Vertragsfreiheit in der deutschen Rechtsordnung eine Doppelnatur zuerkennt: Namentlich handelt es sich hierbei um einen allgemeinen „das deutsche Recht beherrschenden Grundsatz“431 des Privatrechts und zugleich um eine grundrechtliche Gewährleistung.432 b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung Die Vertragsfreiheit war bereits in Art. 152 Weimarer Reichsverfassung vom 1.8.1919433 garantiert. Obschon das deutsche Grundgesetz der VertragsfreiMit Blick auf die Vorläufernorm zu § 311 BGB in § 305 BGB a. F. spricht etwa BGH Beschl. v. 12.11.1952 – Az. IV ZB 93/52, BGHZ 8, 23, 31 von dem „Grundsatz der Vertragsfreiheit (§ 305 BGB)“. Siehe statt vieler auch HKK / Thier (2007), § 311 I BGB Rn. 1. 427 Motive II, S. 2 = Mugdan II, S. 1. Die Vorlagen der Redaktoren für die erste Kommission führen dazu weiter aus: „Der die Rechtsordnung zur Anerkennung der rechtsgestaltenden Kraft der Willenserklärung bestimmtende Grund beruht in der Erkenntniß der Nothwendigkeit der Autonomie der Person im Privatrecht und der Vertragsfreiheit insbesondere im Verkehrsrecht“, Schubert (Hrsg.), Die Vorlagen der Redaktoren für die erste Kommission, Schuldrecht I (1980), S. 136. 428 RG Urt. v. 3.5.1930 – Az. V B 6/30, RGZ 128, 246, 249 f. 429 Z. B. BGH Urt. v. 28.6.1952 – Az. II ZR 263/51, BeckRS 1952, 31203107; BGH Beschl. v. 12.11.1952 – Az. IV ZB 93/52, BGHZ 8, 23, 31; BGH Urt. v. 7.5.1975 – Az. VIII ZR 210/73, NJW 1975, 1268, 1269; BGH Urt. v. 27.9.2012 – Az. IX ZR 15/12, ZEV 2013, 272, 274; BGH Urt. v. 10.7.2013 – VIII ZR 388/12, NJW 2013, 2820, 2821. 430 Siehe z. B. BVerfG Beschl. v. 7.9.2010 – Az. 1 BvR 2160/09 u. a., NJW 2011, 1339, 1341: Der „Grundsatz der Vertragsfreiheit“ ist bei der Inhaltskontrolle von Preisanpassungsklauseln durch Zivilgerichte immer zu beachten. 431 Z. B. BGH Urt. v. 17.9.1954 – Az. V ZR 79/53, BGHZ 14, 306, 308. 432 So betont zuletzt z. B. BGH Urt. v. 15.1.2013 – Az. XI ZR 22/12, NJW 2013, 1519, 1521 die Gewährleistung der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie durch „die privatrechtliche Vertragsfreiheit und die grundgesetzlichen Freiheitsrechte“ (Herv. d. Verf.). Gleichsinnig etwa Jauernig / Stadler (2015), § 311 BGB Rn. 3. 426

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heit keine eigene Vorschrift mehr widmet, genießt diese Freiheit nach der Lesart des Bundesverfassungsgerichts umfassenden grundrechtlichen Schutz. Soweit nicht speziellere Freiheitsgrundrechte, wie etwa die Berufsfreiheit nach Art. 12 GG, einschlägig sind,434 wird die Vertragsfreiheit als Ausfluss der allgemeinen Handlungsfreiheit durch Art. 2 Abs. 1 GG verbürgt.435 3. Belgien a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts Die Vertragsfreiheit ist durch die belgische Rechtsprechung ebenfalls als allgemeiner Grundsatz des Privatrechts anerkannt.436 Als solcher umfasst er insbesondere die Abschluss-, Vertragspartnerwahl-, Inhalts-, Form- und Typenfreiheit.437 Dabei findet dieser Grundsatz – ebenso wie im französischen Recht – vor allem in Art. 6, Art. 1107, Art. 1123 sowie Art. 1134 belgischer Code civil Ausdruck.438 Laut belgischer Cour de cassation umfasst der Grundsatz der Vertragsfreiheit „la liberté de toute personne de conclure des conventions à son gré“.439 Als Element der „liberté d’entreprende“ ist die Vertragsfreiheit nunmehr auch im Wirtschaftsvertragsrecht und namentlich in Art. II.2 und Art. II.3 Code de droit économique440 verbürgt.441

433 RGBl. 1919, S. 1383. Die Vorschrift lautet auszugsweise: „Im Wirtschaftsverkehr gilt Vertragsfreiheit nach Maßgabe der Gesetze“. 434 Siehe nur BVerfG Urt. v. 12.12.2006 – Az. 1 BvR 2576/04, BVerfGE 117, 163, 181; BVerfG Beschl. v. 6.7.2010 – Az. 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286, 300 und 313 ff. Zum Ganzen statt aller Maunz / Dürig / Di Fabio (2016), Art. 2 GG Rn. 103 m. w. N. 435 Z. B. BVerfG Beschl. v. 12.11.1958 – Az. 2 BvL 4/56 u. a., BVerfGE 8, 274, 328 (PreisG); BVerfG Beschl. v. 12.1.1967 – Az. 1 BvR 335/63, BVerfGE 21, 87, 90 (Genehmigung nach GrdstVG); BVerfG Beschl. v. 4.6.1985 – Az. 1 BvL 12/84, BVerfGE 70, 115, 123 (Klauselkontrolle nach dem AGBG); BVerfG Beschl. v. 19.10.1993 – Az. 1 BvR 567/89 u. a., BVerfGE 89, 214, 231 (Angehörigenbürgschaft); BVerfG Urt. v. 6.2.2001 – Az. 1 BvR 12/92, BVerfGE 103, 89, 100 (Ehevertrag); BVerfG Beschl. v. 13.5.2015 – Az. 1 BvQ 9/15, NJW 2015, 1815, 1817 (Bestellerprinzip). 436 Deutlich z. B. Cour constitutionnelle v. 1.9.2008 – n° 130/2008, M.B. 2008, 48885, 48888 („principe général de droit de la liberté contractuelle“); Cass. 1re v. 13.9.1991 – RG 7015, Pasic. 1992.I, 33; Cour du Travail de Mons v. 26.1.2011 – n° 2011/162, RG 2009/AM/21839, 5 („principe de la liberté contractuelle“). Siehe zur Stellung dieses Rechtsgrundsatzes im belgischen Privatrecht nur Van Ommeslaghe, Droit des obligations (2010), S. 85 ff. und 153 ff. 437 Z. B. Van Ommeslaghe, Droit des obligations (2010), S. 85 ff. und 155; Wéry, Droit des obligations I (2011), S. 125 ff. 438 Statt vieler Wéry, Droit des obligations I (2011), S. 124. 439 Cass. 1re v. 13.9.1991 – RG 7015, Pasic. 1992.I, 33. 440 Loi introduisant le Code de droit économique v. 28.2.2013, M.B. 2013, 19975. 441 Siehe dazu nur Demarsin / Keirsblick, ZEuP 2016, 859, 872.

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b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung Die belgische Cour constitutionnelle zieht die Vertragsfreiheit in ihrer verfassungsrechtlichen Entscheidungspraxis als allgemeines Rechtsprinzip heran und spricht namentlich von einem „principe général de droit de la liberté contractuelle, qui découle de la liberté de commerce et d’industrie“.442

Darüber hinaus wird die Vertragsfreiheit in einigen Entscheidungen auch als „liberté des conventions“ auf Art. 1134 belgischer Code civil gestützt.443 Bemerkenswert ist, dass die Cour constitutionnelle die Vertragsfreiheit mit anderen – verfassungsrechtlich garantierten – Positionen abwägt. So führt die Cour constitutionnelle beispielsweise im Kontext des unter anderem in Art. 10 und Art. 11 Constitution belge verankerten Diskrimierungsverbots444 aus: „Eu égard à l’objectif des lois attaquées, les modalités relatives à cette obligation ne peuvent être considérées comme portant une atteinte disproportionnée à la liberté des conventions qui fait l’objet de l’article 1134 du Code civil“.445

In diesem Zusammenhang definiert die Cour constitutionnelle die „liberté contractuelle” ausdrücklich als „la sphère dans laquelle le droit autorise les citoyens à conclure des conventions à leur gré“.446 Entsprechend soll die Vertragsfreiheit durchaus Schutz gegen Einschränkungen bieten können, die ungerechtfertigt oder in dieser Form nicht erforderlich sind und außer Verhältnis zum verfolgten Ziel stehen: „Elle ne serait violée que si elle était limitée sans nécessité et de manière manifestement disproportionnée au but poursuivi“.447 442 Z. B. Cour constitutionnelle v. 1.9.2008 – n° 130/2008, M.B. 2008, 48885, 48888. Siehe ferner nur Cour constitutionnelle v. 10.11.2011 – n° 166/2011, M.B. 2012, 7373, 7377. Allerdings beruht die „liberté de commerce et d’industrie“ ihrerseits auf Art. 7 Décret des 2–17 mars 1791 portant suppression de tous les droits d‘aides, de toutes les maîtrises et jurandes, et établissement de patentes (Décret d‘Allarde). Diese Regelung soll durch die Loi du 29 mars 2013 introduisant le Code de droit économique, M.B. 2013, 19975, 19984, abgeschafft werden. 443 Siehe Cour constitutionnelle v. 12.2.2009 – n° 17/2009, M.B. 2009, 21696, 21702 und 21705. 444 Vgl. Cour constitutionnelle v. 12.2.2009 – n° 17/2009, M.B. 2009, 21696, 21700 ff. 445 Siehe Cour constitutionnelle v. 12.2.2009 – n° 17/2009, M.B. 2009, 21696, 21702 und 21705 (Herv. d. Verf.). 446 Cour constitutionnelle v. 12.2.2009 – n° 17/2009, M.B. 2009, 21696, 21705, unterstreicht zugleich: „[M]ais cette sphère […] est limitée par de nombreuses dispositions législatives, mais elle est également limitée par la liberté contractuelle d‘autrui, par les droits d‘autrui et par l‘interdiction de discrimination“. Gleichsinnig etwa Cour constitutionnelle v. 10.11.2011 – n° 166/2011, M.B. 2012, 7373, 7377. 447 Cour constitutionnelle v. 1.9.2008 – n° 130/2008, M.B. 2008, 48885, 48888; Cour constitutionnelle v. 10.11.2011 – n° 166/2011, M.B. 2012, 7373, 7377.

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Somit tritt die Cour constitutionnelle bei einer Verkürzung der Vertragsfreiheit in eine Verhältnismäßigkeitsprüfung ein. Als Beispiele aus jüngerer Zeit sind neben den gesetzlichen Einschränkungen der Freiheit der Versicherer, bestimmte medizinische Angaben des Versicherten im Rahmen des Vertrags zu erfragen,448 auch Begrenzungen der Vertragsabschlussfreiheit bei Bankgeschäften zu nennen.449 In der Zusammenschau der Judikatur der belgischen Cour constitutionnelle erscheint die Vertragsfreiheit damit als eine zumindest grundrechtsähnliche Freiheitsverbürgung. 4. Österreich a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts Die österreichische Rechtsprechung erkennt den „Grundsatz der Vertragsfreiheit“ als Leitprinzip des Schuldvertragsrechts umfassend an.450 Dieser privatrechtliche Grundsatz beinhaltet nicht zuletzt die Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit sowie die Inhalts-, Typen-, Form-, Änderungs- und die Beendigungsfreiheit.451 b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung Das österreichische Staatsgrundgesetz (StGG)452 enthält keine Grundrechtsnorm, welche die Vertragsfreiheit ausdrücklich garantiert. Im Schrifttum ist eine grundrechtliche Absicherung der Vertragsfreiheit durch das Eigentumsrecht nach Art. 5 sowie durch die Berufsfreiheit nach Art. 6 StGG befürwor-

448 Cour constitutionnelle v. 10.11.2011 – n° 166/2011, M.B. 2012, 7373, 7379 f.: „L’article 138ter-1 de la loi du 25 juin 1992 ne porte pas atteinte de manière disproportionnée à la liberté de commerce et d’industrie et à la liberté contractuelle des assureurs“. 449 Cour constitutionnelle v. 1.9.2008 – n° 130/2008, M.B. 2008, 48885, 48888: „Les parties requérantes allèguent encore la violation du […] principe général de droit de la liberté contractuelle, qui découle de la liberté de commerce et d‘industrie, en ce que les banques verraient limitée leur faculté de ne pas contracter […]. Elle ne serait violée que si elle était limitée sans nécessité et de manière manifestement disproportionnée au but poursuivi“. 450 Siehe nur OGH v. 21.3.1985 – 8Ob637/84 (RIS); OGH v. 30.10.1990 – 8Ob661/90 (RIS); OGH v. 25.11.1992 – 9ObA241/92 (RIS); OGH v. 7.10.1997 – 4 Ob 255/97x (RIS); OGH v. 14.4.1998 – 10Ob122/98h (RIS). 451 Siehe zur Vertragspartnerwahl- und zur Inhaltsfreiheit nur VfGH v. 15.6.1990 – G 56/89, VfSlg. 12379/1990: „Die Privatautonomie sichert ihm die Freiheit zu, selbst darüber zu disponieren, ob, mit wem und zu welchen Bedingungen er Rechtsgeschäfte abschließen will (Vertragsfreiheit)“. Siehe ferner nur P. Bydlinski, Bürgerliches Recht I (2013), S. 119 ff. 452 Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867 über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder, RGBl. 142/1867.

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tet worden.453 Der Verfassungsgerichtshof hat sich diese Lesart zu eigen gemacht und die Vertragsfreiheit zunächst in Art. 5 StGG454 verortet: „Im Zweifel ist das Gesetz […] im Sinne der Vertragsfreiheit (eines Aspektes des Rechtes auf Unversehrtheit des Eigentums) auszulegen und anzuwenden“.455

Der Verfassungsgerichtshof hat sodann in einer Entscheidung betreffend das Verbot, Waren unter oder zum Einkaufspreis zu verkaufen, die damit verbundene Verkürzung der Vertragsfreiheit am Maßstab der Berufsfreiheit nach Art. 6 StGG456 gemessen.457 Entsprechend sah der Verfassungsgerichtshof auch in einer Entgeltregelung für Luftbeförderungsunternehmen „eine in die Vertragsfreiheit und somit in die Privatautonomie eingreifende […] Preisregelungsvorschrift“.458 Aber auch darüber hinaus deutet der Verfassungsgerichtshof in einer Reihe von Entscheidungen an, dass jede Verkürzung der Vertragsfreiheit eine Beeinträchtigung der grundrechtlich geschützten „Rechtsphäre“ bedeutet.459 453 Dafür z. B. Schantl, FS Korinek (1972), S. 129, 146. Ähnlich etwa Mayer-Maly, FS Korinek (1972), S. 151, 152 f. 454 Art. 5 StGG lautet auszugsweise: „Das Eigenthum ist unverletzlich“. 455 VfGH v. 13.6.1988 – B3/88, VfSlg. 11721/1988. Anlass dieser Grundsatzentscheidung war die Weigerung einer Behörde, die zum Erwerb eines Grundstücks erforderliche grundverkehrsrechtliche Genehmigung zu erteilen. Vgl. zudem nur VfGH v. 29.6.2000 – G 45/00 u. a., VfSlg. 15888/2000. 456 Art. 6 StGG lautet: „Jeder Staatsbürger kann […] unter den gesetzlichen Bedingungen jeden Erwerbszweig ausüben“. 457 VfGH v. 15.6.1990 – G 56/89, VfSlg. 12379/1990 stellt dabei unter anderem folgende Erwägungen an: „Das Verbot, selbst frei bestimmen zu können, zu welchen Preisen der Antragsteller seine Waren verkaufen will, greift in seine Privatautonomie ein. Die Privatautonomie sichert ihm die Freiheit zu, selbst darüber zu disponieren, ob, mit wem und zu welchen Bedingungen er Rechtsgeschäfte abschließen will (Vertragsfreiheit). Die Freiheit ist geschmälert, wenn ihm die Möglichkeit entzogen wird, über einen wesentlichen Teil des Vertragsinhalts, den Preis, den er für seine Waren am Markt verlangen will, zu entscheiden“. Im Ergebnis urteilt der VfGH: „§3a NahVG verstößt daher gegen die verfassungsgesetzlich gewährleistete Erwerbsausübungsfreiheit und ist als verfassungswidrig aufzuheben“. 458 VfGH v. 17.12.1993 – G 48/93 u. a., VfSlg. 13659/1993. 459 Namentlich begründet der Verfassungsgerichtshof die Zulässigkeit des Antrags wiederholt gerade mit einer Verletzung der Vertragsfreiheit des Antragstellers, siehe z. B. VfGH v. 15.6.1990 – G 56/89, VfSlg. 12379/1990 („Dieses Verbot trifft den Antragsteller als Handelsgewerbetreibenden in seiner Rechtssphäre, indem es ihn in seiner Vertragsfreiheit beschränkt“.); VfGH v. 17.6.1992 – G 45/91, VfSlg. 13102/1992 („Sie trifft daher die Antragsteller […] in ihrer Rechtssphäre, weil sie ihre Vertragsfreiheit beschränkt“.); VfGH v. 23.6.1993 – G 250/92, VfSlg. 13471/1993 („Die Regelung beeinträchtigt die Antragstellerin […] aktuell in ihrer Rechtssphäre, weil sie ihre Vertragsfreiheit beschränkt“.); VfGH v. 29.6.2000 – G 45/00 u. a., VfSlg. 15888/2000 („Durch die verbindliche Festsetzung des Preises für die Überlassung ihrer Anlagen greifen die angefochtenen Verordnungsbestimmungen in die Vertragsfreiheit der antragstellenden Gesellschaft unmittelbar ein“.); VfGH v.

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Ungeachtet der Frage, ob dies auf eine umfassendere verfassungsrechtliche Verbürgung der Vertragsfreiheit hindeuten mag, genießt die Vertragsfreiheit in Österreich jedenfalls grundrechtlichen Schutz. 5. Vereinigtes Königreich a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts Das common law operiert ebenfalls „mit weitgespannten Rechtsprinzipien“, und so ist „das Vertragsrecht ganz vom Grundsatz der Vertragsfreiheit dominiert“.460 Lord Jessel stellte bereits in Printing and Numerical Registering Co. v Sampson im Jahr 1875 heraus „that men of full age and competent understanding shall have the utmost liberty in contracting“.461 Diese Linie ist in nachfolgenden Entscheidungen weiter fortgeführt worden462 und die Vertragsfreiheit wird von der höchstrichterlichen Rechtsprechung als „freedom to contract“,463 „liberty of contracting“464 und „freedom of contract“465 umfas5.12.2000 – V 42/00 u. a., VfSlg. 16042/2000 („Durch die verbindliche Festsetzung des Preises greifen die angefochtenen Verordnungsbestimmungen in die Vertragsfreiheit der Antragsteller ein“); VfGH v. 9.4.2007 – G174/06, VfSlg. 18101/2007. Vgl. auch VfGH v. 2.7.1983 – G32/83, VfSlg. 97617/1983: Das öParteienG sah nach seinem Wortlaut bei Spenden an Parteien ab einer gewissen Höhe die Veröffentlichung des Spendernamens oder die Zurückweisung der Spende seitens der Partei vor. Ein Spender machte geltend, hierdurch in seinen Rechten verletzt zu sein, da ihm der Abschluss sowie die Durchführung eines Schenkungsvertrages verwehrt werde. Der VfGH führt in diesem Zusammenhang aus, dass die gesetzliche Regelung die Vertragsfreiheit des Schenkers nicht über Gebühr beschneide. 460 Vogenauer, in: Basedow / Hopt / Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009), S. 280, 282. 461 Printing and Numerical Registering Co. v Sampson (1875) LR 19 Eq 462, 465 (Herv. d. Verf.). 462 Deutlich etwa Tailby v Official Receiver (1888) 13 AC 523, 545 (Lord Macnaghten): „Between men of full age and competent understanding ought there to be any limit to the freedom of contract but that imposed by positive law or dictated by considerations of morality or public policy?“. Siehe ferner z. B. Manchester, Sheffield and Lincolnshire Ry v Brown (1883) 8 AC 703, 716 ff. (Lord Bramwell); Esso Petroleum Co Ltd v Harper's Garage (Stourport) Ltd [1967] UKHL 1 (Lord Morris of Borth-y-Gest); Suisse Atlantique Société d’Armenent Maritime SA v NV Rotterdamsche Kolen Centrale [1967] 1 AC 361, 399 (Lord Reid: „[G]eneral principle of English law that parties are free to contract as they may think fit“ ); Photo Production Ltd v Securicor Transport Ltd [1980] AC 827, 848 (Lord Diplock: „[B]asic principle of the common law of contract“); Abnett v British Airways Plc (Scotland) [1996] UKHL 5 (Lord Hope of Craighead: „[G]reat principle, which is that of freedom of contract”); Parkwood Leisure Ltd v Alemo-Herron and others [2011] UKSC 26 (Lord Hope): „[C]ommon law principle of freedom of contract“. Siehe hierzu statt vieler Chitty on Contracts I (2012), Rn. 1-029. 463 Z. B. Mixnam’s Properties Ltd v Chertsey Urban District Council [1965] AC 735, 764 (Lord Upjohn). Siehe auch Stewart v Perth and Kinross Council [2004] UKHL 16 (Lord Steyn).

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send im Privatrecht anerkannt. Entsprechend werden auch die einzelnen Facetten der Vertragsfreiheit, wie etwa die Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit466 sowie die Inhalts-467 und Typenfreiheit468, gewährleistet. Sowohl die Instanzgerichte469 als auch das Schrifttum behandelten „[f]reedom of contract as a general principle“ des common law.470 Dieses Verständnis der Vertragsfreiheit als „common law principle of freedom of contract” haben in jüngerer Zeit das House of Lords sowie sodann der Supreme Court aufgegriffen und die Vertragsfreiheit damit als allgemeinen Grundsatz des Privatrechts explizit anerkannt.471 b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung Die Rechtsordnung des Vereinigten Königreichs fordert „an enhanced respect for contractual obligations as an extension of individual liberty“472 und er464 Z. B. Mahomed Zahoor Ali Khan v Thakooranee Rutta Kooer (Agra) [1868] UKPC 3 (Sir Lawrence Peel); Printing and Numerical Registering Co. v Sampson (1875) LR 19 Eq 462, 465 (Lord Jessel); Homburg Houtimport BV v Agrosin Private Ltd (The Starsin) [2003] UKHL 12 (Lord Bingham of Cornhill). 465 Z. B. Tailby v Official Receiver (1888) 13 AC 523, 545 (Lord Macnaghten); Melville Dundas Ltd & Ors v George Wimpey UK Ltd & Ors (Scotland) [2007] UKHL 18 (Lord Hoffmann); Parkwood Leisure Ltd v Alemo-Herron and others [2011] UKSC 26 (Lord Hope). 466 Deutlich etwa Street v Mountford [1985] AC 809, 819 (Lord Templeman): „Both parties enjoyed freedom to contract or not to contract“. Siehe auch Esso Petroleum Co Ltd v Harper's Garage (Stourport) Ltd [1967] UKHL 1 (Lord Morris of Borth-y-Gest): „In general the law recognizes that there is freedom to enter into any contract that can lawfully be made“. Siehe schließlich auch Abnett v British Airways Plc (Scotland) [1996] UKHL 5 (Lord Hope of Craighead): „Any person is free, unless restrained by statute, to enter into a contract with another”. 467 Z. B. als „freedom of the parties to make their own terms“ erwähnt in Melville Dundas Ltd & Ors v George Wimpey UK Ltd & Ors (Scotland) [2007] UKHL 18 (Lord Hoffmann). In derselben Entscheidung betont auch Lord Neuberger of Abbotsbury „the freedom of parties to a […] contract to negotiate such terms as they see fit“. Gleichsinnig schon zuvor z. B. Street v Mountford [1985] AC 809, 819 (Lord Templeman). Siehe schließlich auch Photo Production Ltd v Securicor Transport Ltd [1980] AC 827, 848 (Lord Diplock): „[P]arties to a contract are free to determine for themselves what primary obligations they will accept“. Siehe statt vieler auch Collins, Law & Contemp. Probs. 76 (2013), 71, 77 ff. 468 Zu diesen Facetten im Einzelnen etwa Chitty on Contracts I (2012), Rn. 1-031 ff. 469 Vgl. wiederum etwa Suisse Atlantique Société d’Armenent Maritime SA v NV Rotterdamsche Kolen Centrale [1967] 1 AC 361, 399 (Lord Reid: „[G]eneral principle of English law that parties are free to contract as they may think fit“ ); Photo Production Ltd v Securicor Transport Ltd [1980] AC 827, 848 (Lord Diplock: „[B]asic principle of the common law of contract“). 470 Chitty on Contracts I (2012), Rn. 1-029. 471 Parkwood Leisure Ltd v Alemo-Herron and others [2011] UKSC 26 (Lord Hope): „common law principle of freedom of contract“. Siehe zu dem „great principle, which is that of freedom of contract“ bereits Abnett v British Airways Plc (Scotland) [1996] UKHL 5 (Lord Hope). 472 Parry, The Sanctity of Contracts in English Law (1959), S. 69.

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blickt in der Vertragsfreiheit „the expression of individual and private autonomy“.473 Allerdings verfügt das Vereinigte Königreicht nicht über ein Verfassungsdokument, das als Anknüpfungspunkt für eine grundrechtliche Verbürgung der Vertragsfreiheit herangezogen werden könnte.474 Allerdings bestehen im englischen Recht durchaus Garantien, die eine besonders herausgehobene Stellung einnehmen: Als Beispiele seien nur die Magna Carta von 1215 sowie die Bill of Rights von 1689 genannt.475 Und soweit die Vertragsfreiheit durch das Erste Zusatzprotokoll zur EMRK geschützt wird, ist diese Freiheit auch durch den Human Rights Act 1998476 als Menschenrecht verbürgt.477 Ruft man sich in Erinnerung, dass im Rahmen des Art. 6 Abs. 3 EUV nicht nur Regelungen mit „Verfassungsrang“ im engeren Sinne, sondern gerade auch solche Grundsätze berücksichtigt werden, die besondere Bedeutung haben und daher „Kernbestandteil des nationalen Rechts“ sind,478 so könnte die Haltung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Vertragsfreiheit kaum eindeutiger sein: Die „natural liberty of contracting“479 ist bereits in den 1870er Jahren in den Stand einer „paramount public policy“ gehoben worden.480 Vor allem hat Lord Upjohn in der Mixnam’s Properties Ltd v Chertsey Urban District Council-Entscheidung des House of Lords rund neunzig Jahre später ausdrücklich herausgestellt: „[F]reedom to contract between the subjects of this country is a fundamental right“.481

Dazu statt aller Chitty on Contracts I (2012), Rn. 1-214 m. w. N. Z. B. Juss, in: Rabello / Sarcevic (eds.), Freedom of Contract and Constitutional Law (1998), S. 245 und 248. 475 In diesem Sinne auch Gajdosova / Zehetner, England, in: Brüggemeier / Colombi Ciacchi / Comandé (eds.), Fundamental rights and private law in the European Union I (2010), S. 119 ff. 476 1998 c. 42. 477 Siehe zum Schutz der Vertragsfreiheit im Rahmen der EMRK unten C II 3 sowie ferner oben § 1 A II 2 a. In Wilson v First County Trust [2000] EWCA Civ 427 ist die Regelung in s. 127(3) Consumer Credit Act 1974 ausdrücklich an den Garantien des Human Rights Act 1998, einschließlich des dort inkorporierten Art. 1 des Ersten Zusatzprotokoll zur EMRK, gemessen worden. Das House of Lords folgte dieser Argumentation des Court of Appeal nur deshalb nicht, weil der Fall einen Zeitraum vor dem Inkrafttreten des Human Rights Act 1998 betraf, vgl. Wilson v First County Trust Ltd [2003] UKHL 40. 478 GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C:2011: 559 Rn 112. Siehe auch erneut oben A III. 479 Mahomed Zahoor Ali Khan v Thakooranee Rutta Kooer (Agra) (1868) UKPC 3 (Sir Lawrence Peel). 480 Printing and Numerical Registering Co. v Sampson (1875) LR 19 Eq 462, 465 (Lord Jessel): „[Y]ou have this paramount public policy to consider – that you are not lightly to interfere with this freedom of contract“. 481 Mixnam’s Properties Ltd v Chertsey Urban District Council [1965] AC 735, 764 (Lord Upjohn). 473 474

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In Fortführung dieser Rechtsprechung des House of Lords bestätigt auch Lord Steyn in Stewart v Perth and Kinross Council „that freedom to contract is a fundamental right“.482 Mag man diese Bezugnahme auf den Grundrechtscharakter auch untechnisch verstehen, so geht Lord Steyn in Stewart v Perth and Kinross Council jedoch davon aus, dass insbesondere die gesetzgebende Gewalt die Vertragsfreiheit zu achten und zu schützen hat, weshalb gesetzliche Beschränkungen dieser Freiheit stets bestimmten Anforderungen genügen müssen: „[F]reedom to contract is a fundamental right, and […] if Parliament intends to empower a third party to make conditions which regulate the terms of contracts to be made between others then […] it must do so in clear terms“.483

In der Zusammenschau all dieser Elemente ist die rechtsgeschäftliche Privatautonomie im Vereinigten Königreich weit mehr als nur ein „reasonable social ideal“:484 Die Vertragsfreiheit wird in der höchstrichterlichen Rechtsprechung ausdrücklich zum Kernbestandteil der Rechtsordnung gezählt.485 6. Spanien a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts Im spanischen Privatrecht setzt Art. 1255 Código civil die umfassende Vertragsfreiheit der Parteien voraus.486 Darüber hinaus ist der Grundsatz der Vertragsfreiheit nebst seinen wichtigsten Facetten auch in der Rechtsprechung als „principio de libertad contractual“ für das gesamte Recht der Schuldverträge anerkannt.487 Beispielsweise bezeichnet auch der Richter des Stewart v Perth and Kinross Council [2004] UKHL 16 (Lord Steyn) unter Bezugnahme auf Mixnam’s Properties Ltd v Chertsey Urban District Council [1965] AC 735, 763 f. (Lord Upjohn). 483 Siehe erneut Stewart v Perth and Kinross Council [2004] UKHL 16 (Lord Steyn). 484 Vgl. Beatson, Anson’s Law of Contract (1998), S. 4. 485 Vgl. wiederum nur Mixnam’s Properties Ltd v Chertsey Urban District Council [1965] AC 735, 763 f. (Lord Upjohn); Stewart v Perth and Kinross Council [2004] UKHL 16 (Lord Steyn). Siehe zum „common law principle of freedom of contract“ Parkwood Leisure Ltd v Alemo-Herron and others [2011] UKSC 26 (Lord Hope). Vgl. auch Abnett v British Airways Plc (Scotland) [1996] UKHL 5 (Lord Hope). Wie hier im Ergebnis auch Herresthal, in: Ziegler / Huber (eds.), Current Problems in the Protection of Human Rights (2013), S. 89, 92. A. A. – ohne eine Analyse der Rechtsprechungspraxis – dagegen z. B. Starke, EU-Grundrechte und Vertragsrecht (2016), S. 262 f. (dort insbesondere in Fn. 81). 486 Die Vorschrift lautet auszugsweise: „Los contratantes pueden establecer los pactos, cláusulas y condiciones que tengan por conveniente“. 487 Laut Tribunal Constitucional v. 29.6.2000 – 181/2000, BOE n° 180 Suplemento v. 28.7.2000, 14342 ist die „libertad contractual reconocida en el art. 1255 del Código Civil y por abundante doctrina jurisprudencial“. Siehe auch schon Tribunal Constitucional v. 22.7.1987 – 136/1987, BOE n° 191 Suplemento v. 11.8.1987, 18636 mit Blick auf das „principio de libertad contractual reconocido en el art. 1255 del Código Civil“. Siehe zur 482

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Tribunal Constitucional Carlos de la Vega Benayas die „autonomía o libertad contractual“ in seinem Votum ausdrücklich als „una de las bases del sistema contractual español“.488Auch in Spanien ist die Vertragsfreiheit somit ein allgemeiner Grundsatz des Privatrechts. b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung Das spanische Tribunal Constitucional sieht die Vertragsfreiheit als Facette der Unternehmerfreiheit (libertad de empresa) gemäß Art. 38 Constitución Española de 1978489 grundrechtlich geschützt: „El […] respeto al contenido esencial del principio de libre empresa […] exigiría una previa definición de cuál sea ese contenido […]: la libertad de acceso al mercado, que presupone el derecho de propiedad, el de libre elección de profesión y la libertad contractual“.490

Im spanischen Schrifttum wird die Vertragsfreiheit zudem als Element der Privatautonomie aus Art. 10 Abs. 1 Constitución Española de 1978491 hergeleitet: Die Facetten dieser Freiheit seien „manifestaciones evidentes del derecho al libre desarrollo de la personalidad, ámbito en el que el Estado no puede interferir injustificadamente (art. 10.1 CE)“.492 In der Tat anerkennt das spanische Tribunal Constitucional im vertragsrechtlichen Kontext „la autonomía individual, pues ésta, garantía de la libertad personal“.493 Überdies stellt das Tribunal Constitucional das „principio de la autonomía de la voluntad“ in die verfassungsrechtliche Abwägung ein und setzt diesen Grundsatz insbesondere dem Grundrecht auf Gleichheit und Nichtdiskriminierung nach

„libertad para fijar el contenido de los contratos“ sowie zur „libertad para contractar o no y para elegir al cocontratante“ nur Alfaro Aguila-Real, An. Der. Civ. 46 (1993), 57, 93. 488 Vgl. Sondervotum des Richters Carlos de la Vega Benayas zu Tribunal Constitucional v. 28.9.1992 – 121/1992, BOE n° 260 Suplemento v. 29.10.1992, 23991. 489 BOE n° 311 v. 29.12.1978, 29313. Art. 38 Constitución Española de 1978 lautet: „Se reconoce la libertad de empresa en el marco de la economía de mercado. Los poderes públicos garantizan y protegen su ejercicio y la defensa de la productividad, de acuerdo con las exigencias de la economía general y, en su caso, de la planificación“. 490 Tribunal Constitucional v. 16.6.1994 – 179/1994, BOE n° 163 Suplemento v. 9.7.1994, 16040 (Herv. d. Verf.). 491 Die Norm lautet: „La dignidad de la persona, los derechos inviolables que le son inherentes, el libre desarrollo de la personalidad, el respeto a la ley y a los derechos de los demás son fundamento del orden político y de la paz social“. 492 Alfaro Aguila-Real, An. Der. Civ. 46 (1993), 57, 62 und 94. Weitergehend Ramos Muñoz, in: Heiderhoff / Lohsse / Schulze (Hrsg.), EU-Grundrechte und Privatrecht (2016), S. 227, 241 („party autonomy as a principle that cuts across all fundamental rights“). 493 Namentlich wirft das Tribunal Constitucional v. 30.4.1985 – 58/1985, BOE n° 134 Suplemento v. 5.6.1985, 10374 mit Blick auf die Bindung einzelner Arbeitnehmer an Kollektivvereinbarungen ebendiese individuelle (Vertrags)Freiheit in die Waagschale.

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Art. 14 Constitución Española de 1978494 entgegen.495 Zumindest bereichsspezifisch gibt das Tribunal Constitucional der Vertragsfreiheit damit ein grundrechtliches Fundament.496 7. Portugal a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts Im portugiesischen Zivilrecht setzt der „liberdade contratual“ betitelte Art. 405. °, n. °1 Código civil die Vertragsfreiheit voraus.497 In der portugiesischen Rechtsprechung findet sich daher auch die allgemeine Bezugnahme auf den das Recht der Schuldverträge beherrschenden Grundsatz der Vertragsfreiheit („princípio da liberdade contratual“).498 b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung Das portugiesische Tribunal Constitucional sieht die Vertragsfreiheit zunächst durch die Berufsfreiheit in Art. 47. ° Constituição499 verbürgt: Dieses Grundrecht garantiert auch das Recht auf die freie Wahl des Arbeitgebers als eine Facette der Vertragsfreiheit des Arbeitnehmers.500 So hat das Tribunal Constitucional etwa die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Verkürzungen 494 Art. 14 Constitución Española de 1978 lautet: „Los españoles son iguales ante la ley, sin que pueda prevalecer discriminación alguna por razón de nacimiento, raza, sexo, religión, opinión o cualquier otra condición o circunstancia personal o social“. 495 Im Kontext des Kollektivarbeitsrechts führt Tribunal Constitucional v. 10.10.1988 – 177/1988, BOE n° 266 Suplemento v. 5.11.1988, 25632 mit Blick auf Art. 14 Constitución Española de 1978 aus „que en el ámbito de las relaciones privadas […] los derechos fundamentales y, entre ellos, el principio de igualdad, han de aplicarse matizadamente, pues han de hacerse compatibles con otros valores o parámetros que tienen su último origen en el principio de la autonomía de la voluntad, y que se manifiestan a través de los derechos y deberes que nacen de la relación contractual creada por las partes“ (Herv. d. Verf.). 496 Siehe auch Ramos Muñoz, in: Heiderhoff / Lohsse / Schulze (Hrsg.), EU-Grundrechte und Privatrecht (2016), S. 227, 241 f. 497 Die Vorschrift lautet: „Dentro dos limites da lei, as partes têm a faculdade de fixar livremente o conteúdo dos contratos, celebrar contratos diferentes dos previstos neste código ou incluir nestes as cláusulas que lhes aprouver“. 498 Siehe nur Supremo Tribunal de Justiça 4.ª Secção v. 10.10.2007 – n.º 2449/07, SASTJ Secções Cíveis 2007, 168; Supremo Tribunal de Justiça 4.ª Secção v. 7.11.2007 – n.º 1516/07 SASTJ Secções Cíveis 2007, 186 („princípio geral da liberdade contratual“); Supremo Tribunal de Justiça 6.ª Secção v. 22.4.2008 – n.° 274/08, SASTJ Secções Cíveis 2008, 300. Siehe ferner nur Tribunal Constitucional v. 8.3.2007 – n° 181/07 Rn. 6 (abrufbar unter: ). 499 Constituição da República Portuguesa, in der Fassung der 7ª Revisão Constitucional 2005, Lei Constitucional n.º 1/2005. 500 Tribunal Constitucional v. 8.3.2007 – n° 181/07 Rn. 11 f. (abrufbar unter: ).

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dieser Freiheit durch ein Gesetz geprüft, das die Vereinbarung von Ablösesummen in Anstellungsverträgen von Profifußballspielern billigt und den Spielern dadurch die Wahl eines neuen Arbeitgebers erschwert.501 Darüber hinaus wird die Vertragsfreiheit nach der Lesart des Tribunal Constitucional auch als Facette der privaten wirtschaftlichen Freiheit („iniciativa económica privada“) durch Art. 61. °, n. °1 Constituição502 verbürgt.503 In der Summe genießt die Vertragsfreiheit damit auch in der portugiesischen Rechtsordnung zumindest partiell verfassungsrechtlichen Schutz.

Im konkreten Fall verneint das Tribunal Constitucional v. 8.3.2007 – n° 181/07 Rn. 11 (abrufbar unter: ) angesichts der geringen Höhe der Ablösesumme jedoch einen Grundrechtsverstoß: „o valor da compensação não pode em caso algum, afectar de forma desproporcionada, na prática, a liberdade de contratar do praticante“. Zugleich hält das Tribunal Constitucional eine unverhältnismäßige Verkürzung der Vertragsfreiheit in anderen Konstellationen für möglich und macht daher Vorgaben zur Berechnung der Ablösesumme (Rn. 12): „Uma das condições para a fixação do valor da referida compensação é, aliás, como se disse, que ela não possa afectar de forma desproporcionada, na prática, a liberdade de contratar do praticante […] Com efeito, quanto ao direito de escolher livremente a profissão ou o género de trabalho consagrado no artigo 47.º, n.º 1, da Lei Fundamental, enquanto dele deriva o direito de celebrar contrato com outro clube, as normas dos n.ºs 2 e 3 do artigo 18.º da Lei n.º 28/98 permitem uma restrição à liberdade de trabalho, reconhecendo-se que a indemnização de promoção ou valorização, que as normas dos n.ºs 2 e 3 do artigo 18.º da Lei n.º 28/98 viabilizam, entrava a livre contratação de jogadores pelos clubes e limita a liberdade civilística de contratar pura e simplesmente com um clube diverso, consubstanciando uma restrição ao livre jogo da concorrência no mercado de trabalho“ (Herv. d. Verf.). 502 Die Norm lautet: „A iniciativa económica privada exerce-se livremente nos quadros definidos pela Constituição e pela lei e tendo em conta o interesse geral.“ 503 Tribunal Constitucional v. 25.3.2015 – n° 204/2015 Rn. 2.2 (abrufbar unter: ) verneint zunächst die Herleitung der Vertragsfreiheit aus Art. 27 Constituição („Direito à liberdade e à segurança“) und prüft sodann Eingriffe in die Vertragsfreiheit am Maßstab des Art. 61 Abs. 1 Constituição: „Assim, é manifesto que não está aqui em causa a violação do direito à liberdade, na dimensão consagrada no artigo 27.º da Constituição, podendo, quanto muito, estar em causa outra dimensão da liberdade, concretamente, a liberdade de iniciativa económica privada a que se refere o artigo 61.º da Constituição ou, conforme sugere também a decisão recorrida e é sustentado pela Recorrida, os valores da autonomia privada e da liberdade contratual, subjacentes ao princípio do Estado de direito democrático. É o que importa agora apreciar“ (Herv. d. Verf.). Für eine Herleitung aus Art. 26. ° Constituição („direitos à identidade pessoal, ao desenvolvimento da personalidade“) plädieren darüber hinaus z. B. Pinto Oliveira /  MacCrorie, in: Grundmann (ed.), Constitutional Values and European Contract Law (2008), S. 111, 113. 501

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8. Italien a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts Einfachgesetzlich ist die Vertragsfreiheit im italienischen Privatrecht in dem mit „autonomia contrattuale“ überschriebenen Art. 1322 Abs. 1 Codice civile verankert: „Le parti possono liberamente determinare il contenuto del contratto nei limiti imposti dalla legge“.504

Die Vertragsfreiheit wird darüber hinaus in der ständigen Rechtsprechung der Corte di cassazione sowie im Schrifttum als allgemeiner Grundsatz des Privatrechts anerkannt.505 b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung Obschon die Vertragsfreiheit in der italienischen Verfassung nicht ausdrücklich Erwähnung findet, ist diese Freiheit nach gefestigter Rechtsprechung der Corte costituzionale zum einen als Ausfluss der privaten wirtschaftlichen Initiative („iniziativa economica privata“) gemäß Art. 41 und zum anderen als Element des Eigentumsrechts („proprietà“) nach Art. 42 Costituzione della Repubblica Italiana506 grundrechtlich geschützt.507 Im Schrifttum wird die rechtsgeschäftliche Privatautonomie aufgrund ihres Bezuges zur Persönlichkeitsentfaltung auch als Bestandteil der durch Art. 2 Costituzione508 garantier-

Dabei sieht Art. 1322 Abs. 2 Codice civile ausdrücklich die Typenfreiheit vor: „Le parti possono anche concludere contratti che non appartengano ai tipi aventi una disciplina particolare, purché siano diretti a realizzare interessi meritevoli di tutela secondo l’ordinamento giuridico“. 505 Siehe zum „principio dell’autonomia contrattuale“ z. B. Cass. civ. v. 9.10.1991 – n. 10612, Giust. civ. 1991.I, 2895, 2896. Siehe statt vieler Trimarchi, Istituzioni di diritto privato (2011), S. 254. 506 G.U. v. 27.12.1947, n. 298. 507 Siehe insbesondere Corte costituzionale v. 23.4.1965 – n. 30, Giur. cost. 1965, 283: „poiché l’autonomia contrattuale in materia commerciale è strumentale rispetto all’iniziativa economica, ogni limite posto alla prima si risolve in un limite della seconda, ed è legittimo, perciò, solo se preordinato al raggiungimento degli scopi previsti o consentiti dalla Costituzione“. Deutlich führt auch Corte costituzionale v. 11.2.1988, n. 159, Giur. cost., 1988, 553 aus „che dagli artt. 41 e 42 Cost. possa essere argomentato un implicito principio generale di tutela costituzionale dell‘autonomia privata“. Siehe ferner nur Corte costituzionale v. 28.7.2000 – n. 393, Giur. cost. 2000, 2757. Eingehend zum Ganzen Fava, Il Contratto (2012), S. 34 f. m. w. N. aus der Rechtsprechungspraxis. 508 Die Norm lautet: „La Repubblica riconosce e garantisce i diritti inviolabili dell’uomo, sia come singolo sia nelle formazioni sociali ove si svolge la sua personalità, e richiede l‘adempimento dei doveri inderogabili di solidarietà politica, economica e sociale“. 504

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ten „diritti inviolabili dell‘uomo“ angesehen.509 In jedem Fall hat die grundrechtliche Dimension der Vertragsfreiheit bereits Eingang in die Rechtsprechungspraxis der Zivilgerichte gefunden: So behandelt die Corte di cassazione die Vertragsfreiheit als einen „Wert von Verfassungsrang“ („valore costituzionale“).510 Auch in der italienischen Rechtsordnung ist die Vertragsfreiheit mithin verfassungsrechtlich verankert und zumindest bereichsspezifisch als Grundrecht geschützt. 9. Ungarn a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts Im ungarischen Privatrecht verbürgt der mit „Vertragsfreiheit“ („Szerződési szabadság“) überschriebene § 6:59 des ungarischen Bürgerlichen Gesetzbuches511 ausdrücklich die rechtsgeschäftliche Privatautonomie: „Die Parteien können frei Verträge schließen und frei die anderen Vertragsparteien wählen. Die Parteien können den Inhalt des Vertrags frei festlegen“.512

Das ungarische Recht erkennt mithin die Vertragsfreiheit nebst ihrer wichtigsten Facetten als allgemeinen Grundsatz des Privatrechts an.513 b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung Während die Vertragsfreiheit in der Rechtsprechung des ungarischen Verfassungsgerichts (Magyarország Alkotmánybírósága) zunächst als eigenständiges Grundrecht behandelt worden ist,514 hat das Verfassungsgericht die Vertragsfreiheit später aus anderen Grundrechten, namentlich aus der Eigen-

509 Z. B. Sacco / Bussani, Trattato di Diritto Civile: I Singoli Contratti IV (2004), S. 5ff. m. w. N. Siehe insbesondere auch Mengoni, Banca e Borsa 1997.I, 1 ff.; Somma, Autonomia privata e struttura del consenso contrattuale (2000), S. 430 f. 510 Cass. civ. v. 24.9.1999 – n. 10511, Foro it. 2000.I, 1929, 1939 mit Blick auf die als Element der „iniziativa economica privata“ gemäß Art. 41 Costituzione verbürgten Vertragsfreiheit. Dazu Moscati, FS Giacobbe II (2010), S. 1201, 1205 f. Vgl. auch M. Stürner, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Schuldvertragsrecht (2010), S. 155 ff. 511 Polgári törvénykönyv, in der Fassung des Gesetzes 2013:V v. 26.2.2013, Magyar Közlöny 2013 Nr. 31, 2382. 512 Deutsche Übersetzung nach Küpper, in: Breidenbach (Hrsg.), Handbuch Wirtschaft und Recht in Osteuropa IV (2014), UNG 200 § 6:59 BGB. 513 Siehe zur Vertragsfreiheit im ungarischen Privatrecht nur Küpper, WiRO 2014, 366, 369; Fuglinszky, RabelsZ 79 (2015), 72, 90 f.; Vékas, FS Müller-Graff (2015), 98, 102. 514 Vgl. nur Magyarország Alkotmánybírósága v. 5.3.1992 – 11/1992 (III. 5.) AB, in englischer Übersetzung abgedruckt in: Sólyom / Brunner (eds.), Constitutional Judiciary in a New Democracy (2000), S. 212, 221. Siehe dazu nur Sólyom, in: ders. / Brunner (eds.), Constitutional Judiciary in a New Democracy (2000), S. 1, 26; Kerek, Verfassungsgerichtsbarkeit in Ungarn und Rumänien (2010), S. 449.

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tumsgarantie sowie der Handlungsfreiheit und Menschenwürde, abgeleitet.515 Da das seit 1.1.2012 in Kraft stehende reformierte ungarische Grundgesetz (Magyarország Alaptörvénye)516 insoweit keine Änderung intendiert, bleibt die Vertragsfreiheit weiterhin als Ausfluss der Freiheitsrechte und insbesondere der Eigentumsgarantie geschützt.517 10. Polen a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts In der polnischen Rechtsordnung stellt Art. 3531 Zivilgesetzbuch (ZGB)518 die Vertragsfreiheit wie folgt heraus: „Die Vertragsparteien können ihr Rechtsverhältnis nach freiem Willen gestalten, soweit dessen Inhalt und Ziel der Besonderheit (der Natur) des Rechtsverhältnisses, dem Gesetz und den Grundsätzen des gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht widerspricht“.519

Darüber hinaus wird die Vertragsfreiheit als allgemeines Prinzip des polnischen Privatrechts aufgefasst: Dieser Grundsatz greift über die nach Art. 3531 ZGB ausdrücklich geschützten Facetten der Vertragsfreiheit hinaus und gebietet umfassende rechtsgeschäftliche Gestaltungsfreiheit, etwa bezüglich des Vertragsabschlusses, der Vertragspartnerwahl, der Änderung sowie der Aufhebung des Vertrags.520 Die Vertragsfreiheit ist demnach auch im polnischen Recht als allgemeiner Grundsatz anerkannt.

515 Sólyom, in: ders. / Georg Brunner (eds.), Constitutional Judiciary in a New Democracy (2000), S. 27 f. m. w. N. : „[F]reedom of contract […] is protected on the basis of the right to property and constitutional privacy (the right to freedom of action as derived from the right to human dignity)“. Siehe zur Entscheidung des Magyarország Alkotmánybírósága v. 21.2.2006 – 7/2006 (II. 22.) AB auch Téglási, Dny práva 2012 (2013), S. 2442, 2459: „It also declared that the provision regarding the right of preemption is not unconstitutional up to the point that it does not lead to elimination of the right to dispose of property which it characterized as “rendering empty” and rendering freedom of contract impossible“ (Herv. im Original). 516 Magyar Közlöny 2011 Nr. 43, 10656. Dazu Jakab / Sonnevend, ZaöRV 2012, 79. 517 Siehe zur Kontinuität mit Blick auf die einzelnen Facetten des Eigentumsrechts nach Art. VIII ungarisches Grundgesetz nur Balogh / Hajas, in: Csink / Schanda / Varga (eds.), The Basic Law of Hungary (2012), Ch. 5, 2.9. (S. 135, 163 ff.). In diesem Sinne auch Jakab / Sonnevend, ZaöRV 2012, 79, 88. Zurückhaltender Küpper, WiRO 2014, 366, 369. 518 Kodeks cywilny v. 23.4.1964 (bereinigte Fassung), Dziennik Ustaw 2014, 121. 519 Deutsche Übersetzung nach Lane / Gralla, in: Breidenbach (Hrsg.), Handbuch Wirtschaft und Recht in Osteuropa II (2014), PL 200 Art. 3531 ZGB. 520 Statt vieler Lohs, Grenzen der Vertragsfreiheit im polnischen Zivilrecht (2000), S. 42 ff.; Motyka-Mojkowski, Polnisches Zivilrecht AT (2010), S. 28 und 147, jeweils m. w. N.

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b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung Das polnische Verfassungsgericht (Trybunał Konstytucyjny) leitet die Vertragsfreiheit in erster Linie aus dem Freiheitsgrundrecht gemäß Art. 31521 sowie aus Art. 20522 und Art. 22523 der polnischen Verfassung524 ab.525 Somit ruht die Vertragsfreiheit in der polnischen Rechtsordnung ebenfalls auf einem grundrechtlichen Fundament. 11. Litauen a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts Für das Recht der Schuldverträge sieht der mit „Grundsatz der Vertragsfreiheit“ („Sutarties laisvės principas“) überschriebene Art. 6.156 Abs. 1 litauisches Zivilgesetzbuch (ZGB)526 folgende Regelung vor:

521 Die offizielle deutsche Übersetzung des Artikels lautet: „Die Freiheit des Menschen steht unter dem Schutz des Rechtes. Jedermann ist verpflichtet, die Freiheiten und Rechte der anderen zu beachten. Niemand darf zu etwas gezwungen werden, was ihm nicht durch das Recht geboten ist. Einschränkungen, verfassungsrechtliche Freiheiten und Rechte zu genießen, dürfen nur in einem Gesetz beschlossen werden und nur dann, wenn sie in einem demokratischen Staat wegen seiner Sicherheit oder öffentlicher Ordnung oder zum Schutz der Umwelt, Gesundheit, der öffentlichen Moral oder der Freiheiten und Rechte anderer Personen notwendig sind. Diese Einschränkungen dürfen das Wesen der Freiheiten und Rechte nicht verletzen“. 522 Die offizielle deutsche Übersetzung der Vorschrift lautet: „Die soziale Marktwirtschaft, gestützt auf die Freiheit der wirtschaftlichen Tätigkeit, Privateigentum und Solidarität, Dialog und Zusammenarbeit der sozialen Partner, bildet die Grundlage der wirtschaftlichen Ordnung der Republik Polen.“ 523 Die offizielle deutsche Übersetzung der Vorschrift lautet: „Eine Einschränkung der Freiheit der wirtschaftlichen Tätigkeit ist zulässig nur auf dem Gesetzesweg und nur wegen eines wichtigen gesellschaftlichen Interesses.“ 524 Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej v. 2.4.1997, Dziennik Ustaw 1997, 483. 525 So führt Trybunał Konstytucyjny v. 29.4.2003 – SK 24/02, OTK ZU 2003, Nr. 4A, 33 aus: „The connection between the freedom of contract with the constitutional guarantee of personal freedom lies in the fact that the obligation to respect freedom is imposed by the Constitution on all parties in legal relationships, also on the parties in civil law“ (Zitat und englische Übersetzung nach Safjan, FS Micklitz (2014), S. 123, 132 (dort in Fn. 24)). Siehe zur verfassungsrechtlichen Verankerung der Vertragsfreiheit auch MotykaMojkowski, Polnisches Zivilrecht AT (2010), S. 28; Jańczuk / Krzemińska-Vamvaka, in: Brüggemeier / Colombi Ciacchi / Comandé (eds.), Fundamental Rights and Private Law in the European Union I (2010), S. 485, 518 f.; Rott-Pietzyk, in: Drygala / Heiderhoff / Staake u. a. (eds.), Private Autonomy in Germany and Poland and in the Common European Sales Law (2012), S. 15, 18 (dort auch in Fn. 2). 526 Civilinis Kodeksas, Gesetz Nr. VIII-1864 v. 18.7.2000, offizielle englische Übersetzung der konsolidierten Fassung des Gesetzes Nr. XI-1312 v. 12.4.2011 (abrufbar unter: ).

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„The parties shall be free to enter into contracts and determine their mutual rights and duties at their own discretion.“527

Darüber hinaus betont Art. 6.156 ZGB die Abschluss-528 sowie die Typen-529 und Inhaltsfreiheit.530 Schließlich weist das litauische ZGB gegenüber den anderen untersuchten Rechtsordnungen ein Alleinstellungsmerkmal auf, da es in Art. 1.2. Abs. 1 ZGB allgemeine Prinzipien für das gesamte Privatrecht vorausschickt, zu denen auch die Vertragsfreiheit zählt: „Civil relationships shall be regulated in accordance with the principles of equality of their subjects’ rights, inviolability of property, freedom of contract, non-interference in private relations, legal certainty, proportionality, and legitimate expectations, prohibition to abuse a right, as well as the principles of comprehensive judicial protection of civil rights.“

Das litauische Privatrecht enthält somit einen allgemeinen privatrechtlichen Grundsatz der Vertragsfreiheit, der überdies in der Rechtsprechung umfassend Anerkennung findet.531 b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung Das litauische Verfassungsgericht (Lietuvos Respublikos Konstitucinis teismas) sieht die Vertragsfreiheit durch die litauische Verfassung532 garantiert und leitet den grundrechtlichen Schutz aus der Freiheit des Individuums gemäß Art. 21,533 aus der Unverletzlichkeit des Eigentums nach Art. 23534 sowie 527 Die Vorschrift sieht im Übrigen umfassende Abschlussfreiheit (Abs. 2) und Vertragstypenfreiheit (Abs. 3) vor. 528 Art. 6.156 Abs. 2 ZGB lautet: „It shall be prohibited to compel another person to conclude a contract, except in cases when the duty to enter into a contract is established by laws or a free-will engagement.“ 529 Art. 6.156 Abs. 3 ZGB lautet: „The parties may form a contract which contains elements of contracts of several classes. Such contract shall be governed by norms regulating the separate classes of contracts unless otherwise provided for by the agreement of the parties, or this contradicts the essence of the contract.“ 530 Art. 6.156 Abs. 4 und Abs. 5 ZGB lauten auszugsweise: „The conditions of a contract shall be established by the parties at their own discretion […]. Where the conditions of a contract are established by a non-mandatory law rule, the parties may agree on nonapplication of these conditions, or they may agree on any other conditions“. 531 Dazu z. B. Galginaitis / Himmelreich / Vrubliauskaité, Einführung in das litauische Recht (2010), S. 102; Zukas, Transformation des Vertragsrechts in Litauen (2011), S. 57 ff., jeweils m. w. N. 532 Lietuvos Respublikos Konstitucija, Lietuvos Aidas 1992, Nr. 220 (offizielle englische Übersetzung abrufbar unter: ). 533 Die offizielle englische Übersetzung der Vorschrift lautet auszugsweise: „The person of the human being shall be inviolable. The dignity of the human being shall be protected by law“. 534 Die offizielle englische Übersetzung der Vorschrift lautet auszugsweise: „Property shall be inviolable. The rights of ownership shall be protected by law“.

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aus der individuellen wirtschaftlichen Freiheit gemäß Art. 46 litauische Verfassung535 ab: „The freedom to conclude agreements is a […] manifestation of such values which are consolidated in the Constitution as freedom of a person (Article 21), the inviolability of property (Article 23), freedom of individual economic activity (Article 46). Thus, the freedom to conclude agreements may be deemed to be a guarantee on the constitutional level.“536

Demnach genießt die Vertragsfreiheit in der litauischen Rechtsordnung verfassungsrechtlichen Schutz.537 12. Schweden a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts Das schwedische Recht erkennt die Vertragsfreiheit („avtalsfrihet“) unter anderem in § 3 Köplag538 umfassend an. Auch darüber hinaus nimmt die schwedische höchstrichterliche Rechtsprechung auf einen übergreifenden privatrechtlichen Rechtsgrundsatz der Vertragsfreiheit („principiella avtalsfrihet“) Bezug.539 Dieser allgemeine Grundsatz umfasst unterschiedliche Facetten und schützt insbesondere die Inhaltsfreiheit („innehållsfrihet“), Vertragspartnerwahlfreiheit („frihet att välja avtalspart“), Typenfreiheit („typfrihet“) Formfreiheit („formfrihet“) und schließlich auch die Vertragsaufhebungsfreiheit („upplösningsfrihet“).540 b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung Im schwedischen Schrifttum wird die Vertragsfreiheit teilweise aus der allgemeinen Freiheit des Menschen abgeleitet und somit auf ein menschen- und

535 Die offizielle englische Übersetzung der Vorschrift lautet auszugsweise: „Lithuania’s economy shall be based on the right of private ownership, freedom of individual economic activity and initiative“. 536 Lietuvos Respublikos Konstitucinis teismas v. 20.11.1996 – 2/96, Valstybes Zinios 114-2643 v. 27.11.1996 (offizielle englische Übersetzung abrufbar unter: ). 537 Siehe auch Zukas, Transformation des Vertragsrechts in Litauen (2011), S. 57. 538 Köplag, SFS 1990:931. Siehe darüber hinaus nur Kap. 14 § 2 und Kap. 16 § 3 Sjölag, SFS 1994:1009; § 2 Kommissionslag, SFS 2009:865. 539 Z. B. Högsta Domstolen v. 30.5.1991 – Ö1676-89, NJA 1991, 284. Ähnlich Högsta Domstolen v. 26.2.2001 – T3832-98, NJA 2001, 75 („inom den allmänna avtalsrätten rådande viktiga principen om avtalsfrihet“ (Herv. d. Verf.)). Siehe auch Marknadsdomstolen v. 4.5.2010, MD 2010:12 („Grundprincipen är att avtalsfrihet råder“). Allgemein zur Vertragsfreiheit z. B. Strömholm, FS Sveriges Advokatsamfund (1987), S. 531 ff.; Ramberg /  Ramberg, Allmän avtalsrätt (2014), S. 27 ff. 540 Vgl. nur Strömholm, FS Sveriges Advokatsamfund (1987), S. 531 ff. m. w. N.

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grundrechtliches Fundament gestellt.541 Soweit ersichtlich, hat die schwedische Rechtsprechungspraxis die Gewährleistung der Vertragsfreiheit bislang nicht verfassungsrechtlich untermauert. Im Zuge des Inkrafttretens der EMRK ist in Schweden jedoch diskutiert worden, die Vertragsfreiheit ausdrücklich in der Verfassung zu verbürgen.542 Während im Ergebnis darauf verzichtet wurde, ist im Rahmen der Debatte doch der besondere Stellenwert der Vertragsfreiheit in der schwedischen Rechtsordnung sowie die Rechtfertigungsbedürftigkeit aller Einschränkungen dieser Freiheit betont worden.543 Auch Schweden zählt die Vertragsfreiheit demnach zu den Kernbestandteilen seiner Rechtsordnung. III. Verankerung der Vertragsfreiheit im Völkerrecht Das Völkerrecht kommt gleich in dreierlei Hinsicht als Referenzpunkt eines allgemeinen Grundsatzes der Vertragsfreiheit in Betracht: Zunächst genießen die Völkerrechtssubjekte umfassende Vertragsfreiheit beim Abschluss völkerrechtlicher Abkommen (1). Darüber hinaus ist die Vertragsfreiheit das Leitprinzip diverser völkervertraglicher Übereinkommen mit Bezug zum Privatrecht (2). Schließlich wird die Vertragsfreiheit potenziell auch als Grund- und Menschenrecht in völkerrechtlichen Abkommen verbürgt (3). 1. Allgemeiner völkervertragsrechtlicher Grundsatz Wie der zweite Rapporteur der International Law Commission (ILC) für Recht der Verträge, Sir Hersch Lauterpacht, bereits im Jahr 1953 prägnant herausgestellt hat, gilt im Recht der völkerrechtlichen Verträge „the general principle of law which postulates freedom of consent as an essential condition of […] consensual undertakings”.544

Dieses Prinzip umfassender Abschlussfreiheit hat Eingang in den Text der Wiener Vertragsrechtskonvention vom 23.5.1969 gefunden.545 Auch darüber hinaus wird das Völkervertragsrecht von einem allgemeinen Grundsatz der Ver541 Vgl. z. B. Ramberg / Ramberg, Allmän avtalsrätt (2014), S. 27 f. und vgl. auch Regeringens proposition 1993/94:117, Inkorporering av Europakonventionen och andra frioch rättighetsfrågor v. 9.12.1993. 542 Vgl. Regeringens proposition 1993/94:117, Inkorporering av Europakonventionen och andra frioch rättighetsfrågor v. 9.12.1993 („grundlagsskydd för avtalsfriheten“). 543 Vgl. wiederum Regeringens proposition 1993/94:117, Inkorporering av Europakonventionen och andra fri- och rättighetsfrågor v. 9.12.1993: „Vi anser att principen om avtalsfriheten är så viktig att denna inte bör inskränkas annat än i de fall då avtalsfriheten klart missbrukas“. 544 Report on the Law of Treaties, U.N. Doc. A/CN.4/63 v. 24.3.1953, in: Y.B. ILC Vol. 2 (1953), S. 90, 148. 545 Vgl. insbesondere Art. 6 und Art. 11 ff. Vienna Convention on the Law of Treaties 1969, 1155 UNTS, 331.

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tragsfreiheit beherrscht: Die Vertragsparteien genießen beim Abschluss und bei der Ausgestaltung völkerrechtlicher Abkommen grundsätzlich umfassende Autonomie.546 Dabei geht es freilich allein um die Gewährleistung von „freedom of contract of sovereign states“ und sonstiger Völkerrechtssubjekte.547 2. Vertragsfreiheit als Grundprinzip privatrechtsrelevanter völkerrechtlicher Abkommen Die Vertragsfreiheit scheint darüber hinaus als allgemeiner Grundsatz auch in zahlreichen völkervertraglichen Abkommen mit privatrechtlichen Bezügen auf. Als Beispiele werden nachfolgend das Kaufrecht, das Transportvertragsrecht sowie das Immaterialgüterrecht in den Blick genommen. Zunächst gewährleistet das CISG nicht nur umfassende Parteiautonomie, sondern baut auch auf dem Grundsatz der Vertragsfreiheit auf, wie Art. 6 CISG verdeutlicht: „Die Parteien können die Anwendung dieses Übereinkommens ausschließen oder, vorbehaltlich des Artikels 12, von seinen Bestimmungen abweichen oder deren Wirkung ändern“.548

Eine vergleichbare Regelung enthielt bereits Art. 3 ULIS.549 Auch internationale Rechtsvereinheitlichungsprojekte, wie insbesondere die durch UNIDROIT erarbeiteten PICC 2010,550 heben die Vertragsfreiheit als zentralen privatrechtlichen Grundsatz hervor. Art. 1.1 PICC 2010 („freedom of contract“) stellt folgende Vorschrift voran: „The parties are free to enter into a contract and to determine its content“. Begründet wird diese Regelung mit der allgemeinen Geltung und herausragenden Bedeutung der Vertragsfreiheit im internationalen Handelsverkehr.551 546 Siehe zum allgemeinen Grundsatz der Vertragsfreiheit im Völkervertragsrecht nur D’Amato, Harv. Int. L.J. 3 (1962), 1, 7 („contracting parties are free, by virtue of the freedom of contract“); Dahm / Delbrück / Wolfrum, Völkerrecht I/3 (2002), S. 535 ff.; Daillier /  Pellet, Droit international public (2002), S. 118 ff.; Bischoff, Die Europäische Gemeinschaft und die Konventionen des einheitlichen Privatrechts (2010), S. 286 f. Implizit wird dies auch durch Art. 53 Wiener Vertragsrechtskonvention anerkannt, da laut dieser Norm nur das ius cogens der Vertragsfreiheit der Parteien Grenzen setzt. 547 Statt vieler Dajani, Mich. J. Int. L. 34 (2012), 1, 3. Vgl. auch Art. 6 Wiener Vertragsrechtskonvention. 548 Zu den Einzelheiten und Grenzen statt vieler Staudinger / Magnus (2013), Art. 6 CISG Rn. 1 und 8 ff.; Ferrari / Kieninger / Mankowski / Saenger, Internationales Vertragsrecht (2011), Art. 6 CISG Rn. 1; MünchKommHGB / Benicke (2013), Art. 6 CISG Rn. 1. 549 Art. 3 Convention relating to a Uniform Law on the International Sale of Goods v. 1.7.1964, BGBl. 1973 II, S. 885 lautet auszugsweise: „The parties to a contract of sale shall be free to exclude the application thereto of the present Law either entirely or partially“. 550 UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts 2010. 551 UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts 2010, S. 8: „The principle of freedom of contract is of paramount importance in the context of international trade. The right of business people to decide freely to whom they will offer their goods or

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Obschon das Transportvertragsrecht zahlreiche zwingende Regelungen enthält,552 scheint in internationalen Übereinkommen in diesem Bereich wiederholt die Vertragsfreiheit auf: So eröffnet etwa Art. 52 CIM553 den Beförderern untereinander beim Eisenbahntransport die Freiheit, Vereinbarungen über Rückgriffsansprüche zu treffen.554 Eine ähnliche Regelung enthält auch Art. 40 CMR555 für den Straßengüterverkehr.556 Besonders deutlich wird der allgemeine Grundsatz in dem mit „Vertragsfreiheit“ („liberté de contracter“, „freedom to contract“) betitelten Art. 27 MÜ557 herausgestellt, der insbesondere die Vertragspartnerwahl-, Abschluss- und Inhaltsfreiheit betont: „Dieses Übereinkommen hindert den Luftfrachtführer nicht daran, den Abschluss eines Beförderungsvertrags zu verweigern, auf Einwendungen, die ihm nach dem Übereinkommen zur Verfügung stehen, zu verzichten oder Vertragsbedingungen festzulegen, die nicht im Widerspruch zu diesem Übereinkommen stehen“.558

Die grundsätzliche Formfreiheit von Luftbeförderungsverträgen sieht zudem Art. 9 MÜ vor.559 Im Bereich der Binnenschifffahrt wird die Vertragsfreiheit als allgemeiner Grundsatz in Art. 25 CMNI560 vorausgesetzt, der zwar Begrenzungen der Vertragsfreiheit normiert („limites de la liberté contractuelle“, „limits of contractual freedom“), im Übrigen aber rechtsgeschäftliche

services and by whom they wish to be supplied, as well as the possibility for them freely to agree on the terms of individual transactions, are the cornerstones of an open, marketoriented and competitive international economic order“. 552 Siehe zur Beschränkung der einzelnen Facetten der Vertragsfreiheit eingehend Basedow, Der Transportvertrag (1987), S. 127 ff, 191 ff. und 247 ff. 553 Einheitliche Rechtsvorschriften für den Vertrag über die internationale Eisenbahnbeförderung von Gütern (CIM) – Anhang B zum Übereinkommen über den internationalen Eisenbahnverkehr (COTIF) vom 9. Mai 1980 in der Fassung des Revisionsausschusses der OTIF v. 25.6.2009, BGBl. 2010 II, S. 1246, 1247. 554 Art. 52 CIM lautet: „Den Beförderern steht es frei, untereinander Vereinbarungen zu treffen, die von den Artikeln 49 und 50 abweichen“. Dazu statt aller MünchKommHGB / Freise (2014), Art. 52 CIM Rn. 1. 555 Übereinkommen über den Beförderungsvertrag im internationalen Straßengüterverkehr (CMR) v. 19.5.1956, BGBl. 1961 II, S. 1120. 556 Art. 40 CMR lautet: „Den Frachtführern steht es frei, untereinander Vereinbarungen zu treffen, die von den Artikeln 37 und 38 abweichen”. Siehe dazu nur MünchKommHGB / Jesser-Huß (2014), Art. 40 CMR Rn. 1. 557 Übereinkommen zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr (Montrealer Übereinkommen) vom 28. Mai 1999, BGBl. 2004 II, S. 458. 558 Eingehend MünchKommHGB / Ruhwedel (2014), Art. 40 MÜ Rn. 1 ff. 559 Statt aller MünchKommHGB / Ruhwedel (2014), Art. 1 MÜ Rn. 12, Art. 9 MÜ Rn. 2 und Art. 40 MÜ Rn. 1. 560 Budapester Übereinkommen über den Vertrag über die Güterbeförderung in der Binnenschifffahrt (CMNI) v. 22.6.2001, BGBl. 2007 II, S. 298.

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Privatautonomie gewährt.561 Zudem findet sich gerade im Bereich der Transportversicherung eine bedeutende Anerkennung des Grundsatzes der Vertragsfreiheit im Kontext des GATT 1947:562 Die Vertragsparteien des GATT nahmen bereits im Jahr 1959 eine Empfehlung betreffend „Freedom of Contract in Transport Insurance“ an.563 Schließlich nimmt auch das TRIPS564 die „freely negotiated licence“565 zum Leitbild und fordert in Art. 28 Abs. 2 TRIPS umfassende Vertragsfreiheit, insbesondere in Bezug auf Lizenzverträge, ein: „Patent owners shall also have the right to […] conclude licensing contracts“.

Der Grundsatz der Vertragsfreiheit ist somit allen vorgenannten privatrechtsrelevanten Übereinkommen präsent. 3. Grundrechtliche Dimension völkerrechtlicher Abkommen Die Vertragsfreiheit ist in völkerrechtlichen Übereinkommen zumindest partiell auch als Grund- und Menschenrecht verbürgt: Wie bereits dargelegt, wird die rechtsgeschäftliche Privatautonomie nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR als Facette der durch Art. 1 des 1. Protokolls zur EMRK geschützten Eigentumsfreiheit gewährleistet.566 Dies bedeutet zugleich, dass die Vertragsfreiheit insoweit auch in allen EU-Mitgliedstaaten grundrechtlich garantiert wird. Darüber hinaus wird die Vertragsfreiheit womöglich auch durch die UN-MRK567 geschützt: Mit unterschiedlicher Akzentsetzung wird diese Freiheit unter anderem aus Art. 16 (Eheschließungsfreiheit), Art. 17 (Vereinigungsfreiheit) sowie aus Art. 1 und Art. 3 UN-MRK (Menschenwürde und Freiheitsrecht) hergeleitet.568 Auch Art. 16 International Convention 561 Dazu statt vieler MünchKommHGB / Otte (2014), Art. 25 CMNI Rn. 5: „Grundsätzlich sind die Vertragsparteien frei, einen Frachtvertrag zu schließen, seinen Inhalt zu bestimmen und – in den Grenzen von Art. 25 – Abweichungen von den Regelungen der CMNI zu vereinbaren“. 562 General Agreement on Tariffs and Trade v. 30.10.1947, 55 UNTS, 194. 563 GATT Secretariat, Freedom of Contract in Transport Insurance v. 27.5.1959, BISD 8th Supp. 26 (1960). Siehe Footer / George, in: Macrory / Appleton / Plummer (eds.), The World Trade Organization: Legal, Economic and Political Analysis I (2005), S. 799, 803. 564 Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights v. 15.4.1994, 1869 UNTS, 299. 565 Vgl. Art. 37 Abs. 1 TRIPS. 566 Siehe beispielsweise EGMR Urt. v. 19.12.1989 – Nr. 10522/83 u. a. (Mellacher u. a./ Austria), Rn. 50 ff.; EGMR Urt. v. 19.6.2006 – Nr. 35014/97 (Hutten-Czapska / Poland), Rn. 160 f.; EGMR Urt. v. 28.1.2014 – Nr. 30255/09 (Bittó u. a./Slovakia), Rn. 97 f. und 101 Siehe dazu erneut oben § 1 A II 2 a. 567 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte v. 10.12.1948, A/RES/217, UN-Doc. 217/A-(III). 568 In diesem Sinne z. B. Alpa / Andenæs, Grundlagen des Europäischen Privatrechts (2010), S. 48 f. Für die Verbürgung der Vertragsfreiheit als Menschenrecht auch Petersmann, EJIL 13 (2002), 621, 626 und 630; Schneider, FS Petersmann (2014), S. 453, 456 f.

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on Civil and Political Rights („Right to Recognition as a Person before the Law“) wird teilweise dahingehend verstanden, dass hierin auch die grundsätzliche Fähigkeit des Menschen verbürgt wird, Verträge einzugehen.569 Schließlich ist insbesondere auch die Parteiautonomie als Ausfluss der durch die UNMRK sowie die International Convention on Civil and Political Rights geschützte Freiheit des Individuums bezeichnet worden.570 Mag der Schutz der Vertragsfreiheit auch bereichsspezifisch und lückenhaft sein, so werden zumindest einzelne Facetten der privaten rechtsgeschäftlichen Autonomie in internationalen Übereinkommen als Grund- und Menschenrechte garantiert.571 C. Vertragsfreiheit als Grundsatz des Unionsprivatrechts und Unionsgrundrecht i.S.d. Art. 6 Abs. 3 EUV Die Bestandsaufnahme im Unions- und Völkerrecht sowie in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen hat eine Fülle von Verbürgungen der Vertragsfreiheit zutage gefördert. Das empirische Material ist im Folgenden daraufhin zu prüfen, ob es in der Zusammenschau einen Induktionsschluss auf einen allgemeinen privatrechtlichen Grundsatz der Vertragsfreiheit (I) ebenso wie auf einen Grundsatz im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV (II) zu tragen vermag. I.

Unionsprivatrechtlicher Rechtsgrundsatz

Bereits die Untersuchung des EU-privatrechtlichen acquis und insbesondere des unionalen Verbraucher-, Finanzdienstleistungs- und Wirtschaftsvertragsrechts hat gezeigt, dass in allen Regelungsbereichen im Grundsatz umfassende Vertragsfreiheit vorausgesetzt wird. Die Heterogenität der Materien und Rechtsakte verdeutlicht dabei, dass es sich nicht um eine Freiheit handelt, die nur sektoriell im Unionsrecht garantiert wird, sondern vielmehr um ein übergreifendes, weitgespanntes Prinzip, dass überall anzutreffen ist, wo schuldvertragliche Beziehungen in Rede stehen. Die sieben im Rahmen dieser Abhandlung identifizierten Facetten der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie werden ausdrücklich in der Rechtsprechung des EuGH anerkannt,572 und der Unionsgesetzgeber hebt ebenfalls in unterschiedlichen Bereichen auf einen

(„inseparable link to the human right to liberty“). Dezidiert a. A. ist beispielsweise Alston, EJIL 13 (2002), 815 ff. 569 Vgl. etwah Joseph / Castan, The International Convention on Civil and Political Rights (2013), S. 336 f. („all humans can enter into contracts“). 570 In diesem Sinne Jayme, Rapport définitif, in: Institut de droit international, Annuaire 64 I (1991), S. 62, 65 ff.; Basedow, RabelsZ 75 (2011), 32, 54 ff.; ders., The Law of Open Societies (2015), S. 148 f. 571 So auch Alpa / Andenæs, Grundlagen des Europäischen Privatrechts (2010), S. 48 f. 572 Siehe eingehend oben § 1 B I und § 2 B I.

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allgemeinen „Grundsatz der Vertragsfreiheit“ ab.573 Überdies wird die Vertragsfreiheit implizit dadurch anerkannt, dass mannigfaltige Regelungen des unionalen Privat- und Wirtschaftsrechts die Vertragsfreiheit in all ihren Facetten beschränken.574 Solcher Einschränkungen bedarf es denknotwendig nur, wenn im Ausgangspunkt zunächst umfassende Vertragsfreiheit besteht.575 Dieser unionsrechtsimmanente Befund wird durch die Verankerung der Vertragsfreiheit im Völkerrecht bestätigt.576 Zum einen ist das Völkervertragsrecht selbst vom Grundsatz der Vertragsfreiheit der Völkerrechtssubjekte beherrscht. Zum anderen bildet die Vertragsfreiheit das Leitprinzip vieler völkerrechtlicher Abkommen mit Privatrechtsbezug, etwa im Bereich des Kauf- und des Transportrechts. Die umfassende internationale Anerkennung der Vertragsfreiheit zeigt sich nicht zuletzt daran, dass diese Freiheit in privatrechtlichen Harmonisierungsprojekten vorangestellt wird, wie etwa Art. 1.1 PICC 2010, Art. 1:102 PECL und Art. II.–1:102(1) DCFR belegen.577 Vor allem aber erkennen sämtliche im Rahmen der rechtsvergleichenden Umschau untersuchten mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen die Vertragsfreiheit als allgemeinen Grundsatz des Privatrechts an.578 Die unionsrechtsimmanente, völkerrechtliche und rechtsvergleichende Betrachtung liefert damit ein solides Fundament für die induktive Begründung eines allgemeinen privatrechtlichen Rechtsgrundsatzes der Vertragsfreiheit in der Unionsrechtsordnung. Die rechtsgeschäftliche Privatautonomie erfüllt alle Anforderungen, die der EuGH und seine Generalanwälte an allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts stellen:579 Zunächst zählt diese Freiheit jeweils zum Kernbestandteil des Unionsrechts, des Völkerrechts und der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen.580 Zudem beansprucht der Grundsatz 573 Siehe erneut nur Erwägungsgründe Nr. 8 und 9 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie; Erwägungsgrund Nr. 14 Unisexrichtlinie; Erwägungsgrund Nr. 7 Euro-Einführungsverordnung. Vgl. auch Erwägungsgründe Nr. 28 und 29 Zahlungsverzugsrichtlinie. In ihrem Aktionsplan für ein europäisches Vertragsrecht erhebt schließlich auch die Europäische Kommission die Vertragsfreiheit zum „[l]eitenden Grundsatz“, siehe Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat – Ein kohärenteres europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan, ABl. 2003 C 61/1, 11 und 15: „Leitender Grundsatz sollte hierbei die Vertragsfreiheit sein; Einschränkungen sollten nur dann vorgesehen werden, wenn es gute sachliche Gründe dafür gibt“. 574 Siehe eingehend oben § 1 B II. 575 In diesem Sinne bereits zuvor Schulze, GPR 2005, 56, 58; Müller-Graff, in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung (2011), S. 139, 148. 576 Siehe oben oben B III. 577 Hierzu eingehend Hosemann, in: Jansen/Zimmermann (eds.), Commentaries on European Contract Laws (2018), Art. 1:102 Rn. 1 ff. 578 Siehe erneut oben B II. 579 Siehe zu den Kriterien oben A sowie GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C:2011:559 Rn. 112. 580 Siehe oben § 1 B und § 2 B.

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allgemeine Geltung im Privatrecht und ist nicht nur auf einen einzelnen Rechtsbereich beschränkt.581 Schließlich weist der Grundsatz der Vertragsfreiheit im Unionsrecht beim derzeitigen Stand weit mehr als nur ein „Mindestmaß an normativer Bestimmtheit“ auf,582 da bereits sieben Facetten dieser Freiheit im Unionsrecht umfassend ausdifferenziert sind.583 Dieser Befund überzeugt schließlich auch in Ansehung der Funktion allgemeiner Rechtsgrundsätze des EU-Privatrechts: Nach mittlerweile gefestigter Rechtsprechung des EuGH sollen diese Grundsätze in Vertragsbeziehungen „für einen vernünftigen Ausgleich und eine gerechte Risikoverteilung zwischen den einzelnen Beteiligten sorgen“.584 Doch welcher vertragliche Ausgleich und welche Risikoverteilung kann prima facie eine höhere Überzeugungskraft entfalten als das von den Parteien vermöge ihrer Vertragsfreiheit ausdrücklich Vereinbarte?585 Insgesamt zählt die Vertragsfreiheit als unverzichtbares Instrument privatautonomer Selbstbestimmung schon beim derzeitigen Stand der Rechtsentwicklung zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsprivatrechts. II. Vertragsfreiheit als Grundrecht im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV Bereits in der Bestandsaufnahme im Recht der EU und insbesondere in der Rechtsprechung des EuGH klingt wiederholt an, dass der „Grundsatz der Vertragsfreiheit“ grund- und damit primärrechtliche Dignität genießt.586 Lenkt man den Blick darüber hinaus auf das Völkerrecht, so zeigt sich, dass einzelne Facetten der Vertragsfreiheit auch durch internationale Abkommen als Grund- und Menschenrechte garantiert werden.587 Insbesondere schützt Art. 1 des ersten Zusatzprotokolls zur EMRK nach der Lesart des EGMR die rechtsgeschäftliche Privatautonomie. Diese Verbürgung der Vertragsfreiheit als EMRK-Grundrecht ist schon ausweislich des Wortlauts des Art. 6 Abs. 3 EUV bei der Begründung eines ungeschriebenen allgemeinen Grundsatzes des Unionsrechts von besonderer Bedeutung. Während diese Garantie im Rahmen der EMRK sachlich eng umgrenzt ist,588 zeigt die rechtsvergleichende Umschau in den mitgliedstaatlichen Siehe erneut oben § 1 B und § 2 B. Vgl. GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C: 2011:559 Rn. 112. 583 Siehe wiederum oben § 1 B I und § 2 B I. 584 Vgl. EuGH Urt. v. 15.4.2010 – Rs. C-215/08 (E. Fritz), Slg. 2010, I-2947 Rn. 48; EuGH Urt. v. 19.12.2013 – Rs. C-174/12 (Hirmann), EU:C:2013:856 Rn. 61. 585 Auf die „Richtigkeitsgewähr“ des Vertragsmechanismus im Unionsrecht wird noch umfassend zurückzukommen sein, siehe unten Kapitel 3 § 3 B. 586 Siehe oben B I 2 und vgl. insbesondere GA Kokott Schlussanträge v. 17.9.2009 – Rs. C-441/07 P (Kommission / Alrosa), Slg. 2010, I-5949 Rn. 225. 587 Siehe oben B III. 588 Vgl. oben § 1 A II 2 a. 581 582

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Rechtsordnungen, dass die Vertragsfreiheit dort umfassend geschützt wird.589 Namentlich ruht die Vertragsfreiheit in der überwiegenden Mehrzahl der verglichenen Rechtsordnungen auf einem verfassungsrechtlichen Fundament. Dabei ist der Schutz dieser Freiheit teilweise ebenfalls an spezielle Grundrechte gebunden: In Italien und Spanien steht etwa das Grundrecht auf wirtschaftliche Betätigung im Zentrum, während die Vertragsfreiheit z. B. in Portugal und in Österreich auch auf die Berufsfreiheit gestützt wird. In Deutschland, Polen und Litauen kann die rechtsgeschäftliche Privatautonomie darüber hinaus auf einem allgemeinen Freiheitsgrundrecht fußen. Diese Doppelnatur der Vertragsfreiheit als Grundrecht und privatrechtliches Prinzip findet auch über den Kreis der hier untersuchten Rechtsordnungen hinaus eine Bestätigung: So ist die Vertragsfreiheit etwa in Griechenland und in Slowenien sowohl privat- als auch gerade verfassungsrechtlich verbürgt.590 Und obschon die Vertragsfreiheit etwa in der belgischen Rechtsordnung nicht an einer konkreten Verfassungsnorm festgemacht wird, lässt sich dort dennoch eine „quasi-constitutionnalisation“591 beobachten: Die Verfassungsgerichtsbarkeit erhebt die Vertragsfreiheit zum Prüfungsmaßstab und wägt sie mit anderen grundrechtlich geschützten Positionen ab.592 Auch soweit der Grundrechtscharakter der Vertragsfreiheit z. B. in Schweden bislang nicht umfassend anerkannt worden ist, bildet die Vertragsfreiheit dort jedenfalls ein Kernelement der nationalen Rechtsordnung.593 Selbst im Vereinigten Königreich, das über kein Verfassungsdokument im engeren Sinne verfügt, hat die höchstrichterliche Rechtsprechung den besonderen Stellenwert der Vertragsfreiheit betont und wiederholt herausgestellt: „[F]reedom to contract between the subjects of this country is a fundamental right“.594

Vgl. oben B II. Siehe nur Mežnar, in: Colombi Ciacchi (ed.), Protection of Non-Professional Sureties in Europe (2007), S. 247, 256 f.; Erifillidis, in: Colombi Ciacchi / Weatherill (eds.), Regulating Unfair Banking Practices in Europe (2010), S. 277, 297; Colombi Ciacchi, in: Kenny / Devenney / Fox O’Mahony (eds.), Unconscionability in European Private Financial Transactions (2010), S. 7, 14 und 16, dort jeweils m. w. N. zur Rechtsprechung. 591 In diesem Sinne mit Blick auf Frankreich Terneyre, AJDA 1998, 676, 682 f. 592 Vgl. erneut nur Cour constitutionnelle v. 1.9.2008 – n° 130/2008, M.B. 2008, 48885, 48888; Cour constitutionnelle v. 10.11.2011 – n° 166/2011, M.B. 2012, 7373, 7377. 593 Siehe erneut oben B II 12. 594 Mixnam’s Properties Ltd v Chertsey Urban District Council [1965] AC 735, 764 (Lord Upjohn). Darüber hinaus klingt in Stewart v Perth and Kinross Council [2004] UKHL 16 (Lord Steyn) gerade die Bindung der gesetzgebenden Gewalt an die Vertragsfreiheit an: „[F]reedom to contract is a fundamental right, and […] if Parliament intends to empower a third party to make conditions which regulate the terms of contracts to be made between others then […] it must do so in clear terms“. Vgl. jüngst auch Parkwood Leisure Ltd v Alemo-Herron and others [2011] UKSC 26 (Lord Hope). 589 590

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Vor diesem Hintergrund genügt die Vertragsfreiheit den Anforderungen an einen allgemeinen Rechtsgrundsatz im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV: Die rechtsgeschäftliche Privatautonomie zählt als individuelles Freiheitsrecht zum Kernbestand der mitgliedstaatlichen, völkerrechtlichen und supranationalen Rechtsordnungen.595 Im Rahmen der wertenden Rechtsvergleichung nach Art. 6 Abs. 3 EUV sind dabei auch solche Freiheitsgarantien zu berücksichtigen, die nicht unmittelbar auf Verfassungsnormen im engeren Sinne rückführbar sind, wohl aber zum Nukleus der jeweiligen Rechtsordnung gehören.596 Vor allem verbürgt die EMRK in Art. 1 des ersten Zusatzprotokolls die Vertragsfreiheit nicht nur auf völkerrechtlicher Ebene, sondern trägt diese grundrechtliche Garantie auch in die Rechtsordnungen der EU-Mitgliedstaaten als Konventionsstaaten hinein. Im Unionsrecht wie auch im nationalen Recht und im Völkerrecht beansprucht der Grundsatz der Vertragsfreiheit allgemeine und nicht nur sektorspezifische Geltung.597 Schließlich ist die Vertragsfreiheit inhaltlich hinreichend bestimmt,598 da nicht nur ihre einzelnen Facetten bereits ausdifferenziert sind,599 sondern der EuGH auch den grundrechtlichen Wesensgehalt dieser Freiheit schon umrissen hat.600 III. Fazit Die Vertragsfreiheit ist in der Rechtsordnung der EU überall dort umfassend präsent, wo vertragliche Rechtsverhältnisse in Rede stehen. Gerade die Heterogenität der Sachmaterien und ihrer Regelungsziele verdeutlichen, dass die Vertragsfreiheit ein übergreifender, allgemeiner Rechtsgrundsatz ist.601 Dabei ist die Vertragsfreiheit nicht nur als allgemeiner Grundsatz des Unionsprivatrechts, sondern zugleich auch als ein auf Ebene des Primärrechts angesiedelSiehe erneut oben § 1 B und § 2 B. Siehe erneut oben A II 3, III. Siehe auch GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C:2011:559 Rn. 112. Soweit ersichtlich, wird die Vertragsfreiheit seit Außerkrafttreten des Art. 152 Weimarer Reichsverfassung ohnehin nur in Art. 2 Nr. 14 Constitución política del Perú (1993) explizit als Grundrecht erwähnt: „Toda persona tiene derecho: […] A contratar con fines lícitos, siempre que no se contravengan leyes de orden público“. Vgl. auch Art. 62 Constitución política del Perú (1993): „La libertad de contratar garantiza que las partes pueden pactar válidamente según las normas vigentes al tiempo del contrato“. 597 Siehe erneut oben § 1 B und § 2 B. 598 Vgl. zum „Mindestmaß an normativer Bestimmtheit“ erneut nur GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C:2011:559 Rn 112. 599 Siehe wiederum oben § 1 B I und II. 600 Vgl. EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 34 f.; EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 68 und 87; EuGH Urt. v. 27.4.2017 – Rs. C-680/15 u.a. (Asklepios Kliniken u.a.), EU:C: 2017:317 Rn. 23. Siehe zum Wesensgehalt der Vertragsfreiheit eingehend unten § 3 A II. 601 In diesem Sinne bereits Schulze, GPR 2005, 56, 58. 595 596

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tes Unionsgrundrecht verbürgt.602 Als Grundrecht wird die Vertragsfreiheit bereichsspezifisch zunächst durch die GRCh und insbesondere deren Art. 16 geschützt. Darüber hinaus ist die Vertragsfreiheit als ungeschriebenes Unionsgrundrecht gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV umfassend in der EU-Rechtsordnung verbürgt. Die Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Kommission/Alrosa geben demnach eine prägnante Zusammenfassung des gegenwärtigen Standes der unionalen Rechtsentwicklung sowohl im Bereich des Unionsprivatrechts als auch im Bereich der EU-Grundrechte: „Die Vertragsfreiheit gehört zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des [Unions]rechts“.603

Dies wirft die Frage nach dem Gewährleistungsgehalt und und den privatrechtlichen Einwirkungsachsen dieser mehrdimensionalen Freiheit auf.

§ 3 Gewährleistungsgehalt unionaler Vertragsfreiheit § 3 Gewährleistungsgehalt unionaler Vertragsfreiheit

Der Gehalt der unionalen Vertragsfreiheit ist im Zusammenhang mit der Funktionsbestimmung dieser Freiheit in der Rechtsordnung der Union zu sehen. Die Vertragsfreiheit ist die rechtliche Garantie einer bedeutsamen Facette der im Unionsrecht postulierten natürlichen Selbstbestimmungsfreiheit des Menschen: Namentlich verwirklicht und schützt sie die Selbstbestimmung in allen vertraglichen Angelegenheiten.604 Da sie als Unionsgrundrecht und als allgemeiner Rechtsgrundsatz des EU-Privatrechts diese Funkti602 Für eine grundrechtliche Verbürgung plädieren bereits GA Jacobs Schlussanträge v. 28.1.1999 – verb. Rs. C-67/96 u. a. (Albany u. a.), Slg. 1999, I-5751 Rn. 161; GA Kokott Schlussanträge v. 17.9.2009 – Rs. C-441/07 P (Kommission / Alrosa), Slg. 2010, I-5949 Rn. 225. Wie hier z. B. Canaris, FS Lerche (1993), S. 873, 890; Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85, 94 f.; Bruns, JZ 2007, 385, 392; Safjan / Miklaszewicz, ERPL 18 (2010), 475, 484 f.; Hartkamp, ERPL 18 (2010), 527, 548. 603 GA Kokott Schlussanträge v. 17.9.2009 – Rs. C-441/07 P (Kommission / Alrosa), Slg. 2010, I-5949 Rn. 225. In diese Richtung bereits GA Trstenjak Schlussanträge v. 28.3.2007 – Rs. C-331/05 P (Internationaler Hilfsfonds / Kommission), Slg. 2007, I-5475 Rn. 93. A. A. Starke, EU-Grundrechte und Vertragsrecht (2016), S. 262 f. Auch Prassl, ILJ 42 (2013), 434, 442 bezweifelt im Kontext der Alemo-Herron-Entscheidung des EuGH, „that freedom of contract is anywhere near as fundamental a principle of EU law as […] the Court suggest“. 604 Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang (1999), S. 17 und M.-P. Weller, Die Vertragstreue (2009), S. 171 sprechen treffend von der „Transformation der Selbstbestimmung in die Rechtsordnung“, die sich laut v. Arnauld, Rechtssicherheit (2006), S. 135 f. darin äußert, „dass der Staat private Vereinbarungen als Recht anerkennt“. In diesem Sinne auch z. B. Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers (1998), S. 208; Herresthal, in: Ziegler / Huber (eds.), Current Problems in the Protection of Human Rights (2013), S. 89, 91. Siehe zum Postulat der natürlichen Selbstbestimmungsfreiheit im Unionsrecht erneut oben Kapitel 1 § 3 A.

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on gleichermaßen erfüllt, hat die Vertragsfreiheit in der Unionsrechtsordnung grundsätzlich einen einheitlichen Gewährleistungsgehalt (A). Demgegenüber mag der Anwendungsbereich der EU-Grundrechte einerseits und der privatrechtlichen Rechtsgrundsätze andererseits durchaus differieren (B). A. Inhalt Beim derzeitigen Stand der Rechtsentwicklung sind weder der Inhalt noch die Schranken der unionalen Vertragsfreiheit hinreichend konturiert und systematisch aufgearbeitet worden.605 Erkenntnisfortschritt verspricht die umfassende Analyse einer möglichst breiten Basis unionsrechtlicher Sachmaterien sowie der hierzu ergangenen EuGH-Judikatur. Zuvor ist allerdings der grundlegenden Frage nachzugehen, ob der Schutzbereich der Vertragsfreiheit ausgestaltungsbedürftig und damit normgeprägt ist oder ob diese Freiheit in der Unionsrechtsordnung vielmehr eigenständigen Gehalt hat (I). Von hier ausgehend können der Inhalt und insbesondere der Wesensgehalt der Vertragsfreiheit in der Unionsrechtsordnung bestimmt werden (II). Schließlich ist die Einschränkbarkeit der Vertragsfreiheit auszuleuchten (III). I.

Autonomer Schutzbereich

Nach einer Lesart wird die Vertragsfreiheit in der Unionsrechtsordnung von vornherein nur in dem durch das unionale und mitgliedstaatliche (Privat)Recht gesteckten Rahmen gewährleistet.606 Der Schutzbereich der als privatrechtlicher Grundsatz und als Unionsgrundrecht garantierten Vertragsfreiheit wäre demnach normgeprägt.607 Diese These stützt sich im Wesentlichen auf die Formulierung des Art. 16 GRCh: Nach dieser Vorschrift wird die unternehmerische Freiheit, einschließlich der Vertragsfreiheit, „nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkannt“. Dies wird vereinzelt als Verweis darauf verstanden, dass bereits der Gewährleistungsgehalt des Art. 16 GRCh durch mitgliedstaatliche und unionale Regelungen vorgezeichnet ist.608 Selbst einschneidende Regelungen der Union oder ihrer Mitgliedstaaten, wie z. B. Kontrahierungszwänge, wären demnach gar keine Verkürzungen, sondern lediglich Ausgestaltungen der 605 Dies kritisiert auch Herresthal, in: Ziegler / Huber (eds.), Current Problems in the Protection of Human Rights (2013), S. 89, 102. 606 In diesem Sinne etwa Picod, FS Jacqué (2010), S. 527, 533. 607 Vgl. zur These des normabhängigen Schutzbereichs der Vertragsfreiheit nur Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte (2005), S. 192 ff., der sich treffend gegen eine solche vollständige „Rechtsabhängigkeit der Vertragsfreiheit“ stellt. 608 So insbesondere von Picod, FS Jacqué (2010), S. 527, 533. Auch Everson / Correia Gonçalves, in: Peers / Hervey / Kenner (eds.), EU Charter (2014), Art. 16 Rn. 16.47 postulieren „that contractual freedom will form a part of the jurisdiction of Article 16, but that its ambit remains restricted “ (Herv. d. Verf.).

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unionalen Vertragsfreiheit. Tatsächlich sind nach Auffassung des Generalanwalts Wahl Energieversorgungsverträge, die auf einen im Unionsrecht wurzelnden und damit in den Anwendungsbereich des Art. 16 GRCh fallenden Kontrahierungszwang vermeintlich von vornherein „nicht dem Bereich der Vertragsfreiheit zuzurechnen. Dies zeigt sich besonders deutlich darin, dass Anbieter nach den einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften gezwungen sind, Verträge auch mit unerwünschten Kunden abzuschließen“.609

Auch hat der EuGH zumindest mit Blick auf die Solidaritätsrechte der Charta, wie etwa Art. 27 GRCh, herausgestellt, dass diese Normen erst „durch Bestimmungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts konkretisiert werden“ müssen, um dem Einzelnen überhaupt Rechte verleihen zu können. 610 Während es sich aber bei Art. 27 um ein lediglich als „Grundsatz“ im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRCh geschütztes Solidaritätsrecht des Titels IV der Charta handelt, ordnet der EuGH Art. 16 GRCh als vollwertiges Freiheitsgrundrecht ein. 611 Hätte das einfache (Privat)Recht der Mitgliedstaaten und der Union uneingeschränkte Definitionsmacht über den Gehalt der unter anderem in Art. 16 GRCh grundrechtlich verbürgten unionalen Vertragsfreiheit, könnte diese Freiheitgewährleistung völlig ausgehöhlt werden. Da die mitgliedstaatlichen Rechtsvorschriften nach wie vor variieren, gäbe es im Rahmen des Art. 16 GRCh zudem überhaupt keinen autonomen unionsrechtlichen, sondern nur einen nach Rechtsordnungen zersplitterten, unionsweit unterschiedlichen Schutz der Vertragsfreiheit. Dies verstieße gegen den Grundsatz der Einheitlichkeit des Unionsrechts und nähme Art. 16 GRCh seine Effektivität. 612 609 So mit Blick auf Art. 3 Abs. 3 Elektrizitäts- und Art. 3 Abs. 3 Erdgasbinnenmarktrichtlinie GA Wahl Schlussanträge v. 8.5.2014 – verb. Rs. C-359/11 u. a. (Schulz u. a.), EU:C:2014:319 Rn. 34 (Herv. d. Verf.). 610 EuGH Urt. v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 (Association de médiation sociale), EU:C: 2014:2 Rn. 45 ff. Vgl. zu Art. 34 GRCh auch EuGH Urt. v. 24.4.2012 – Rs. C-571/10 (Kamberaj), EU:C:2012:233 Rn. 92. Auch bemerkt EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C283/11 (Sky Österreich), EU:C:2013:28 Rn. 46; EuGH Urt. v. 28.11.2013 – Rs. C-348/12 P (Kala), EU:C:2013:776 Rn. 123, dass der Wortlaut des „Art. 16 der Charta […] sich von dem der anderen grundrechtlich geschützten Freiheiten, die in ihrem Titel II verankert sind, unterscheidet und dabei dem Wortlaut einiger Bestimmungen ihres Titels IV ähnelt“. 611 Deutlich z. B. EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013: 521 Rn. 32, der gerade von einem Unionsgrundrecht und nicht nur von einem „Grundsatz“ im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRCh spricht. Wie hier z. B. Oliver, in: Bernitz / Groussot /  Schulyko (eds.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), S. 281, 295 f. A. A. Picod, FS Jacqué (2010), S. 527, 533. 612 Deutlich bereits EuGH Urt. v. 13.12.1979 – Rs. 44/79 (Hauer), Slg. 1979, 3727 Rn. 14: „Die Aufstellung besonderer, von der Gesetzgebung oder der Verfassungsordnung eines bestimmten Mitgliedstaates abhängiger Beurteilungskriterien würde die materielle Einheit und die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts beeinträchtigen und hätte daher unausweichlich die Zerstörung der Einheit des gemeinsamen Marktes und eine Gefährdung des Zusammenhalts der Gemeinschaft zur Folge“ (Herv. d. Verf.).

§ 3 Gewährleistungsgehalt unionaler Vertragsfreiheit

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Vor diesem Hintergrund definiert der EuGH den Schutzbereich des Art. 16 GRCh nicht in Abhängigkeit von anderen Normen, sondern zieht die Vertragsfreiheit in den Rechtssachen Alemo-Herron sowie Sky Österreich als eine feste, unionsrechtlich-autonome Grenze für mitgliedstaatliche und unionale Beschränkungen der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie heran.613 Die Bezugnahme auf das Unionsrecht und die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften in Art. 16 ebenso wie in Art. 52 Abs. 6 GRCh trägt lediglich dem Umstand Rechnung, dass die unternehmerische Freiheit und damit auch die darin mitverbürgte Vertragsfreiheit regelmäßig weiterer Ausgestaltung bedarf.614 Wo diese Ausgestaltung Eingriffscharakter hat, muss sie laut EuGH aber stets den Anforderungen genügen, die Art. 52 Abs. 1 GRCh an jede Grundrechtseinschränkung stellt: Nur auf Basis einer Rechtsgrundlage und unter Achtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sowie des Wesensgehalts kann diese Freiheit „einer Vielzahl von Eingriffen der öffentlichen Gewalt unterworfen werden, die im allgemeinen Interesse die Ausübung der wirtschaftlichen Tätigkeit beschränken“. 615 Zu Recht unterscheidet der Gerichtshof somit genau zwischen der Eröffnung des Schutzbereichs der durch Art. 16 GRCh geschützten unionalen Vertragsfreiheit einerseits und Eingriffen in diesen Schutzbereich andererseits.616 Gleiches muss auch gelten, soweit die Vertragsfreiheit als ungeschriebenes Unionsgrundrecht im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV sowie als allgemeiner Grundsatz des Unionsprivatrechts gewährleistet wird: Als Instrument zur Ver613 EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 33 ff.; EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C:2013:28 Rn. 47. Vgl. im Anschluss an die Vorlage des BAG Beschl. v. 17.6.2015 – Az. 4 AZR 61/14 (A), NZG 2016, 628 zu § 613a BGB und Art. 16 GRCh auch EuGH Urt. v. 27.4.2017 – Rs. C-680/15 u.a. (Asklepios Kliniken u.a.), EU:C:2017:317 Rn. 23 ff. 614 Cornils, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 5 Rn. 52. 615 EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C:2013:28 Rn. 46. Siehe ferner EuG Urt. v. 27.2.2014 – Rs. T-256/11 (Ezz), EU:T:2014:93 Rn. 229 ff.; GA Sharpston Schlussanträge v. 14.11.2013 – Rs. C-390/12 (Pfleger), EU:C:2013:747 Rn. 64 f. Dieser Befund findet schließlich eine solide Stütze in den gemäß Art. 52 Abs. 7 GRCh bei der Auslegung der Chatergrundrechte zu berücksichtigenden Erläuterungen zur Charta, ABl. 2007 C 303/17, 23, wo mit Blick auf das Freiheitsgrundrecht der unternehmerischen Freiheit ausgeführt wird: „Es kann nach Artikel 52 Absatz 1 der Charta beschränkt werden“. Wie hier auch Cornils, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 5 Rn. 52. Allerdings mag sich die spezielle Formulierung des Art. 16 GRCh laut EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C:2013:28 Rn. 47 im Einzelfall darauf auswirken, „auf welche Weise nach Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu handhaben ist“. 616 Während die Union und die Mitgliedstaaten bei Grundrechtseinschränkungen einen weiten Spielraum haben mögen, so ist jedenfalls der Schutzbereich der unionalen Vertragsfreiheit gemäß Art. 16 GRCh keineswegs von vornherein durch nationale und unionale Rechtsakte geprägt, wie hier Jarass (2014), Art. 16 GRCh Rn. 18; Grabenwarter, in: ders. (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 13 Rn. 27 ff. und 41 ff.

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Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

wirklichung der vertraglichen Selbstbestimmung hat die unionale Vertragsfreiheit stets einen eigenständigen, unionsrechtlich-autonomen Gehalt. Dies führt zur Frage nach dem Inhalt dieser Freiheitsgewährleistung. II. Gegenstand, Gehalt und Kernbereich unionaler Vertragsfreiheit Bezugspunkt der unionsrechtlich verbürgten rechtsgeschäftlichen Privatautonomie ist zunächst jede Erscheinungsform des Vertrags, die dem unionalen Vertragsbegriff unterfällt. Den Begriffskern der unionalen Vertragskonzeption macht dabei der vom (i) Rechtsbindungswillen getragene (ii) Konsens (iii) mindestens zweier Parteien aus.617 Darüber hinaus mag auch die Freiheit zur einseitigen Verpflichtung gegenüber einer anderen Partei – etwa im Rahmen einer Auslobung nach § 657 BGB – in den Schutzbereich der unionalen Vertragsfreiheit einzubeziehen sein: Zum einen schlägt das Unionsrecht „ein freiwillig gegebenes Versprechen“ zumindest kontextspezifisch durchaus dem Vertragsrecht zu.618 Zum anderen scheint das Konzept einseitig bindender Versprechen partiell auch in akademischen Projekten zur Vorbereitung eines europäischen Vertragsrecht auf.619 Zum Gewährleistungsgehalt der unionalen Vertragsfreiheit zählen die sieben im geschriebenen Unionsrecht sowie in der Rechtsprechung des EuGH bereits identifizierten Facetten: Neben der Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit,620 der Inhalts-,621 Typen-,622 Änderungs-,623 Aufhebungs-624 und der Formfreiheit625 ist auch die Parteiautonomie als international-privatSiehe zum unionalen Vertragsbegriff erneut oben Kapitel 1 § 3 B. Siehe im Kontext des Vertragsgerichtsstandes nach der Brüssel Ia nur GA Jacobs Schlussanträge v. 8.7.2004 – Rs. C-27/02 (Engler), Slg. 2005, I-484 Rn. 45. In seiner ständigen Rechtsprechung zu Art. 7 Nr. 1 Brüssel Ia lässt der EuGH entsprechend eine „von einer Partei gegenüber einer anderen freiwillig eingegangene Verpflichtung“ genügen, siehe nur EuGH Urt. v. 17.6.1992 – Rs. C-26/91 (Handte), Slg. 1992, I-3967 Rn. 15; EuGH Urt. v. 27.10.1998 – Rs. C-51/97 (Réunion européenne), Slg. 1998, I-6511 Rn. 17; EuGH Urt. v. 17.9.2002 – Rs. C-334/00 (Tacconi), Slg. 2002, I-7357 Rn. 23; EuGH Urt. v. 5.2.2004 – Rs. C-265/02 (Frahuil), Slg. 2004, I-1543 Rn. 24; EuGH Urt. v. 20.1.2005 – Rs. C-27/02 (Engler), Slg. 2005, I-481 Rn. 50 ff.; EuGH Urt. v. 11.10.2007 – Rs. C-98/06 (Freeport), Slg. 2007, I-8319 Rn. 23; EuGH Urt. v. 14.3.2013 – Rs. C-419/11 (Feichter), EU:C:2013:165 Rn. 45 ff.; EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-147/12 (ÖFAB), EU:C:2013: 490 Rn. 33. 619 Siehe mit Blick auf Art. 2:107 PECL sowie Art. II.-1:103 und Art. II-4:301 ff. DCFR nur Zimmermann, FS Heldrich (2005), S. 467 ff.; M.-P. Weller, GS Hübner (2012), S. 435, 440. 620 Hierzu eingehend oben § 1 B I 1. 621 Hierzu eingehend oben § 1 B I 2. 622 Hierzu eingehend oben § 1 B I 3. 623 Hierzu eingehend oben § 1 B I 4. 624 Hierzu eingehend oben § 1 B I 5. 625 Hierzu eingehend oben § 1 B I 6. 617 618

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rechtliche Dimension rechtsgeschäftlicher Privatautonomie zu nennen.626 Diese Ausprägungen der Vertragsfreiheit sind mithin sowohl als Unionsgrundrecht als auch als allgemeiner Grundsatz des Unionsprivatrechts geschützt. Darüber hinaus werden in der Zusammenschau der Unionsrechtsakte sowie der Rechtsprechung des EuGH erste Konturen des Wesensgehalts der unionalen Vertragsfreiheit erkennbar: Die Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit (1) ebenso wie auch die Festlegung der wesentlichen Vertragsinhalte in Gestalt der essentialia negotii machen den Kernbestand dieser Freiheit aus (2). Bei näherer Betrachtung weist der Wesensgehalt der unionalen Vertragsfreiheit einen Menschenwürdekern auf und wird somit durch das ranghöchste Grundrecht des Art. 1 GRCh verstärkt (3). 1. Entscheidung über den Vertragsschluss und Vertragspartnerwahl Die Entscheidung über den Abschluss eines Vertrags ist der Angelpunkt der Ausübung rechtsgeschäftlicher Privatautonomie.627 Entsprechend betrachtet der EuGH die positive wie auch die negative Abschlussfreiheit als zentrales Element der unionalen Vertragsfreiheit: Zum einen sieht der Gerichtshof Verträge allgemein „durch das Prinzip der Privatautonomie gekennzeichnet […], wonach die Parteien frei darin sind, gegenseitige Verpflichtungen einzugehen“.628 Zum anderen erkennt die unionale Rechtsprechung ein „Recht auf Absehen vom Vertragsschluss“ an.629 Dabei schlägt der Gerichtshof die positive wie negative Abschlussfreiheit dem Kernbereich der Vertragsfreiheit zu: Namentlich betont der EuGH in der Rechtssache Sky Österreich, dass die Freiheit der Wirtschaftsteilnehmer, sich für oder auch gegen einen Vertragsschluss zu entscheiden, den Wesensgehalt der in Art. 16 GRCh verbürgten Freiheit ausmacht.630 Entsprechend sah der Gerichtshof in seiner AlemoHerron-Entscheidung den Wesensgehalt der Vertragsfreiheit beeinträchtigt, wenn ein Vertragspartner nicht „die Möglichkeit [hat], im Rahmen eines zum Hierzu eingehend oben § 1 B I 7. Nipperdey, Kontrahierungszwang und diktierter Vertrag (1920), S. 4 f. sieht hierin die „ursprünglichste“ Vertragsfreiheit. 628 EuGH Urt. v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 (Werhof), Slg. 2006, I-2397 Rn. 23; EuGH Urt. v. 27.4.2017 – Rs. C-680/15 u.a. (Asklepios Kliniken u.a.), EU:C:2017:317 Rn. 19. 629 EuG Urt. v. 8.5.2007 – Rs. T-271/04 (Citymo / Kommission), Slg. 2007 II-1375 Rn. 100 und 103. Deutlich auch GA Kokott Schlussanträge v. 17.9.2009 – Rs. C-441/07 P (Kommission / Alrosa), Slg. 2010, I-5949 Rn. 227 f. Siehe ferner GA Jacobs Schlussanträge v. 23.3.2000 – verb. Rs. C-180/98 u. a. (Pavlov), Slg. 2000, I-6451 Rn. 150; GA Geelhoed Schlussanträge v. 31.1.2002 – Rs. C-334/00 (Tacconi), Slg. 2002, I-7357 Rn. 55. 630 So kommt EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C:2013:28 Rn. 49 gerade deshalb zu dem Ergebnis, dass der zu überprüfende Sekundärrechtsakt „den Wesensgehalt der unternehmerischen Freiheit nicht antastet“, weil der Unternehmer sich weiterhin nach seiner Wahl „vertraglich gegen Entgelt“ verpflichten oder hiervon absehen kann. 626 627

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Vertragsabschluss führenden Verfahrens seine Interessen wirksam geltend zu machen“.631 Echte Selbstbestimmung durch das Instrument des Vertrags bedeutet somit auch im Unionsrecht notwendig, dass die Entscheidung für oder auch gegen einen Vertragsschluss frei ist.632 Nimmt man darüber hinaus die Rechtsprechungslinie in Katsikas und Mikkelsen in den Blick, wird offenbar, dass auch die Auswahl des Vertragspartners in den Kernbereich der unionalen Vertragsfreiheit fällt: So darf laut EuGH grundsätzlich niemand gezwungen werden, einen Vertrag mit einem Vertragspartner einzugehen, „den er nicht frei gewählt hat“.633 Das Aufdrängen eines Vertragspartners durch hoheitlichen Zwang verstößt nach der Lesart des Gerichtshofs in aller Regel „gegen Grundrechte“,634 wobei hiermit die als Facette der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie grundrechtlich verbürgte Kontrahentenwahlfreiheit angesprochen ist. Bestätigt wird dieser Befund nun durch die Rechtssache Sky Österreich, in welcher der EuGH den Wesensgehalt der unter anderem in Art. 16 GRCh verbürgten Freiheit ausdrücklich darin sieht, dass der Vertragspartner autonom gewählt werden kann.635 Vor diesem Hintergrund werden auch die besonders hohen Anforderungen an Beschränkungen der Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit durch Kontrahierungszwänge im unionalen Wirtschaftsrecht verständlich: Der Zwang zum Vertragsschluss stellt „eine erhebliche Einmischung in die […] Vertragsfreiheit“ dar,636 weshalb der Europäischen Kommission „im Rahmen 631 EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 34 f. Siehe auch EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 68 und 87; EuGH Urt. v. 27.4.2017 – Rs. C-680/15 u.a. (Asklepios Kliniken u.a.), EU: C:2017:317 Rn. 23. 632 Siehe zum deutschen Recht statt vieler Hillgruber, ZRP 1995, 6, 7; Repgen, Kein Abschied von der Privatautonomie (2001), S. 23. 633 EuGH Urt. v. 16.12.1992 – verb. Rs. C-132/91 u. a. (Katsikas u. a.), Slg. 1992, I6577 Rn. 32. Vgl. auch schon EuGH Urt. v. 11.7.1985 – Rs. 105/84 (Mikkelsen), Slg. 1985, 2639 Rn. 16. 634 EuGH Urt. v. 16.12.1992 – verb. Rs. C-132/91 u. a. (Katsikas u. a.), Slg. 1992, I6577 Rn. 31 f. Vgl. auch schon EuGH Urt. v. 11.7.1985 – Rs. 105/84 (Mikkelsen), Slg. 1985, 2639 Rn. 16. Siehe zu Vertragspartnerwahlfreiheit im Unionsrecht zudem schon EuGH Urt. v. 28.6.1984 – verb. Rs. 187/83 und 190/83 (Nordbutter), Slg. 1984, 2553 Rn. 15; EuGH Urt. v. 10.7.1991 – verb. Rs. C-90/90 u. a. (Neu), Slg. 1991, I-3617 Rn. 13; EuGH Urt. v. 16.12.1993 – Rs. C-307/91 (Luxlait), Slg. 1993, I-6835 Rn. 14; EuGH Urt. v. 30.3.2000 – Rs. C-265/97 P (VBA u. a./Kommission), Slg. 2000, I-2061 Rn. 134 ff. EuG Urt. v. 12.2.2008 – Rs. T-289/03 (BUPA), Slg. 2008, II-81 Rn. 190 ff. betont zudem die Freiheit, „den anderen Vertragspartner zurückweisen zu können“. 635 EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C:2013:28 Rn. 49 verneint einen Eingriff in „den Wesensgehalt der unternehmerischen Freiheit“ durch einen Kontrahierungszwang betreffend Fernsehrechte an Kurzzusammenfassungen von Sportveranstaltungen mit dem Argument, dass der Zwang sachlich sehr eng umgrenzt sei und der Verpflichtete im Übrigen weiterhin mit frei gewählten Vertragspartnern Verträge über die gesamten Sportübertragungen schließen könne.

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der Anordnungsbefugnisse, über die sie zur Abstellung von Zuwiderhandlungen gegen [Art. 101 AEUV] verfügt, grundsätzlich nicht die Befugnis zuerkannt werden [kann], einer Partei die Begründung vertraglicher Beziehungen aufzugeben“.637 Der Umstand, dass selbst das für das Funktionieren des Binnenmarktes so bedeutsame Kartellrecht allenfalls als ultima ratio und unter sehr engen Voraussetzungen Kontrahierungszwänge zu begründen vermag,638 verdeutlicht, dass mit der Vertragspartnerwahl- und Abschlussfreiheit der Kernbereich der unionalen Vertragsfreiheit berührt ist. 2. Bestimmung der essentialia negotii Im deutschen Privatrecht ist die autonome Festlegung der zentralen vertraglichen Haupt- und Gegenleistungen – mithin der essentialia negotii – durch die Parteien frühzeitig als „Wesensgehalt der Vertragsfreiheit“ identifiziert worden.639 Die Ausformung dieser Elemente ist durch die Inhaltsfreiheit verbürgt, welche den Parteien gestattet, den Vertrag nach ihrem Willen zu gestalten.640 Dass die freie Bestimmung von Hauptgegenstand und Preis in der Rechtsordnung der EU ebenfalls zum Wesensgehalt der Vertragsfreiheit zählt,641 lässt sich jeweils auf Ebene der Unionsgrundrechte, des Unionsprivatrechts und des unionalen Wirtschaftsvertragsrechts veranschaulichen. Einen vielversprechenden Ausgangspunkt bildet wiederum die AlemoHerron-Entscheidung des EuGH, weil der Gerichtshof hier erstmals einen Eingriff in den Wesensgehalt des unionalen Grundrechts der Vertragsfreiheit bejaht hat: In dieser Rechtssache konnte ein Arbeitgeber nach einem Betriebsübergang keinen Einfluss auf die Entwicklung der Arbeitsvertragsbedingungen nehmen, weil er einerseits nicht an den Tarifvertragsverhandlungen teilnehmen durfte, andererseits aber durch nach nationalem Arbeitsvertragsrecht zulässige dynamische Verweisungsklauseln an alle neuen Verhandlungsergebnisse gebunden war.642 Laut EuGH ist hier der Kern der unionalen Vertragsfreiheit 636 EuGH Urt. v. 28.4.2009 – Rs. C-518/06 (Kommission / Italien), Slg. 2009, I-3491 Rn. 66. Vgl. auch EuG Urt. v. 12.2.2008 – Rs. T-289/03 (BUPA), Slg. 2008, II-81 Rn. 190 ff. 637 So noch zu Art. 85 EWG EuG Urt. v. 18.9.1992 – Rs. T-24/90 (Automec/Kommission), Slg. 1992, II-2223 Rn. 51. 638 Siehe zu den Voraussetzungen des kartellrechtlichen Zwangs zum Vertragsschluss sowie zu weiteren im Unionsrecht angelegten Kontrahierungszwängen erneut oben § 1 B II 1 und 2. 639 Canaris, NJW 1987, 609, 613. 640 Bei Zugrundelegung einer markt- und wettbewerbsgestützten Konzeption unionaler Vertragsfreiheit kann allerdings auch die Betätigung der Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit in einem freien Markt mit freiem Wettbewerb zu dem gewünschten inhaltlichen Vertragsergebnis führen, siehe dazu noch eingehend unten Kapitel 3 § 3 B. 641 Dafür etwa Riesenhuber, GS Wolf (2011), S. 123, 133. 642 Vgl. erneut EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013: 521 Rn. 20 ff. und 34 f.

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betroffen, da der Arbeitgeber als Vertragspartner daran gehindert ist, die „Arbeitsbedingungen seiner Arbeitnehmer“ auszuhandeln oder auf sonstige Weise zu beeinflusssen und somit insgesamt keinerlei „Möglichkeit [hat], im Rahmen eines zum Vertragsabschluss führenden Verfahrens seine Interessen wirksam geltend zu machen“. 643 Die in der Rechtssache Alemo-Herron erwähnten Arbeitsbedingungen umfassen mit der zu erbringenden Arbeitsleistung – und insbesondere den Arbeitszeiten – zum einen die Hauptleistungspflicht. Zum anderen ist die Bestimmung der Höhe des Arbeitsentgelts und somit die Gegenleistungspflicht betroffen. Diese beiden Elemente rechnet der Gerichtshof somit zum „Wesensgehalt“ der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie.644 Eine weitere Stütze findet diese Sichtweise im sekundären Unionsrecht und namentlich im Unionsprivatrecht, wo ausweislich des Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie die Inhaltskontrolle „weder den Hauptgegenstand des Vertrags noch die Angemessenheit zwischen dem Preis bzw. dem Entgelt und den Dienstleistungen bzw. den Gütern“ erfasst.645 Das in der Klauselrichtlinie aufscheinende Konzept der essentialia negotii erhält durch die Rechtsprechung des EuGH erste unionsrechtlich-autonome Konturen: Namentlich „müssen die Ausdrücke ‚Hauptgegenstand des Vertrags‘ und ‚Angemessenheit zwischen dem Preis […] und de[r] […] Gegenleistung […]‘ in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 grundsätzlich in der gesamten Europäischen Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten“.646

643 EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 34 f. Siehe auch EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 68. In der Folge bejaht EuGH Urt. v. 27.4.2017 – Rs. C-680/15 u.a. (Asklepios Kliniken u.a.), EU:C:2017:317 Rn. 23 ff. solche durch die unionale Vertragsfreiheit gebotenen Einflussnahmemöglichkeiten im deutschen Recht, weil es„sowohl einvernehmliche als auch einseitige Möglichkeiten für den Erwerber vorsieht, die zum Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsbedingungen nach dem Übergang anzupassen.“ 644 Vgl. EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 35 und 32 ff. Vgl. auch EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU: C:2016:972 Rn. 67 f. und 87. 645 Der „Hauptgegenstand“ bzw. „objet principal“ in der französischen, „ogetto principale“ in der italienischen und „objeto principal“ in der spanischen Sprachfassung beschreibt die beiderseitigen Hauptleistungspflichten der Parteien und lehnt sich an das Verständnis der romanischen Rechtsordnungen an, statt vieler Herresthal, in: Langenbucher (Hrsg.), Europäisches Privat- und Wirtschaftsrecht (2013), § 2 Rn. 130; MünchKommBGB / Wurmnest (2016), Vor § 307 BGB Rn. 5. In Bezug auf diese Punkte findet lediglich eine Transparenzkontrolle statt, die EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:282 Rn. 73 ff. allerdings als „Markttransparenzgebot“ versteht, das den Verbrauchern das tatsächliche Verständnis der (wirtschaftlichen) Bedeutung der Klauseln und damit den umfassenden Vergleich mit Vertragskonditionen von Wettbewerbern ermöglichen soll. Siehe hierzu noch eingehend unten Kapitel 4 § 3 D II. 646 EuGH Urt. v. 26.2.2015 – Rs. C-143/13 (Matei), EU:C:2015:127 Rn. 50 und 54 (Herv. d. Verf.) betont, dass „unter den Ausdruck ‚Hauptgegenstand des Vertrags‘ im Sinne von

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Für die Zwecke diese Untersuchung von besonderem Interesse sind die Beweggründe des Unionsgesetzgebers für die Herausnahme der essentialia negotii aus der Klauselkontrolle. Generalanwältin Trstenjak führt in diesem Zusammenhang ausdrücklich die „Wahrung eines Kernbereichs der Privatautonomie“ an, welcher gerade durch die Bezugnahme in Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie auf den Hauptgegenstand und den Preis umschrieben werde.647 Dieser Analyse folgt auch Generalanwalt Wahl, der darüber hinaus die Entstehungsgeschichte des Regelung und namentlich den Gemeinsamen Standpunkt vom 22. September 1992648 aufgreift, wo eindeutig zum Ausdruck gebracht werde, dass Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie „mit dem Ziel eingefügt wurde, alles vom Anwendungsbereich der Richtlinie auszuschließen, was unmittelbar aus der Vertragsfreiheit der Parteien folgt. Damit wurde, anders formuliert, der Wunsch zum Ausdruck gebracht, dass der Kern des Vertragsverhältnisses (die essentialia negotii), sobald er einmal in klaren und verständlichen Worten festgelegt worden ist, nicht mehr beeinträchtigt werde “.649

Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 diejenigen Klauseln zu fassen sind, die seine Hauptleistungen festlegen und ihn als solche charakterisieren. Hingegen können Klauseln mit akzessorischem Charakter gegenüber denen, die das Wesen des Vertragsverhältnisses selbst definieren, nicht unter den genannten Begriff ‚Hauptgegenstand des Vertrags‘ fallen“. 647 GA Trstenjak Schlussanträge v. 29.10.2009 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 65, 68 und 40 (Herv. d. Verf.) bezieht sich namentlich auf den „von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 umschriebenen Kernbereich der Privatautonomie“ und deutet zudem an, dass eine Regelung „die Privatautonomie ganz aufheben würde“, wenn sie auch den Hauptgegenstand des Vertrags, den Preis sowie das Preis-Leistungs-Verhältnis vollständig vorgäbe. 648 Gemeinsamer Standpunkt des Rates vom 22. September 1992 im Hinblick auf die Annahme der Richtlinie des Rates über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, Dok. 8406/1/92, ABl. 1992 C 283/1, im Volltext abgedruckt in ZIP 1992, 1591 f. 649 GA Wahl Schlussanträge v. 12.2.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:85 Rn. 33 (Herv. d. Verf.). Keine Zustimmung verdient dagegen die Annahme des Generalanwalts (dort in Rn. 36), dass Art. 4 Abs. 2 von vornherein nur einen Bereich erfasse, „in dem die Vertragsfreiheit nicht zur vollen Entfaltung gelangt“ sei, weil Art. 3 Abs. 1 Klauselrichtlinie individuell ausgehandelte Vertragsbestimmungen ohnehin vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausklammere. Hierbei übersieht der Generalanwalt, dass auch ohne ein individuelles Aushandeln des Preises und der Hauptleistung die Vertragsfreiheit beider Parteien – und zwar in all ihren Facetten – betätigt werden kann: Zum einen machen Verbraucher und Unternehmen den Leistungsgegenstand und den Preis auch dann zum Gegenstand ihrer Willensbildung und -betätigung, wenn diese Punkte nicht im Einzelnen ausgehandelt werden, ebenso Riesenhuber, GS Wolf (2011), S. 123, 135. Zum anderen kann in einem freien Markt mit freiem Wettbewerb regelmäßig zwischen verbschiedenen Anbietern und unterschiedlichen Vertragsangeboten gewählt werden, ohne dass es somit zwingend stets individueller Verhandlungen bedürfte, um den gewünschten Vertragsschluss zu erzielen, siehe zu diesem markt- und wettbewerbsbasierten Funktionsmodell unionaler Vertragsfreiheit noch eingehend unten Kapitel 3 § 3.

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Diese Lesart macht sich auch der EuGH im Wesentlichen zu eigen und kommt mit Blick auf die Kontrollfreiheit des Preis-Leistungs-Verhältnis gemäß Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie zu dem Ergebnis, dass hier von der Warte des Unionsrechts aus besehen allein die von den Parteien vermöge ihrer Vertragsfreiheit getroffene Vereinbarung maßgeblich sein kann, weil „[es] in Bezug auf das Preis-/Leistungsverhältnis einer Lieferung oder Dienstleistung […] keine als Rahmen und Leitlinie einer solchen Kontrolle in Betracht kommenden Standards oder juristischen Kriterien gibt“.650

Der EuGH651 und seine Generalanwälte652 stützen ihre Erwägungen damit jeweils auf die herausragende Bedeutung der Freiheit der Parteien, die wesentlichen Vertragsinhalte festzulegen. Das besondere Gewicht, das die EU-Rechtsordnung der autonomen Festlegung der essentialia negotii durch die Parteien beimisst, zeigt sich auch dort, wo das unionale Wirtschaftsrecht die Abschluss- und Vertragspartnerwahl durch einen auf Art. 102 AEUV gestützten Kontrahierungszwang zulasten der Inhaber von standardessentiellen Patenten verkürzt: Während dem Kontrahierungsverpflichteten die Entscheidung entzogen wird, ob und mit wem er den Vertrag schließt, so soll er doch frei bleiben, dem anderen Teil ein alle essentialia negotii umfassendes Angebot auf Abschluss eines Lizenzvertrags zu FRAND-Bedingungen653 zu unterbreiten.654 Insbesondere sollen den Parteien sodann „Verhandlungen über die Erteilung von Lizenzen“ und damit über den Inhalt der Haupt- und Gegenleistungen möglich sein.655 Ein ähnliches Bild zeigt sich bei Kontrahierungszwängen im Kontext von Energielieferungsver650 EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:282 Rn. 54 f. Gleichsinnig EuGH Urt. v. 26.2.2015 – Rs. C-143/13 (Matei), EU:C:2015:127 Rn. 55. 651 Namentlich betont der EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014: 282 Rn. 47 f. in diesem Zusammenhang, dass „eine Klausel von den Vertragsparteien im Rahmen ihrer Vertragsautonomie und der Marktbedingungen ausgehandelt“ wird. Dem Umstand des Aushandelns misst der Gerichtshofs für die Zwecke des Art. 4 Abs. 2 freilich deshalb keine Bedeutung bei, weil ausweislich des Erwägungsgrundes Nr. 12 und des Art. 3 Abs. 1 Klauselrichtlinie im Einzelnen ausgehandelte Vertragsklauseln ohnehin nicht der Klauselkontrolle unterliegen. 652 Siehe erneut GA Trstenjak Schlussanträge v. 29.10.2009 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 65 und 68; GA Wahl Schlussanträge v. 12.2.2014 – Rs. C26/13 (Kásler), EU:C:2014:85 Rn. 33. 653 Siehe zur Bedeutung der sogenannten FRAND-Verpflichtung (fair, reasonable and non-discriminatory) bereits oben § 1 B II 1. 654 Laut EuGH Urt. v. 16.7.2015 – Rs. C-170/13 (Huawei Technologies), EU:C:2015: 477 Rn. 54 und 63 ist „der Patentinhaber nach Art. 102 AEUV nur verpflichtet, eine Lizenz zu FRAND-Bedingungen zu erteilen“ und hat dem anderen Vertragsteil „ein konkretes schriftliches Lizenzangebot zu FRAND-Bedingungen zu unterbreiten und insbesondere die Lizenzgebühr sowie die Art und Weise ihrer Berechnung anzugeben“. 655 EuGH Urt. v. 16.7.2015 – Rs. C-170/13 (Huawei Technologies), EU:C:2015:477 Rn. 67 f. und 65 will.

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trägen: Art. 3 Abs. 3 Elektrizitäts-656 und Art. 3 Abs. 3 Erdgasbinnenmarktrichtlinie657 verpflichten sogenannte Grundversorger, alle „schutzbedürftigen Kunden“ als Vertragspartner zu akzeptieren.658 Der Gerichtshof fordert angesichts dieser empfindlichen Einschränkung der Vertragsfreiheit, dass die Energieversorger zumindest weiterhin ein Mindestmaß an Gestaltungsfreiheit hinsichtlich der zentralen Inhalte der Schuldverhältnisse und insbesondere hinsichtlich des Preises ihrer Leistungen genießen.659 Während alle vorgenannten Kontrahierungszwänge somit die Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit verkürzen, ist der EuGH angesichts der Bedeutung der Freiheit zur Festlegung der wesentlichen Vertragsbestandteile bemüht, den Parteien möglichst umfassende Inhaltsfreiheit zu belassen und so zumindest ein Element des Kernbereichs der unionalen Vertragsfreiheit zu bewahren. In der Summe ist die Bestimmung der essentialia negotii dem Wesensgehalt der unionalen Vertragsfreiheit zuzuschlagen. Allerdings ist der Begriff der essentialia für die Zwecke des Unionsrechts als unionsrechtlich-autonomes Konzept zu verstehen, welches nicht zwangsläufig mit den Kategorien des mitgliedstaatlichen Zivilrechts übereinstimmt.660 Dabei deutet der EuGH jedenfalls mit Blick auf Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie ein weites Verständnis an. Namentlich will der Gerichtshof bei der Bestimmung des Hauptgegenstandes des Vertrags danach differenzieren, ob die konkrete Klausel lediglich Diese Bestimmung der Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie lautet auszugsweise: „Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass alle Haushalts-Kunden und, soweit die Mitgliedstaaten dies für angezeigt halten, Kleinunternehmen […] in ihrem Hoheitsgebiet über eine Grundversorgung verfügen, also das Recht auf Versorgung mit Elektrizität […] haben. […] Die Mitgliedstaaten erlegen Verteilerunternehmen die Verpflichtung auf, Kunden […] an ihr Netz anzuschließen“. 657 Diese Regelung der Richtlinie 2009/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/55/EG, ABl. 2009 L 211/94 lautet auszugsweise: „Die Mitgliedstaaten ergreifen geeignete Maßnahmen zum Schutz der Endkunden und tragen insbesondere dafür Sorge, dass für schutzbedürftige Kunden ein angemessener Schutz besteht“. Anhang I präzisiert dies für „Haushaltskunden“ sodann dahingehend, dass „Kunden […] Anspruch auf einen Vertrag mit ihren Anbietern von Gasdienstleistungen haben“. 658 Siehe zu diesen Kontrahierungszwängen nur EuGH Urt. v. 23.10.2014 – verb. Rs. C-359/11 u. a. (Schulz u. a.), EU:C:2014:2317 Rn. 38 ff.; GA Wahl Schlussanträge v. 8.5.2014 – verb. Rs. C-359/11 u. a. (Schulz u. a.), EU:C:2014:319 Rn. 34. 659 EuGH Urt. v. 23.10.2014 – verb. Rs. C-359/11 u. a. (Schulz u. a.), EU:C:2014:2317 Rn. 40: „Da diese Strom- und Gasversorger verpflichtet sind, […] mit allen Kunden […] Verträge zu schließen, sind die wirtschaftlichen Interessen dieser Versorger insoweit zu berücksichtigen, als sie sich die andere Vertragspartei nicht aussuchen und den Vertrag nicht beliebig beenden können“. 660 Vgl. mit Blick auf Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie wiederum nur EuGH Urt. v. 26.2.2015 – Rs. C-143/13 (Matei), EU:C:2015:127 Rn. 50. Vgl. ferner GA Trstenjak Schlussanträge v. 29.10.2009 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 68; GA Wahl Schlussanträge v. 12.2.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:85 Rn. 39. 656

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akzessorischen Charakter hat oder aber „das Wesen des Vertragsverhältnisses selbst“ definiert: Zum Hauptgegenstand im Sinne von Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie zählen daher die Klauseln des Vertrags, „die seine Hauptleistungen festlegen und ihn als solche charakterisieren“.661 Angesprochen sind damit bei gegenseitigen Verträgen jedenfalls die Haupt- sowie die Gegenleistung,662 einschließlich des Verhältnisses dieser Leistungen zueinander.663 Gleicht man diesen Befund wiederum mit den Aussagen der Gerichtshofs in der Rechtssache Alemo-Herron ab,664 so zählen die essentialia negotii in der Tat zum Wesensgehalt der unionalen Vertragsfreiheit und damit zum „innersten Kern privatautonom gesetzter Regelungen, für den eine besonders hohe Eingriffsschwelle besteht“.665 Vor allem offenbart sich Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie somit zugleich als einfachrechtliche Sicherung dieses Kernbereichs unionaler Vertragsfreiheit. Auf die damit verbundenen privatrechtlichen Konsequenzen wird noch zurückzukommen sein.666 3. Wesensgehalt, Funktionsbestimmung und Menschenwürdekern Die Entscheidung über den Vertragsschluss und die Auswahl des Vertragspartners lassen sich zunächst ebenso wie die parteiautonome Festlegung der essentialia negotii auf die Funktionsbestimmung der unionalen Vertragsfreiheit zurückführen. Diese Facetten betreffen grundlegende Aspekte der Selbst661 EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:282 Rn. 49 ff. (Herv. d. Verf.) überlässt es sodann den nationalen Gerichten, den Chrarakter der Klauseln im Einzelfall „unter Berücksichtigung der Natur, der Systematik und der Bestimmungen des Vertrags sowie seines rechtlichen und tatsächlichen Kontexts zu prüfen“. Der Ansatz des EuGH erinnert an „die für den Vertrag charakteristische Leistung“ im Sinne des Art. 4 Abs. 2 Rom I, wobei der Gerichtshof im Kontext der Inhaltskontrolle angesichts der Vorgaben in Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie sowohl Haupt- als auch Gegenleistung sowie das Äquivalenzverhältnis zwischen diesen Hauptleistungspflichten erfasst sehen will. Vgl. auch Wolf / Lindacher / Pfeiffer, AGB-Recht (2013), Art. 4 Klauselrichtlinie Rn. 27. 662 Deutlich mit Blick auf „‚Hauptgegenstand‘ und ‚Preis‘ im Sinne von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13“ nun auch EuGH Urt. v. 26.2.2015 – Rs. C-143/13 (Matei), EU:C: 2015:127 Rn. 44 ff. Vgl. aus anderen Unionsrechtsakten ferner nur Art. 4 Abs. 5 Pauschalreiserichtlinie a. F., der gerade die „wesentlichen Bestandteile des Vertrags, zu denen auch der Preis gehört“, erwähnt. 663 Vgl. hierzu sowie zur autonomen Bestimmung des Preis-Leistungs-Verhältnisses im Rahmen des Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie wiederum nur EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C26/13 (Kásler), EU:C:2014:282 Rn. 49 und 52; EuGH Urt. v. 26.2.2015 – Rs. C-143/13 (Matei), EU:C:2015:127 Rn. 44 ff. und 54. Wie hier mit Blick auf die Klauselrichtlinie Wolf / Lindacher / Pfeiffer, AGB-Recht (2013), Art. 4 Klauselrichtlinie Rn. 27. 664 Vgl. erneut EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013: 521 Rn. 35 und 32 ff. Siehe nun auch EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 67 ff. und 87. 665 So allgemein schon Stoffels, JZ 2001, 843, 844. 666 Siehe eingehend unten Kapitel 7 § 2.

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bestimmung in vertraglichen Angelegenheiten: Wer weder über den Abschluss oder Nicht-Abschluss des Vertrags oder die Wahl des Vertragspartners entscheiden noch die zentralen Ecksteine des ihn bindenden Vertragsinhalts beeinflussen kann, handelt nicht mehr selbst-, sondern im Wesentlichen fremdbestimmt. Hier ist deshalb der Kern unionaler Vertragsfreiheit berührt. In der heutigen Gesellschaft ist der Abschluss von Verträgen zudem eine schlicht unverzichtbare Ausdrucksform der Selbstbestimmung – nicht nur im ökonomischen Kontext, sondern in nahezu allen menschlichen Lebensbereichen.667 Dem Wesensgehalt der unionalen Vertragsfreiheit fällt daher die Aufgabe zu, den Nukleus dieser Autonomie des Menschen im vertraglichen Bereich zu wahren. Vor diesem Hintergrund besteht eine Verbindungslinie zwischen dem Wesensgehalt der unionsgrundrechtlich geschützten rechtsgeschäftlichen Privatautonomie einerseits und der Menschenwürdegarantie gemäß Art. 1 GRCh als höchstem Wert der Europäischen Union andererseits: Weil für ein selbstbestimmtes, würdevolles Leben der Abschluss von Verträgen unabdingbar ist, würde der durch Art. 1 GRCh mitgeschützte Lebensmodus in Frage gestellt, wenn Verträge ihrerseits zu Instrumenten der Fremdbestimmung geraten, weil weder eine freie Entscheidung über den Abschluss oder Nicht-Abschluss noch über die Wahl des Vertragspartners und die wesentlichen Vertragsinhalte gewährleistet ist.668 Anders gewendet ist die unionale Vertragsfreiheit in ihrem Wesensgehalt „reductible to a fundamental right of dignity […], whereby human self-expression […] is assured“.669 667 So ist etwa der Zugang zum politischen, kulturellen und religiösen Leben vielfach ebenso vertragsförmig organisiert wie die Zugehörigkeit zu den entsprechenden Vereinen und Organisationen. Selbst das menschliche Zusammenleben kann durch die Handlungsform des Vertrags bestimmt werden: Man denke nur an die freie Entscheidung für eine Eheschließung als „Aspek[t] der Vertragsfreiheit“, vgl. Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85, 90. 668 Ganz in diesem Sinne betont mit Blick auf die unionsrechtliche Konzeption der Menschenwürde auch GA Stix-Hackl Schlussanträge v. 18.3.2004 – Rs. C-36/02 (Omega), Slg. 2004, I-9609 Rn. 78 ff.: „Die Menschenwürde wurzelt insgesamt tief in der Entstehung eines Menschenbildes im europäischen Kulturkreis, der den Menschen als zur Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung begabtes Wesen begreift. Aufgrund seiner Fähigkeit zur eigenen, freien Willensbildung ist er Subjekt […]. Aus der in diesem Konzept zum Ausdruck kommenden Bezogenheit des Würdebegriffs zur Selbstbestimmung und Freiheit des Menschen wird deutlich, warum die Idee der Würde des Menschen auch häufig über andere Begriffe und Schutzgüter wie die Persönlichkeit oder die Identität in Erscheinung tritt […]. Als Ausfluss und besondere Ausformungen der Menschenwürde dienen […] letztlich alle (besonderen) Menschenrechte der Verwirklichung und dem Schutz der menschlichen Würde“ (Herv. d. Verf.). Siehe aus der philosphischen Warte erneut Berlin, Four Essays on Liberty (1969), S. LX: „To be free to choose, and not to be chosen for, is an inalienable ingredient in what makes human beings human“. 669 Everson / Correia Gonçalves, in: Peers / Hervey / Kenner (eds.), EU Charter (2014), Art. 16 Rn. 16.01. Gleichsinnig bereits zuvor z. B. Canaris, FS Lerche (1993), S. 873, 881 und 889.

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Bei dieser Lesart umfasst zumindest das „‘core’, or ‘existential’, righ[t] of freedom to conclude a contract“ durchaus einen Menschenwürdekern,670 der durch Art. 1 GRCh verstärkt wird.671 Daraus folgt zum einen, dass dieser Kernbereich nicht generell preisgegeben werden darf. Zum anderen sind selbst an punktuelle Eingriffe – wie etwa bereichsspezifische Kontrahierungszwänge – immer besonders hohe Rechtfertigungsanforderungen zu stellen. Diese Einsicht muss auch die Abwägung sowie die Einschränkung der unionalen Vertragsfreiheit leiten. III. Abwägung und Beschränkbarkeit Während die Schranken der unionsgrundrechtlich verbürgten Vertragsfreiheit bereits erste Konturen angenommen haben (1), ist dem Verhältnis konfligierender allgemeiner Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts zueinander bislang weniger Aufmerksamkeit zuteilgeworden (2). Im Folgenden ist zu untersuchen, inwieweit das Bentham’sche Diktum auf beide Normgruppen gleichermaßen zutrifft: „You, who fetter contracts; you, who lay restraints on the liberty of man, it is for you […] to assign a reason for your doing so“.672

1. Grundrechtliche Schrankensystematik Schon bevor die Vertragsfreiheit insbesondere als Aspekt der unternehmerischen Freiheit in der GRCh verbürgt worden ist, hat der EuGH wiederholt herausgestellt, dass diese Freiheit stets „im Zusammenhang mit ihrer gesellschaftlichen Funktion zu sehen“ und entsprechenden Schranken unterworfen sei.673 Mit Blick auf Eingriffe in ungeschriebene Unionsgrundrechte im Sinne 670 Everson / Correia Gonçalves, in: Peers / Hervey / Kenner (eds.), EU Charter (2014), Art. 16 Rn. 16.01. 671 Vgl. erneut auch Canaris, FS Lerche (1993), S. 873, 881 und 889; Everson / Correia Gonçalves, in: Peers / Hervey / Kenner (eds.), EU Charter (2014), Art. 16 Rn. 16.01. Zurückhaltender positioniert sich mit Blick auf das deutsche Grundgesetz Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85, 86, weil die „Ableitung aus dem allerhöchsten und unverrückbaren Rechtsgut […] wenig zu den Myriaden von Einschränkungen“ passe. Indes geht es hier nicht um die unmittelbare Herleitung der Vertragsfreiheit aus der Menschenwürde – ablehnend dazu bereits oben § 1 A II 1 –, sondern nur um die Verstärkung des Schutzbereiches jener Freiheitsfacetten, ohne die ein selbstbestimmte Organisation des Lebens schlicht nicht denkbar ist. Vgl. zur verstärkenden Wirkung der Menschenwürdegarantie in Bezug auf die Unionsgrundrechte allgemein GA Stix-Hackl Schlussanträge v. 18.3.2004 – Rs. C36/02 (Omega), Slg. 2004, I-9609 Rn. 78 ff.; Breuer, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 7 Rn. 12 ff. 672 Bentham, Defence of Usury: Letter I, January, 1787 (1816), S. 2. 673 Vgl. z. B. EuGH Urt. v. 9.9.2004 – verb. Rs. C-184/02 u. a. (Spanien und Finnland /  Parlament und Rat), Slg. 2004, I-7789 Rn. 51 f. Deutlich auch EuGH Urt. v. 5.10.1999 – Rs. C-240/97 (Spanien / Kommission), Slg. 1999, I-6571 Rn. 99 f.; EuGH Urt. v. 14.12.2004

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des Art. 6 Abs. 3 EUV hat der Gerichtshof drei Voraussetzungen formuliert, welche nun auch in Art. 52 Abs. 1 GRCh für die Chartagrundrechte aufgegriffen werden: Die Einschränkung muss, erstens, gesetzlich vorgesehen sein, zweitens, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ebenso wie auch, drittens, den Wesensgehalt des jeweiligen Grundrechts wahren.674 a) Erfordernis einer Rechtsgrundlage Bereits im Jahr 1983 hielt GA Rozès in der Rechtssache Schmidt/Kommission eine „Rechtsgrundlage für einen Eingriff in die Vertragsfreiheit der Wirtschaftsteilnehmer“ für unverzichtbar.675 Auch der EuGH stellt diese Anforderung in unterschiedlichen Bereichen und mit Blick auf diverse Facetten der unionalen Vertragsfreiheit. Beispielsweise hat der Gerichtshof frühzeitig hervorgehoben, dass „das Recht der Parteien, von ihnen geschlossene Verträge zu ändern, auf dem Grundsatz der Vertragsfreiheit beruht und daher nicht eingeschränkt werden kann, wenn es keine Gemeinschaftsregelung gibt, die in dieser Beziehung besondere Beschränkungen festlegt“.676

In die gleiche Richtung weist die unionale Entscheidungspraxis in kartellrechtlichen Verfahren: In der Rechtssache Kommission/Alrosa werden als Rechtsgrundlage für die Einschränkung des „Grundsatzes der Vertragsfrei– Rs. C-210/03 (Swedish Match), Slg. 2004, I-11893 Rn. 72; EuGH Urt. v. 9.9.2004 – verb. Rs. C-184/02 u. a. (Spanien und Finnland / Parlament und Rat), Slg. 2004, I-7789 Rn. 51 f. Siehe zu Art. 16 GRCh nur EuGH Urt. v. 4.5.2016 – Rs. C-477/14 (Pillbox 38), EU:C:2016:324 Rn. 158 ff.; EuGH Urt. v. 30.6.2016 – Rs. C-134/15 (Lidl), EU:C:2016: 498 Rn. 31 ff. 674 Siehe zur Schrankensystematik der Unionsgrundrechte im Kontext des Art. 16 GRCh nur EuGH Urt. v. 6.9.2012 – Rs. C-544/10 (Deutsches Weintor), EU:C:2012:526 Rn. 54; EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C:2013:28 Rn. 42 ff.; EuGH Urt. v. 31.1.2013 – Rs. C-12/11 (McDonagh), EU:C:2013:43 Rn. 61; EuGH Urt. v. 17.10.2013 – Rs. C-101/12 (Schaible), EU:C:2013:661 Rn. 27 ff.; EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-390/12 (Pfleger), EU:C:2014:281 Rn. 58; GA Sharpston Schlussanträge v. 14.11.2013 – Rs. C-390/12 (Pfleger), EU:C:2013:747 Rn. 64. Siehe zur Vertragsfreiheit nur EuGH Urt. v. 5.10.1999 – Rs. C-240/97 (Spanien / Kommission), Slg. 1999, I-6571 Rn. 99 f.; EuGH Urt. v. 20.5.2010 – Rs. C-434/08 (Harms), Slg. 2010, I-4431 Rn. 36 f. Zum Ganzen statt vieler Wollenschläger, in: Hatje / Müller-Graff (Hrsg.), EnzEuR I: Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht (2014), § 8 Rn. 72 f.; Cornils, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 5 Rn. 107 ff. 675 GA Rozès Schlussanträge v. 28.6.1983 – Rs. 210/8 (Schmidt / Kommission), Slg. 1983, 3045, 3072. 676 EuGH Urt. v. 5.10.1999 – Rs. C-240/97 (Spanien / Kommission), Slg. 1999, I-6571 Rn. 99 f. (Herv. d. Verf.). Ebenso weist EuGH Urt. v. 20.5.2010 – Rs. C-434/08 (Harms), Slg. 2010, I-4431 Rn. 36 f. darauf hin, „dass ein Vertrag zwar durch das Prinzip der Privatautonomie, wonach die Parteien frei darin sind, gegenseitige Verpflichtungen einzugehen, gekennzeichnet ist, dass sich aus dem anwendbaren Unionsrecht aber Grenzen für die Vertragsfreiheit ergeben können“.

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heit“ Art. 81, 82 EG (nunmehr Art. 101, 102 AEUV) genannt.677 Ebenso hat das EuG in der Rechtssache Automec/Kommission geprüft, ob und unter welchen Voraussetzungen Art. 85 EWG (nunmehr Art. 101 AEUV) sowie Art. 3 Abs. 1 Verordnung Nr. 17678 eine hinreichende Rechtsgrundlage für einen Kontrahierungszwang und mithin einer „Einschränkung der Vertragsfreiheit“ in Form der Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit bilden.679 Auch soweit die Vertragsinhaltsfreiheit durch zwingende Preisregelungen beschnitten wird, fordert der EuGH stets eine Rechtsgrundlage für diese Beschränkung.680 Andere Verkürzungen der Vertragsinhaltsfreiheit, etwa durch die unionsrechtlich fundierte Klauselkontrolle, werden ebenfalls als einer Rechtsgrundlage sowie einer Rechtfertigung bedürftige hoheitliche Eingriffe in die rechtsgeschäftliche Privatautonomie gesehen.681 b) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Art. 52 Abs. 1 S. 2 GRCh stellt Eingriffe in die durch Art. 16 GRCh garantierte unionale Vertragsfreiheit ausdrücklich unter den Vorbehalt, dass sie erforderlich sowie geeignet sind und insbesondere auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne wahren. Einschränkungen sind daher nur zulässig, wenn und soweit sie „erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen“.682 Diese Formel hat der EuGH bereits vor Inkrafttreten der GRCh zugrunde gelegt683 und insbesondere bei Einschränkungen des „Grundsatzes

EuGH Urt. v. 29.6.2010 – Rs. C-441/07 P (Kommission / Alrosa), Slg. 2010, I-5949 Rn. 111 sowie 109 f. und 120. 678 Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962, Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrags, ABl. 1962 13/204. 679 EuG Urt. v. 18.9.1992 – Rs. T-24/90 (Automec / Kommission), Slg. 1992, II-2223 Rn. 49 und 51 f. 680 Vgl. etwa zum Verbot von Zugangsentgelten nach Art. 16 Abs. 3 Richtlinie 96/67/ EG des Rates vom 15. Oktober 1996 über den Zugang zum Markt der Bodenabfertigungsdienste auf den Flughäfen der Gemeinschaft, ABl. 1996 L 272/36 nur EuGH Urt. v. 16.10.2003 – Rs. C-363/01 (Deutsche Lufthansa), Slg. 2003, I-11893 Rn. 59. 681 Deutlich etwa GA Trstenjak Schlussanträge v. 29.10.2009 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 39 f.: „Die Richtlinie 93/13 schränkt den Grundsatz der Vertragsfreiheit zugunsten des Verbrauchers wesentlich ein, indem sie eine richterliche Kontrolle missbräuchlicher Klauseln erlaubt. Gerechtfertigt wird dieser hoheitliche Eingriff in die Privatautonomie mit der Annahme, dass auf dem Gebiet der standardisierten Verträge eine Asymmetrie wirtschaftlicher Macht bestehe“. 682 Vgl. Art. 52 Abs. 1 S. 2 GRCh. Siehe aus der ständigen Rechtsprechung zuletzt etwa EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 70. Siehe zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als „Schranken-Schranke“ statt aller Cornils, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 5 Rn. 12. 677

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der Vertragsfreiheit“ eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgenommen.684 Friktionen zwischen den geschriebenen und ungeschriebenen Unionsgrundrechten sind daher insoweit nicht zu besorgen. Damit eine Einschränkung der unionalen Vertragsfreiheit verhältnismäßig ist, darf sie „nicht die Grenzen dessen überschreiten […], was zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist, wobei zu beachten ist, dass dann, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist und die verursachten Nachteile nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen dürfen“.685

Der Gerichtshof prüft mithin die Geeignetheit, Erforderlichkeit sowie schließlich die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, also die Frage, ob die Einschränkung der Vertragsfreiheit noch in einer angemessenen Relation zu dem mit dieser Verkürzung angestrebten Ziel steht.686 Das Regelungsziel und damit die Legitimation der Einschränkung muss dabei „den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Z. B. EuGH Urt. v. 13.7.1989 – Rs. 5/88 (Wachauf), Slg. 1989, 2609 Rn. 18; EuGH Urt. v. 10.1.1992 – Rs. C-177/90 (Kühn), Slg. 1992, I-35 Rn. 16; EuGH Urt. v. – verb. Rs. C20/00 u. a. (Booker Aquaculture u. a.) Slg. 2003, I-7411 Rn. 68. Vgl. zu Art. 16 GRCh sodann nur EuGH Urt. v. 6.9.2012 – Rs. C-544/10 (Deutsches Weintor), EU:C:2012:526 Rn. 54; EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-390/12 (Pfleger), EU:C:2014:281 Rn. 58. 684 Siehe beispielsweise EuGH Urt. v. 29.6.2010 – Rs. C-441/07 P (Kommission/ Alrosa), Slg. 2010, I-5949 Rn. 120 und 109 ff. Deutlich auch EuG Urt. v. 18.9.1992 – Rs. T-24/90 (Automec / Kommission), Slg. 1992, II-2223 Rn. 51 f.: „Da die Vertragsfreiheit die Regel bleiben muß, kann der Kommission im Rahmen der Anordnungsbefugnisse, über die sie zur Abstellung von Zuwiderhandlungen gegen Artikel 85 Absatz 1 verfügt, grundsätzlich nicht die Befugnis zuerkannt werden, einer Partei die Begründung vertraglicher Beziehungen aufzugeben, da ihr im allgemeinen geeignete Mittel zu Gebote stehen, um ein Unternehmen zum Abstellen einer Zuwiderhandlung zu zwingen. Eine solche Einschränkung der Vertragsfreiheit kann insbesondere deshalb nicht gerechtfertigt werden, weil es mehrere Mittel gibt, eine Zuwiderhandlung abzustellen“. 685 Siehe zu Art. 16 GRCh nur EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C:2013:28 Rn. 50; EuGH Urt. v. 4.5.2016 – Rs. C-477/14 (Pillbox 38), EU:C: 2016:324 Rn. 158 ff.; EuGH Urt. v. 30.6.2016 – Rs. C-134/15 (Lidl), EU:C:2016:498 Rn. 31 ff. 686 Vgl. wiederum nur EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C: 2013:28 Rn. 50; EuGH Urt. v. 17.10.2013 – Rs. C-101/12 (Schaible), EU:C:2013:661 Rn. 29; EuGH Urt. v. 31.1.2013 – Rs. C-12/11 (McDonagh), EU:C:2013:43 Rn. 44 und 59 ff.; EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 67 ff. und 70 ff. Vgl. auch EuGH Urt. v. 29.1.2008 – Rs. C-275/06 (Promusicae), Slg. 2008, I271 Rn. 65 ff.; EuGH Urt. v. 6.9.2012 – Rs. C-544/10 (Deutsches Weintor), EU:C:2012: 526 Rn. 54 ff. Vgl. bereits EuGH Urt. v. 13.7.1989 – Rs. 5/88 (Wachauf), Slg. 1989, 2609 Rn. 18. Vgl. zur Verhältnismäßigkeitsprüfung und zur Wahrung des Wesensgehalts bei den als allgemeine Rechtsgrundsätze anerkannten Unionsgrundrechten nur EuGH Urt. v. 12.6.2003 – Rs. C-112/00 (Schmidberger), Slg. 2003, I-5659 Rn. 79 ff.; EuGH Urt. v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981 Rn. 65 und 75. 683

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Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen“.687 Angesprochen sind damit insbesondere die Unionsgrundrechte der Charta sowie die ungeschriebenen allgemeinen Grundsätze im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV. Wenn sich die Vertragsfreiheit und andere durch die Unionsrechtsordnung geschützte Rechte gegenüberstehen, zieht der EuGH den Gedanken der Konkordanz heran, wonach durch Abwägung „die einzelnen betroffenen Grundrechte miteinander in Einklang zu bringen [sind] und ein angemessenes Gleichgewicht zwischen ihnen herzustellen“ ist.688 Damit bedarf es einer Abwägung der unionalen Vertragsfreiheit einerseits mit den konfligierenden Positionen andererseits.689 Weil bei Verträgen mindestens zwei Parteien ihre rechtsgeschäftliche Privatautonomie betätigen, ist hier stets die unionsgrundrechtlich verbürgte Vertragsfreiheit beider Parteien in diese Abwägung einzustellen.690 Leitlinie der Abwägung muss die größtmögliche Entfaltung der

687 EuGH Urt. v. 31.1.2013 – Rs. C-12/11 (McDonagh), EU:C:2013:43 Rn. 61. Deutlich auch EuG Urt. v. 27.2.2014 – Rs. T-256/11 (Ezz), EU:T:2014:93 Rn. 229 ff. Mit Blick auf die Vertragsfreiheit führt GA Stix-Hackl Schlussanträge v. 30.3.2004 – Rs. C-346/02 und C-347/02 (Kommission / Luxemburg und Frankreich), Slg. 2004, I-7517 Rn. 55 f. aus, „dass allfällige […] Beschränkungen […] gerechtfertigt werden können, sofern es sich bei diesen Vorschriften um Vorschriften aus Gründen des Allgemeininteresses handelt“. Siehe statt aller Cornils, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 5 Rn. 95 ff. Zumindest soweit die Vertragsfreiheit durch Art. 16 GRCh verbürgt ist, deutet der Gerichtshof einen besonders großzügigen Maßstab bei der Verhältnismäßigkeitprüfung an: Weil die unternehmerische Freiheit nur „nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkannt“ werde, könne dieses Grundrecht „einer Vielzahl von Eingriffen der öffentlichen Gewalt unterworfen werden, die im allgemeinen Interesse die Ausübung der wirtschaftlichen Tätigkeit beschränken“, siehe nur EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C:2013:28 Rn. 46 f. Gegen eine über Art. 52 hinausgehende Beschränkbarkeit des Art. 16 GRCh plädiert unter systematischen Gesichtspunkten zu Recht Grabenwarter, in: ders. (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 13 Rn. 41 ff. 688 EuGH Urt. v. 31.1.2013 – Rs. C-12/11 (McDonagh), EU:C:2013:43 Rn. 64 und 62. 689 Entsprechend führt bereits GA Sharpston Schlussanträge v. 15.10.2009 – Rs. C28/08 P (Bavarian Lager / Kommission), Slg. 2010, I-6055 Rn. 95 unter Verweis auf EuGH Urt. v. 12.6.2003 – Rs. C-112/00 (Schmidberger), Slg. 2003, I-5659 Rn. 80 f.; EuGH Urt. v. 9.1.2008 – Rs. C-275/06 (Promusicae), Slg. 2008, I-271 Rn. 70 aus, dass „die widerstreitenden Interessen gegeneinander abzuwägen sind und ein angemessenes Gleichgewicht zwischen diesen Interessen und den in Rede stehenden Grundrechten zu gewährleisten ist“. Siehe auch Gundel, ZHR 180 (2016), 323, 352. 690 Während sich die Vertragsfreiheit zunächst als Abwehrrecht gegen hoheitliche Interventionen wendet, ist durchaus denkbar, dass die Vertragsfreiheiten der beteiligten Parteien zuweilen in unterschiedliche Richtungen weisen: Wenn und soweit die Rechtsordnung der EU unionsgrundrechtliche Schutzpflichten enthält, mag die Verkürzung der Vertragsfreiheit des einen gerade im Interesse der Gewährleistung der Vertragsfreiheit des anderen Vertragsteils geboten sein, siehe eingehend unten Kapitel 3 § 1 A II und Kapitel 4 § 1 B sowie ferner unten Kapitel 7 § 1 A I 1.

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Vertragsfreiheit auf der einen und der gegenläufigen Grundrechtspositionen auf der anderen Seite sein.691 c) Wahrung des Wesensgehalts Bei Eingriffen in den Wesensgehalt der unionalen Vertragsfreiheit sind zunächst besonders hohe Anforderungen an die Rechtfertigung der Beschränkung zu stellen.692 Hingegen mag auf sich beruhen, ob der in Art. 52 Abs. 1 GRCh erwähnte Wesensgehalt der unionalen Vertragsfreiheit eine eigenständige „Schranken-Schranke“ ist, in deren Rahmen sich alle Eingriffe bewegen müssen,693 oder ob es sich nur um die „Umschreibung eines unverhältnismäßigen und daher nicht gerechtfertigten Grundrechtseingriffs“ handelt:694 Nach beiden Lesarten bildet der Kernbereich nämlich eine Grenze der Beschränkbarkeit unionaler Vertragsfreiheit, die dann zum Tragen kommt, wenn die Vertragsabschluss- und Partnerwahlfreiheit sowie die Freiheit zur Festlegung der essentialia negotii völlig ausgehöhlt und dadurch die Selbstbestimmung in vertraglichen Angelegenheiten gänzlich unmöglich wird.695 Dies gilt umso 691 Vgl. erneut EuGH Urt. v. 31.1.2013 – Rs. C-12/11 (McDonagh), EU:C:2013:43 Rn. 64. Mit Blick auf die Gewährleistung der Vertragsfreiheit nach dem deutschen Grundgesetzt fordert das BVerfG Beschl. v. 23.10.2013 – 1 BvR 1842/11 u. a., NJW 2014, 46, 47 entsprechend einen „Ausgleich, bei dem die Freiheit der einen mit der Freiheit der anderen [Vertragspartei] in Einklang zu bringen ist. Dabei kollidierende Grundrechtspositionen sind hierfür in ihrer Wechselwirkung zu erfassen und […] nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz so in Ausgleich zu bringen, dass sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden“. 692 Vgl. nur EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 31 ff. Vgl. auch EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C:2013: 28 Rn. 48 f. EuGH Urt. v. 4.5.2016 – Rs. C-477/14 (Pillbox 38), EU:C:2016:324 Rn. 161. 693 In diesem Sinne zuletzt insbesondere EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C:2013:28 Rn. 49; EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (AlemoHerron), EU:C:2013:521 Rn. 35. In diese Richtung weist z. B. schon EuGH Urt. v. 13.12.1994 – Rs. C-306/93 (SMW Winzersekt), Slg. 1994, I-5555 Rn. 22; EuGH Urt. v. 12.5.2005 – Rs. C-34//03 (ERSA), Slg. 2005, I-3785 Rn. 119, da der Gerichtshof die Außengrenze – und damit die „Schranken-Schranke“ – für Verkürzungen der Unionsgrundrechte auf freie Berufsausübung und Eigentum dort zieht, wo der Eingriff „das gewährleistete Recht in seinem Wesensgehalt antasten würde“. Ebenso mit Blick auf die unternehmerische Freiheit nach Art. 16 GRCh zuletzt etwa EuGH Urt. v. 6.9.2012 – Rs. C-544/10 (Deutsches Weintor), EU:C:2012:526 Rn. 54. Siehe allgemein auch EuGH Urt. v. 29.4.2015 – Rs. C-528/13 (Léger), EU:C:2015:288 Rn. 52. Für eine eigenständige Rolle des Wesensgehalts plädiert vor diesem Hintergrund z. B. Meyer / Borowsky (2014), Art. 52 GRCh Rn. 23 f. 694 So mit Blick insbesondere auf die ältere Rechtsprechung des EuGH etwa Cornils, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 5 Rn. 104 ff. 695 Vgl. mit Blick auf Art. 16 GRCh wiederum EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 35. EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C:2013:28 Rn. 49.

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mehr, als nach der hier vertretenen Auffassung der Wesensgehalt der unionalen Vertragsfreiheit zugleich einen Menschenwürdekern enthält.696 Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb der Unionsgesetzgeber ebenso wie der EuGH und seine Generalanwälte bemüht sind, diesen Kernbereich der Vertragsfreiheit zu schützen. So hält Generalanwältin Trstenjak mit Blick auf den Wesensgehalt der unionalen Vertragsfreiheit beispielsweise die restriktive Ausgestaltung der Klauselrichtlinie durch den Unionsgesetzgeber für geboten: „Rechtstechnisch wird das Ziel der Wahrung eines Kernbereichs der Privatautonomie verwirklicht, indem der Missbrauchskontrolle der Hauptleistungspflichten Grenzen gesetzt werden“.697

Nach dieser Lesart wäre der Kernbereich der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie also z. B. durch Regelungen berührt, die den Hauptgegenstand des Vertrags, den Preis sowie das Preis-Leistungs-Verhältnis lückenloser Kontrolle und umfassenden hoheitlichen Eingriffen unterwerfen, da dies „die Privatautonomie ganz aufheben würde“.698 In eine ähnliche Richtung weist der EuGH im Kontext unionsrechtlich fundierter Kontrahierungszwänge: Unter dem Gesichtspunkt des Wesensgehalts der unionalen Vertragsfreiheit fordert der Gerichtshof, dass der Vertragspartei, deren Vertragsabschlussund Partnerwahlfreiheit durch den Vertragsschlusszwangs verkürzt wird, zumindest möglichst umfassende Vertragsinhaltsfreiheit verbleibt.699 Schließ696 Siehe erneut oben II 3 sowie z. B. Everson / Correia Gonçalves, in: Peers / Hervey /  Kenner (eds.), EU Charter (2014), Art. 16 Rn. 16.01. 697 GA Trstenjak Schlussanträge v. 29.10.2009 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 65. In diese Richtung deutet z. B. auch GA Kokott Schlussanträge v. 8.11.2012 – Rs. C-415/11 (Aziz), EU:C:2012:700 Rn. 73, wenn sie herausstellt, dass nach der Klauselrichtlinie „eine Vertragsklausel nur dann als missbräuchlich anzusehen ist, wenn durch sie entgegen dem Gebot von Treu und Glauben zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten verursacht wird. So wird der Grundsatz der Vertragsfreiheit gewahrt und anerkannt, dass Parteien vielfach ein berechtigtes Interesse an einer gegenüber der Gesetzeslage abweichenden Ausgestaltung ihrer Vertragsbeziehungen besitzen“ (Herv. d. Verf.). 698 GA Trstenjak Schlussanträge v. 29.10.2009 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 40. Siehe hierzu noch eingehend unten Kapitel 7 § 2. Vgl. auch GA Wahl Schlussanträge v. 12.2.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:85 Rn. 104 f.: „Der richterliche Eingriff darf, so weit wie irgend möglich, allein darauf abzielen, eine gewisse Gleichrangigkeit zwischen den Gewerbetreibenden und den Verbrauchern wiederherzustellen, mit denen sie Verträge schließen […]. Denn es ist wohlbekannt, dass […] jeglicher Eingriff eines Dritten, einschließlich des Staates als Gesetzgeber, nur mit Vorsicht in Betracht gezogen werden darf, da er möglicherweise geeignet ist, die Vertragsfreiheit […] zu beeinträchtigen“. Gleichsinnig Canaris, FS Lerche (1993), S. 873, 887; ders., AcP 200 (2000), 273, 324; Riesenhuber, GS Wolf (2011), S. 123, 132 ff. 699 Siehe zur Inhaltsfreiheit und dem auf Art. 102 AEUV gestützten Zwang zum Abschluss von Lizenzverträgen nach FRAND-Bedingungen erneut nur EuGH Urt. v. 16.7.2015

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lich fordert der Gerichtshof in seiner Alemo-Herron-Entscheidung, dass jeder Vertragsteil „die Möglichkeit [hat], im Rahmen eines zum Vertragsabschluss führenden Verfahrens seine Interessen wirksam geltend zu machen“ und Einfluss auf die wesentlichen Vertragsbedingungen zu nehmen.700 Wo diese Anforderungen nicht erfüllt sind, ist der Kernbereich der unionalen Vertragsfreiheit betroffen. 2. Abwägung unionsprivatrechtlicher Grundsätze Die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts kommen als Rechtsprinzipien insbesondere dort zum Tragen, wo das geschriebene Unionsprivatrecht auslegungsbedürtig ist oder eine Lücke enthält.701 Laut EuGH ist ein Vertrag auch in der EU-Rechtsordnung stets „durch das Prinzip der Privatautonomie, wonach die Parteien frei darin sind, gegenseitige Verpflichtungen einzugehen, gekennzeichnet“.702 Wenn allerdings weitere, mit der Vertragsfreiheit konfligierende Grundsätze im Raum stehen, müssen diese gegenläufigen Prinzipien zunächst abgewogen und in Ausgleich gebracht werden.703 Erst wenn sich ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsprivatrechts im Zuge dieser Abwägung durchsetzt, gewinnt er Überzeugungskraft als Leitlinie der Auslegung oder Lückenfüllung.704 Dabei geht es freilich – Rs. C-170/13 (Huawei Technologies), EU:C:2015:477 Rn. 54 und 63. Siehe zur Inhaltsfreiheit bei Kontrahierungszwängen im Kontext von Energielieferungsverträgen nach Art. 3 Abs. 3 Elektrizitäts- und Art. 3 Abs. 3 Erdgasbinnenmarktrichtlinie wiederum z. B. EuGH Urt. v. 23.10.2014 – verb. Rs. C-359/11 u. a. (Schulz u. a.), EU:C:2014:2317 Rn. 40. 700 EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 34. Siehe auch EuGH Urt. v. 27.4.2017 – Rs. C-680/15 u.a. (Asklepios Kliniken u.a.), EU: C:2017:317 Rn. 23. 701 Siehe erneut oben § 2 A I 1. Siehe ferner nur Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 14 ff., 389 ff., 395 ff., 545 f.; Basedow, FS Hopt I (2010), S. 27, 45. In diesem Sinne auch GA Mazák Schlussanträge v. 15.2.2007 – Rs. C-411/05 (Palacios de la Villa), Slg. 2007, I-8531 Rn. 134 ff.; GA Trstenjak Schlussanträge v. 30.6.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 68; GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C: 2011:559 Rn. 93. Siehe allgemein auch Lenaerts / Gutiérrez-Fons, CMLR 47 (2010), 1629, 1631 ff. und 1636 ff.; Tridimas, The General Principles of EU Law (2006), S. 17 f. und 29 f. („gap-filling function“; „[a]id to interpretation“). 702 EuGH Urt. v. 20.5.2010 – Rs. C-434/08 (Harms), Slg. 2010, I-4431 Rn. 36. Siehe auch EuGH Urt. v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 (Werhof), Slg. 2006, I-2397 Rn. 23; EuGH Urt. v. 27.4.2017 – Rs. C-680/15 u.a. (Asklepios Kliniken u.a.), EU:C:2017:317 Rn. 19. Vgl. zudem nur EuGH Urt. v. 5.10.1999 – Rs. C-240/97 (Spanien / Kommission), Slg. 1999, I-6571 Rn. 99. 703 Siehe erneut oben § 2 A I 1 sowie statt vieler Hartkamp, RabelsZ 75 (2011), 241, 256; Metzger, RabelsZ 75 (2011), 845, 879. 704 Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 546 bezeichnet die Rechtsprinzipien vor diesem Hintergrund treffend als „Abwägungsgebote und vermutlich verbindliche Sätze“.

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nicht um eine „Alles-oder-Nichts“-Entscheidung zugunsten eines einzigen Prinzips: Auch der Grundsatz, der nach sorgfältiger Abwägung die Oberhand behält, kann durch das gegenläufige Prinzip begrenzt werden und entsprechend nur in abgeschwächter Form bei der Interpretation oder der Füllung von Lücken zu berücksichtigen sein.705 Innerhalb des durch die unionale Methodenlehre gesteckten Rahmens besteht somit ein erheblicher Spielraum bei der Anwendung der allgemeinen Grundsätze des Unionsprivatrechts.706 Dessen ungeachtet ist im weiteren Verlauf dieser Abhandlung zu fragen, welche Leitlinie den Abwägungsvorgang beherrschen soll und inwieweit und unter welchen Voraussetzungen der unionsprivatrechtliche Grundsatz der Vertragsfreiheit Vorrang vor anderen Prinzipien genießt.707 Entscheidendes Gewicht wird dabei nicht zuletzt der im Ausgangspunkt prozeduralen und marktbasierten Konzeption unionaler Vertragsfreiheit auf der einen sowie ihrer „Materialisierung“ auf der anderen Seite zukommen.708 3. Ergebnis Die als Unionsgrundrecht und allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsprivatrechts geschützte Vertragsfreiheit hat einen autonomen und einheitlichen Schutzbereich. Dieser umfasst alle sieben Facetten der unionalen Vertragsfreiheit und gewährleistet mithin neben der Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit,709 der Inhalts-,710 Typen-,711 Änderungs-,712 Aufhebungs-713 und der Formfreiheit714 auch die Parteiautonomie als international-privatrechtliche Dimension rechtsgeschäftlicher Privatautonomie.715 Der Schutzbereich wie auch der Wesensgehalt der unionalen Vertragsfreiheit sind vor dem Hintergrund der Funktionsbestimmung dieser Freiheit zu Metzger, RabelsZ 75 (2011), 845, 879 (dort in Fn. 153). Vgl. Lenaerts / Gutiérrez-Fons, CMLR 47 (2010), 1629, 1631: „[T]he ECJ is able to weigh competing interests against each other in a coherent, rational, and dynamic fashion“. 707 Mit Recht bemerken Eidenmüller / Faust / Grigoleit / Jansen / Wagner / Zimmermann, Oxford J. Legal Studies, 28 (2008), 659671 f. in Bezug auf die Abwägung privatrechtlicher Prinzipien: „At least a number of abstract ‘conflict rules’ would be required that determine when a given value prevails or may prevail and, even more importantly, the reasons relevant for this assessment should be provided“. Einen grundsätzlichen Vorrang der Vertragsfreiheit im unionsrechtlich determinierten Privatrecht postuliert beispielsweise Metzger, RabelsZ 75 (2011), 845, 878. 708 Siehe unten Kapitel 3 und Kapitel 4. 709 Hierzu eingehend oben § 1 B I 1. 710 Hierzu eingehend oben § 1 B I 2. 711 Hierzu eingehend oben § 1 B I 3. 712 Hierzu eingehend oben § 1 B I 4. 713 Hierzu eingehend oben § 1 B I 5. 714 Hierzu eingehend oben § 1 B I 6. 715 Hierzu eingehend oben § 1 B I 7. 705 706

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sehen: Namentlich deckt die durch die Unionsrechtsordnung geschützte rechtsgeschäftliche Privatautonomie alle grundlegenden Aspekte ab, die zur Selbstbestimmung im vertraglichen Bereich unverzichtbar sind. Zum Wesensgehalt der unionalen Vertragsfreiheit zählt entsprechend die freie Entscheidung über den Vertragsschluss und die Auswahl des Vertragspartners ebenso wie die parteiautonome Festlegung der essentialia negotii. Diesem Wesensgehalt der unionalen Vertragsfreiheit kommt die Aufgabe zu, den Nukleus der Selbstbestimmungsfreiheit des Menschen im vertraglichen Bereich zu wahren und Schutz vor Fremdbestimmung zu gewährleisten. Hierin liegt zugleich der Menschenwürdekern des Unionsgrundrechts der Vertragsfreiheit. Einschränkungen der unionsgrundrechtlich geschützten Vertragsfreiheit sind nur im Rahmen der unionalen Schrankensystematik möglich. Jeder Eingriff bedarf demnach einer Rechtsgrundlage und darf weder gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoßen noch den Wesensgehalt der unionalen Vertragsfreiheit beeinträchtigen. Besonders hohe Anforderungen sind demnach an Eingriffe in die Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit sowie in die Freiheit zur Bestimmung der essentialia negotii zu stellen. Obschon Beschränkungen anderer Facetten der unionalen Vertragsfreiheit grundsätzlich unter weniger strengen Voraussetzungen zulässig sind, kann auch hier im Einzelfall der Kernbereich der Vertragsfreiheit berührt sein, etwa, weil durch Intensität und Umfang des konkreten Eingriffs die Ausübung der unionalen Vertragsfreiheit insgesamt vereitelt wird.716 Die hier aufgezeigten Schranken der unionalen Vertragsfreiheit sind insbesondere auch durch alle unionalen und – im Anwendungsbereich des Unionsrechts – auch durch mitgliedstaatliche Hoheitsträger zu beachten: Beispielsweise ist mit Blick auf zwingendes Vertragsrecht, Kontrahierungszwänge und Verbotstatbestände stets zu fragen, inwieweit diese Regelungen jeweils geeignet, erforderlich und angemessen sind.717 Verkürzungen des allgemeinen unionsprivatrechtlichen Grundsatzes der Vertragsfreiheit sind ebenfalls nur nach einer Abwägung zulässig, wobei wie im Kontext der Unionsgrundrechte auch ein Ausgleich konfligierender Posititionen im Sinne „praktischer Konkordanz“ anzustreben ist. Allerdings bestehen Unterschiede bei der Wirkungsweise und der normativen Kraft: Anders als die Unionsgrundrechte stehen die allgemeinen Rechtsgrundsätze des UniSo stellt der EuGH mit Blick auf den Wesensgehalt eine ergebnisbezogene Betrachtung an und fragt im Kontext des Art. 16 GRCh gerade danach, ob der Grundrechtsträger durch einen konkreten Eingriff „an Ausübung der unternehmerischen Tätigkeit als solcher […] gehindert“ wird, vgl. EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C: 2013:28 Rn. 49. 717 Siehe dazu noch eingehend unten Kapitel 7 § 1. Vgl. bereits Grundmann, ERCL 1 (2005), 184, 195. Entsprechend fragt Hess, JZ 2005, 540, 548 zu Recht, „ob der weit greifende Verbraucherschutz […] die Privatautonomie […] über Gebühr beschränkt und damit das gemeinschaftsrechtliche Übermaßverbot verletzt“. 716

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onsprivatrechts normhierarchisch in der Regel auf Ebene des Sekundärrechts.718 Auch dienen sie als Rechtsprinzipien lediglich der Auslegung, Lückenfüllung sowie in Ausnahmefällen auch der Ergänzung des geschriebenen Unionsprivatrechts. Diese Gemeinsamkeiten und Unterschiede sind auch für die Bestimmung des Anwendungsbereichs sowie der Privatrechtswirkungen der Vertragsfreiheit von Bedeutung. B. Anwendungsbereich Nationale Garantien der Vertragsfreiheit treten angesichts der zunehmenden unionsrechtlichen Durchdringung des Privat- und insbesondere zahlreicher Felder des Schuldvertragsrechts immer weiter in den Hintergrund.719 Doch vermag die unionale Vertragsfreiheit die dadurch entstehenden Schutzlücken vollumfänglich zu schließen? Dies führt zur Frage nach dem persönlichen (I) sowie dem jeweiligen sachlichen Anwendungsbereich der unionsrechtlichen Vertragsfreiheit in ihren Ausprägungen als Unionsgrundrecht (II) und als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsprivatrechts (III). I.

Persönlicher Anwendungsbereich: Jedermanns(grund)recht

Das allgemeine Recht auf Freiheit im Sinne des Art. 6 GRCh steht jeder natürlichen Person zu.720 Diese Aussage wird man grundsätzlich auf alle Freiheitsgrundrechte des II. Titels der Charta und damit auch auf die unter anderem durch Art. 12, 15 und 16 GRCh verbürgte sowie darüber hinaus als Grundsatz im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV geschützte unionale Vertragsfreiheit übertragen können: Auch diese Freiheit ist ein Jedermannsgrundrecht721 und wird zugunsten aller natürlichen – einschließlich nach mitgliedstaatlichem Recht minderjähriger oder geschäftsunfähiger – Personen gewährleistet.722 Darüber hinaus können sich im Binnenmarkt neben den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten auch Angehörige von Nicht-EU-Staaten und Staatenlose auf die unionale Vertragsfreiheit berufen.723 Ebenso ist die Vertragsfreiheit juristischen Personen sowie grundsätzlich auch nicht-rechtsfähigen Gebilden zuzuerkennen, gleichviel, ob sie Kreaturen Siehe erneut oben § 2 A I 1. Siehe erneut oben Einleitung A III sowie sogleich unten II 2 c. 720 Vgl zu Art. 6 GRCh EuGH Urt. v. 26.4.2012 – Rs. C-92/12 PPU (C), EU:C:2012: 255 Rn. 111. 721 So zu Art. 16 GRCh auch Meyer / Bernsdorff (2014), Art. 16 GRCh Rn. 17. 722 Wiederum mit Blick auf Art. 6 GRCh stellt EuGH Urt. v. 26.4.2012 – Rs. C-92/12 PPU (C), EU:C:2012:255 Rn. 111 heraus, es handle sich um ein auch „‚Minderjährigen‘ zuerkannte[s] Grundrecht auf Freiheit“. 723 Siehe mit Blick auf Art. 16 GRCh etwa Meyer / Bernsdorff (2014), Art. 16 GRCh Rn. 17; Oliver, in: Bernitz / Groussot / Schulyko (eds.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), S. 281, 296 f. 718 719

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des mitgliedstaatlichen oder aber drittstaatlichen Rechts sind.724 Allerdings gibt weder die unionale Vertragsfreiheit noch die unternehmerische Freiheit im Sinne des Art. 16 GRCh natürlichen Personen oder Gesellschaften aus Drittstaaten ein Recht darauf, sich in der EU niederzulassen oder im Binnenmarkt tätig zu werden.725 Anders ausgedrückt profitieren Drittstaatsangehörige nur insoweit von dieser Freiheit, als ihnen ein anderweitiges Recht auf Zugang zum Binnenmarkt zusteht.726 II. Unionsgrundrechtliche Bindung der EU und ihrer Mitgliedstaaten Gemäß Art. 51 Abs. 1 GRCh gelten die Grundrechtsverbürgungen der GRCh umfassend für alle Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union. Auch die ungeschriebenen Unionsgrundrechte in Gestalt der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV sind von der EU stets zu beachten. Die Mitgliedstaaten sind an die geschriebenen Unionsgrundrechte gemäß Art. 51 Abs. 1 GRCh jedenfalls bei der „Durchführung des Rechts der Union“ gebunden (1). Darüber hinaus sind nicht zuletzt der Judikatur einige Erweiterungen des Anwendungsbereich des Unionsrechts – und damit auch der EU-Grundrechte – zu entnehmen (2). 1. Durchführung des Unionsrechts Unter der „Durchführung des Rechts der Union“ im Sinne des Art. 51 Abs. 1 GRCh sind zunächst alle Formen der normativen, administrativen und judikativen Durchführung zu verstehen.727 Erfasst wird zunächst die Anwendung und Auslegung unionsrechtlicher Vorschriften ungeachtet deren normhierarchischer Stellung: Entsprechend ist die Durchsetzung primärrechtlicher Regelungen, wie etwa Art. 101, 102 AEUV, durch mitgliedstaatliche Stellen eben-

724 Eingehend Sasse, EuR 2012, 628, 630 ff. und 636 ff. Durch Art. 17 GRCh sieht EuG Urt. v. 6.9.2013 – Rs. T-35/10 u. a. (Bank Melli Iran), EU:T:2013:397 Rn. 36 sogar solche juristische Personen geschützt, hinter denen öffentliche Stellen von Drittstaaten stehen: „Weder die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. 2010, C 83, S. 389) noch das Primärrecht der Union sehen Bestimmungen vor, die juristische Personen, die Emanationen von Staaten sind, vom Grundrechtsschutz ausnehmen. Die Bestimmungen der Grundrechtecharta, die im Zusammenhang mit den von der Klägerin geltend gemachten Klagegründen einschlägig sind, namentlich ihre Art. 17, 41 und 47, gewährleisten vielmehr die Rechte „[j]ede[r] Person“, was juristische Personen wie die Klägerin einschließt“. Ebenso GA Sharpston Schlussanträge v. 26.2.2015 – Rs. C-176/13 P (Bank Mellat / Rat), EU:C:2015:130 Rn. 43 ff. 725 Statt vieler Oliver, in: Bernitz / Groussot / Schulyko (eds.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), S. 281, 297; Meyer / Bernsdorff (2014), Art. 16 GRCh Rn. 17. 726 So mit Blick auf Art. 16 GRCh treffend Jarass (2016), Art. 16 GRCh Rn. 10 f. 727 Jarass, NVwZ 2012, 457, 459; Schwarze / Hatje (2012), Art. 51 GRCh Rn. 19.

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so am Maßstab der unionalen Vertragsfreiheit zu messen wie die Anwendung von Sekundärrecht, etwa in Gestalt von Verordnungen.728 Die Umsetzung von Richtlinen durch die EU-Mitgliedstaaten729 fällt ebenfalls unter den Begriff der Durchführung gemäß Art. 51 Abs. 1 GRCh. Dies gilt auch dann, wenn die Mitgliedstaaten über einen gewissen Umsetzungsbzw. Ermessensspielraum verfügen.730 Mit Blick auf das Unionsprivatrecht von besonderer Bedeutung ist dabei, dass auch Öffnungsklauseln in mindestharmonisierenden Richtlinien, die – wie z. B. Art. 8 Klauselrichtlinie – den Mitgliedstaaten eine über das sekundärrechtliche Niveau hinausgehende Umsetzung gestatten, an den Unionsgrundrechten zu messen sind. Aus der unmittelbaren Grundrechtsbindung der Union folgt nämlich, dass sie nicht hinnehmen kann, dass die Mitgliedstaaten mithilfe einer Öffnungsklausel auf einem in die Regelungszuständigkeit der EU fallenden Gebiet Unionsgrundrechte verletzten. Der EuGH stellt vor diesem Hintergrund heraus, „dass eine [unionsrechtliche] Bestimmung […] als solche die Grundrechte missachtet, wenn sie den Mitgliedstaaten […] gestattet, nationale Gesetze zu erlassen oder beizubehalten, die die Grundrechte missachten“.731

Anders gewendet gerät auf diesem Wege mittelbar auch das in „überschießender“ Richtlinienumsetzung ergangene mitgliedstaatliche (Privat)Recht unter den Einfluss der Unionsgrundrechte, einschließlich der unionalen Vertragsfreiheit.732

Siehe speziell zur Gewährleistung der Vertragsfreiheit nach Art. 16 GRCh EuGH Urt. v. 17.10.2013 – Rs. C-101/12 (Schaible), EU:C:2013:661 Rn. 25 ff. Siehe ferner nur EuGH Urt. v. 9.11.2010 – verb. Rs. C-92/09 u. a. (Schecke u. a.), Slg. 2010, I-11063 Rn. 46; EuGH Urt. v. 6.9.2012 – Rs. C-544/10 (Deutsches Weintor), EU:C:2012:526 Rn. 42 ff.; EuGH Urt. v. 31.1.2013 – Rs. C-12/11 (McDonagh), EU:C:2013:43 Rn. 59 ff. Siehe zur Auslegung statt aller v. d. Groeben / Schwarze / Hatje / Terhechte (2015), Art. 51 GRCh Rn. 10. 729 Siehe speziell zur Verbürgung der unionalen Vertragsfreiheit in Art. 16 GRCh EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C:2013:28 Rn. 42 ff.; EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 30. Siehe ferner z. B. EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 23 ff.; EuGH Urt. v. 27.9.2012 – Rs. C-179/11 (Cimade und GISTI), EU:C:2012:594 Rn. 42; EuGH Urt. v. 27.3.2014 – Rs. C-314/12 (UPC Telekabel), EU:C:2014:192 Rn. 46. Deutlich mit Blick auf das spanische Privatrecht zuletzt etwa EuGH Urt. v. 10.7.2014 – Rs. C198/13 (Hernández), EU:C:2014:2055 Rn. 32: „Diese Vorschriften des spanischen Rechts sind im Licht von Art. 20 der Charta auszulegen, sofern sie in den Geltungsbereich der Richtlinie 2008/94 fallen“. Siehe ferner nur GA Kokott Schlussanträge v. 15.5.2014 – Rs. C-318/13 (X), EU:C:2014:333 Rn. 49 ff. 730 Siehe z. B. zu einem Ermessensspielraum im Rahmen einer Verordnung EuGH Urt. v. 21.12.2011 – Rs. C-411/10 (N.S.), Slg. 2011, I-13905 Rn. 64 ff. Dazu statt vieler Jarass, NVwZ 2012, 457, 460; Wollenschläger, in: Hatje / Müller-Graff (Hrsg.), EnzEuR I: Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht (2014), § 8 Rn. 18 ff. 731 EuGH Urt. v. 27.6.2006 – Rs. C-540/03 (Parlament / Rat), Slg. 2006, I-5809 Rn. 23. 728

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2. Erweiterungen des „Anwendungsbereichs“ des Unionsrechts und der EU-Grundrechte Während der EuGH in ständiger Rechtsprechung auf den „Anwendungsbereich“ des Unionsrechts abhob,732 könnte Art. 51 Abs. 1 GRCh mit dem Erfordernis der „Durchführung“ des EU-Rechts nun womöglich eine Einschränkung der Grundrechtsverpflichtung der EU-Mitgliedstaaten implizieren.733 Eine solche Beschränkung des Wirkbereichs der Grundrechtecharta bliebe jedoch in der Praxis regelmäßig folgenlos: Die in der Charta enthaltenen Grundrechte sind nämlich überwiegend ohnehin bereits als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV verbürgt. Da Letztere weiterhin neben den Chartagrundrechten fortbestehen,734 würden bei der „Durchführung“ des Unionsrechts die Grundrechte der Charta und im „Anwendungsbereich“ des Unionsrechts hingegen die – im Wesentlichen inhaltsgleichen – Grundrechte nach Art. 6 Abs. 3 EUV eingreifen.735 Ein solcher Dualismus ist freilich weder sinnvoll noch von den Verfassern der Grundrechtecharta intendiert.736 Vor allem findet eine restriktive Lesart des Art. 51 Abs. 1 GRCh auch keinerlei Stütze in den für die Auslegung der Charta verbindlichen Erläuterungen zur GRCh: Dort wird ganz im Gegenteil auf die etablierte EuGH-Rechtsprechung zu den ungeschriebenen Unionsgrundrechten Bezug genommen, dergemäß die „Grundrechte für die Mitgliedstaaten nur dann [gelten], wenn sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts handeln“.737

732 Vgl. nur EuGH Urt. v. 18.6.1991 – Rs. C-260/89 (ERT), Slg. 1991, I-2925 Rn. 42; EuGH Urt. v. 24.3.1994 – Rs. C-2/92 (Bostock), Slg. 1994, I-955 Rn. 16; EuGH Urt. v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981 Rn. 75; EuGH Urt. v. 27.6.2006 – Rs. C-540/03 (Parlament / Rat), Slg. 2006, I-5769 Rn. 105. Diese Rechtsprechungslinie ist entscheidend durch EuGH Urt. v. 15.6.1978 – Rs. 149/77 (Defrenne III), Slg. 1978, 1365 Rn. 26 ff. geprägt worden, wo der Gerichtshof zunächst die Existenz eines Grundrechts als „Bestandteil der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts“ bejahte, sodann jedoch mangels einschlägiger gemeinschaftlicher Regelungen den Anwendungsbereich des Unionsrechts – und damit auch des fraglichen Grundrechts – nicht eröffnet sah. 733 Z. B. Tettinger / Stern / Ladenburger (2006), Art. 51 GRCh Rn. 35; Ludwig, EuR 2011, 715, 720 ff.; Streinz / ders. / Michl (2012), Art. 51 GRCh Rn. 7 ff.; Herresthal, ZEuP 2014, 238, 249 ff.; Meyer / Borowsky (2014), Art. 51 GRCh Rn. 30a f. 734 Siehe erneut oben § 2 A I 2. 735 GA Bot Schlussanträge v. 5.4.2011 – Rs. C-108/10 (Scattolon), EU:C:2011:211 Rn. 120. Ebenso UWG-Großkommentar / Heinze (2014), Einl. Rn. 197. 736 So auch GA Bot Schlussanträge v. 5.4.2011 – Rs. C-108/10 (Scattolon), EU:C:2011: 211 Rn. 120. 737 Vgl. Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl. 2007 C 303/17, 32 sowie Art. 51 Abs. 7 GRCh. Hierauf verweist ausdrücklich auch EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 20. Siehe statt vieler auch Schwarze / Hatje (2012), Art. 51 GRCh Rn. 18.

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Darüber hinaus wird der Begriff der Durchführung nicht in allen Sprachfassungen des Art. 51 Abs. 1 GRCh verwendet: Beispielsweise stellt die spanische ebenso wie auch die portugiesische und französische Fassung der Charta auf die Anwendung des Unionsrechts ab.738 Vor diesem Hintergrund wahrt der Gerichtshof konsequenterweise auch im Rahmen des Art. 51 Abs. 1 GRCh die Kontinuität mit seiner Rechtsprechungspraxis zu den ungeschriebenen Unionsgrundrechten: Der EuGH rekurriert auf die Unionsgrundrechte – ungeachtet ihrer Provenienz –, wenn nur der Anwendungsbereich des Unionsrechts eröffnet ist.739 Der Gerichtshof postuliert damit einen einheitlichen Wirkbereich der Chartagrundrechte und der Grundrechte im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV: Nunmehr finden sämtliche „in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen Anwendung“.740 Dies wirft die Folgefrage auf, wann ein Sachverhalt in ebendiesen Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt. In dem so gesteckten Rahmen bildet dann die unionsgrundrechtlich verbürgte Vertragsfreiheit den Prüfungsmaßstab sowohl für das unionale wie auch für das nationale Privatrecht. Der Umstand, dass eine Person Unionsbürger ist und die daraus fließenden Rechte ausübt, dürfte für die Eröffnung des Geltungsbereichs des EU-Recht genauso

So lautet die relevante Passage des Art. 51 Abs. 1 GRCh in der spanischen Fassung „apliquen el Derecho de la Unión“, in der portugiesischen „apliquem o direito da União“ und in der französischen „mettent en oeuvre le droit de l’Union“. 739 So zuletzt etwa EuGH Urt. v. 10.7.2014 – Rs. C-198/13 (Hernández), EU:C:2014: 2055 Rn. 33: „Wie sich aus den Erläuterungen zu Art. 51 der Charta ergibt, die nach deren Art. 52 Abs. 7 gebührend zu berücksichtigen sind, bestätigt der Begriff der Durchführung in Art. 51 die vor dem Inkrafttreten der Charta entwickelte Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Anwendbarkeit der Grundrechte der Union als allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts […], wonach die Verpflichtung zur Einhaltung der in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte für die Mitgliedstaaten nur dann gilt, wenn sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts handeln“ (Herv. d. Verf.). Gleichsinnig EuGH Urt. v. 15.11.2011 – Rs. C-256/11 (Dereci), Slg. 2011, I-11315 Rn. 71 f.; EuGH Urt. v. 7.6.2012 – Rs. C-27/11 (Vinkov), EU:C:2012:326 Rn. 58; EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 17 ff. und 45 ff.; EuGH Urt. v. 26.9.2013 – Rs. C-418/11 (Texdata), EU:C:2013:588 Rn. 73; EuGH Urt. v. 26.9.2013 – Rs. C-476/11 (HK Danmark), EU:C:2013:590 Rn. 19 f.; EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-390/12 (Pfleger), EU:C: 2014:281 Rn. 33 f. Ebenso wohl schon EuGH Urt. v. 22.10.2010 – Rs. C-279/09 (DEB), Slg. 2010, I-13849 Rn. 29 ff. sowie 59 ff. Siehe ferner nur Schwarze / Hatje (2012), Art. 51 GRCh Rn. 18. Anders dennoch z. B. Calliess / Ruffert / Kingreen (2016), Art. 51 GRCh Rn. 19 f.; Meyer / Borowsky (2014), Art. 51 GRCh Rn. 24 a und 30a f. 740 EuGH Urt. v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 (Association de médiation sociale), EU:C: 2014:2 Rn. 42. Siehe zum übereinstimmenden Anwendungsbereich des als allgemeiner Grundsatz nach Art. 6 Abs. 3 EUV einerseits und in Art. 21 GRCh andererseits verbürgten Grundrechts nur EuGH Urt. v. 29.4.2015 – Rs. C-528/13 (Léger), EU:C:2015:288 Rn. 46 ff. m. w. N. 738

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wenig ausreichen741 wie das Bestehen einer allgemeinen, in dem fraglichen Bereich aber noch nicht genutzten Regelungszuständigkeit der Union.742 Gleiches gilt z. B. auch für die lediglich „programmatischen Bestimmungen über die allgemeine Entwicklung des sozialen Wohls“, wie sie etwa Art. 151 und 156 AEUV enthalten.743 Ebenso sind mitgliedstaatliche Vorschriften nicht schon allein deshalb an den Unionsgrundrechten zu messen, weil sie an einen unionsrechtlich determinierten Regelungsbereich angrenzen: In den Rechtssachen Hernández und Siragusa hat der EuGH vielmehr hervorgehoben, dass die Eröffnung des Anwendungsbereichs des Unionsrechts „das Vorliegen eines Zusammenhangs zwischen einem Unionsrechtsakt und der fraglichen nationalen Maßnahme voraussetzt, der darüber hinausgeht, dass die fraglichen Sachbereiche benachbart sind oder der eine von ihnen mittelbare Auswirkungen auf den anderen haben kann“.744

741 Wie hier Wollenschläger, in: Hatje / Müller-Graff (Hrsg.), EnzEuR I: Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht (2014), § 8 Rn. 32 ff. In eine andere Richtung weist aber GA Sharpston Schlussanträge v. 30.9.2010 – Rs. C-34/09 (Ruiz Zambrano), Slg. 2011 I-1177 Rn. 83 f.: „Der Unionsbürger, der von Freizügigkeitsrechten Gebrauch macht, kann sich auf die gesamte Palette der unionsrechtlich geschützten Grundrechte berufen (gleichviel, ob diese mit der wirtschaftlichen Tätigkeit zusammenhängen, zu deren Ausübung er sich von einem Mitgliedstaat in einen anderen begibt). Wäre dies nicht der Fall, könnte er von der Wahrnehmung dieser Freizügigkeitsrechte abgehalten werden. Es wäre (gelinde gesagt) paradox, wenn ein Unionsbürger sich auf unionsrechtliche Grundrechte berufen könnte, wenn er von einem wirtschaftlichen Freizügigkeitsrecht als Arbeitnehmer Gebrauch macht, wenn eine innerstaatliche Regelung in den Geltungsbereich des Vertrags fällt […] oder wenn er sich auf abgeleitetes Unionsrecht stützt […], ihm dies jedoch verwehrt wäre, wenn er sich in dem betreffenden Mitgliedstaat lediglich ‚aufhält‘“. Vgl. auch schon GA Jacobs Schlussanträge v. 9.12.1992 – Rs. C-168/91 (Konstantinidis), Slg. 1993, I-1191 Rn. 46, der mit Blick auf einen Unionsbürger ausführte, „dass er, wohin er sich in der Europäischen [Union] zu Erwerbszwecken auch begibt, stets im Einklang mit einer gemeinsamen Ordnung von Grundwerten behandelt wird […] Mit anderen Worten, er ist berechtigt, zu sagen ‚civis europaeus sum‘ und sich auf diesen Status zu berufen, um sich jeder Verletzung seiner Grundrechte zu widersetzen“. 742 Laut EuGH Urt. v. 10.7.2014 – Rs. C-198/13 (Hernández), EU:C:2014:2055 Rn. 36 kann „allein der Umstand, dass eine nationale Maßnahme in einen Bereich fällt, in dem die Union über Zuständigkeiten verfügt, diese Maßnahme nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts bringen und somit zur Anwendbarkeit der Charta führen“. Ebenso schon zur Anwendung der Grundrechte als ungeschriebene allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts EuGH Urt. v. 23.9.2008 – Rs. C-427/06 (Bartsch), Slg. 2008 I-7245 Rn. 18 ff.; EuGH Urt. v. 10.5.2011 – Rs. C-147/08 (Römer), Slg. 2011, I-3591 Rn. 60 ff. 743 Vgl. bereits zu Art. 117 f. EWG EuGH Urt. v. 15.6.1978 – Rs. 149/77 (Defrenne III), Slg. 1978, 1365 Rn. 30 ff. und 19 ff. 744 Siehe zu Art. 51 Abs. 1 GRCh EuGH Urt. v. 10.7.2014 – Rs. C-198/13 (Hernández), EU:C:2014:2055 Rn. 34. Gleichsinnig EuGH Urt. v. 6.3.2014 – Rs. C-206/13 (Siragusa), EU:C:2014:126 Rn. 24, wo der Gerichtshof zudem „einen hinreichenden Zusammenhang von einem gewissen Grad verlangt“.

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In jedem Einzelfall muss demnach geprüft werden, ob „die unionsrechtlichen Vorschriften in dem betreffenden Sachbereich […] bestimmt[e] Verpflichtungen der Mitgliedstaaten […] schaffen“.745 Nur wenn die Mitgliedstaaten in einem „unionsrechtlich hinreichend determinierten Kontext“ handeln,746 ist der Geltungsbereich des Unionsrechts und damit auch der Vertragsfreiheit als Unionsgrundrecht eröffnet. Um feststellen zu können, ob eine mitgliedstaatliche Vorschrift in den Anwendungsbreich des Unionsrechts fällt, will der EuGH insbesondere prüfen, „ob mit der fraglichen nationalen Regelung die Durchführung einer Bestimmung des Unionsrechts bezweckt wird, welchen Charakter diese Regelung hat und ob mit ihr andere als die unter das Unionsrecht fallenden Ziele verfolgt werden, selbst wenn sie das Unionsrecht mittelbar beeinflussen kann, sowie ferner, ob es eine Regelung des Unionsrechts gibt, die für diesen Bereich spezifisch ist oder ihn beeinflussen kann“.747

Dieser Ansatz steht indes in gewissem Widerspruch zu der Rechtsprechungslinie des EuGH in Fransson und Mangold: In besagten Entscheidungen war Anwendungsbereich des Unionsrechts laut EuGH eröffnet, obwohl nur in angrenzenden Materien unionsrechtliche Vorgaben bestanden.748 Dies ist teilweise dahingehend gedeutet worden, dass der EuGH lediglich als Einstieg einen thematischen Bezug zu einem EU-Rechtsakt fordert, der sodann – gewissermaßen als Türöffner – den Weg für eine umfassende Kontrolle angrenzender Rechtsakte am Maßstab der Unionsgrundrechte bereitet. Während diese Lesart zu weit geht, so lassen sich indes drei Fallgruppen ausmachen, in denen der Geltungsbereich des Unionsrechts auch außerhalb harmonisierter Areale eröffnet ist: In den Anwendungsbereich des Unionsrechts – und damit zugleich in denjenigen der Vertragsfreiheit als Unionsgrundrecht – fallen zunächst Verkürzungen der Verkehrsfreiheiten durch die Mitgliedstaaten (a). Darüber hinaus erlegt auch der Effektivitätsgrundsatz den Mitgliedstaaten hinreichend konkrete unionsrechtliEuGH Urt. v. 6.3.2014 – Rs. C-206/13 (Siragusa), EU:C:2014:126 Rn. 26; EuGH Urt. v. 10.7.2014 – Rs. C-198/13 (Hernández), EU:C:2014:2055 Rn. 35. Siehe auch schon EuGH Urt. v. 13.6.1996 – Rs. C-144/95 (Maurin), Slg. 1996, I-2909 Rn. 11 f. 746 Wollenschläger, EuZW 2015, 285, 288. 747 Z. B. EuGH Urt. v. 8.11.2012 – Rs. C-40/11 (Iida), EU:C:2012:691 Rn. 79; EuGH Urt. v. 8.5.2013 – Rs. C-87/12 (Ymeraga u. a.), EU:C:2013:291, Rn. 41; EuGH Urt. v. 6.3.2014 – Rs. C-206/13 (Siragusa), EU:C:2014:126 Rn. 25; EuGH Urt. v. 10.7.2014 – Rs. C-198/13 (Hernández), EU:C:2014:2055 Rn. 37. Damit überträgt der Gerichtshof seine zu den ungeschriebenen Unionsgrundrechten entwickelte Rechtsprechungspraxis auch insoweit auf die Chartagrundrechte, vgl. nur EuGH Urt. v. 18.12.1997 – Rs. C-309/96 (Annibaldi), Slg. 1997, I-7493 Rn. 13 ff. sowie EuGH Urt. v. 13.6.1996 – Rs. C-144/95 (Maurin), Slg. 1996, I-2909 Rn. 11 f., dort jeweils m. w. N. 748 Vgl. EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 17 ff.; EuGH Urt. v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981 Rn. 74 ff. Kritisch zu den hieraus teilweise hergeleiteten expansiven Ansätzen Wollenschläger, in: Hatje /  Müller-Graff (Hrsg.), EnzEuR I: Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht (2014), § 8 Rn. 32 ff. m. w. N. 745

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che Verpflichtungen auf und kann somit den Geltungsbereich des EU-Rechts eröffnen (b). Schließlich behandelt der EuGH privatrechtliche Verträge von der Warte der unionalen Vertragsfreiheit als Einheit und bezieht sie bereits dann in den Schutzbereich dieses Freiheitsgrundrechts ein, wenn nur einzelne Aspekte des Schuldverhältnisses unionsrechtlich determiniert sind (c). a) Vertragsfreiheit als Schranke und „Schranken-Schranke“ bei Verkürzungen der Verkehrsfreiheiten Mit Blick auf die ungeschriebenen Unionsgrundrechte im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV hat der EuGH frühzeitig anerkannt, dass diese Grundrechte auch in Fällen zur Anwendung kommen, in denen die Mitgliedstaaten die Grundfreiheiten beschränken. 749 Während angesichts des Wortlauts des Art. 51 Abs. 1 GRCh teilweise in Zweifel gezogen wurde, ob dies auch für die in der Charta garantierten Grundrechte gilt,750 hat der Gerichtshof in seiner PflegerEntscheidung nun ausdrücklich klargestellt, dass auch insoweit der Anwendungsbereich des Unionsrechts und damit der GRCh und der ungeschriebenen Unionsgrundrechte eröffnet ist: „Nimmt ein Mitgliedstaat im Unionsrecht vorgesehene Ausnahmen in Anspruch, um eine Beschränkung einer durch den Vertrag garantierten Grundfreiheit zu rechtfertigen, muss dies […] als „Durchführung des Rechts der Union“ im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta angesehen werden“.751

Dies bedeutet zunächst, dass die unionale Vertragsfreiheit als Rechtfertigung eines mitgliedstaatlichen Eingriffs in die Grundfreiheiten herangezogen werSiehe nur EuGH Urt. v. 18.6.1991 – Rs. C-260/89 (ERT), Slg. 1991, I-2925 Rn. 43; EuGH Urt. v. 26.6.1997 – Rs. C-368/95 (Familiapress), Slg. 1997, I-3689 Rn. 24 f; EuGH Urt. v. 11.7.2002 – Rs. C-60/00 (Carpenter), Slg.  2002, I-6279 Rn. 40; EuGH Urt. v. 12.6.2003 – Rs. C-112/00 (Schmidberger), Slg.  2003, I-5659 Rn. 74 f.; EuGH Urt. v. 14.10.2004 – Rs. C-36/02 (Omega), Slg. 2004, I-9609 Rn. 30 ff. Dazu statt vieler Jarass (2016), Art. 51 GRCh Rn. 21. 750 Siehe nur Huber, EuR 2008, 190, 193 ff.; Calliess / Ruffert / Kingreen (2016), Art. 51 GRCh Rn. 16 ff. und 19 f.; Kingreen, JZ 2013, 801, 803 f. 751 EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-390/12 (Pfleger), EU:C:2014:281 Rn. 36 (Herv. d. Verf.) führt unter Bezugnahme auf EuGH Urt. v. 18.6.1991 – Rs. C-260/89 (ERT), Slg. 1991, I-2925 Rn. 43 weiter aus, dass diese Situation „offensichtlich in den Geltungsbereich des Unionsrechts und folglich der Charta“ falle. So zuletzt auch z. B. EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 62 ff. Gleichsinnig GA Sharpston Schlussanträge v. 14.11.2014 – Rs. C-390/12 (Pfleger), EU:C:2013:747 Rn. 46: „Es ist daher davon auszugehen, dass ein Mitgliedstaat „bei der Durchführung des Rechts der Union“ im Sinne von Art. 51 handelt, wenn er eine Ausnahme von einer Grundfreiheit einführt. Folglich findet die Charta Anwendung. Da die in den Ausgangsverfahren hier in Rede stehende nationale Maßnahme in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt und mit ihr deshalb das Recht der Union „durchgeführt“ wird, ist sie im Licht der Charta auszulegen“. Siehe auch Wollenschläger, EuZW 2014, 577 ff. 749

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den kann: Zweifelsohne handelt es sich bei dieser als Unionsgrundrecht verbürgten Freiheit um ein durch die Unionsrechtsordnung anerkanntes Allgemeininteresse.752 Demnach fungiert die Vertragsfreiheit, ebenso wie andere Unionsgrundrechte, als Schranke der Verkehrsfreiheiten des Binnenmarktes. Auch soweit man – wie der EuGH in der Rechtssache Angonese –753 unter bestimmten Voraussetzungen Private im individualvertraglichen Kontext an das Verbot der Diskrimimierung aufgrund der Staatsangehörigkeit gebunden sieht,754 dürften die Unionsgrundrechte in ebendieser Schrankenfunktion zum Tragen kommen. In der in Angonese entschiedenen Konstellation ließe sich die Vertragsfreiheit des Arbeitgebers als unionsrechtlich geschützte Position heranziehen, die eine Einschränkung von Verkehrsfreiheiten grundsätzlich rechtfertigen kann.755 In diese Richtung weist auch Generalanwältin Trstenjak in ihren Schlussanträgen zur Rechtssache Fra.bo, in welcher der EuGH756 die Bindung einer privatrechtlichen Zertifizierungsgesellschaft an die Warenverkehrsfreiheit sodann bejaht hat: „Unter Verweisung auf das Urteil Angonese könnte der DVGW möglicherweise auch „sachliche Überlegungen“ zur Rechtfertigung der in Rede stehenden Beschränkung vortragen. Der DVGW könnte sich des Weiteren unter Verweisung auf seine privatrechtliche Rechtsnatur auf den Schutz der in der Grundrechtecharta verbürgten Grundrechte berufen, 752 GA Poiares Maduro Schlussanträge v. 23.5.2007 – Rs. C-438/05 (Viking), Slg. 2007, I-10779 Rn. 49 fordert daher eine Abwägung zwischen „der Schwere des der Ausübung der Verkehrsfreiheit entgegenstehenden Hindernisses und der Bedeutung sowie der Stichhaltigkeit hiermit konkurrierender Belange der Privatautonomie“ (Herv. d. Verf.). Die Funktion der Unionsgrundrechte als im Allgemeininteresse liegende Schranken der Grundfreiheiten spricht auch z. B. EuGH Urt. v. 12.6.2003 – Rs. C-112/00 (Schmidberger), Slg.  2003, I-5659 Rn. 74 f. an: „Da die Grundrechte demnach sowohl von der Gemeinschaft als auch von ihren Mitgliedstaaten zu beachten sind, stellt der Schutz dieser Rechte ein berechtigtes Interesse dar, das grundsätzlich geeignet ist, eine Beschränkung von Verpflichtungen zu rechtfertigen, die nach dem Gemeinschaftsrecht, auch kraft einer durch den Vertrag gewährleisteten Grundfreiheit wie dem freien Warenverkehr, bestehen“. Siehe ferner nur EuGH Urt. v. 26.6.1997 – Rs. C-368/95 (Familiapress), Slg. 1997, I-3689 Rn. 24 f; EuGH Urt. v. 11.7.2002 – Rs. C-60/00 (Carpenter), Slg.  2002, I-6279 Rn. 40; EuGH Urt. v. 14.10.2004 – Rs. C-36/02 (Omega), Slg. 2004, I-9609 Rn. 30 ff. und insbesondere 35. Siehe auch Jarass (2016), Art. 51 GRCh Rn. 21. 753 EuGH Urt. v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 (Angonese), Slg. 2000, I-4139. Siehe auch EuGH Urt. v. 17.7.2008 – Rs. C-94/07 (Raccanelli), Slg. 2008, I-5939 Rn. 45. 754 Dafür etwa W.-H. Roth, FS Medicus (2009), S. 393, 410 ff. Zurückhaltender z. B. Streinz / ders. (2012), Art. 18 AEUV Rn. 43. 755 Laut EuGH Urt. v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 (Angonese), Slg. 2000, I-4139 Rn. 42 könnte die Einschränkung durch Private gerechtfertigt werden, „wenn sie auf sachliche Erwägungen gestützt wäre, die unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen und in bezug auf das berechtigterweise verfolgte Ziel verhältnismäßig sind“. Wie hier auch Cremer, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 1 Rn. 162; Nowak, FS Müller-Graff (2015), S. 475, 478 ff. 756 EuGH Urt. v. 12.7.2012 – Rs. C-171/11 (Fra.bo), EU:C:2012:453 Rn. 32.

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so beispielsweise auf die in Art. 16 der Grundrechtecharta verbürgte unternehmerische Freiheit, und versuchen, eine Kollision zwischen der Warenverkehrsfreiheit und einem oder mehreren Grundrechten darzutun, die unter Heranziehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes einem gerechten Ausgleich zugeführt werden müsste“.757

Umgekehrt dienen die Unionsgrundrechte bei der Verkürzung von Grundfreiheiten als „Schranken-Schranke“:758 Namentlich können mitgliedstaatliche Beschränkungen der Verkehrsfreiheiten nur gerechtfertigt werden, wenn die betreffende nationale Regelung mit den Unionsgrundrechten vereinbar ist und damit nicht zuletzt die unionale Vertragsfreiheit weder unverhältnismäßig verkürzt noch ihren Wesensgehalt antastet.759 Soweit der Gerichtshof beispielsweise in der Rechtssache Kommission/Italien durch einen im italienischen Versicherungsrecht enthaltenen Kontrahierungszwang die Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit von Versicherungsunternehmen aus anderen Mitgliedstaaten beschränkt sieht,760 ist demnach eine besonders umfassende Prüfung veranlasst, inwieweit diese Beschränkung mit der – in ihrem Kernbereich betroffenen –761 unionalen Vertragsfreiheit vereinbar ist. Tatsächlich hebt der EuGH zunächst ausdrücklich hervor, dass „die Auferlegung eines Kontrahierungszwangs […] eine erhebliche Einmischung in die den Wirtschaftsteilnehmern grundsätzlich zustehende Vertragsfreiheit dar[stellt]“ und verneint sodann eine unverhältnismäßige Beschränkung durch den Kontrahierungszwang nicht zuletzt mit dem Argument, dass die Versicherer zumindest andere zentrale Facetten ihrer Vertragsfreiheit – namentlich die Inhaltsfreiheit – bei der Festlegung der Versicherungstarife ausüben können.762 GA Trstenjak Schlussanträge v. 12.3.2012 – Rs. C-171/11 (Fra.bo), EU:C:2012:176 Rn. 56. 758 So allgemein zu den Unionsgrundrechten Schwarze / Hatje (2012), Art. 51 GRCh Rn. 16; Wollenschläger, in: Hatje / Müller-Graff (Hrsg.), EnzEuR I: Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht (2014), § 8 Rn. 25 ff.; v. d. Groeben / Schwarze / Hatje /  Terhechte (2015), Art. 51 GRCh Rn. 10. 759 Siehe wiederum EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-390/12 (Pfleger), EU:C:2014:281 Rn. 36, wo der Gerichtshof unter Bezugnahme auf EuGH Urt. v. 18.6.1991 – Rs. C-260/89 (ERT), Slg. 1991, I-2925 Rn. 43, ausführt: „Erweist sich eine nationale Regelung als geeignet, die Ausübung einer oder mehrerer durch den Vertrag garantierter Grundfreiheiten zu beschränken, können […] die im Unionsrecht vorgesehenen Ausnahmen somit für die betreffende Regelung nur insoweit als Rechtfertigung dieser Beschränkung gelten, als den Grundrechten, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat, Genüge getan wird“ (Herv. d. Verf.). Gleichsinnig z. B. EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU: C:2016:972 Rn. 62 ff. 760 EuGH Urt. v. 28.4.2009 – Rs. C-518/06 (Kommission / Italien), Slg. 2009, I-3491 Rn. 71. 761 Siehe zum Kernbereich erneut oben A II. 762 EuGH Urt. v. 28.4.2009 – Rs. C-518/06 (Kommission / Italien), Slg. 2009, I-3491 Rn. 66, 72 ff. und Rn. 90 f. Siehe zu einer ähnlichen durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und den Wesensgehalt der unionalen Vertragsfreiheit motivierten Herangehensweise des EuGH bei Kontrahierungszwängen erneut oben A III 1 b und c. 757

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Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

Mithin setzt die unionale Vertragsfreiheit in ihrer Eigenschaft als „Schranken-Schranke“ der Beschränkbarkeit der Verkehrsfreiheiten eine unionsgrundrechtliche Außengrenze.763 Insgesamt wird somit bei allen Einschränkungen der Grundfreiheiten des Binnenmarkts zugleich der Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte einschließlich der unionalen Vertragsfreiheit eröffnet.764 b) Ausdehnung des Anwendungsbereichs durch den Effektivitätsgrundsatz Der Anwendungsbereich des Unionsrechts kann überdies auch in Gebieten des nationalen Rechts eröffnet sein, die selbst nicht Gegenstand einer unionsrechtlichen Harmonisierung sind: Namentlich müssen die Mitgliedstaaten stets „die volle Anwendung des Unionsrechts […] und den Schutz der Rechte […] gewährleisten, die den Einzelnen aus diesem Recht erwachsen“.765 Triebkräfte dieser Verpflichtung sind der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV und das Erfordernis der praktischen Wirksamkeit des Unionsrechts.766 Als besondere Ausprägungen dieser Verpflichtung halten der In diesem Sinne EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C: 2016:972 Rn. 62 ff. Siehe allgemein zu den Unionsgrundrechten nur Wollenschläger, in: Hatje / Müller-Graff (Hrsg.), EnzEuR I: Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht (2014), § 8 Rn. 25 ff.; v. d. Groeben / Schwarze / Hatje / Terhechte (2015), Art. 51 GRCh Rn. 10. 764 Siehe zu Art. 16 GRCh nur EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 62 ff. Vgl. mit Blick auf die GRCh und die ungeschriebenen Unionsgrundrechte im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV erneut z. B. EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-390/12 (Pfleger), EU:C:2014:281 Rn. 36. Wollenschläger, EuZW 2014, 577, 580 plädiert aber dafür, dass sich die „Konsequenzen einer Heranziehung der Unionsgrundrechte als Schranken respektive Schranken-Schranken der Grundfreiheiten […] in einer Ausdifferenzierung der Rechtfertigungsprüfung“ erschöpfen sollten. Der EuGH begebe sich nicht nur „[m]ethodisch […] mit einer gegenüber den Grundfreiheiten verselbstständigten Grundrechtsprüfung […] auf dünnes Eis“, sondern es läge sogar „eine Überschreitung der aufgezeigten Grenzen“ des Anwendungsbereichs des Unionsrechts nahe. Weshalb nun der durch Grundfreiheiten eröffnete Geltungsbereich des Unionsrechts im Vergleich zum sonstigen Anwendungsbereich anders zu behandeln sein sollte, ist jedoch nicht recht einsichtig, zumal der EuGH den Geltungsbereich des Unionsrechts und damit auch denjenigen der Unionsgrundrechte einheitlich konzipiert: Laut EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C390/12 (Pfleger), EU:C:2014:281 Rn. 34 „sind keine Fallgestaltungen denkbar, die vom Unionsrecht erfasst würden, ohne dass diese Grundrechte anwendbar wären. Die Anwendbarkeit des Unionsrechts umfasst die Anwendbarkeit der […] Grundrechte“. 765 So prägnant EuGH Gutachtenverfahren v. 8.3.2011 – Gutachten 1/09 (Einheitliches Patentgerichtssystem), Slg. 2011, I-1137 Rn. 68. Vgl. auch EuGH Urt. v. 9.3.1978 – Rs. 106/77 (Simmenthal), Slg. 1978, 629 Rn. 21 f.; EuGH Urt. v. 13.3.2007 – Rs. C-432/05 (Unibet), Slg. 2007, I-2271 Rn. 38; EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 45. 766 Eingehend Heinze, in: Basedow / Hopt / Zimmermann (Hrsg.) Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009), S. 337 ff. Vgl. ferner nur EuGH Gutachtenverfahren v. 8.3.2011 – Gutachten 1/09 (Einheitliches Patentgerichtssystem), Slg. 2011, I-1137 Rn. 68 763

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Effektivitäts- und der Äquivalenzgrundsatz die Mitgliedstaaten an, das Unionsrecht effektiv sowie in gleicher Weise und nach den gleichen Modalitäten wie das nationale Recht durchzusetzen.767 Soweit die Mitgliedstaaten bei der Anwendung ihres nationalen Rechts daher den Äquivalenz- und den Effektivitätsgrundsatz beachten müssen, zieht dies nach der Rechtsprechung des EuGH die Bindung an die Unionsgrundrechte nach sich: Wo diese Grundsätze beispielsweise auf das – unharmonisierte – interne Zivilverfahrensrecht der Mitgliedstaaten einwirken, gelangen nach der Lesart des EuGH automatisch auch „die anwendbaren nationalen Beweisregeln in den Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts“.768

Von hier ausgehend gelangt der Gerichtshof konsequenterweiser zu folgendem Ergebnis: „Mithin müssen diese Beweisregeln den Anforderungen genügen, die sich aus den Grundrechten ergeben“. 769

Welche Wirkmacht der Effektivitätsgrundsatz als „Türöffner“ für die Unionsgrundrechte entfalten kann, verdeutlicht auch die Rechtssache Fransson: In dieser Entscheidung prüfte der EuGH Vorschriften des schwedischen Steuerstrafrechts auf ihre Vereinbarkeit mit dem Verfahrensgrundrecht des Art. 47 GRCh.770 Zum Anwendungsbereich des Unionsrechts – und damit zur unionalen Grundrechtskontrolle – gelangte der Gerichtshof, indem er auf die Vorgaben der Mehrwertsteuerrichtlinie abhob, welche die Mitgliedstaaten zur Betrugsbekämpfung bei der Mehrwertsteuererhebung verpflichtet.771 Das Pikante an der Agrumentation des EuGH ist dabei, dass Herrn Fransson zwar unter anderem Mehrwertsteuerhinterziehung zur Last gelegt wurde, dieser sowie bereits zu Art. 10 EGV nur EuGH Urt. v. 13.3.2007 – Rs. C-432/05 (Unibet), Slg. 2007, I-2271 Rn. 38. 767 Siehe grundlegend EuGH Urt. v. 16.12.1976 – Rs. 33/76 (Rewe), Slg. 1976, 1989 Rn. 5; EuGH Urt. v. 16.12.1976 – Rs. 45/76 (Comet), Slg. 1976, 2043 Rn. 12. Zuletzt führt z. B. EuGH Urt. v. 22.1.2015 – Rs. C-463/13 (Stanley), EU:C:2015:25 Rn. 37 unter Verweis auf die ständige Rechtsprechungspraxis aus, dass das mitgliedstaatliche Recht den Schutz der aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte zu gewährleisten hat, wobei die „Modalitäten jedoch nicht weniger günstig ausgestaltet sein dürfen als für entsprechende Sachverhalte innerstaatlicher Art (Äquivalenzgrundsatz) und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen (Effektivitätsgrundsatz)“. 768 EuGH Urt. v. 10.4.2003 – Rs. C-276/01 (Steffensen), Slg. 2003, I-3735 Rn. 62 ff. und insbesondere 71 (Herv. d. Verf.). 769 EuGH Urt. v. 10.4.2003 – Rs. C-276/01 (Steffensen), Slg. 2003, I-3735 Rn. 71 (Herv. d. Verf.). 770 EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 17 ff. 771 Vgl. zu Art. 2, Art. 250 Abs. 1 und Art. 273 Mehrwertsteuerrichtlinie EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 25.

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Vorwurf aber keineswegs den Schwerpunkt, sondern dem hinterzogenen Volumen ebenso wie auch der Strafe nach kaum ein Fünftel des Verfahrensgegenstandes ausmachte. Im Kern ging es vielmehr um Einkommensteuerhinterziehung sowie ferner um die Vorenthaltung von Sozialversicherungsbeiträgen.772 In keiner dieser Materien bestehen indes unionsrechtliche Vorgaben zur Strafbewehrung. Dies hielt den EuGH nicht davon ab, den Anwendungsbereich des Unionsrechts insgesamt zu bejahen, obschon der Gerichtshof durchaus konzedierte, dass das schwedische Steuerstrafrecht nicht allein oder auch nur vorwiegend der Erfüllung unionsrechtlicher Vorgaben dient.773 Als Triebfedern der umfassenden unionsrechtlichen Durchdringung dieser Materien macht der Gerichtshof den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV und den Effektivitätsgrundsatz aus.774 Bei diesem Verständnis dient das mitgliedstaatliche Steuerstrafrecht der „Durchführung des Unionsrechts“ im Sinne des Art. 51 Abs. 1 GRCh.775 Weil hier „das Handeln [d]es Mitgliedstaats nicht vollständig durch das Unionsrecht bestimmt wird“, soll die unionale Grundrechtskontrolle allerdings nur neben diejenige am Maßstab nationaler Grundrechte treten.776 Durch die Anwendung nationaler Grundrechte dürfe selbst dann aber „weder das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden“.777 Nichts anderes kann nun gelten, wenn der Effektivitätsgrundsatz auf das mitgliedstaatliche Vertragsrecht einstrahlt und auf diese Weise den Anwendungsbereich des Unionsrechts eröffnet.778 In solchen Konstellationen sind Vgl. EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 12. EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 28. 774 EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 25 ff. sieht die Mitgliedstaaten namentlich in der Pflicht, rechtswidrige Handlungen, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten, wirksam zu sanktionieren. 775 EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 26 f. 776 EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 29. Vgl. auch EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-399/11 (Melloni), EU:C:2013:107 Rn. 60. Siehe zu dieser „Parallelgeltung“ unionaler und mitgliedstaatlicher Grundrechtsstandards Wollenschläger, in: Hatje / Müller-Graff (Hrsg.), EnzEuR I: Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht (2014), § 8 Rn. 24. Ähnlich Kingreen, JZ 2013, 801, 803 f.: „Kumulationsthese“. 777 EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 29. Ebenso bereits EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-399/11 (Melloni), EU:C:2013:107 Rn. 60. 778 Vgl. z. B. EuGH Urt. v. 6.6.2002 – Rs. C-159/00 (Sapod Audic), Slg. 2002, I-5031 Rn. 52: „Die Frage, welche Folgerungen im Ausgangsverfahren aus der Unanwendbarkeit des Artikels 4 Absatz 2 des Dekrets Nr. 92-377 zu ziehen wären, ob sie also etwa als Sanktion die Nichtigkeit oder die Unanwendbarkeit des Vertrags zwischen den Parteien zur Folge hätte, richtet sich allerdings nach nationalem Recht. Das gilt insbesondere für die Regeln und Grundsätze des Vertragsrechts, die eine solche Sanktion im Verhältnis zum festgestellten Fehler begrenzen oder anpassen. Diese Regeln und Grundsätze dürfen jedoch nicht weniger günstig sein als bei gleichartigen Einwänden, die das innerstaatliche Recht betreffen (Grundsatz der Gleichwertigkeit), und sie dürfen nicht so ausgestaltet sein, dass 772 773

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die EU-Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte und somit auch an die unionale Vertragsfreiheit gebunden. In diesem Zusammenhang ist zudem von besonderer Bedeutung, dass der Effektivitätsgrundsatz eine wirksamkeitsorientierte Auslegung des mitgliedstaatlichen Rechts in seiner Gesamtheit verlangt und dadurch potenziell den „Wirkbereich des Unionsrechts in die nichtharmonisierten Areale des nationalen Rechts“ erweitert.779 So beschränkt sich das Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung nicht auf „die zur Umsetzung der fraglichen Richtlinie erlassenen innerstaatlichen Bestimmungen, […] sondern verlangt, dass das nationale Gericht das gesamte nationale Recht berücksichtigt“.780

In dieser Konstellation handeln die Mitgliedstaaten in einem unionsrechtlich determinierten Kontext, weil das EU-Recht ihnen mit der unionsrechtskonformen Auslegung des gesamten mitgliedstaatlichen Rechts hinreichend bestimmte Verpflichtungen auferlegt.781 Insoweit ist der Anwendungsbereich des Unionsrechts eröffnet, und die Mitgliedstaaten sind entsprechend zur Beachtung der Unionsgrundrechte einschließlich der Vertragsfreiheit gehalten.782 Praktische Folge dieser Auslegungsvorgabe kann gerade auch die Nichtanwendbarkeit von nationalen Normen sein, die außerhalb der harmonisierten Bereiche des mitgliedstaatlichen Rechts liegen, wie etwa die Rechtssachen Kücükdeveci783 und A784 verdeutlichen. sie die Ausübung der Rechte, die die Gemeinschaftsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen (Grundsatz der Effektivität)“ (Herv. d. Verf.). Siehe im vertragsrechtlichen Kontext ferner nur EuGH Urt. v. 27.3.2014 – Rs. C-565/12 (Crédit Lyonnais), EU:C: 2014:190 Rn. 44 ff. Vgl. zur Bedeutung des Effektivitätsgrundsatzes für das nationale Privatrecht schließlich auch EuGH Urt. v. 12.7.2012 – Rs. C-378/10 (Vale), EU:C:2012: 440 Rn. 48 ff. 779 So prägnant UWG-Großkommentar / Heinze (2014), Einl. Rn. 7. 780 Vgl. nur EuGH Urt. v. 9.3.2004 – verb. Rs. C-397/01 (Pfeiffer u. a.), Slg. 2004, I8835 Rn. 115 (Herv. d. Verf.). Hierzu statt vieler Heinze, in: Basedow / Hopt / Zimmermann (Hrsg.) Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009), S. 337 ff. 781 Vgl. erneut EuGH Urt. v. 6.3.2014 – Rs. C-206/13 (Siragusa), EU:C:2014:126 Rn. 26; EuGH Urt. v. 10.7.2014 – Rs. C-198/13 (Hernández), EU:C:2014:2055 Rn. 35. Siehe auch schon EuGH Urt. v. 13.6.1996 – Rs. C-144/95 (Maurin), Slg. 1996, I-2909 Rn. 11 f. 782 Vgl. wiederum nur EuGH Urt. v. 6.3.2014 – Rs. C-206/13 (Siragusa), EU:C:2014: 126 Rn. 26; EuGH Urt. v. 10.7.2014 – Rs. C-198/13 (Hernández), EU:C:2014:2055 Rn. 35. 783 In der Rechtssache Kücükdeveci konnte der Gerichtshof die Unionsrechtswidrigkeit des § 622 Abs. 2 BGB a. F. nur unter Heranziehung des Art. 21 GRCh begründen, weil der Wortlaut des § 622 Abs. 2 BGB „wegen seiner Klarheit und Eindeutigkeit einer der Richtlinie 2000/78 konformen Auslegung nicht zugänglich“ war, siehe EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 21 ff., 45 ff. sowie insbesondere 49 und 53: „Die Notwendigkeit, die volle Wirksamkeit des Verbots der Diskriminierung wegen des Alters in seiner Konkretisierung durch die Richtlinie 2000/78 zu gewährleisten, bedeutet, dass das nationale Gericht eine in den Anwendungsbereich des Unionsrechts

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c) Bindung an die unionale und Überlagerung der nationalen Vertragsfreiheit im Schuldvertragsrecht Die unionale Vertragsfreiheit ist als Unionsgrundrecht nur im Geltungsbereich des EU-Rechts zu beachten, weshalb ihre Wirkmacht im Schuldvertragsrecht auf den ersten Blick eher begrenzt erscheinen mag. Schließlich bildet der schuldvertragliche acquis communautaire keinen monolithischen Block, sondern vielmehr ein Mosaik aus heterogenen Einzelrechtsakten. Da diese Regelungen zudem häufig nur bestimmte Teilaspekte des Vertragsrechts betreffen, ist im Übrigen das nationale Privatrecht maßgeblich. Die Felder, in denen die Mitgliedstaaten unionales Schuldvertragsrecht im Sinne des Art. 51 GRCh „durchführen“, wären demnach überschaubar. aa) Einheitlicher Schutzgegenstand und unteilbare Vertragsfreiheit Allerdings ergibt sich eine Besonderheit daraus, dass der EuGH privatrechtliche Verträge für die Zwecke der unionalen Vertragsfreiheit als einheitliche, unteilbare Selbstbestimmungsakte behandelt: Namentlich postuliert der Gerichtshof, dass die EU-Rechtsordnung Verträge bereits dann – zumindest auch – dem Schutz der unionalen Vertragsfreiheit unterstellt, wenn der Anwendungsbereich des Unionsrechts für einzelne Aspekte dieses Schuldverhältnisses eröffnet ist.785 So hat der EuGH beispielsweise in der Rechtssache Katsikas einerseits betont, dass die Betriebsübergangsrichtlinie in ihrer alten Fassung keine Regelung dazu enthielt, welche Rechtsfolgen der Widerspruch eines Arbeitnehmers gegen den Übergang seines Arbeitsvertrags auf den neuen Arbeitgeber zeitigt.786 Während insoweit also das autonome Vertragsrecht der Mitgliedstaaten – und in Deutschland damit der an den Rechtsgedanken aus § 415 BGB angelehnte § 613a BGB – anwendbar war, hat der Gerichtshof andererseits aber auch diese nicht-harmonisierten nationalen Regelungen am Maßstab der unionalen Vertragsfreiheit gemessen: Nament-

fallende nationale Bestimmung, die es für mit diesem Verbot unvereinbar hält und die einer unionsrechtskonformen Auslegung nicht zugänglich ist, unangewendet lassen muss“ (Herv. d. Verf.). 784 EuGH Urt. v. 11.9.2014 – Rs. C-112/13 (A), EU:C:2014:2195 Rn. 47 ff. hat entschieden, dass der unionsgrundrechtskonform im Lichte des Art. 47 GRCh ausgelegte Art. 26 Brüssel Ia einer nach nationalem österreichischem Prozessrecht eigentlich zulässigen Einlassung des Beklagten durch einen Abwesenheitskurator im Sinne des § 116 ZPO entgegensteht. 785 Vgl. z. B. bereits EuGH Urt. v. 5.10.1999 – Rs. C-240/97 (Spanien / Kommission), Slg. 1999, I-6571 Rn. 99. 786 EuGH Urt. v. 16.12.1992 – verb. Rs. C-132/91 u. a. (Katsikas u. a.), Slg. 1992, I6577 Rn. 35 f. Vgl. auch schon EuGH Urt. v. 11.7.1985 – Rs. 105/84 (Mikkelsen), Slg. 1985, 2639 Rn. 16.

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lich dürfe der Arbeitnehmer durch das Vertragsrecht der Mitgliedstaaten nicht verpflichtet werden, den Vertrag fortzuführen, weil dies „gegen Grundrechte des Arbeitnehmers [verstieße], der bei der Wahl seines Arbeitgebers frei sein muß und nicht verpflichtet werden kann, für einen Arbeitgeber zu arbeiten, den er nicht frei gewählt hat“.787

Hier lässt der EuGH es mithin genügen, dass der zu beurteilende Vertrag überhaupt in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, und unterwirft sodann auch andere, außerhalb der konkreten sekundärrechtlichen Einflusssphäre liegende Areale des mitgliedstaatlichen Vertragsrechts der unionalen Vertragsfreiheit. Dass dieses Freiheitsgrundrecht über die konkret durch das EU-Recht geregelten Fragen hinaus die Wahrung der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie der Parteien einfordert, verdeutlicht auch die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Alemo-Herron: Hier verlangt der Gerichtshof, dass das mitgliedstaatliche Privatrecht individualarbeitsvertraglich vereinbarten Klauseln die Wirkung versagt, wenn diese auf die jeweils aktuelle Fassung eines Tarifvertrags verweisen, auf dessen Fortentwicklung der kraft Betriebsübergangs in die Arbeitgeberstellung einrückende Betriebserwerber mangels Tariffähigkeit keinen Einfluss nehmen kann.788 Kontrollgegenstand ist dabei nicht nur die Reichweite der Übernahmeverpflichtung nach Art. 3 Betriebsübergangsrichtlinie, sondern der EuGH prüft vielmehr, ob das nichtharmonisierte nationale Arbeitsvertragsrecht, welches dynamische Verweisungsklauseln zulässt, im Zusammenspiel mit der Betriebsübergangsrichtlinie das Unionsgrundrecht der Vertragsfreiheit in unverhältnismäßiger Weise verkürzt.789 Dabei kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die Aufrechterhaltung solcher Vertragsklauseln bei einem Betriebsübergang in den Wesensgehalt unionaler Vertragsfreiheit eingreift und die Klauseln daher gegenüber dem Erwerber eines Betriebes unanwendbar sind.790 Weil die einschlägige Betriebsüber787 EuGH Urt. v. 16.12.1992 – verb. Rs. C-132/91 u. a. (Katsikas u. a.), Slg. 1992, I6577 Rn. 31 f. 788 Vgl. EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 9 ff. und insbesondere 30 ff. Freilich sieht der EuGH Urt. v. 27.4.2017 – Rs. C-680/15 u.a. (Asklepios Kliniken u.a.), EU:C:2017:317 Rn. 23 ff. die unionale Vertragsfreiheit durch den Regelungsansatz des deutschen Rechts gewahrt, weil es„sowohl einvernehmliche als auch einseitige Möglichkeiten für den Erwerber vorsieht, die zum Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsbedingungen nach dem Übergang anzupassen.“ 789 Vgl. EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 30 ff. In diese Richtung deutet auch EuGH Urt. v. 27.4.2017 – Rs. C-680/15 u.a. (Asklepios Kliniken u.a.), EU:C:2017:317 Rn. 19 ff. mit Blick auf das deutsche Recht. Siehe zum Ganzen Latzel, RdA 2014, 110, 115; Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit im deutschen und europäischen Arbeitsrecht (2014), S. 267. 790 Vgl. EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 37. Zum gegenteiligen Ergebnis gelangt EuGH Urt. v. 27.4.2017 – Rs. C-680/15 u. a.

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gangsrichtlinie die streitgegenständlichen dynamischen Verweisungsklauseln nicht regelt, stellt der EuGH damit wiederum Vorschriften des nicht unionsrechtlich determinierten nationalen Arbeitsvertragsrechts mit auf den Prüfstand der unionalen Vertragsfreiheit.791 Nach der Lesart des EuGH erfasst das Unionsrecht vertragliche Schuldverhältnisse somit als einheitliches Phänomen und unterstellt diese insgesamt dem Schutzbereich der unionalen Vertragsfreiheit, sobald vertragliche Einzelaspekte in den Geltungsbereich des Unionsrechts fallen.792 Hier scheint die Überlegung auf, dass die unionale Vertragsfreiheit grundsätzlich unteilbar ist und auch der Vertrag als ihr Schutzgegenstand eine Einheit bildet.793 Was dies für die Bindung der Mitgliedstaaten an das Unionsgrundrecht der Vertragsfreiheit konkret bedeutet, lässt sich am Beispiel der Verbraucherrechteund der Klauselrichtlinie verdeutlichen: Auf der einen Seite überantworten diese Sekundärrechtsakte zahlreiche vertragsrechtliche Fragen, wie etwa Willensmängel und Vertragsnichtigkeitsgründe, ausdrücklich dem mitgliedstaatlichen Recht.794 Auf der anderen Seite enthalten beide Richtlinien Rege(Asklepios Kliniken u.a.), EU:C:2017:317 Rn. 19 ff. und 23 ff. sodann mit Blick auf das deutsche Recht, weil es Instrumente vorsieht, um die unionale Vertragsfreiheit des Betriebserwerbers zu gewährleisten. 791 Entsprechend betont EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 35 und 37 ausdrücklich: „Unter diesen Umständen ist die Vertragsfreiheit dieses Erwerbers so erheblich reduziert, dass eine solche Einschränkung den Wesensgehalt seines Rechts auf unternehmerische Freiheit beeinträchtigen kann […]. Nach alledem ist […] Art. 3 der Richtlinie 2001/23 dahin auszulegen […], dass er es einem Mitgliedstaat verwehrt, vorzusehen, dass im Fall eines Unternehmensübergangs die Klauseln, die dynamisch auf nach dem Zeitpunkt des Übergangs ausgehandelte und abgeschlossene Kollektivverträge verweisen, gegenüber dem Erwerber durchsetzbar sind, wenn dieser nicht die Möglichkeit hat, an den Verhandlungen über diese nach dem Übergang geschlossenen Kollektivverträge teilzunehmen“ (Herv. d. Verf.). Dies heben zu Recht etwa Sutschet, RdA 2013, 28, 34 und Latzel, RdA 2014, 110, 115 hervor. Auch Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit im deutschen und europäischen Arbeitsrecht (2014), S. 267 fragt mit Blick auf die Bindung des Betriebserwerbers an die individualvertraglich vereinbarten Verweisungsklauseln, „ob sich die Bindung des Erwerbers überhaupt legitimieren lässt“ und verneint dies mit Blick auf die unionale Vertragsfreiheit. 792 Vgl. wiederum EuGH Urt. v. 5.10.1999 – Rs. C-240/97 (Spanien / Kommission), Slg. 1999, I-6571 Rn. 99; EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013: 521 Rn. 35 ff. 793 Für diese einheitliche Konzeption der unionalen Vertragsfreiheit spricht, dass die einzelnen Facetten dieser Freiheit regelmäßig miteinander verzahnt sind und die Regulierung einer dieser Facetten potenziell auf die anderen durchschlägt: Beispielsweise führt die Negation der Abschlussfreiheit unweigerlich dazu, dass auch die Inhaltsfreiheit nicht ausgeübt werden kann. Zudem kann eine Beschränkung der Vertragspartnerwahlfreiheit gerade bei Zugrundelegung eines markt- und wettbewerbsgestützten Funktionsmodells der Vertragsfreiheit zugleich auch die Freiheit zur Einflussnahme auf den Vertragsinhalt beschneiden, siehe hierzu noch unten Kapitel 3 § 3 A II.

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lungen, die sämtliche Etappen des Vertrags – von der Anbahnung über den Abschluss und die Durchführung bis hin zur Beendigung – betreffen.795 Dies kann nicht ohne Folgen für die Grundrechtsverpflichtung der Mitgliedstaaten bleiben: Wo alle Phasen eines einheitlichen Vertragsverhältnisses – und sei es nur punktuell – unionsrechtlich normiert werden, muss insoweit zumindest auch der Anwendungsbereich der unionalen Vertragsfreiheit eröffnet sein. bb) Grundsätzlicher Vorrang unionaler Vertragsfreiheit Soweit das mitgliedstaatliche Recht zwar einerseits in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, es andererseits aber nicht vollständig durch Letzteres determiniert wird, bleiben nationale Grundrechte parallel anwendbar:796 Entsprechend treten nationale Verbürgungen der Vertragsfreiheit, etwa nach Art. 2 Abs. 1 GG, zunächst neben das korrespondierende Unionsgrundrecht. Sofern das nationale Recht weitergehende Verbürgungen der Vertragsfreiheit enthält, kann der Grundrechtsträger sich dann nach Art. 53 GRCh gegenüber den Mitgliedstaaten weiterhin auf solche ihm günstigeren Garantien berufen.797 Obschon nationale Grundrechte demnach neben den Unionsgrundrechten Anwendung finden, bildet die unionale Vertragsfreiheit im Konfliktfall die maßgebliche Außengrenze: Durch mitgliedstaatliche Grundrechte darf nämlich „weder das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden“.798

794 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 14, Art. 3 Abs. 5 Verbraucherrechterichtlinie: „Diese Richtlinie lässt das allgemeine innerstaatliche Vertragsrecht wie die Bestimmungen über die Wirksamkeit, das Zustandekommen oder die Wirkungen eines Vertrags, soweit Aspekte des allgemeinen Vertragsrechts in dieser Richtlinie nicht geregelt werden, unberührt“. Siehe zum Verhältnis der Klauselkontrolle zu den Instrumenten des allgemeinen Vertragsrechts und insbesondere zu den Unwirksamkeitstatbeständen der §§ 134, 138 BGB statt aller MünchKommBGB / Wurmnest (2016), Vor § 307 BGB Rn. 8 ff. 795 Vgl. nur Art. 5, Art. 6 Abs. 1 und Abs. 5; Art. 7 f. sowie Art. 9 ff. und Art. 18 ff. Verbraucherrechterichtlinie. Vgl. ferner z. B. Art. 3 i. V. m. Anhang Nr. 1 lit. c–d sowie f–o Klauselrichtlinie. 796 Vgl. nur EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 29; EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-399/11 (Melloni), EU:C:2013:107 Rn. 60. Dazu statt aller Jarass (2016), Art. 53 GRCh Rn. 10. 797 Streinz / Michl, EuZW 2011, 386; Meyer / Borowsky (2014), Art. 53 GRCh Rn. 22; Jarass (2016), Art. 53 GRCh Rn. 116. Im Ergebnis ebenso Calliess / Ruffert / Kingreen (2016), Art. 53 GRCh Rn. 4 und 7. 798 EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 29; EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-399/11 (Melloni), EU:C:2013:107 Rn. 60. Eine solche Kumulation nationaler und unionaler Grundrechte kommt dort in Betracht, wo das mitgliedstaatliche Recht nicht vollständig durch das EU-Recht determiniert wird, etwa, weil den Mitgliedstaaten (Umsetzungs)Spielräume verbleiben, siehe Jarass (2016), Art. 53 GRCh Rn. 10 m. w. N.

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Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

Hierin liegt eine Umkehrung der Solange-II-Rechtsprechung des BVerfG: Nur solange die unionalen und nationalen Grundrechte weitgehend gleichlaufen, besteht Idealkonkurrenz; bei einem nicht mit dem unionsrechtlichen Schutzniveau zu vereinbarenden Standard setzen sich dagegen die Unionsgrundrechte durch.799 Darüber hinaus ist hier stets auch der Vorrang des übrigen Unionsrechts – jenseits der Unionsgrundrechte – zu beachten.800 Bei drohenden Friktionen zwischen den Grundrechten der EU und denen den Mitgliedstaaten betont der EuGH, dass die nationalen Gerichte „gegebenenfalls die Pflicht [haben], den Gerichtshof um eine Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV zu ersuchen“.801 Dass solche Konfliktlagen keineswegs nur theoretischer Natur sind, belegt die Rechtssache Sky Österreich, die einen sekundärrechtlich fundierten802 Kontrahierungszwang des Inhabers von Fernsehrechten an Sportveranstaltungen betraf: Während das deutsche BVerfG durch einen solchen im nationalen Recht wurzelnden Abschlusszwang das Grundrecht des Rechteinhabers aus Art. 12 GG als spezielle Ausprägung der Vertragsfreiheit verletzt sah,803 kam der EuGH mit Blick auf die in Art. 16 GRCh geschützte Freiheit zum gegenteiligen Ergebnis.804 Ebenso stellte der EuGH in der bereits erwähnten Rechtssache Alemo-Herron einen Eingriff in den Wesensgehalt der unionalen Vertragsfreiheit fest, während der UK Supreme Court in seiner Vorlageentscheidung die – nationale – Vertragsfreiheit nicht über Gebühr eingeschränkt sah.805 Festzuhalten bleibt, dass der Anwendungsbereich des EU-Rechts bei Schuldverträgen weit gesteckt ist und die Vertragsfreiheit als Unionsgrund-

Vgl. erneut nur EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-399/11 (Melloni), EU:C:2013:107 Rn. 60. Statt vieler de Boer, CMLR 50 (2013), 1083 ff.; v. d. Groeben / Schwarze / Hatje /  Terhechte (2015), Art. 51 GRCh Rn. 11. 800 Siehe erneut nur EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013: 105 Rn. 29; EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-399/11 (Melloni), EU:C:2013:107 Rn. 60 sowie statt aller Meyer / Borowsky (2014), Art. 53 GRCh Rn. 22. 801 EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 30. Gleichsinnig z. B. EuGH Urt. v. 22.6.2010 – verb. Rs. C-188/10 u. a. (Melki u. a.), EU:C:2010:363 Rn. 54 ff.; EuGH Urt. v. 11.9.2014 – Rs. C-112/13 (A), EU:C:2014:2195 Rn. 41 ff. Siehe dazu auch Safjan, FS Micklitz (2014), S. 123, 145. 802 Vgl. Art. 15 Mediendienstleistungsrichtlinie. 803 Vgl. BVerfG Urt. v. 17.2.1998 – Az. 1 BvF 1/91, BVerfGE 97, 228, 252 ff. 804 EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C:2013:28 Rn. 44 ff. und insbesondere Rn. 54 ff. GA Bot Schlussanträge v. 12.6.2012 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C:2012:341 Rn. 80 bemerkt dazu, „dass die zwischen den verschiedenen in Rede stehenden Grundrechten vorzunehmende Abwägung im nationalen Rahmen und auf Unionsebene nicht zwangsläufig gleich ausfallen muss“. 805 Vgl. nur Parkwood Leisure Ltd v Alemo-Herron and others [2011] UKSC 26 (Lord Hope) einerseits und EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013: 521 Rn. 30 ff. andererseits. 799

§ 3 Gewährleistungsgehalt unionaler Vertragsfreiheit

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recht hier überdies prinzipiell Vorrang vor mitgliedstaatlichen Freiheitsgrundrechten genießt.806 III. Wirkbereich als privatrechtlicher Rechtsgrundsatz Als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsprivatrechts bindet die Vertragsfreiheit die EU und deren Mitgliedstaaten regelmäßig nur im Anwendungsbereich des Unionsrechts. Dies folgt bereits aus der dienenden Natur solcher privatrechtlichen Grundsätze: Nur wo eine Lücke oder zumindest Auslegungsbedarf im geschriebenen Privatrecht der Union besteht, kommen sie als Auslegungsleitlinie und Instrument zur Lückenfüllung zum Tragen.807 Aufgrund dieser Reserve- und Ergänzungsfunktion deckt sich der Anwendungsbereich der privatrechtlichen Rechtsgrundsätze daher prima facie mit demjenigen des Unionsprivatrechts.808 Für diese Lesart spricht auch, dass die mitgliedstaatlichen ebenso wie die unionalen Gerichte angesichts der Kompetenzverteilung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten nur im Anwendungsbereich des Unionsrechts unionale Rechtsgrundsätze auf privatrechtliche Sachververhalte anwenden können.809 Entsprechend stellt der EuGH in seiner Barclays-Entscheidung heraus, dass die allgemeinen Grundsätze des Unionsprivatrechts nur herangezogen werden können, soweit der Anwendungsbereich des Unionsrechts in dem konkreten privatrechtlichen Regelungsfeld eröffnet ist: Schließt hingegen eine Richtlinie „einen Fall wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden aus ihrem Anwendungsbereich aus […], können die ihr zugrunde liegenden allgemeinen Grundsätze […] keine Anwendung finden“.810

Siehe auch erneut oben Einleitung A III. Siehe zu dieser Funktion bereits oben § 2 A I 1. Siehe erneut auch GA Mazák Schlussanträge v. 15.2.2007 – Rs. C-411/05 (Palacios de la Villa), Slg. 2007, I-8531 Rn. 134 ff.; GA Trstenjak Schlussanträge v. 30.6.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 68; GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C:2011:559 Rn. 93; Metzger, Extra legem, intra ius – Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 553; Basedow, FS Hopt I (2010), S. 27, 45; Lenaerts / Gutiérrez-Fons, CMLR 47 (2010), 1629. 808 In diese Richtung auch Metzger, Extra legem, intra ius – Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 553. 809 Wie hier Lenaerts / Gutiérrez-Fons, CMLR 47 (2010), 1629, 1636: „[C]ourts have a duty to interpret both EU law and national law falling within the scope of application of EU law in accordance with general principles of EU law“. Gleichsinnig Lang, in: Bernitz /  Groussot / Schulyko (eds.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), S. 65, 66. 810 EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-280/13 (Barclays), EU:C:2014:279 Rn. 44. In der Rechtssache war die Klauselrichtlinie nicht anwendbar, da nach den Vorlagefragen Normen des spanischen Vertragsrechts auf ihre Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht hin über806 807

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Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

Auch laut EuGH fällt der Anwendungsbereich dieser Grundsätze prinzipiell mit demjenigen des Unionsprivatrechts zusammen.811 Wie schon im Fall des Unionsgrundrechts kann der Anwendungsbereich des EU-Privatrechts aber unter anderem durch den Effektivitätsgrundsatz eröffnet werden,812 so dass die Mitgliedstaaten in solchen Konstellationen den allgemeinen Rechtsgrundsatz der Vertragsfreiheit ebenfalls beachten müssen. Entsprechend der EuGH-Judikatur zum korrespondierenden Unionsgrundrecht liegt es überdies nahe, dass das Unionsrecht ein vertragliches Schuldverhältnis auch für die Zwecke des unionsprivatrechtlichen Grundsatzes der Vertragsfreiheit als einheitliches Phänomen behandelt und bereits dann umfassend dem privatrechtlichen Rechtsgrundsatz der Vertragsfreiheit unterwirft, wenn einzelne Aspekte des vertraglichen Schuldverhältnisses in den Geltungsbereich des Unionsrechts fallen.813 In diese Richtung mag beispielsweise die Rechtssache Spanien/Kommission deuten: Obschon die einzigen in dieser Rechtssache einschlägigen Regelungen des Unionsrechts Sondermaßnahmen zur Förderung der Verarbeitung von Zitrusfrüchten betrafen, bemerkt der EuGH hinsichtlich eines mit Blick auf diese Fördermaßnahmen nach nationalem Privatrecht geschlossenen Vertrags, „daß das Recht der Parteien, von ihnen geschlossene Verträge zu ändern, auf dem Grundsatz der Vertragsfreiheit beruht und daher nicht eingeschränkt werden kann, wenn es keine Gemeinschaftsregelung gibt, die in dieser Beziehung besondere Beschränkungen festlegt“.814

In nicht ausschließlich unionsrechtlich determinierten Regelungsbereichen kann die unionale Vertragsfreiheit indes nicht alleinige Geltung beanspruchen, sondern sie tritt vielmehr nur neben etwaige nationale privatrechtliche Rechtsgrundsätze, wie sie z. B. in Deutschland § 311 Abs. 1 BGB sowie in Frankreich Art. 6, 1102 und 1103 Code civil aufstellen. Allerdings kommt dem unionsprivatrechtlichen Rechtsgrundsatz der Vertragsfreiheit – ebenso wie dem Unionsgrundrecht – im Anwendungsbereich des EU-Rechts regelmäßig Vorrang vor vergleichbaren nationalen Verbürgungen zu: Im Interesse der einheitlichen Anwendung und der praktischen Wirksamkeit des Unionsrechts sind bei der Auslegung und Anwendung ebenso wie bei der Beseitigung von Regelungslücken im unionsrechtlich determinierten Privatrecht vielmehr die autonomen Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts heranzuziehen.815 Insbesondere könprüft werden sollten. Auf Rechtsnormen findet die Klauselrichtlinie indes ausweislich ihres Art. 1 Abs. 2 und des Erwägungsgrundes Nr. 13 keine Anwendung. 811 Vgl. erneut EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-280/13 (Barclays), EU:C:2014:279 Rn. 44. 812 Vgl. oben II 2 b. 813 Vgl. erneut oben II 2 b. 814 EuGH Urt. v. 5.10.1999 – Rs. C-240/97 (Spanien / Kommission), Slg. 1999, I-6571 Rn. 99. 815 Vgl. bereits oben Einleitung A III 1.

§ 3 Gewährleistungsgehalt unionaler Vertragsfreiheit

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nen mitgliedstaatliche Gerichte eine restriktive Lesart unionaler Regelungen – etwa im Bereich des Verbrauchervertragsrechts – nicht auf potenziell divergierende nationale Grundsätze der Vertragsfreiheit stützen.816 Auch darüber hinaus ist der Rekurs auf einen nationalen Grundsatz der Vertragsfreiheit immer nur insoweit zulässig, als hierdurch weder das durch den unionalen Rechtsgrundsatz der Vertragsfreiheit gewährleistete Niveau unterschritten noch der „Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt“ wird.817 C. Summe des zweiten Kapitels Obschon die Vertragsfreiheit für den Binnenmarkt unverzichtbar ist, wird diese Freiheit durch das geschriebene Primärrecht der EU nur insular und lückenhaft geschützt. Weder die unionale Wirtschaftsverfassung noch die Grundfreiheiten können diese Freiheit umfassend garantieren. Auch die Gewährleistung der Vertragsfreiheit durch die kodifizierten Unionsgrundrechte gleicht einem Flickenteppich: Insbesondere vermag die Anbindung dieser Jedermannfreiheit an Unionsgrundrechte, deren sachlicher und personaler Wirkbereich gerade im Fall der Art. 16 und Art. 17 GRCh eng umgrenzt ist, kaum zu überzeugen. Indes postulieren der Unionsgesetzgeber und der EuGH, dass die Vertragsfreiheit im Binnenmarkt umfassend verbürgt wird. Die Vertragsfreiheit wird überdies implizit in der Unionsrechtsordnung dadurch anerkannt, dass die rechtsgeschäftliche Privatautonomie in all ihren Facetten mannigfaltige Einschränkungen erfährt. Solcher flächendeckenden Beschränkungen durch unionsrechtliche Normen bedarf es denknotwendig nur, wenn das EU-Recht davon ausgeht, dass die Vertragsfreiheit im Grundsatz als verbindlicher Rechtsatz gilt. Eine breit angelegte unionsrechtsimmanente, völkerrechtliche und rechtsvergleichende Bestandsaufnahme hat diesen Befund in unterschiedlichen Sachmaterien bestätigt. Damit besteht ein solides Fundament für die induktive Herleitung eines allgemeinen unionalen Rechtsgrundsatzes der Vertragsfreiheit. Hierbei wird die Doppelnatur der unionalen Vertragsfreiheit offenbar: Die Unionsrechtsordnung schützt die Vertragsfreiheit zum einen als Unionsgrundrecht im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV, das als primärrechtliche Verbürgung neben bereichsspezifische Gewährleistungen, wie etwa Art. 16 GRCh, tritt. Zum anderen ist die rechtsgeschäftliche Privatautonomie ein allgemeiner Grundsatz des Unionsprivatrechts: Dabei handelt es sich um ein Rechtsprinzip, das nach Abwägung mit konfligierenden Rechtsgrundsätzen insbesondere bei der Auslegung und Ergänzung des unionsrechtlich determinierten Privatrechts heranzuziehen ist. Vgl. oben Einleitung A III 1. Vgl. wiederum mit Blick auf die Unionsgrundrechte EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 29. 816 817

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Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

Die unionale Vertragsfreiheit hat einen autonomen Gewährleistungsgehalt, der sieben Facetten umfasst: Hierzu zählen die Abschluss- und Auswahlfreiheit sowie die Inhalts-, Typen-, Änderungs-, Aufhebungs- und Formfreiheit sowie schließlich die Parteiautonomie als international-privatrechtliche Ausdrucksform der Vertragsfreiheit. Den Kernbereich der Vertragsfreiheit machen neben der Abschluss- und Kontrahentenwahlfreiheit insbesondere die autonome Bestimmung der zentralen Vertragsinhalte im Sinne der essentialia negotii aus. Der Wesensgehalt unionaler Vertragsfreiheit ist somit besonders eng mit der Funktionsbestimmung dieser Freiheit verwoben: Die Vertragsfreiheit soll die Autonomie des Menschen in der vertraglichen Sphäre wahren und Schutz vor Fremdbestimmung gewährleisten. Ein selbstbestimmtes Leben setzt nicht zuletzt die freie Entscheidung über den Abschluss von Verträgen voraus. Zumindest dieser Wesensgehalt unionaler Vertragsfreiheit weist einen Menschenwürdekern auf und wird insoweit durch Art. 1 GRCh verstärkt. Entsprechend sind an Verkürzungen des Kernbereichs der Vertragsfreiheit besonders hohe Anforderungen zu stellen. Als allgemeiner privatrechtlicher Rechtsgrundsatz und als Grundrecht bindet die unionale Vertragsfreiheit die Union und all ihre Organe. Die EUMitgliedstaaten sind hingegen nur im Anwendungsbereich des Unionsrechts verpflichtet, die rechtsgeschäftliche Privatautonomie unionaler Provenienz zu beachten. Dabei geht der Geltungsanspruch des Unionsrechts auch auf dem Gebiet des Privatrechts weit über die zuvörderst in Richtlinien und Verordnungen enthaltenen Regelungen des acquis communautaire hinaus. Namentlich sind die Mitgliedstaaten an die unionale Vertragsfreiheit gebunden, wenn sie die Verkehrsfreiheiten des Binnenmarktes beschränken oder wenn der Effektivitätsgrundsatz die Einflusssphäre des EU-Rechts in die nichtharmonisierte Bereiche des nationalen Rechts ausdehnt. Auf diese Weise werden potenziell sämtliche Areale des allgemeinen Vertragsrechts in den Wirkbereich der unionalen Vertragsfreiheit gezogen. Zudem hat der EuGH den privatrechtlichen Vertrag wiederholt als einheitlichen, unteilbaren Selbstbestimmungsakt behandelt: Selbst wenn der Anwendungsbereich des Unionsrechts nur für einzelne Aspekte dieses Schuldverhältnisses eröffnet ist, kann der gesamte Vertrag – zumindest auch – dem Schutz der unionalen Vertragsfreiheit unterstehen. Insgesamt tritt die unionale Vertragsfreiheit in vielen Bereichen des Schuldvertragsrechts in den Vordergrund, während gleichlaufende nationale Verbürgungen zurückgedrängt und überlagert werden. Dabei ist keineswegs gleichgültig, welche Vertragsfreiheit – die jeweilige mitgliedstaatliche oder aber die unionsrechtliche – den Maßstab bildet. Während die Vertragsfreiheit in allen Mitgliedstaaten geschützt wird, unterscheiden sich ihr Schutzbereich und vor allem ihre Schranken teilweise deutlich: So legt der EuGH z. B. in den Rechtssachen Sky Österreich und Alemo-Herron eine gänzlich andere

§ 3 Gewährleistungsgehalt unionaler Vertragsfreiheit

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Lesart und Gewichtung der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie als die mitgliedstaatlichen Gerichte zugrunde.818 Wird somit die nationale Verbürgung in vielen Bereichen durch die Vertragsfreiheit unionaler Provenienz abgelöst, drängt sich die Frage auf, ob die rechtsgeschäftliche Privatautonomie eine gewisse Konvergenz des Schuldvertragsrechts im Mehrebenensystem der EU begünstigen kann.

818 Vgl. nur Parkwood Leisure Ltd v Alemo-Herron and others [2011] UKSC 26 (Lord Hope) einerseits und EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013: 521 Rn. 30 ff. andererseits. Vgl. zudem BVerfG Urt. v. 17.2.1998 – Az. 1 BvF 1/91, BVerfGE 97, 228, 252 ff. auf der einen und sodann EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C:2013:28 Rn. 44 ff. und insbesondere Rn. 54 ff. auf der anderen Seite.

Zweiter Teil

Vertragsfreiheit und ihre Materialisierung als Richtschnur des Schuldvertragsrechts der EU und ihrer Mitgliedstaaten Zweiter Teil – Vertragsfreiheit und ihre Materialisierung

Die unionale Vertragsfreiheit kann bestimmte Ausgestaltungen des Privatrechts der Union und ihrer Mitgliedstaaten ge- oder auch verbieten und so einen äußeren Rahmen für das Schuldvertragsrecht im Binnenmarkt stecken. Ihre Rolle als Kompass des EU-Privatrechts wird indes dadurch erschwert, dass sich die Vertragsfreiheit in der Unionsrechtsordnung zwischen zwei Polen bewegt: Einerseits schützt sie die eigenverantwortliche Gestaltung vertraglicher Rechtsverhältnisse vor überbordenden Eingriffen. Andererseits verlangt sie werthaltige, notfalls durch hoheitliche Intervention abzusichernde Selbstbestimmungsmöglichkeiten für alle Akteure im Binnenmarkt. Der zweite Teil dieser Abhandlung zeigt auf, wie die unionale Vertragsfreiheit trotz dieser Antinomie als Bindeglied und Matrix für ein kohärentes EU-Schuldvertragsrecht dienen kann. Soweit der Anwendungsbereich des Unionsrechts reicht, wirkt die unionale Vertragsfreiheit darüber hinaus tief in das deutsche Bürgerliche Recht und in das Zivilprozessrecht hinein. Den Ausgangspunkt der weiteren Untersuchungen bildet die Frage, wie die Vertragsfreiheit zu verwirklichen ist und auf welchem Wege sie das Privatrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten beeinflusst.

Kapitel 3

Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell unionaler Vertragsfreiheit Kapitel 3 – Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell

Die Vertragsfreiheit ist als Unionsgrundrecht und als allgemeiner Grundsatz des EU-Privatrechts jeweils an prominenter Stelle in der Rechtsordnung der Union verankert. Als Orientierungspunkt des Schuldvertragsrechts kann die unionale Vertragsfreiheit jedoch nur dienen, soweit sie auf das Privatrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten einwirkt (§ 1). Eine zentrale Rolle kommt der Vertragsfreiheit sowohl bei der Begründung als auch bei der Begrenzung der Vertragsbindung zu (§ 2). Die weiteren Anforderungen, welche die Vertragsfreiheit unionaler Provenienz an die Privatrechtsordnungen der EU und ihrer Mitgliedstaaten stellt, hängen entscheidend davon ab, auf welche Weise diese Freiheit zu entfalten ist. Die Abwehrdimension der Vertragsfreiheit streitet dafür, dass die Freiheitsverwirklichung vorrangig den Parteien sowie dem Spiel des durch die EU-Verträge geschützen offenen, wettbewerblich strukturierten Marktes überlassen bleibt. Wo dieser Vertrags- und Marktmechanismus wirkt, erkennt ihm die Unionsrechtsordnung zudem eine – begrenzte – Richtigkeits- und Gerechtigkeitsgewähr zu (§ 3).

§ 1 Einwirkungsachsen im Privatrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten § 1 Einwirkungsachsen im Privatrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten

Deine Vertragsfreiheit oder meine Vertragsfreiheit? Diese Frage müssen die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen immer dann an das Unionsrecht richten, wenn ein vertragliches Schuldverhältnis in den – weit gesteckten – Anwendungsbereich des EU-Rechts fällt und der Schutz der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie in Rede steht. Entsprechend ihrer Doppelnatur sind zwei Einwirkungsachsen der unionalen Vertragsfreiheit im Privatrecht zu unterscheiden: Zum einen wirken unionsgrundrechtliche Triebkräfte (A). Zum anderen existiert eine unionsprivatrechtliche Dimension, soweit diese Freiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz des EU-Privatrechts zum Tragen kommt (B). Schließlich ist auch der Frage nach dem Verhältnis der unionalen Vertragsfreiheit zu anderen privatrechtswirksamen Freiheitsverbürgungen und insbesondere zu den Grundfreiheiten des Binnenmarktes nachzugehen (C).

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Kapitel 3 – Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell

A. Privatrechtswirkungen der Vertragsfreiheit als Unionsgrundrecht „Schützt das Bürgerliche Gesetzbuch vor dem Grundgesetz!“ – diese Aufforderung Dölles1 müsste heutzutage auch auf die Unionsgrundrechte gemünzt werden, weil diese das BGB angesichts der Europäisierung des Privatrechts in zunehmendem Maße beeinflussen können.2 Jüngere Zivilrechtskodifikationen widmen dem Verhältnis von Unionsgrundrechten und Privatrecht bereits eigene Regelungen: Beispielsweise lässt § 1 des am 1.1.2014 in Kraft getretenen tschechischen Zivilgesetzbuches (ZGB)3 zwar einerseits verlauten, dass die Anwendung der zivilrechtlichen unabhängig von öffentlich-rechtlichen Bestimmungen erfolge.4 Andererseits postuliert § 2 Abs. 1 tschechisches ZGB die Grundrechtsabhängigkeit des Privatrechts und fordert zudem, dass sämtliche Normen des nationalen Zivilrechts im Lichte der Grundrechte der Europäischen Union ausgelegt werden.5 Dieser offene Widerspruch ist paradigmatisch für das Verhältnis der europäischen Privatrechtswissenschaft zur Rolle der Grundrechte: Das Spektrum reicht von rigoroser Ablehnung6 bis hin zur Akzeptanz der umfassenden Durchdringung des Zivilrechts durch verfassungs- und insbesondere durch grundrechtliche Wertungen.7 So nimmt es kaum Wunder, dass der Einfluss der Unionsgrundrechte auf das EU-Privatrecht ebenfalls seit längerem Gegenstand einer ausgreifenden Kontroverse ist. Bereits vor mehr als 25 Jahren fragte Generalanwalt Van Gerven, inwieweit die in der Unionsrechtsordnung anerkannten Grundrechte „Wirkungen im Verhältnis zwischen Privatpersonen zeitigen“ können.8 Obschon weitere Generalanwälte diesen Punkt für klä1 Huber, Die verfassungsrechtliche Bedeutung der Vertragsfreiheit (1966), S. 1, schreibt diesen Ausruf Dölle zu. 2 Vgl. zur Konstitutionalisierung des Unionsprivatrechts und der damit verbundenen Beeinflussung des nationalen Zivilrechts erneut nur EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/ 07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 18 ff. (Unanwendbarkeit des § 622 Abs. 2 BGB a. F. wegen Unvereinbarkeit mit Art. 21 GRCh) und siehe statt vieler Herresthal, ZEuP 2014, 238 ff. sowie erneut oben Einleitung A IV. 3 Sbírka zákonů č. 89/2012, S. 1026. 4 „The application of private law is independent of the application of public law“ (offizielle englische Übersetzung). 5 „Each provision of private law can be understood only in accordance with the Charter of Fundamental Rights and Freedoms“ (offizielle englische Übersetzung). Siehe hierzu auch Wendehorst, RabelsZ 75 (2011), 730, 748. 6 Siehe aus Perspektive der deutschen Rechtswissenschaft insbesondere Zöllner, AcP 196 (196), 1 ff.; Diederichsen, AcP 198 (1998), 171 ff. Siehe zum Diskussionsstand im Vereinigten Königreich z. B. Collins, Law & Contemp. Probs. 76 (2013), 71, 88; ders., in: Micklitz (ed.), Constitutionalization of European private law (2014), S. 26 ff. 7 Siehe statt vieler Kumm, GLJ 7 (2006), 341 ff. („Who’s Afraid of the Total Constitution?“). 8 GA Van Gerven Schlussanträge v. 30.1.1990 – Rs. C-262/88 (Barber), Slg. 1990, I1912 Rn. 51 ff.

§ 1 Einwirkungsachsen im Privatrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten

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rungsbedürftig hielten,9 ist der EuGH bislang weder umfassend auf die Grundrechtsbindung des Unionsprivatrechts (I) noch auf die Privatrechtswirksamkeit unionaler Vertragsfreiheit eingegangen. Beide Fragen sind untrennbar mit den Funktionen der Unionsgrundrechte verzahnt (II). Hierdurch werden die methodischen Einwirkungsebenen der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie im EU-Privatrecht vorgegeben (III). I.

Autarkie und Grundrechtsbindung des Privatrechts

Der Unionsgesetzgeber geht ganz selbstverständlich von der Grundrechtsbindung des Privatrechts der Union aus. So betont beispielsweise Erwägungsgrund Nr. 52 Pauschalreiserichtlinie: „Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, wie sie mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden. Diese Richtlinie achtet insbesondere die unternehmerische Freiheit gemäß Artikel 16 der Charta und stellt gleichzeitig ein hohes Verbraucherschutzniveau innerhalb der Union nach Artikel 38 der Charta sicher“.

Durch die Nennung des Art. 16 GRCh, der unter anderem die rechtsgeschäftliche Privatautonomie umfasst, bejaht der Unionsgesetzgeber mithin seine Bindung an die unionale Vertragsfreiheit. Ähnliche Verweise auf das Erfordernis der Unionsgrundrechtskonformität finden sich auch in anderen privatrechtsrelevanten Sekunddärrechtsakten.10 Darüber hinaus trägt Art. 15 Zahlungskontenrichtlinie die unionsgrundrechtlich in Art. 21 GRCh normierten Diskriminierungsverbote nun „kraft Verweisung“ in Vertragsbeziehungen hinein.11 Der EuGH postuliert zudem eine noch umfassendere Einwirkung der EU-Grundrechte auf das unionsrechtlich determinierte Privatrecht, wie nicht zuletzt die Rechtssachen Kücükdeveci und Test-Achats verdeutlichen.12 GeneSo zuletzt etwa GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 18.7.2013 – Rs. C-176/12 (Association de médiation sociale), EU:C:2013:491 Rn. 28 ff. 10 Vgl. beispielsweise Erwägungsgrund Nr. 55 Zahlungskontenrichtlinie; Erwägungsgrund Nr. 33 Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000, ABl. 2003 L 338/1; Erwägungsgrund Nr. 121 Verordnung (EU) Nr. 806/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Juli 2014 zur Festlegung einheitlicher Vorschriften und eines einheitlichen Verfahrens für die Abwicklung von Kreditinstituten und bestimmten Wertpapierfirmen im Rahmen eines einheitlichen Abwicklungsmechanismus und eines einheitlichen Abwicklungsfonds sowie zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1093/2010, ABl. 2014 L 225/1. 11 Siehe oben Einleitung A IV. 12 Vgl. nur EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 22 ff. (diskriminierende Kündigungschutzregelung); EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C236/09 (Test-Achats), Slg. 2011, I-773 Rn. 16 ff. (Versicherungsvertragsrecht); EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 30 ff. (Betriebsüber9

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Kapitel 3 – Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell

ralanwältin Kokott fasst dies dahingehend zusammen, dass die in der Rechtsordnung der EU anerkannten Grundrechte „als Kontrollmaßstab für die Rechtmäßigkeit des innerstaatlichen Rechts angewandt“ werden können, wenn und soweit der Anwendungsbereich des Unionsrechts eröffnet ist.13 Gefährdet diese Einwirkung der Grundrechte die Eigenständigkeit des Privatrechts oder mündet sie gar in eine „Veröffentlichrechtlichung“ dieser Materie? Teilweise wird die Befürchtung geäußert, dass das Privatrecht und die Privatautonomie an Bedeutung verlören, da zivilrechtliche Fälle bei konsequenter Beachtung der Normenhierarchie direkt mithilfe von Grundrechtsnormen zu lösen seien.14 Bei näherer Betrachtung sind diese Sorgen unbegründet: Selbst im Fall einer weitreichenden Grundrechtsbindung werden das nationale wie unionale Privatrecht weder vollständig überlagert, geschweige denn überflüssig. Wie alles Primärrecht genießen die Unionsgrundrechte lediglich einen Anwendungsvorrang vor dem nationalen Zivilrecht, so dass letzteres vorrangig maßgeblich ist und nur im – seltenen – Fall der Unvereinbarkeit mit den Unionsgrundrechten unangewendet bleiben muss. 15 Allein gegenüber privatrechtlichen Unionsrechtsakten, z. B. in Gestalt von Richtlinien oder Verordnungen, kommt den EU-Grundrechten ein Geltungsvorrang dergestalt zu, dass die mit den Unionsgrundrechten unvereinbare Regelung nichtig ist. 16 Hier wie dort stecken die Grundrechte der EU einen äußeren Rahmen für das Zivilrecht ab und greifen nur bei einer Abweichung von den grundrechtlich gebotenen Gewährleistungen in das unionsrechtlich determinierte Privatgang); EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 67 ff. (Massenentlassungsrichtlinie). Vgl. auch schon EuGH Urt. v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981 Rn. 75 ff. (arbeitsvertragliche Befristung). 13 So mit Blick auf Art. 21 GRCh und den allgemeinen Grundsatz der Nichtdiskriminierung GA Kokott Schlussanträge v. 20.9.2012 – Rs. C-394/11 (Belov), EU:C:2012:585 Rn. 81 f. (Herv. d. Verf.). 14 In diese Richtung deutet z. B. Zöllner, AcP 196 (1996), 1, 7 ff., wenn er meint, mit der „mittelbaren Grundrechtswirkung“ habe die Privatrechtswissenschaft „dem Staatsrecht den kleinen Finger gegeben, für den es nun die ganze Hand fordert“. Vgl. auch Diederichsen, AcP 198 (1998), 171, 209 ff.; Kumm, GLJ 7 (2006), 341, 359. 15 Folglich bleibt nationales Privatrecht weiter wirksam, selbst wenn es gegen Unionsgrundrechte verstößt, siehe zur Pflicht, unionsrechtswidriges nationales Recht unangewendet zu lassen zuletzt z. B. EuGH Urt. v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981 Rn. 77; EuGH Urt. v. 22.12.2008 – Rs. C-414/07 (Magoora), Slg. 2008, I-10921 Rn. 44; EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 50 f. Gleichsinnig Jarass, in: Heiderhoff / Lohsse / Schulze (Hrsg.), EU-Grundrechte und Privatrecht (2016), S. 31, 39 ff. 16 EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 (Test-Achats), Slg. 2011, I-773 Rn. 31 ff.: „Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/113 […] ist mit den Art. 21 und 23 der Charta unvereinbar. Die Bestimmung ist daher nach Ablauf einer angemessenen Übergangszeit als ungültig anzusehen“. Siehe auch Jarass, in: Heiderhoff / Lohsse / Schulze (Hrsg.), EU-Grundrechte und Privatrecht (2016), S. 31, 38 f.

§ 1 Einwirkungsachsen im Privatrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten

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recht ein.17 Dass dieser Rahmen weit gezogen ist, zeigt sich schon darin, dass grundrechtliche Wertungen in aller Regel viel zu unspezifisch sind, um in privatrechtlichen Konstellationen ein einzig richtiges Ergebnis en détail vorzugeben: Hier bedarf es zwingend weiterhin der Normen des Privatrechts, um konkrete und vorhersehbare Entscheidungen zu ermöglichen.18 Dabei werden von der Warte der Grundrechte zumeist verschiedene Lösungen eines zivilrechtlichen Falls und damit auch unterschiedliche Gestaltungen der Privatrechtsordnung hinnehmbar sein.19 Insoweit lässt sich die Argumentation des Generalanwalts Poiares Maduro zu den Grundfreiheiten auch auf die Privatrechtswirksamkeit der Unionsgrundrechte übertragen: Ebenso wenig wie die Verkehrsfreiheiten des Binnenmarktes enthalten die EU-Grundrechte „eine spezifische Lösung für jeden Fall, sondern ziehen lediglich bestimmte Grenzen, in deren Rahmen ein Konflikt zwischen zwei Privatrechtssubjekten gelöst werden kann. Dies hat eine wichtige Folge: Selbst in Fällen, die in ihren Geltungsbereich fallen, treten die Bestimmungen […] nicht an die Stelle des innerstaatlichen Rechts, das den einschlägigen normativen Rahmen für die Beurteilung von Streitigkeiten zwischen privaten Akteuren bildet. Vielmehr bleibt es den Mitgliedstaaten unbenommen, das Verhalten Privater zu regeln, solange sie dabei die Grenzen beachten, die ihnen das [Unions]recht setzt“.20

Nur in Ausnahmefällen – und namentlich mit Blick auf bestimmte Facetten des Diskriminierungsverbots in Art. 21, 23 GRCh – geht der EuGH davon aus, dass ein Unionsgrundrecht auch in privatrechtlichen Beziehungen „dem Einzelnen ein subjektives Recht verleiht, das er als solches geltend machen kann“.21 Hierzu dürfte beispielsweise das durch Art. 23 GRCh nun auch grundrechtlich fundierte Verbot der Entgeltdiskriminierung zählen, zumal der Gerichtshof dessen Privatrechtswirksamkeit bereits im Rahmen des Art. 157 AEUV ausdrücklich bejaht hat.22 Beim derzeitigen Stand der Rechtsentwicklung kann es damit nicht mehr um die Frage gehen, ob, sondern vielmehr auf welche Weise und in welchem

Dies erfasst Canaris, Grundrechte und Privatrecht (1999), S. 50 im Kontext der deutschen Rechtsordnung als eine Frage des sogenannten Untermaßverbots. 18 Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 492. 19 Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 492. 20 GA Poiares Maduro Schlussanträge v. 23.5.2007 – Rs. C-438/05 (Viking), Slg. 2007, I-10779 Rn. 50 f. 21 Siehe zum Verbot der Diskrimimierung auf Grund des Alters EuGH Urt. v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 (Association de médiation sociale), EU:C:2014:2 Rn. 47 unter Verweis auf EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 50 ff. 22 Siehe zur Einwirkung des Verbots der Entgeltdiskriminierung auf privatrechtliche Arbeitsverträge mit Nicht-Hoheitsträgern nur EuGH Urt. v. 6.10.1993 – Rs. C-109/91 (Ten Över), Slg. 1993, I-4879 Rn. 11 ff.; EuGH Urt. v. 28.9.1994 – Rs. C-200/91 (Coloroll), Slg. 1994, I-4389 Rn. 18 ff. 17

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Kapitel 3 – Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell

Umfang die EU-Grundrechte das Privatrecht im Anwendungsbereich des Unionsrechts beeinflussen. II. Unionsgrundrechtliche Triebfedern der Privatrechtswirkung Die Privatrechtswirkungen der Vertragsfreiheit entfalten sich entlang der Funktionen dieses Grundrechts, welche wiederum durch unionsrechtlichautonome Auslegung zu ermitteln sind.23 In der Unionsrechtsordnung dient die Vertragsfreiheit nicht nur der Abwehr hoheitlicher Eingriffe (1), sondern erlegt der EU und ihren Mitgliedstaaten auch Leistungs- und insbesondere Schutzpflichten auf (2). Die Adressaten unionaler Vertragsfreiheit sind namentlich zur Bereitstellung „grundrechtsnotwendiger oder -fördernder Institutionen“ gehalten.24 Schließlich ist auch die objektiv-rechtliche Dimension der Vertragsfreiheit in den Blick zu nehmen (3). 1. Abwehrgrundrecht Die unionale Vertragsfreiheit ist zuvörderst ein Abwehrrecht, welches allen grundrechtsverpflichteten Hoheitsträgern gebietet, ungerechtfertigte Eingriffe in grundrechtlich geschützte Bereiche zu unterlassen.25 Diese von Georg Jellinek26 als „negativer Status (status libertatis)“ beschriebene Abwehrfunktion klingt auch in Art. 51 Abs. 1 S. 2 GRCh an, da die EU und die Mitgliedstaaten ausweislich dieser Norm verpflichtet sind, die Unionsgrundrechte zu achten.27 Soweit der Gewährleistungsgehalt der unionalen Vertragsfreiheit reicht, haben die Union und – im Anwendungsbereich des EU-Rechts – auch ihre Mitgliedstaaten diese Freiheitssphäre zu respektieren.28 Entsprechend mag z. B. zu prüfen sein, ob eine vertragsrechtliche Regelung der Union oder ihrer Mitgliedstaaten „die Privatautonomie […] über Gebühr beschränkt und damit das gemeinschaftsrechtliche Übermaßverbot verletzt“.29

23 Statt aller Wollenschläger, in: Hatje / Müller-Graff (Hrsg.), EnzEuR I: Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht (2014), § 8 Rn. 45. 24 In diesem Sinne zu den Unionsgrundrechten allgemein Cornils, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 5 Rn. 52. Vgl. auch Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte (2005), S. 666 ff. 25 Siehe zu Art. 16 GRCh nur Cremer, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 1 Rn. 70. Vgl. statt vieler auch Schwarze / Hatje (2012), Art. 51 GRCh Rn. 24; Jarass (2016), Art. 51 GRCh Rn. 37. 26 Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte (1892), S. 82. 27 Jarass (2016), Art. 51 GRCh Rn. 37. 28 Vgl. zum Schutzbereich erneut oben Kapitel 2 § 3. 29 Hess, JZ 2005, 540, 548. Siehe z. B. auch Jarass, in: Heiderhoff / Lohsse / Schulze (Hrsg.), EU-Grundrechte und Privatrecht (2016), S. 31, 38 ff.

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2. Schutzpflichtdimensionen unionaler Vertragsfreiheit Im Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte sind die EU und ihre Mitgliedstaaten ausweislich der Erläuterungen zur GRCh darüber hinaus zur „Förderung“ dieser Grundrechte verpflichtet.30 Hier klingt bereits an, dass die Unionsgrundrechte – und damit auch die unionale Vertragsfreiheit – neben einer rein negierenden, Eingriffe abwehrenden Funktion auch eine Leistungsdimension umfassen, die ein positives Tätigwerden der Grundrechtsverpflichteten gebieten mag. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass grundrechtliche Freiräume auch auf andere Weise als durch hoheitliche Eingriffe, etwa durch Handlungen anderer Privater, verkürzt werden können.31 In solchen Konstellationen ist zu fragen, ob die Union und ihre Mitgliedstaaten intervenieren müssen, um sicherzustellen, dass sich die Unionsgrundrechte voll entfalten können. Diese Grundrechtsfunktion wird mit dem Begriff der Schutzpflichtendimension beschrieben.32 Das Konzept der Schutzpflichten ist dem Unionsrecht aus anderem Zusammenhang wohlbekannt: Der EuGH hat wiederholt eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten statuiert, im Interesse der ungehinderten Wahrnehmung von Verkehrsfreiheiten des Binnenmarktes die Rechtsgüter von Privatpersonen vor Übergriffen durch andere Private zu schützen.33 So stellte der Gerichtshof in der Rechtssache Kommission/Frankreich mit Blick auf die Warenverkehrsfreiheit heraus: „Artikel 30 verbietet den Mitgliedstaaten somit nicht nur eigene Handlungen oder Verhaltensweisen, die zu einem Handelshemmnis führen könnten, sondern verpflichtet sie […] auch dazu, alle erforderlichen und geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um in ihrem Gebiet die Beachtung dieser Grundfreiheit sicherzustellen […]. Folglich ist festzustellen, daß die Französische Republik dadurch gegen die Verpflichtungen aus Artikel 30 […] verstoßen hat, daß sie nicht alle erforderlichen und angemessenen Maßnahmen ergriffen hat, damit der freie Warenverkehr mit Obst und Gemüse nicht durch Handlungen von Privatpersonen beeinträchtigt wird“.34

Impulse für eine Schutzpflichtendimension der Unionsgrundrechte gehen zudem von der EMRK aus: Der EGMR bejaht in ständiger Rechtsprechung „positive obligations“, welche die Konventionsstaaten verpflichten, die Grundrechte Erläuterungen zur Charta, ABl. 2007 C 303/17, 32. Dazu statt vieler Jarass (2016), Art. 51 GRCh Rn. 5 f.; Cremer, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 1 Rn. 77. 31 Statt aller Jarass (2016), Art. 51 GRCh Rn. 41: „Von besonderer Bedeutung ist der Schutz der Grundrechtsausübung vor Behinderungen durch Privatpersonen“. 32 Zu den Unionsgrundrechten statt aller Wollenschläger, in: Hatje / Müller-Graff (Hrsg.), EnzEuR I: Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht (2014), § 8 Rn. 45. 33 EuGH Urt. v. 9.12.1997 – Rs. C-265/95 (Kommission / Frankreich), Slg. 1997, I6959 Rn. 32 ff.; EuGH Urt. v. 12.6.2003 – Rs. C-112/00 (Schmidberger), Slg. 2003, I-5659 Rn. 57 ff. Dazu statt aller Wollenschläger, EuZW 2014, 577, 579. 34 EuGH Urt. v. 9.12.1997 – Rs. C-265/95 (Kommission / Frankreich), Slg. 1997, I6959 Rn. 32 und 66 (Herv. d. Verf.). 30

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auch gegen Beeinträchtigungen durch nicht grundrechtsgebundene Dritte zu schützen.35 Da die Unionsgrundrechte der Charta gemäß Art. 52 Abs. 3 GRCh im Gleichklang mit korrespondierenden Grundrechten der EMRK auszulegen und anzuwenden sind, finden diese Schutzpflichten insoweit Eingang in die Unionsrechtsordnung. 36 Aber auch über den Einflussbereich der EMRK hinaus haben der EuGH und seine Generalanwälte bereits angedeutet, dass die Unionsgrundrechte eine Schutzpflichtendimension umfassen können. 37 Für diese Lesart spricht, dass die Mitgliedstaaten gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV stets „die volle Anwendung des Unionsrechts […] und den Schutz der Rechte […] gewährleisten [müssen], die den Einzelnen aus diesem Recht erwachsen“.38 Grundlegend zu „positive obligations“ EGMR Urt. v. 13.6.1979 – Nr. 6833/74 (Marckx / Belgien), Rn. 31; EGMR Urt. v. 9.10.1979 – Nr. 6289/73 (Airey / Irland), Rn. 32. Zuletzt deutlich mit Blick auf die (negative) Vereinigungsfreiheit nach Art. 11 EMRK etwa EGMR Urt. v. 18.11.2012 – Nr. 52562/99 u. a. (Sørensen u. a./Danmark), Rn. 57: „[N]ational authorities may in certain circumstances be obliged to intervene in the relationship between private individuals by taking reasonable and appropriate measures to secure the effective enjoyment of those rights“. Das Konzept der „positive obligations“ entspricht im Wesentlichen dem der Schutzpflichten, obschon „positive obligations“ teilweise weiter verstanden werden, dazu statt vieler Breuer, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 7 Rn. 19 ff. m. w. N. 36 Vgl. nur EuGH Urt. v. 9.11.2010 – verb. Rs. C-92/09 u. a. (Schecke u. a.), Slg. 2010 I-11063 Rn. 51 f. So auch ausdrücklich GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C282/10 (Dominguez), EU:C:2011:559 Rn. 81 ff.; GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 18.7.2013 – Rs. C-176/12 (Association de médiation sociale), EU:C:2013:491 Rn. 36. Wie hier z. B. Seifert, EuZW 2011, 696, 701; Herresthal, ZEuP 2014, 238, 256; Cremer, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 1 Rn. 80; Fornasier, ERPL 23 (2015), 29, 39 f. 37 Beispielsweise sieht GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 12.12.2013 – Rs. C-293/12 (Digital Rights Ireland), EU:C:2013:845 Rn. 123 und 115 ff. sowohl den Unionsgesetzgeber als auch die Mitgliedstaaten als Adressaten umfassender grundrechtlicher Schutzpflichten: Zum einen habe die Union „Schutzmaßnahmen“ zu definieren, um Verkürzungen der unionsgrundrechtlich geschützten Sphäre zu verhindern. Zum anderen seien auch die nationalen Gesetzgeber verpflichtet, „dafür zu sorgen, dass die auf ihre eigene Initiative erlassenen Rechtsvorschriften, die zu einer Einschränkung der Grundrechte führen, alle notwendigen Schutzmaßnahmen umfassen“. Vgl. sodann auch EuGH Urt. v. 8.4.2014 – verb. Rs. C-293/12 u. a. (Digital Rights Ireland u. a.), EU:C:2014:238 Rn. 42. Siehe ferner nur GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C:2011: 559 Rn. 81 ff.; GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 18.7.2013 – Rs. C-176/12 (Association de médiation sociale), EU:C:2013:491 Rn. 36. Vgl. zur „grundlegenden staatlichen Schutzpflicht“ des Gesundheitsschutzes auch GA Trstenjak Schlussanträge v. 21.6.2007 – Rs. C-319/05 (Kommission / Deutschland), Slg. 2007, I-9816 Rn. 35. Wie hier im Ergebnis Wollenschläger, in: Hatje / Müller-Graff (Hrsg.), EnzEuR I: Europäisches Organisationsund Verfassungsrecht (2014), § 8 Rn. 47. Zurückhaltender Calliess / Ruffert / Kingreen (2016), Art. 51 GRCh Rn. 26 ff. 38 EuGH Gutachtenverfahren v. 8.3.2011 – Gutachten 1/09 (Einheitliches Patentgerichtssystem), Slg. 2011, I-1137 Rn. 68. Siehe zuvor nur EuGH Urt. v. 9.3.1978 – Rs. 106/ 35

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Dies gilt insbesondere auch für die Grundrechte der GRCh und die ungeschriebenen Unionsgrundrechte im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV: Aus Art. 21 GRCh hat der EuGH nun ausdrücklich unionsgrundrechtliche Schutzpflichten in privatrechtlichen Streitigkeiten abgeleitet und ausgeführt, dass das „Verbot der Diskriminierung wegen des Alters dem Einzelnen ein subjektives Recht verleiht, das er als solches geltend machen kann und das die nationalen Gerichte auch in Rechtsstreitigkeiten zwischen Privatpersonen verpflichtet“.39

Die unionale Vertragsfreiheit kann als EU-Grundrecht ebenfalls solche Schutzpflichten begründen,40 wobei deren genauer Inhalt und methodische Einwirkung auf das Privatrecht an späterer Stelle noch eingehend zu beleuchten ist.41 3. Grundrechtsnotwendige Institutionen und objektiv-rechtliche Dimension Die rechtsgeschäftliche Privatautonomie kommt nicht ohne die Bereitstellung „grundrechtsnotwendiger [und] -fördernder Institutionen“ aus.42 Namentlich bedarf das Unionsgrundrecht der Vertragsfreiheit rechtlicher Rahmenbedingungen, welche die Ausübung dieser Freiheit in all ihren Facetten ermöglichen, begünstigen und sie gegen etwaige Beeinträchtigungen abschirmen. Das Unionsgrundrecht der Vertragsfreiheit erfordert damit insbesondere, dass

77 (Simmenthal), Slg. 1978, 629 Rn. 21 f.; EuGH Urt. v. 13.3.2007 – Rs. C-432/05 (Unibet), Slg. 2007, I-2271 Rn. 38; EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 45. 39 EuGH Urt. v. 19.4.2016 – Rs. C-441/14 (Dansk Industri), EU:C:2016:278 Rn. 36 (Herv. d. Verf.). Diese Forumlierung des EuGH erinnert an BVerfG Beschl. v. 7.2.1990 – Az. 1 BvR 26/84, BVerfGE 81, 242, 256: „Der […] Schutzauftrag […] richtet sich hier an den Richter, der den objektiven Grundentscheidungen der Grundrechte […] mit den Mitteln des Zivilrechts Geltung zu verschaffen hat“. Siehe bereits vor der Dansk IndustriEntscheidung z. B. EuGH Urt. v. 8.9.2011 – verb. Rs. C-297/10 u. a. (Hennings und Mai), Slg. 2011, I-7965 Rn. 46 f.; EuGH Urt. v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 (Association de médiation sociale), EU:C:2014:2 Rn. 47 sowie mit Blick auf das Verbot der Altersdiskriminierung als allgemeinem Grundsatz i. S. d. Art. 6 Abs. 3 EUV auch EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 50 f. und 45 ff. Vgl. zur Bedeutung des Art. 6 Abs. 3 EUV bei der Begründung von Schutzpflichten im Kontext der Grundfreiheiten schließlich etwa EuGH Urt. v. 9.12.1997 – Rs. C-265/95 (Kommission / Frankreich), Slg. 1997, I-6959 Rn. 32 und 66. Wie hier Lang, in: Bernitz / Groussot / Schulyko (eds.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), S. 65, 113 f. 40 So mit Blick auf Art. 16 GRCh auch Frenz, Handbuch Europarecht IV: Europäische Grundrechte (2009), Rn. 2767; Grabenwarter, in: ders. (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 13 Rn. 48. 41 Siehe sogleich unten III sowie sodann Kapitel 4 § 1 B II. 42 In diesem Sinne zu den Unionsgrundrechten allgemein Cornils, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 5 Rn. 52, der solche Handlungs- und Schutzpflichten umfassenden Rechte als „Ausgestaltungsgrundrechte“ einordnet, siehe dazu auch Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte (2005), S. 494 ff.

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der Vertrag als rechtliche Handlungsform existiert und durch vertragsrechtliche Regelungen im Recht der EU und ihrer Mitgliedstaaten flankiert wird. So ist die Vertragsfreiheit unionaler Provenienz beispielswesie auf privatrechtliche Normen betreffend den Abschluss, die Änderung und die Aufhebung von Verträgen angewiesen.43 Zu den Vertragsfreiheit ermöglichenden und damit durch das Unionsgrundrecht der Vertragsfreiheit gebotenen Vorschriften zählen darüber hinaus diejenigen Bestimmungen des Privat- und Prozessrechts, welche die Durchsetzung von Verträgen regeln.44 Erforderlich ist damit zum einen die Bereitstellung eines Instrumentariums im Privatrecht der Union und ihrer Mitgliedstaaten zur Durchsetzung der jeweiligen vertraglichen Verpflichtungen. Zum anderen muss insbesondere auch die Klag- und Vollstreckbarkeit der vertraglichen Ansprüche gewährleistet sein.45 Entsprechend stellt auch der EuGH mit Blick auf alle rechtsverbindlichen vertraglichen Verpflichtungen im Anwendungsbereich des Unionsrechts heraus, dass „ihre Erfüllung einklagbar sein“ muss.46 Aus dem Unionsgrundrecht der Vertragsfreiheit folgt somit, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten entsprechende Rechtsinstitute bereitstellen müssen und sie auch nicht wieder beseitigen oder aushöhlen dürfen.47 Dies gilt insbesondere für diejenigen Elemente, die den Kernbereich dieser Freiheit betreffen: So muss die Entscheidung über das „Ob“ und das „Wie“ der Setzung von Rechtsfolgen mit selbst gewählten Partnern grundsätzlich frei sein. 48 Soweit der Anwendungsbereich des Unionsgrundrechts reicht, steckt es auf diese Weise einen – weit gezogenen und durch umfassende Ausgestaltungsspielräume gekennzeichneten – äußeren Rahmen, innerhalb dessen sich der Unionsgesetzgeber und die Mitgliedstaaten bewegen müssen. Insofern kann man von einer aus der unionalen Vertragsfreiheit fließenden Einrichtungs- oder 43 Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 441 formuliert in diesem Zusammenhang „Rechte auf privatrechtliche Kompetenzen“ und definiert Letztere als „Rechte gegenüber dem Staat darauf, dass der Staat Normen zur Verfügung stellt, die für privatrechtliche Rechtshandlungen […] konstitutiv sind“. 44 Vgl. dazu näher unten Kapitel 5 § 1 B, Kapitel 6 § 1 und Kapitel 7 § 1 B. Siehe allgemein nur Höfling, Vertragsfreiheit (1991), S. 22 sowie 31; M.-P. Weller, Die Vertragstreue (2009), S. 173 ff. 45 Insoweit tritt die unionale Vertragsfreiheit neben den allgemeinen Justizgewährleistungsanspruch, vgl. M.-P. Weller, Die Vertragstreue (2009), S. 180 ff. 46 Mit Blick auf einen dem unionalen Vergaberecht unterliegenden Bauvertrag führt EuGH Urt. v. 25.3.2010 – Rs. C-451/08 (Müller), Slg. 2010, I-2673 Rn. 62 darüber hinaus aus: „Mangels einer Regelung im Unionsrecht sind die Modalitäten für die Erfüllung solcher Verpflichtungen im Einklang mit dem Grundsatz der Autonomie dem nationalen Recht überlassen“. 47 Vgl. zu dieser Grundrechtsdimension Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 441 und 220 ff. 48 Siehe zum Kernbereich der unionalen Vertragsfreiheit erneut oben Kapitel 2 § 3 A II. Wie hier auch M.-P. Weller, Die Vertragstreue (2009), S. 174 f.

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Institutsgarantie sprechen.49 Diese objektiv-rechtliche Dimension der Vertragsfreiheit ist dabei nicht vom subjektiv-rechtlichen Charakter dieses Grundrechts entkoppelt, sondern folgt aus der Summe aller individuellen Berechtigungen: Sämtliche Grundrechtsträger in der Union haben gegenüber den grundrechtsverpflichteten Hoheitsträgern ein Recht darauf, dass privatrechtliche Normen existieren, welche die durch das Grundrecht der Vertragsfreiheit garantierten Verhaltensweisen ermöglichen.50 Die so verstandene institutionelle Dimension der Vertragsfreiheiheit müssen die EU und ihre Mitgliedstaaten bei der Rechtsetzung und -anwendung im Geltungsbereich des Unionsrechts stets beachten.51 Die Konzeption der Unionsgrundrechte als „Elemente einer werteorientierten Gesamtrechtsordnung“52 klingt auch in der EuGH-Judikatur an,53 und Generalanwalt Cruz Villalón betont, dass ein „Zivilgericht bei seiner Rechtsfindung“ im Anwendungsbereich des Unionsrechts nicht „ignorieren darf, dass die Charta existiert“, da sie – jedenfalls als Wertekanon – „auch in einem zivilrechtlichen Verfahren Wirkungen entfaltet“.54 III. Methodische Einwirkungsebenen Die Vertragsfreiheit kann als Unionsgrundrecht zunächst Ausgestaltungsvorgaben bei der Rechtsetzung durch die Union und die Mitgliedstaaten enthalten (1). Zudem sind Unionsrechtsakte und – im Anwendungsbereich des EU49 Cremer, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 1 Rn. 88. 50 Vgl. zu dieser Lesart der Institutsgarantie erneut Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 441 ff. Die subjektiv-rechtliche Dimension der Unionsgrundrechte betont z. B. EuGH Urt. v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 (Association de médiation sociale), EU:C:2014:2 Rn. 47: Der Gerichtshof geht namentlich davon aus, dass „das in Art. 21 Abs. 1 der Charta niedergelegte Verbot der Diskriminierung wegen des Alters […] schon für sich allein dem Einzelnen ein subjektives Recht verleiht“. 51 Im Ergebnis ebenso Herresthal, ZEuP 2014, 238, 257. 52 Herresthal, ZEuP 2014, 238, 257. 53 EuGH Urt. v. 3.9.2014 – Rs. C-201/13 (Deckmyn), EU:C:2014:2132 Rn. 30 verweist nationale Zivilgerichte bei der Beurteilung, ob eine Parodie im Sinne des Art. 5 Abs. 3 Buchst. k Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft, ABl. 2001 L 167/10, vorliegt, gerade allgemein „auf die Bedeutung des Verbots der Diskriminierung aufgrund der Rasse, der Hautfarbe oder der ethnischen Herkunft […], wie es […] insbesondere in Art. 21 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union bestätigt worden ist“ (Herv. d. Verf.). 54 Vgl. GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 22.5.2014 – Rs. C-201/13 (Deckmyn), EU:C:2014:458 Rn. 84. Weitergehend Ritter, NJW 2012, 1549 ff.; M. Stürner, in: Collins, Hugh (ed.), European contract law and the Charter of Fundamental Rights (2017), S. 33, 36 ff. Siehe zu dieser Dimension der unionalen Vertragsfreiheit noch eingehend unten Kapitel 5 § 2 C I.

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Rechts – auch mitgliedstaatliche Rechtsakte stets unionsgrundrechtskonform auszulegen und anzuwenden (2). Dieses Gebot wird durch eine Vorlageverpflichtung zum EuGH flankiert. Schließlich folgt aus der Schutzpflichtendimension unionaler Vertragsfreiheit, dass diese Freiheit mittelbare horizontale Drittwirkung in Privatrechtsbeziehungen entfalten kann (3). 1. Ausgestaltungsvorgaben bei der Rechtsetzung „Es steht außer Frage, dass […] jeder Rechtsakt der Union, grundrechtskonform umgesetzt werden muss“.55 Demnach dürfen der unionale und, soweit der Anwendungsbereich des EU-Rechts eröffnet ist, der nationale Gesetzgeber die Vertragsfreiheit nicht ungerechtfertigt oder in unverhältnismäßiger Weise bei der Rechtsetzung verkürzen.56 Dies folgt aus der Abwehrdimension der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie.57 Die Gesetzgebung muss zugleich ihre unionsgrundrechtlichen Leistungspflichten erfüllen und alle Rechtsinstitute bereithalten, die zur Ausübung und Entfaltung der Vertragsfreiheit unverzichtbar sind.58 Im Geltungsbereich des Unionsrechts treffen die EU und ihre Mitgliedstaaten schließlich unionsgrundrechtliche Schutzpflichten, die eine gesetzgeberische Intervention in Konstellationen gebieten können, in denen die Ausübung und Verwirklichung der unionalen Vertragsfreiheit auf andere Weise als durch hoheitliche Maßnahmen bedroht wird.59 Diese Ausgestaltungsvorgaben lassen sich dahingehend zusammenfassen, dass die unionale Vertragsfreiheit als Abwehrgrundrecht ein Übermaßverbot, die Leistungs- und Schutzdimension der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie hingegen ein Untermaßverbot enthält. Demnach müssen der Unionsgesetzgeber und die EU-Mitgliedstaaten im Anwendungsbreich des Unionsrechts stets die Vertragsfreiheit schonende und fördernde Regelungsinstrumente wählen.60 55 So im Kontext der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000, ABl. 2003 L 338/1, GA Bot Schlussanträge v. 7.12.2010 – Rs. C-491/10 (Aguirre Zarraga), Slg. 2010, I-14247 Rn. 69. Siehe auch Jarass (2016), Einl. GRCh Rn. 53 und Art. 51 GRCh Rn. 33. 56 Vgl. zu einem von vornherein unionsgrundrechtswidrigen Sekundärrechtsakt nur EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 (Test-Achats), Slg. 2011, I-773 Rn. 16 ff. 57 Vgl. oben II 1. 58 Vgl. oben II 3. 59 Vgl. oben II 2. 60 Wie bereits dargelegt – siehe oben Kapitel 2 § 3 B II 1 –, ist die Union z. B. auch beim Erlass und bei der Auslegung von Öffnungsklauseln in mindestharmonisierenden Richtlinien des Unionsprivatrechts verpflichtet, die Unionsgrundrechte zu wahren: EuGH Urt. v. 27.6.2006 – Rs. C-540/03 (Parlament / Rat), Slg. 2006, I-5809 Rn. 23 stellt daher treffend heraus, „dass eine [unionsrechtliche] Bestimmung […] als solche die Grundrechte

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2. Durch Vorlageverpflichtung flankierte unionsgrundrechtskonforme Auslegung und Rechtsanwendung Der EuGH sieht die Union ebenso wie ihre „Mitgliedstaaten zu[r] grundrechtskonforme[n] Auslegung und Anwendung“ von Unionsrechtsakten verpflichtet.61 Da die Unionsgrundrechte gemäß Art. 6 Abs. 1 EUV auf Ebene der Verträge stehen, handelt es sich bei der grundrechtskonformen um eine Facette der primärrechtskonformen Auslegung.62 Dabei sind die Unionsgrundrechte aufgrund ihrer besonderen Dignität durchaus auch als Auslegungsmaßstab für das übrige Primärrecht heranzuziehen: So hat der EuGH die Grundfreiheiten und namentlich Art. 56 AEUV bereits „im Licht des Grundrechts auf Achtung des Familienlebens“ interpretiert.63 Vor diesem Hintergrund will Generalanwältin Sharpston die aus der Unionsbürgerschaft nach Art. 20, 21 AEUV fließenden Gewährleistungen nun ebenfalls unionsgrundrechts- und insbesondere chartakonform auslegen.64 Weil alle EU-Rechtsakte dem Gebot der Grundrechtskonformität unterliegen,65 können die Unionsgrundrechte missachtet, wenn sie den Mitgliedstaaten […] gestattet, nationale Gesetze zu erlassen oder beizubehalten, die die Grundrechte missachten“. Dies wirkt sich potenziell auch auf die – nach Art. 8 Klauselrichtlinie grundsätzlich zulässige – überschießende Umsetzung der Klauselrichtlinie und namentlich bei der pauschalen Inhaltskontrolle von Individualvereinbarungen und Hauptleistungspflichten aus, siehe hierzu umfassend unten Kapitel 7 § 2. 61 Z. B. EuGH Urt. v. 21.12.2011 – verb. Rs. C-411/10 u. a. (N.S.), Slg. 2011, I-13905 Rn. 99. 62 Z. B. EuGH Urt. v. 31.1.2013 – Rs. C-12/11 (McDonagh), EU:C:2013:43 Rn. 44: „Es muss jedoch gesichert sein, dass diese Auslegung nicht […] der Grundrechtecharta zuwiderläuft. Nach einem allgemeinen Auslegungsgrundsatz ist nämlich ein Unionsrechtsakt […] im Einklang mit dem gesamten Primärrecht auszulegen“ (Herv. d. Verf.). 63 EuGH Urt. v. 11.7.2002 – Rs. C-60/00 (Carpenter), Slg. 2002, I-6279 Rn. 46; EuGH Urt. v. 12.3.2014 – Rs. C-457/12 (S), EU:C:2014:136 Rn. 37 ff. 64 GA Sharpston Schlussanträge v. 12.12.2013 – Rs. C-457/12 (S), EU:C:2013:842 Rn. 62 f.: „Die sich aus der Unionsbürgerschaft ergebenden Rechte aus den Art. 20 AEUV und 21 AEUV sind daher so auszulegen, dass ihr Wesensgehalt „chartakonform“ gewährleistet wird […]. Bei diesem Ansatz wird der Anwendungsbereich des Unionsrechts nicht „ausgeweitet“ und daher die Zuständigkeitsverteilung zwischen der Union und den sie konstituierenden Mitgliedstaaten nicht verletzt. Es wird lediglich dem übergeordneten Grundsatz Rechnung getragen, dass in einer Rechtsunion bei der Auslegung einer zu dieser Rechtsordnung gehörenden Bestimmung sämtliche einschlägigen Rechtsnormen (selbstverständlich einschließlich des einschlägigen Primärrechts in Gestalt der Charta) zu berücksichtigen sind“. 65 Laut EuGH Urt. v. 11.9.2014 – Rs. C-112/13 (A), EU:C:2014:2195 Rn. 51 „sind die Bestimmungen des Unionsrechts wie die der Verordnung Nr. 44/2001 im Licht der Grundrechte auszulegen, die nach ständiger Rechtsprechung zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat, und nun in der Charta verankert sind“. Siehe zur unionsgrundrechtskonformen Auslegung und Anwendung von Sekundärrechtsakten ferner nur EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 (Test-Achats), Slg. 2011, I-773 Rn. 16 ff.; EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 30 ff.

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über die jeweilige Spielart der unionsrechtskonformen Auslegung in das nationale Recht hineinwirken.66 Anders gewendet impliziert also jede unionsrechtskonforme zugleich eine unionsgrundrechtskonforme Auslegung. Auch unionale Rechtsakte, welche die Rechtsbeziehungen zwischen Privaten regeln, müssen im Einklang mit den Unionsgrundrechten interpretiert und angewendet werden.67 Im Unionsprivatrecht betrifft dies zuvörderst Sekundärrechtsakte, wie Verordnungen und Richtlinien.68 Doch wie geht diese Form der Grundrechtseinwirkung auf das unionale und nationale Privatrecht vonstatten? Eindeutig fällt die Antwort bei unmittelbar anwendbaren Verordnungen im Bereich des EU-Privatrechts aus: Der Rechtsakt ist von allen Stellen der Union und der Mitgliedstaaten im Lichte der Unionsgrundrechte auszulegen und anzuwenden. Komplexer ist die Situation hingegen, wenn eine Richtlinie noch der Umsetzung in das mitgliedstaatliche Recht bedarf. Hier wäre zunächst denkbar, dass nur die Richtlinie selbst unionsgrundrechts-, das der Umsetzung dienende natio-nale (Privat)Recht dagegen richtlinienkonform interpretiert und angewendet werden muss.69 Dies hätte zur Folge, dass die für die richtliIm Ergebnis ebenso Herresthal, ZEuP 2014, 238, 275 f.; Leible / Domröse, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre (2015), § 8 Rn. 41; Jarass (2016), Einl. GRCh Rn. 53, 58 und Art. 51 GRCh Rn. 34. Vgl. auch T. Möllers, GS Wolf (2011), S. 669 ff.; Jarass, NVwZ 2012, 457, 460. Siehe zu den unterschiedlichen Spielarten der unionsrechtskonformen Auslegung erneut nur W.-H. Roth / Jopen, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre (2015), § 13 Rn. 9 f. 67 Siehe zum EU-Privatrecht nur GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C282/10 (Dominguez), EU:C:2011:559 Rn. 83, die hervorhebt, dass „die grundrechtskonforme Auslegung auch bei privatrechtlichen Vorschriften zum Tragen“ kommt. Siehe hierzu auch Jarass, in: Heiderhoff / Lohsse / Schulze (Hrsg.), EU-Grundrechte und Privatrecht (2016), S. 31, 41 ff. Ebenso stellt GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 22.5.2014 – Rs. C-201/13 (Deckmyn), EU:C:2014:458 Rn. 79 heraus, „dass die ständige Rechtsprechung, wonach das abgeleitete Unionsrecht im Einklang mit dem primären Recht einschließlich der Charta auszulegen ist, auch dann gilt, wenn es um eine Vorschrift des abgeleiteten Rechts geht, die zwischen Einzelnen anwendbar ist“. Gleichsinnig EuGH Urt. v. 3.9.2014 – Rs. C-201/13 (Deckmyn), EU:C:2014:458 Rn. 30 und 35. Vgl. zu Fragen des Datenschutzes in privatrechtlichen Beziehungen ferner nur EuGH Urt. v. 13.5.2014 – Rs. C-131/12 (Google), EU:C:2014:317 Rn. 68; EuGH Urt. v. 11.12.2014 – Rs. C-212/13 (Ryneš), EU:C:2014:2428 Rn. 29. 68 EuGH Urt. v. 9.11.2010 – verb. Rs. C-92/09 u. a. (Schecke u. a.), Slg. 2010, I-11063 Rn. 46; EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 (Test-Achats), Slg. 2011, I-773 Rn. 32.; EuGH Urt. v. 27.9.2012 – Rs. C-179/11 (Cimade und GISTI), EU:C:2012:594 Rn. 42; EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 30; EuGH Urt. v. 11.12.2014 – Rs. C-212/13 (Ryneš), EU:C:2014:2428 Rn. 29; EuGH Urt. v. 13.5.2014 – Rs. C-131/12 (Google), EU:C:2014:317 Rn. 68. 69 Dafür Leible / Domröse, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre (2015), § 8 Rn. 41. In diese Richtung mag auch EuGH Urt. v. 29.1.2008 – Rs. C-275/06 (Promusicae), Slg. 2008, I-271 Rn. 68 deuten: „Es ist daher Sache der Mitgliedstaaten, bei der Umsetzung der genannten Richtlinien darauf zu achten, dass sie sich auf eine Auslegung derselben stützen, die es ihnen erlaubt, ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den verschiedenen 66

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nienkonforme Auslegung relevanten Grenzen zu beachten wären.70 Versteht man die Pflicht zur unionsgrundrechtskonformen Auslegung und Anwendung hingegen umfassend, so müssten sowohl der Sekundärrechtsakt als auch sämtliche nationalen Normen des Privatrechts, die in den Geltungsbereich des Unionsrechts gelangen, selbst direkt und umfassend an den Unionsgrundrechten gemessen werden.71 Entscheidend gegen eine ausschließlich über die richtlinienkonforme Auslegung vermittelte Privatrechtswirksamkeit der EUGrundrechte streitet, dass der Gerichtshof wiederholt Vorschriften des sekundärrechtlich fundierten nationalen Privatrechts für unanwendbar gehalten hat, weil sie mit Unionsgrundrechten unvereinbar waren.72 Überdies geht der Gerichtshof gerade davon aus, dass die Grundrechte der Union im Anwendungsbereich des EU-Rechts lückenlos zu beachten sind.73 Da jedenfalls das der Umsetzung einer Richtlinie dienende mitgliedstaatliche Privatrecht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt,74 ist es demnach direkt an den durch die Gemeinschaftsrechtsordnung geschützten Grundrechten sicherzustellen. Bei der Durchführung der Maßnahmen zur Umsetzung dieser Richtlinien haben die Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten nicht nur ihr nationales Recht im Einklang mit diesen Richtlinien auszulegen, sondern auch darauf zu achten, dass sie sich nicht auf eine Auslegung dieser Richtlinien stützen, die mit diesen Grundrechten […] kollidiert“. Ähnlich wohl Jarass, in: Heiderhoff / Lohsse / Schulze (Hrsg.), EU-Grundrechte und Privatrecht (2016), S. 31, 43, der allerdings bemerkt, dass auch bei einer solchen Lesart letztlich „das einschlägige [Unions]Grundrecht entscheidend“ ist. Vor allem betont er zu Recht: „Möglich ist aber auch eine unmittelbare grundrechtskonforme Auslegung des nationales Rechts“ (S. 45). 70 Vgl. zu diesen Schranken nur EuGH Urt. v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 (Adeneler), Slg. 2006, I-6057 Rn. 110. So ausdrücklich auch Jarass (2016), Einl. GRCh Rn. 54. 71 Herresthal, ZEuP 2014, 238, 275 f.; Cremer, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 1 Rn. 102. In diesem Sinne auch z. B. Schwarze /  Hatje (2012), Art. 51 GRCh Rn. 16 und 18. 72 Besonders deutlich wird dies in der Entscheidung des EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 22 f. und 49 ff.: Weil die alte Fassung des „§ 622 Abs. 2 Unterabs. 2 BGB […] wegen seiner Klarheit und Eindeutigkeit einer der Richtlinie 2000/78 konformen Auslegung nicht zugänglich“ war, der Gerichtshof hierin aber einen Verstoß gegen das in Art. 21 Abs. 1 GRCh normierte Verbot der Altersdiskriminierung sah, war das nationale Gericht verpflichtet, „jede diesem Verbot entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet“ zu lassen. Siehe zu § 14 Abs. 3 TzBfG a. F. auch schon EuGH Urt. v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I9981 Rn. 77. Siehe ferner nur GA Kokott Schlussanträge v. 15.5.2014 – Rs. C-318/13 (X), EU:C:2014:333 Rn. 57. 73 So finden laut EuGH Urt. v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 (Association de médiation sociale), EU:C:2014:2 Rn. 42 „nach ständiger Rechtsprechung die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen Anwendung“ (Herv. d. Verf.). Gleichsinnig EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-390/12 (Pfleger), EU:C:2014:281 Rn. 34. 74 Z. B. EuGH Urt. v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981 Rn. 75. Deutlich mit Blick auf das spanische Privatrecht zuletzt etwa EuGH Urt. v. 10.7.2014 – Rs. C-198/13 (Hernández), EU:C:2014:2055 Rn. 32: „Diese Vorschriften des spanischen

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Unionsgrundrechten einschließlich der unionalen Vertragsfreiheit zu messen. Soweit also der Anwendungsbereich des Unionsrechts eröffnet ist, müssen die Mitgliedstaaten die Unionsgrundrechtskonformität ihres nationales Privatrechts sicherstellen.75 Entsprechend sind das Unionsrecht ebenso wie die hierauf beruhenden mitgliedstaatlichen Umsetzungs- und Durchführungsrechtsakte „im Einklang mit den Grundrechten auszulegen […], wie sie in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ sowie als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts in Art. 6 Abs. 3 EUV anerkannt werden.76 Diese Pflicht zur grundrechtsrechtskonformen Interpretation und Anwendung des unionalen wie des nationalen Privatrechts wird durch Art. 267 AEUV abgesichert: Bei Unklarheiten bezüglich der Auslegung des Unionsrechtsakts oder auch des Gewährleistungsgehalts und der Einwirkungstiefe des Unionsgrundrechts haben mitgliedstaatliche Gerichte die Möglichkeit und im Fall des Art. 267 Abs. 3 AEUV die Verpflichtung, diese Rechtsfragen dem EuGH vorzulegen.77 Dies gilt insbesondere, wenn ein nationales Gericht Rechts sind im Licht […] der Charta auszulegen, sofern sie in den Geltungsbereich der Richtlinie 2008/94 fallen“ (Herv. d. Verf.). Siehe ferner z. B. EuGH Urt. v. 12.12.2002 – Rs. C-442/00 (Caballero), Slg. 2002, I-11915 Rn. 31; GA Kokott Schlussanträge v. 15.5.2014 – Rs. C-318/13 (X), EU:C:2014:333 Rn. 57 und 49 ff. 75 Siehe im arbeitsrechtlichen Kontext nur EuGH Urt. v. 12.12.2002 – Rs. C-442/00 (Caballero), Slg. 2002, I-11915 Rn. 31 „Fällt eine nationale Regelung in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts, so hat der Gerichtshof, wenn er im Vorabentscheidungsverfahren angerufen wird, dem vorlegenden Gericht alle Auslegungskriterien an die Hand zu geben, die es benötigt, um die Vereinbarkeit dieser Regelung mit den Grundrechten beurteilen zu können, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat“ (Herv. d. Verf.). Siehe auch EuGH Urt. v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981 Rn. 75 sowie bereits zuvor EuGH Urt. v. 18.6.1991 – Rs. C-260/89 (ERT), Slg. 1991, I-2925 Rn. 42; EuGH Urt. v. 24.3.1994 – Rs. C-2/92 (Bostock), Slg. 1994, I-955 Rn. 16; EuGH Urt. v. 19.11.1998 – Rs. C-85/97 (SFI), Slg. 1998, I-7447 Rn. 29. Siehe erneut auch EuGH Urt. v. 10.7.2014 – Rs. C-198/13 (Hernández), EU:C:2014:2055 Rn. 32. GA Kokott Schlussanträge v. 20.9.2012 – Rs. C-394/11 (Belov), EU:C:2012:585 Rn. 80 und 82 hebt mit Blick auf Art. 21 GRCh hervor, dass dieses „Grundrecht […] als Kontrollmaßstab für die Rechtmäßigkeit des innerstaatlichen Rechts angewandt wird“. GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 12.12.2013 – Rs. C-293/12 (Digital Rights Ireland), EU:C:2013:845 Rn. 153 sieht die nationalen Gerichte ebenfalls zur umfassenden „Prüfung und Würdigung der nationalen Maßnahmen zur Umsetzung einer Richtlinie mit den in der Charta vorgesehenen Garantien“ verpflichtet. Wie hier auch Cremer, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 1 Rn. 102. 76 In diesem Sinne z. B. EuGH Urt. v. 27.9.2012 – Rs. C-179/11 (Cimade und GISTI), EU:C:2012:594 Rn. 42. Siehe zudem nur EuGH Urt. v. 12.12.2002 – Rs. C-442/00 (Caballero), Slg. 2002, I-11915 Rn. 30. 77 EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 30: „Dabei haben die nationalen Gerichte, wenn sie Bestimmungen der Charta auslegen sollen, die Möglichkeit und gegebenenfalls die Pflicht, den Gerichtshof um eine Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV zu ersuchen“. Vgl. im Kontext der ungeschriebenen Unionsgrundrechte nur EuGH Urt. v. 12.12.2002 – Rs. C-442/00 (Caballero), Slg. 2002, I-11915 Rn. 31.

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eine unionsrechtliche Norm für unvereinbar mit den EU-Grundrechten hält,78 selbst wenn ausnahmsweise nationale Grundrechte parallel anwendbar sein sollten.79 Soweit zivilrechtliche Vorschriften unionsgrundrechtskonform ausgelegt werden sollen, kann der EuGH allerdings nur eine Interpretation des Privatrechts der Union, nicht aber eine konkrete Lesart einer nationalen Zivilrechtsnorm verbindlich vorgeben.80 In Bezug auf eine potenziell von der Einwirkung der Unionsgrundrechte betroffene „nationale Regelung […] hat der Gerichtshof, wenn er im Vorabentscheidungsverfahren angerufen wird, dem vorlegenden Gericht alle Auslegungskriterien an die Hand zu geben, die es benötigt, um die Vereinbarkeit dieser Regelung mit den Grundrechten beurteilen zu können“.81

Da der EuGH die Vertragsfreiheit als unionsgrundrechtliche Gewährleistung bislang ebensowenig umrissen hat wie deren Einwirkungsachsen in das Privatrecht, dürfte kaum ein acte clair vorliegen.82 Im Gefolge des AlemoHerron-Urteils des EuGH83 nehmen daher die Vorabentscheidungsverfahren mit Bezug zur unionalen Vertragsfreiheit zu.84 3. Mittelbare horizontale Drittwirkung in Privatrechtsbeziehungen Bereits die erste Stellungnahme eines Generalanwalts zur Privatrechtswirksamkeit der Unionsgrundrechte hinterfragte, ob diese Grundrechte „unmittel78 Mit Blick auf die Vereinbarkeit eines Unionsrechtsakts mit der GRCh betonen z. B. EuGH Urt. v. 22.6.2010 – verb. Rs. C-188/10 u. a. (Melki u. a.), EU:C:2010:363 Rn. 54 ff.; EuGH Urt. v. 11.9.2014 – Rs. C-112/13 (A), EU:C:2014:2195 Rn. 41 ff. „die alleinige Zuständigkeit des Gerichtshofs […], eine Handlung der Union und insbesondere eine Richtlinie für ungültig zu erklären“. Vgl. bereits EuGH Urt. v. 22.10.1987 – Rs. 314/85 (Foto-Frost), Slg. 1987, 4199 Rn. 20. Siehe zur Unwirksamkeit einer Richtlinienbestimmung wegen Verstoßes gegen Art. 21 GRCh EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 (TestAchats), Slg. 2011, I-773 Rn. 16 ff. 79 Siehe dazu erneut oben Kapitel 2 § 3 B II 2 c. 80 Vgl. nur EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 49. 81 EuGH Urt. v. 12.12.2002 – Rs. C-442/00 (Caballero), Slg. 2002, I-11915 Rn. 31. Ebenso schon EuGH Urt. v. 18.6.1991 – Rs. C-260/89 (ERT), Slg. 1991, I-2925 Rn. 42; EuGH Urt. v. 24.3.1994 – Rs. C-2/92 (Bostock), Slg. 1994, I-955 Rn. 16; EuGH Urt. v. 19.11.1998 – Rs. C-85/97 (SFI), Slg. 1998, I-7447 Rn. 29. 82 Vgl. zur Acte-clair-Doktrin nur EuGH Urt. v. 6.10.1982 – Rs. C-283/81 (CILFIT), Slg. 1982, 3415 Rn. 13 ff. 83 EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521. 84 Siehe zuletzt etwa EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU: C:2016:972 Rn. 67 ff. Vgl. zur Frage, ob auch individualvertragliche Verweisungen auf Kollektivvereinbarungen in Arbeitsverträgen die durch Art. 16 GRCh geschützte unionale Vertragsfreiheit eines Betriebserwerbers beeinträchtigen können, wenn der Erwerber nach § 613a BGB in die Rechtsstellung des Betriebsveräußerers einrückt jüngst auch EuGH Urt. v. 27.4.2017 – Rs. C-680/15 u.a. (Asklepios Kliniken u.a.), EU:C:2017:317 Rn. 19 ff.

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bare Wirkungen im Verhältnis zwischen Privatpersonen zeitigen“.85 Die Grundrechte der EU sowie die hierzu ergangene Judikatur des EuGH zeichnen auf den ersten Blick ein gemischtes Bild: Gegen eine Grundrechtsverpflichtung privater Akteure streitet, dass ausweislich des Art. 51 Abs. 1 GRCh nur die Union und – im Anwendungsbereich des EU-Rechts – ihre Mitgliedstaaten, nicht aber Private an die Unionsgrundrechte gebunden sind.86 Gleiches gilt auch für die ungeschriebenen Grundrechte im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV.87 Dennoch hat der EuGH in seiner Rechtsprechungspraxis neben dem Verbot der Entgeltdiskriminierung nach Art. 157 AEUV auch das grundfreiheitliche Verbot der Diskrimimierung aufgrund der Staatsangehörigkeit auf privatrechtliche Verträge erstreckt.88 Besagte Verbote sind nun in Art. 23 und Art. 21 GRCh als Grundrechte verbürgt. Auch darüber hinaus postuliert der Gerichtshof, dass sich insbesondere Art. 21 und Art. 23 GRCh auf Rechtsverhältnisse zwischen Privaten auswirken können, wie etwa die Rechtssachen Mangold, Kücükdeveci und Test-Achats verdeutlichen.89 Dieser scheinbare Widerspruch lässt sich durch die Schutzpflichtendimension der Unionsgrundrechte auflösen. Gerade im Kontext der Privatrechtswirkung des Art. 21 GRCh ist es laut Generalanwältin Kokott zwar möglich, dass „die dem grundrechtlich verankerten Diskriminierungsverbot entgegenstehenden nationalen Rechtsvorschriften auch zwischen Privaten unangewendet“ bleiben müssen.90 Diese Privatrechtswirksamkeit der Unionsgrundrechte zeichnet sich aber gerade dadurch aus, dass „der Private nicht unmittelbar zum Grundrechtsadressaten wird, sondern das Grundrecht lediglich als Kontrollmaßstab für die Rechtmäßigkeit des innerstaatlichen Rechts angewandt wird“.91

GA Van Gerven Schlussanträge v. 30.1.1990 – Rs. C-262/88 (Barber), Slg. 1990, I1912 Rn. 51 sowie 53 ff. 86 Schwarze / Hatje (2012), Art. 51 GRCh Rn. 22 hinterfragt dagegen, ob Art. 51 GRCh auf lange Sicht eine unmittelbare Drittwirkung verhindern kann. 87 Siehe zum einheitlichen Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte der Charta und der ungeschriebenen Grundrechte nach Art. 6 Abs. 3 EUV bereits oben Kapitel 2 § 3 B. 88 Vgl. nur EuGH Urt. v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 (Angonese), Slg. 2000, I-4139 Rn. 5 ff. und 35 ff. sowie z. B. EuGH Urt. v. 6.10.1993 – Rs. C-109/91 (Ten Över), Slg. 1993, I-4879 Rn. 11 ff.; EuGH Urt. v. 28.9.1994 – Rs. C-200/91 (Coloroll), Slg. 1994, I4389 Rn. 18 ff. 89 Vgl. EuGH Urt. v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981 Rn. 74 ff.; EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 22 ff.; EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 (Test-Achats), Slg. 2011, I-773 Rn. 16 ff. 90 GA Kokott Schlussanträge v. 20.9.2012 – Rs. C-394/11 (Belov), EU:C:2012:585 Rn. 81 f. 91 GA Kokott Schlussanträge v. 20.9.2012 – Rs. C-394/11 (Belov), EU:C:2012:585 Rn. 81 f. 85

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Adressaten des aus Art. 21 GRCh folgenden Verbots sind folglich allein Hoheitsträger, und nur vermittelt über diese direkte Grundrechtsbindung der Union und ihrer Mitgliedstaaten strahlen die Unionsgrundrechte sodann auf privatrechtliche Beziehungen ein. Soweit also das Privatrecht der Union und ihrer Mitgliedstaaten an den EU-Grundrechten zu messen ist, beeinflussen diese Grundrechte indirekt auch die durch diese privatrechtlichen Normen geregelten Beziehungen, wie etwa Vertragsverhältnisse. Dieser Mechanik entsprechend wird das Phänomen treffend als „mittelbare Drittwirkung“ bzw. „mittelbare horizontale Wirkung“ der Unionsgrundrechte bezeichnet.92 Triebfeder der mittelbaren Drittwirkung im Verhältnis von Privaten sind die unionsgrundrechtlichen Schutzpflichten. Solche aus der unionalen Vertragsfreiheit fließenden Pflichten treffen den Unionsgesetzgeber beispielsweise beim Erlass einer Richtlinie und den nationalen Gesetzgeber sodann bei der Richtlinienumsetzung in nationales Recht.93 Darüber hinaus sind alle unionalen und mitgliedstaatlichen Gerichte Adressaten dieser Schutzpflichten.94 Diese Konzeption der durch Schutzpflichten vermittelten Horizontalwirkungen der Unionsgrundrechte haben auch Generalanwälte des EuGH wiederholt zugrunde gelegt.95 Hierfür streitet aus methodischer Sicht, dass die parallele 92 Statt vieler Cremer, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 1 Rn. 160; Herresthal, ZEuP 2014, 238, 268 ff.; Fornasier, ERPL 23 (2015), 29 ff.; Jarass (2016), Art. 51 GRCh Rn. 32 ff.; ders., in: Heiderhoff / Lohsse / Schulze (Hrsg.), EU-Grundrechte und Privatrecht (2016), S. 31, 56 ff. Siehe auch bereits W.-H. Roth, FS Medicus (2009), S. 393, 403. Für eine unmittelbare Privatrechtswirkung der Unionsgrundrechte spricht sich dagegen wohl Lazzerini, CMLR 51 (2014), 907, 925 aus. 93 Vgl. GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 12.12.2013 – Rs. C-293/12 (Digital Rights Ireland), EU:C:2013:845 Rn. 115 f. sowie 123, der neben dem Unionsgesetzgeber gerade auch die nationalen Gesetzgeber bei der Umsetzung in der Pflicht sieht, „dafür zu sorgen, dass die auf ihre eigene Initiative erlassenen Rechtsvorschriften, die zu einer Einschränkung der Grundrechte führen, alle notwendigen Schutzmaßnahmen umfassen“. Gleichsinnig GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C:2011:559 Rn. 81 ff. Vgl. zur „grundlegenden staatlichen Schutzpflicht“ des Gesundheitsschutzes auch GA Trstenjak Schlussanträge v. 21.6.2007 – Rs. C-319/05 (Kommission/Deutschland), Slg. 2007, I-9816 Rn. 35. 94 Vgl. zur Pflicht nationaler Gerichte, im Lichte der Unionsgrundrechte „Schutzmaßnahmen“ zur Wahrung der Grundrechte Privater vorzusehen, GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 12.12.2013 – Rs. C-293/12 (Digital Rights Ireland), EU:C:2013:845 Rn. 153 und 115 ff. 95 Siehe z. B. GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C:2011:559 Rn. 81 ff., die mit Blick auf Art. 31 GRCh ausführt: „Diese Bestimmung gewährt dem Einzelnen somit ein subjektives Recht, das in erster Linie in einer Schutzpflicht der Union und ihrer Mitgliedstaaten ihm gegenüber besteht […]. Privatpersonen können […] allenfalls mittelbar durch Regelungen zur Umsetzung der Schutzpflicht gebunden werden“. Auch GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 18.7.2013 – Rs. C-176/12 (Association de médiation sociale), EU:C:2013:491 Rn. 36 erfasst die „Grundrechtsunterworfenheit Privater […] im Sinne einer ‚Schutzpflicht‘ des Staates“ und führt ergänzend aus:

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Kapitel 3 – Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell

Frage der Horizontalwirkung der Grundfreiheiten ebenfalls durch Schutzpflichten gelöst werden kann, wie der EuGH etwa in Kommission/Frankreich und Schmidberger angedeutet hat.96 Gleiches gilt im Übrigen für die Privatrechtswirkungen der Verkehrsfreiheiten in anderen Konstellationen, wie etwa in der Rechtssache Angonese, sowie für die Drittwirkung des Verbots der Entgeltdiskriminierung gemäß Art. 157 AEUV.97 B. Privatrechtswirksamkeit der Vertragsfreiheit als Rechtsgrundsatz In ihrer Ausprägung als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsprivatrechts ist die Vertragsfreiheit im Anwendungsbereich des EU-Rechts umfassend in allen schuldvertraglichen Sachverhalten zu beachten.98 Anders als durch das korrespondierende Unionsgrundrecht können nicht nur hoheitliche Stellen, sondern auch private Akteure durch den Rechtsgrundsatz verpflichtet werden: Als Rechtsprinzip durchdringt die unionale Vertragsfreiheit alle Vertragsbeziehungen im Geltungsbereich des Unionsrechts und kann somit z. B. von Gerichten auch unmittelbar im Verhältnis von Privaten untereinander – etwa zur Rechtfertigung einer bestimmten Interpretation einer vertraglichen Vereinbarung – fruchtbar gemacht werden.99 „Dies ist im Übrigen der Ansatz, den sich auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zu eigen gemacht hat und der eine unbestreitbare Autorität genießt“. 96 Vgl. EuGH Urt. v. 9.12.1997 – Rs. C-265/95 (Kommission / Frankreich), Slg. 1997, I-6959 Rn. 32 ff.; EuGH Urt. v. 12.6.2003 – Rs. C-112/00 (Schmidberger), Slg. 2003, I5659 Rn. 57 ff. Wie hier z. B. GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 18.7.2013 – Rs. C-176/ 12 (Association de médiation sociale), EU:C:2013:491 Rn. 34 ff.; W.-H. Roth, FS Medicus (2009), S. 393, 402; Lang, in: Bernitz / Groussot / Schulyko (eds.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), S. 65, 113. 97 So lässt sich auch EuGH Urt. v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 (Angonese), Slg. 2000, I4139 Rn. 5 und 47 als Verweis auf in der Arbeitnehmerfreizügigkeit wurzelnde Schutzpflichten verstehen: Demnach müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass ein Arbeitgeber die Bewerber für eine Stelle in einer privaten Bankgesellschaft nicht verpflichten darf, „ihre Sprachkenntnisse ausschließlich durch ein einziges in einer einzigen Provinz eines Mitgliedstaats ausgestelltes Diplom nachzuweisen“. Ebenso kann die z. B. in EuGH Urt. v. 28.9.1994 – Rs. C-200/91 (Coloroll), Slg. 1994, I-4389 Rn. 18 ff. eingeforderte Durchsetzung des Verbots der Entgeltdiskrimimierung in privatrechtlichen Anstellungsverhältnissen über staatliche Schutzpflichten erfolgen: Der EuGH Urt. v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 (Angonese), Slg. 2000, I-4139 Rn. 34 interpretiert seine seit Defrenne II bestehende Entscheidungspraxis gerade dahingehend, dass Art. 157 AEUV nur die Mitgliedstaaten unmittelbar verpflichtet, wobei korrespondierend zu diesen mitgliedstaatlichen (Schutz)Pflichten „zugleich allen an der Einhaltung der so umschriebenen Pflichten interessierten Privatpersonen Rechte verliehen sein können“. Gleichsinnig zuvor schon EuGH Urt. v. 4.2.1988 – Rs. 157/86 (Murphy), Slg. 1988, 673 Rn. 11 f. 98 Siehe zum Anwendungsbereich oben Kapitel 2 § 3 B III und vgl. erneut EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-280/13 (Barclays), EU:C:2014:279 Rn. 44. 99 Ganz in diesem Sinne führt der EuGH beispielsweise die Bindungswirkung, welche durch die Ausübung der Vertragsfreiheit im Zuge des Vertragsschlusses eintritt, auf das

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Insbesondere kann die unionale Vertragsfreiheit als allgemeiner privatrechtlicher Rechtsgrundsatz Bezugspunkt einer prinzipiengeleiteten Auslegung und gegebenenfalls Rechtsfortbildung sein (I). Dabei mag die Vertragsfreiheit zuweilen in Konflikt mit gegenläufigen allgemeinen Rechtsprinzipien stehen. Hier bedarf es einer Auflösung, wobei auch im Unionsprivatrecht ein „ prima facie-Vorrang des Prinzips der rechtlichen Freiheit“100 besteht (II). I.

Prinzipiengeleitete Auslegung und Rechtsfortbildung

Die unionale Vertragsfreiheit kommt als Rechtsgrundsatz insbesondere dann zum Tragen, wenn eine unionsrechtsinterne Lücke oder zumindest Auslegungsbedarf im europarechtlich determinierten Privatrecht besteht.101 Dabei muss die unionale Vertragsfreiheit mit etwaig konfligierenden Rechtsprinzipien abgewogen werden, und im Zuge dieses Vorgangs ist zu ermitteln, auf welchem allgemeinen privatrechtlichen Rechtsgrundsatz die konkret auszulegende oder zu ergänzende Regelung vorwiegend beruht.102 Setzt sich die unionale Vertragsfreiheit im Ergebnis durch, so müssen die im konkreten Fall einschlägigen Facetten und Gewährleistungsgegenstände dieses Rechtsprinzips, wie etwa die Abschluss-, Vertragspartnerwahl- und Vertragsinhaltsfreiheit, die Auslegung oder Lückenfüllung lenken. Methodisch handelt es sich bei dieser prinzipiengeleiteten teleologischen Auslegung und Anwendung des EU-Privatrechts um einen Unterfall der unionsrechtskonformen Auslegung sowie gegebenenfalls der unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung.103 Bei diesem Verständnis fügen sich auch die drei Funktionen der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts nahtlos in das System der unionalen Methoden ein: Das EU-Recht kann eine unionsrechtskonforme Gesetzesauslegung (secundum legem), Gesetzesergänzung (praeter legem) und – in Ausnahmefällen sowie beschränkt auf die Rechtsakte des Unionsprivatrechts selbst –104 Prinzip der Vertragsfreiheit zurück, vgl. nur EuGH Urt. v. 18.7.2007 – Rs. C-277/05 (Société thermale), Slg. 2007, I-6415 Rn. 24: „Die Verpflichtung, sich an den Vertrag zu halten, […] ergibt sich aus dem Vertrag selbst“. Siehe hierzu noch eingehend unten § 2 A. 100 Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 517. 101 Siehe erneut oben Kapitel 2 § 2 A I 1. Vgl. auch GA Mazák Schlussanträge v. 15.2.2007 – Rs. C-411/05 (Palacios de la Villa), Slg. 2007, I-8531 Rn. 134 ff.; GA Trstenjak Schlussanträge v. 30.6.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 68; GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C:2011:559 Rn. 93; Basedow, FS Hopt I (2010), S. 27, 45; Lenaerts / Gutiérrez-Fons, CMLR 47 (2010), 1629. 102 Vgl. EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-280/13 (Barclays), EU:C:2014:279 Rn. 43. 103 Siehe erneut oben Kapitel 2 § 2 A I 1. 104 Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH findet die unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts – sowohl in ihrer Spielart als richtlinien- als auch als primärrechtskonforme Auslegung – in der contra-legem-Grenze eine Schranke, so zur richtlinienkonformen Auslegung z. B. EuGH Urt. v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06 (Impact), Slg. 2008, I2483 Rn. 100; EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:282 Rn. 65.

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Kapitel 3 – Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell

eine Gesetzeskorrektur (contra legem) gebieten.105 Entsprechend kommt die unionale Vertragsfreiheit als Rechtsprinzip beispielsweise zum Tragen, wenn Unklarheit darüber herrscht, wie eine bestimmte Regelung in einer schuldvertragsrechtsrelevanten Richtlinie oder Verordnung zu interpretieren ist. Zum anderen kann der privatrechtliche Rechtsgrundsatz herangezogen werden, wenn Lücken in einem Rechtsakt des Unionsprivatrechts oder in einem unionsrechtlich determinierten Bereich des nationalen Zivilrechts bestehen. Sowohl bei der Auslegung als auch bei der Lückenfüllung gebietet der Rechtsgrundsatz eine freiheitsfreundliche Lesart und eine Lösung, welche der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie als Leitprinzip des Schuldvertragsrechts gebührend Rechnung trägt. Zugleich ist die unionale Vertragsfreiheit in diesen Konstellationen stets mit etwaigen konfligierenden Rechtsprinzipien abzuwägen. 106 Anschauungsmaterial für die Wirkmacht der Vertragsfreiheit als Auslegungsleitlinie des unionalen wie nationalen Privatrechts bietet beispielsweise die Entscheidung Shearman v Hunter Boot Ltd, in welcher der englische High Court mangels ausdrücklicher Hinweise in der Handelsvertreterrichtlinie, die zu deren Umsetzung ergangene nationale Regelung im Lichte der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie interpretiert: Siehe mit Blick auf das Primärrecht und namentlich Art. 107, Art. 108 Abs. 3 S. 3 AEUV nun auch EuGH Urt. v. 11.11.2015 – Rs. C-505/14 (Klausner), EU:C:2015:742 Rn. 32: „So findet die Verpflichtung des nationalen Richters, bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts den Inhalt des Unionsrechts heranzuziehen, ihre Schranken in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen und darf nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen“ (Herv. d. Verf.). Überwunden werden kann diese contra-legem-Grenze indes entweder durch die Unionsgrundrechte oder andere Rechtssätze des Primärrechts, soweit diese aufgrund ihres Anwendungsvorrangs vor dem mitgliedstaatlichen Recht gebieten, dass Letzteres unangewendet bleibt, vgl. nur EuGH Urt. v. 4.2.1988 – Rs. 157/86 (Murphy), Slg. 1988, 673 Rn. 11; EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 48 ff.; EuGH Urt. v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 (Association de médiation sociale), EU:C:2014:2 Rn. 41 und 47. Siehe in diesem Zusammenhang zur Wirkmacht des Effektivitätsgrundsatzes jüngst EuGH Urt. v. 11.11.2015 – Rs. C-505/14 (Klausner), EU:C:2015:742 Rn. 45. 105 Vgl. zu diesen drei Funktionen der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts wiederum nur Metzger, Extra legem, intra ius – Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 553; Hartkamp, RabelsZ 75 (2011), 241, 242; Hesselink, in: Leczykiewicz / Weatherill (eds.), The Involvement of EU Law in Private Law Relationships (2013), S. 131, 149. Soweit eine Gesetzesergänzung oder gar -korrektur in Rede steht, kann sich der EuGH bei der Auslegung einer sekundärrechtlichen Norm durchaus über den Wortsinn der Vorschrift hinwegsetzen, wenn dies der hinter der Regelung stehende allgemeine privatrechtliche Rechtsgrundsatz des Unionsrechts – und somit der konkrete Zweck der Regelung – erfordert, vgl. zu einer „weite[n], über den Wortlaut der Bestimmung hinausgehenden Auslegung“ nur EuGH Urt. v. 11.7.1985 – Rs. 107/84 (Kommission /  Deutschland), Slg. 1985, 2655 Rn. 12; Leible / Domröse, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre (2015), § 8 Rn. 36. 106 Siehe erneut oben Kapitel 2 § 3 B III.

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„The principle of freedom of contract has also been recognised as a general principle of European Union law […]. It follows that, absent any EU obligation requiring it to be construed otherwise Regulation 17(2) must be read as leaving the parties with a general freedom to contract in respect of the payment of an indemnity rather than compensation on the termination of the Agreement which must include the freedom to provide for an indemnity in certain circumstances and compensation in others“.107

Zudem kann die unionale Vertragsfreiheit gerade dort zu berücksichtigen sein, wo das Unionsrecht die Unwirksamkeit einer unionsprivatrechtlichen Regelung108 oder die Nicht-Anwendbarkeit einer Norm des mitgliedstaatlichen Privatrechts erzwingt: Weil der fragliche Rechtsakt infolge der Einwirkung des Unionsrechts lückenhaft wird, muss die entstehende Lücke unionsrechtskonform geschlossen werden.109 Im Schuldvertragsrecht kommt dabei dem allgemeinen Rechtsgrundsatz der Vertragsfreiheit besondere Bedeutung zu. II. Ausgleich mit gegenläufigen Prinzipien und der „prima facie-Vorrang des Prinzips der rechtlichen Freiheit“ im Unionsrecht Als weiteres Beispiel für die Einwirkung allgemeiner Grundsätze des Unionsprivatrechts auf das Vertragsrecht mag das Spannungsfeld zwischen der Vertragsfreiheit und den ihr entgegengesetzten Prinzipien dienen: So geht der EuGH in der Rechtssache Barclays davon aus, dass „den Verbraucherschutz und ausgewogene Vertragsverhältnisse betreffenden Grundsätze des Unionsrechts“ existieren.110 Hierbei soll es sich ersichtlich um allgemeine Rechtsgrundsätze des Privatrechts handeln, welche der Klauselrichtlinie zugrunde liegen.111 Mithin kommen diese Grundsätze nur im Anwendungsbereich des Unionsrechts als Rechtsprinzipien zum Tragen, welche mit gegegenläufigen Prinzipien gleichen Ranges abgewogen werden müssen. In diesem Zusammenhang ist bedeutsam, dass in der Unionsrechtsordnung nach ständiger Rechtsprechung „die Vertragsfreiheit die Regel bleiben muß“112 und ihr als Leitprinzip des unionalen Schuldvertragsrechts mithin grundsätzlich Vorrang So mit Blick auf reg. 17(2) Commercial Agents (Council Directive) Regulations 1993, S.I. 1993 No. 3053, Shearman (t/a Charles Shearman Agencies) v Hunter Boot Ltd [2014] EWHC 47 (QB). 108 Vgl. wiederum nur EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 (Test-Achats), Slg. 2011, I-773 Rn. 30 ff. 109 Gebauer, in: ders. / Wiedmann (Hrsg.), Zivilrecht unter europäischem Einfluss (2010), Kap. 4. Rn. 15; Leible / Domröse, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre (2015), § 8 Rn. 61. 110 EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-280/13 (Barclays), EU:C:2014:279 Rn. 43 f. 111 EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-280/13 (Barclays), EU:C:2014:279 Rn. 44. 112 EuG Urt. v. 18.9.1992 – Rs. T-24/90 (Automec / Kommission), Slg. 1992, II-2223 Rn. 51. In diesem Sinne bereits EuGH Urt. v. 16.1.1979 – Rs. 151/78 (Sukkerfabriken Nykøbing), Slg. 1979, 1 Rn. 19; EuGH Urt. v. 5.10.1999 – Rs. C-240/97 (Spanien/Kommission), Slg. 1999, I-6571 Rn. 99. 107

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vor „den Verbraucherschutz und ausgewogene Vertragsverhältnisse betreffenden Grundsätzen des Unionsrechts“ gebührt. Dennoch wäre zumindest im Verbrauchervertragsrecht eine feststehende Auslegungsregel „im Zweifel für die Vertragsfreiheit“113 ebenso nur von heuristischem Wert wie die teilweise postulierte Maxime „im Zweifel für den Verbraucher“.114 Als Rechtsprinzipien des EU-Privatrechts sind die unionale Vertragsfreiheit und der Verbraucherschutz stets im Einzelfall gegeneinander abzuwägen, wobei sich das überwiegende Prinzip durchsetzt.115 Erst dann kann eine entsprechende Auslegung oder Ergänzung eines unionsprivatrechtlichen Rechtsakts erfolgen. Daher fragen auch der EuGH und seine Generalanwälte konsequenterweise immer danach, welches Rechtsprinzip der konkret zu interpretierenden Vorschrift zugrunde liegt: Beispielsweise wird eine Vorschrift, die – wie etwa Art. 6 Klauselrichtlinie – das Interesse des Konsumenten in den Vordergrund stellt, eher vom Prinzip des Verbraucherschutzes dominiert116 als die Regelung in Art. 4 Abs. 2 derselben Richtlinie, welche der rechtgeschäftlichen Privatautonomie der Parteien bezüglich der – transparenten – Festlegung des Hauptleistungsgegenstandes und des Preis-LeistungsVerhältnisses Vorrang einräumt.117 Entsprechend ist stets eine Differenzierung erforderlich.118 Betrachtet man freilich das unionale Schuldvertragsrecht in seiner Gesamtheit, so liegt zumindest als Ausgangspunkt „[i]n einem von der Vertragsfreiheit beherrschten Vertragsrecht […] jene [als] die beherrschende Auslegungsdirektive für freiheitsbeschränkende Vorschriften“ na113 Vgl. zum Grundsatz „in dubio pro libertate“ als Leitbild des primären wie sekundären Unionsrechts z. B. GA Roemer Schlussanträge v. 21.11.1972 – Rs. 6/72 (Europemballage / Kommission), Slg. 1972, 151, 256 (Wettbewerbsrecht); GA Kokott Schlussanträge v. 13.12.2007 – Rs. C-413/06 P (Bertelsmann), Slg. 2008 I-4951 Rn. 223 (Fusionskontrollverordnung); GA Trstenjak Schlussanträge v. 21.10.2008 – Rs. C-299/07 (VTB-VAB), Slg. 2009 I-2949 Rn. 81; GA Trstenjak Schlussanträge v. 24.3.2010 – Rs. C-540/08 (Mediaprint), Slg. 2010, I-10909 Rn. 74 (Lauterkeitsrichtlinie). 114 Für eine Auslegungsregel „in dubio pro consumatore“ plädierte schon Reich, in: Hadding / Hopt (Hrsg.), Das Neue Verbraucherkreditgesetz (1991), S. 29, 33, 35 f. und 47. 115 Vgl. erneut oben Kapitel 2 § 3 B III. 116 Vgl. im Kontext des Art. 6 Abs. 1 Klauselrichtlinie nur EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-280/13 (Barclays), EU:C:2014:279 Rn. 43: „Zu den den Verbraucherschutz und ausgewogene Vertragsverhältnisse betreffenden Grundsätzen des Unionsrechts ist festzustellen, dass die Richtlinie 93/13 deren Beachtung dadurch sicherstellen soll, dass in Verbraucherverträgen missbräuchliche Klauseln als Ausdruck einer Unausgewogenheit zwischen den Vertragsparteien beseitigt werden“. 117 GA Wahl Schlussanträge v. 12.2.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:85 Rn. 36 postuliert im Kontext des Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie daher, dass bei „individuell ausgehandelte[n] Vertragsklauseln […] die Vertragsfreiheit […] zur vollen Entfaltung gelangt ist“ (Herv. d. Verf.). Wie hier im Ergebnis auch z. B. Dauses / Micklitz / Rott, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts (2015), H. V. Rn. 102 „Die Auslegung des materiellen Verbraucherrechts richtet sich […] nach dem jeweiligen Gegenstand“. 118 Riesenhuber, JZ 2005, 829, 835.

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he.119 Auch diese Direktive beschreibt allerdings wiederum nur den „prima facie-Vorrang des Prinzips der rechtlichen Freiheit“120 und ist damit mehr heuristisches Prinzip denn unverrückbare Regel. Gleiches muss auch gelten, soweit ein allgemeiner unionsprivatrechtlicher Rechtsgrundsatz der Nichtdiskriminierung postuliert wird: So versteht der EuGH in seiner ständigen Rechtsprechung die in den Antidiskriminierungsrichtlinien enthaltenen zivilrechtlichen Diskriminierungsverbote lediglich als Ausdruck eines übergreifenden allgemeinen Grundsatzes.121 Dies lässt sich als Verweis darauf verstehen, dass das Diskriminierungsverbot – ebenso wie die unionale Vertragsfreiheit – nicht nur eine unionsgrundrechtliche Dimension hat, sondern zugleich einen unionsprivatrechtlichen allgemeinen Rechtsgrundsatz darstellt.122 Die Frage, ob überhaupt eine hinreichend breite empirische Basis für die induktive Herleitung eines solchen allgemeinen privatrechtlichen Grundsatzes besteht oder ob ein solcher vielmehr nur im Bereich Antidiskriminierungsrichtlinien angenommen werden kann, sprengt indes den Rahmen der vorliegenden Abhandlung.123 Schmidt-Kessel, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre (2015), § 17 Rn. 41. 120 Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 517. 121 Deutlich etwa EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I365 Rn. 50: „Insoweit ist zum einen zu beachten, dass der Grundsatz der Gleichbehandlung […] in der Richtlinie 2000/78 nicht verankert ist, sondern dort nur konkretisiert wird, und zum anderen, dass das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts ist“. Gleichsinnig z. B. EuGH Urt. v. 12.5.2011 – Rs. C391/09 (Wardyn u. a.), Slg. 2011, I-3787 Rn. 43. Überdies postulierte bereits EuGH Urt. v. 12.12.2002 – Rs. C-442/00 (Caballero), Slg. 2002, I-11915 Rn. 32 einen „allgemeine[n] Grundsatz der Gleichheit und der Nichtdiskriminierung“. 122 In diesem Sinne bereits Schulze, GPR 2005, 56, 58: „[Den] Grundsatz der Nichtdiskriminierung […] hat das Gemeinschaftsrecht mit größerer Tragweite für den privaten Rechtsverkehr ausgebildet als die meisten mitgliedstaatlichen Rechte“. Vgl. auch Rott, JZ 2014, 358, 360. Im Ergebnis ebenso – wenn auch zurückhaltender – Basedow, ZEuP 2008, 230, 244 und 250; Metzger, RabelsZ 75 (2011), 845, 879 f. Dafür, dass hiermit – zumindest auch – ein privatrechtlicher Rechtsgrundsatz gemeint ist, streitet, dass der Grundsatz weder in sachlicher noch in zeitlicher Hinsicht über den Anwendungsbereich der Antidiskriminierungsrichtlinien hinausreichen soll, vgl. nur EuGH Urt. v. 23.9.2008 – Rs. C-427/06 (Bartsch), Slg. 2008, I7245 Rn. 18; EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 24; EuGH Urt. v. 10.5.2011 – Rs. C-147/08 (Römer), Slg. 2011, I-3591 Rn. 61; EuGH Urt. v. 19.4.2016 – Rs. C-441/14 (Dansk Industri), EU:C:2016:278 Rn. 22 ff. 123 EuGH Urt. v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 32 ff. und 52 ff. verneint zumindest die „Existenz eines allgemeinen Grundsatzes der Gleichbehandlung von Minderheitsaktionären“ und sieht auch keine „spezielle Ausprägung des allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes im Bereich des Gesellschaftsrechts“. Zweifel an einem allgemeinen privatrechtlichen Grundsatz der Nichtdiskriminierung äußern z. B. auch Basedow, ZEuP 2008, 230, 244 und 250; Metzger, RabelsZ 75 (2011), 845, 879 f. Befürwortend – wenngleich auch nicht vorrangig auf unionsrechtlicher Ebene argumentierend – Grünberger, Personale Gleichheit (2013), S. 759 ff. 119

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Kapitel 3 – Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell

Postuliert man einen solchen Grundsatz, hätte er ebenfalls nur den Charakter eines Rechtsprinzips, das bei der Auslegung und Ergänzung des Unionsprivatrechts zu berücksichtigen ist, wenn es nach der gebotenen Abwägung mit gegenläufigen Rechtsprinzipien überwiegt.124 Auch insoweit gilt die allgemeine Aussage des EuGH, dass wann immer „sich mehrere durch die Unionsrechtsordnung geschützte Rechte gegenüber stehen, darauf zu achten [ist], dass die Erfordernisse des Schutzes dieser verschiedenen Rechte miteinander in Einklang gebracht werden müssen und dass ein angemessenes Gleichgewicht zwischen ihnen besteht“.125

Während dabei im Regelfall der Vertragsfreiheit als Leitprinzip des unionalen Schuldvertragsrechts Vorrang gebührt,126 mögen Ausnahmen im Anwendungsbereich der Antidiskrimimierungsrichtlinien bestehen, soweit der Unionsgesetzgeber hier eine eindeutige gesellschaftspolitische Entscheidung zugunsten eines etwaigen Rechtsprinzips der Nichtdiskriminierung getroffen hat.127 Völlig abwägungsfrei sind indes selbst die meisten Bestimmungen der Antidiskrimimierungsrichtlinien nicht ausgestaltet,128 wie etwa der Verweis in Art. 3 Abs. 2 Unisexrichtlinie Unisexrichtlinie 2004/113/EG verdeutlicht: „Für jede Person gilt der Grundsatz der Vertragsfreiheit“.129 Festzuhalten 124 Deutlich etwa Hartkamp, RabelsZ 75 (2011), 241, 256: „Where principles are conflicting in a private law context – as e.g. the principle of non-discrimination and the principle of freedom of contract may in some situations be – the outcome is […] dependent upon […] a weighing process which is conditioned by the circumstances of the case“. Siehe auch Basedow, ZEuP 2008, 230, 244 und 250 („hermeneutisches Prinzip“); Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 546 („Abwägungsgebote und vermutlich verbindliche Sätze“); ders., RabelsZ 75 (2011), 845, 879 f. („Prinzip der Gleichbehandlung“). Weitergehend wiederum Grünberger, Personale Gleichheit (2013), S. 759 ff. 125 EuGH Urt. v. 31.1.2013 – Rs. C-12/11 (McDonagh), EU:C:2013:43 Rn. 62. 126 Metzger, RabelsZ 75 (2011), 845, 877 ff. und insbesondere 879 f. 127 Wie hier Schulze, GPR 2005, 56, 58: „Derartige einschränkende Bestimmungen sichern zum Teil für einzelne Regelungsgegenstände den Vorrang anderer Prinzipien gegenüber der Vertragsfreiheit“. Gleichsinnig Metzger, RabelsZ 75 (2011), 845, 880. Vgl. zur Bedeutung der Positivierung von Prinzipien in verbindlichen Regeln auch Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 121 („Entscheidungen für Prinzipien“). 128 Vgl. zur Einwirkungsmöglichkeit von Prinzipien bei abwägungsoffenen Regeln wiederum Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 121. 129 Insbesondere könnten auch gegenüber einem allgemeinen Rechtsprinzip der Nichtdiskriminierung alle Rechtfertigungsgründe der Antidiskriminierungsrichtlinie in Stellung gebracht werden, in diesem Sinne etwa BGH Urt. v. 9.3.2016 – Az. IV ZR 168/15, NZARR 2016, 315, 318: „Ist – wie hier – eine ungleiche Behandlung nach den Kriterien des Art. 6 Abs. 1 der RL 2000/78/EG gerechtfertigt, verstößt sie auch nicht gegen andere gemeinschaftsrechtliche Diskriminierungsverbote“. Der BGH nimmt dabei insbesondere auch auf Diskriminierungsverbote „aus allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts“ Bezug. Demgegenüber sollen „die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes“ laut EuGH Urt. v. 19.4.2016 – Rs. C-441/14 (Dansk Industri), EU:C:2016:278

§ 1 Einwirkungsachsen im Privatrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten

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bleibt, dass die unionale Vertragsfreiheit als privatrechtlicher Rechtsgrundsatz gerade als Gegengewicht zu den potenziell freiheitsbegrenzenden Prinzipien dienen kann, welche der EuGH in wachsender Zahl in das Unionsprivatrecht hineinträgt. C. Multidimensionalität der Privatrechtswirkungen Wie gezeigt, kann die Vertragsfreiheit als Unionsgrundrecht und als allgemeiner privatrechtlicher Rechtsgrundsatz tief in das unionale und in das mitgliedstaatliche Vertragsrecht hineinwirken. Doch welche Funktionen erfüllen diese beiden Erscheinungsformen der unionalen Vertragsfreiheit und in welchem Verhältnis stehen sie zueinander (I)? Darüber hinaus ist zu fragen, inwieweit die Vertragsfreiheit in bestimmten Konstellationen mit der durch die Grundfreiheiten des Binnenmarktes geschützten „grenzüberschreitenden Privatautonomie“ interagiert (II). I.

Privatrechtlicher Rechtsgrundsatz und Unionsgrundrecht

Weshalb bedarf die Unionsrechtsordnung zur Ausdifferenzierung und Systematisierung ihres Schuldvertragsrechts gleich einer doppelten Verbürgung der Vertragsfreiheit in Gestalt eines prinzipienförmigen allgemeinen Rechtsgrundsatzes einerseits und in Form eines Unionsgrundrechts andererseits? Die Antwort liefert die jeweilige normhierarchische Stellung und die unterschiedliche Wirkungsweise dieser beiden Erscheinungsformen der Vertragsfreiheit. Zunächst bedeutet keineswegs jede Auslegung oder Anwendung einer zivilrechtlichen Norm, welche dem privatrechtlichen Rechtsprinzip der Vertragsfreiheit nicht hinreichend Rechnung trägt, automatisch eine Verletzung des korrespondierenden Unionsgrundrechts. Letzteres ist vielmehr nur ausnahmsweise dann der Fall, wenn das Grundrecht der Vertragsfreiheit in unverhältnismäßiger Weise ungerechtfertigt verkürzt wird.130 Häufig werden aber verschiedene Lesarten einer privatrechtlichen Norm einer grundrechtlichen Überprüfung standhalten können, solange sie sich nur in dem breiten unionsgrundrechtlichen „Korridor“ vertretbarer Auslegungsvarianten bewegen. So besehen liegt also die Schwelle, ab der von der Warte der Unionsgrundrechte eine konkrete vertragsfreiheitsbetonte Lesart oder gar eine – richterliche oder legislative – Intervention zur Sicherung der Vertragsfreiheit geboten ist, potenziell höher. Rn. 22 und 38 ff. keinen Vorrang vor dem Verbot der Altersdiskriminierung als „allgemeinem Grundsatz des Unionsrechts“ haben können. Eine Abwägung im Lichte der Freiheitsrechte und unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes befürwortet hingegen zu Recht auch Grünberger, Personale Gleichheit (2013), S. 780 ff., 804 ff., 835 ff., 931 ff. und 1000 ff. 130 Vgl. zu solchen Fallgestaltungen noch eingehend unten Kapitel 7 § 1 A I sowie Kapitel 7 § 2 B und C.

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Kapitel 3 – Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell

Demgegenüber ermöglicht der allgemeine privatrechtliche Rechtsgrundsatz der Vertragsfreiheit auch unterhalb dieser Schwelle eine durchgehend autonomiefreundliche Ausrichtung und Handhabung des Unionsprivatrechts. Dabei ist freilich zu beachten, dass der allgemeine Rechtsgrundsatz gegebenenfalls mit gegenläufigen Rechtsgrundsätzen abzuwägen ist und durch diese beschränkt werden kann. So hat der EuGH eine – die unionale Vertragsfreiheit prima facie verkürzende – Auslegung und Anwendung unionsprivatrechtlicher Vorschriften wiederholt mit anderen „allgemeine[n] Grundsätze[n] des Zivilrechts“ gerechtfertigt.131 Während der unionsprivatrechtliche Rechtsgrundsatz der Vertragsfreiheit damit sowohl funktional als auch normhierarchisch eigenständig ist, können durchaus Verbindungslinien zum Unionsgrundrecht bestehen: Im Falle eines unverhältnismäßigen Eingriffs in den Schutzbereich des EU-Grundrechts wird der privatrechtliche Grundsatz um eine primärrechtliche Dimension verstärkt und seine Beachtung auf diese Weise zusätzlich abgesichert. Wann immer mitgliedstaatliche Gerichte Zweifel hegen, ob eine bestimmte Lesart des Unionsprivatrechts mit der unionalen Vertragsfreiheit – sei es nun als privatrechtlicher Rechtsgrundsatz oder aber als Unionsgrundrecht – vereinbar ist, haben sie dann nach Art. 267 AEUV die Möglichkeit und im Fall des Art. 267 Abs. 3 AEUV die Pflicht, diese Fragen dem EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens vorzulegen. II. Interaktion individual-rechtlicher und binnenmarktbezogener Vertragsfreiheit Schließlich weist die unionale Vertragsfreiheit Berührungspunkte mit der durch die Grundfreiheiten verbürgten „grenzüberschreitenden Vertragsfreiheit“132 auf: Wo die Grundfreiheiten anwendbar sind, können sich die indivi131 Vgl. z. B. EuGH Urt. v. 19.12.2013 – Rs. C-174/12 (Hirmann), EU:C:2013:856 Rn. 61 zur Bedeutung von „allgemeinen Grundsätzen des Zivilrechts“ bei der rückwirkenden Aufhebung eines Aktienkaufvertrags und der Auslegung der Art. 12 und 13 Richtlinie 2009/101/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 48 Absatz 2 des Vertrags im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, ABl. 2009 L 258/11. Vgl. zum Verbrauchervertragsrecht z. B. EuGH Urt. v. 3.9.2009 – Rs. C-489/07 (Messner), Slg. 2009, I-7315 Rn. 26; EuGH Urt. v. 15.4.2010 – Rs. C-215/08 (E. Fritz), Slg. 2010, I-2947 Rn. 48. Vgl. zur in der Vertragsfreiheit wurzelnden Vertragsbindung auch EuGH Urt. v. 18.7.2007 – Rs. C-277/05 (Société thermale), Slg. 2007, I-6415 Rn. 24 f. und siehe hierzu noch eingehend unten § 2 A. 132 Vgl. insbesondere Rittner, JZ 1990, 838, 841; Müller-Graff, NJW 1993, 13 f.; Grundmann, JZ 1995, 274, 278 f. Prägnant bemerkt zuletzt auch Perner, Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht (2013), S. 169: „Der Binnenmarkt sichert […] die Privatautonomie grenzüberschreitend ab“.

§ 1 Einwirkungsachsen im Privatrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten

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dual-rechtliche und die binnenmarktbezogene Vertragsfreiheit gegenseitig verstärken.133 In Binnenmarktsachverhalten bilden diese Freiheitsverbürgungen damit zwei sich überschneidende, aber keineswegs deckungsgleiche Kreise. Dabei geht der Gewährleistungsgehalt der individual-rechtlichen Vertragsfreiheit weit über den der Verkehrsfreiheiten hinaus: Die Vertragsfreiheit ist als Unionsgrundrecht und als allgemeiner Grundsatz des Privatrechts nämlich bei allen grundfreiheitsbeschränkenden mitgliedstaatlichen Maßnahmen zu beachten, weil durch eine Verkürzung der Verkehrsfreiheiten automatisch der Anwendungsbereich des Unionsrechts eröffnet wird.134 Wo also das nationale Recht z. B. grundfreiheitswidrige preisbezogene Restriktionen enthält, erzwingen dann nicht nur die Grundfreiheiten eine „Preisfreiheit kraft Binnenmarktrechts“,135 sondern hier ist immer zugleich auch die unionsgrundrechtliche Vertragsinhaltsfreiheit betroffen. Ganz in diesem Sinne hat der EuGH entschieden, dass die unverhältnismäßige Verkürzung der Verkehrsfreiheiten zugleich eine unverhältnismäßige Einschränkung des die Vertragsfreiheit schützenden Art. 16 GRCh bedeuten kann.136 So nun auch EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016: 972 Rn. 62 ff.: Eine Verkürzung der Niederlassungsfreiheit ist zugleich auch an der in Art. 16 GRCh verbürgten Vertragsfreiheit zu messen. 134 Siehe EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 62 ff. sowie erneut eingehend oben Kapitel 2 § 3 B II 2. 135 Siehe etwa zur Buchpreisbindung bei „Re-Importen“ von Büchern EuGH Urt. v. 23.10.1986 – Rs. 355/85 (Driancourt), Slg. 1986, 3231 Rn. 12; EuGH Urt. v. 25.2.1987 – Rs. 168/86 (Rousseau), Slg. 1987, 995 Rn. 7, wonach „für Bücher, die in dem betreffenden Mitgliedstaat selbst verlegt und gedruckt wurden, freie Preise gelten, wenn sie nach ihrer Ausfuhr in einen anderen Mitgliedstaat reimportiert wurden, während für Bücher, die nicht Gegenstand eines grenzüberschreitenden Handels innerhalb der Gemeinschaft waren, der Preis vom Verleger vorgeschrieben“ werden könne. Siehe zuvor auch EuGH Urt. v. 10.1.1985 – Rs. 229/83 (Leclerc u. a.), Slg. 1985, 1 Rn. 25 ff. Vgl. zur alten Fassung der österreichischen Buchpreisbindung jüngst EuGH Urt. v. 30.4.2009 – Rs. C-531/07 (LIBRO), Slg. 2009, I-3717. Vgl. zu – unionsrechtswidrigen, weil ohne Rechtfertigung grundfreiheitsbeschränkenden – Mindestpreisregelungen für den Einzelhandelsverkauf von Treibstoff z. B. EuGH Urt. v. 29.1.1985 – Rs. 231/83 (Cullet), Slg. 1985, 305. 136 Laut EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-390/12 (Pfleger), EU:C:2014:281 Rn. 58 ff. ist – zumindest in der konkret entschiedenen Rechtssache – „eine nicht gerechtfertigte oder im Hinblick auf den in Art. 56 AEUV verankerten freien Dienst-leistungsverkehr unverhältnismäßige Einschränkung auch nicht nach Art. 52 Abs. 1 der Charta in Bezug auf deren Art. 15 bis 17 zulässig“. Siehe zur Niederlassungsfreiheit und Art. 16 GRCh nun auch EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 62 ff. Ebenso z. B. Wollenschläger, EuZW 2014, 577, 580. Schon angesichts der unterschiedlichen Schutzbereiche der Grundfreiheiten einerseits und des Unionsgrundrechts der Vertragsfreiheit andererseits ist ein solcher Gleichklang jedoch keineswegs zwingend, vgl. auch EuGH Urt. v. 13.2.2014 – Rs. C-367/12 (Sokoll-Seebacher), EU:C:2014:68 Rn. 20 ff. Keine Zustimmung verdienen deshalb die Ausführungen von GA Sharpston Schlussanträge v. 14.11.2014 – Rs. C-390/12 (Pfleger), EU:C:2013:747 Rn. 71, soweit die Generalanwältin darin einen automatischen Gleichlauf der Gewährleistungen suggeriert. 133

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Kapitel 3 – Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell

Umgekehrt führt indes nicht jede Einschränkung des Unionsgrundrechts der Vertragsfreiheit durch mitgliedstaatliche Regelungen zugleich zu einer Verkürzung der Grundfreiheiten: Gerade im schuldvertragsrechtlichen Kontext – von „Rechtsprodukten“ einmal abgesehen – wird die von privatrechtlichen Normen ausgehende Beeinträchtigung der Grundfreiheiten nämlich in aller Regel „zu ungewiss und zu mittelbar“ sein.137 Dieser Befund lässt sich somit dahingehend zusammenfassen, dass die Vertragsfreiheit als Unionsgrundrecht und privatrechtlicher Rechtsgrundsatz die Gewährleistungen der Grundfreiheiten verstärken kann, während die entgegengesetzte Wirkrichtung eher eine Ausnahme bilden dürfte. Dagegen kann die unionale Vertragsfreiheit als Abwehrgrundrecht in Stellung gebracht werden, sofern der EuGH Private – wie etwa in der Rechtssache Fra.bo –138 ausnahmsweise (mittelbar) zu Adressaten der Verkehrsfreiheiten macht und deren Freiheitssphäre somit verkürzt. Wie Generalanwältin Trstenjak zu Recht betont, fungieren die Unionsgrundrechte, einschließlich der Vertragsfreiheit, hier als mögliche Rechtfertigungsgründe für „Grundfreiheitseingriffe“ durch Private.139 Nachdem die Einwirkungsebenen der unionalen Vertragsfreiheit in das Privatrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten ermittelt sind, bleibt zu fragen, wie diese Freiheit die Ausgestaltung des Privatrechts der EU und ihrer Mitgliedstaaten konkret beeinflusst. 137 Siehe erneut oben Kapitel 2 § 1 A I 2 b sowie zuletzt etwa EuGH Urt. v. 12.7.2012 – Rs. C-602/10 (Volksbank România), EU:C:2012:443 Rn. 81. 138 Siehe zur Bindung einer privatrechtlich organisierten Zertifizierungsgesellschaft an die Warenverkehrsfreiheit EuGH Urt. v. 12.7.2012 – Rs. C-171/11 (Fra.bo), EU:C:2012: 453 Rn. 32. 139 Siehe – wiederum mit Blick auf die Bindung der privatrechtlich organisierten Zertifizierungsgesellschaft DVGW an die Warenverkehrsfreiheit – GA Trstenjak Schlussanträge v. 12.3.2012 – Rs. C-171/11 (Fra.bo), EU:C:2012:176 Rn. 56: „Unter Verweisung auf das Urteil Angonese könnte der DVGW möglicherweise auch „sachliche Überlegungen“ zur Rechtfertigung der in Rede stehenden Beschränkung vortragen. Der DVGW könnte sich des Weiteren unter Verweisung auf seine privatrechtliche Rechtsnatur auf den Schutz der in der Grundrechtecharta verbürgten Grundrechte berufen, so beispielsweise auf die in Art. 16 der Grundrechtecharta verbürgte unternehmerische Freiheit, und versuchen, eine Kollision zwischen der Warenverkehrsfreiheit und einem oder mehreren Grundrechten darzutun, die unter Heranziehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes einem gerechten Ausgleich zugeführt werden müsste“. Laut EuGH Urt. v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 (Angonese), Slg. 2000, I-4139 Rn. 42 könnte die Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch Private gerechtfertigt werden, „wenn sie auf sachliche Erwägungen gestützt wäre, die unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen und in bezug auf das berechtigterweise verfolgte Ziel verhältnismäßig sind“. Siehe zur Bedeutung der Unionsgrundrechte als Schranke der (mittelbaren) Bindung Privater an die Grundfreiheiten Schepel, ERPL 21 (2013), 1211, 1217 ff.; Nowak, FS Müller-Graff (2015), 475 ff.; Babayev, CMLR 53 (2016), 979 ff.

§ 2 Vertragsfreiheit als Begründung und Begrenzung der Vertragsbindung

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§ 2 Vertragsfreiheit als Begründung und Begrenzung der Vertragsbindung § 2 Vertragsfreiheit als Begründung und Begrenzung der Vertragsbindung

Als Richtschnur spielt die Vertragsfreiheit im Schuldvertragsrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten eine zentrale Rolle bei der Begründung ebenso wie bei der Begrenzung der Vertragsbindung. Namentlich sieht der EuGH in der Vertragsfreiheit die Rechtfertigung des Grundsatzes pacta sunt servanda im Unionsprivatrecht (A). Zugleich zieht die rechtsgeschäftliche Privatautonomie der vertraglichen Bindungswirkungen auch Schranken, da sie grundsätzlich die personelle Relativität des Schuldverhältnisses gebietet (B). Im Ergebnis (C) setzt die Vertragsfreiheit dem Privatrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten somit einen ersten, weit gesteckten Rahmen. A. Pacta sunt servanda im Unionsprivatrecht Die Bedeutung des Grundsatzes pacta sunt servanda wird erst offenbar, wenn man ihn hinwegdenkt. Bildreich beschreibt Montesquieu in seinen Lettres Persanes die fatalen Folgen, welche die systematische Nichtbeachtung von Verträgen für ein Gemeinwesen haben kann: Die Abwesenheit von Vertragstreue bringe Chaos und letztlich den vollständigen zivilisatorischen Niedergang.140 Die Begründung und Durchsetzung der Vertragstreue ist damit eine bedeutende Errungenschaft moderner Rechtssysteme: Der Grundsatz der Vertragstreue schafft die im Rechtsverkehr erforderliche Sicherheit und Verlässlichkeit, die nicht zuletzt auch für den Austausch und den freien Verkehr, z. B. von Waren, Dienstleistungen und Kapital, im europäischen Binnenmarkt unverzichtbar sind. Vor diesem Hintergrund nimmt es kaum Wunder, dass auch die Unionsrechtsordnung den Grundsatz pacta sunt servanda anerkennt. Der EuGH hat die Vertragstreue zuerst im Kontext des Völkervertragsrechts angesprochen, wo Art. 26 Wiener Vertragsrechtskonvention141 diesen Grundsatz normiert.142 Alsbald sah der Gerichtshof hierin einen „tragenden Grundsatz jeder Rechtsordnung“143 und betonte entsprechend seine Geltung als „gemeinsame[s] Montesquieu, Lettres Persanes (1721, 1831), S. 22 ff. (Lettres XI ff.) bemüht ein Gleichnis vom Volk der Troglodyten, die ihr gesamtes Handeln nur an ihrem persönlichen Eigennutz ausrichten: Nach einer Seuche verweigern sie dem behandelnden Arzt die vertraglich vereinbarte Bezahlung. Der Heiler will daraufhin bei einer neuerlichen Epidemie keinen der Troglodyten mehr versorgen, so dass das Volk nahezu ausstirbt. 141 Art. 26 Wiener Vertragsrechtskonvention (pacta sunt servanda) lautet: „Every treaty in force is binding upon the parties to it and must be performed by them in good faith“. 142 Siehe nur EuGH Urt. v. 16.6.1998 – Rs. C-162/96 (Racke), Slg. 1998, I-3655 Rn. 49. 143 Siehe zur Anerkennung dieses allgemeinen Grundsatzes, „der einen tragenden Grundsatz jeder Rechtsordnung und insbesondere der Völkerrechtsordnung darstellt“ z. B. EuGH Urt. v. 16.6.1998 – Rs. C-162/96 (Racke), Slg. 1998, I-3655 Rn. 49; EuGH Urt. v. 6.2.2014 – Rs. C-613/12 (Helm), EU:C:2014:52 Rn. 5 sowie 37 f.; EuG Urt. v. 14.12.2005 140

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Kapitel 3 – Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell

Rechtsprinzi[p] der Mitgliedstaaten“144 und der gesamten Unionsrechtsordnung.145 Der Grundsatz pacta sunt servanda stellt damit nach der Lesart des EuGH einen allgemeinen Grundsatz des Unionsprivatrechts dar: „Nach den allgemeinen Grundsätzen des Zivilrechts hat nämlich jede Vertragspartei den Vertrag einzuhalten“.146

Damit folgt der Gerichtshof der insbesondere durch seine Generalanwälte, aber auch durch das EuG bereits seit Längerem vertretenen Auffassung, dass die Vertragstreue als allgemeiner Grundsatz auch und gerade im Privatrecht von der Unionsrechtsordnung geschützt wird.147 Diese Sichtweise ist insofern zwingend, als der EuGH die Vertragstreue und -bindung als notwendiges Korrelat zur Vertragsfreiheit einordnet (I). Auf den Grundsatz pacta sunt servanda lässt sich darüber hinaus die Leistungstreue als ein das Unionsprivatrecht prägendes Unterprinzip zurückführen (II).148

– Rs. T-69/00 (FIAMM), Slg. 2005, II-5393 Rn. 109. Vgl. auch GA Kokott Schlussanträge v. 6.10.2011 – Rs. C-366/10 (Air Transport Association of America), Slg. 2011, I-13755 Rn. 56; EuGH Urt. v. 23.1.2014 – Rs. C-537/11 (Manzi), EU:C:2014:19 Rn. 36 ff. 144 Hierzu zählt EuG Beschl. v. 11.12.2001 – Rs. T-20/01 (Cerafogli), Slg. 2001, II1075 Rn. 29 ausdrücklich auch den „Grundsatz pacta sunt servanda“. 145 Z. B. EuGH Urt. v. 18.7.2007 – Rs. C-503/04 (Kommission / Deutschland), Slg. 2007, I-6153 Rn. 36. 146 EuGH Urt. v. 18.7.2007 – Rs. C-277/05 (Société thermale), Slg. 2007, I-6415 Rn. 24 und siehe dort auch Rn. 25 zu „dem Grundsatz, dass Verträge eingehalten werden müssen“. Gleichsinnig mit Blick auf den „Grundsatz der Vertragskontinuität“ im Zusammenhang mit der Einführung des Euro schon EuGH Urt. v. 14.9.2004 – Rs. C-19/03 (O2 Germany), Slg. 2004, I-8183 Rn. 54. 147 Siehe zum Grundsatz pacta sunt servanda im Vertragsrecht bereits GA Mancini Schlussanträge v. 8.6.1983 – Rs. 201/82 (Gerling), Slg. 1983, 2519 Rn. 6; GA Darmon Schlussanträge v. 10.3.1989 – verb. Rs. 266/87 u. a. (Royal Pharmaceutical Society u. a.), Slg. 1989, 1295 Rn. 22; GA Poiares Maduro Schlussanträge v. 25.3.2004 – Rs. C-19/03 (O2 Germany), Slg. 2004, I-8183 Rn. 24; EuG Urt. v. 25.5.2004 – T-154/01 (Distilleria f. Palma) Slg. 2004, II-1493 Rn. 45; GA Colomer Schlussanträge v. 19.1.2006 – Rs. C259/04 (Emanuel), Slg. 2006, I-3089 Rn. 38 (pacta sunt servanda als allgemeiner Grundsatz des Zivilrechts); GA Trstenjak Schlussanträge v. 15.11.2007 – Rs. C-404/06 (Quelle), Slg. 2008, I-2685 Rn. 64; GA Trstenjak Schlussanträge v. 30.6.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 71; GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C:2011:559 Rn. 96; GA Kokott Schlussanträge v. 3.9.2015 – Rs. C422/14 (Pujante Rivera), EU:C:2015:544 Rn. 55. Vgl. auch schon GA Mancini Schlussanträge v. 8.6.1983 – Rs. 201/82 (Gerling), Slg. 1983, 2519 Rn. 6. 148 Siehe zu den Elementen der Vertragstreue aus der Perspektive des deutschen Bürgerlichen Rechts M.-P. Weller, Die Vertragstreue (2009), S. 274 ff., der hierzu neben Vertragsbindung und Leistungstreue auch die Naturalerfüllung rechnet.

§ 2 Vertragsfreiheit als Begründung und Begrenzung der Vertragsbindung

I.

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Vertragsfreiheit als Fundament von Vertragstreue und -bindung

Anhaltspunkte, welche einen Rückschluss auf die dogmatische Herleitung der Bindungswirkung des Vertrags und ihr Verhältnis zur Vertragsfreiheit zulassen,149 sind im Unionsprivatrecht rar gesät. Allerdings definiert Art. 2 Nr. 5 Pauschalreiserichtlinie a. F.150 einen Vertrag gerade als „die Vereinbarung, die den Verbraucher an den Veranstalter und/oder Vermittler bindet“.151 Die Frage, worauf diese Verbindlichkeit des Vertrags aus Sicht des Unionsrechts beruht, wird damit freilich nicht beantwortet. Anders als der Unionsgesetzgeber hat der EuGH in seiner Judikatur bereits einen Begründungsversuch unternommen und die Vertragsbindung für die Zwecke des Unionsrechts mit der Ausübung der Vertragsfreiheit erklärt: „Die Verpflichtung, sich an den Vertrag zu halten, […] ergibt sich aus dem Vertrag selbst“.152

Der Grundsatz pacta sunt servanda ist demnach auf die Ausübung der Vertragsfreiheit durch die Parteien zurückzuführen.153 Mit den Worten des Generalanwalts Jacobs lässt sich das auch wie folgt umschreiben: „Angebot und Annahme schaffen eine vertragliche Bindung“.154

Dieses Verständnis ist auch in den mitgliedstaatlichen Privatrechtsordnungen tief verankert, wie neben dem deutschen Bürgerlichen Recht155 ein rechtsverSiehe aus dem Blickwinkel der deutschen Rechtsordnung nur Canaris, AcP 200 (2000), 273, 279; M.-P. Weller, Die Vertragstreue (2009), S. 274 ff. Siehe ferner z. B. F. Bydlinski, Privatautonomie und objektive Grundlagen des verpflichtenden Rechtsgeschäfts (1967), S. 66 ff. 150 Richtlinie 90/314/EWG des Rates vom 13. Juni 1990 über Pauschalreisen, ABl. 1990 Nr. L 158/59. 151 Demgegenüber zieht sich die neugefasste Definition in Art. 3 Abs. 3 Pauschalreiserichtlinie darauf zurück, dass der Ausdruck „Pauschalreisevertrag“ nun „einen Vertrag über eine Pauschalreise“ bezeichnen soll. 152 EuGH Urt. v. 18.7.2007 – Rs. C-277/05 (Société thermale), Slg. 2007, I-6415 Rn. 24. 153 Siehe nur Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages (2003), S. 311 ff.; M.-P. Weller, Die Vertragstreue (2009), S. 153 ff.; Bruns, JZ 2007, 385, 386. 154 Vgl. nur GA Jacobs Schlussanträge v. 11.7.1996 – verb. Rs. C-320/94 u. a. (RTI u. a.), Slg. 1996, I-6471 Rn. 21. 155 Siehe zur Herleitung der Vertragstreue aus der Vertragsfreiheit im deutschen Bürgerlichen Recht nur BVerfG Beschl. v. 19.10.1993 – Az. 1 BvR 567/89 u. a., BVerfGE 89, 214, 231 f. („Nach ihrem Regelungsgegenstand ist die Privatautonomie notwendigerweise auf staatliche Durchsetzung angewiesen. Ihre Gewährleistung denkt die justitielle Realisierung gleichsam mit und begründet daher die Pflicht des Gesetzgebers, rechtsgeschäftliche Gestaltungsmittel zur Verfügung zu stellen, die als rechtsverbindlich zu behandeln sind und auch im Streitfall durchsetzbare Rechtspositionen begründen“.). Siehe statt vieler ferner Canaris, AcP 200 (2000), 273, 278 f.; M.-P. Weller, Die Vertragstreue (2009), S. 274 ff. m. w. N. Darüber hinaus wollen z. B. F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts (1996), S. 153 ff.; S. Lorenz, Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag 149

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Kapitel 3 – Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell

gleichender Blick z. B. auf das Zivilrecht in Frankreich156 und im Vereinigten Königreich157 verdeutlicht, wo der Grundsatz pacta sunt servanda als „Korrelat“ und als „Schwesterprinzip“ der Vertragsfreiheit begriffen wird. Die vom EuGH gewählte Begründung der Bindungswirkung von Verträgen steht auch insoweit auf einem soliden Fundament. Weil überdies Durchbrechungen der Vertragstreue in den Rechtsakten des Unionsprivatrechts stets ausdrücklich normiert werden, zeigt sich, dass das Unionsrecht im Grundsatz von einer – wie gezeigt in der Vertragsfreiheit wurzelnden – Bindungswirkung des Vertrags ausgeht. Die Beispiele rangieren hier von Widerrufs- und sonstigen Vertragslösungsrechten bei Verbraucher- und Finanzdienstleistungsverträgen158 über Leistungsverweigerungsrechte bei Flugreiseverträgen159 bis hin zur unionsrechtlich gebotenen Vertragsaufsage im Kontext des Wirtschaftsrechts.160 (1997), S. 35 ff. und Leistner, Richtiger Vertrag und lauterer Wettbewerb (2007), S. 180 f. die Vertragstreue zusätzlich auf Verkehrs- und Vertrauensschutzerwägungen stützen. 156 Siehe zur „force obligatoire du contrat“ gemäß Art. 1103 Code civil (ehemals Art. 1134 Code civil) nur Ghestin / Loiseau / Serinet, La formation du contrat I (2013), Rn. 196 m. w. N. 157 Siehe mit Blick auf das Vereinigte Königreich z. B. Whittaker, ERCL 7 (2011), 371, 374 f. („[F]reedom of contract (and its sister principle of the binding force of contracts)“; Chitty on Contracts I (2012), Rn. 1-036 ff. („A concomitant of the doctrine of freedom of contract is the binding force of contracts“). 158 Solche dem Grundsatz der Vertragstreue zuwiderlaufende Vertragslösungsrechte statuieren beispielsweise Art. 9 ff. Verbraucherrechterichtlinie für Außergeschäftsraumund Fernabsatzverträge, Art. 14 Verbraucherkreditrichtlinie für Kreditverträge mit Konsumenten und schließlich Art. 186 Solvency II für Lebensversicherungsverträge. Darüber hinaus sollen nach Art. 25 Wohnimmobilienkreditvertragsrichtlinie „Verbraucher das Recht haben, ihre Verbindlichkeiten aus einem Kreditvertrag vollständig oder teilweise vor Ablauf des Vertrags zu erfüllen“. Auch hierin liegt eine Durchbrechung des Grundsatzes der Vertragstreue, vgl. nur BGH Urt. v. 6.5.2003 – Az. XI ZR 226/02, DNotZ 2004, 120, 121, wo der BGH zum bisherigen deutschen Recht hervorhebt, „dass eine solche Durchbrechung des Grundsatzes der Vertragstreue nur gerechtfertigt ist, wenn berechtigte Interessen des Darlehensnehmers dies gebieten“. 159 Art. 4 Abs. 2 Fluggastrechteverordnung gestattet dem ausführenden Luftfahrtunternehmen bei Überbuchung eines Fluges, unter bestimmten Voraussetzungen „Fluggästen gegen ihren Willen die Beförderung [zu] verweigern“ und legitimiert damit einen Vertragsbruch. Freilich schreiben Art. 4 Abs. 3, Art. 7 und Art. 8 für diesen Fall zugleich Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen vor, die nach Art. 15 Abs. 1 Fluggastrechteverordnung nicht disponibel sind. 160 Z. B. kann das unionale Beihilfen- ebenso wie das Vergaberecht eine Durchbrechung des Grundsatzes pacta sunt servanda erzwingen, siehe zum Beihilferecht nur Präsident des EuG Beschl. v. 6.12.1996 – Rs. T-155/96 R (Stadt Mainz / Kommission), Slg. 1996, II-1655 Rn. 22; GA Colomer Schlussanträge v. 28.10.1999 – Rs. C-404/97 (Kommission / Portugal), Slg. 2000, I-4897 Rn. 55. Siehe zum EU-Vergaberecht z. B. GA Geelhoed Schlussanträge v. 24.6.2004 – Rs. C-126/03 (Kommission / Deutschland), Slg. 2004, I-11197 Rn. 41 ff. Laut GA Trstenjak Schlussanträge v. 28.3.2007 – Rs. C-503/04 (Kom-

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In der Summe wird die Vertragsfreiheit explizit und auch implizit als Rechtfertigung des allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatzes der Vertragstreue anerkannt. Hieraus folgt, dass das Privatrecht der EU – und im Anwendungbereich des Unionsrechts auch dasjenige ihrer Mitgliedstaaten – die Verbindlichkeit von Verträgen so lange gewährleisten muss, wie Letztere Ausdruck der unions(grund)rechtlich verbürgten Vertragsfreiheit sind.161 II. Leistungstreue als zentrales Element Schon Rabel bezeichnete den Anspruch auf die vertragliche Leistung als das „Rückgrat der Obligation“.162 Mit Blick auf das Unionsprivatrecht stellt auch der EuGH allgemein heraus, dass ein Vertrag die Parteien nicht nur grundsätzlich bindet, sondern gerade auch dazu anhält, ihn in der vereinbarten Gestalt und in dem versprochenen Umfang durchzuführen, das heißt also zu erfüllen. Entsprechend setzt „die vollständige Durchführung eines Vertrags in der Regel [die] Erbringung der gegenseitigen Leistungen der Vertragsparteien“ voraus.163

Damit postuliert der Gerichtshof gerade den Grundsatz der Leistungstreue,164 der eine Folge der Vertragsbindung und damit letztlich der Ausübung der Vertragsfreiheit der Parteien ist.165 Dieser Grundsatz beherrscht sowohl das Verbraucher- (1) als auch das unionale Wirtschaftsvertragsrecht (2). 1. Verbrauchervertragsrecht und Leistungstreue Im geschriebenen Unionsprivatrecht scheint der Grundsatz der Leistungstreue beispielsweise in Art. 2 Abs. 1 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie auf.166 Nach mission/Deutschland), Slg. 2007, I-6153 Rn. 74 f. „spricht alles dafür, dass […] eine Pflicht zur Beendigung des Vertrags“ besteht und führt zudem aus: „Dem Grundsatz pacta sunt servanda kann somit nur dann Bedeutung beigemessen werden, wenn das Gemeinschaftsrecht einen Bestandsschutz für Verträge, die unter Verstoß gegen das Vergaberecht zustande gekommen sind, ausdrücklich anerkennt“. Ebenso im Ergebnis sodann EuGH Urt. v. 18.7.2007 – Rs. C-503/04 (Kommission / Deutschland), Slg. 2007, I-6153 Rn. 36. 161 Vgl. erneut EuGH Urt. v. 18.7.2007 – Rs. C-277/05 (Société thermale), Slg. 2007, I6415 Rn. 24. Gleichsinnig etwa Riesenhuber, GS Wolf (2011), S. 123, 132. 162 Rabel, Recht des Warenkaufs I (1936), S. 375. 163 EuGH Urt. v. 10.4.2008 – Rs. C-412/06 (Hamilton), Slg. 2008, I-2383 Rn. 42. 164 Siehe zum Begriff nur M.-P. Weller, Die Vertragstreue (2009), S. 302 ff. 165 Siehe zum Zusammenhang zwischen Vertragsfreiheit sowie Vertrags- und Leistungstreue erneut oben nur M.-P. Weller, Die Vertragstreue (2009), S. 153 ff. 166 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Mai 1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 19999 L 171/12, zuletzt geändert durch Art. 33 Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011 über die Rechte der Verbraucher, ABl. 2011 L 304/64.

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dieser Vorschrift ist der Verkäufer verpflichtet, „dem Verbraucher dem Kaufvertrag gemäße Güter zu liefern“. Darüber hinaus soll die Lieferung einer vertragswidrigen, weil mangelbehafteten Kaufsache in erster Linie die Nachbesserung oder Ersatzlieferung durch den Verkäufer gemäß Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 der Richtlinie zur Folge haben. Dabei dient die „Nachbesserung“ gemäß Art. 1 Abs. 2 lit. f Verbrauchsgüterkaufrichtlinie gerade der Herstellung des vertragsgemäßen Zustands und damit wiederum der Leistungstreue des Verkäufers. Entsprechend nimmt auch der EuGH zum Ausgangspunkt, dass der Verkäufer einer vertragswidrigen Sache „die Verpflichtung, die er im Kaufvertrag eingegangen ist, nicht ordnungsgemäß erfüllt [hat]“ und „daher die Folgen der Schlechterfüllung tragen“ müsse.167 Diese Lesart erklärt auch zwanglos den in Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 2 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie angelegten Vorrang der Nacherfüllung oder -lieferung vor der Kaufpreisminderung bzw. Vertragsauflösung: Erkennt man in der Mangelgewährleistung nämlich die Durchsetzung und gegebenenfalls auch die Fortwirkung des Grundsatzes pacta sunt servanda, so muss ihr primäres Ziel unweigerlich die „Herstellung des vertragsgemäßen Zustands“ im Interesse der „Erfüllung des Vertrags“ sein.168 Überdies bezwecken die Richtlinienvorgaben laut EuGH gerade „nicht […], die Verbraucher in eine Lage zu versetzen, die vorteilhafter ist als diejenige, auf die sie nach dem Kaufvertrag Anspruch erheben könnten, sondern lediglich die Situation herstellen sollen, die vorgelegen hätte, wenn der Verkäufer von vornherein ein vertragsgemäßes Verbrauchsgut geliefert hätte“. 169

Entsprechend ist weniger die Privilegierung des Verbrauchers als vielmehr die Einhaltung der – wie gezeigt letztlich auch in der unionalen Vertragsfreiheit wurzelnden – Vertragstreue Triebfeder des Verbrauchsgüterkaufrechts.170 Dies zeigt sich auch darin, dass die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie durchaus 167 EuGH Urt. v. 16.6.2011 – verb. Rs. C-65/09 u. a. (Weber u. a.), Slg. 2011, I-5257 Rn. 56 (Herv. d. Verf.). Ebenso schon EuGH Urt. v. 17.4.2008 – Rs. C-404/06 (Quelle), Slg. 2008, I-2685 Rn. 41. 168 Entsprechend begründet EuGH Urt. v. 16.6.2011 – verb. Rs. C-65/09 u. a. (Weber u. a.), Slg. 2011, I-5257 Rn. 72 den Vorrang der Nacherfüllung und Nachlieferung gerade wie folgt: „Diese […] Entscheidung beruht […] auf dem Umstand, dass die Richtlinie im Interesse der beiden Vertragsparteien der Erfüllung des Vertrags mittels einer der beiden zunächst vorgesehenen Abhilfen den Vorzug vor einer Auflösung des Vertrags oder der Minderung des Kaufpreises gibt“. 169 EuGH Urt. v. 16.6.2011 – verb. Rs. C-65/09 u. a. (Weber u. a.), Slg. 2011, I-5257 Rn. 52. 170 Vgl. wiederum EuGH Urt. v. 16.6.2011 – verb. Rs. C-65/09 u. a. (Weber u. a.), Slg. 2011, I-5257 Rn. 52. In diesem Sinne allgemein auch Repgen, Kein Abschied von der Privatautonomie (2001), S. 69 ff. Der Verbraucherschutz steht freilich bei der zwingenden Ausgestaltung der Art. 7 und 8 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie im Vordergrund. Zu Recht kritisch mit Blick auf die zwingende Ausgestaltung der Gewährleistung bei gebrauchten Artikeln z. B. Canaris, AcP 200 (2000), 273, 362 f.; G. Wagner, in: Blaurock / Hager (Hrsg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), S. 13, 40 ff.

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auch auf die Leistungstreue des Verbrauchers hinwirkt, indem sie ihn in bestimmten Konstellationen zur Einhaltung des Vertrags gegenüber dem Verkäufer zwingt.171 Im Verbrauchervertragsrecht ist der Grundsatz der Leistungstreue nunmehr auch in der Verbraucherrechterichtlinie verankert: Nach Art. 18 dieses Sekundärrechtsakts trifft den Unternehmer eine „Pflicht zur Lieferung“ entsprechend der vertraglichen Vereinbarung.172 Ebenso schwingt der Grundatz in der Klauselrichtlinie mit, wenn im Anhang zu diesem Sekundärrechtsakt zahlreiche Klauseltypen aufgeführt werden, die gemäß Art. 3 Abs. 1 und 3 Klauselrichtlinie gerade deshalb auf die Missbräuchlichkeit hinweisen, weil sie dem Verwender ein einseitiges Abgehen von seinen vertraglichen Verpflichtungen gestatten.173 2. Leistungs- und Zahlungstreue im Wirtschaftsvertragsrecht Schließlich beherrscht der Grundsatz der Leistungstreue auch das unionale Wirtschaftsvertragsrecht: Namentlich sollen die Verzugszinsregelungen der Zahlungsverzugsrichtlinie die zur Zahlung verpflichtete Partei zur Vertragstreue anhalten. Laut Erwägungsgrund Nr. 12 dieser Richtlinie stellt der „Zahlungsverzug […] einen Vertragsbruch dar“. Ebendiese Verletzung vertraglicher Pflichten sucht der Sekundärrechtsakt zu verhindern und die Leistungsund Zahlungstreue174 im Geschäftsverkehr sicherzustellen. Die Richtlinie ist dabei an den ökonomischen Funktionen von Verzugszinsen ausgerichtet: Die Verzinsung des vertraglich geschuldeten Kapitals macht, erstens, das vertragswidrige Verhalten des Schuldners unrentabel.175 Zweitens, kompensieren Namentlich hat der Verbraucher gemäß Art. 3 Abs. 6 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie „[b]ei einer geringfügigen Vertragswidrigkeit […] keinen Anspruch auf Vertragsauflösung“. Siehe zur Wahrung der Vertragstreue durch solche Bagatellgrenzen eingehend M. Stürner, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Schuldvertragsrecht (2010), S. 236 ff. 172 Vgl. Art. 18 Abs. 1 und Abs. 2 Unterabs. 1 Verbraucherrechterichtlinie. Da mit dieser Pflicht denknotwendig ein Recht des Verbrauchers korrespondiert, hat Letzterer also gegen den Unternehmer nunmehr einen – originär unionsrechtlich determinierten – Anspruch auf Lieferung. 173 Vgl. beispielsweise Anhang zur Klauselrichtlinie Nr. 1 lit. n (Einschränkung der Pflicht des Unternehmers, seine vertraglichen Verpflichtungen einzuhalten), lit. o (fortbestehende Leistungspflicht des Verbrauchers trotz Nichterfüllung des Unternehmers) sowie lit. j und k (einseitiges Recht zur Vertrags- und Leistungsänderung). 174 Siehe zu dieser im Unionsrecht wurzelnden „Kultur der Zahlungstreue“ nur M.-P. Weller / Harms, WM 2012, 2305 ff. 175 Durch die Richtlinie soll verhindert werden, dass diese Verhaltensweise für den Schuldner „finanzielle Vorteile bringt“, weshalb solche letztlich weitestgehend abgeschöpft werden müssen, Erwägungsgrund Nr. 12 Zahlungsverzugsrichtlinie. Vgl. zur Verzinsung von Rückzahlungsansprüchen unionsrechtswidrig erlangter Beträge auch GA Sharpston Schlussanträge v. 26.1.2014 – Rs. C-564/10 (Pfeifer & Langen), EU:C:2012:38 Rn. 64: „Zweitens soll der Vorteil beseitigt werden, den [der Schuldner] erlangen würde, 171

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die Verzugszinsen den Gläubiger zugleich für das Ausbleiben der Zahlungen und ersetzen ihm dadurch etwaige Erträge, die er mit dem Kapital hätte erwirtschaften können.176 Das Hauptziel von Verzugszinsen ist indes, drittens, Prävention: Die Zinszahlungspflicht dient dazu, den Schuldner „von der Überschreitung der Zahlungsfristen abzuschrecken“ und ihn zur vertragsgemäßen Erfüllung anzuhalten.177 Während die Zahlungsverzugsrichtlinie nur zwischen gewerblich tätigen Parteien anwendbar ist, gestattet das Unionsrecht auch gegenüber Verbrauchern grundsätzlich die Verwendung von Klauseln, welche den Konsumenten – etwa in Gestalt von Verzugszinsbestimmungen – dazu motivieren, „nicht in Verzug mit seinen Vertragspflichten zu geraten und einen bereits eingetretenen Verzug schnell zu beenden“.178 Triebfeder ist hier wiederum die Vertrags- und Leistungstreue als unionsrechtlich anerkanntes Ziel.179 Vor diesem Hintergrund soll laut Generalanwältin Kokott eine Verzugszinsklausel unter bestimmten Voraussetzungen nicht als missbräuchlich im Sinne des Art. 3 Abs. 1 der Klauselrichtlinie einzuordnen sein: „Dient der Verzugszins […] dem Anhalten zur Vertragstreue und damit der Aufrechterhaltung der Zahlungsmoral, wird er erst dann als missbräuchlich zu qualifizieren sein, wenn er deutlich höher ausfällt als zur Erreichung dieses Ziels erforderlich“.180

Diese Lesart der Generalanwältin hat auch der EuGH aufgegriffen und entschieden, dass nationale Gerichte lediglich abwägen müssen, „ob der Verzugszins zur Erreichung der Zwecke […] geeignet ist und nicht über das hierzu Erforderliche hinausgeht“.181 Aus dem Blickwinkel der Unionsrechtsordnung dürfen demnach auch Verbraucher durch vertragliche Zinsabreden zu vertragstreuem Verhalten motiviert werden.

wenn diese zu viel gezahlten Beträge nicht zu verzinsen wären“ (Herv. d. Verf.). Siehe zu dieser Frage bereits Basedow, ZHR 143 (1979), 317, 322 f. 176 Vgl. zur „Entschädigung der Gläubiger“ nur Erwägungsgrund Nr. 12 Zahlungsverzugsrichtlinie. Vgl. auch EuGH Urt. v. 3.4.2008 – Rs. C-306/06 (01051 Telecom), Slg. 2008, I-1923 Rn. 22 ff. Eingehend schon Basedow, ZHR 143 (1979), 317, 322 f. 177 Erwägungsgrund Nr. 12 Zahlungsverzugsrichtlinie. Siehe hierzu wiederum Basedow, ZHR 143 (1979), 317, 322 f. 178 GA Kokott Schlussanträge v. 8.11.2012 – Rs. C-415/11 (Aziz), EU:C:2012:700 Rn. 87. Im Ergebnis ebenso EuGH Urt. v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 (Aziz), EU:C:2013: 164 Rn. 74. 179 Deutlich macht dies GA Kokott Schlussanträge v. 8.11.2012 – Rs. C-415/11 (Aziz), EU:C:2012:700 Rn. 86, wenn sie ausführt, dass solche Klauseln gerade dazu dienen können, „den Vertragspartner zur Vertragstreue anzuhalten“. 180 GA Kokott Schlussanträge v. 8.11.2012 – Rs. C-415/11 (Aziz), EU:C:2012:700 Rn. 87. 181 EuGH Urt. v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 (Aziz), EU:C:2013:164 Rn. 74.

§ 2 Vertragsfreiheit als Begründung und Begrenzung der Vertragsbindung

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III. Zwischenfazit Der Grundsatz pacta sunt servanda wird auch in der Unionsrechtsordnung aus der Vertragsfreiheit selbst abgeleitet. Dieser Grundsatz beherrscht das gesamte EU-Schuldvertragsrecht, wobei der Leistungstreue als zentraler Facette der Vertragstreue besondere Bedeutung zukommt. Entsprechend wirkt das unionale Verbrauchervertragsrecht darauf hin, dass sich Verbraucher und Unternehmer gleichmaßen vertragstreu verhalten. Auch das unionale Wirtschaftsvertragsrecht hält verschiedene Mechanismen zur Gewährleistung der Vertrags- und Leistungstreue bereit. Neben Umfang und Inhalt der Vertragsbindung definiert die unionale Vertragsfreiheit zugleich, wer dieser Bindung unterworfen wird und welche Personen von den schuldvertraglichen Verpflichtungen grundsätzlich ausgenommen bleiben müssen. B. Personale Relativität vertraglicher Schuldverhältnisse Die Vertragsfreiheit ist nicht nur Geltungsgrund, sondern zugleich auch Begrenzung der Vertragsbindung: Aus dem Gebot des Schutzes der (negativen) unionalen Vertragsfreiheit folgt zunächst die allgemeine Anerkennung des Grundsatzes der Relativität der Schuldverhältnisse (I). Damit einher geht das Verbot von Verträgen zulasten Dritter im Privat- und Wirtschaftsrecht der Union (II). An der Grenze positiver Gestaltungsfreiheit der Parteien einerseits und negativer Vertragsfreiheit Unbeteiligter andererseits stehen schließlich Verträge zugunsten Dritter (III). I.

Grundsatz der Relativität im Unionsrecht

Die unionsrechtlich verbürgte Vertragspartnerwahl- und Inhaltsfreiheit gebietet, dass jede Person selbst bestimmen kann, ob und mit wem sowie mit welchem Inhalt sie eine Vertragsbeziehung eingeht.182 Hieraus folgt zugleich, dass die Privatrechtsordnungen der EU und – im Anwendungsbereich des Unionsrechts – ihrer Mitgliedstaaten sicherstellen müssen, dass die Bindungswirkung des Vertrags grundsätzlich auf die Vertragsparteien beschränkt bleibt. Diesen allen europäischen Rechtssystemen bekannten Zusammenhang bringt Ghestin wie folgt auf den Punkt: „[L]e principe d’autonomie a pour corollaire logique celui de l’effet relatif du contrat“.183

182 Vgl. zur Abwehrfunktion der Vertragsfreiheit allgemein Hassemer, Heteronomie und Relativität in Schuldverhältnissen (2007), S. 15. 183 Ghestin / Loiseau / Serinet, La formation du contrat I (2013), Rn. 197. Vgl. auch Art. 1199 französischer Code civil: „Le contrat ne crée d’obligations qu’entre les parties“. Darüber hinaus wird der Grundsatz der Relativität vertraglicher Schuldverhältnisse bei-

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Auch in der Rechtsprechung der Gerichte der Union ist die Relativität vertraglicher Schuldverhältnisse fest verankert: Beispielsweise hat das EuG jüngst betont, das einer „der allgemeinen Grundsätze des Vertragsrechts […] besagt, dass ein Vertrag nur die Vertragsparteien bindet“.184 Vor allem begründet der EuGH die personale Relativität der Schuldverträge ausdrücklich mit dem Gebot des Schutzes der – negativen – unionalen Vertragsfreiheit: Nach der Lesart des Gerichtshofs verstößt es „gegen Grundrechte des Arbeitnehmers“ – und namentlich gegen die negative Vertragspartnerwahlfreiheit –, wenn er durch einen Betriebsübernahmevertrag zwischen seinem bisherigen Arbeitgeber und dem Betriebserwerber „verpflichtet werden kann, für einen Arbeitgeber zu arbeiten, den er nicht frei gewählt hat“. 185 Dass es hierbei in der Tat nicht nur um den besonderen Schutz der persönlichen Arbeitskraft, sondern um die rechtsgeschäftliche Privatautonomie im Allgemeinen geht, belegt eine ebenfalls im Kontext der Betriebsübergangsrichtlinie ergangene Entscheidung des EuGH: Niemals dürfe durch den auf Unternehmensübertragung gerichteten Vertrag ein hieran „nicht beteiligter Dritter beeinträchtigt werden, indem diese[m] eine […] Verpflichtung zur Hinnahme eines automatischen Übergangs des Mietvertrags auferlegt wird“. 186 Eine weitere Stütze findet das hiesige Verständnis im Alemo-Herron-Urteil des Gerichtshofs: Hier sah der EuGH den Wesensgehalt der durch Art. 16 GRCh garantierten unionalen Vertragsfreiheit dadurch verletzt, dass der Betriebserwerber an die Ergebnisse von (Tarif)Vertragsverhandlungen gebunden wird, obwohl er selbst weder Einfluss auf die ausgehandelten Arbeitsbedingungen nehmen noch überhaupt Partei der auf diesem Wege erzielten Vereinbarungen sein kann.187 spielsweise auch im Vereinigten Königreich gerade aus der Vertragsfreiheit der Parteien abgeleitet, vgl. nur Stewart v Perth and Kinross Council [2004] UKHL 16 (Lord Steyn). 184 Siehe im Kontext einer Schiedsklausel nach Art. 272 AEUV EuG Urt. v. 19.9.2012 – verb. Rs. T-168/10 u. a. (Kommission / SEMEA u. a.), EU:T:2012:435 Rn. 134. Das Urteil ist sodann durch EuGH Urt. v. 19.6.2014 – Rs. C-531/12 P (SEMEA/Kommission), EU:C: 2014:2008 Rn. 17 und 50 ff. bestätigt worden. Siehe ferner nur GA Mazák Schlussanträge v. 12.6.2008 – Rs. C-47/07 P (Masdar), Slg. 2008, I-9761 Rn. 48 mit Blick auf „den Grundsatz […], dass ein Vertrag in der Regel Rechte oder Verpflichtungen […] nur für die Vertragsparteien begründen kann“. Vgl. zum „efecto relativo de los contratos“ auch Schlussanträge GA Colomer 16.10.2008 – Rs. C-339/07 (Deko Marty), Slg. 2009, I-767 Rn. 26. 185 EuGH Urt. v. 16.12.1992 – verb. Rs. C-132/91 u. a. (Katsikas u. a.), Slg. 1992, I6577 Rn. 31 f. Gleichsinnig schon EuGH Urt. v. 11.7.1985 – Rs. 105/84 (Mikkelsen), Slg. 1985, 2639 Rn. 16. 186 EuGH Urt. v. 16.10.2008 – Rs. C-313/07 (Kirtruna), Slg. 2008, I-7907 Rn. 44 (Herv. d. Verf.). In dieser Rechtssache fragte das vorlegende Gericht, ob die Betriebsübergangsrichtlinie auch den Vermieter, der Gewerberäume an den zu übertragenden Betrieb vermietet hat, zur Fortführung des Mietvertrages mit dem Betriebserwerber verpflichten kann. 187 EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 32 ff. Vgl. auch EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972

§ 2 Vertragsfreiheit als Begründung und Begrenzung der Vertragsbindung

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Darüber hinaus legt der EuGH den Grundsatz der Relativität der Schuldverhältnisse auch in anderen Bereichen des EU-Privatrechts zugrunde. Mit Blick auf das internationale Unionsprivatrecht leitet der EuGH aus dem „Grundsatz der Vertragsautonomie“ in der Rechtssache Refcomp ab, „dass die in einen Vertrag aufgenommene Gerichtsstandsvereinbarung ihre Wirkung grundsätzlich nur im Verhältnis zwischen den Parteien entfaltet, die dem Abschluss dieses Vertrags zugestimmt haben“.188

Entsprechend versagt der Gerichtshof einer Klage auch die Einordnung als vertragliche Streitigkeit im Sinne des Art. 7 Nr. 1 Brüssel Ia, wenn die Parteien zwar mittelbar durch „eine Kette von Verträgen“ mit anderen Vertragspartnern, nicht aber durch eine direkt zwischen ihnen geschlossene vertragliche Vereinbarung miteinander verbunden sind.189 Schließlich erkennt die Unionsrechtsordnung den Grundsatz der Relativität vertraglicher Schuldverhältnisse auch dadurch implizit an, dass Durchbrechungen dieses Grundsatzes allenfalls in engen Grenzen und nur in ausdrücklich normierten Einzelfällen zulässig sind. Ein erstes Beispiel liefert das unionale Versicherungsvertragsrecht: Überträgt ein Versicherungsunternehmen seinen Bestand an Versicherungsverträgen auf einen anderen Versicherer, Rn. 68. Eine unionsgrundrechtskonforme Einflussmöglichkeit des Betriebserwerbers bejaht EuGH Urt. v. 27.4.2017 – Rs. C-680/15 u.a. (Asklepios Kliniken u.a.), EU:C:2017:317 Rn. 23 ff. hingegen mit Blick auf das deutsche Recht. 188 EuGH Urt. v. 7.3.2013 – Rs. C-543/10 (Refcomp), EU:C:2013:62 Rn. 28 f. und 40 führt weiter aus: „Grundsätzlich muss ein Dritter, damit ihm eine Klausel entgegengehalten werden kann, eine entsprechende Zustimmung erteilt haben“. Siehe auch EuGH Urt. v. 28.6.2017 – Rs. C-436/16 (Leventis und Vafias), EU:C:2017:497 Rn. 35; EuGH Urt. v. 13.7.2017 – Rs. C-368/16 (Assens Havn), EU:C:2017:546 Rn. 39 f. Anders liegt der Fall indes, wenn es sich um eine Vereinbarung zugunsten Dritter handelt, siehe hierzu noch eingehend unten III und vgl. zudem EuGH Urt. v. 14.7.1983 – Rs. 201/82 (Gerling), Slg. 1983, 2503 Rn. 10 ff. und insbesondere Rn. 19 f. Siehe zum Sonderfall, dass die in einem Konnossement enthaltene Gerichtsstandsvereinbarung gegenüber dem Drittinhaber wirkt, weil dieser mit Erwerb des Konnossements nach dem anwendbaren Recht kraft Gesetzes in die Rechte und Pflichten des Befrachters eintritt, EuGH Urt. v. 19.6.1984 – Rs. 71/83 (Russ), Slg. 1984, 2417 Rn. 20 ff.; EuGH Urt. v. 9.11.2000 – Rs. C-387/98 (Coreck), Slg. 2000, I-9337 Rn. 23 ff. Siehe zur Rolle internationaler Handelsbräuche nur EuGH Urt. v. 16.3.1999 – Rs. C-159/97 (Castelletti), Slg. 1999, I-1597 Rn. 13 ff. Siehe zum Ganzen statt aller Rauscher / Mankowski (2015), Art. 25 Brüssel Ia Rn. 134 ff. und 187 ff. 189 EuGH Urt. v. 17.6.1992 – Rs. C-26/91 (Handte), Slg. 1992 I-3967 Rn. 16 f.: „Zu der Klage des späteren Erwerbers einer bei einem Zwischenhändler gekauften Ware gegen den Hersteller auf Ersatz des Schadens, der angeblich aus der Nichtübereinstimmung der Sache mit den Anforderungen resultiert, ist festzustellen, daß zwischen dem späteren Erwerber und dem Hersteller keine vertragliche Beziehung besteht, da dieser gegenüber dem späteren Erwerber keine vertragliche Verpflichtung eingegangen ist“. Siehe zum Verbrauchergerichtsstand nach Art. 17 Abs. 1 Brüssel Ia sodann auch EuGH Urt. v. 28.1.2015 – Rs. C375/13 (Kolassa), EU:C:2015:37 Rn. 30 ff. Vgl. ferner GA Jacobs Schlussanträge v. 8.4.1992 – Rs. C-26/91 (Handte), Slg. 1992 I-3967 Rn. 21.

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bedarf diese Vertragsübernahme gemäß Art. 39 Solvency II – anders als dies z. B. § 415 BGB und Art. 1406 Codice civile fordern – nicht der Genehmigung der individuellen Versicherungsnehmer.190 Letztere sehen sich somit ohne ihr Zutun mit einem neuen Vertragspartner konfrontiert. Diese Lockerung der personalen Relativität des Versicherungsvertragsverhältnisses wird aber durch das Erfordernis einer aufsichtsbehördlichen Genehmigung kompensiert, in deren Vorfeld alle Interessen der Versicherungsnehmer berücksichtigt werden sollen.191 Im unionsrechtlich determinierten Reisevertragsrecht schränkt sodann Art. 4 Abs. 3 Pauschalreiserichtlinie den Grundsatz der Relativität des Schuldverhältnisses ein: Nach Art. 9 Abs. 1 Pauschalreiserichtlinie kann „ein Reisender den Pauschalreisevertrag auf eine Person, die alle Vertragsbedingungen erfüllt, übertragen“, ohne dass es der Zustimmung des anderen Vertragsteils bedürfte.192 Eine Lockerung der Relativität der vertraglichen Schuldverhältnisse bedeutet zudem die Regressmöglichkeit des Letztverkäufers in der Vertragskette nach Art. 4 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie.193 Gleiches trifft schließlich auch auf die Berücksichtigung sachlich verbundener, aber rechtlich getrennter Vertragsverhältnisse im Rahmen des Verbrauchergerichtsstandes des Art. 17 Brüssel Ia zu.194 II. Verbot von Verträgen zulasten Dritter Eine eigenständige Ausprägung des Grundsatzes der Relativität vertraglicher Schuldverhältnisse ist die Unzulässigkeit von Verträgen zulasten Dritter im Unionsprivatrecht. Der EuGH postuliert daher ausdrücklich auch mit Blick auf die Unionsrechtsordnung einen allgemeinen „Grundsatz, dass Verträge zu Lasten Dritter unzulässig sind“. 195 190 Nach Art. 39 Abs. 6 Unterabs. 2 Solvency II wirkt die Bestandsübertragung „automatisch gegenüber den betroffenen Versicherungsnehmern oder Versicherten sowie gegenüber allen anderen Personen, die Rechte oder Pflichten aus den übertragenen Verträgen haben“. 191 Dazu statt vieler Lüttringhaus, VersR 2008, 1036 ff. 192 Nach Art. 9 Abs. 2 Pauschalreiserichtlinie haften der Dritte und der ursprüngliche Vertragsteil dem Reiseveranstalter allerdings als Gesamtschuldner. Vgl. statt aller Staudinger / A. Staudinger (2016), § 651b BGB Rn. 4 ff. 193 Siehe zu dieser Durchbrechung der Relativität der Schuldverhältnisse eingehend Hassemer, Heteronomie und Relativität in Schuldverhältnissen (2007), S. 114 ff. m. w. N. 194 EuGH Urt. v. 23.12.2015 – Rs. C-297/14 (Hobohm), EU:C:2015:844 Rn. 22 ff. (Makler- und Kaufvertrag). Vgl. auch schon EuGH Urt. v. 14.11.2013 – Rs. C-478/12 (Maletic), EU:C:2013:735 Rn. 29 ff. (Reisevermittlungs- und Pauschalreisevertrag). 195 EuGH Urt. v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 (Werhof), Slg. 2006, I-2397 Rn. 23 (Herv. d. Verf.). Siehe auch GA Colomer Schlussanträge v. 15.11.2005 – Rs. C-499/04 (Werhof), Slg. 2006, I-2397 Rn. 52, der „den allgemeinen Grundsatz pacta tertiis nec nocent“ ins Feld führt. Siehe zum Völkerrecht nur EuGH Urt. v. 25.2.2010 – Rs. C-386/08 Giuliano /  Lagarde Slg. 2010, I-1289 Rn. 44 ff. EuGH Urt. v. 23.1.2014 – Rs. C-537/11 (Manzi),

§ 2 Vertragsfreiheit als Begründung und Begrenzung der Vertragsbindung

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Dieses in allen EU-Mitgliedstaaten anerkannte Verbot ist Ausdruck des Respekts der negativen Vertragsfreiheit des an der Vereinbarung unbeteiligten Dritten:196 Vertragsexterne müssen auch in der Rechtsordnung der EU „gegenüber rechtsgeschäftlichen Übergriffen anderer Personen auf ihre Rechtssphäre in Schutz genommen werden“.197 Im System der Privatrechtswirkungen dient das Verbot von Verträgen zulasten Dritter somit nicht zuletzt der Erfüllung der aus dem Unionsgrundrecht der Vertragsfreiheit folgenden Schutzpflichten.198 Nach der Lesart des EuGH in der Rechtssache Refcomp verbietet sich eine unkonsentierte Verpflichtung vertragsfremder Parteien deshalb, weil die Bindungswirkung des Vertrags grundsätzlich nur durch die Ausübung der Vertragsfreiheit eintreten kann.199 Das durch die negative Vertragsfreiheit legitimierte Verbot von Verträgen zulasten Dritter beherrscht ferner z. B. das internationale Schuldvertragsrecht der Union: Gemäß Art. 3 Abs. 2 S. 2 Rom I werden „Rechte Dritter“ durch eine nach Vertragsschluss erfolgende Rechtswahl der Parteien nicht berührt.200 Dieser Einschränkung liegt ausweislich des Giuliano / LagardeBerichts folgende Überlegung zugrunde: „Nach bestimmten Rechtsordnungen kann ein Dritter Rechte aufgrund eines Vertrags zwischen zwei anderen Personen erworben haben. Diese Rechte dürfen durch eine spätere Änderung der Wahl des anzuwendenden Rechts nicht beeinträchtigt werden“.201

EU:C:2014:19 Rn. 47 f. Siehe auch GA Kokott Schlussanträge v. 6.10.2011 – Rs. C-366/10 (Air Transport Association of America), Slg. 2011, I-13755 Rn. 57. 196 In diesem Sinne EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C: 2013:521 Rn. 32 ff. sowie zuvor bereits EuGH Urt. v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 (Werhof), Slg. 2006, I-2397 Rn. 23. Siehe zum deutschen Recht nur Staudinger / Olzen (2015), § 241 BGB Rn. 303 f. Vgl. zum französischen Privatrecht nur Art. 1199 Code civil. Siehe rechtsvergleichend Palmer, ERPL 11 (2003), 8, 12 ff. m. w. N. 197 So prägnant – freilich mit Blick auf die deutsche Rechtsordnung – schon K.-P. Martens, AcP 177 (1977), 113, 139. 198 Vgl. zu dieser Schutzpflichtendimension erneut oben § 1 A II 2. 199 In diesem Sinne EuGH Urt. v. 7.3.2013 – Rs. C-543/10 (Refcomp), EU:C:2013:62 Rn. 26 und 29 sowie mit Blick auf etwaige Nuancierungen auch Rn. 34 ff.; EuGH Urt. v. 28.6.2017 – Rs. C-436/16 (Leventis und Vafias), EU:C:2017:497 Rn. 35 ff.; EuGH Urt. v. 13.7.2017 – Rs. C-368/16 (Assens Havn), EU:C:2017:546 Rn. 39 f. Siehe zuvor schon Gebauer, IPRax 2001, 471 f., der zur Bindung Dritter an Gerichtsstandsvereinbarungen ausführt, dass sich eine etwaige „Drittwirkung einer Zuständigkeitsvereinbarung nicht als ein Vertrag zu Lasten des Dritten entpuppen“ darf und der sodann ebenfalls von einem grundsätzlichen Verbot solcher Verträge im Unionsrecht ausgeht. 200 Siehe dazu statt vieler Jauernig / Mansel (2015), Vor Rom I Rn. 19; MünchKommBGB / Martiny (2015), Art. 3 Rom I Rn. 83; Rauscher / v. Hein (2016) Art. 3 Rom I Rn. 97 ff.; Staudinger / Magnus (2016), Art. 3 Rom I Rn. 127. 201 Giuliano / Lagarde, Bericht über das Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht, ABl. 1980 C 282/1, 18.

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Vor diesem Hintergrund sieht das internationale Unionsprivatrecht hier nicht nur die „Relativität des Verweisungsvertragsverhältnisses“,202 sondern zugleich das Verbot eines Vertrags oder einer Vertragsänderung zulasten Dritter vor. Zudem ist eine Rechtswahl stets nur durch die am Vertrag beteiligten Parteien, nicht hingegen durch vertragsfremde Dritte möglich. So hat das BAG etwa im Kontext eines Vertrags zugunsten Dritter eine konkludente Rechtswahl der Parteien im Rechtsstreit verneint, weil die Prozessparteien nicht identisch mit den Vertragparteien waren und daher auch nicht – potenziell zulasten einer der Parteien des Schuldverhältnisses – ein anderes Recht wählen können sollten.203 Darüber hinaus dient womöglich auch das unionale Kartellrecht – zumindest partiell – als Instrument zur Durchsetzung des Verbots von Verträgen zulasten Dritter: Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH soll Art. 101 AEUV schließlich sowohl „die Struktur des Marktes und damit den Wettbewerb als solchen“ als auch „die Interessen einzelner Wettbewerber oder Verbraucher schützen“.204 Nun verpflichten sich Kartellanten durch horizontalwettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen dazu, Verträge mit bestimmten Dritten entweder nur zu vordefinierten Konditionen oder aber gar nicht abzuschließen.205 Hierdurch bewirken sie eine „Einschränkung der Wahlfreiheit der Marktgegenseite“.206 In der Sache handelt es sich also um einen Vertrag über Verträge mit Dritten, der zwar zunächst unmittelbar nur die Kartellmitglieder, mittelbar und faktisch aber auch außenstehende Dritte betrifft: Erstere kontrahieren nur noch zu bestimmten Konditionen am Markt, welche Letztere damit de facto hinzunehmen haben, ohne inhaltliche Änderungen verhandeln oder auf alternative Angebote anderer Kartellbeiteiligter ausweichen zu können. Genauer besehen kann aus einer Kartellvereinbarung also ein 202 Möllenhoff, Nachträgliche Rechtswahl und Rechte Dritter (1993), S. 134; Ferrari /  Kieninger / Mankowski / Ferrari (2011), Art. 3 Rom I Rn. 47. 203 Vgl. BAG Urt. v. 23.3.2016 – Az. 5 AZR 767/14, NJW 2016, 2285, 2286: Hier hatte eine ausländische Gesellschaft gegenüber einem deutschen Arbeitgeber den Schuldbeitritt in Bezug auf Lohnforderungen zugunsten der bei Letzterem beschäftigten Arbeitnehmern erklärt. Ein – durch den Schuldbeitritt zwar begünstigter, aber nicht unmittelbar an diesem als Vertragspartei beteiligter – Arbeitnehmer nahm nun die ausländische Gesellschaft vor deutschen Gerichten auf Lohnzahlung in Anspruch. Diese Sachverhaltskonstellation stellte das BAG vor die Frage, ob die Prozessparteien eine abweichende Rechtswahl sollten treffen können. 204 Siehe z. B. EuGH Urt. v. 6.10.2009 – verb. Rs. C-501/06 P u. a. (GlaxoSmithKline u. a./Kommission u. a.), Slg. 2009, I-9291 Rn. 63; EuGH Urt. v. 7.2.2013 – Rs. C-68/12 (Protimonopolný), EU:C:2013:71 Rn. 18. 205 Dabei können „[w]ettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen […] rechtswirksame Verträge“ sein, vgl. mit Blick auf Art. 101 AEUV Mestmäcker / Schweizer, Europäisches Wettbewerbsrecht (2014), § 11 Rn. 24 und siehe zu dieser Frage erneut eingehend oben Kapitel 1 § 3 B I 2 a. 206 Mestmäcker / Schweizer, Europäisches Wettbewerbsrecht (2014), § 11 Rn. 29.

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Autonomieverlust sowohl der Kartellanten als auch Dritter folgen. In ebendiesem Sinne stellt das EuG prägnant heraus, „dass die Beschränkung, die sich [eine Kartellantin] auferlegt, nicht nur ihre eigene Handlungsfreiheit betrifft. Sie schränkt nämlich […] den Zugang zum Markt […] ein […]. Entgegen dem Vorbringen der [Kartellantin] gehen diese Wirkungen somit über die Wirkungen eines Austauschvertrags […] hinaus“.207

Gegenstand und Ziel der Kartellvereinbarung ist also die Beschränkung der Wahl- und damit letztlich auch der Vertragsfreiheit der Marktgegenseite. Kartellvereinbarungen sind damit nicht nur drittbelastender Natur, sondern – bei einem weit gesteckten Verständnis dieser Kategorie – auch Verträge zulasten Dritter, die jedenfalls bei spürbaren Wettbewerbsbeschränkungen gerade Auswirkungen auf die Freiheitssphäre Vertragsexterner haben können und daher grundsätzlich zu verbieten sind.208 Diese Lesart geht konform mit dem Diktum Franz Böhms, wonach Kartelle und Monopole Anlass bieten, „um unsere bürgerlichen und politischen Freiheiten besorgt zu sein“:209 Eine der bedrohten Freiheiten ist die Vertragsfreiheit unbeteiligter Dritter. Hinzu kommt, dass Kartellvereinbarungen mit dem unverfälschten Wettbewerb am Markt zugleich eine der zentralen Funktionsvoraussetzungen der unionalen Vertragsfreiheit bedrohen.210 Erweitert man den Schutzgegenstand des Kartellverbots in Art. 101 Abs. 1 AEUV über den Wettbewerb als solchen hinaus auch auf die Vertragsfreiheit der Marktgegenseite, liefert das EU-Kartellrecht einen weiteren Beleg für das Verbot von Verträgen zum Nachteil Dritter im Unionsrecht.

207 EuG Urt. v. 22.3.2011 – Rs. T-419/03 (Altstoff / Kommission), Slg. 2011 II-975 Rn. 63 (Herv. d. Verf.). 208 In diesem Sinne mit Blick auf ein „Verbot von Verträgen zu Lasten Dritter“ wiederum Schachtschneider, Verfassungsrecht der Europäischen Union II (2010), S. 303 und S. 305: „Ein Kartell ist nötigende Willkür Dritter […], weil es die Kartellvertragsparteien bindet und damit Bindungswirkung für den Dritten entfaltet, der nicht zugestimmt hat“. Vgl. auch Mestmäcker / Schweizer, Europäisches Wettbewerbsrecht (2014), § 11 Rn. 29. Dabei wird die Freiheitssphäre unbeteiligter Dritter auf der Marktgegenseite nach den Wertungen des unionalen Wettbewerbsrechts nur dann in relevanter Weise verkürzt, wenn eine spürbare Beschränkung des Wettbewerbs vorliegt, vgl. zu diesem ungeschriebenen Tatbestandsmerkmal aus der ständigen Rechtsprechung nur EuGH Urt. v. 21.1.1999 – verb. Rs. C-215/96 u. a. (Bagnasco u. a.), Slg. 1999 I 135, 175 Rn. 34; EuG Urt. v. 29.2.2016 – Rs. T-265/12 (Schenker / Kommission), EU:T:2016:111 Rn. 142. Siehe ferner Immenga / Mestmäcker / Emmerich (2012), Art. 101 AEUV Rn. 142 ff. 209 Böhm, in: Institut für ausländisches und internationales Wirtschaftsrecht (Hrsg.), Kartelle und Monopole im modernen Recht I (1961), S. 1, 19. 210 Siehe zu den Funktionsvoraussetzungen unionaler Vertragsfreiheit und zur Freiheitsverwirklichung im Zusammenspiel des Vertrags- und Marktmechanismus noch eingehend unten § 3 A sowie Kapitel 4 § 2.

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III. Verträge zugunsten Dritter und unionale Vertragsfreiheit Obschon auch ein Vertrag zugunsten Dritter mit dem Grundsatz der nur relativen Wirkung vertraglicher Schuldverhältnisse bricht, erkennt das Unionsrecht dieses Institut in unterschiedlichen Sachmaterien an.211 Dabei schöpft das Unionsrecht nicht zuletzt aus den mitgliedstaatlichen Zivilrechtsordnungen, die ebenfalls unisono Verträge zugunsten Dritter billigen.212 Namentlich stellt das EuG im Kontext der vertraglichen Vereinbarung einer Schiedsklausel nach Art. 272 AEUV heraus, der Grundsatz der nur relativen Wirkung vertraglicher Schuldverhältnisse verwehre es nicht, „dass zwei Parteien einem Dritten durch einen Vertrag zugunsten Dritter ein Recht einräumen“.213 Vielmehr folge „[a]us den allgemeinen Grundsätzen des Vertragsrechts der Mitgliedstaaten, dass sich das Vorliegen eines Vertrags zugunsten Dritter aus einer ausdrücklichen Vereinbarung zwischen dem Versprechensempfänger und dem Versprechenden ergeben kann, mit der einem Dritten ein Recht eingeräumt werden soll“.214

Damit wird die Anerkennung des Vertrags zugunsten Dritter im Unionsrecht – und zwar im Rahmen des Art. 272 AEUV – auf die insofern bestehenden Gemeinsamkeiten der mitgliedstaatlichen Privatrechtsordnungen gestützt.215 Dieser Lesart hat sich auch der EuGH im Ergebnis angeschlossen.216 Darüber hinaus erkennt gerade auch das internationale Unionsprivatrecht – und namentlich das Zuständigkeitsrecht der Brüssel Ia – Verträge zugunsten Dritter an: Art. 15 Abs. 2, Art. 25 Brüssel Ia lässt eine GerichtsstandsvereinSiehe zur Vereinbarung einer Schiedsklausel nach Art. 272 AEUV im Rahmen eines Vertrags zugunsten Dritter EuGH Urt. v. 19.6.2014 – Rs. C-531/12 P (SEMEA/Kommission), EU:C:2014:2008 Rn. 17 und 50 ff.; EuG Urt. v. 19.9.2012 – verb. Rs. T-168/10 u. a. (Kommission / SEMEA u. a.), EU:T:2012:435 Rn. 134 und 138. Vgl. auch GA Szpunar Schlussanträge v. 5.3.2015 – Rs. C-78/14 P (Kommission / Anko), EU:C:2015:153 Rn. 19. Siehe zu Art. 17 EuGVÜ ferner bereits EuGH Urt. v. 14.7.1983 – Rs. 201/82 (Gerling), Slg. 1983, 2503 Rn. 10 ff. Vgl. auch EuGH Urt. v. 16.7.1971 – Rs. 18/70 (Duraffour / Rat), Slg. 1971, 515 Rn. 7 ff. 212 Siehe neben §§ 328 ff. BGB in Deutschland nur Art. 1411 Codice civile in Italien, Art. 1205, 1199 Code civil in Frankreich, Art. 6:253 ff. Burgerlijk Wetboek in den Niederlanden sowie s. 1 ff. Contracts (Rights of Third Parties Act) 1999, c. 31 in England und Wales. Siehe hierzu rechtsvergleichend nur Palmer, ERPL 11 (2003), 8, 10 ff.; Hassemer, Heteronomie und Relativität in Schuldverhältnissen (2007), S. 19 ff. 213 EuG Urt. v. 19.9.2012 – verb. Rs. T-168/10 u. a. (Kommission / SEMEA u. a.), EU:T: 2012:435 Rn. 134. 214 EuG Urt. v. 19.9.2012 – verb. Rs. T-168/10 u. a. (Kommission / SEMEA u. a.), EU:T: 2012:435 Rn. 138 (Herv. d. Verf.). 215 EuG Urt. v. 19.9.2012 – verb. Rs. T-168/10 u. a. (Kommission / SEMEA u. a.), EU:T: 2012:435 Rn. 138. 216 Siehe im Anschluss an EuG Urt. v. 19.9.2012 – verb. Rs. T-168/10 u. a. (Kommission/SEMEA u. a.), EU:T:2012:435 Rn. 138 sodann EuGH Urt. v. 19.6.2014 – Rs. C-531/12 P (SEMEA/Kommission), EU:C:2014:2008 Rn. 17 und 50 ff. 211

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barung explizit zu, die „dem Versicherungsnehmer, Versicherten oder Begünstigten die Befugnis einräumt“, andere als die in den Art. 10 ff. Brüssel Ia aufgeführten Gerichte anzurufen. Allerdings muss die versicherte Person ebenso wenig wie der Begünstigte stets mit dem Versicherungsnehmer identisch sein, sondern manche Vertragstypen – wie etwa Lebensversicherungsverträge – sind gerade auf das Auseinanderfallen dieser Rollen angelegt.217 Entsprechend postuliert der Unionsgesetzgeber in Art. 15 Abs. 2 Brüssel Ia, dass auch der Versicherte sowie der Begünstigte als außerhalb des vertraglichen Bandes stehende Akteure durch eine Gerichtsstandsvereinbarung im Versicherungsvertrag nach Art. 25 Brüssel Ia Rechte eingeräumt bekommen können. Anders ausgedrückt setzt Art. 15 Abs. 2 Brüssel Ia also die Existenz eines Vertrags zugunsten Dritter im internationalen Unionsprivatrecht voraus. Dies hat der EuGH bereits in der Rechtssache Gerling mit Blick auf die Vorläuferregelung in Art. 17 EuGVÜ herausgestellt: „Damit steht eindeutig fest, daß das Übereinkommen ausdrücklich die Möglichkeit vorsieht, Gerichtsstandsvereinbarungen nicht nur zugunsten des Versicherungsnehmers, der Vertragspartei ist, sondern auch zugunsten des Versicherten und des Begünstigten zu treffen, die dann nicht Vertragsparteien sind, wenn sie, wie im vorliegenden Fall, nicht mit dem Versicherungsnehmer identisch sind, und die sogar bei Vertragsabschluß unbekannt sein können“.218

Art. 15 Abs. 2 Brüssel Ia ist indes nicht die einzige unionale Regelung, welche die Existenz von Verträgen zugunsten Dritter voraussetzt: Im internationalen Schuldvertragsrecht der EU folgt auch aus dem bereits erwähnten Art. 3 Abs. 2 S. 2 Rom I, dass die Vertragspartner gerade „Rechte Dritter“, die selbst nicht Parteien des Schuldverhältnisses werden, begründen können. Kann das Rechtsinstitut des Vertrags zugunsten Dritter somit als in der Unionsrechtsordnung akzeptiert gelten, drängt sich doch gerade mit Blick auf die – negative – Vertragsfreiheit des durch ein solches Schuldverhältnis Begünstigten die Frage auf, wie dessen Freiheitsrechte zu wahren sind. Schließlich hält ein Vertrag zugunsten Dritter einerseits zwar Vorteile in Gestalt einer Rechtsposition bereit; andererseits gehen hiermit unweigerlich auch zahlreiche schuldrechtliche (Neben)Pflichten gegenüber dem Versprechenden einher, welchen sich der Begünstigte ausgesetzt sieht, ohne selbst Partei des Schuldverhältnisses zu sein.219 Die Vorgabe der unionalen Rechtsprechung, wonach der Vertrag zugunsten Dritter im Unionsrecht entlang der gemeinsa217 Siehe zu Art. 17 EuGVÜ (nunmehr: Art. 25 Brüssel Ia) bereits EuGH Urt. v. 14.7.1983 – Rs. 201/82 (Gerling), Slg. 1983, 2503 Rn. 10 ff. 218 EuGH Urt. v. 14.7.1983 – Rs. 201/82 (Gerling), Slg. 1983, 2503 Rn. 18. 219 Vgl. mit Blick auf das nach deutschem Recht zwischen Schuldner und Dritten bestehende „vertragsähnliche“ Schuldverhältnis nur Looschelders, Schuldrecht AT (2016), Rn. 1057; MünchKommBGB / Gottwald (2016), § 328 BGB Rn. 3. Noch weiter geht in diesem Punkt z. B. das niederländische Recht in Art. 6:254 (1) Burgerlijk Wetboek („partij bij de overeenkomst“).

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men Rechtstraditionen der Mitgliedstaaten zu entwickeln sei, führt in diesem Punkt ins Leere, weil sich die Lösungen des nationalen Privatrechts deutlich unterscheiden. Beispielsweise fordert das niederländische Recht, dass der Begünstigte zunächst seine Rechtsposition durch rechtsgeschäftliche Erklärung annehmen muss, um sodann wie eine Vertragspartei behandelt zu werden.220 Demgegenüber wählt das deutsche Bürgerliche Recht einen anderen Ansatz: Seine Freiheitssphäre kann der Dritte bei ihn im Sinne des § 328 BGB begünstigenden Verträgen nur durch die Zurückweisung nach § 333 BGB verteidigen, welche es ihm ermöglicht, den aufgedrängten Rechtserwerb rückwirkend zu beseitigen.221 Von der Warte der unionalen Vertragsfreiheit – und insbesondere angesichts deren negativer Dimension – muss der am Vertrag unbeteiligte Dritte auch im Unionsrecht eine Möglichkeit haben, sich der durch den Vertrag zu seinen Gunsten entstehenden Berechtigungen und der damit unweigerlich einhergehenden Pflichten zu entschlagen. Dieses aus dem „Grundsatz der Privatautonomie“ folgende Gebot erkennt auch die Rechtsprechung an.222 Allerdings fordern die Unionsgerichte bei einem Vertrag zugunsten Dritter gerade nicht, dass der begünstigte Dritte seine Zustimmung erteilen muss, bevor er durch diesen Vertrag berechtigt wird: „Aus den allgemeinen Grundsätzen des Vertragsrechts ergibt sich, dass sich das Vorliegen eines Vertrags zugunsten Dritter aus einer ausdrücklichen Vereinbarung zwischen dem Versprechensempfänger und dem Versprechenden ergeben kann, mit der einem Dritten ein Recht eingeräumt werden soll.“223

Dies deutet darauf hin, dass es keiner Zustimmung des Dritten bedarf. Dann bietet die unter anderem im deutschen Bürgerlichen Recht gewählte Lösung über ein Zurückweisungsrecht einen Ausweg, welcher der unionalen Vertragsfreiheit des Dritten hinreichend Rechnung trägt. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang schließlich, dass die unionale Rechtsprechug auch die Vertragsänderungs- und Vertragsaufhebungsfrei-

220 Siehe Art. 6:254 (1) Burgerlijk Wetboek: „Nadat de derde het beding heeft aanvaard, geldt hij als partij bij de overeenkomst“. 221 Siehe hierzu z. B. MünchKommBGB / Gottwald (2016), § 333 BGB Rn. 1; Palandt /  Grünberg (2017), § 333 BGB Rn. 1; BeckOGK / Mäsch (2016), § 333 BGB Rn. 2. 222 Vgl. EuGH Urt. v. 19.6.2014 – Rs. C-531/12 P (SEMEA/Kommission), EU:C:2014: 2008 Rn. 53. Vgl. auch EuGH Urt. v. 7.3.2013 – Rs. C-543/10 (Refcomp), EU:C:2013:62 Rn. 26 und 29. 223 Darüber hinaus kann laut EuG Urt. v. 19.9.2012 – verb. Rs. T-168/10 u. a. (Kommission / SEMEA u. a.), EU:T:2012:435 Rn. 134 und 138 ff. „[d]as Vorliegen eines solchen Vertrags zugunsten Dritter […] auch aus dem Zweck des Vertrags oder den Umständen des Falls abgeleitet werden“. Bestätigt durch EuGH Urt. v. 19.6.2014 – Rs. C-531/12 P (SEMEA/Kommission), EU:C:2014:2008 Rn. 53. Im Ergebnis ebenso zu Art. 17 EuGVÜ bereits EuGH Urt. v. 14.7.1983 – Rs. 201/82 (Gerling), Slg. 1983, 2503 Rn. 10 ff.

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heit des Versprechenden und des Versprechensempfängers berücksichtigt: Letztere könnten als Parteien „eines Vertrags zugunsten Dritter die Klausel, mit der das betreffende Recht begründet wird, unter bestimmten Voraussetzungen aufheben oder ändern“.224

Die rechtsgeschäftliche Privatautonomie des Versprechenden und des Versprechensempfängers soll allerdings eine Grenze finden, sobald der Begünstigte sein Recht geltend machen will: „Nach den allgemeinen Grundsätzen des Vertragsrechts ist dies jedoch nicht mehr möglich, nachdem der begünstigte Dritte dem Versprechenden oder dem Versprechensempfänger mitgeteilt hat, dass er von seinem Recht Gebrauch machen will“.225

Auf welche „allgemeinen Grundsätze des Vertragsrecht“ hier Bezug genommen wird, bleibt dabei indes im Dunklen. C. Ergebnis Die unionale Vertragsfreiheit dient dem EU-Schuldvertragsrecht insoweit als Kompass, als sie die Vertragsbindung zugleich begründet und in ihrer Reichweite begrenzt: So ist der Grundsatz pacta sunt servanda ebenso auf die unionale Vertragsfreiheit zurückzuführen wie die Relativität vertraglicher Schuldverhältnisse. Entsprechend ist der Unionsgesetzgeber zunächst gehalten, Instrumente zur Gewährleistung der Vertrags- und Leistungstreue der Parteien bereitzustellen, wie sie in den zahlreichen Rechtsakten des EUSchuldvertragsrechts nachweisbar sind. Die Ausrichtung des Unionsprivatrechts bestimmt die unionale Vertragsfreiheit auch durch den ebenfalls aus ihr abgeleiteten Grundsatz der Relativität vertraglicher Schuldverhältnisse: Da er fester „Bestandteil der Rechtsordnung der Union ist“,226 müssen Lockerungen dieses Grundsatzes eine Ausnahme bleiben und bedürfen stets einer gesetzlichen Basis. Dem entspricht auch das prinzipielle Verbot von Verträgen zulasten Dritter in der Unionsrechtsordnung. Hingegen sind Verträge zugunsten Dritter auch im Privatrecht der EU grundsätzlich zulässig. Allerdings fordert die unionale Vertragsfreiheit hier ein Korrektiv, das es dem vertragsexternen Dritten ermöglicht, sich der aufgedrängten Begünstigung und der damit untrennbar verbundenen schuldvertraglichen Pflichten zu entledigen. Soweit die unionale Vertragsfreiheit zugleich den Grundsatz der Vertragsbindung als auch dessen Gegenteil zu rechtfertigen vermag, erscheint diese EuG Urt. v. 19.9.2012 – verb. Rs. T-168/10 u. a. (Kommission / SEMEA u. a.), EU:T: 2012:435 Rn. 144. 225 EuG Urt. v. 19.9.2012 – verb. Rs. T-168/10 u. a. (Kommission / SEMEA u. a.), EU:T: 2012:435 Rn. 144. 226 Vgl. mit Blick auf den Grundsatz pacta tertiis nec nocent nur EuGH Urt. v. 23.1.2014 – Rs. C-537/11 (Manzi), EU:C:2014:19 Rn. 47 f. 224

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Freiheit in der Tat janusköpfig.227 Das EU-Schuldvertragsrecht muss den jeweiligen Anforderungen der unionalen Vertragsfreiheit stets genügen, und zwar nicht nur hinsichtlich des Umfangs, sondern gerade auch mit Blick auf die Modi der Freiheitsentfaltung. Dies führt zu der Frage, auf welche Weise die rechtsgeschäftliche Privatautonomie nach der Konzeption des Unionsrechts zu verwirklichen ist. Angesprochen ist damit das Funktionsmodell unionaler Vertragsfreiheit.

§ 3 Vertrags- und Marktmechanismus als prozedurales Funktionsmodell § 3 Vertrags- und Marktmechanismus als prozedurales Funktionsmodell

Als dialogische Freiheit kann die unionale Vertragsfreiheit nur im Konzert mit dem anderen Vertragspartner ausgeübt werden.228 Im Vertragsschluss gilt es daher, die Freiheit des einen mit der Freiheit des anderen in Einklang zu bringen.229 Anders als die häufig wiederkehrende Rede vom „Schwächerenschutz“230 und die Vielzahl zwingender Regelungen des EU-Privatrechts vermuten lassen, baut die Unionsrechtsordnung durchgehend auf den Vertrags- und Marktmechanismus zur Verwirklichung unionaler Vertragsfreiheit (A). Wo diese Mechanismen ihre Wirkungen frei entfalten können, stellt das Privatrecht der EU überdies eine Vermutung der Richtigkeit des auf diesem Wege erzielten Vertragsergebnisses auf (B). Dieser prozedurale Ansatz entspricht der freiheitlichen, pluralistischen und offenen Organisation der Gesellschaften der EU-Mitgliedstaaten:231 Den Akteuren, die im Binnenmarkt Verträge schließen, gilt es „möglichst wenige inhaltliche Vorgaben zu ma227 G. Wagner, in: Blaurock / Hager (Hrsg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), S. 13, 70. 228 Statt vieler Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang (1999), S. 104; Weischer, Das Grundrecht auf Vertragsfreiheit und die Inhaltskontrolle (2013), S. 65. In diesem Sinne z. B. auch Schachtschneider, Verfassungsrecht der Europäischen Union II (2010), S. 275 („mehrdimensionale“ Freiheit). 229 Schon laut Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797, 1907), AA VI, S. 230 ist der Vertrag ein „Act der vereinigten Willkür zweier Personen“, für den entsprechend „die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit“ in Ausgleich gebracht werden muss. 230 Vgl. zum „Schutz des schwächeren Vertragspartners, des Verbrauchers“ durch das Unionsprivatrecht allgemein etwa GA Trstenjak Schlussanträge v. 29.10.2009 – Rs. C484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 39. Selbst im Wirtschaftsvertragsrecht führt z. B. EuGH Urt. v. 3.4.2008 – Rs. C-306/06 (01051 Telecom), Slg. 2008, I-1923 Rn. 26 Schutzgesichtspunkte ins Feld und argumentiert mit Blick auf die Zahlungsverzugsrichtlinie mit dem „Schutz des Inhabers einer Geldforderung“. 231 Siehe zu den zahlreichen Triebfedern offener Gesellschaften insbesondere Basedow, The Law of Open Societies (2015), S. 21 ff.

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chen“, sondern vielmehr „Regeln für ein faires Verfahren im Umgang miteinander“ bereit zu stellen.232 A. Freiheitsverwirklichung durch den Vertrags- und Marktmechanismus Bei einem formalen Verständnis ist Vertragsfreiheit bereits gewährleistet, wenn die Parteien ihre Vertragsbeziehungen unter den gleichen rechtlichen Rahmenbedingungen autonom gestalten können.233 Zentrale Voraussetzungen und Angelpunkt dieser Konzeption sind somit vor dem Gesetz gleiche und rechtlich gleich freie Parteien.234 Allerdings zeichnet sich das heterogene Feld des Unionsprivatrechts gerade durch Regelungen aus, die den Parteien – etwa im Verbraucher-, Finanzdienstleistungs- und sogar im Wirtschaftsvertragsrecht – durchaus unterschiedliche rechtliche Gestaltungsfreiheit einräumen: Wenn eine Partei in der Rolle des Verbrauchers, Versicherungsnehmers oder des Gläubigers einer Geldforderung handelt, gewährt ihr das Unionsprivatrecht bisweilen andere Freiräume, den Vertragsinhalt zu gestalten, als ihrem Vertragspartner.235 Insofern ist das Unionsprivatrecht nicht nur als Rechtsmaterie zersplittert, sondern es steckt auch einen uneinheitlichen Rahmen für die Ausübung der unionalen Vertragsfreiheit entlang bestimmter Rollengrenzen ab.236 Doch warum prägen gerade rollenspezifische Schutzinstrumente und zwingende Normen das Schuldvertragsrecht der EU? Zum einen erlässt der Unionsgesetzgeber privatrechtliche Vorschriften in erster Linie mit Blick auf die Verwirklichung des Binnenmarktes. Vor diesem Hintergrund besteht wenig Bedarf nach einem umfassenden Bestand an dispositivem EU-Schuldvertragsrecht, weil die Zivilrechtsordnungen der Mitgliedstaaten bereits entsprechende Regelungen enthalten, die in aller Regel nicht geeignet sind, das Binnenmarktziel zu beeinträchtigen. Zum anderen handelt es sich bei den meisten schuldvertraglichen Regelungen des EU-Privatrechts um Korrektive: 232 So mit Blick auf die „Grundprinzipien einer […] offenen Gesellschaft‘“ bereits allgemein Canaris, AcP 200 (2000), 273, 286. 233 Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers (1998), S. 294 und Canaris, AcP 200 (2000), 273, 277 verstehen unter formaler Vertragsfreiheit die allen Vertragsparteien rechtlich gleichermaßen gewährte Freiheit, durch Einigung mit anderen vertragliche Rechtswirkungen herbeizuführen. Ähnlich auch Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang (1999), S. 74 ff.; Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbrauchervertragsrechts (2004), S. 307 ff. 234 Vgl. nur Rückert, JZ 2003, 749, 751; Zimmermann, Current Leg. Prob. 58 (2005), 415, 418. 235 So kann ein Verbraucher etwa seinerseits Klauseln einseitig stellen, ohne den aus der Klauselrichtlinie folgenden Schranken zu unterliegen. Vgl. zudem beispielsweise nur Art. 7 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie. Vgl. mit Blick auf „nachteilige Vertragsklauseln“, die der Schuldner einer Geldforderung stellt, auch Art. 7 Zahlungsverzugsrichtlinie. 236 Siehe inbesondere zur „Verbraucherrolle“ als Unterscheidungskriterium nur Medicus, FS Kramer (2004), S. 211 ff.; Zimmermann, Current Leg. Prob. 58 (2005), 415, 418.

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Kapitel 3 – Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell

Der Unionsgesetzgeber sucht mit der punktuellen Gewährung rechtlich ungleicher Freiheitsräume beispielsweise im Verbrauchervertragsrecht gerade eine bei typisierender Betrachtung anzutreffende faktische Ungleichverteilung von Selbstbestimmungschancen auszugleichen.237 Solche Normen lassen daher nicht ohne weiteres einen Rückschluss auf den Regelfall des unionalen Funktionsmodells der Vertragsfreiheit zu. Vor allem bleibt den Parteien selbst in den durch zwingendes Unionsprivatrecht – etwa in Gestalt der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie und der Klauselrichtlinie – überformten Arealen gerade der Kernbereich der Vertragsfreiheit erhalten: So sind die Parteien von der Warte der Unionsrechtsordnung grundsätzlich völlig frei, die essentialia negotii und insbesondere die Hauptleistungspflichten privatautonom festzulegen.238 Bei näherer Betrachtung nimmt also selbst das dem Schutz vermeintlich „Schwächerer“ dienende EU-Verbrauchervertragsrecht sehr wohl die rechtliche Gleichheit und Freiheit der Parteien zum Ausgangspunkt und beschränkt sich auf punktuelle Interventionen.239 Entsprechend verlangt die Unionsrechtsordnung von Verbrauchern gleichermaßen „Eigenverantwortung, wo es darum geht, ihre Interessen geltend zu machen“,240 und nimmt einen „normal informierte[n], angemessen aufmerksame[n] und verständige[n] Durchschnittsverbraucher“ zum Leitbild.241 In seiner ständigen Rechtsprechung präsumiert der EuGH daher konsequenterweise eine „formale Ausgewogenheit“ zwischen den Vertragsparteien.242 Nur wo bestimmte Störfaktoren auftreten, welche die formal-rechtSiehe dazu noch eingehend unten Kapitel 4 § 1 B. Vgl. nur Art. 3 und Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie; Art. 2 ff. Verbrauchsgüterkaufrichtlinie. In diese Richtung auch Repgen, Kein Abschied von der Privatautonomie (2001), S. 101 f. 239 Im Fall der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie beziehen sich diese Interventionen insbesondere auf die Mängelgewährleistung, vgl. wiederum Art. 2 ff. Verbrauchsgüterkaufrichtlinie. 240 Vgl. nur Europäische Kommission, Verbraucherpolitischer Aktionsplan 1999–2001, KOM(1998) 696 endg., S. 10. Auch die Europäische Kommission, Verbraucherpolitische Strategie 2002–2006, KOM(2002) 208 endg., S. 6, sucht die Verbraucher lediglich in die Lage zu versetzen, „ihre Interessen selbst wahrzunehmen“. 241 So zum Verbrauchervertragsrecht nun ausdrücklich EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:282 Rn. 74; EuGH Urt. v. 23.4.2015 – Rs. C-96/14 (Van Hove), EU:C:2015:262 Rn. 47. Vgl. ferner Erwägungsgrund Nr. 18 Lauterkeitsrichtlinie sowie z. B. EuGH Urt. v. 16.7.1998 – Rs. C-210/96 (Gut Springenheide), Slg. 1998, I-4657 Rn. 31 („angemessen gut unterrichtet und angemessen aufmerksam und kritisch“). Siehe zum Verbraucherleitbild statt aller Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers (1998), S. 414 ff.; BeckOGK / Alexander (2016) § 13 BGB Rn. 354 ff. Diese Grundhaltung deckt sich mit dem Befund, dass die Unionsrechtsordnung jedem Menschen die natürliche Freiheit zur Selbstbestimmung und Selbstverantwortung zuerkennt und diese durch rechtliche Verbürgungen absichert, siehe zum Ganzen erneut oben Kapitel 1 § 3 A. 242 Vgl. nur EuGH Urt. v. 26.10.2006 – Rs. C-168/05 (Mostaza Claro), Slg. 2006, I10421 Rn. 36; EuGH Urt. 4.6.2009 – Rs. C-243/08 (Pannon), Slg. 2009, I-4713 Rn. 25; 237 238

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liche gleiche Freiheitsgewährleistung für eine Partei zu entwerten drohen, bedarf es daher überhaupt einer Intervention, um diese im Ausgangspunkt zwischen den Vertragspartnern bestehende „Gleichheit wiederherzustellen“.243 Ausgehend von dieser rechtlich gleichen Freiheit der Vertragspartner legt die Unionsrechtsordnung zunächst ein formal-prozedurales Funktionsmodell zur Freiheitsverwirklichung zugrunde (I). Das idealtypische Instrument, um einen Ausgleich der potenziell widerstreitenden Interessen der Vertragspartner zu erzielen, ist dabei der Vertragsmechanismus und insbesondere der Prozess des Aushandelns. Indes sind individuelle Verhandlungen gerade bei Massenverträgen kaum mehr als graue Theorie. Entsprechend eröffnet die Markt- und Wettbewerbsbasierung des Funktionsmodells weitere Modi zur prozeduralen Entfaltung unionaler Vertragsfreiheit (II). I.

Prozedurale Freiheitsentfaltung durch den Vertragsmechanismus

Der Vertragsmechanismus beschreibt die Verwirklichung der Vertragsfreiheit in einem dialogischen Prozess, in dessen Rahmen die Parteien ihre Interessen in einen für beide Seiten akzeptablen Ausgleich in Gestalt des Vertrags bringen.244 Franz Bydlinski spricht treffend von einem Verfahren des „gegenseitigen Abschleifens entgegenstehender Interessen“ bis zur Konsensfindung.245 Auf diesen Mechanismus baut der EuGH in der Rechtssache Alemo-Herron auch bei der Entfaltung des Unionsgrundrechts der Vertragsfreiheit, wenn er fordert, dass es jedem Vertragsteil „möglich sein muss, im Rahmen eines zum Vertragsabschluss führenden Verfahrens […] seine Interessen wirksam geltend zu machen“.246

Dieser Vertragsmechanismus ist prozeduraler Natur,247 da das Verfahren, in dem der Vertrag zustande kommt, und nicht der Vertragsinhalt im Zentrum steht.248 Zugleich ist dieser Ansatz im Ausgangspunkt formal, weil zur VerEuGH Urt. v. 9.11.2010 – Rs. C-137/08 (VB Pénzügyi Lízing), Slg. 2010, I-10847 Rn. 47; EuGH Urt. v. 30.5.2013 – Rs. C-397/11 (Jőrös), EU:C:2013:340 Rn. 25. 243 Siehe aus der ständigen Rechtsprechung etwa EuGH Urt. v. 29.10.2015 – Rs. C8/14 (BBVA), EU:C:2015:731 Rn. 18 (Herv. d. Verf.). 244 Vgl. zum deutschen Bürgerlichen Recht nur BVerfG Beschl. v. 7.9.2010 – Az. 1 BvR 2160/09 u. a., NJW 2011, 1339, 1340 f. Grundlegend zum Vertragsmechanismus Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130 ff.; ders., FS Raiser (1974), S. 3 ff. 245 F. Bydlinski, Privatautonomie und objektive Grundlagen des verpflichtenden Rechtsgeschäfts (1967), S. 62. 246 EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 33. Siehe auch EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 68; EuGH Urt. v. 27.4.2017 – Rs. C-680/15 u.a. (Asklepios Kliniken u.a.), EU:C:2017: 317 Rn. 23. 247 Vgl. zum Konzept der „prozedurale[n] Privatautonomie“ auch Calliess, JbJZ 2000 (2001), S. 85, 94 ff.

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wirklichung der Vertragsfreiheit erforderlich und zugleich ausreichend sein soll, dass die Vertragsparteien rechtlich die gleiche Chance haben, auf den Vertrag Einfluss zu nehmen.249 In Alemo-Herron beschreibt der EuGH zunächst nur einen Modus zur Verwirklichung der Vertragsfreiheit als Unionsgrundrecht.250 Weil das gesamte Sekundärrecht den primärrechtlichen Anforderungen, einschließlich der EU-Grundrechte, genügen muss, sind diese Vorgaben zur Entfaltung der Vertragsfreiheit aber insbesondere auch im Unionsprivatrecht zu beachten. Nimmt man Letzteres in den Blick, so setzen zahlreiche Rechtsakte auf den Vertragsmechanismus. Beispielsweise baut Art. 3 Klauselrichtlinie auf das individuelle Aushandeln als Instrument zur Verwirklichung rechtsgeschäftlicher Privatautonomie: Soweit Vertragsbestimmungen im Einzelnen vereinbart werden, sind sie vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommen.251 Dieser Regelungsansatz ist laut Generalanwalt Wahl von der Überle248 Vgl. EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 33 f.; EuGH Urt. v. 27.4.2017 – Rs. C-680/15 u.a. (Asklepios Kliniken u.a.), EU:C: 2017:317 Rn. 23.Vgl. jüngst zudem nur Grünbuch über unlautere Handelspraktiken in der B2B-Lieferkette für Lebensmittel und Nicht-Lebensmittel in Europa, KOM(2013) 37 endg., S. 6: „Damit die Vertragsfreiheit den Vertragsparteien zum gegenseitigen Nutzen gereicht, müssen diese in der Lage sein, die Vertragsbedingungen auch wirklich auszuhandeln“. Deutlich in diesem Sinne auch EuGH Urt. v. 16.7.2015 – Rs. C-170/13 (Huawei Technologies), EU:C:2015:477 Rn. 63 ff. und insbesondere 67 f., der den Parteien – selbst bei Bestehen eines Kontrahierungszwangs – „Verhandlungen über die Erteilung von Lizenzen“ ermöglichen will. 249 Laut EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 33 ff. muss die Interessenwahrnehmung in dem zum Vertragsabschluss führenden Verfahren rechtlich „möglich sein“ (Herv. d. Verf.). Dies verneinte der EuGH in der fraglichen Konstellation, weil der Betriebserwerber nach dem Recht des Vereinigten Königreichs nicht an den Verhandlungen über die Arbeitsbedingungen und insbesondere die Entgelthöhe teilnehmen konnte und somit rechtlich nicht die gleiche Einflussnahmemöglichkeit hatte. Bestätigt durch EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 68. Anders sodann zum deutschen Recht EuGH Urt. v. 27.4.2017 – Rs. C-680/15 u.a. (Asklepios Kliniken u.a.), EU:C:2017:317 Rn. 23 ff. Wie hier auch Starke, EU-Grundrechte und Vertragsrecht (2016), S. 250 und 256. 250 Siehe zu Art. 16 GRCh erneut EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (AlemoHerron), EU:C:2013:521 Rn. 33 ff. Siehe auch EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 68. 251 Vgl. auch Erwägungsgrund Nr. 12 Klauselrichtlinie. Art. 3 Abs. 2 Klauselrichtlinie enthält eine unwiderlegliche Vermutung fehlenden Aushandelns in Bezug auf Klauseln, die „im voraus abgefasst wurde[n] und der Verbraucher deshalb, insbesondere im Rahmen eines vorformulierten Standardvertrags, keinen Einfluß auf ihren Inhalt nehmen konnte“. Wohingegen von Teilen des deutschen Schrifttums und insbesondere von Wolf / Lindacher /  Pfeiffer, AGB-Recht (2013), Vor Art. 3 Klauselrichtlinie Rn. 22 ff., vertreten wird, dass auch über das formularmäßige Abfassen hinaus ein fehlendes Aushandeln indiziert werde, orientiert sich der EuGH allein an Art. 3 Abs. 2 Klauselrichtlinie, vgl. nur EuGH Beschl. v. 16.11.2010 – Rs. C-76/10 (Pohotovos’), Slg. 2010, I-11557 Rn. 57; EuGH Urt. v.

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gung getragen, dass bei „individuell ausgehandelte[n] Vertragsklauseln […] die Vertragsfreiheit […] zur vollen Entfaltung gelangt ist“.252 Aus ebendiesem Grund sollen die Parteien auch durch „ausdrückliche Vereinbarung“ von bestimmten Vorgaben der Verbraucherrechterichtlinie253 sowie von den Regelungen der Zahlungsverzugs-254 und der Zahlungsdiensterichtlinie255 abweichen können. Wo die unionale Vertragsfreiheit durch den Vertragsmechanismus ausgeübt wird, sieht der Unionsgesetzgeber die Parteien – einschließlich der „schutzbedürftigen“ Verbraucher – also grundsätzlich in der Lage, ihre wohlverstandenen Eigeninteressen zu wahren.256 Dabei verlangt das durch den EuGH in Alemo-Herron formulierte formalprozedurale Funktionsmodell der Vertragsfreiheit stets nur die Möglichkeit der Interessenwahrnehmung im Rahmen des Vertragsmechanismus. Ob – und gegebenenfalls wie – die Vertragspartner diese Selbstbestimmungschance im Einzelfall nutzen und welche Inhalte der Vertrag konkret annimmt, bleibt für 16.1.2014 – Rs. C-226/12 (Constructora Principado), EU:C:2014:10 Rn. 18 f.; EuGH Beschl. v. 3.4.2014 – Rs. C-342/13 (Sebestyén), EU:C:2014:1857 Rn. 23 f. Ebenso auch GA Geelhoed Schlussanträge v. 31.1.2002 (Kommission / Schweden), Slg. 2002, I-4149 Rn. 24: „Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie spezifiziert die Voraussetzung, dass die Klausel nicht im Einzelnen ausgehandelt worden sein darf“. 252 GA Wahl Schlussanträge v. 12.2.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:85 Rn. 36. 253 So werden bestimmte Verbraucherinformationen nach Art. 6 Abs. 5 der Richtlinie „fester Bestandteil des Fernabsatzvertrags oder des außerhalb von Geschäftsräumen abgeschlossenen Vertrags und dürfen nicht geändert werden, es sei denn, die Vertragsparteien vereinbaren ausdrücklich etwas anderes“. Vgl. auch Erwägungsgrund Nr. 35 Verbraucherrechterichtlinie. Vgl. schließlich zu einer abweichenden ausdrücklichen Vereinbarung über die Rückzahlungsmodalitäten im Falle eines Widerrufs auch Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 2 Verbraucherrechterichtlinie. 254 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 13, Art. 3 Abs. 4 und Abs. 5 sowie Art. 4 Abs. 5 und Abs. 6 Zahlungsverzugsrichtlinie. 255 Vgl. nur Erwägungsgründe Nr. 40 und 43 Zahlungsdiensterichtlinie. 256 Dies ist nicht zuletzt deshalb bemerkenswert, weil der EuGH unter anderem die „unterlegene Verhandlungsposition“ des Verbrauchers als Rechtfertigung der Klauselkontrolle anführt: So beruht laut EuGH Urt. v. 29.10.2015 – Rs. C-8/14 (BBVA), EU:C:2015: 731 Rn. 17 „nach ständiger Rechtsprechung das mit der Richtlinie 93/13 geschaffene Schutzsystem auf dem Gedanken […], dass sich der Verbraucher gegenüber dem Gewerbetreibenden in einer schwächeren Verhandlungsposition befindet“ (Herv. d. Verf.). Plausibel erklären lässt sich der Ausschluss von Individualvereinbarungen durch Art. 3 Klauselrichtlinie damit, dass die Klauselkontrolle in erster Linie ein Informations- und Motivationsgefälle zu kompensieren sucht: Während Verbraucher einseitig gestellte AGBKlauseln, die andere Elemente als den Preis und die Hauptleistungen betreffen, mangels Motivation häufig rationalerweise schon gar nicht zur Kenntnis nehmen, lenken sie bei individuellem Aushandeln ihre Aufmerksamkeit auf die jeweilige Klausel, siehe dazu noch eingehend unten Kapitel 4 § 3 D. Entsprechend geht auch EuGH Urt. v. 15.1.2015 – Rs. C537/13 (Šiba), EU:C:2015:14 Rn. 32 davon aus, dass Klauseln, die besonders bedeutende Informationen berühren, von den Parteien unmittelbar in ihren Geschäftswillen aufgenommen und „im Einzelnen ausgehandelt“ werden.

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die Frage, ob der Vertrag Ausdruck der unionsrechtlich verbürgten Vertragsfreiheit ist, zunächst unerheblich. Allerdings muss der Vertragsmechanismus stets den gesamten Kernbereich der unionalen Vertragsfreiheit zur Geltung bringen können, was die Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit ebenso umfasst wie die Gestaltung der wesentlichen Vertragsbestandteile.257 Hier stößt der Vertragsmechanismus in der Rechtswirklichkeit an seine Grenzen, weshalb das Funktionsmodell unionaler Vertragsfreiheit der Ergänzung um eine markt- und wettbewerbsbezogene Dimension bedarf. II. Markt- und wettbewerbsgestütztes Funktionsmodell Angesichts des Siegeszuges standardisierter Massenverträge kann das individuelle Aushandeln aller Vertragsbedingungen kaum der einzige, geschweige denn der praktisch relevanteste Weg zur Ausübung rechtsgeschäftlicher Privatautonomie sein. Mit Recht wird dieses von der Realität des Wirtschaftsverkehrs entkoppelte Konzept daher als „Basarmodell“ ridikülisiert.258 Dies ändert jedoch nichts an dem Befund, dass die Prozedur des Aushandelns nach der Konzeption des Unionsgesetzgebers und des EuGH den idealtypischen Weg zur Verwirklichung der unionsgrundrechtlich verbürgten Vertragsfreiheit darstellt.259 Stößt das formal-prozedurale Funktionsmodell demnach an seine Grenzen, sobald die Vertragsparteien auf einen Aushandlungsprozess verzichten? Die Richtschnur zur Beantwortung dieser Frage bildet die unionsrechtliche Anforderung, dass die jeweilige Vertragspartei eine tatsächliche Chance haben muss, auf den Vertragsschluss und seinen wesentlichen Inhalt Einfluss zu nehmen.260 Bei genauerer Analyse stehen hierbei zwei Modi der prozeduralen Entfaltung unionaler Vertragsfreiheit gleichwertig nebeneinander und garantieren Siehe zum Wesensgehalt der unionalen Vertragsfreiheit erneut oben Kapitel 2 § 3 A II. Canaris, Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht (1997), S. 49 f. Gleichsinnig bemerkte bereits ders., FS Steindorff (1990), S. 519, 548 das Konzept des lückenlosen Aushandelns stelle „eine ridiküle Chimäre dar, die für einen Basar passt, aber nicht für eine moderne Markt- und Wettbewerbswirtschaft“. Ebenso auch Fornasier, Freier Markt und zwingendes Vertragsrecht (2013), S. 193. 259 Siehe erneut oben A. und vgl. wiederum EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 33 f.; EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 68; EuGH Urt. v. 27.4.2017 – Rs. C-680/15 u.a. (Asklepios Kliniken u.a.), EU:C:2017:317 Rn. 23. Ebendieses Verständnis klingt auch in der deutschen Rechtsordnung an, vgl. nur BVerfG Beschl. v. 7.9.2010 – Az. 1 BvR 2160/09 u. a., NJW 2011, 1339, 1340 f.; BGH Urt. v. 17.2.2010 – Az. VIII ZR 67/09, NJW 2010, 1131, 1132. 260 Vgl. EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 33 f.; EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 68; EuGH Urt. v. 27.4.2017 – Rs. C-680/15 u.a. (Asklepios Kliniken u.a.), EU:C:2017:317 Rn. 23. 257 258

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jeweils für sich genommen die Verwirklichung dieser Freiheit „im Wege eines zum Vertragsschluss führenden Verfahrens“.261 Erstens können die Vertragsparteien vermöge ihrer unionsrechtlich garantierten Vertragsinhaltsfreiheit die für beide Seiten annehmbaren Vertragsbedingungen im Einzelnen aushandeln. Zweitens kann der Vertragsschlusswillige auch am Markt unter verschiedenen potenziellen Vertragspartnern gezielt nach einer Partei suchen, die von vornherein einen Vertragsschluss zu für ihn akzeptablen Konditionen anbietet. Dies gilt jedenfalls, soweit die zentralen Vertragsbestandteile für den Vertragsprätendenten klar erkennbar sowie verständlich gestaltet sind und zudem tatsächlich ein Konditionenwettbewerb am Markt herrscht.262 In einem marktwirtschaftlichen System führt die verstärkte Nachfrage nach bestimmten Transaktionsinhalten sodann dazu, dass sich die Anbieter auf diese Präferenzen einstellen, damit sie im Wettbewerb um Kunden nicht das Nachsehen haben.263 Wo diese Triebkräfte des Marktes funktionieren, bietet dann bereits die privatautonome Entscheidung über den Abschluss oder Nichtabschluss eines Vertrags mit einem spezifischen Vertragspartner die vom EuGH geforderte Chance zur Einflussnahme auf den Vertragsinhalt „im Rahmen eines zum Vertragsabschluss führenden Verfahrens“.264 Dabei wird die unionale Vertragsfreiheit zwar unmittelbar nur als Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit ausgeübt. Der Vertragsmechanismus ist hier indes markt- und wettbewerbsgestützt, so dass durch die Möglichkeit, einen Vertragspartner auszuwählen, der den gewünschten Vertrag anbietet, zugleich auch die Vertragsinhaltsfreiheit entfaltet werden kann. Auf ebendiese Mechanik baut auch die Klauselrichtlinie, soweit deren Art. 4 Abs. 2 transparent gestaltete Klauseln betreffend den Vertragshauptgegenstand und den Preis von der Inhaltskontrolle ausnehmen: Diese Regelung beruht auf der Annahme, dass der Verbraucher „bezüglich der Hauptleistun-

Vgl. EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 33 f.; EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 68. 262 Bei der Verwendung von AGB-Klauseln gegenüber Verbrauchern wird man zu den erkennbaren Vertragsbestandteilen nur die Haupt- und Gegenleistung rechnen können, wohingegen Klauseln, die – oftmals komplexere – Nebenbestimmungen betreffen, mangels Kenntnisnahme und Verständnis durch den Verbaucher regelmäßig als „Wettbewerbsparameter ungeeignet“ sein dürfen, prägnant MünchKommBGB / Basedow (2016), Vor § 305 BGB Rn. 5 f. Siehe auch Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers (1998), S. 340 f. Siehe hierzu noch eingehend unten Kapitel 4 § 3 D I. 263 So z. B. Fornasier, Freier Markt und zwingendes Vertragsrecht (2013), S. 153. 264 Vgl. wiederum nur EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C: 2013:521 Rn. 33; EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016: 972 Rn. 68; EuGH Urt. v. 27.4.2017 – Rs. C-680/15 u.a. (Asklepios Kliniken u.a.), EU:C: 2017:317 Rn. 23. 261

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Kapitel 3 – Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell

gen […] durch den Wettbewerb hinreichend geschützt“ wird.265 Die Klauselrichtlinie postuliert namentlich, dass Verbraucher bei ihrer Entscheidung über die Wahl eines Vertragspartners und den Abschluss des Vertrags stets zumindest die Hauptleistungen beachten und in ihren Vertragswillen aufnehmen. 266 Weil Verbraucher gezielt anhand dieser Parameter einen ihnen genehmen Vertrag am Markt auswählen, bedarf es insofern auch keiner legislatorischen Intervention in Gestalt der Klauselkontrolle – und das, obwohl die Hauptleistungen gerade nicht individuell ausgehandelt werden. Das Unionsrecht geht vielmehr davon aus, dass der Vertragsmechanismus durch die Wirkkräfte von Markt- und Wettbewerb funktionsfähig gehalten und das fehlende Aushandeln kompensiert wird. Hier entfaltet sich also die bereits beschriebene Dynamik: Statt die Vertragsinhaltsfreiheit im Dialog mit einem Vertragspartner so lange zu betätigen, bis das gewünschte Vertragsergebnis erzielt ist, kann aus Sicht des Unionsrechts ein äquivalentes Ergebnis auch dadurch erreicht werden, dass unter verschiedenen möglichen Vertragspartnern derjenige ausgewählt wird, der den gesuchten Vertragsinhalt am Markt anbietet.267 Hier ist ohne konkrete Verhandlungen über den Vertragsinhalt und sogar, ohne dass Letzterer überhaupt zur Disposition gestellt werden müsste, die Vertragsfreiheit nicht nur als Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit, sondern gerade auch als Inhaltsfreiheit betätigt worden. Auch das um die Markt- und Wettbewerbskomponente ergänzte Funktionsmodell unionaler Vertragsfreiheit bleibt formal-prozeduraler Natur: Der unionsrechtliche Fokus liegt nämlich zum einen wiederum nur auf dem Gestaltungsvorgang, nicht hingegen auf dem konkreten Gestaltungsergebnis. Zum anderen ist im Ausgangspunkt nur die rechtlich gleiche Freiheit der Parteien erforderlich, an diesem Gestaltungsverfahren teilzunehmen. Diese Überlegungen zur Klauselrichtlinie lassen sich auch für die Konzeptualisierung der unionalen Vertragsfreiheit in anderen Bereichen fruchtbar machen. Denn wenn sogar der aus Sicht des Unionsrechts besonders schützenswerte Verbraucher seine unionsgrundrechtlich verbürgte und sekundärrechtlich in der Klauselrichtlinie ausgestaltete Vertragsfreiheit auf diese Weise entfalten kann, muss dies erst recht auch für alle anderen, etwa im unternehmerischen Geschäftsverkehr tätigen, Akteure gelten. Wo die vorstehend beschriebenen Mechanismen zusammenwirken, geht das Unionsrecht also grundsätzlich davon aus, dass sie – in gewissem Rahmen – Gewähr für die „Richtigkeit“ des Vertrags bieten. GA Trstenjak Schlussanträge v. 29.10.2009 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 40. 266 Vgl. GA Wahl Schlussanträge v. 12.2.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:85 Rn. 3, 27 und 32. Siehe hierzu noch eingehend unten Kapitel 4 § 3 D I. 267 Vgl. bereits Schmidt-Rimpler, FS Raiser (1974), S. 3, 14. Vgl. im Kontext der Klauselkontrolle auch Fornasier, Freier Markt und zwingendes Vertragsrecht (2013), S. 193. 265

§ 3 Vertrags- und Marktmechanismus als prozedurales Funktionsmodell

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B. Richtigkeitsgewähr des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus „Qui dit contractuel, dit juste“268 – Bereits Alfred Fouillée schrieb dem Instrument des Vertrags eine Richtigkeitsvermutung zu. Von hieraus ist es nur noch ein kurzer Weg bis zur Annahme, dass der Mechanismus der vertraglichen Willensübereinkunft ausnahmslos Gewähr für Vertragsgerechtigkeit bieten kann: „[T]out contrat libre est un contrat juste, quel qu’en soit par ailleurs le contenu“.269 Auch in anderen Rechtsordnungen ist der Vertrag „zum Sinnbild rechtlicher Ordnungs- und Gerechtigkeitsvorstellungen“ erhoben worden.270 So stellte etwa die englische Judikatur mit Blick auf den selbstbestimmt eingegangenen Vertrag frühzeitig die Vermutung auf, „that that contract is a just and reasonable one“.271 Auch in jüngerer Zeit betont der UK Supreme Court: „In a negotiated contract between properly advised parties of comparable bargaining power, the strong initial presumption must be that the parties themselves are the best judges of what is legitimate“.272

In der Annahme, dass „durch Vertragsfreiheit automatisch auch Vertragsgerechtigkeit garantiert“ werden könne, verzichtet beispielsweise auch die ursprüngliche Fassung des deutschen BGB auf ein dichtes Netz an Korrektiven.273 Schmidt-Rimpler hat den Gedanken der Richtigkeitsgewähr des Vertragsmechanismus für das deutsche Bürgerliche Recht weiter ausdifferenziert,274 und mittlerweile baut auch das BVerfG auf eine solche Richtigkeitsvermutung: Fouillée, La science sociale contemporaine (1880), S. 410. Gounot, Le principe de l’autonomie de la volonté en droit privé (1912), S. 76 führt in diesem Zusammenhang weiter aus: „La seule tâche du droit est d’assurer l’égalité des libertés en présence“. Siehe auch Ghestin / Loiseau / Serinet, La formation du contrat I (2013), Rn. 181: „[L]es obligations volontairement consenties ne peuvent être que justes“. 270 Fleischer, Informationsasymmetrie im Vertragsrecht (2001), S. 70. Siehe auch Gordley, The Philosophical Origins of Modern Contract Doctrine (1991), S. 161 ff. 271 Manchester, Sheffield and Lincolnshire Ry v Brown (1883) 8 AC 703, 717 ff. (Lord Bramwell) begründet diese „Gerechtigkeitsgewähr“ des Vertrags wie folgt: „[T]he fact that it has been voluntarily entered into by them is the strongest possible proof that it is a reasonable agreement“. Siehe zu dieser Grundhaltung Bramwells nur Epstein, Am. J. of Legal Hist. 38 (1994), 246, 249: „Individuals, Bramwell never tired of saying, knew their own interests better than anyone else and could be counted on to protect those interests“. Die Überzeugung, „that a gentleman could look after himself“, scheint indes auch in früheren Entscheidungen auf, so mit Blick auf Hopkins v Tanqueray (1854) 15 CB 130 ausdrücklich Cheshire, Fifoot & Furmston’s Law of Contract (2012), S. 28. 272 Cavendish Square Holding BV v Talal El Makdessi [2015] UKSC 67 (Lord Neuberger and Lord Sumption). 273 MünchKommBGB / Basedow (2016), Vor § 305 BGB Rn. 4. 274 Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130 ff.; ders., FS Raiser (1974), S. 3 ff. Siehe aus dem österreichischen Schrifttum nur F. Bydlinski, Privatautonomie und objektive 268 269

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Kapitel 3 – Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell

„Maßgebliches rechtliches Instrument zur Verwirklichung freien und eigenverantwortlichen Handelns in Beziehung zu anderen ist der Vertrag, mit dem die Vertragspartner selbst bestimmen, wie ihre individuellen Interessen zueinander in einen angemessenen Ausgleich gebracht werden […]. Der zum Ausdruck gebrachte übereinstimmende Wille der Vertragsparteien lässt deshalb in der Regel auf einen durch den Vertrag hergestellten sachgerechten Interessenausgleich schließen, den der Staat grundsätzlich zu respektieren hat“.275

Der Vertragsmechanismus bietet demnach deshalb eine gewisse Gewähr für die Richtigkeit des Vertrags, weil die Parteien in diesem Verfahren ihre potenziell entgegenstehenden Interessen privatautonom in Ausgleich gebracht haben.276 Keineswegs geht es also darum, den Inhalt des Vertrags anhand eines – wie auch immer gearteten – objektiven Gerechtigkeitsmaßstabs zu bewerten.277 Da das unionale Schuldvertragsrecht auf dem Fundament der Vertragsfreiheit aufbaut, überlässt es ebenfalls in erster Linie den Parteien die „richtige“ privatautonome Ausgestaltung ihres Vertrags (I). Dem Markt- und Wettbewerbsmechanismus kommt dabei eine zentrale Rolle für die Richtigkeitsvermutung zu (II). I.

Vertragsmechanismus und Richtigkeitsvermutung

Für eine Vermutung der „Richtigkeit“ des von den Parteien geschlossenen Vertrags streitet bereits das Unionsgrundrecht der Vertragsfreiheit, weil es allen hoheitlichen Stellen grundsätzlich „Respekt vor der Willensfreiheit der Parteien und vor dem im Vertrag gefundenen Gleichgewicht“ abverlangt.278 Auch von der Warte der GRCh sollen daher laut Generalanwältin Kokott grundsätzlich diejenigen Vereinbarungen als „angemessen“ gelten, „auf die sich die

Grundlagen des verpflichtenden Rechtsgeschäfts (1967), S. 62 ff. und 129; P. Bydlinski, Bürgerliches Recht I (2013), S. 125. 275 BVerfG Beschl. v. 7.9.2010 – Az. 1 BvR 2160/09 u. a., NJW 2011, 1339, 1340 f. (Herv. d. Verf.). Vgl. auch bereits BVerfG Beschl. v. 7.2.1990 – Az. 1 BvR 26/84, BVerfGE 81, 242, 254; BVerfG Urt. v. 6.2.2001 – Az. 1 BvR 12/92, BVerfGE 103, 89, 100. 276 Siehe jüngst etwa G. Wagner, ZEuP 2007, 180, 192; Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte (2005), S. 201 ff. 277 Wie hier G. Wagner, in: Blaurock / Hager (Hrsg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), S. 13, 19 f. 278 So im Kontext des Diskriminierungsschutzes nach Art. 157 AEUV bereits GA van Gerven Schlussanträge v. 4.5.1994 – Rs. C-408/92 (Avdel Systems), Slg. 1994, I-4437 Rn. 23. Deutlich bemerkt auch GA Wahl Schlussanträge v. 12.2.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:85 Rn. 105 mit Blick auf die Inhaltskontrolle nach der Klauselrichtlinie: „Sie darf nicht dazu führen, dass das vertragliche Gleichgewicht durch einen nach Vertragsschluss erfolgenden Eingriff des Staates aus den Fugen gerät. Denn es ist wohlbekannt, dass […] jeglicher Eingriff […] nur mit Vorsicht in Betracht gezogen werden darf, da er möglicherweise geeignet ist, die Vertragsfreiheit […] zu beeinträchtigen“ (Herv. d. Verf.).

§ 3 Vertrags- und Marktmechanismus als prozedurales Funktionsmodell

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Parteien vertraglich verständigt haben“.279 Darüber hinaus hebt der EuGH im Unionsprivatrecht beispielsweise mit Blick auf die Hauptleistungspflichten des Vertrags hervor, dass sich eine Angemessenheits- oder gar Vernünftigkeitskontrolle solcher Vertragsbestimmungen regelmäßig verbiete, weil es im Unionsrecht keine allgemeingültigen, „als Rahmen und Leitlinie einer solchen Kontrolle in Betracht kommenden Standards oder juristischen Kriterien gibt“.280 Statt anhand eines – wie auch immer gearteten – Idealbilds der „Vertragsgerechtigkeit“ oder gar eines iustum pretium bemisst das EU-Schuldvertragsrecht die „Richtigkeit“ eines Vertrags also zuvörderst anhand des von den Parteien kraft des Vertragsmechanismus erzielten Gleichgewichts. 281 Diese Richtigkeitsgewähr des Vertragsmechanismus lässt sich im Unionsrecht zunächst anhand der Kontrollfreiheit individuell ausgehandelter Vertragsbedingungen nach Art. 3 Klauselrichtlinie exemplifizieren: Sobald die Bedingungen durch die Vertragsparteien im Einzelnen ausgehandelt worden sind, verzichtet der Unionsgesetzgeber auf eine Klauselkontrolle.282 Das Erfordernis des „Aushandelns“ soll dabei die Effektivität des Vertragsmechanismus sicherstellen, da es impliziert, dass die Klauseln nicht nur erläutert, sondern vielmehr ernsthaft zur Disposition gestellt werden.283 Obschon im Einzelfall andere unionale und mitgliedstaatliche Korrektive eingreifen mögen, besteht von der Warte der Klauselrichtlinie insoweit eine Vermutung zugunsten der „Richtigkeit“ der im Wege des Vertragsmechanismus erzielten Vereinbarung.284

279 Im Kontext eines Subventionsvertrags führt GA Kokott Schlussanträge v. 27.2.2014 – Rs. C-531/12 P (SEMEA/Kommission), EU:C:2014:1946 Rn. 87 mit Blick auf Art. 41 Abs. 1 GRCh aus: „Zur Behandlung von vertraglich geprägten Angelegenheiten haben zunächst diejenigen Fristen als „angemessen“ im Sinne der Charta zu gelten, auf die sich die Parteien vertraglich verständigt haben“ (Herv. d. Verf.). 280 So mit Blick auf Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C26/13 (Kásler), EU:C:2014:282 Rn. 55. Siehe auch GA Wahl Schlussanträge v. 12.2.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:85 Rn. 69. Vgl. auch z. B. Franck, Europäisches Absatzrecht (2006), S. 222 f. 281 Vgl. wiederum EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:282 Rn. 55. Siehe auch G. Wagner, in: Blaurock / Hager (Hrsg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), S. 13, 19 f. 282 Freilich ist dies in erster Linie der heftigen Kritik und der Weigerung Deutschlands geschuldet, den ursprünglichen Richtlinienvorschlag zu akzeptieren, der noch eine Inhaltskontrolle von Individualvereinbarungen vorsah, vgl. Art. 2 des Vorschlags der Kommission v. 24.7.1990 für eine Richtlinie des Rates über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, KOM(90) 322 endg., ABl. 1990 C 243/2, sowie Geänderter Vorschlag der Kommission v. 5.3.1992 für eine Richtlinie des Rates über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, KOM(92), 66 endg., ABl. 1992 C 73/7. Dazu statt vieler Ranieri, Europäisches Obligationenrecht (2009), S. 423 ff. m. w. N. 283 Z. B. Wolf / Lindacher /  Pfeiffer, AGB-Recht (2013), Art. 3 Klauselrichtlinie Rn. 24.

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Kapitel 3 – Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell

Selbst wo der Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 1 Klauselrichtlinie eröffnet ist, macht der EuGH die Richtigkeitsgewähr des Vertragsmechanismus als Maßstab der Klauselkontrolle fruchtbar: „Zur Frage, unter welchen Umständen ein solches Missverhältnis ‚entgegen dem Gebot von Treu und Glauben‘ verursacht wird, ist festzustellen, dass das nationale Gericht gemäß der Rechtsprechung des Gerichtshofs prüfen muss, ob der Gewerbetreibende bei loyalem und billigem Verhalten gegenüber dem Verbraucher vernünftigerweise erwarten durfte, dass der Verbraucher sich nach individuellen Verhandlungen auf eine solche Klausel einlässt“.285

Der Gerichtshof unterstellt also, dass der Vertrag als Ergebnis einer individuellen – wenngleich nur hypothetischen – Verhandlung grundsätzlich als „richtig“ anzusehen ist und die auf diesem Wege zustande gekommenen Klausel kein „erhebliches und ungerechtfertigtes Mißverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner“ im Sinne des Art. 3 Abs. 1 Klauselrichtlinie verursacht.286 Die Richtigkeitsgewähr des Vertragsmechanismus scheint ferner in der Dienstleistungsrichtlinie auf, die sowohl Verbraucherverträge als auch Verträge zwischen gewerblich handelnden Akteuren erfasst.287 Art. 20 Abs. 2 Dienstleistungsrichtlinie verbietet grundsätzlich an der Staatsangehörigkeit oder dem Wohnsitz eines Dienstleistungsempfängers ansetzende diskriminierende Bestimmungen in „allgemeinen Bedingungen für den Zugang zu einer Dienstleistung“.288 Ausweislich des Erwägungsgrundes Nr. 95 sowie der Wie hier statt vieler G. Wagner, in: Eidenmüller / Faust / Grigoleit u. a. (Hrsg.), Revision des Verbraucher-acquis (2011), S. 1, 32 ff. Zweifelnd Kötz, Europäisches Vertragsrecht (2015), S. 205 f. 285 EuGH Beschl. v. 14.11.2013 – verb. Rs. C-537/12 u. a. (Banco Popular u. a.), EU:C: 2013:759 Rn. 66 (Herv. d. Verf.). Ebenso bereits EuGH Urt. v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 (Aziz), EU:C:2013:164 Rn. 69. Siehe auch GA Trstenjak Schlussanträge v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 (Aziz), Rn. 74. 286 Dies gilt freilich nur unter der Einschränkung, dass sich der Unternehmer „loyal und billig“ verhält und damit keinen unzulässigen Einfluss auf die Willensbildung des Verbrauchers nimmt. Unter dieser Prämisse billigt der EuGH dem Verbraucher hier aber unverkennbar die Fähigkeit zu, seine Interessen im Rahmen individueller Verhandlungen durchzusetzen und mithilfe des Vertragsmechanismus „richtige“ Verträge zu erzielen, vgl. EuGH Beschl. v. 14.11.2013 – verb. Rs. C-537/12 u. a. (Banco Popular u. a.), EU:C:2013: 759 Rn. 66. Dazu noch eingehend unten Kapitel 4 § 3 D I 3 b aa. 287 Vgl. Art. 2 und Art. 3 Abs. 2 Dienstleistungsrichtlinie sowie statt aller W.-H. Roth, in: Leible (Hrsg.), Die Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie (2008), S. 205 ff. 288 Allerdings können solche Ungleichbehandlungen aufgrund der Staatsangehörigkeit nach Art. 21 Abs. 2 Dienstleistungsrichtlinie gegebenenfalls „durch objektive Kriterien gerechtfertigt“ werden. Zu solchen Kriterien zählt Erwägungsgrund Nr. 95 der Richtlinie z. B. „entfernungsabhängige Zusatzkosten, technische Merkmale der Erbringung der Dienstleistung, unterschiedliche Marktbedingungen wie saisonbedingte stärkere oder geringere Nachfrage“. 284

§ 3 Vertrags- und Marktmechanismus als prozedurales Funktionsmodell

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Auslegungsleitlinie289 der Europäischen Kommission bezieht sich Art. 20 Abs. 2 Dienstleistungsrichtlinie zuvörderst auf allgemeine Geschäftsbedingungen,290 während individuell ausgehandelte Vertragsklauseln von dem Diskriminierungsverbot ausgenommen werden: „Article 20(2) of the Services Directive only applies to ‘general conditions of access to a service made available to the public at large’ and not to conditions of access that are negotiated on an individual basis with one service recipient“.291

Besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusammenhang nun die Begründung für die Herausnahme individuell ausgehandelter Vertragsklauseln: Solche Bestimmungen seien Ausdruck der spezifischen Bedürfnisse und Interessen der Vertragspartner, weshalb hier kein Bedarf für die Anwendung des Art. 20 Abs. 2 Dienstleistungsrichtlinie bestehe.292 Anders gewendet wird auch hier dem Prozess des Aushandels und damit dem Vertragsmechanismus eine Richtigkeitsgewähr zugemessen.293 Zudem setzt das unionale Wirtschaftsvertragsrecht ebenfalls auf die Richtigkeitsgewähr des Vertragsmechanismus: Namentlich lässt das EU-Vergaberecht unter bestimmten Voraussetzungen die Auftragsvergabe in sogenannten Verhandlungsverfahren zu. Letztere definiert Art. 1 Abs. 11 lit. d Vergabe289 European Commission, Commission Staff Working Document: With a view to establishing guidance on the application of Article 20(2) of Directive 2006/123/EC on services in the internal market (‘the Services Directive’), SWD(2012) 146 final. 290 Vgl. Auslegungsleitlinie, SWD(2012) 146 final, 9: „As such, general conditions of access can be understood as all the terms and conditions and all other information made available by the service provider through various means such as […] (pre)contractual documentation and which are understood to apply in the absence of an agreement to the contrary entered into directly with the service recipient“ (Herv. d. Verf.). 291 Auslegungsleitlinie, SWD(2012) 146 final, 9 (Herv. d. Verf.). Wie hier auch Hoffmann / Schneider, EuZW 2015, 47, 48. 292 Vgl. Auslegungsleitlinie, SWD(2012) 146 final, 9: „Individually negotiated terms […] are not part of the ‘general conditions of access made available to the public at large’. Tailor-made terms negotiated with a particular service recipient are usually based on the specific characteristics of the recipient in question including such characteristics as his history of custom with the service provider, his ability to pay, or their special requests, and are not covered by Article 20(2) of the Services Directive“ (Herv. d. Verf.). 293 Dies ist gerade deshalb bemerkenswert, weil das Diskriminierungsverbot der Dienstleistungsrichtlinie nicht nur der Verwirklichung individueller Vertragsfreiheit, sondern vorrangig der Erleichterung des freien Dienstleistungsverkehrs und damit ordnungspolitischen Interessen in Gestalt des Binnenmarktziels dient, siehe dazu unten Kapitel 4 § 3 C I. Den Rahmen dieser Abhandlung sprengt indes die Folgefrage, ob der in Art. 20 Abs. 2 Dienstleistungsrichtlinie aufscheinende Gedanke der „Richtigkeitsgewähr“ des Vertragsmechanismus auch in Fallgestaltungen als Rechtfertigung herangezogen werden kann, in denen Private ausnahmsweise an primärrechtliche Diskriminierungsverbote, wie etwa Art. 18 AEUV und Art. 21 Abs. 2 GRCh, gebunden sind, vgl. erneut oben § 1 C II sowie ferner z. B. GA Trstenjak Schlussanträge v. 12.3.2012 – Rs. C-171/11 (Fra.bo), EU:C: 2012:176 Rn. 56.

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Kapitel 3 – Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell

richtinie 2004/18/EG als Verfahren, „bei denen der öffentliche Auftraggeber sich an Wirtschaftsteilnehmer seiner Wahl wendet und […] über die Auftragsbedingungen verhandelt“. Eine solche Verhandlungslösung sieht das unionale Vergaberecht in Art. 30 und Art. 31 Vergaberichtinie 2004/18/EG vor, um die Angebote der Bieter „anzupassen und das beste Angebot […] zu ermitteln“.294 Solange die Mindestanforderungen der Leistungsbeschreibung gewahrt bleiben, die der Auftraggeber zuvor allen Bietern verbindlich vorgegeben hat, können die Parteien in diesem Verfahren umfassend über den Leistungsgegenstand und den Preis verhandeln.295 Auch in diesem Bereich postuliert das Unionsrecht, dass der Vertragsmechanismus grundsätzlich nicht nur zu einem von der Warte des unionalen Vergaberechts, sondern gerade aus Sicht der Parteien „richtigen“ Ergebnis führt. Wie bereits erwähnt,296 sind Verhandlungen in der Rechtswirklichkeit bei vielen Verträgen eine Ausnahmeerscheinung. Um dennoch eine Gewähr für die „Richtigkeit“ des Vertrags zu bieten, wird der Vertrags- durch den Wettbewerbsmechanismus flankiert. II. Wettbewerbsmechanismus und Richtigkeitsvermutung Im prozeduralen Funktionsmodell der unionalen Vertragsfreiheit kann das fehlende Aushandeln der Vertragsbedingungen durch die Wirkkräfte des freien Wettbewerbs am Markt in gewissem Umfang ausgeglichen werden.297 Insoweit wird die Richtigkeitsgewähr des Vertragsmechanismus um diejenige des Markt- und Wettbewerbsmechanismus ergänzt: Vertragsinteressenten, die zwischen unterschiedlichen Vertragspartnern und -inhalten am Markt wählen können, sind zumindest hinsichtlich der erkennbaren und transparenten Vertragskonditionen im Stande, den für sie „passenden“ Vertrag abzuschließen. Obwohl hier der Vertragsmechanismus nur binär durch Ablehnung unpassender Offerten und die Annahme des gesuchten Vertragsangebots betätigt werden kann, misst das Unionsrecht auch diesem Prozess eine – begrenzte – Richtigkeitsvermutung zu. Dies gilt zunächst für das Verbrauchervertragsrecht, wo gemäß Art. 4 Abs. 2 Klauserichtlinie selbst einseitig vorformulierte und gestellte Vertragsbestimmungen betreffend die vertragliche Hauptleistung sowie den Preis kontrollfrei298 gestellt werden, soweit diese Klauseln klar und verständlich abgefasst sind. Dahinter steht die Überlegung, dass der Verbraucher seine Auf294 Siehe nur Art. 30 Abs. 2 Vergaberichtinie 2004/18. Voraussetzung ist indes, dass auch hier eine Gleichbehandlung der Bieter sichergestellt wird und namentlich nicht von den als verbindlich eingestuften Anforderungen des Auftrags abgewichen wird, dazu EuGH Urt. v. 5.12.2013 – C-561/12 (Nordecon), EU:C:2013:793 Rn. 37 ff. 295 EuGH Urt. v. 5.12.2013 – C-561/12 (Nordecon), EU:C:2013:793 Rn. 34 und 37. 296 Siehe oben B. 297 Siehe erneut oben B.

§ 3 Vertrags- und Marktmechanismus als prozedurales Funktionsmodell

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merksamkeit auf diese zentralen Vertragsbestandteile lenkt und seine Vertragsfreiheit daher durch Auswahl des gesuchten Vertragsangebots in all ihren zum Kernbereich zählenden Facetten zu entfalten vermag.299 Anders ausgedrückt ist zu vermuten, dass jeder „Durchschnittskunde der Vereinbarung über die Hauptleistung mehr Aufmerksamkeit widmet als den Nebenpunkten“.300 Das im Zusammenspiel von Markt-, Wettbewerbs- und Vertragsmechanimus erzielte Vertragsergebnis bedarf keiner inhaltlichen Kontrolle mehr und kann aus Sicht der Klauselrichtlinie selbst dann als „richtig“ gelten, wenn es für den Verbraucher ungünstig ist: Schließlich soll der Konsument durch die Richtlinie „nicht generell davor geschützt werden, ein unvorteilhaftes Geschäft abzuschließen. Vielmehr wird er bezüglich der Hauptleistungen als durch den Wettbewerb hinreichend geschützt angesehen“.301

Dies ist besonders offenkundig bei dem Preis, wie nun der EuGH in seiner Kásler-Entscheidung hervorhebt: Da zumindest aus der Perspektive des Unionsprivatrechts in diesem Punkt keine objektiven Bewertungsmaßstäbe existieren, kann es für die „Richtigkeit“ notwendig allein auf die subjektive, weil vermöge seiner „Vertragsautonomie“ getroffene Entscheidung des Konsumenten für einen Vertragsschluss am Markt ankommen.302 Die FunktionsfäErwägungsgrund Nr. 19 Klauselrichtlinie gestattet die Berücksichtigung des Hauptleistungsgegenstandes sowie des Preis-Leistungs-Verhältnisses aber bei der Kontrolle anderer, das heißt also weder die Hauptleistungspflichten noch den Preis betreffender, Klauseln. Siehe zur – aufgrund der Unterschiede zwischen der deutschen („sofern“), französischen („dès lors que“) und englischen Sprachfassung („since“) dieses Erwägungsgrundes – nicht eindeutigen Rechtslage bei Versicherungsverträgen nur MünchKommBGB /  Kieninger (2007), § 307 BGB Rn. 154. 299 Laut GA Trstenjak Schlussanträge v. 29.10.2009 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 63 beruht die „mit Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 vorgenommene Begrenzung des Kontrollumfangs […] auf marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten. Nach den Grundprinzipien einer liberalen Wirtschaftsordnung legten die Vertragspartner Leistung und Gegenleistung, um deren Austausch willen der Vertrag geschlossen wird, autonom fest. Dies entspr[icht] den Gesetzen des Marktes und des Wettbewerbs, die bei einer Angemessenheits- oder Äquivalenzkontrolle partiell außer Kraft gesetzt würden, so dass ein an ihnen ausgerichtetes planmäßiges Marktverhalten der Anbieter ausgeschlossen wäre“ (Herv. d. Verf.). 300 Vgl. zum deutschen Recht bereits BGH Urt. v. 19.9.1985 – Az. III ZR 213/83, NJW 1986, 46, 48; BGH Urt. v. 24.11.1988 – Az. III ZR 188/87, NJW 1989, 222, 223. Siehe ferner nur Stoffels, JZ 2001, 843, 847 ff. 301 GA Trstenjak Schlussanträge v. 29.10.2009 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 40 (Herv. d. Verf.). 302 EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:282 Rn. 49 und 47. Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie behandelt selbst dem Verbraucher vergleichsweise nachteilige Hauptleistungsklauseln also gerade deshalb als richtig, weil sie den „Kern des Vertragsverhältnisses“ ausmachen, der „unmittelbar aus der Vertragsfreiheit der Parteien 298

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Kapitel 3 – Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell

higkeit und damit auch die Richtigkeitsgewähr des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus ist indes nur bei verständlichen Hauptleistungs- und Preisklauseln sichergestellt, weshalb Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie eine Transparenzkontrolle vorsieht.303 Diese Minimierung des Kontrollumfangs erklärt sich ferner dadurch, dass Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie mit den essentialia negotii gerade Elemente erfasst, die zum Kernbereich der unionalen Vertragsfreiheit zählen.304 Auf besonders solidem Fundament steht die Richtigkeitsvermutung, wenn Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus ungehindert zusammenwirken können. Vor diesem Hintergrund ist die vollständige Kontrollfreiheit individuell ausgehandelter Vertragsbedingungen nach Art. 3 Klauselrichtlinie zu sehen: Der EuGH rechtfertigt diese gesetzgeberische Entscheidung damit, „dass eine Klausel von den Vertragsparteien im Rahmen ihrer Vertragsautonomie und der Marktbedingungen ausgehandelt wurde“.305 Gerade weil die beiden vorgenannten Mechanismen hier ineinander greifen, ist eine inhaltliche Kontrolle der so erzielten Vertragsergebnisse also verzichtbar.306 Dass die Verbindung von Markt-, Wettbewerbs- und Vertragsmechanismus grundsätzlich zu „richtigen“ Vertragsergebnissen führt und deshalb einer rigiden und potenziell eingriffsintensiven staatlichen Vorabkontrolle von Vertragsbedingungen entgegen steht, schwingt auch im unionalen Finanzdienstleistungs- und dort namentlich im Versicherungsvertragsrecht mit. Gemäß Art. 21 und Art. 154 Solvency II sind Vorabgenehmigungserfordernisse für allgemeine Versicherungsbedingungen grundsätzlich unzulässig, was Art. 181 und Art. 182 Solvency II für Lebens- und Nichtlebensversicherungsverträge gesondert hervorheben.307 Der EuGH entnimmt diesen Rege-

folgt“, GA Wahl Schlussanträge v. 12.2.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:85 Rn. 3, 27 und 33. Diesen Ansatz verfolgt das Unionsrecht auch in gänzlich anderem Kontext, wie ein Blick in das Mehrwertsteuerrecht zeigt: Hier nimmt das Unionsrecht das Auseinanderfallen des objektiven Werts der Hauptleistung einerseits und der von den Parteien vertraglich vereinbarten Gegenleistung ausdrücklich hin, siehe aus der ständigen Rechtsprechung nur EuGH Urt. v. 7.11.2013 – verb. Rs. C-249/12 u. a. (Tulică u. a.), EU:C:2013:722 Rn. 33 m. w. N.: „Nach der in Art. 73 der Mehrwertsteuerrichtlinie aufgestellten allgemeinen Regel ist die Besteuerungsgrundlage für die Lieferung eines Gegenstands oder die Erbringung einer Dienstleistung gegen Entgelt die vom Steuerpflichtigen tatsächlich dafür erhaltene Gegenleistung. Diese Gegenleistung stellt den subjektiven, nämlich tatsächlich erhaltenen Wert und nicht einen nach objektiven Kriterien geschätzten Wert dar“ (Herv. d. Verf.). 303 Vgl. wiederum oben B. Siehe zur Ausgestaltung der Transparenzkontrolle als Markttransparenzgebot noch eingehend unten Kapitel 4 § 3 D II. 304 Siehe erneut oben Kapitel 2 § 3 A II 2 sowie zu den Folgen für die Handhabung mitgliedstaatlicher Normen, wie etwa § 307 Abs. 3 S. 1 BGB, eingehend unten Kapitel 7 § 2. 305 EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:282 Rn. 47 f. 306 Deshalb mag die unionale Vertragsfreiheit einer pauschalen und anlasslosen Inhaltskontrolle hier womöglich entgegenstehen, siehe unten Kapitel 7 § 2.

§ 3 Vertrags- und Marktmechanismus als prozedurales Funktionsmodell

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lungen einen allgemeinen Grundsatz der Tariffreiheit.308 Während dieser Grundsatz zuvörderst der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit sowie der Schaffung des Binnenmarktes für Versicherungen dient, zeigt sich hier erneut das Vertrauen des Unionsgesetzgebers in die Richtigkeitsgewähr des Markt- und Wettbewerbsmechanismus sogar bei typischerweise einseitig festgesetzten Vertragsbedingungen: Denn hinter der Tariffreiheit steht insbesondere auch die Überlegung, dass das „Interesse des Versicherungsnehmers“ bereits dadurch gefördert und gewahrt wird, dass er „im Rahmen des Binnenmarktes […] Zugang zu einer möglichst weiten Palette von in der Gemeinschaft angebotenen Versicherungsprodukten hat, um aus ihnen das seinen Bedürfnissen am besten entsprechende Angebot auswählen zu können“.309

Die Vorabkontrolle von Vertragsbedingungen ist demnach nicht nur aus der Perspektive der Grundfreiheiten und des Binnenmarktziels unerwünscht, sondern sie erscheint angesichts des Vertrags- und Wettbewerbsmechanimus gerade verzichtbar, um die „Richtigkeit“ von Vertragsergebnissen zu gewährleisten. Die Aufgabe, missbräuchliche Klauseln jenseits der Hauptleistung sowie der Tarifgestaltung zu kassieren, fällt nach der unionalen Konzeption nunmehr dem Instrument der Inhaltskontrolle im Rahmen der Klauselrichtlinie zu.310 Wie soeben gezeigt, enthält auch dieser Sekundärrechtsakt eine Richtigkeitsvermutung, die am Ineinandergreifen des Vertrags-, Markt- und Wettbewerbsmechanismus ansetzt. Schließlich baut auch das unionale Wirschaftsrecht auf ebendiesen Mechanismus, um die „Richtigkeit“ von Vertragsergebnissen und insbesondere von Preisen zu bewerten. So stellt sich im unionalen Beihilferecht bei der Prüfung, ob die Veräußerung von Staatseigentum an ein privates Unternehmen eine Beihilfe darstellt, die Vorfrage, ob der im Veräußerungsvertrag vereinbarte Preis angemessen ist. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist der „richtige“ Marktpreis dabei „der höchste Preis, den ein privater Inves-

Vgl. auch EuGH Urt. v. 7.3.2013 – Rs. C-577/11 (DKV Belgium), EU:C:2013:146 Rn. 20. Jedoch bestehen Ausnahmen für Pflicht- sowie für bestimmte Krankenversicherungen, vgl. Art. 181 Abs. 2 sowie Art. 182 Unterabs. 2 Solvency II und siehe nur MünchKommBGB / Kieninger (2007), § 307 BGB Rn. 145. 308 Siehe zu diesem Grundsatz („liberté tarifaire“; „principle of freedom to set rates“) nur EuGH Urt. v. 25.2.2003 – Rs. C-59/01 (Kommission / Italien), Slg. 2003, I-1759 Rn. 29 ff.; EuGH Urt. v. 7.9.2004 – Rs. C-347/02 (Kommission / Frankreich), Slg. 2004, I7557 Rn. 22 ff.; EuGH Urt. v. 7.9.2004 – Rs. C-346/02 (Kommission / Luxemburg), Slg. 2004, I-7517 Rn. 21 ff.; EuGH Urt. v. 28.4.2009 – Rs. C-518/06 (Kommission / Italien), Slg. 2009, I-3491 Rn. 101 und 103; EuGH Urt. v. 7.3.2013 – Rs. C-577/11 (DKV Belgium), EU:C:2013:146 Rn. 21. 309 Deutlich EuGH Urt. v. 25.2.2003 – Rs. C-59/01 (Kommission / Italien), Slg. 2003, I1759 Rn. 25. Vgl. auch Erwägungsgrund Nr. 77 Solvency II. 310 Z. B. MünchKommBGB / Kieninger (2007), § 307 BGB Rn. 145 ff. 307

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Kapitel 3 – Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell

tor unter normalen Wettbewerbsbedingungen […] zu zahlen bereit ist“.311 Für die hiesigen Zwecke entscheidend ist nun, dass, wenn der Vertrag in einem transparenten, von freiem Wettbewerb beherrschten Verfahren angebahnt wurde, laut EuGH „vermutet werden kann, dass der Marktpreis dem höchsten Angebot entspricht“.312 Für die Zwecke des unionalen Beihilferechts bietet also der kraft des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus erzielte Preis ebenfalls Gewähr dafür, „richtig“ zu sein.313 C. Summe des dritten Kapitels Die unionale Vertragsfreiheit entfaltet multiple Privatrechtswirkungen. Als allgemeiner Rechtsgrundsatz des EU-Privatrechts bietet die Vertragsfreiheit zunächst Abhilfe bei Auslegungsfragen oder Regelungslücken im Gefüge des unionsrechtlich determinierten Schuldvertragsrechts. Hierbei handelt es sich um einen Fall der – prinzipiengeleiteten – unionsrechtskonformen Auslegung und gegebenenfalls der Rechtsfortbildung. Die Vertragsfreiheit ist entsprechend mit anderen, womöglich konfligierenden Prinzipien abzuwägen und in praktische Konkordanz zu bringen. Der Vertragsfreiheit gebührt dabei grundsätzlich Vorrang, obschon der Unionsgesetzgeber in bestimmten Regelungsbereichen ein Primat gegenläufiger Prinzipien, wie etwa des Verbraucherschutzes, festlegen kann. Wo die Privatrechtswirksamkeit der unionalen Vertragsfreiheit Zweifel aufwirft, können bzw. müssen mitgliedstaatliche Gerichte diese Fragen gemäß Art. 267 AEUV dem EuGH zur Vorabentscheidung vorlegen. Als unionales Abwehrgrundrecht wendet sich die Vertragsfreiheit gegen autonomiebegrenzende Ausgestaltungen des Privatrechts der EU und ihrer Mitgliedstaaten. Zugleich umfasst die Vertragsfreiheit auch Leistungs- und vor allem Schutzpflichten. Entlang dieser Gundrechtsfunktionen verlaufen die Einwirkungsachsen der unionalen Vertragsfreiheit im Privatrecht: Zunächst ist das gesamte Zivilrecht der EU unionsgrundrechtskonform im Lichte der Vertragsfreiheit auszulegen und anzuwenden. Soweit die Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte reicht, ist auch das nationale Privatrecht stets im Einklang mit der unionalen Vertragsfreiheit zu interpretieren. Die Leistungpflichten halten die EU und ihre Mitgliedstaaten sodann zur Bereitstellung aller zur Freiheitsausübung notwendigen Institutionen an. An311 Z. B. EuGH Urt. v. 24.10.2013 – verb. Rs. C-214/12 P u. a. (Land Burgenland u. a./ Kommission), EU:C:2013:682 Rn. 92. Vgl. zudem nur EuGH Urt. v. 20.9.2001 – Rs. C390/98 (Banks), Slg. 2001, I-6117 Rn. 77; EuGH Urt. v. 29.4.2004 – Rs. C-277/00 (Deutschland / Kommission), Slg. 2004, I-3925 Rn. 80. 312 Z. B. EuGH Urt. v. 24.10.2013 – verb. Rs. C-214/12 P u. a. (Land Burgenland u. a./ Kommission), EU:C:2013:682 Rn. 94; EuGH Urt. v. 16.7.2015 – Rs. C-39/14 (BVVG), EU:C:2015:470 Rn. 32. 313 Vgl. zu den Grenzen dieser Vermutung zugleich EuGH Urt. v. 16.7.2015 – Rs. C-39/14 (BVVG), EU:C:2015:470 Rn. 32: Der Gerichtshof will allerdings nur bei besonderen Umständen im Einzelfall „andere wirtschaftliche Faktoren als den Preis […] berücksichtigen“.

§ 3 Vertrags- und Marktmechanismus als prozedurales Funktionsmodell

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gesichts der Schutzpflichtendimension unionaler Vertragsfreiheit kann das Unionsgrundrecht mittelbare Wirkungen zwischen Privaten entfalten. Darüber hinaus fungiert die unionale Vertragsfreiheit als Kompass des EUSchuldvertragsrechts, indem sie zugleich als Begründung und als Begrenzung der Vertragsbindung wirkt. In der Unionsrechtsordnung findet der Grundsatz pacta sunt servanda seine Rechtfertigung ebenso in der Vertragsfreiheit wie die Relativität vertraglicher Schuldverhältnisse. Sowohl das unionsprivatrechtliche Instrumentarium zur Gewährleistung der Vertrags- und Leistungstreue als auch eine etwaige Erstreckung schuldvertraglicher Rechte und Pflichten auf vertragsexterne Dritte sind daher an der unionalen Vertragsfreiheit zu messen und auszurichten. Die Unionsrechtsordnung legt eine prozedurale Konzeption der unionalen Vertragsfreiheit zugrunde: Rechtsgeschäftliche Privatautonomie soll in erster Linie durch den Vertragsmechanismus und namentlich durch das individuelle Aushandeln des Vertrags verwirklicht werden. Dieser prozedurale Ansatz ist im Ausgangspunkt formal, da die Vertragsparteien nur rechtlich die gleiche Chance haben müssen, im Rahmen eines zum Vertragsschluss führenden Verfahrens alle zum Kernbereich zählenden Facetten ihrer Vertragsfreiheit auszuüben. 314 Bei standardisierten Massenverträgen bliebe ein so verstandener Vertragsmechanismus jedoch schon deshalb wirkungslos, weil der Vertragsinhalt typischerweise einseitig festgelegt und nicht zur Disposition gestellt wird. Insoweit bedarf das formal-prozedurale Funktionsmodell der Ergänzung um eine Markt- und Wettbewerbsdimension. Wo die Einflussnahme auf die Vertragsgestalt durch Gebrauch der Inhaltsfreiheit ausscheidet, vermag der freie Wettbewerb in gewissem Rahmen zu garantieren, dass dennoch alle wesentlichen Elemente der unionalen Vertragsfreiheit entfaltet werden. An die Stelle des individuellen Aushandelns der Vertragsbedingungen tritt hier die Ausübung der Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit: Der Vertragsschlusswillige kann sich unter den Wettbewerbern am Markt denjenigen Vertragspartner aussuchen, der den von ihm angestrebten Vertrag anbietet. Der freie Wettbewerb im Binnenmarkt vermag das fehlende Aushandeln auf diesem Wege in gewissem Umfang zu kompensieren. Mit diesem prozeduralen, markt- und wettbewerbsbasierten Funktionsmodell der Vertragsfreiheit korrespondiert ein prozedurales Gerechtigkeitsmo314 Vgl. EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 33 f.; EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 68; EuGH Urt. v. 27.4.2017 – Rs. C-680/15 u.a. (Asklepios Kliniken u.a.), EU:C:2017:317 Rn. 23. Die formal-rechtlich gleiche Vertragsfreiheit nimmt der EuGH auch und gerade im Verbrauchervertragsrecht zum Ausgangspunkt und postuliert namentlich die „formale Ausgewogenheit der Rechte und Pflichten der Vertragsparteien“, siehe aus der ständigen Rechtsprechung zur Klauselrichtlinie z. B. EuGH Urt. v. 26.10.2006 – Rs. C-168/05 (Mostaza Claro), Slg. 2006, I-10421 Rn. 36.

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Kapitel 3 – Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell

dell.315 Ob ein Vertrag „richtig“ ist, beurteilt das Unionsrecht in erster Linie anhand des Verfahrens, in dem der Vertrag zustande gekommen ist: Wo die Voraussetzungen zur Entfaltung der Vertragsfreiheit durch den wettbewerbsgestützten Vertragsmechanismus gegeben sind, stellt das Unionsrecht eine – begrenzte – Vermutung der inhaltlichen Richtigkeit des Vertrags auf. Das prozedurale Funktionsmodell unionaler Vertragsfreiheit kommt indes nicht ohne flankierende unionsrechtliche Regelungen aus: Zum einen muss stets der freie Wettbewerb am Markt als äußerer Funktionsrahmen und notwendige Ergänzung des Vertragsmechanismus gewährleistet werden. Zum anderen kann die unionale Vertragsfreiheit Korrekturen gebieten, wenn eine Partei die ihr rechtlich eingeräumte Möglichkeit zur Selbstbestimmung durch das Instrument des Vertrags aufgrund tatsächlicher Gegebenheiten nicht wahrnehmen kann. Wo der Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus Defizite aufweist oder gar zu versagen droht, muss er entsprechend punktuell komplementiert und gestärkt werden, um allen Akteuren werthaltige Selbstbestimmungschancen garantieren zu können. Das diesem Ziel dienende Instrumentarium wird im Folgenden näher beleuchtet.

315

Vgl. Canaris, AcP 200 (2000), 273, 283 f. und 293 f.

Kapitel 4

Materialisierung der Vertragsfreiheit durch Unionsrecht Kapitel 4 – Materialisierung der Vertragsfreiheit durch Unionsrecht

Das Freiheitsparadoxon besagt, dass ungezügelte Freiheit beständig Gefahr läuft, sich selbst aufzuheben.1 Diese Paradoxie bedroht in ganz besonderem Maße die Vertragsfreiheit: Da sie eine ihrem Wesen nach nur im Zusammenspiel mit einer anderen Partei ausübbare Freiheit ist, könnte die ungehemmte Ausübung der Vertragsfreiheit als „Selbstbestimmung in Selbstherrlichkeit“ des einen Teils womöglich zur Fremdbestimmung und damit zur Erstickung der Vertragsfreiheit des anderen Teils führen.2 Eine besondere Bedrohung geht dabei von der Konzentration „privater Macht“ in den Händen einiger Wirtschaftsakteure aus.3 Aber auch darüber hinaus weisen rechtlich gleich freie Parteien in der Realität oftmals erhebliche faktische Unterschiede auf, etwa im Hinblick auf die Geschäftserfahrung und den Zugang zu relevanten Informationen.4 In diesen Situtationen steht das Recht vor der Herausforderung, die formalrechtlich äquivalente dem Idealbild der tatsächlich ausgeglichenen Freiheit zur vertraglichen Selbstbestimmung zumindest anzunähern. Ein breit gefächertes rechtliches Instrumentarium dient der Erreichung ebendieses Zieles und wird unter dem schillernden Begriff der „Materialisierung“ zusammengefasst.5 Eine Analyse des Materialisierungsverständnisses des Unionsrechts (§ 1) verdeutlicht zunächst, dass dieses Phänomen nicht außerhalb, sondern – ganz im Gegenteil – als notwendige Ergänzung innerhalb des formal-prozeduralen Funktionsmodells6 unionaler Vertragsfreiheit steht: Überall dort, 1 Siehe speziell mit Blick auf die Vertragsfreiheit Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts II (1979), S. 10; Fornasier, Freier Markt und zwingendes Vertragsrecht (2013), S. 15 f. 2 Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang (1999), S. 104. 3 Vgl. zu diesem „Problem der privaten Macht“ bereits Böhm, Die Justiz 1928, 324 ff. 4 In diesem Sinne beispielsweise bereits Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), S. 453 f.; Zweigert, FS Rheinstein II (1969), S. 493, 503. 5 Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers (1998), S. 208 f. und 293 ff.; Canaris, AcP 200 (2000), 273, 277 ff.; Riesenhuber, System und Prinzipien des europäischen Vertragsrechts (2003), S. 553 f.; Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbrauchervertragsrechts (2004), S. 307 ff.; G. Wagner, ZEuP 2007, 180, 191 ff. Fornasier, Freier Markt und zwingendes Vertragsrecht (2013), S. 77 ff. 6 Siehe erneut oben Kapitel 3 § 3.

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Kapitel 4 – Materialisierung der Vertragsfreiheit durch Unionsrecht

wo die Rahmenbedingungen rechtsgeschäftlicher Selbstbestimmung bedroht sind, werden Instrumente zur „Freiheitsoptimierung“7 bereitgestellt. Damit sucht die Materialisierung gerade die Defizite zu beheben, welche entweder die Funktionsfähigkeit des Vertrags- oder aber des Wettbewerbsmechanismus beeinträchtigen können. Entlang diese Linie lassen sich auch die Materialisierungsinstrumente des Unionsrechts unterteilen: Auf der einen Seite stehen marktkonstitutive und wettbewerbsschützende Institute des Wirtschaftsrechts, welche die Rahmenbedingungen für tatsächliche Selbstbestimmungsmöglichkeiten auf einer dem Vertragsschluss weit vorgelagerten Ebene schützen (§ 2). Auf der anderen Seite stehen Normen, welche die Vertragsfreiheit auf individualvertraglicher Ebene durch Unionsprivatrecht materialisieren (§ 3), um tatsächliche Selbstbestimmungschancen im Schuldvertragsrecht zu gewährleisten.

§ 1 Begriff, Gegenstand und Ziel der Materialisierung § 1 Begriff, Gegenstand und Ziel der Materialisierung

Materialisierung ist kein feststehender juristischer Begriff, sondern scheint vielmehr in unterschiedlichen Disziplinen, wie beispielsweise der Philosophie, Theologie und Soziologie, auf. Dabei wird diesem Terminus nicht nur in den einzelnen Fachbereichen ein jeweils eigener Sinngehalt beigemessen, sondern gerade innerhalb der Rechtswissenschaft variieren der Gegenstand und das Ziel der Materialisierung zuweilen deutlich: Materialisiert werden soll entweder das Recht insgesamt8 oder einer seiner Teilbereiche, wie etwa das Privat-,9 Schuldvertrags-10 und Zivilprozessrecht.11 Als Materialisierungsobjekte werden ferner etwa das Sozialstaatsprinzip,12 die Gerechtigkeit13 oder gleich die Wahrheit14 angeboten. Die der Materialisierung zugeschriebenen Aufgaben und Ziele reichen sodann von der Durchsetzung partikularer 7 In diesem Sinne mit Blick auf das deutsche Bürgerliche Recht auch M.-P. Weller, Die Vertragstreue (2009), S. 171; Grundmann, FS 200 Jahre HU (2010), S. 1015, 1023 ff. 8 Vgl. zur „materialization of law“ z. B. Broekman, in: Teubner (ed.), Dilemmas of Law in the Welfare State (1986), S. 76. 9 Z. B. G. Wagner, in: Blaurock / Hager (Hrsg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), S. 13, 18; Herresthal, in: Langenbucher (Hrsg.), Europäisches Privat- und Wirtschaftsrecht (2013), § 2 Rn. 1. 10 Canaris, AcP 200 (2000), 273 ff. 11 Statt vieler G. Wagner, ZEuP 2008, 6, 13 ff.; Heinze, EuZW 2011, 947, 950; Rösler, Europäische Gerichtsbarkeit auf dem Gebiet des Zivilrechts (2012), S. 250 f.; H. Roth, FS Henckel (2015), S. 283. Siehe zur Materialisierung durch Zivilprozessrecht noch eingehend unten Kapitel 6. 12 Zacher, FS Ipsen (1977), S. 207, 229; Habermas, Faktizität und Geltung (1994), S. 486 ff. 13 Vgl. nur Zacher, FS Ipsen (1977), S. 207, 235 (dort in Fn. 123). 14 Z. B. Heintel / Berger, Die Organisation der Philosophen (1998), S. 111 ff.

§ 1 Begriff, Gegenstand und Ziel der Materialisierung

325

(Klassen)Interessen15 über die Berücksichtigung systemtheoretischer Notwendigkeiten16 bis hin zur Ermöglichung sozialer Gerechtigkeit und der Selbstbestimmung des Einzelnen.17 Bereits diese keineswegs erschöpfende Umschau verdeutlicht, dass „Materialisierung“ ein changeanter und keineswegs trennscharfer Begriff ist. Auch geht es um weit mehr als bloß terminologische Feinheiten, weil gerade der Ausgangs- und Bezugspunkt der Materialisierung stark variiert. Während das Konzept der Materialisierung zunächst vor allem im Kontext des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches verwendet wurde, hat es rasch eine europäische Dimension gewonnen und ist mittlerweile auch durch den EuGH rezipiert worden.18 Je nachdem, welche Konzeption das Unionsrecht zugrunde legt, ergeben sich daraus unterschiedliche Perspektiven auf die unionale Vertragsfreiheit. Vor diesem Hintergrund nimmt die vorliegende Abhandlung zunächst die existierenden Begrifflichkeiten in den Blick (A), um auf dieser Grundlage und unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH ein unionsrechtlich-autonomes Materialisierungsverständnis zu entwickeln (B). A. Evolution des Materialisierungsverständnisses und seiner Bezugspunkte Am Anfang der Materialisierungsdebatte stand der schon bei Adam Smith anklingende Befund, dass Vertragsparteien zuweilen sehr unterschiedliche Ausgangsbedigungen mitbringen, welche ihre Fähigkeit zur Durchsetzung ihrer Interessen beeinflussen.19 Als Gegenstand und Bezugspunkt der Materi-

Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), S. 506. So geht Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (1993, 1995), S. 393 f. sowie 399 f. davon aus, dass sich jedes Rechtssystem und -gebiet zwingend nicht nur formaler, sondern insbesondere auch „substantieller, interessenbezogener“ – und somit „materialer“ Argumente bedienen müsse, um zu verhindern, dass sich das System selbst isoliere. Dabei stellt er die „Selbstreferenz (= formal)“ einer „Fremdreferenz (= substantiell)“ gegenüber (S. 399). 17 In diesem Sinne z. B. Grundmann, ERCL 2005, 184, 207 f. 18 Vgl. nur EuGH Urt. v. 26.10.2006 – Rs. C-168/05 (Mostaza Claro), Slg. 2006, I10421 Rn. 36. Siehe dazu sogleich eingehend unten B sowie unten § 3. 19 Smith, Wealth of Nations I (1976, 2004), S. 83 f. führt mit Blick auf die vertragliche Vereinbarung der Lohnhöhe aus: „What are the common wages of labour, depends everywhere upon the contract usually made between those two parties, whose interests are by no means the same. The workmen desire to get as much, the masters to give as little, as possible […]. It is not, however, difficult to foresee which of the two parties must, upon all ordinary occasions, have the advantage in the dispute, and force the other into a compliance with their terms. The masters, being fewer in number, can combine much more easily […]. A landlord, a farmer, a master manufacturer, or merchant, though they did not employ a single workman, could generally live a year or two upon the stocks, which they have already acquired. Many workmen could not subsist a week, few could subsist a month, and scarce any a 15 16

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Kapitel 4 – Materialisierung der Vertragsfreiheit durch Unionsrecht

alisierung sind sowohl die Vertragsfreiheit als auch die Vertragsgerechtigkeit ausgemacht worden: Während letzteres Verständnis die Angemessenheit des Vertragsergebnisses in den Blick nimmt, befasst sich erstere Lesart mit der Frage, inwieweit die Parteien jeweils tatsächlich ihre Vertragsfreiheit im Vertragsschlussverfahren entfalten können.20 So bezweifelte beispielsweise Eugen Dühring, „ob zwischen dem wirthschaftlich Ohnmächtigen und der ökonomischen Uebermacht ein in materieller Hinsicht freier Vertrag denkbar sei“.21 Da er zuvörderst Arbeitsverhältnisse betrachtete, wollte Dühring „die materielle Vertragsfreiheit auf dem Wege der Association […] gewährleisten“.22 Auch Otto v. Giercke sah breite Gesellschaftsschichten „durch die Vertragsfreiheit gefährde[t]“ und verlangte daher „materiellen Schutz“ gegen die Gefahren dieser Freiheit, ohne jedoch konkrete Instrumente zu benennen.23 Bei Max Weber klingt hingegen erstmalig an, dass eine für alle Vertragsparteien gleichermaßen werthaltige Vertragsfreiheit gegebenenfalls einer Stärkung ihrer Grundlagen bedarf: Namentlich stellt er zunächst infrage, ob die rechtlich ohne Unterschied der Person gewährleistete Freiheit faktisch von jedermann in gleicher Weise betätigt werden kann: „[D]ie formal noch so große Mannigfaltigkeit der zulässigen Kontraktschemata und auch die formale Ermächtigung, nach eigenem Belieben unter Absehen von allen offiziellen Schemata Kontraktinhalte zu schaffen, gewährleistet an sich in keiner Art, daß diese formalen Möglichkeiten auch tatsächlich Jedermann zugänglich sind“.24

So pflege man die „Entwicklung […] zur Vertragsfreiheit […] als Abnahme der Gebundenheit und Zunahme individualistischer Freiheit zu charakterisieren“.25 Mit Blick auf eine nur als „formal[e] Freiheit“ konzipierte rechtgeschäftliche Privatautonomie zieht Weber jedoch in Zweifel, ob „dadurch materiell das Gesamtquantum von ‚Freiheit‘ innerhalb einer gegebenen Rechtsgemeinschaft vermehrt wird“.26 Die Idee, dass eine Materialisierung daher an der Vertragsfreiheit und ihren Ausgangsbedingungen ansetzen muss, year, without employment. In the long run, the workman may be as necessary to his master as his master is to him; but the necessity is not so immediate“ (Herv. d. Verf.). 20 Siehe zu dieser Unterscheidung Canaris, AcP 200 (2000), 273, 276 ff. und 282 ff. Siehe auch Auer, Materialisierung, Flexibilierung, Richterfreiheit (2005), S. 23. 21 Dühring, Capital und Arbeit (1865), S. 157 f. differenziert mit Blick auf Arbeitsverträge explizit zwischen der „formalen Vertragsfreiheit“ einerseits und der „materielle[n] Vertragsfreiheit“ andererseits. 22 Dühring, Capital und Arbeit (1865), S. 158 führt in diesem Zusammenhang weiter aus: „Die Schwächeren werden durch die Vereinigung stark genug werden, um als Gesammtheiten günstigere Verträge zu schließen“. 23 v. Gierke, Die soziale Aufgabe des Privatrechts (1889), S. 29. 24 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), S. 453 (Herv. d. Verf.). 25 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), S. 453. 26 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), S. 454.

§ 1 Begriff, Gegenstand und Ziel der Materialisierung

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entwickelt Weber jedoch nicht fort.27 Vielmehr fasst er unter den Begriff der Materialisierung „ein soziales Recht“, das „materiale Gerechtigkeit“ zu gewährleisten suche.28 Weil Weber die „formalen Qualitäten des modernen Rechts“ betont, erscheint ihm die so verstandene Materialisierung als ein Zurückfallen auf einen überwunden geglaubten Zustand.29 Privatrechtliche Regelungen, die im Namen sozialer Zwecke die Interessen bestimmter Gruppen schützen,30 stünden „auf dem Boden von, rechtlich betrachtet, antiformalen Normen, die […] materiale Gerechtigkeit statt formaler Legalität beanspruchen“.31 Das bei Weber vorherrschende Verständnis der Materialisierung als Instrument zur Erreichung von Vertragsgerechtigkeit32 klingt z. B. auch in der berühmten Formulierung Franz Wieackers fort, derzufolge „die formale Freiheitsethik, die der deutschen Privatrechtsordnung zugrunde lag, in eine materiale Ethik sozialer Verantwortung zurückverwandelt“ werde.33

In der Folgezeit sind unter dem Sammelbegriff der Materialisierung im nationalen wie auch vor allem im unionsrechtlichen Diskurs immer neue Interventionen gefasst worden, die sozialstaatliche Ziele oder gar „soziale Gerechtigkeit“ verwirklichen sollten (I). Den Vorzug gegenüber solchen Ansätzen verdient indes ein an der Vertragsfreiheit ausgerichtetes Materialisierungsverständnis (II). 27 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), S. 94 definiert die „materiale wirtschaftliche Vertragsfreiheit“ vielmehr als das „völlig[e] Fehle[n] von materialen Verbrauchs-, Beschaffungs- oder Preisregulierungen oder anderen die freie Vereinbarung der Tauschbedingungen einschränkenden Ordnungen“. 28 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), S. 506. 29 Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), S. 502, 506 und 510. Kocher, Funktionen der Rechtsprechung (2007), S. 74 bemerkt hier treffend, von der Warte Webers aus besehen, sei die Materialisierung „unmodern“. Das formale Recht überwindet laut Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), S. 467 ff. sowie insbesondere 495 ff., 502 ff. und 510 schließlich unter anderem religiös, ethisch, ständisch oder politisch eingefärbte Argumentationsmuster zugunsten eines grundsätzlich wertneutralen Ansatzes. 30 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), S. 506. 31 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), S. 506: „Nun aber entstehen mit dem Erwachen moderner Klassenprobleme materiale Anforderungen an das Recht von selten eines Teils der Rechtsinteressenten […], welche […] ein soziales Recht auf der Grundlage pathetischer sittlicher Postulate („Gerechtigkeit“, „Menschenwürde“) verlangen. Dies aber stellt den Formalismus des Rechts grundsätzlich in Frage“. 32 Vgl. erneut Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), S. 506. 33 Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher und die Entwicklung der modernen Gesellschaft (1953), S. 18 und 27 verbindet hiermit freilich in erster Linie eine Rückkehr „zu den ethischen Grundlagen des älteren europäischen Gemein- und Naturrechts“. Daneben sei diese Form der Materialisierung des Privatrechts aber gerade auch eine Konsequenz der „progressiven Entwicklung des sozialen Bewußtseins“ und entspricht nicht zuletzt der Forderung Wieackers, dass eine „öffentlich verantwortliche Privatrechtswissenschaft […] ihre gesellschaftliche Wirklichkeit wahrnimmt und ihre besonderen ethischen Akzente versteht“ (S. 27).

328 I.

Kapitel 4 – Materialisierung der Vertragsfreiheit durch Unionsrecht

„Sozialmodell“ und „soziale Gerechtigkeit“

Als Fundament für eine umfassende „Materialisierung des bürgerlichen Formalrechts“ hat insbesondere Habermas ein gewandeltes „Sozialmodell“ vorgeschlagen und die Materialisierung zu einem Gebot der sozialstaatlichen Ordnung erhoben.34 Während formales Recht einer „liberalen“ Grundhaltung entspreche, sei materiales Recht in einem – nicht näher umrissenen – „sozialen“ Modell angelegt.35 Daher könne die „Intervention in Vertragsinhalt[e]“ durch dieses neue Sozialmodell gerechtfertigt sein, soweit hiermit das Ziel verfolgt werde, „Asymmetrien der wirtschaftlichen Machtpositionen auszugleichen“.36 Habermas versteht die Materialisierung als eine der gewöhnlichen „Steuerungsleistungen eines präventiv oder reaktiv tätig werdenden Sozialstaates“.37 Materialisierungsgegenstand soll dabei das Vertragsrecht in seiner Gesamtheit sein.38

Habermas, Faktizität und Geltung (1994), S. 486 ff. und insbesondere 488. Ganz in diesem Sinne begreifen E. Schmidt, JZ 1980, 153, 155 f. und Wiethölter, in: Teubner (ed.), Dilemmas of Law in the Welfare State (1986), S. 221 ff. und vor allem 231 nicht zuletzt die AGB-Kontrolle als Materialisierungsinstrument, das im Namen des Sozialstaatsprinzips „soziale Ungleichheit“ bekämpfen sowie bestimmte „social positions“ sichern solle. Demgegenüber kritisiert Canaris, AcP 200 (2000), 273, 289 ff. zu Recht, dass der Begriff des „Sozialmodells“ hier stets diffus bleibt und daher kaum als allgemeiner Orientierungspunkt für das Schuldvertragsrecht taugt. 35 In diesem Sinne Habermas, Faktizität und Geltung (1994), S. 488, 495 ff. sowie 506 ff. Zu Recht kritisch zur vagen Unterscheidung zwischen „sozial“ und „liberal“ wiederum Canaris, AcP 200 (2000), 273, 289 ff. 36 Habermas, Faktizität und Geltung (1994), S. 488. Vgl. auch Collins, The Law of Contract (1993), S. 105: „[T]he idea of a social market does not commence with a basic disposition towards general freedom of contract, but instead regards freedom of contract as merely valuable within limits for the pursuit of worthwhile individual goals.“ 37 Habermas, Faktizität und Geltung (1994), S. 488. 38 Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung (1994), S. 478 ff. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt im Übrigen Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (1993, 1995), S. 393 f. sowie 399, wenngleich auf einem anderen Begründungsweg: So stellt er heraus, dass sich ein Rechtssystem notwendig nicht nur formaler, sondern gerade auch „substantieller, interessenbezogener“ Argumente bedienen müsse, um nicht den Bezug zur realen Welt zu verlieren. Substantielle Begründungsmuster umfassen laut Luhmann dabei nicht zuletzt moralische, politische und soziale Erwägungen (S. 393, dort in Fn. 137 unter Bezugnahme auf die Definition von Atiyah / Summers, Form and Substance in Anglo-American Law (1987), S. 65 f: „A substantive reason may be defined as a moral, economic, political, institutional, or other social consideration“). So besehen gehört ein gewisser Grad an Materialisierung zu jedem (Privat)Rechtssystem. Allerdings erkennt Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (1993, 1995), S. 399 f. die Suche nach der richtigen Balance zwischen formaler und substantieller Argumentation zugleich als Grundproblem insbesondere „hochentwickelter Systeme“, zu denen fraglos auch das deutsche und das unionale Privatrecht zählen. 34

§ 1 Begriff, Gegenstand und Ziel der Materialisierung

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Da die EU ausweislich des Art. 3 Abs. 3 EUV sowie des Art. 119 AEUV eine dem „sozialen Fortschritt“ verpflichtete „soziale Marktwirtschaft“ ist,39 sind Materialisierungstendenzen im Unionsprivatrecht ebenfalls als notwendige Folge dieses „Sozialmodells“ eingeordnet worden: In diese Richtung weisen namentlich all jene, die – nicht zuletzt unter Berufung auf Habermas – „social justice“ zum Leitmotiv des EU-Privatrechts erheben.40 Das Verbraucherschutzrecht wird dabei vielfach als Musterbeispiel für eine durch Gerechtigkeitserwägungen getragene Intervention zugunsten „Schwächerer“ genannt, die sowohl in ein „soziales Privatrecht“ als auch in ein „soziales Zivilprozessrecht“ münde.41 Weil der Maßstab und das Ziel dieser Materialisierung nicht weniger als die „soziale Gerechtigkeit“ ist, muss zwangsläufig auch eine weitreichende inhaltliche Kontrolle von Verträgen und Vertragsergebnissen erfolgen. II. Rückanbindung an die Vertragsfreiheit im Unionsrecht Das vorstehend beschriebene Modell der Materialisierung sucht vormals privatrechtsexterne Ziele umfassend in das Zivil- und Zivilprozessrecht zu integrieren und damit zu internalisieren.42 Dieser „weltanschaulich-politische“ Ansatz ist dabei zu Recht als wenig zielführend kritisiert worden.43 Zunächst lassen sich Grund, Ausmaß und vor allem Grenzen der Materialisierung in der EU-Rechtsordnung weder durch einen pauschalen Verweis auf das „Sozialmodell“44 der sozialen Marktwirtschaft noch mithilfe eines diffusen Idealbilds „sozialer Gerechtigkeit“ in zufriedenstellender Weise bestimmen. Zwar mag sich die Systementscheidung der Europäischen Union für

39 Vgl. Art. 3 Abs. 3 EUV („eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt“). Vgl. demgegenüber auch Art. 119 AEUV, wo nur von der „Beachtung des Grundsatzes einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ die Rede ist. 40 Besonders pointiert Study Group on Social Justice in European Private Law, ELJ 10 (2004), 653: „Social Justice in European Contract Law: a Manifesto“. Siehe zur Rolle der „social justice“ im Unionsprivatrecht ferner nur Hesselink, ELJ 10 (2004), 675 ff. Siehe schon frühzeitig Wilhelmsson, Consumer Law and Social Justice, in: Junkkari (ed.), Twelve Essays on Consumer Law and Policy (1996), S. 191 ff. 41 Besonders deutlich z. B. Kocher, Funktionen der Rechtsprechung (2007), S. 73 f. und 129. Vgl. auch Lurger, Vertragliche Solidarität (1998), S. 148 ff., die den Verbraucherschutz als „relativ selbständige[s] soziale[s] Ziel der EG“ bezeichnet. Siehe zum Zivilprozessrecht insbesondere Koch, Verbraucherprozessrecht (1990), S. 6 ff. sowie zuvor grundlegend Wassermann, Der soziale Zivilprozess (1978). 42 Kocher, Funktionen der Rechtsprechung (2007), S. 73. Vgl. auch E. Schmidt, JZ 1980, 153, 155 f. 43 So insbesondere von Canaris, AcP 200 (2000), 273, 289 ff. 44 Vgl. erneut Habermas, Faktizität und Geltung (1994), S. 486 ff. und insbesondere 488.

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Kapitel 4 – Materialisierung der Vertragsfreiheit durch Unionsrecht

eine soziale Marktwirtschaft auch auf das Privatrecht auswirken.45 Wie gezeigt, begründet Art. 119 Abs. 1 AEUV ebenso wenig wie Art. 3 Abs. 3 EUV Schutz- oder Leistungspflichten der EU und ihrer Mitgliedstaaten, geschweige denn individuelle Rechte der Marktbürger.46 Eine soziale Ausrichtung des Unionsprivatrechts lässt sich vor diesem Hintergrund kaum allein durch den Verweis auf diese Normen begründen. Vor allem aber ist der Topos „soziale Gerechtigkeit“ ausfüllungsbedürftig, wenn nicht gar beliebig: Aus diesem gesellschaftspolitischen Desiderat lassen sich ohne weitere – dem Gesetzgeber obliegende – Konkretisierungen kaum verwertbare Vorgaben für die Ausgestaltung und Anwendung des Privatrechts entnehmen. Überdies erinnert die Berufung auf ein dem Unionsprivatrecht bislang unbekanntes Idealmaß „sozialer Gerechtigkeit“ an die bekanntermaßen ebenso langwierige wie fruchtlose Suche nach dem iustum pretium. Mit Thomas Raiser wird man darüber hinaus sagen müssen, dass jeder nicht auf die Freiheit des Einzelnen, sondern auf vermeintlich hehrere Ziele bezogenen „Materialisierung des Rechts eine Tendenz zur Bevormundung des Menschen inne[wohnt], bis hin zur Willkür und zum Autoritarismus“.47

Damit ist das Kernproblem benannt: Bei einem auf Vertragsgerechtigkeit zielenden Materialisierungsverständnis wird die Vertragsfreiheit nicht mehr primär als rechtliche Verbürgung der Selbstbestimmungsfreiheit des Menschen anerkannt, sondern sie gerät stattdessen zu einem Instrument unter vielen, das der Verwirklichung „sozialer Gerechtigkeit“ im Privatrecht dient.48 Wo immer die Vertragsfreiheit dieses übergeordnete Ziel verfehlt, müsste das in Ausübung dieser Freiheit erzielte Vertragsergebnis ignoriert und durch hoheitliche Intervention umgestaltet werden. Dies bedeutet aber nicht weniger als eine weitgehende „Entmaterialisierung der Freiheit“ der Parteien, Verträge nach ihrem übereinstimmenden Willen zu schließen und auszugestalten.49 Eine Konzeption, die auf breiter 45 Vgl z. B. GA Kokott Schlussanträge v. 17.9.2009 – Rs. C-441/07 P (Kommission/ Alrosa), Slg. 2010, I-5949 Rn. 225: „In einer Gemeinschaft, die dem Grundsatz der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet ist, ist die Gewährleistung von Vertragsfreiheit unerlässlich“. Vgl. erneut auch oben Kapitel 1 § 2. 46 Vgl. auch oben Kapitel 2 § 1 A I 1. 47 T. Raiser, ZfR 15 (1994), 1, 8. Auch Habermas, Faktizität und Geltung (1994), S. 478 ff. und insbesondere 490 gesteht ein, dass solche Interventionen leicht zu einem Verständnis der „Materialisierung des Privatechts im Sinne einer eher autoritären Wahrnehmung sozialer Schutzpflichten“ führen können und führt weiter aus: „Der sozialstaatliche Paternalismus hat die beunruhigende Frage heraufbeschworen, ob das neue Paradigma überhaupt mit dem Prinzip rechtlicher Freiheit vereinbar ist“. 48 Vgl. schon Wilhelmsson, Consumer Law and Social Justice, in: Junkkari (ed.), Twelve Essays on Consumer Law and Policy (1996), S. 191 ff. 49 Riesenhuber, in: ders. (Hrsg), Privatrechtsgesellschaft: Entwicklung, Stand und Verfassung des Privatrechts (2007), S. 1, 22.

§ 1 Begriff, Gegenstand und Ziel der Materialisierung

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Front heteronome an die Stelle autonomer Regelungen setzt, ist aber mit dem Unionsgrundrecht der Vertragsfreiheit kaum vereinbar.50 Das Phänomen der Materialisierung bedarf vor diesem Hintergrund einer Rückanbindung an die rechtsgeschäftliche Privatautonomie. B. Werthaltige Selbstbestimmungschancen als Ziel und Schutzpflichten als Antrieb Von der Fähigkeit und Freiheit des Menschen zur Selbstbestimmung her gedacht, ist die unionale Vertragsfreiheit selbst Antrieb, Gegenstand und Ziel der Materialisierung, weil dieses Unionsgrundrecht gerade nach werthaltigen Selbstbestimmungschancen verlangt (I). Sofern solche Chancen durch den Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus nicht oder nur unzulänglich gewährleistet werden, müssen die EU und ihre Mitgliedstaaten die Funktionsvoraussetzungen der unionalen Vertragsfreiheit schaffen und erhalten. Als Instrument zur Gewährleistung einer Vertragsfreiheit im anspruchsvollen Sinne ist die Materialisierung ein Gebot unionsgrundrechtlicher Schutzpflichten (II). Die Materialisierungsinstrumente können dabei sowohl in der vorvertraglichen Phase als auch nach Vertragsschluss ansetzen (III). I.

Gewährleistung tatsächlicher Selbstbestimmungschancen

Um die Zielsetzung und zugleich die Richtschnur der Materialisierung im Unionsprivatrecht vollends erfassen zu können, ist zunächst in Erinnerung zu rufen, dass die Vertragsfreiheit bedeutende Facetten der im Unionsrecht anerkannten natürlichen Selbstbestimmungs- und Willensfreiheit rechtlich verbürgt.51 Wie bereits dargelegt, bedeutet von der Warte der Unionsrechtsordnung werthaltige Selbstbestimmung durch das Instrument des Vertrags, dass jede Partei zumindest die Möglichkeit hat, auf den Vertragsschluss, die Auswahl des Vertragspartners sowie die Ausgestaltung der wesentlichen Vertragsinhalte Einfluss zu nehmen.52 Wo eine Partei zwar rechtlich die gleiche Autonomie genießt, ihr faktisch aber von vornherein die Chance auf die Ausübung der zum Kernbereich zählenden Facetten dieser Freiheit genommen wird, bleibt die Vertragsfreiheit inhaltsleer oder, anders gewendet, rein formaler Natur. Die Materialisierung der Vertragsfreiheit bedeutet vor diesem Hintergrund, dass durch hoheitliche – etwa legislatorische oder judikative – Intervention die Funktionsvoraussetzungen unionaler Vertragsfreiheit dort 50 Siehe dazu im Kontext der anlasslosen und umfassenden Inhaltskontrolle von Individualvereinbarungen und der essentialia negotii noch eingehend unten Kapitel 7 § 2. 51 Vgl. erneut oben Kapitel 2 § 3. Vgl. auch Canaris, AcP 200 (2000), 273, 277. 52 Vgl. wiederum nur EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C: 2013:521 Rn. 33 f.; EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016: 972 Rn. 68; EuGH Urt. v. 27.4.2017 – Rs. C-680/15 u.a. (Asklepios Kliniken u.a.), EU:C: 2017:317 Rn. 23 und siehe eingehend oben Kapitel 3 § 3.

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gewährleistet werden, wo – tatsächlich oder zumindest bei typisierender Betrachtung – die vertraglichen Selbstbestimmungsmöglichkeiten einer oder beider Parteien eingeschränkt sind. Die Materialisierung ist somit von der Einsicht getragen, dass „rechtliche Freiheit, also die rechtliche Erlaubnis, etwas zu tun oder zu lassen, ohne faktische (wirkliche, reale) Freiheit, also die tatsächliche Möglichkeit, zwischen dem Erlaubten zu wählen, wertlos ist“.53

Nach dem hier zugrunde gelegten Verständnis soll die Materialisierung der unionalen Vertragsfreiheit also die Voraussetzungen für die rechtsgeschäftliche Selbstbestimmung der Vertragsparteien schaffen, erhalten und – wo immer möglich – verbessern.54 Dieses Konzept findet in allen untersuchten Sachbereichen des Unionsrechts eine Stütze: Zunächst nehmen sowohl der Unionsgesetzgeber als auch der EuGH die tatsächliche Selbstbestimmung durch die Handlungsform des Vertrags zum Ausgangspunkt im Verbrauchervertragsrecht: So sollen der Materialisierung dienende Instrumente wie etwa Informationspflichten laut EuGH gerade eine freie und informierte „Willensbildung de[r] Verbrauche[r]“ ermöglichen55 und diese in den Stand setzen, „die Tragweite ihrer zukünftigen Verpflichtung zu beurteilen und so die Gefahr bestimmter Irrtümer zu vermeiden, die zum Abschluss eines nachteiligen Vertrags führen können“.56 Bei dieser Lesart bezieht sich auch der im Verbrauchervertragsrecht häufig anzutreffende Verweis des Gerichtshofs auf die „Unterlegenheit einer der Vertragsparteien“57 oder auf „ein strukturelles Ungleichgewicht der Beteiligten“58 mithin nicht vorrangig auf die „Verhandlungsmacht“ sowie auf „soziale“ und intellektuelle Gesichtspunkte, sondern vielmehr auf die fehlende oder eingeschränkte tatsächliche Selbstbestimmungsmöglichkeit einer Vertragspartei im Rahmen des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus. Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 458 (Herv. im Original). In diesem Sinne auch Schulze, GPR 2005, 56, 58; Grundmann, FS 200 Jahre HU (2010), S. 1015, 1023 ff. Siehe mit Blick auf das deutsche Privatrecht nur Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers (1998), S. 208: Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang (1999), S. 52. 55 Siehe zur Haustürgeschäfterichtlinie nur EuGH Urt. v. 17.12.2009 – Rs. C-227/08 (Martín Martín), Slg. 2009, I-11939 Rn. 34 und siehe zur Rolle der Informationspflichten im unionalen Materialisierungssystem unten § 3 A. 56 So im Kontext der E-Commerce-Richtlinie z. B. EuGH Urt. v. 16.10.2008 – Rs. C298/07 (DIV), Slg. 2008, I-7841 Rn. 23. Gleichsinnig zur Verbraucherkreditrichtlinie z. B. EuGH Urt. v. 4.3.2004 – Rs. C-264/02 (Sachithanathan), Slg. 2004, I-2157 Rn. 26 („den Umfang seiner Verpflichtung einzuschätzen“). 57 Siehe im Kontext der Klauselrichtlinie nur EuGH Urt. v. 26.10.2006 – Rs. C-168/05 (Mostaza Claro), Slg. 2006, I-10421 Rn. 36. 58 Siehe z. B. mit Blick auf die Gleichbehandlungsrichtlinie 2000/43/EG auch GA Kokott Schlussanträge v. 20.9.2012 – Rs. C-394/11 (Belov), EU:C:2012:585 Rn. 81. 53 54

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Die Gewährleistung werthaltiger Selbstbestimmungschancen haben auch das unionale Finanzdienstleistungsvertragsrecht und beispielsweise die Verbraucherkreditrichtlinie sowie das unionsrechtlich determinierte Versicherungsvertragsrecht zum Ziel.59 Darüber hinaus schreiben sich viele weitere Rechtsakte des EU-Privatrechts die Gewährleistung von Selbstbestimmung im anspruchsvollen Sinne auf die Fahnen: Namentlich soll die Wohnimmobilienkreditrichtlinie Kreditnachfrager in den Stand setzen, „eine fundierte Entscheidung über den Abschluss eines Kreditvertrags zu treffen“,60 und im Versicherungsvertragsrecht will Art. 185 Abs. 7 Solvency II gerade „das tatsächliche Verständnis der wesentlichen Bestandteile“ des Vertrags fördern, um dem Versicherungsnehmer zu ermöglichen, „den seinen Bedürfnissen am ehesten entsprechenden Vertrag auszuwählen“.61 Werthaltige Selbstbestimmungschancen soll schließlich auch das unionale Wirtschaftsvertragsrecht garantieren. Zu dieser Gruppe unionsrechtlicher Normen, welche den Ordnungsrahmen für professionell handelnde Vertragsparteien definieren, zählt beispielsweise das Lauterkeitsrecht: Diese Materie sucht die „Entscheidungs-“ sowie „Verhaltensfreiheit“ und damit die „Wahlfreiheit“ bereits in einem Frühstadium der rechtsgeschäftlichen Willensbildung zu schützen.62 Dass es sich hierbei um ein allgemeines, nicht auf die Selbstbestimmungsmöglichkeiten von Verbrauchern bezogenes Konzept handelt, verdeutlicht das jüngste Grünbuch über unlautere Handelspraktiken in der Lieferkette:63 Hier fordern nämlich sowohl die Europäische Kommission als auch der EWSA, dass „echte“ bzw. „tatsächlich[e] Vertragsfreiheit“ auch in all jenen unternehmerischen Vertragsbeziehungen sichergestellt wird, Vgl. z. B. EuGH Urt. v. 4.3.2004 – Rs. C-264/02 (Sachithanathan), Slg. 2004, I-2157 Rn. 26; EuGH Urt. v. 23.3.2000 – Rs. C-208/98 (Berliner Kindl), Slg. 2000, I-1741 Rn. 21; EuGH Urt. v. 4.3.2004 – Rs. C-264/02 (Cofinoga), Slg. 2004, I-2157 Rn. 26 f.; EuGH Beschl. v. 16.10.2010 – Rs. C-76/10 (Pohotovosť), Slg. 2010, I-11557 Rn. 68 und 70. Vgl. zur freien Willensbildung sowie zur „Beeinflussung der Willensbildung des Verbrauchers“ auch GA Trstenjak Schlussanträge v. 29.11.2011 – Rs. C-453/10 (Pereničová), EU:C: 2011:788 Rn. 99, 124 f. und 127. Siehe zum Versicherungsvertragsrecht nur EuGH Urt. v. 29.4.2015 – Rs. C-51/13 (Van Leeuwen), EU:C:2015:286 Rn. 26 f. 60 Vgl. Art. 14 Abs. 1 Wohnimmobilienkreditrichtlinie. 61 Vgl. Art. 185 Abs. 7 Solvency II sowie den Erwägungsgrund Nr. 23 der mittlerweile in Solvency II aufgegangenen Richtlinie 92/96/EWG des Rates vom 10. November 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (Lebensversicherung) sowie zur Änderung der Richtlinien 79/267/EWG und 90/619/EWG (Dritte Richtlinie Lebensversicherung), ABl. 1992 L 360/1. Siehe erneut auch EuGH Urt. v. 29.4.2015 – Rs. C-51/13 (Van Leeuwen), EU:C:2015:286 Rn. 26 f. 62 Vgl. Art. 8 sowie Erwägungsgründe Nr. 7 und 16 Lauterkeitsrichtlinie. Siehe auch GA Trstenjak Schlussanträge v. 24.3.2010 – Rs. C-540/08 (Mediaprint), Slg. 2010, I10909 Rn. 96: „Schutzgut dieser Regelung ist die Entscheidungsfreiheit“. 63 Grünbuch über unlautere Handelspraktiken in der B2B-Lieferkette für Lebensmittel und Nicht-Lebensmittel in Europa, KOM(2013) 37 endg. 59

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die durch ein „erhebliche[s] Ungleichgewich[t] in der Wirtschaftskraft“ gekennzeichnet oder auf sonstige Weise „in hohem Maße unausgewogen“ sind.64 Wettbewerbsrechtliche Interventionen werden in diesem Bereich ausdrücklich mit dem „Fehlen einer wirklichen Vertragsfreiheit“ der betroffenen Unternehmen begründet, die es wiederherzustellen gelte.65 Ähnliche Aufgaben werden auch dem unionalen Kartellrecht zugeschrieben, soweit es die Nachfragerfreiheit in den Blick nimmt: Der Nachteil, den die EU-Wettbewerbsregelungen zu verhindern suchen, besteht laut EuGH schließlich nicht zuletzt „in der Beschränkung der Vertragsfreiheit durch […] Kartell[e], die dazu führt, dass es für die Käufer unmöglich wird, ihren Bedarf zu einem nach den Gesetzen des Marktes gebildeten Preis zu decken“.66

In der Zusammenschau belegen diese heterogenen Instrumente, dass die Materialisierung in erster Linie möglichst umfassende rechtsgeschäftliche Selbstbestimmungsmöglichkeiten gewährleisten soll. Entsprechend muss auch das Materialisierungsverständnis des Unionsrechts von dieser Funktionsbestimmung her entwickelt werden: Unter den Sammelbegriff der Materialisierung fallen alle Instrumente des Privat- und Wirtschaftsrechts, welche die Rahmenbedingungen schaffen sollen, unter denen werthaltige Chancen auf Selbstbestimmung durch das Instrument des Vertrags bestehen.67 II. Schutzpflichtendimension der Vertragsfreiheit als Triebfeder Wenn die Gewährleistung werthaltiger Selbstbestimmungsmöglichkeiten somit das Ziel ist, so bildet die unionale Vertragsfreiheit als rechtliche Verbür64 Stellungnahme des EWSA v. 11.7.2013, INT/683, S. 2 und 5. Vgl. Grünbuch über unlautere Handelspraktiken in der B2B-Lieferkette für Lebensmittel und Nicht-Lebensmittel in Europa, KOM(2013) 37 endg., S. 6 f. 65 Vgl. Stellungnahme des EWSA v. 11.7.2013, INT/683, S. 10. Allerdings hat sich die Europäische Kommission vorerst gegen den Erlass von Vorschriften auf EU-Ebene ausgesprochen, siehe Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über unlautere Handelspraktiken zwischen Unternehmen in der Lebensmittelversorgungskette v. 29.1.2016, KOM(2016) 32 endg., S. 15. Zugleich will die Kommission aber noch „vor Ablauf ihres Mandats den potenziellen zusätzlichen Nutzen von Maßnahmen gegen unlautere Handelspraktiken auf EU-Ebene neu bewerten“. 66 EuGH Urt. v. 21.5.2015 – Rs. C-352/13 (CDC), EU:C:2015:335 Rn. 43 (Herv. d. Verf.). 67 Weil nur die Normen des Privat- und Wirtschaftsrecht erfasst sind, fallen zunächst z. B. strafrechtliche Betrugstatbestände aus der Definition heraus, obwohl sie durchaus die Willensfreiheit schützen. Gleiches gilt auch für dispositive Schuldrechtsnormen, die nur der Vervollständigung und erleichterten Durchführung vertraglicher Vereinbarungen dienen, nicht aber die Grundlagen der rechtsgeschäftlichen Selbstbestimmung betreffen. Ähnlich zum deutschen Privatrecht Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers (1998), S. 208.

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gung der natürlichen Selbstbestimmungsfreiheit den Antrieb und zugleich den Gegenstand der Materialisierung. Dieser Zusammenhang lässt sich auch der ständigen Rechtsprechung des EuGH zum Unionsprivatrecht entnehmen: Weil die allen Vertragsparteien formal-rechtlich gleichermaßen gewährleistete Vertragsfreiheit zuweilen nicht gleiche Freiheitsentfaltungsmöglichkeiten garantiert, zielt beispielsweise Art. 6 Abs. 1 Klauselrichtlinie darauf, „die formale Ausgewogenheit der Rechte und Pflichten der Vertragsparteien […] durch eine materielle Ausgewogenheit zu ersetzen und so deren Gleichheit wiederherzustellen“.68

Anders ausgedrückt soll also die Intervention in Form der Klauselkontrolle jeder Partei die durch die unionale Vertragsfreiheit geschützte rechtsgeschäftliche Selbstbestimmung gewährleisten. Besonders bedeutsam ist, dass der EuGH ein solches „positives Eingreifen von dritter, von den Vertragsparteien unabhängiger Seite“ für rechtlich geboten hält.69 Dies ist nichts anderes als ein Verweis darauf, dass der Unionsgesetzgeber sowie die Gerichte durch aus der Vertragsfreiheit fließende Schutzpflichten gebunden sind:70 Wann immer die im Ausgangspunkt rechtlich gleiche Vertragsfreiheit der Parteien nicht tatsächlich werthaltige Selbstbestimmungschancen zu garantieren vermag, kann die Schutzpflichtendimension dieses Grundrechts eine legislative oder judikative Intervention gebieten.71 Vor diesem Hintergrund bilden die der EuGH Urt. v. 26.10.2006 – Rs. C-168/05 (Mostaza Claro), Slg. 2006, I-10421 Rn. 36 (Herv. d. Verf.). Siehe ferner in ständiger Rechtsprechung nur EuGH Urt. 4.6.2009 – Rs. C-243/08 (Pannon), Slg. 2009, I-4713 Rn. 25; EuGH Urt. v. 6.10.2009 – Rs. C-40/08 (Asturcom Telecomunicaciones), Slg. 2009, I-9579 Rn. 30, 34; EuGH Urt. v. 9.11.2010 – Rs. C-137/08 (VB Pénzügyi Lízing), Slg. 2010, I-10847 Rn. 47; EuGH Urt. v. 15.3.2012 – Rs. C-453/10 (Pereničová), EU:C:2012:144 Rn. 28 und 31; EuGH Urt. v. 14.6.2012 – Rs. C-618/10 (Banco Español de Crédito), EU:C:2012:349 Rn. 40, 63; EuGH Urt. v. 21.2.2013 – Rs. C-472/11 (Banif Plus Bank), EU:C:2013:88 Rn. 20; EuGH Urt. v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 (Aziz), EU:C:2013:164 Rn. 45; EuGH Urt. v. 30.5.2013 – Rs. C397/11 (Jőrös), EU:C:2013:340 Rn. 25; EuGH Beschl. v. 14.11.2013 – verb. Rs. C-537/12 u. a. (Banco Popular u. a.), EU:C:2013:759 Rn. 40. 69 Siehe nur EuGH Urt. v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 u. a. (Océano Grupo u. a.), Slg. 2000, I-4941 Rn. 27; EuGH Urt. v. 6.10.2009 – Rs. C-40/08 (Asturcom Telecomunicaciones), Slg. 2009, I-9579 Rn. 31; EuGH Urt. v. 9.11.2010 – Rs. C-137/08 (VB Pénzügyi Lízing), Slg. 2010, I-10847 Rn. 48; EuGH Urt. v. 14.6.2012 – Rs. C-618/10 (Banco Español de Crédito), EU:C:2012:349 Rn. 41; EuGH Urt. v. 30.5.2013 – Rs. C488/11 (Brusse), EU:C:2013:341 Rn. 39; EuGH Urt. v. 30.5.2013 – Rs. C-397/11 (Jőrös), EU:C:2013:340 Rn. 26; EuGH Urt. v. 27.2.2014 – Rs. C-470/12 (Pohotovosť), EU:C:2014:101 Rn. 40. 70 Siehe zu den aus dem Unionsgrundrecht der Vertragsfreiheit erwachsenden Schutzpflichten erneut oben Kapitel 3 § 1 A II 2. 71 Diese Form der Grundrechtseinwirkung auf die vertraglichen Rechtsverhältnisse Privater ist lediglich mittelbar, da „der Private nicht unmittelbar zum Grundrechtsadressaten wird, sondern das Grundrecht lediglich als Kontrollmaßstab […] des […] Rechts angewandt wird“, so zu Art. 21 GRCh auch GA Kokott Schlussanträge v. 20.9.2012 – Rs. C68

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unionalen Vertragsfreiheit inhärenten Schutzpflichten die entscheidende Triebfeder der Materialisierung.72 Eine Intervention gebieten die Schutzpflichten freilich nicht schon bei jeder Beeinträchtigung der Selbstbestimmung, sondern nur, wenn der Kernbereich der Vertragsfreiheit bedroht wird und namentlich die Ausübung der Abschluss-, Vertragspartnerwahlfreiheit sowie die autonome Festlegung der wesentlichen Vertragsbestandteile erschwert oder gänzlich vereitelt wird. Darüber hinaus muss die Materialisierung dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen: Wenn durch die Materialisierung der Vertragsfreiheit der einen zugleich die Vertragsfreiheit der anderen Partei verkürzt wird, sind die widerstreitenden unionsgrundrechtlichen Positionen durch Abwägung in Ausgleich zu bringen: Jede gesetzgeberische oder richterliche Intervention darf entsprechend nur bis zu dem Punkt gehen, ab dem der markt- und wettbewerbsbasierte Vertragsmechanismus wieder für sich genommen tatsächliche Selbstbestimmung gewährleisten kann.73 Soweit gesellschaftspolitische Diskriminierungsverbote der Materialisierung der Vertragsfreiheit dienen, können hier auch aus Art. 21, 23 GRCh fließende Schutzpflichten relevant werden.74 Auf den ersten Blick mögen im Verbrauchervertragsrecht Schutzpflichten aus den „Solidaritätsrechten“ des Titels IV der Charta zu berücksichten sein: Schließlich räumt Art. 38 GRCh dem „Verbraucherschutz“ einen festen Platz in der Charta ein.75 Allerdings stellt der Titel IV lediglich bestimmte „Grundsätze“ im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRCh auf, die nach der Rechtsprechung des EuGH keine durchsetzbaren individuellen (Grund)Rechte gewährleisten, sondern vielmehr einer ein394/11 (Belov), EU:C:2012:585 Rn. 81 f. Siehe zu dieser mittelbaren Privatrechtswirksamkeit der Vertragsfreiheit oben Kapitel 3 § 1 A III 3. 72 Von Verbotsgesetzen, welche – wie etwa Embargobestimmungen – die Vertragsfreiheit beider Parteien ausschließlich verkürzen, unterscheiden sich die Materialisierungsinstrumente demnach dadurch, dass sie zumindest zugunsten einer Vertragspartei die tatsächlichen Grundlagen für die Verwirklichung der Vertragsfreiheit schaffen, stärken oder erhalten sollen. Ähnlich bereits Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang (1999), S. 52: Die Form der „Beschränkung“ der Vertragsfreiheit bedeutet „nicht notwendig eine Einschränkung des Selbstbestimmungsprinzips, sondern kann im Gegenteil erst die Schaffung oder Sicherung jener Voraussetzungen zum Ziel haben, die jedem Rechtssubjekt und nicht nur einzelnen Rechtssubjekten die Benutzung des Vertrags zur individuellen Interessenwahrnehmung erlauben.“ Ganz in diesem Sinne sieht Schulze, GPR 2005, 56, 58 z. B. im unionalen Verbrauchervertragsrecht ein Instrument, das „die Vertragsfreiheit zugleich beschränkt und schützt“. 73 Siehe zu den Schranken des unionalen Materialisierungssystems noch eingehend unten Kapitel 7 § 1. 74 Siehe zu den gesellschaftspolitischen Diskriminierungsverboten als Materialisierungsinstrumente des Unionsprivatrechts noch eingehend unten § 3 C. 75 Vgl. schon frühzeitig Lurger, Grundfragen der Vereinheitlichung des Vertragsrechts in der Europäischen Union (2002), S. 294 ff.

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fachgesetzlichen Konkretisierung bedürfen.76 Diese Lesart überzeugt insbesondere mit Blick auf Art. 38 GRCh, da sich diese Norm auf die Leitlinie beschränkt, dass die „Politik der Union […] ein hohes Verbraucherschutzniveau“ sicherzustellen hat. Vor diesem Hintergrund können auf Art. 38 GRCh keine justiziablen Schutzpflichten gestützt werden.77 Vielmehr sind die in der Vertragsfreiheit wurzelnden unionsgrundrechtlichen Schutzpflichten auch im Verbrauchervertragsrecht der entscheidende Antrieb der Materialisierung. III. Materialisierung ex ante und ex post Die unionale Vertragsfreiheit verlangt beim Abschluss von Verträgen nach werthaltigen Chancen zur Selbstbestimmung. Entsprechend müssen die der Materialisierung der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie dienenden Instrumente zuvörderst in der Phase von der Vertragsanbahnung bis zum Vertragsschluss ansetzen. Dies lässt sich als Materialisierung ex ante beschreiben. Das Spektrum der Instrumente reicht hier von wettbewerbs- und lauterkeitsrechtlichen Regelungen über Informationspflichten und spezifische Vertragsschlussmodalitäten bis hin zu Diskriminierungsverboten und Kontrahierungszwängen.78 In bestimmten Konstellationen kann das unionsrechtliche gebotene Niveau an Selbstbestimmungsfreiheit jedoch weder vor noch bei Vertragsschluss gewährleistet werden. Zu denken ist etwa an einseitig gestellte Vertragsklauseln, welche rationale Verbraucher typischerweise gar nicht zur Kenntnis nehmen oder an Vertragsschlusssituationen und komplexe Geschäfte, die selbst geschäfterfahrenen Akteuren eine vollständig informierte Willensbildung erschweren.79 Hier kann die Materialisierung daher erst in der Phase nach Zustandekommen des Vertrags ansetzten. Als Beispiele für eine solche Materialisierung ex post sind neben der Klauselkontrolle vor allem unionale Vertragslösungsrechte zu nennen, die nach Abschluss des Vertrags eine Aktualisierung der (negativen) Vertragsfreiheit ermöglichen.80

Mit Blick auf das Solidaritätsrecht gemäß Art. 27 GRCh betont EuGH Urt. v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 (Association de médiation sociale), EU:C:2014:2 Rn. 45 ff. und 49, dass „dieser Artikel nämlich für sich allein nicht ausreicht, um dem Einzelnen ein Recht zu verleihen, das dieser als solches geltend machen kann“. Vielmehr müsse diese Norm erst „durch Bestimmungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts konkretisiert werden“. Vgl. zu Art. 34 GRCh auch EuGH Urt. v. 24.4.2012 – Rs. C-571/10 (Kamberaj), EU:C:2012:233 Rn. 92. Siehe zum Verbraucherschutz nach Art. 38 GRCh nur Mörsdorf, JZ 2010, 759, 760 ff. 77 Wie hier im Ergebnis auch Jarass (2016), Art. 38 GRCh Rn. 3: „Ausgeschlossen sind Klagen auf Erlass von Durchführungsakten, auch wenn ihr Erlass geboten ist“. Differenzierend Mörsdorf, JZ 2010, 759, 762 ff. 78 Siehe dazu sogleich eingehend unten § 2 und § 3. 79 Siehe hierzu näher unten § 3 D I und § 3 F I. 80 Siehe hierzu wiederum unten § 3 F und § 3 F I. 76

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Kapitel 4 – Materialisierung der Vertragsfreiheit durch Unionsrecht

C. Zwischenfazit Im schuldvertraglichen Kontext bezeichnet der Begriff der Materialisierung in der Unionsrechtsordnung all jene Instrumente des Privat- und Wirtschaftsrechts, die im Rahmen des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus werthaltige Selbstbestimmungschancen garantieren sollen. Dabei ist die unionale Vertragsfreiheit selbst Antrieb, Gegenstand und Ziel der Materialisierung: Namentlich gebieten die aus der Vertragsfreiheit als Unionsgrundrecht folgenden Schutzpflichten, dass Gesetzgeber und Gerichte notfalls im Wege der Materialisierung die Rahmenbedingungen für tatsächliche Selbstbestimmungsmöglichkeiten schaffen, erhalten – und wo immer möglich – verbessern.81 Dies betrifft insbesondere den Kernbereich der unionalen Vertragsfreiheit: Die Vertragsparteien müssen stets im anspruchsvollen Sinne frei sein, über den Abschluss des Vertrags, die Auswahl ihres Vertragspartners und über die wesentlichen Vertragsinhalte zu entscheiden. Unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit kann die Materialisierung indes immer nur so weit reichen, wie der wettbewerbsbasierte Vertragsmechanismus keine werthaltigen Selbstbestimmungschancen zu gewährleisten vermag. Denn die Intervention zugunsten einer der Vertragsparteien impliziert regelmäßig eine Verkürzung der Vertragsfreiheit des anderen Teils, so dass hier die Schrankensystematik der unionalen Vertragsfreiheit zu beachten ist. Bei diesem Verständnis steht die Materialisierung gerade nicht in Opposition zum Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus, sondern komplementiert dieses Funktionsmodell unionaler Vertragsfreiheit.

§ 2 Marktkonstitutive und wettbewerbsschützende Materialisierungsinstrumente des Wirtschaftsrechts § 2 Markt- und wettbewerbsbezogene Materialisierungsinstrumente

Mit Blick auf das „Problem der privaten Macht“ im Wettbewerb stellte Franz Böhm treffend heraus, dass die Dagegen meint Heiderhoff, Europäisches Privatrecht (2016), S. 108 auf der einen Seite, „[d]iese material ausgerichtete Art der Verbesserung der Vertragsfreiheit ist im europäischen Vertragsrecht nicht intendiert. Was durch das EU-Privatrecht verbessert werden soll, ist die Freiheit zum Abschluss grenzüberschreitender Rechtsgeschäfte“. Diese Sichtweise verträgt sich indes kaum mit dem weiten Anwendungsbereich des Unionsprivatrechts, das z. B. im Fall der Klausel- und der Verbraucherrechterichtlinie rein innerstaatliche Konstellationen gleichermaßen erfasst: Bezugspunkt kann hier also nicht allein eine „grenzüberschreitende Vertragsfreiheit“ sein. Entsprechend konzediert Heiderhoff auf der anderen Seite, dass beispielsweise das Widerrufsrecht bei grenzüberschreitenden wie auch bei „internen“ Außergeschäftsraumverträgen durchaus „einen wahrhaft freien […] Willensentschluss […] ermöglichen“ und „die individuelle, materiale Vertragsfreiheit“ verbessern soll (S. 108 und 110). Siehe hierzu noch eingehend unten § 3 F I. 81

§ 2 Markt- und wettbewerbsbezogene Materialisierungsinstrumente

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„freie Willensbetätigung einem machtüberlegenen Partner gegenüber in der Regel zur bedeutungslosen, leeren Fiktion wird“.82

Wem nur die binäre Entscheidung über den Abschluss oder Nichtabschluss eines Vertrags mit einem Monopolisten verbleibt, vermag typischerweise weder seine Vertragspartnerwahlfreiheit zu betätigen noch überhaupt Einfluss auf den Vertragsinhalt zu nehmen. Eine prozedural konzipierte Vertragsfreiheit kann sich vor diesem Hintergrund nur in einer Marktwirtschaft mit freiem und lauterem Wettbewerb voll entfalten: Die Entscheidung darüber, ob, zu welchen Konditionen und mit welchem Partner ein Vertrag geschlossen wird, ist nur dann im anspruchsvollen Sinne frei, wenn echte, transparente Auswahlmöglichkeiten am Markt bestehen.83 So besehen, tritt neben die „willensbeugende und entmachtende Wirkung“84 eine entschieden vertragsfreiheitsermöglichende Funktion des Wettbewerbs. Die in Art. 119 Abs. 1 AEUV niedergelegte europäische Wirtschaftsverfassung schafft damit die Rahmenbedingungen der unionalen Vertragsfreiheit.85 Und das dem Schutz des Wettbewerb im Binnenmarkt dienende System erhält diese institutionellen Funktionsvoraussetzungen aufrecht. Die Wettbewerbsordnung der Union ruht im Wesentlichen auf zwei Säulen: Das unionale Kartellrecht (A) sichert die Freiheit und das Lauterkeitsrecht (B) die Redlichkeit des Wettbewerbs.86 Weil sie die Funktionsbedingungen unionaler Vertragsfreiheit in einem frühen, dem Vertragsschluss vorgelagerten Stadium, erhalten, dienen diese marktkonstitutiven und wettbewerbserhaltenden Instrumente der Materialisierung der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie.87 Dieses Phänomen erfasst dabei grundsätzlich die Vertragsfreiheit aller Marktakteure, vom Verbraucher bis zu Großunternehmen.

Böhm, Die Justiz 1928, 324, 334. Siehe oben Kapitel 1 § 2 B. Gleichsinnig Basedow, AcP 200 (2000), 445, 486; G. Wagner, in: Blaurock / Hager (Hrsg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), S. 13, 19 f. 84 Mestmäcker, JZ 1964, 441, 445. 85 Siehe dazu erneut oben Kapitel 1 § 2. 86 Vgl. zu diesem System Protokoll Nr. 27 über den Binnenmarkt und den Wettbewerb im Anhang zum EUV und AEUV, ABl. 2010, C 83, 309. Etwaiger Berührungspunkte zum Trotz stehen diese Schwestermaterien grundsätzlich unabhängig nebeneinander und werden sowohl in diversen Unionsrechtsakten als auch in der Rechtsprechungspraxis des EuGH entlang ihrer jeweiligen Schutzziele abgegrenzt, siehe zur Trennlinie zwischen unionalem Kartell- und Lauterkeitsrecht nur Ohly / Sosnitza / Ohly (2014), Einf. A Rn. 22; UWG-Großkommentar / Heinze (2014), Einl. Rn. 51 ff. m. w. N. 87 Siehe zum Begriff des marktkonstitutiven Rechts nur Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers (1998), S. 293 ff.; Fornasier, Freier Markt und zwingendes Vertragsrecht (2013), S. 65 ff. Vgl. zum Lauterkeitsrecht auch Busch, Informationspflichten im Wettbewerbs- und Vertragsrecht (2008), S. 165. 82 83

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Kapitel 4 – Materialisierung der Vertragsfreiheit durch Unionsrecht

A. Kartellrecht Die Vertragsfreiheit und der Wettbewerb als das „genialste Entmachtungsinstrument der Geschichte“88 stehen in einer engen Wechselbeziehung: Freier Wettbewerb kann als Interaktionsprozess nur entstehen, wenn die Marktakteure individuelle rechtsgeschäftliche Handlungsfreiheiten genießen und möglichst ungehindert wahrnehmen können.89 Zugleich setzt Vertragsfreiheit im anspruchsvollen Sinne die Existenz tatsächlicher Entscheidungsalternativen voraus.90 Letztere werden im Binnenmarkt gerade durch einen funktionierenden Wettbewerb am Markt sichergestellt. Insbesondere Kartelle rühren an den Grundfesten dieses Mechanismus, weshalb es kaum Wunder nimmt, dass der EuGH das Wettbewerbsrecht in den Dienst der Vertragsfreiheit stellt.91 Und mit Blick auf die Autonomie der Anbieterseite sieht der EuGH den „Grundgedanke[n] der Wettbewerbsvorschriften“ der Europäischen Union darin, dass „jeder Unternehmer selbständig zu bestimmen hat, […] welche

Böhm, in: Institut für ausländisches und internationales Wirtschaftsrecht (Hrsg.), Kartelle und Monopole im modernen Recht I (1961), S. 1, 22. 89 Siehe bereits oben Kapitel 1 § 2 B sowie Statt vieler Möschel, FS Mestmäcker (2006), S. 355, 366. Mestmäcker, AcP 168 (1968), 235 fasst dies prägnant dahingehend, dass erst die „Ausübung der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie […] zum Wettbewerb“ führt. In diesem Sinne bezeichnet auch GA Wahl Schlussanträge v. 12.2.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:85 Rn. 105 den freien Wettbewerb in der Unionsrechtsordnung als „Korollar“ der Vertragsfreiheit. Insbesondere können Anbieter- und Nachfragerseite nur dann in einen „Vertragswettbewerb“ eintreten und so die Kräfte des Marktes entfesseln, wenn umfassende Abschluss-, Kontrahentenwahl- und Vertragsinhaltsfreiheit besteht, siehe zu dieser Interdependenz nur MünchKommBGB / Busche (2015), §§ 145 BGB Rn. 11. 90 Siehe hierzu bereits oben Kapitel 1 § 2 B. 91 Laut EuGH Urt. v. 21.5.2015 – Rs. C-352/13 (CDC), EU:C:2015:335 Rn. 43 bekämpft diese Materie die „Beschränkung der Vertragsfreiheit durch […] Kartell[e], die dazu führt, dass es für die Käufer unmöglich wird, ihren Bedarf zu einem nach den Gesetzen des Marktes gebildeten Preis zu decken“. Vgl. auch EuGH Urt. v. 21.1.1999 – verb. Rs. C-215/96 u. a. (Bagnasco u. a.), Slg. 1999, I-135 Rn. 45 ff., wo der EuGH zunächst eine Einschränkung der „Vertragsfreiheit der Banken“ durch bestimmte vorgefasste Bedigungen, deren Benutzung ein Bankenverband seinen Mitgliedern bei der Kreditvergabe vorschreibt, feststellt. Mit Blick auf Art. 85 EGV verneint der Gerichtshof sodann aber die Frage, „ob diese Einschränkung der Vertragsfreiheit spürbare Auswirkungen auf den Wettbewerb hat“. Auch hat die Kommission den Gerichtshof zur Prüfung aufgefordert, „ob ein Parallelverhalten mehrerer unabhängiger Unternehmen insbesondere bei der Gestaltung von Preisen und Geschäftsbedingungen, das ihren Kunden keine Möglichkeit zur Verhandlung über den zu vereinbarenden Vertragsinhalt ließ, nicht auch zur Annahme einer unter Artikel 86 EWG-Vertrag fallenden beherrschenden Stellung mehrerer Unternehmen (Kollektivmacht) berechtigen würde“, vgl. EuGH Urt. v. 5.10.1988 – Rs. 247/86 (Alsatel), Slg. 1988, 5987 Rn. 21 ff. (Herv. d. Verf.). Der EuGH verneinte dies indes im konkreten Fall mangels gesicherter Tatsachengrundlage und führte aus, dass das betreffende „Unternehmen keine beherrschende Stellung auf dem relevanten Markt […] hat“ (dort Rn. 22 f.). 88

§ 2 Markt- und wettbewerbsbezogene Materialisierungsinstrumente

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Bedingungen er seiner Kundschaft gewähren will“.92 Durch den freien Wettbewerb am Markt werden in den Worten Franz Böhms’ „die Anbieter und Nachfrager aus den individuellen, leicht zu manipulierenden Zwangslagen individueller oder bilateraler Art befreit, in denen sie sich andernfalls befinden würden“.93

Bezogen auf die unionale Vertragsfreiheit bedeutet dies, dass die durch den Wettbewerbsprozess bereitgestellte Möglichkeit, zwischen unterschiedlichen Vertragsparteien und Vertragsinhalten zu wählen, die Ausgangs- und Funktionsbedingungen dieser Freiheit schafft und erhält. Anders gewendet wird also die Vertragsfreiheit auf diese Weise „materialisiert“: „Der Wettbewerb dient […] der Realisierung des Freiheitsprinzips dadurch, daß er in weitem Umfang „bloß formale“ Privatautonomie durch Begründung, Aufrechterhaltung oder Verbesserung von realen Wahlmöglichkeiten zur zugleich „materiellen“ Privatautonomie macht, dadurch einer auch rechtlich durchaus relevanten Schwäche entrückt“.94

Diese Materialisierung spricht der EuGH beispielsweise in der Rechtssache RWE an: Die Entscheidung gegen einen bestimmten Vertragspartner und der Vertragsschluss mit einem alternativen Anbieter stehe und falle damit, „ob auf dem betreffenden Markt Wettbewerb herrscht“.95 Nur bei funktionierendem Wettbewerb werde die – negative wie positive – Vertragsfreiheit den Marktakteuren „nicht nur formal eingeräumt […], sondern [kann] auch tatsächlich wahrgenommen werden“.96 Auch aus Sicht des Gerichtshofs werden durch die Aufrechterhaltung des freien Wettberwerbs also zugleich die Funktionsvoraussetzungen der Vertragsfreiheit geschützt. B. Lauterkeitsrecht Neben dem Kartellrecht ist das unionale Lauterkeitsrecht ein weiterer zentraler Baustein des „Systems, das den Wettbewerb innerhalb des Gemeinsamen Marktes vor Verfälschungen schützt“.97 Obschon es an einem Art. 101 ff. 92 So in ständiger Rechtsprechung EuGH Urt. v. 16.12.1975 – verb. Rs. 40/73 u. a. (Suiker Unie u. a./Kommission), Slg. 1975, 1663 Rn. 173; EuGH Urt. v. 14.7.1981 – Rs. 172/80 (Züchner), Slg. 1981, 2021 Rn. 13; EuGH Urt. v. 28.5.1998 – Rs. C-7/95 P (John Deere / Kommision), Slg. 1998, I-3111 Rn. 86; EuGH Urt. v. 2.10.2003 – Rs. C194/99 P (Thyssen / Kommission), Slg. 2003, I-10821 Rn. 82. 93 Böhm, ORDO 22 (1971), 11, 19. 94 F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts (1996), S. 627. 95 EuGH Urt. v. 31.3.2013 – Rs. C-92/11 (RWE), EU:C:2013:180 Rn. 54. 96 EuGH Urt. v. 31.3.2013 – Rs. C-92/11 (RWE), EU:C:2013:180 Rn. 54. 97 Vgl. in diesem Sinne bereits EuGH Urt. v. 21.5.1987 – Rs. 249/85 (Albako), Slg. 1987, 2345 Rn. 16 und siehe auch Protokoll Nr. 27 über den Binnenmarkt und den Wettbewerb im Anhang zum EUV und AEUV, ABl. 2010, C 83, S. 309, wonach „der Binnenmarkt, wie er in Artikel 3 des Vertrags über die Europäische Union beschrieben wird, ein System umfasst, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt“. Siehe statt vieler Dethloff, Europäisierung des Wettbewerbsrechts (2001), S. 8; Lettl, Der lauterkeitsrechtliche

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Kapitel 4 – Materialisierung der Vertragsfreiheit durch Unionsrecht

AEUV vergleichbaren Fundament in den Verträgen fehlt, verpflichtet bereits die Präambel des AEUV die Union explizit auf die Wahrung des „redlichen Wettbewerb[s]“ im Binnenmarkt.98 Das Lauterkeitsrecht der EU ruht im Wesentlichen auf zwei Säulen: Mit Blick auf die Geschäftspraktiken von Unternehmern gegenüber Verbrauchern bewirkt die Lauterkeitsrichtlinie eine weitgehende Vollharmonisierung, die den „Grundstein für ein allgemeines Europäisches Lauterkeitsrecht“ bildet.99 Daneben tritt als zweite Säule ein sektorspezifisches Lauterkeitsrecht, das besondere Sachmaterien, wie etwa den Medienbereich, erfasst.100 Die Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit durch das Lauterkeitsrecht lässt sich am Beispiel des Anwendungsbereichs der Lauterkeitsrichtlinie illustrieren: Nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie soll der Verbraucher vor allen Handlungen geschützt werden, die seine geschäftlichen Entscheidungen vor und während des Vertragsschlusses beeinträchtigen können. Hierzu zählen insbesondere solche – unlauteren – Einflussnahmen, welche den Verbraucher zum Vertragsschluss verleiten sollen.101 Geschützt wird mithin die freie, informierte „geschäftliche Entscheidung“ des Verbrauchers.102 Im Einklang mit der Prämisse umfassender Selbstbestimmungsfreiheit und Selbstverantwortung der Unionsbürger nimmt das unionale Lauterkeitsrecht den „Durchschnittsverbraucher, der angemessen gut unterrichtet und angemessen aufmerksam und kritisch ist“, zum Leitbild.103 Da grundsätzlich die Funktionsvoraussetzungen der Vertragsfreiheit aller Adressaten gestärkt werden sollen, Schutz vor irreführender Werbung in Europa (2004), S. 3; Leistner, Richtiger Vertrag und lauterer Wettbewerb (2007), S. 342; Faust, in: Zimmermann (Hrsg.), Störungen der Willensbildung bei Vertragsschluss (2007), S. 193 ff.; UWG-Großkommentar / Heinze (2014), Einl. Rn. 49. 98 Bereits Art. 3 lit. f EWG-Vertrag sowie die Präambel zum EWG-Vertrag nahmen auf den „redlichen Wettbewerb“ und Gefahr der „Verfälschung“ des Wettbewerbs Bezug, siehe zum Ganzen statt aller UWG-Großkommentar / Heinze (2014), Einl. Rn. 47 ff. 99 UWG-Großkommentar / Heinze (2014), Einl. Rn. 227. 100 Siehe zu dieser Unterscheidung UWG-Großkommentar / Heinze (2014), Einl. Rn. 227. Siehe aus der Vielzahl der Einzelrechtsakte nur Richtlinie 2010/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. März 2010 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung audiovisueller Mediendienste, ABl. 2010 L 95/1; Einen Überblick über die Rechtsakte gibt etwa Ohly /  Sosnitza / Ohly (2014), Einf. C Rn. 26 ff. 101 Vgl. nur GA Trstenjak Schlussanträge v. 29.11.2011 – Rs. C-453/10 (Pereničová), EU:C:2011:788 Rn. 80. Darüber hinaus schützt die Richtlinie aber auch vor Handlungen, welche den Vertragsschluss als solchen sowie geschäftliche Handlungen des Verbrauchers im Rahmen der Durchführung des Vertrags betreffen, siehe z. B. UWG-Großkommentar /  Heinze (2014), Einl. Rn. 255. 102 Vgl. Art. 2 lit. e, j und k Lauterkeitsrichtlinie. 103 Erwägungsgrund Nr. 18 Lauterkeitsrichtlinie. Siehe auch z. B. EuGH Urt. v. 18.10.2012 – Rs. C-428/11 (Purely Creative), EU:C:2012:651 Rn. 53. Vgl. erneut oben Kapitel 1 § 3 A.

§ 2 Markt- und wettbewerbsbezogene Materialisierungsinstrumente

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berücksichtigt das unionale Lauterkeitsrecht unter bestimmten Voraussetzungen auch Konsumentengruppen, „deren Eigenschaften sie für unlautere Geschäftspraktiken besonders anfällig machen“, wie etwa Minderjährige oder Hochbetagte.104 Soweit die fragliche Praktik nur das wirtschaftliche Verhalten dieser Konsumentengruppe zu beeinflussen geeignet ist, sieht Art. 5 Abs. 2 lit. b Lauterkeitsrichtlinie vor, dass die Unlauterkeit der Handlung aus der Perspektive eines durchschnittlichen Mitglieds dieser Gruppe beurteilt wird.105 Auch diese Kategorie von Verbrauchern soll in die Lage versetzt werden, „eine informierte Entscheidung [zu] treffen“.106 Auch das sektorspezifische europäische Lauterkeitsrecht sucht an vielen Stellen die Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers in einem Frühstadium vor unlauterer Einflussnahme zu schützen. Besonders deutlich wird dies in Erwägungsgrund Nr. 6 Preisangaberichtlinie,107 der herausstellt, dass dieser Rechtsakt die Vergleichbarkeit der am Markt angebotenen Erzeugnisse ermöglichen und die Verbraucher auf diese Weise in den Stand setzen soll, „fundierte Entscheidungen zu treffen“.108 Ähnliche Vorgaben für Dienstleistungen enthalten so unterschiedliche Rechtsakte wie z. B. Art. 3 und Art. 4 Finanzdienstleistungsfernabsatzrichtlinie,109 Art. 36 ff. Zahlungsdiensterichtlinie, Art. 3 Pauschalreiserichtlinie a.F und Art. 22 Abs. 1 lit. i sowie Abs. 3 lit. a der Dienstleistungsrichtlinie. Wettbewerbsrechtliche Relevanz erhalten diese Preisangaben dadurch, dass sie durch Art. 7 Abs. 1 und Abs. 5 Lauterkeitsrichtlinie zu einer „wesentlichen Information“ erhoben werden.110 Die Vorenthaltung solcher Informationen gilt als irreführende Geschäftspraxis, wenn sie den Durchschnittsverbraucher an einer informierten geschäftlichen Entscheidung hindert und ihn stattdessen zu einer „Entscheidung veranlasst […], die er sonst nicht getroffen hätte“. Auch andere bereichsspezifisische Rege104 Hierzu rechnen Erwägungsgründe 18 und 19 Lauterkeitsrichtlinie neben Kindern auch andere Verbraucher, die „aufgrund bestimmter Eigenschaften wie Alter, geistige oder körperliche Gebrechen oder Leichtgläubigkeit besonders für eine Geschäftspraxis oder das ihr zugrunde liegende Produkt anfällig sind“. 105 Vgl. auch Erwägungsgrund Nr. 19 Lauterkeitsrichtlinie. Siehe wiederum nur EuGH Urt. v. 18.10.2012 – Rs. C-428/11 (Purely Creative), EU:C:2012:651 Rn. 54. 106 EuGH Urt. v. 18.10.2012 – Rs. C-428/11 (Purely Creative), EU:C:2012:651 Rn. 56. 107 Richtlinie 98/6/EG des Europäischen Parlaments und Rates vom 16. Februar 1998 über den Schutz der Verbraucher bei der Angabe der Preise der ihnen angebotenen Erzeugnisse, ABl. 1998 L 80/27. 108 Diese Funktion betont nun auch EuGH Urt. v. 7.7.2016 – Rs. C-476/14 (Citroën Commerce), EU:C:2016:527 Rn. 26 ff. und insbesondere Rn. 31. 109 Richtlinie 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. September 2002 über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher und zur Änderung der Richtlinie 90/619/EWG des Rates und der Richtlinien 97/7/EG und 98/27/ EG, ABl. 2002 L 271/16. 110 Vgl. auch die – nicht erschöpfende – Aufzählung in Anhang II Lauterkeitsrichtlinie. Dazu statt aller UWG-Großkommentar / Heinze (2014), Einl. Rn. 399 f.

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Kapitel 4 – Materialisierung der Vertragsfreiheit durch Unionsrecht

lungen, wie etwa die Werberichtlinie,111 suchen Praktiken zu bekämpfen, die „den Wettbewerb verzerren, die Mitbewerber schädigen und die Entscheidung der Verbraucher negativ beeinflussen“ können.112 Ausweislich des Erwägungsgrundes Nr. 6 Lauterkeitsrichtlinie bekämpft das unionale Lauterkeitsrecht damit insgesamt Geschäftspraktiken „die die wirtschaftlichen Interessen der Verbraucher unmittelbar und dadurch die wirtschaftlichen Interessen rechtmäßig handelnder Mitbewerber mittelbar schädigen“.113

Neben dem Wettbewerb als „institutionellem Schutzgut“ stellt das Lauterkeitsrecht der EU somit die wirtschaftliche Selbstbestimmung der Marktteilnehmer ins Zentrum.114 Damit übernimmt das unionale Lauterkeitsrecht die Rolle eines marktkonstitutiven und wettbewerbsschützenden Materialisierungsinstruments. Es bezweckt eine dem eigentlichen Vertragsschluss in der Regel „vorverlagerte Regulierung […] des Wettbewerbs und der Markttransparenz im Sinne eines genuinen Institutionenschutzes“.115 Hierdurch werden die tatsächlichen Grundlagen für die Ausübung der unionalen Vertragsfreiheit geschaffen und erhalten. C. Zwischenfazit Das Unionsrecht steckt durch marktkonstitutive und wettbewerbsschützende Materialisierungsinstrumente einen institutionellen Rahmen ab, innerhalb dessen Vertragsfreiheit im Sinne umfassender tatsächlicher Selbstbestimmungsfreiheit ausgeübt werden kann. Erst durch den freien, lauteren Wettbewerb im Binnenmarkt werden werthaltige Wahlmöglichkeiten, z. B. bezüglich des Vertragspartners sowie des Vertragsinhalts, und somit die Funktionsvoraussetzungen der unionalen Vertragsfreiheit geschaffen. Zu den marktkonstitutiven und wettbewerbsschützenden Materialisierungsinstrumenten zählt neben dem unionalen Kartellrecht insbesondere auch das Lauterkeitsrecht. Diese Materien bilden damit die äußeren Verteidigungslinien privatautonomer Selbstbestimmung in der Unionsrechtsordnung.116 Diese unionalen können auch durch korrespondierende mitgliedstaatliche Regelungen komplementiert werden, etwa, wenn die kartell- und lauterkeits111 Richtlinie 2006/114/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über irreführende und vergleichende Werbung, ABl. 2006 L 376/21. 112 Vgl. mit Blick auf irreführende und vergleichende Werbung nur Erwägungsgrund Nr. 9 Werberichtlinie. Siehe zu den weiteren Schutzzielen besagter Richtlinie statt vieler Ohly / Sosnitza / Ohly (2014), Einf. C Rn. 28 ff. und 34 ff. 113 Vgl. auch Erwägungsgrundes Nr. 8 Lauterkeitsrichtlinie. 114 Siehe hierzu sowie zur überkommenen Schutzzwecktrias statt vieler Leistner, Richtiger Vertrag und lauterer Wettbewerb (2007), S. 213 ff. Insgesamt zurückhaltender UWGGroßkommentar / Heinze (2014), Einl. Rn. 86. Vgl. auch schon Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers (1998), S. 296 ff. 115 Leistner, Richtiger Vertrag und lauterer Wettbewerb (2007), S. 208.

§ 2 Markt- und wettbewerbsbezogene Materialisierungsinstrumente

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rechtliche Dimension eines Sachverhalts dem nationalen Recht, die privatrechtliche Ebene hingegen dem Recht der Union unterfällt. Hier schaffen markt- und wettbewerbsbezogene Materialisierungsinstrumente des mitgliedstaatlichen Rechts dann die institutionellen Rahmenbedingungen für die Ausübung unionaler Vertragsfreiheit. Allerdings vermag selbst ein unbeeinträchtigter Wettbewerb nicht in jeder Situation zu garantieren, dass die Ausübung der unionalen Vertragsfreiheit Ausdruck echter Selbstbestimmung ist.117 So nehmen weder sämtliche Elemente eines Vertrags stets am Konditionenwettbewerb teil – man denke nur an Nebenbestimmungen in AGB –118 noch besteht in allen Bereichen die Möglichkeit, auf alternative Vertragsangebote und -partner auszuweichen.119 Somit besteht zum einen grundsätzlich dort Bedarf nach einer weitergehenden Materialisierung der unionalen Vertragsfreiheit, wo das „Korrelat der machtbeugenden Wirkung des Wettbewerbs fehlt, ohne die Privatautonomie zur Willkür wird“.120 Zum anderen ist stets die unionsgrundrechtliche Dimension der unionalen Vertragsfreiheit zu beachten: Marktkonstitutive und wettbewerbsschützende Materialisierungsinstrumente nehmen in erster Linie den Wettbewerb und damit die Makroperspektive in den Blick, wohingegen der Schutz der Vertragsfreiheit einzelner Marktakteure eher reflexhaft erfolgt. Das Unionsgrundrecht der Vertragsfreiheit erfordert aber auch in individuellen Vertragsverhältnissen stets die Gewährleistung tatsächlicher Selbstbestimmungschancen. Vor diesem Hintergrund mag eine Materialisierung durch Privatrecht beispielsweise dort unionsgrundrechtlich vorgezeichnet sein, wo Vertragsbeziehungen typischerweise durch ein Informationsgefälle und sehr unterschiedliche Verhandlungsmotivationen der Vertragsparteien gekennzeichnet sind. Umgekehrt erscheint die Materialisierung durch unionales Vertragsrecht weniger angezeigt, soweit bereits der Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus die Ausübung echter Selbstbestimmung gewährleistet.

In diesem Sinne schon Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers (1998), S. 450. Ähnlich Busch, Informationspflichten im Wettbewerbs- und Vertragsrecht (2008), S. 165. 117 Bereits Dernburg, Pandekten (1903), S. 49 bezweifelte daher mit Recht, ob man sich „von der freien Konkurrenz Beseitigung aller […] Gefahren“ der Vertragsfreiheit versprechen dürfe. 118 Siehe eingehend unten § 3 D I und siehe statt vieler MünchKommBGB / Basedow (2016), Vor § 305 BGB Rn. 5 f. 119 Mit Blick auf bestimmte Energielieferungsverträge meldet etwa EuGH Urt. v. 31.3.2013 – Rs. C-92/11 (RWE), EU:C:2013:180 Rn. 54 durchaus Zweifel, „ob auf dem betreffenden Markt Wettbewerb herrscht“. 120 Basedow, LM § 8 AGB-Gesetz Nr. 30. 116

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Kapitel 4 – Materialisierung der Vertragsfreiheit durch Unionsrecht

§ 3 Materialisierung durch Unionsprivatrecht § 3 Materialisierung durch Unionsprivatrecht

Während die Vertragsparteien in der Unionsrechtsordnung rechtlich in gleicher Weise Vertragsfreiheit genießen, wird zwischen ihnen in der Realität bisweilen ein deutliches Gefälle an Wissen, Geschäftserfahrung und Verhandlungsgeschick bestehen. In einer marktwirtschaftlichen Wettbewerbsordnung sind solche Motivations- und Informationsvorsprünge grundsätzlich erwünscht und werden entsprechend in vielfältiger Weise durch das Unionsrecht geschützt. 121 Doch wo die Funktionsfähigkeit des Vertrags- und Marktmechanismus durch derartige Asymmetrien bedroht wird, bedarf es korrigierender Eingriffe des Unionsgesetzgebers. Vor diesem Hintergrund sollen diverse Regelungen des EU-Schuldvertragsrechts die formal-rechtlich äquivalente dem Idealbild der tatsächlich ausgewogenen Freiheit zur Selbstbestimmung durch das Instrument des Vertrags zumindest annähern. Diese Normen dienen damit der Materialisierung der unionalen Vertragsfreiheit durch Privatrecht.122 Die unionsprivatrechtlichen Materialisierungsinstrumente erfassen alle Stadien des Vertrags von der Anbahnung über den Abschluss und die Durchführung bis hin zur Beendigung. Dabei können die durch die einzelnen Instrumente geregelten Vertragsphasen durchaus ineinander übergehen. Im Vorfeld des Vertragsschlusses baut das Unionsprivatrecht auf ein Informationsmodell:123 Transparenz- und Informationspflichten sowie Formerforder121 Vgl. auf Ebene des EU-Primärrechts nur Art. 339 AEUV und siehe neben der Fülle sekundärrechtlicher Einzelrechtsakte betreffend den Schutz von Immaterialgüterrechten nun auch die Richtlinie (EU) 2016/943 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2016 über den Schutz vertraulichen Know-hows und vertraulicher Geschäftsinformationen (Geschäftsgeheimnisse) vor rechtswidrigem Erwerb sowie rechtswidriger Nutzung und Offenlegung, ABl. 2016 L 157/1. 122 Siehe hierzu – wenn auch mit durchaus unterschiedlichen Bezugspunkten und Stoßrichtungen der Materialisierung – nur Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers (1998), S. 208 f., 293 ff.; Canaris, AcP 200 (2000), 273, 277 ff.; Riesenhuber, System und Prinzipien des europäischen Vertragsrechts (2003), S. 553 f.; Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbrauchervertragsrechts (2004), S. 307 ff.; G. Wagner, ZEuP 2007, 180, 191 ff.; Fornasier, Freier Markt und zwingendes Vertragsrecht (2013), S. 77 ff. und 259. Auch soweit Starke, EU-Grundrechte und Vertragsrecht (2016), S. 256, 274 f. und 403 aus der bisherigen Judikatur des EuGH – und insbesondere aus der Alemo-Herron-Entscheidung – einerseits ein rein formales Verständnis der Vertragsfreiheit ableiten will, muss er doch andererseits zugestehen, dass die mannigfaltigen Einschränkungen der Vertragsfreiheit durch das Unions(privat)recht – etwa im Bereich des Antidiskriminierungsrechts – gerade „der Stärkung materialer Vertragsfreiheit dienen“. 123 Vgl. zu diesem Modell aus der Warte des unionalen Verbraucherrechts brereits EuGH Urt. v. 7.3.1990 – Rs. C-362/88 (GB-Inno-BM), Slg. 1990, I-667 Rn. 14 ff. Siehe ferner nur Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher (1983), S. 63 ff.; Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers (1998), S. 27 ff.; Fleischer, ZEuP 2000, 772 ff.; Fornasier, Freier Markt und zwingendes Vertragsrecht (2013), S. 79 ff.

§ 3 Materialisierung durch Unionsprivatrecht

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nisse (A) sollen eine möglichst solide Entscheidungsgrundlage und somit die Voraussetzungen für echte Selbstbestimmungschancen schaffen. Die Brücke zwischen vorvertraglichem Stadium und Vertragsschluss schlagen zum einen bereichsspezifische Modifikationen der allgemeinen zivilrechtlichen Vertragsschlussmodalitäten (B). Zum anderen entfalten in dieser Phase unionale Diskriminierungsverbote und Kontrahierungszwänge (C) ihre Wirkungen. Die Klauselkontrolle soll sodann gewährleisten, dass sich der Vertrag trotz Verwendung einseitig gestellter AGB nicht in ein Instrument der Fremdbestimmung verwandelt (D). Eine ganz ähnliche Stoßrichtung können auch eingriffsintensivere zwingende Regelungen und Unwirksamkeitstatbestände des Unionsprivatrechts verfolgen (E). Schließlich erlauben bestimmte Instrumente des Unionsprivatrechts eine Materialisierung durch Aktualisierung der Vertragsfreiheit (F): In diese Kategorie fallen insbesondere Lösungsrechte sowie Höchstbindungsdauern im Verbraucher-, Finanzdienstleistungs- und Wirtschaftsvertragsrecht. A. Informationsmodell In vielen Bereichen setzen privatrechtliche Instrumente zur Materialisierung der unionalen Vertragsfreiheit an einer ungleichen Informationsverteilung zwischen den Vertragsparteien an.124 Der Zugang zu den wesentlichen Informationen über den angestrebten Vertrag ist für die individuelle Willensbildung fraglos von essentieller Bedeutung. Nimmt man zudem das Gesamtsystem in den Blick, so können Informationsasymmetrien die Funktionsfähigkeit des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus infrage stellen.125 Dem sucht das Informationsmodell insbesondere im Vorfeld des Vertragsschlusses durch Informations- und Transparenzpflichten sowie Formerfordernisse zu begegnen (I).126 Dabei ist das Informationsmodell des EU-Schuldvertragsrechts an den Facetten der unionalen Vertragsfreiheit ausgerichtet (II) und wird durch diese insbesondere auch begrenzt (III). I.

Elemente und Funktionen

Wer die am Markt angebotenen Vertragsinhalte nicht oder nur lückenhaft kennt, vermag weder die existierenden Angebote zu vergleichen noch überhaupt mit potenziellen Vertragspartnern in Kenntnis aller Konditionen zu 124 Mit Blick auf die Klauselrichtlinie spricht daher z. B. EuGH Urt. v. 15.1.2015 – Rs. C-537/13 (Šiba), EU:C:2015:14 Rn. 23 nun explizit von einer „Asymmetrie der Information zwischen diesen Parteien“. Ebenso auch EuGH Urt. v. 3.9.2015 – Rs. C-110/14 (Costea), EU:C:2015:538 Rn. 24. 125 Statt aller Fleischer, Informationsasymmetrie im Vertragsrecht (2001), S. 186. 126 Dazu statt vieler Lurger, Vertragliche Solidarität (1998), S. 14 ff.; Fleischer, ZEuP 2000, 772 ff.; Fornasier, Freier Markt und zwingendes Vertragsrecht (2013), S. 79 ff.

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verhandeln. Solchen Vertragsprätendenten fällt es ungleich schwerer, ihre Interessen „im Rahmen eines zum Vertragsabschluss führenden Verfahrens“ wahrzunehmen.127 Wenn einer Vielzahl von Marktakteuren die informationelle Basis zur Ausübung ihrer Vertragsfreiheit fehlt, droht neben dem Vertragsauch der Markt- und Wettbewerbsmechanismus zu versagen: Erst wenn die angebotenen Konditionen – und insbesondere Hauptleistungen sowie Preise – für jedermann erkennbar und transparent sind (1), können sich überhaupt die Kräfte des freien, lauteren Wettbewerbs im Binnenmarkt entfalten (2).128 1. Informations-, Transparenz- und Formanforderungen Das Funktionsmodell der unionalen Vertragsfreiheit gebietet deshalb, dass die Leistungsfähigkeit des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus durch ein gewisses Mindestmaß an Information gewährleistet wird. Entsprechend materialisieren die zahlreichen unionsprivatrechtlichen Informationspflichten die Vertragsfreiheit, indem sie die Grundlage für eine informierte und in diesem Sinne tatsächlich freie Entscheidung schaffen.129 Entsprechend ihrer Funktionen in den einzelnen Vertragsphasen lassen sich die unionsprivatrechtlichen Informationspflichten in drei Kategorien unterteilen: Zunächst sollen Offenlegungspflichten den potenziellen Vertragspartner über den geschäftlichen Zweck informieren und so insbesondere bei Verbrauchern eine „Überrumpelung“ verhindern.130 Vertragsschlussbezogene vorvertragliche Informationspflichten schaffen sodann die informationelle Basis, die es Vertragsschlusswilligen erlaubt, sowohl „das Für und Wider des Vertrags abzuwägen“131 als auch insbesondere die unterschiedlichen Anbieter und Vertragsinhalte am Markt zu vergleichen, um so den jeweils auf ihren individuellen Bedarf zugeschnittenen Vertrag abschließen zu können.132 Schließlich statuiert das Uni127 Diesen durch EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013: 521 Rn. 33 aufgestellten Anforderungen kann grundsätzlich entweder durch individuelles Aushandeln des Vertrags oder durch die Auswahl eines Vertrags in einem Markt mit freiem Wettbewerb genügt werden, siehe erneut oben § 1 B und Kapitel 3 § 3. 128 Besonders herausgestellt wird dies z. B. in Erwägunsgrund Nr. 30 Universaldienstrichtlinie: „Maßnahmen zur Gewährleistung der Transparenz bei Preisen, Tarifen und Bedingungen werden es den Verbrauchern erleichtern, eine optimale Wahl zu treffen und auf diese Weise umfassend vom Wettbewerb zu profitieren“. 129 Prägnant Riesenhuber, FS Micklitz (2014), S. 105, 116: „[I]nformation obligations indicate a turn from formal to substantive freedom of contract“. 130 Statt vieler MünchKommBGB / Wendehorst (2016), § 312d BGB Rn. 2. Vgl. auch Heiderhoff, in: Basedow / Hopt / Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009), S. 858, 859. 131 Prägnant MünchKommBGB / Wendehorst (2016), § 312d BGB Rn. 2. Siehe zu solchen vertragsabschlussbezogene Informationspflichten insbesondere auch Fleischer, ZEuP 2000, 772 ff. 132 In diesem Sinne zum unionalen Versicherungsvertragsrecht nur EuGH Urt. v. 5.3.2002 – Rs. C-386/00 (Axa), Slg. 2002, I-2209 Rn. 28; EuGH Urt. v. 19.12.2013 –

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onsrecht Informationspflichten in der Phase nach Vertragsschluss, insbesondere in Bezug auf Vertragsbeseitigungsrechte von Verbrauchern und Versicherungsnehmern.133 Zuweilen verpflichtet das Unionsrecht den Erbringer der vertraglichen Hauptleistung nicht nur, Informationen über seine Waren bzw. Dienstleistungen und über die zentralen Vertragsmodalitäten zu erteilen, sondern erlegt ihm sogar die Einholung von Informationen aus der Sphäre seines prospektiven Vertragspartners auf: Beispielsweise schreibt die Art. 8 Verbraucherkredit- ebenso wie Art. 18 Wohnimmobilienkreditrichtlinie eine Bonitätsprüfung des Kreditnehmers durch die Bank vor. Zudem verlangt Art. 25 MiFID II134 etwa im Falle einer Anlageberatung durch eine Wertpapierfirma, dass diese sich beim Kunden unter anderem über „seine finanziellen Verhältnisse, einschließlich seiner Fähigkeit, Verluste zu tragen“ informiert.135 Gerade bei Verträgen mit besonderer finanzieller Bedeutung sollen diese unionsprivatrechtlichen Informationseinholungspflichten eine solide Grundlage für die Vertragsentscheidung bereiten. Diese Funktion erfüllen auch unionsprivatrechtliche Transparenzpflichten,136 die Informationspflichten ergänzen und teilweise sogar ersetzen können: Wo bestimmte Informationen zwar einerseits im Vorfeld des Vertragsschlusses frei zugänglich, andererseits aber von einem Vertragspartner typischerweise nur schwer aufzufinden und wahrzunehmen sind, kann der gewünschte Informationsfluss durch eine Verpflichtung gestärkt werden, die relevanten Informationen auf besonders transparente Weise zu präsentieren. Rs. C-209/12 (Endress), EU:C:2013:864 Rn. 24. Vgl. zum Kreditvertragsrecht auch beispielsweise EuGH Urt. v. 4.3.2004 – Rs. C-264/02 (Sachithanathan), Slg. 2004, I-2157 Rn. 26 f. Siehe zum Ganzen statt vieler Heiderhoff, in: Basedow / Hopt / Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009), S. 858, 859; Rühl, in: Basedow / Hopt / Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009), S. 861, 864 f. 133 Durch Information über das Recht zur Vertragsaufsage soll sichergestellt werden, dass auch jene Vertragserklärungen, die aufgrund der Vertragsschlusssituation oder der Art des Geschäfts bei typisierender Betrachtung einer soliden Entscheidungsgrundlage entbehren, erneut überdacht und gegebenenfalls revidiert werden können, siehe zu dieser Materialisierung durch Aktualisierung der Vertragsfreiheit noch eingehend unten F I. Andere Pflichten zur Informationserteilung in der Phase nach Vertragsschluss dienen dagegen lediglich Dokumentationszwecken, statt aller MünchKommBGB / Wendehorst (2016), § 312d BGB Rn. 2. 134 Richtlinie 2014/65/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 über Märkte für Finanzinstrumente sowie zur Änderung der Richtlinien 2002/92/EG und 2011/61/EU, ABl. 2014 L 173/349. 135 Dazu statt vieler Fleischer, BKR 2006, 389, 392; Kumpan / Hellgardt, DB 2006, 1714 f. 136 Vgl. zur Transparenz als Prinzip des unionsrechtlich determinierten Vertragsrechts nur Basedow, VersR 1999, 1045 ff.

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Unterstützend wirken insoweit die zahlreichen Formanforderungen des Unionsprivatrechts. Auf der einen Seite sehen zahlreiche Rechtsakte im Interesse des Markt- und Vertragsmechanismus eine besondere Form der Informationserteilung vor.137 Paradigmatisch dafür ist die sogenannte PRIIPVerordnung:138 Sie standardisiert die Informationsblätter über Anlage- oder Versicherungsprodukte, damit die Nachfrager die wesentlichen Vertragscharakteristika leichter vergleichen und eine informierte Auswahlentscheidung am Markt treffen können.139 Auf der anderen Seite enthält das Unionsprivatrecht auch autonome140 Formvorschriften klassischen Zuschnitts, die – wie etwa das Schriftformerfordernis für bestimmte Verträge – eine Informations-, Dokumentations- und Warnfunktion erfüllen. Solche Regelungen des EU-Schuldvertragsrechts sollen dem Vertragsschlusswilligen den Umstand und die Tragweite der Verpflichtungen vor Augen führen und somit die Ernsthaftigkeit der gefassten Entscheidung sicherstellen.141 Indem diese Formvorschriften die 137 Dies trifft etwa zu auf Art. 4 Abs. 2, Abs. 1 lit. a–d i. V. m. den Anhängen I bis IV Time-Sharing-Richtlinie, wonach die Informationen auf bestimmten Formblättern „in Papierform oder auf einem anderen dauerhaften Datenträger, der für den Verbraucher leicht zugänglich ist, zur Verfügung“ zu stellen sind. Gleiches sehen z. B. Art. 5 Abs. 1 i. V. m. Anhang II Verbraucherkreditrichtlinie sowie Art. 5 und Art. 7 Abs. 1 sowie Art. 8 Abs. 1 Verbraucherrechterichtlinie vor. 138 Art. 1 Verordnung (EU) Nr. 1286/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. November 2014 über Basisinformationsblätter für verpackte Anlageprodukte für Kleinanleger und Versicherungsanlageprodukte (PRIIP), ABl. 2014 L 352/1 definiert diese Produkte auch in der deutschen Fassung als „packaged retail and insurance-based investment products“. 139 Vgl. Art. 5 ff. PRIIP-Verordnung. Siehe hierzu statt vieler Loacker, FS E. Lorenz (2014), S. 259 ff. 140 So weist z. B. EuGH Urt. v. 9.11.2016 – Rs. C-42/15 (Home Credit Slovakia), EU:C:2016:842 Rn. 36, mit Blick auf das Verbraucherkreditvertragsrecht darauf hin, „dass Art. 10 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2008/48 keinen Verweis auf das innerstaatliche Recht enthält und die Begriffe „auf Papier“ und „dauerhafter Datenträger“ in dieser Bestimmung daher eine eigenständige Bedeutung haben. Ihre Auslegung kann nicht durch innerstaatliche Vorschriften über die Form, die bei der Erstellung von Kreditverträgen zu beachten ist, bestimmt werden“. 141 Vgl. z. B. Art. 10 Verbraucherkreditrichtlinie. Siehe zur Signaturenrichtlinie sowie zur E-Commerce-Richtlinie nur Herresthal, in: Langenbucher (Hrsg), Europäisches Privatund Wirtschaftsrecht (2013), S. 142 f. und zum unionalen Verbrauchervertragsrecht statt vieler Staudinger / Gsell, Eckpfeiler des Zivilrechts (2014), L Rn. 12. Vgl. zu den Formzwecken im Kontext von Gerichtsstandsvereinbarungen z. B. EuGH Urt. v. 14.7.1983 – Rs. 201/82 (Gerling), Slg. 1983, 2503 Rn. 13; EuGH Urt. v. 21.5.2015 – Rs. C-322/14 (El Majdoub), EU:C:2015:334 Rn. 29 ff. Im Finanzdienstleistungsvertragsrecht schreibt darüber hinaus z. B. Art. 10 Abs. 1 Verbraucherkreditrichtlinie vor, dass Kreditverträge „auf Papier oder auf einem anderen dauerhaften Datenträger erstellt“ werden und weitere Formerfordernisse finden sich z. B. in Art. 11 Abs. 1, Art. 12, Art. 13 Abs. 1 und Art. 18 Abs. 1 Verbraucherkreditrichtlinie.

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Parteien vor übereilten Vertragserklärungen bewahren, „schützen sie die Vertragsfreiheit vor sich selbst“ und werden „zur Schwester der Freiheit“.142 2. Markt- und vertragsfreiheitsermöglichende Funktion im gesamten EUSchuldvertragsrecht Durch ihr Zusammenspiel erfüllen die vorgenannten Informations-, Transparenz- und Formvorgaben eine markt- und vertragsfreiheitsermöglichende Funktion.143 Diese Wirkung des unionalen Informationsmodells ist bislang jedoch überwiegend im Kontext des Verbraucherrechts untersucht worden.144 Dabei verdeutlicht z. B. bereits ein Blick auf Art. 4 Internetzugangsverordnung,145 dass gerade unionsrechtliche Informations-, Transparenz- und Formerfordernisse keineswegs auf Konsumentenverträge beschränkt sind: Diese Norm sieht für Verträge zwischen Anbietern von Internetzugangsdiensten und sämtlichen Endnutzern „Transparenzmaßnahmen“ sowie bestimmte Mindestinformationen über die wesentlichen Vertragsbestandteile vor. Auch ist beispielsweise Art. 23 Abs. 1 Luftverkehrsdiensteverordnung nicht auf Verträge mit Verbraucherbeteiligung beschränkt: Nach dieser Vorschrift sind alle „Kunden“ umfassend über die Flugpreise und Luftfrachtraten zu informieren, wobei insbesondere „Zusatzkosten […] auf klare, transparente und eindeutige Art und Weise am Beginn jedes Buchungsvorgangs“ auszuweisen sind.146 Besonders deutlich tritt die Rolle der Informations- und Transparenzpflichten überdies im unionalen Finanzdienstleistungsvertragsrecht hervor. So wird beispielsweise mit Blick auf das breit gefächerte Angebot im Binnenmarkt für Versicherungen herausgestellt, dass der Nachfrager vor Vertragsschluss im Besitz aller für eine fundierte Entscheidung notwendigen Informationen sein muss, um „diese Vielfalt und den verstärkten Wettbewerb voll zu nutzen“ und sodann „den seinen Bedürfnissen am ehesten entsprechenden Vertrag auszu-

142 So im Anschluss an Di Fabio, DNotZ 2006, 342, 350 zuletzt etwa Hagen, DNotZ 2010, 644, 647. Siehe auch schon v. Jhering, Geist des römischen Rechts II/2 (1858), S. 497 („Zwillingsschwester der Freiheit“). 143 Vgl. Fleischer, Informationsasymmetrie im Vertragsrecht (2001), S. 187 und 179. 144 Vgl. statt vieler Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers (1998), S. 26 ff. Demgegenüber hat Fleischer, Informationsasymmetrie im Vertragsrecht (2001), S. 233 ff. die zentrale Bedeutung von Informationen in allen Bereichen des Vertragsrechts herausgearbeitet. 145 Verordnung (EU) 2015/2120 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über Maßnahmen zum Zugang zum offenen Internet und zur Änderung der Richtlinie 2002/22/EG über den Universaldienst und Nutzerrechte bei elektronischen Kommunikationsnetzen und -diensten sowie der Verordnung (EU) Nr. 531/2012 über das Roaming in öffentlichen Mobilfunknetzen in der Union, ABl. 2015 L 310/1. 146 Vgl. hierzu auch EuGH Urt. v. 18.9.2014 – Rs. C-487/12 (Vueling Airlines), EU:C: 2014:2232 Rn. 32.

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wählen“.147 Ebenso soll Art. 1 PRIIP-Verordnung durch einheitliche Informationsblätter über Anlage- und Versicherungsprodukte Kleinanlegern und Versicherten vor Vertragsschluss ermöglichen, „die grundlegenden Merkmale und Risiken […] zu vergleichen“.148 Dieser Ansatz findet sich auch im unionsrechtlich determinierten Kreditvertragsrecht: Neben der Verbraucherkreditrichtlinie149 betont z. B. das EU-Wohnimmobilienkreditvertragsrecht die Verbindungslinie zwischen der Informationserteilung einerseits und der Wirksamkeit des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus andererseits: Namentlich müsse der Nachfrager all diejenigen Informationen erhalten, „die er benötigt, um die auf dem Markt verfügbaren Kreditprodukte zu vergleichen, ihre jeweiligen Auswirkungen zu prüfen und eine fundierte Entscheidung über den Abschluss eines Kreditvertrags zu treffen“.150

In seiner ständigen Rechtsprechung schlägt der EuGH daher explizit die Brücke zur Markt- und Wettbewerbsdimension der Transparenz- und Informationspflichten, wenn er betont, dass diese Materialisierungsinstrumente entscheidend „zur Transparenz des Marktes bei[tragen]“.151 Welche Bedeutung der Unionsgesetzgeber dem Zusammenspiel von Informationspflichten und Wettbewerbsmechanismus beimisst, geht aus der Zahlungskontenrichtlinie hervor: Dieser Rechtsakt verpflichtet nicht nur zur Bereitstellung detaillierter, transparenter Informationen über Zahlungskontoverträge, sondern auch zur Einrichtung von Online-Vergleichsportalen, mit Hilfe derer sich die Nachfrager einfach und kostenlos einen Marktüberblick über die Konditionen der einzelnen Zahlungsdienstleister verschaffen können.152 Unionsrechtlich fundierte Transparenz-, Informations- und Formerfordernisse spielen darüber hinaus in Wirtschaftsverträgen zwischen gewerblich tätigen Marktakteuren eine bedeutende Rolle: Beispielsweise verpflichtet die Interbankenentgelteverordnung die Zahlungsdienstleister, den Empfängern bei kartengebundenen Zahlungsvorgängen transparente Informationen hin147 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 23 der nunmehr in Solvency II aufgegangenen Dritten Richtlinie Lebensversicherung. Gerade mit Blick auf Versicherungsverträge als komplexe Rechtsprodukte betont EuGH Urt. v. 29.4.2015 – Rs. C-51/13 (Van Leeuwen), EU:C:2015: 286 Rn. 19 ff., dass der Verbraucher stets „klare und genaue Angaben über die wesentlichen Merkmale der ihm angebotenen Produkte“ benötigt. 148 Siehe hierzu statt aller Loacker, FS E. Lorenz (2014), S. 259 ff. 149 So fordert Art. 5 Verbraucherkreditrichtlinie gerade die Erteilung aller vorvertraglichen Informationen, „die der Verbraucher benötigt, um verschiedene Angebote zu vergleichen und eine fundierte Entscheidung darüber zu treffen, ob er einen Kreditvertrag schließen will“. Siehe bereits EuGH Urt. v. 4.3.2004 – Rs. C-264/02 (Sachithanathan), Slg. 2004, I-2157 Rn. 26 f. 150 Vgl. Art. 14 Abs. 1 Wohnimmobilienkreditrichtlinie. 151 EuGH Urt. v. 4.3.2004 – Rs. C-264/02 (Sachithanathan), Slg. 2004, I-2157 Rn. 26. 152 Vgl. Art. 7 sowie Art. 4 ff. Zahlungskontenrichtlinie. Dazu Herresthal, BKR 2016, 221 ff.

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sichtlich der anfallenden Entgelte zu erteilen. Diese Pflichten betreffen die allgemeine Entgeltaufschlüsselung gemäß Art. 9 sowie die Informationserteilung über einzelne kartengebundene Zahlungsvorgänge nach Art. 12 Interbankenentgelteverordnung. Schließlich sollen laut des Grünbuchs der Europäischen Kommission zu unlauteren Handelspraktiken153 Schriftformerfordernisse auch im unternehmerischen Verkehr der Absicherung des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus dienen: Durch die schriftliche Dokumentation des Vertrags könne für alle Parteien Klarheit über die vereinbarten Konditionen geschaffen und den lauteren Wettbewerb beeinträchtigendes Geschäftsgebaren verhindert werden.154 II. Ausrichtung und Systematisierung anhand der unionalen Vertragsfreiheit In der Zusammenschau der einzelnen Regelungsbereiche wird deutlich, dass die Facetten der unionalen Vertragsfreiheit jeweils die zentralen Orientierungspunkte der Informations-, Transparenz- und Formerfordernisse des EUPrivatrechts bilden. Je nachdem, welcher Aspekt der Vertragsfreiheit materialisiert wird, variiert der Inhalt der Pflichten ebenso wie die Vertragsphase, in der sie zum Tragen kommen.155 Zunächst schaffen Informationspflichen die Grundlagen dafür, dass die Abschluss-, Kontrahentenwahl- und Gestaltungsfreiheit im Rahmen des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus ausgeübt werden können. Diese Funktion betont auch der EuGH: Vertragsschlusswillige sollen die informationelle Basis erhalten, die es ihnen ermöglicht, zwischen den unterschiedlichen Anbietern und Vertragsinhalten zu wählen, um so den jeweils auf ihren individuellen Bedarf zugeschnittenen Vertrag abschließen zu können.156 Zugleich sollen die Informationspflichten helfen, „die Gefahr bestimmter Irrtümer zu vermeiden, die zum Abschluss eines nachteiligen Vertrags führen können“.157

153 Grünbuch der Europäischen Kommission vom 31.3.2013 über unlautere Handelspraktiken in der B2B-Lieferkette für Lebensmittel und Nicht-Lebensmittel in Europa, KOM(2013) 37 endg. 154 Vgl. KOM(2013) 37 endg., S. 21: „Zur Anwendung unlauterer Handelspraktiken kommt es eher, wenn Verträge nicht in schriftlicher Form abgefasst [werden], da die Parteien in diesem Fall über keinen dauerhaften Nachweis der vereinbarten Bedingungen verfügen. Eine faire Praxis könnte sich dadurch auszeichnen, dass die Vertragsparteien gewährleisten, dass Vereinbarungen in schriftlicher Form erfolgen […]. Der Inhalt mündlicher Verträge sollte nach deren Abschluss von mindestens einer Partei schriftlich bestätigt werden“. 155 Siehe zur Rolle der Informationspflichten bei der Materialisierung durch Aktualisierung der Vertragsfreiheit nach Vertragsschluss sogleich unten F I. 156 Vgl. zum Versicherungsvertragsrecht nur EuGH Urt. v. 5.3.2002 – Rs. C-386/00 (Axa), Slg. 2002, I-2209 Rn. 28; EuGH Urt. v. 19.12.2013 – Rs. C-209/12 (Endress), EU:C:2013:864 Rn. 24. Vgl. zum Kreditvertragsrecht z. B. EuGH Urt. v. 4.3.2004 – Rs. C264/02 (Sachithanathan), Slg. 2004, I-2157 Rn. 26 f.

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Beispielsweise mögen sich Nutzer gerade bei Vertragsschlüssen im Internet bisweilen aufgrund der Ausgestaltung des Angebots gar nicht darüber im Klaren sein, dass ein (entgeltlicher) Vertrag geschlossen werden soll. Zur Materialisierung der Abschlussfreiheit können hier Informations-, Transparenz- und Formanforderungen beitragen. Entsprechend sieht die „ButtonLösung“ der Verbraucherrechterichtlinie vor, dass vor einem Vertragsschluss über das Internet nicht nur der Umstand, dass eine zahlungspflichtige Bestellung getätigt wird, sondern auch der wesentliche Vertragsinhalt vor Vertragsschluss offengelegt werden muss.158 Vor allem muss die Schaltfläche, über welche die Willenserklärung abgegeben wird, klar definierten formalen Anforderungen genügen.159 Allgemein erkennt der EuGH, dass es für Verbraucher – wie auch für jeden anderen Vertragspartner – „von grundlegender Bedeutung ist, dass er vor Abschluss eines Vertrags über dessen Bedingungen und die Folgen des Vertragsschlusses informiert ist. Insbesondere auf der Grundlage dieser Informationen entscheidet er, ob er sich […] vertraglich binden möchte“.160

Im Finanzdienstleistungsvertragsrecht kommt darüber hinaus auch Informationseinholungspflichten, etwa nach Art. 8 Verbraucherkreditrichtlinie oder Art. 25 Abs. 2 MiFID II, die Aufgabe zu, beiden Parteien eine solide Grundlage für ihre Vertragsentscheidung zu bieten. Vor übereilten Vertragsabschlüssen soll im unionalen Wirtschaftsvertragsrecht z. B. das Schriftformerfordernis bei der Übertragung wirtschaftlich besonders relevanter Schutzrechte nach der Gemeinschaftsmarken-161 sowie nach der Sortenschutzverordnung162 bewahren. Manche Vertragsschlusssituationen können zudem die freie Auswahl des Vertragspartners erschweren: Dies trifft etwa auf die Vertragsanbahnung außerhalb von Geschäftsräumen sowie im Fernabsatzverkehr zu, weil hier die Identität des Vertragspartners nicht immer offenkundig ist. Vor diesem Hintergrund statuieren die E-Commerce-Richtlinie ebenso wie die Verbraucherrechterichtlinie Pflichten zur Offenlegung der Identität des Vertragspartners und materialisieren so die Kontrahentenwahlfreiheit.163 Dieses Ziel verfolgen im 157 So mit Blick auf die E-Commerce-Richtlinie EuGH Urt. v. 16.10.2008 – Rs. C298/07 (DIV), Slg. 2008, I-7841 Rn. 23. Siehe auch Herresthal, in: Langenbucher (Hrsg.), Europäisches Privat- und Wirtschaftsrecht (2013), § 2 Rn. 161 f. 158 Vgl. Art. 8 Abs. 2 und 4, Art. 6 Abs. 1 lit. a und e Verbraucherrechterichtlinie. 159 Vgl. Art. 8 Abs. 2 Verbraucherrechterichtlinie. 160 Z. B. EuGH Urt. v. 31.3.2013 – Rs. C-92/11 (RWE), EU:C:2013:180 Rn. 44; EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:282, Rn. 70; EuGH Urt. v. 7.9.2016 – Rs. C-310/15 (Deroo-Blanquart), EU:C:2016:633 Rn. 40. 161 Laut Art. 17 Abs. 3 Gemeinschaftsmarkenverordnung muss „die rechtsgeschäftliche Übertragung der Gemeinschaftsmarke schriftlich erfolgen und bedarf der Unterschrift der Vertragsparteien“. 162 Vgl. Art. 23 Sortenschutzverordnung. 163 Vgl. nur Art. 6 Abs. 1 lit. b Verbraucherrechterichtlinie.

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unionalen Finanzdienstleistungsvertragsrecht z. B. Art. 184 und 185 Solvency II: Nach diesen Normen muss der Versicherungsnehmer vor Vertragsschluss stets über den Sitz und die Identität des Versicherers informiert werden. Als weitere Facette, die zum Kernbereich unionaler Vertragsfreiheit zählt, wird die Inhaltsfreiheit umfassend durch Informations- und Transparenzpflichten materialisiert. So können sich Verbraucher etwa bei Fernabsatzverträgen naturgemäß nur schwer ein Bild von den Eigenschaften des Hauptleistungsgegenstandes machen. Umso bedeutender ist die Pflicht zur Beschreibung der wesentlichen Charakteristika der fraglichen Waren oder Dienstleistungen.164 Darüber hinaus verpflichtet das Unionsrecht gerade dort zur Informationserteilung in verständlicher Form, wo die Vertragsinhalte – etwa im Versicherungs-, Wertpapier- oder Kreditvertragsrecht – besonders komplex und durchschnittlichen Nachfragern nur schwer zugänglich sind. Beispielsweise sollen die Informationen über Versicherungs- und Anlageprodukte nach Art. 1 PRIIP-Verordnung Nachfrager überhaupt erst in den Stand setzen, „die grundlegenden Merkmale“ der ihnen angebotenen Verträge zu verstehen. Ebendieses Anliegen verfolgt auch Art. 24 Abs. 4 MiFID II für Wertpapierdienstleistungen in Bezug auf Finanzinstrumente.165 Eine Materialisierung der Inhaltsfreiheit intendieren darüber hinaus auch Transparenz- und Informationspflichten im EU-Wirtschaftsvertragsrecht: Die Interbankenentgelteverordnung verlangt etwa die Offenlegung der im Rahmen des Vertragsverhältnisses jeweils anfallenden Zahlungsentgelte.166

164 Vgl. nur Art. 6 Abs. 1 lit. a Verbraucherrechterichtlinie. Auch verpflichtet Art. 5 Abs. 1 Verbraucherrechterichtlinie nun in Bezug auf alle nicht im Wege des Fernabsatzes oder des Außergeschäftsraumverkehrs geschlossenen Verbraucherverträge zur vorvertraglichen Information über die wesentlichen Eigenschaften sowie den Gesamtpreis der Waren bzw. Dienstleistungen (lit. a und lit. c). Diese Norm erfasst damit insbesondere auch sämliche in Verkaufsräumen im Wege des Präsenzgeschäfts abgeschlossenen Verträge, wobei die Mitgliedstaaten gemäß Art. 5 Abs. 3 Verbraucherrechterichtlinie solche Verträge ausnehmen können, „die Geschäfte des täglichen Lebens zum Gegenstand haben und zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses sofort erfüllt werden“. Ziel des Art. 5 Abs. 1 Verbraucherrechterichtlinie ist ebenfalls die Materialisierung der Vertragsfreiheit des Verbrauchers, der nur in genauer Kenntnis der zentralen Vertragscharakteristika einen Vergleich zu anderen Angeboten ziehen und sodann eine informierte Entscheidung für oder gegen den Vertragsschluss mit diesen konkreten Inhalten treffen kann, vgl. Grundmann, JZ 2013, 53, 60. Kritisch hingegen Riesenhuber, FS Kirchner (2015), S. 159, 161: „Eine überzeugende Begründung für die Regelung fehlt“. 165 Die Vorschrift lautet auszugsweise: „Die […] Informationen werden auf verständliche und eine solche Weise zur Verfügung gestellt, dass die Kunden […] nach vernünftigem Ermessen die genaue Art und die Risiken der Wertpapierdienstleistungen und des speziellen Typs von Finanzinstrument, der ihnen angeboten wird, verstehen können und somit auf informierter Grundlage Anlageentscheidungen treffen können“. 166 Vgl. nur Art. 9 und Art. 12 Interbankenentgelteverordnung.

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III. Grenzen der Materialisierung durch das Informationsmodell Die Informations-, Transparenz- und Formanforderungen sind an die jeweiligen Facetten der Vertragsfreiheit gebunden, die sie zu stärken bestimmt sind. Entsprechend muss sich das unionsrechtliche Informationsmodell auch bei der Umgrenzung dieser Anforderungen an der unionalen Vertragsfreiheit orientieren. Zunächst setzt die rechtsgeschäftliche Privatautonomie besonders ausgreifenden Informationslasten durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Grenzen. Zwar sind die vorgenannten Instrumente grundsätzlich weniger eingriffsintensiv als andere, den Vertragsinhalt betreffende regulatorische Maßnahmen, weil Informations-, Transparenz- und Formanforderungen nur Einzelaspekte der Anbahnung und des Zustandekommens des Vertrags betreffen.167 Dennoch kann das Informationsmodell eine erhebliche Belastung für den informationsverpflichteten Vertragsteil bedeuten und im Einzelfall dessen Unionsgrundrechte beschränken. Vor diesem Hintergrund sind im EU-Schuldvertragsrecht immer nur solche Informationen durch einen Vertragsteil preiszugeben, welche zur Gewährleistung einer selbstbestimmten Entscheidung und somit zur Ausübung der unionalen Vertragsfreiheit des anderen Teils erforderlich sind. Hierzu zählen insbesondere Informationen über die essentialia negotii. Da das EU-Schuldvertragsrecht dem Markt- und Wettbewerbsprinzip verpflichtet ist, können demgegenüber insbesondere durch gezielte Informationssuche „verdiente“ Wissensvorsprünge einer Partei grundsätzlich nicht zum Gegenstand von Informationspflichten gemacht werden.168 Die Frage nach der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Instrumente des Informationsmodells stellt sich auch überall dort, wo eine höhere Informationsdichte nicht zu einer Verbesserung der Ausgangsbedingungen der Selbstbestimmung des zu informierenden Vertragsteils führt oder sich sogar nachteilig auswirkt. Namentlich sind Informations-, Transparenz- und Formvorschriften ab dem Punkt weder erforderlich noch verhältnismäßig, an dem die Grenzen der Leistungsfähigkeit des Informationsmodells erreicht sind. Dies ist dort der Fall, wo die menschliche Fähigkeit zur Informationsaufnahme an ihr Limit stößt, etwa weil die Betroffenen aufgrund der schieren Masse von Informationen die wesentlichen nicht mehr von den für die Vertragsentscheidung unwesentlichen Daten zu unterscheiden vermögen (sogenannter information overload  ). Doch wann ist die Schwelle zu einer solchen „Desinformation durch Überinformation“169 überschritten? Während die Verhaltensökonomie hier zwar Statt vieler Fornasier, Freier Markt und zwingendes Vertragsrecht (2013), S. 80; Riesenhuber, FS Micklitz (2014), S. 105, 116. 168 Vgl. allgemein nur Fleischer, Informationsasymmetrie im Vertragsrecht (2001), S. 573. 169 Herresthal, in: Langenbucher (Hrsg.), Europäisches Privat- und Wirtschaftsrecht (2013), § 2 Rn. 97. 167

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bereits erste Anhaltspunkte bieten mag, erlaubt sie indes keine allgemeingültige Grenzziehung.170 Damit verbleibt dem Unionsgesetzgeber ein weiter Ermessensspielraum: Ebenso wie er sich an einem durchschnittlichen Adressaten orientieren kann, mag er auch auf die Bedürfnisse besonders verständiger und zur Informationsaufnahme fähiger Personen abstellen, ohne dass hierin automatisch eine übermäßige Verkürzung der unionalen Vertragsfreiheit liegen muss. Angesichts des unionalen Verbraucherleitbilds,171 liegt eine Orientierung an einem mündigen, informierten und damit auch grundsätzlich informationsbereiten und -fähigen Personenkreis nahe.172 Wenn schon Konsumenten die umfassende Aufnahme sowie Verarbeitung von Informationen zuzumuten ist, muss dies erst recht für gewerbliche Akteure gelten. Diese Lesart würde tendenziell weiter gesteckte Informationspflichten begünstigen. Eine Schranke findet das Informationsmodell aber dort, wo die Preisgabe von Informationen angeordnet wird, die weder von geschäftserfahrenen Vertragspartnern ausgewertet werden können noch in (un)mittelbarem Zusammenhang mit dem angestrebten Vertrag stehen.173 Ebenso mag das Informationsmodell im Einzelfall auch unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten an seine Grenze stoßen, soweit es stärker in die Vertragsfreiheit der informationsverpflichteten Partei eingreift als etwa eine zwingenden Regulierung des Vertragsinhalts.174 Namentlich wo die Informationslasten so schwer wiegen, dass dadurch die Freiheit, Vertragsschlüsse anzubieten, beeinträchtigt oder aber die Preisgabe sensibler Informationen abverlangt wird, können minimale Eingriffe in die Vertragsinhalte im Einzelfall eine geringere Beeinträchtigung – und somit ein vergleichsweise milderes regulatorisches Instrument – darstellen.175

170 Vgl. statt vieler Leistner, in: Fleischer / Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht (2011) S. 122, 165 ff. 171 Vgl. zum unionsprivatrechtlichen Leitbild des „normal informierte[n], angemessen aufmerksame[n] und verständige[n] Durchschnittsverbraucher[s]“ z. B. EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:282 Rn. 74; EuGH Urt. v. 23.4.2015 – Rs. C-96/14 (Van Hove), EU:C:2015:262 Rn. 47. 172 Hierfür spricht ferner, dass andere Materialisierungsinstrumente ebenfalls auf die Interessen informationsbereiter Akteure ausgelegt sind: So fordert z. B. die Klauselrichtlinie nicht nur die Transparenz von Hauptleistung und Preis (Art. 4 Abs. 2), sondern gerade auch die transparente Gestaltung solcher Nebenbestimmungen (Art. 5), die typischerweise nicht am Konditionenwettbewerb teilnehmen und daher allenfalls von besonders verständigen Verbrauchern überhaupt zum Gegenstand ihrer Vertragsentscheidung gemacht werden, siehe dazu eingehend unten D II. 173 So mag der Fall namentlich bei den Informationslasten nach Art. 185 Abs. 2 lit. d i. V. m. Art. 51 Solvency II liegen, soweit im Vorfeld des Abschlusses eines Lebensversicherungsvertrags unter anderem die Information über hochkomplexe (interne) mathematische Modelle des Versicherers angeordnet wird, siehe dazu näher unten Kapitel 7 § 1 A I 2 b. 174 Statt vieler Riesenhuber, FS Micklitz (2014), S. 105, 116.

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Wo das Informationsmodell die Materialisierung der unionalen Vertragsfreiheit nicht (allein) gewährleisten kann, müssen andere Materialisierungsinstrumente zum Einsatz kommen, die nachfolgend beleuchtet werden sollen. B. Restriktionen der Vertragsschlussmodalitäten Das Zustandekommen privatrechtlicher Verträge unterstellt das Privatrecht der Union häufig dem Zivilrecht der Mitgliedstaaten.176 Dennoch überlagert das Unionsprivatrecht zunehmend auch das Recht der Willenserklärungen und beeinflusst die Modalitäten des Vertragsschlusses. Teils geschieht dies dadurch, dass unionale Regelungen bestimmte Erklärungsmodi voraussetzen und einfordern: Beispielsweise kann eine vertragliche Einigung auch im Unionsrecht grundsätzlich durch konkludente Willenserklärungen erfolgen.177 Darüber hinaus stellt es das Zivilrecht der EU den Vertragsparteien an anderer Stelle frei, dem Schweigen auf ein Angebot Erklärungsgehalt beizumessen.178 Demgegenüber engt das Unionsprivatrecht den Kreis der Vertragsschlussmodalitäten teilweise auch deutlich ein, um die Vertragsfreiheit einer der Parteien zu materialisieren. Häufig geht es dabei um Präventivschutz vor unbeabsichtigten Vertragsschlüssen.179 So wird eine Einigung durch konkludente Willenserklärungen in bestimmten Konstellationen ausgeschlossen und stattdessen eine ausdrückliche Vertragserklärung gefordert: Dies trifft etwa auf die „Button“-Lösung bei Vertragsschlüssen über das Internet zu, weil die Willenserklärung des Verbrauchers hier nur durch die Aktivierung einer eindeutig beschrifteten Schaltfläche erfolgen kann.180 Auch dürfen gemäß Art. 6 Abs. 5 Verbraucherrechterichtlinie einige Elemente eines Fernabsatz- oder Außergeschäftsraumvertrags „nicht geändert werden, es sei denn, die Vertragsparteien vereinbaren ausdrücklich etwas anderes“. Diese Vorgaben überlagern damit 175 Siehe hierzu unter dem Aspekt der durch das Informationsmodell verursachten Transaktionskosten auch Schön, FS Canaris I (2007), S. 1191, 1208; Fornasier, Freier Markt und zwingendes Vertragsrecht (2013), S. 81. 176 Vgl. nur Erwägungsgrund Nr. 14 und Art. 3 Abs. 5 Verbraucherrechterichtlinie. 177 Vgl. mit Blick auf eine Schiedsklausel im Sinne des Art. 272 AEUV z. B. EuG Urt. v. 19.9.2012 – verb. Rs. T-168/10 u. a. (Kommission / SEMEA u. a.), EU:T:2012:435 Rn. 137 ff.; EuGH Urt. v. 19.6.2014 – Rs. C-531/12 P (SEMEA/Kommission), EU:C:2014: 2008 Rn. 54. Vgl. ferner zur Beachtlichkeit konkludeter rechtsgeschäftlicher Erklärungen im Kontext des Markenrechts etwa EuGH Urt. v. 20.11.2001 – verb. Rs. C-414/99 u. a. (Davidoff u. a.), Slg. 2001, I-8691 Rn. 45 ff.; EuGH Urt. v. 23.4.2009 – Rs. C-59/08 (Copad), Slg. 2009, I-3421 Rn. 42 ff.; EuGH Urt. v. 15.10.2009 – Rs. C-324/08 (Makro Zelfbedieningsgroothandel), Slg. 2009, I-10019 Rn. 22; EuGH Urt.v. 22.9.2011 – Rs. C482/09 (Budějovický Budvar), Slg. 2011, I-8701 Rn. 43. 178 Siehe nur Art. 42 Nr. 6 lit. a i. V. m. Art. 44 Abs. 1 Zahlungsdiensterichtlinie. 179 Vgl. in anderem Kontext auch S. Lorenz, Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag (1997), S. 244 f. 180 Vgl. Art. 8 Abs. 2 Verbraucherrechterichtlinie Siehe zu § 312j BGB eingehend MünchKommBGB / Wendehorst (2016), § 312j BGB Rn. 22 ff.

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die im Privatrecht der Union ebenso wie auch in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen anerkannte Grundregel, derzufolge konkludentem Verhalten Erklärungswert zukommen kann. 181 Das Unionsprivatrecht bedient sich dieses Ansatzes auch im Wirtschaftsvertragsrecht: So dürfen etwa im Rahmen der Zahlungsverzugs-182 sowie der Zahlungsdiensterichtlinie183 bestimmte Vereinbarungen zwischen gewerblich handelnden Akteuren ebenfalls nur ausdrücklich getroffen werden. Diese restriktiven Vertragsschlussmodalitäten sollen die negative Inhaltsfreiheit desjenigen Vertragsteils materialisieren, dessen rechtsgeschäftliche Selbstbestimmung typischerweise durch die Zulassung konkludenter Vereinbarungen beeinträchtigt zu werden droht.184 Der Materialisierung der Inhaltsfreiheit dienen auch all jene unionsprivatrechtlichen Regelungen, welche der Willenserklärung einer Partei insoweit die Wirksamkeit versagen, als diese Erklärung durch bestimmte Voreinstellungen – etwa durch ein bereits gesetztes Häkchen in einer Internetmaske – herbeigeführt worden ist.185 Je nach Ausgestaltung dieser Opt-out-Lösung kann sich der die Voreinstellungen kontrollierende Anbieter die Flüchtigkeit und das Vertrauen des anderen Vertragsteils in das zuvor dargestellte Angebot zu Nutze machen, um dieser Partei eine Willenserklärung „unterzuschieben“ oder zumindest den Inhalt der gewollten Erklärung zu modifizieren. 186 Diese Restriktion der VerStatt aller MünchKommBGB / Wendehorst (2016), § 312a BGB Rn. 57. Vgl. etwa Erwägungsgrund Nr. 13, Art. 3 Abs. 4 und Abs. 5 sowie Art. 4 Abs. 5 und Abs. 6 Zahlungsverzugsrichtlinie. Siehe dazu statt vieler Thiergart, GWR 2014, 342, 344. Art. 3 Abs. 4 lautet auszugsweise: „Ist ein Abnahme- oder Überprüfungsverfahren vorgesehen, […] stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass die Höchstdauer dieses Verfahrens nicht mehr als 30 Kalendertage ab dem Zeitpunkt des Empfangs der Waren oder Dienstleistungen beträgt, es sei denn im Vertrag wurde ausdrücklich etwas anderes vereinbart“. Art. 3 Abs. 5 Zahlungsverzugsrichtlinie lautet auszugsweise: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die vertraglich festgelegte Zahlungsfrist 60 Kalendertage nicht überschreitet, es sei denn im Vertrag wurde ausdrücklich etwas anderes vereinbart“. Vgl. zur Umsetzung dieser Vorgabe im deutschen Bürgerlichen Recht § 271a Abs. 1 BGB. 183 Vgl. Erwägungsgründe Nr. 40 und 43 Zahlungsdiensterichtlinie. 184 So steht beispielsweise hinter Art. 6 Abs. 5 Verbraucherrechterichtlinie die Überlegung, dass der die Hauptleistung erbringende Unternehmer eher geneigt sein wird, eine konkludente Vertragsänderung zulasten des Verbrauchers zu behaupten, vgl. auch Erwägungsgrund Nr. 35 Verbraucherrechterichtlinie. 185 Z. B. betrifft Art. 22 Verbraucherrechterichtlinie den Fall, dass „der Unternehmer vom Verbraucher keine ausdrückliche Zustimmung eingeholt [hat], sondern sie dadurch herbeigeführt, dass er Voreinstellungen verwendet hat, die vom Verbraucher abgelehnt werden müssen, wenn er die zusätzliche Zahlung vermeiden will“. Diese „opt-out“-Methode adressiert auch § 312a Abs. 3 S. 2 BGB: „Schließen der Unternehmer und der Verbraucher einen Vertrag im elektronischen Geschäftsverkehr, wird eine solche Vereinbarung nur Vertragsbestandteil, wenn der Unternehmer die Vereinbarung nicht durch eine Voreinstellung herbeiführt“. 186 Vgl. nur GA Bot Schlussanträge v. 23.1.2014 – Rs. C-487/12 (Vueling Airlines), EU:C:2014:27 Rn. 67. 181 182

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tragsschlussmodalitäten soll demnach „die Gefahr bestimmter Irrtümer […] vermeiden“187 und die Rahmenbedingungen für die Entfaltung der rechtsgeschäftlichen Selbstbestimmungsfreiheit verbessern. Dabei weist auch dieser Regelungsansatz über das Verbrauchervertragsrecht hinaus: Beispielsweise soll Art. 23 Abs. 1 Luftverkehrsdiensteverordnung für alle entgeltpflichtigen Zusatzleistungen sicherstellen, „dass der Kunde in die Lage versetzt wird, die fragliche Leistung auf Opt-in-Basis anzunehmen oder abzulehnen“. 188 Eine Restriktion der Vertragsschlussmodalitäten bewirken schließlich unionsprivatrechtliche Vorschriften, die erhöhte Anforderungen an die Einbeziehung einseitig vorformulierter allgemeiner Vertragsbedingungen stellen. 189 Diese Regelungen sind der Inhaltskontrolle nach der Klauselrichtlinie vorgelagert und unterscheiden sich von dieser darin, dass sie sich nicht gegen missbräuchliche oder intransparente Vertragsbedingungen richten, sondern vielmehr den Modus der Einbeziehung selbst betreffen: Beispielsweise kann ein Unternehmer einem Verbraucher die Änderung des Vertrags im Sinne des Art. 6 Abs. 5 Verbraucherrechterichtlinie ebenso wie die Entrichtung zusätzlicher Entgelte nach Art. 22 Verbraucherrechterichtlinie zwar in seinen AGB antragen. Diese Normen lassen allerdings keine konkludente Einbeziehung – etwa nach § 305 Abs. 2 BGB – zu, sondern fordern eine ausdrückliche, separate Zustimmung des Verbrauchers zu den einzelnen Klauseln.190 Allen vorgenannten Einschränkungen der Vertragsschlussmodalitäten ist gemein, dass sie jeweils die negative Inhaltsfreiheit eines Vertragsteils materialisieren sollen. C. Diskriminierungsverbote und Kontrahierungszwänge Die Unionsrechtsordnung verbietet Diskriminierungen und gebietet Vertragsschlüsse sowohl aus binnenmarktbezogenen auch aus gesellschaftspolitischen Gründen.191 Trotz dieser unterschiedlichen Motivlage gleichen sich die Wir187 Vgl. zur E-Commerce-Richtlinie nur EuGH Urt. v. 16.10.2008 – Rs. C-298/07 (DIV), Slg. 2008, I-7841 Rn. 23. 188 GA Bot Schlussanträge v. 23.1.2014 – Rs. C-487/12 (Vueling Airlines), EU:C:2014: 27 Rn. 67 unter Berufung auf EuGH Urt. v. 19.7.2012 – Rs. C-112/11 (ebookers.com), EU:C:2012:487 Rn. 14, der ausführt, bezüglich dieser angebotenen Dienstleistungen sei erforderlich, „dass der Kunde die Wahl hat, sie anzunehmen oder abzulehnen“. Art. 23 Abs. 1 Luftverkehrsdiensteverordnung lautet: „[D]ie Annahme der fakultativen Zusatzkosten durch den Kunden erfolgt auf ‚Opt-in‘-Basis“. 189 Vgl. nur Art. 6 Abs. 5 sowie Art. 22 Verbraucherrechterichtlinie. 190 Kramme, NJW 2015, 279, 280; MünchKommBGB / Wendehorst (2016), § 312a BGB Rn. 57; Palandt / Grüneberg (2017), § 312a BGB Rn. 4. Weitergehend mit Blick auf § 312a Abs. 3 BGB sowie § 312d BGB wohl BT-Drucks. 17/12637, S. 53 f. 191 Siehe zur Unterscheidung zwischen binnenmarktbezogenen und gesellschaftspolitischen Diskriminierungsverboten des Unionsrechts Basedow, ZEuP 2008, 230, 234; ders., in: ders. / Hopt / Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009), S. 316, 317 ff.

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kungen der unionalen Vertragsschlusszwänge und Diskriminierungsverbote: Sie schaffen und erhalten jeweils die Voraussetzungen, „die jedem Rechtssubjekt und nicht nur einzelnen Rechtssubjekten die Benutzung des Vertrags zur individuellen Interessenwahrnehmung erlauben“.192

Auch soweit aus den Diskriminierungsverboten unionsrechtlicher Provenienz kein Vertragsschlusszwang folgt, bauen die bei ihrer Verletzung drohenden Sanktionen stets beträchtlichen Druck auf, einen Vertrag einzugehen.193 Entsprechend sollen beide Instrumente gleichermaßen durch gesetzlichen Zwang Kontrahierungschancen gewährleisten und die unionale Vertragsfreiheit bestimmter Adressaten materialisieren. Zugleich bedeuten diese Regelungen einen besonders einschneidenden Eingriff in die Vertragsfreiheit des Verpflichteten, da sie mit der Abschluss- und Kontrahentenwahlfreiheit den Kernbereich der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie berühen.194 Diese zentralen Gemeinsamkeiten rechtfertigen die Zusammenschau unionaler Diskriminierungsverbote und Kontrahierungszwänge, wobei im Folgenden zwischen markt- und wettbewerbsbezogenen sowie gesellschaftspolitisch motivierten Instrumenten unterschieden wird. I.

Binnenmarkt- und wettbewerbsbezogene Diskriminierungsverbote

Binnenmarkt- und wettbewerbsbezogene Diskriminierungsverbote existieren sowohl auf Ebene des Primärrechts als auch in Sekundärrechtsakten der Union, wie z. B. der Dienstleistungsrichtlinie. Insbesondere soweit die unterschiedlichen Einzelregelungen an der Staatsangehörigkeit ansetzen, erscheint eine Konvergenz der Diskriminierungsverbote wünschenswert. 1. Primärrechtliche Verbote a) Wettbewerbsrecht Das unionale Wettberwerbsrecht stellt in Art. 101 Abs. 1 lit. d sowie in Art. 102 S. 2 lit. c AEUV wettbewerbs- und binnenmarktbezogene Diskriminierungsverbote auf, die an einem „Machtgefälle“ zwischen den Akteuren 192 So allgemein zur Funktion von Kontrahierungszwängen Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang (1999), S. 52. Vgl. auch GA Poiares Maduro Schlussanträge v. 31.8.2008 – Rs. C-303/06 (Coleman), Slg. 2008, I-5603 Rn. 9 und 11. 193 Eine solche Wirkungsäquivalenz postuliert z. B. auch EuGH Urt. v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 55 mit Blick auf eine – in der konkreten Rechtssache verneinten – Gleichbehandlungspflicht: „Diese Pflicht zwänge ihn zum Vertragsabschluss mit allen Minderheitsaktionären zu denselben Bedingungen wie denen, die beim Erwerb einer die Kontrolle verschaffenden oder verstärkenden Beteiligung vereinbart wurden, und führte zu einem entsprechenden Recht aller Aktionäre, ihre Aktien an den Hauptaktionär zu verkaufen“ (Herv. d. Verf.). 194 Siehe zu diesem Kernbereich erneut oben Kapitel 2 § 3 A II.

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ansetzen: Art. 101 Abs. 1 lit. d AEUV betrifft zunächst den Fall, dass Unternehmen durch Vereinbarung, Beschluss oder abgestimmte Verhaltensweisen konzertiert einem dritten Unternehmen ungünstigere Bedingungen gewähren, als sie sonst für gleichwertige Leistungen vorsehen.195 Art. 102 S. 2 lit. c AEUV erfasst demgegenüber einseitige Maßnahmen marktbeherrschender Unternehmen, die ihren Handelspartnern unterschiedliche Bedingungen bieten und dadurch im Wettbewerb benachteiligen.196 Vorrangiges Ziel dieser Regelungen ist die Verhinderung von Wettbewerbsverfälschungen. Zugleich können diese wettbewerbsbezogenen Diskriminierungsverbote – reflexhaft – die Vertragsfreiheit derjenigen Marktakteure materialisieren, die andernfalls durch ungünstigere Bedingungen benachteiligt würden. Die Materialisierung der Vertragsfreiheit wird dort offenkundig, wo eine vollständige Geschäftsverweigerung durch ein marktbeherrschendes Unternehmen vorliegt: Hier ermöglicht erst das unionale Wettbewerbsrecht den auf einen Vertragsschluss mit dem marktmächtigen Unternehmen angewiesenen Akteuren die Ausübung ihrer Vertragsfreiheit.197 b) Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit Den gleichmäßigen Zugang zum gemeinsamen Binnenmarkt soll insbesondere das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit gemäß Art. 18 AEUV sowie dessen spezielle Ausprägung in den Verkehrsfreiheiten sichern.198 Der Einfluss dieser Diskriminierungsverbote auf Rechtsbeziehungen zwischen Privaten und die damit verbundene Frage, inwieweit Zurücksetzungen aufgrund der Staatsangehörigkeit in vertraglichen Schuldverhältnissen sanktioniert werden müssen, ist noch nicht abschließend durch den EuGH geklärt.199 Anerkannt sind Privatrechtswirkungen bei einem „Machtgefälle“ zwischen dem Diskriminierenden und dem Betroffenen, wie es etwa im VerStatt aller Immenga / Mestmäcker / Zimmer (2012), Art. 101 AEUV Rn. 246 ff. Siehe nur Immenga / Mestmäcker / Fuchs / Möschl (2012), Art. 102 AEUV Rn. 377 und vgl. etwa EuGH Urt. v. 13.2.1979 – Rs. 85/76 (Hoffmann-La Roche / Kommission), Slg. 1979, 461 Rn. 90; EuGH Urt. v. 15.3.2007 – Rs. C-95/04 P (British Airways / Kommission), Slg. 2007, I-2331 Rn. 142 ff. 197 Siehe zu diesen Fallgruppen statt vieler Immenga / Mestmäcker / Fuchs / Möschl (2012), Art. 102 AEUV Rn. 305 ff.; Langen / Bunte / Bulst (2014), Art. 102 AEUV Rn. 248 ff., 263 ff. und 303 ff. 198 Basedow, ZEuP 2008, 230, 234 f. Vgl. auch z. B. EuGH Urt. v. 5.12.1989 – Rs. 3/88 (Kommission / Italien), Slg. 1989, 4035 Rn. 8. 199 Auf einen umfassenden Einfluss des Art. 18 AEUV in privatrechtlichen Beziehungen deutet EuGH Urt. v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 (Angonese), Slg. 2000, I-4139 Rn 35 f. sowie EuGH Urt. v. 17.7.2008 – Rs. C-94/07 (Raccanelli), Slg. 2008, I-5939 Rn. 45 hin. In diesem Sinne z. B. auch W.-H. Roth, FS Everling II (1995), S. 1231, 1245 f. und Grabitz /  Hilf / Nettesheim / v. Bogdandy (2014), Art. 18 AEUV Rn. 28. Zurückhaltend dagegen z. B. Rossi, EuR 2000, 197, 216 f. 195 196

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hältnis von Sportverbänden zu Einzelsportlern,200 aber auch zwischen einer privatrechtlich organisierten Zertifizierungsgesellschaft und einem auf die Produktzertifizierung angewiesenen Unternehmen bestehen mag.201 Darüber hinaus hat der EuGH angedeutet, das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit auf „alle Verträge zwischen Privatpersonen“202 und insbesondere auf Individualarbeitsverträge erstrecken zu wollen.203 2. Dienstleistungsrichtlinie Im Anwendungsbereich der Dienstleistungsrichtlinie trägt zudem deren Art. 20 Abs. 2 das Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit unmittelbar in privatrechtliche Verträge hinein.204 So untersagt Art. 20 Abs. 2 Dienstleistungsrichtlinie an der Staatsangehörigkeit oder dem Wohnsitz eines Dienstleistungsempfängers ansetzende diskriminierende Bestimmungen in „allgemeinen Bedingungen für den Zugang zu einer Dienstleistung“.205 Ein Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit stellt im Finanzdienstleistungsvertragsrecht Art. 15 Zahlungskontenrichtlinie mit Blick auf den Abschluss von Kontoverträgen auf. Z. B. EuGH Urt. v. 12.12.1974 – Rs. 36/74 (Walrave), Slg. 1974, 1405 Rn. 16 ff.; EuGH Urt. v. 14.7.1976 – Rs. 13/76 (Donà), Slg. 1976, 1333 Rn. 17 ff.; EuGH Urt. v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4921 Rn. 82; EuGH Urt. v. 11.4.2000 – verb. Rs. C-51/96 u. a. (Deliège), Slg. 2000, I-2549 Rn. 47; EuGH Urt. v. 13.4.2000 – Rs. C-176/96 (Lehtonen), Slg. 2000, I-2681 Rn. 35. Dazu statt vieler Streinz / ders. (2012), Art. 18 AEUV Rn. 43; Calliess / Ruffert / Epiney (2016), Art. 18 AEUV Rn. 40. Auch BVerfG Beschl. v. 19.7.2016 – Az. 2 BvR 470/08, NJW 2016, 3153, 3156 erstreckt das binnenmarktbezogene Diskriminierungsverbot aus Art. 56 AEUV auf privatrechtliche Verträge und erblickt hierin ein Verbotsgesetz im Sinne des § 134 BGB. Allerdings betraf die vom BVerfG entschiedene Fallgestaltung eine Preisdiskriminierung durch ein in privatrechtlicher Rechtsform von einer deutschen Gemeinde betriebenes Freizeitbad, das für Badegäste aus anderen EU-Mitgliedstaaten höhere Eintrittspreise verlangte. Vgl. auch MünchKommBGB / Armbrüster (2015), § 134 BGB Rn. 37. 201 EuGH Urt. v. 12.7.2012 – Rs. C-171/11 (Fra.bo), EU:C:2012:453 Rn. 32. 202 EuGH Urt. v. 17.7.2008 – Rs. C-94/07 (Raccanelli), Slg. 2008, I-5939 Rn. 45. In der Tat hat bereits EuGH Urt. v. 13.12.1984 – Rs. 251/83 (Haug-Adrion), Slg. 1984, 4277 Rn. 6 und 18 die einem Versicherungsvertrag zugrunde liegenden Allgemeinen Versicherungsbedingungen im Ergebnis an Art. 18 AEUV gemessen. Hierbei ist freilich zu beachten, dass zum Zeitpunkt dieser Entscheidung solche Versicherungsbedingungen noch der aufsichtsbehördlichen Vorabgenehmigung bedurften. 203 EuGH Urt. v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 (Angonese), Slg. 2000, I-4139 Rn 35 f.; EuGH Urt. v. 17.7.2008 – Rs. C-94/07 (Raccanelli), Slg. 2008, I-5939 Rn. 45. 204 Art. 2 Abs. 2 Dienstleistungsrichtlinie enthält eine umfangreiche Ausnahmeregelung, die beispielsweise Finanzdienstleistungen vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausschließt. Hingegen betrifft der – weitaus umfangreichere – Ausnahmekatalog in Art. 17 und Art. 18 Dienstleistungsrichtlinie nur die Dienstleister, nicht aber die Dienstleisungsempfänger, deren Schutz das Diskriminierungsverbot in Art. 20 Abs. 2 dient. Vgl. aber auch Erwägungsgrund Nr. 95 Dienstleistungsrichtlinie. 200

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3. Konvergenz der Diskriminierungsverbote im Bereich der Staatsangehörigkeit? Soweit unionale Sekundärrechtsakte oder aber Art. 18 AEUV und die Verkehrsfreiheiten Diskriminierungen im Interesse des Binnenmarktziels auch in privatrechtlichen Verträgen untersagen, wird hierdurch zumindest reflexhaft die Vertragsfreiheit derjenigen Marktbürger materialisiert, die sonst aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit keine oder nur ihnen unvorteilhaftere Verträge schließen könnten. Neben diese binnenmarktbezogenen treten dann zwangsläufig206 auch individualrechtliche Materialisierungsinstrumente: Zum einen ist das Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit nunmehr als Unionsgrundrecht in Art. 21 Abs. 2 GRCh verankert. Zum anderen kann die ebenfalls als Grundrecht verbürgte unionale Vertragsfreiheit ihrerseits eine Materialisierung der Vertragsfreiheit der von Diskriminierungen betroffenen Personen gebieten.207 Im Anwendungsbereich des Unionsrechts mögen damit sowohl aus Art. 21 Abs. 2 GRCh als auch aus der unionalen Vertragsfreiheit grundrechtliche Schutzpflichten folgen, die von allen Stellen der EU und ihrer Mitgliedstaaten auch in vertraglichen Rechtsverhältnissen zwischen Privaten zu beachten sind.208 Im Interesse der Einheit und Kohärenz der Unionsrechtsordnung sollte diese Privatrechtswirkung der Unionsgrundrechte mit denen des Art. 18 AEUV sowie mit den grundfreiheitlichen Diskriminierungsverboten synchronisiert werden.209 Insofern spricht viel dafür, dass das binnenmarktbezogene DiskriAuch Erwägungsgrund Nr. 17 lässt sich dahingehend verstehen, dass individuelle Zurückweisungen grundsätzlich möglich, in den AGB enthaltene Ausschlüsse (z. B. „Kein Verkauf an Angehörige anderer EU-Staaten“) jedoch wegen Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot unbeachtlich sind: „In bestimmten Fällen sind etwaige Unterschiede bei der Behandlung von Kunden durch die Anwendung allgemeiner Geschäftsbedingungen für den Zugang, einschließlich der vollständigen Verweigerung des Verkaufs von Waren oder der Erbringung von Dienstleistungen aufgrund der Staatsangehörigkeit, des Wohnsitzes oder des Ortes der Niederlassung des Kunden nicht objektiv zu rechtfertigen. In diesen Fällen sollten solche Diskriminierungen ausnahmslos untersagt werden und die Kunden sollten daher nach den spezifischen Bedingungen, die in dieser Verordnung festgelegt sind, berechtigt sein, unter denselben Bedingungen wie ein einheimischer Kunde Handelsgeschäfte zu tätigen, und ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit und ihres Wohnsitzes oder des Ortes der Niederlassung uneingeschränkten und gleichberechtigten Zugang zu allen angebotenen Waren und Dienstleistungen haben“. 206 Wo z. B. die Dienstleistungsrichtlinie oder das primärrechtliche Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit nach Art. 18 AEUV Platz greift, ist immer zugleich der Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte eröffnet, siehe erneut oben Kapitel 2 § 3 B II. 207 Vgl. wiederum oben § 1 B II. 208 Siehe oben oben § 1 B II. 209 Eine solche Annäherung der grundfreiheitlichen Gewährleistungen einerseits und des Schutzbereichs des Unionsgrundrechts des Art. 16 GRCh andererseits befürwortet auch 205

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minierungsverbot aufgrund der Staatsangehörigkeit ebenfalls nicht direkt, sondern nur mittelbar über Schutzpflichten in vertragliche Beziehungen zwischen Privaten hineinwirkt.210 II. Gesellschaftspolitische Diskriminierungsverbote Gesellschaftspolitische Diskrimimierungsverbote sollen den Trägern geschützter Merkmale werthaltige Selbstbestimmungschancen durch das Instrument des Vertrags eröffnen, indem die Verweigerung von Vertragsschlüssen ebenso wie die Ungleichbehandlung bei den Vertragskonditionen sanktioniert wird.211 Bei diesen Diskriminierungsverboten steht nicht die Verwirklichung des Binnenmarktes mit unverfäschtem Wettbewerb, sondern die Durchsetzung der durch das unionale „Sozialmodell“ geprägten ordnungspolitischen Ziele im Vordergrund.212 Zugleich besteht hier eine unmittelbare Verbindungslinie zur unionalen Vertragsfreiheit: Nach der Rechtsprechung des EuGH bezwecken die gesellschaftspolitischen Diskriminierungsverbote im schuldvertraglichen Kontext nämlich die „Schaffung tatsächlicher Chancengleichheit“.213 Mit den Diskriminierungsverboten reagiert der Unionsgesetzgeber folglich darauf, dass die Träger bestimmter Merkmale – zumindest bei typisierender Betrachtung – ihre Vertragsfreiheit im Rahmen des prozeduralen Funktionsmodells nicht in gleicher Weise entfalten können, weil ihnen der Vertragsschluss entweder der EuGH: So ist z. B. laut EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-390/12 (Pfleger), EU:C:2014: 281 Rn. 58 ff. „eine nicht gerechtfertigte oder im Hinblick auf den in Art. 56 AEUV verankerten freien Dienstleistungsverkehr unverhältnismäßige Einschränkung auch nicht nach Art. 52 Abs. 1 der Charta in Bezug auf deren Art. 15 bis 17 zulässig“. 210 Dafür bereits Rossi, EuR 2000, 197, 217. Siehe auch Canaris, in: Bauer / Cybulka /  Kahl u. a. (Hrsg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht (2002), S. 29, 37 ff. und 54 ff.; Frenz, Handbuch Europarecht I: Europäische Grundfreiheiten (2004), Rn. 342 ff.; Dauses / W.-H. Roth, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts (2014), E. I. Rn. 30. 211 So mit Blick auf die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG z. B. GA Poiares Maduro Schlussanträge v. 31.8.2008 – Rs. C-303/06 (Coleman), Slg. 2008, I-5603 Rn. 9 und 11: „Ein wesentlicher […] Wert ist die Selbstbestimmung […]. Die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts setzt voraus, dass man eine Reihe von wertvollen Wahlmöglichkeiten hat, aus denen man aussuchen kann […]. Indem der Diskriminierende Menschen […] wegen ihrer Merkmale schlechter behandelt, hindert er sie daran, ihr Selbstbestimmungsrecht auszuüben. An diesem Punkt ist ein Einschreiten durch Antidiskriminierungsvorschriften gerecht und vernünftig“. Gleichsinnig GA Sharpston Schlussanträge v. 22.5.2008 – Rs. C-427/06 (Bartsch), Slg. 2008, I-7425 Rn. 98, die zudem explizit auf die „Bedeutung der Entscheidungsfreiheit für die Selbstbestimmung“ verweist (dort in Fn. 90). 212 Basedow, ZEuP 2008, 230, 236. 213 Siehe aus der ständigen Rechtsprechung nur EuGH Urt. v. 2.8.1993 – Rs. C-271/91 (Marshall), Slg. 1993, I-4367 Rn. 24; EuGH Urt. v. 11.10.2007 – Rs. C-460/06 (Paquay), Slg. 2007, I-8511 Rn. 45; EuGH Urt. v. 17.12.2015 – Rs. C-407/14 (Arjona Camacho), EU:C:2015:831 Rn. 31 und 33.

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gänzlich verweigert oder nur zu ungünstigeren Konditionen ermöglicht wird. Durch die Diskriminierungsverbote soll den Merkmalsträgern nun im Rahmen des Vertragsmechanismus sowohl rechtlich als auch tatsächlich die gleiche Chance eröffnet werden, im Rahmen eines zum Vertragsschluss führenden Verfahrens alle zum Kernbereich zählenden Facetten ihrer Vertragsfreiheit auszuüben.214 Primärrechtlich sind gesellschaftspolitische Diskriminierungsverbote in Art. 157 AEUV sowie in Art. 21 und Art. 23 GRCh verankert.215 Vor allem trägt das unionale Sekundärrecht diverse solcher Diskriminierungsverbote in privatrechtliche Rechtsverhältnisse hinein. Im allgemeinen Schuldvertragsrecht zählen die „Rasse“ und die „ethnische Herkunft“216 sowie das „Geschlecht“217 zu den geschützten Merkmalen. Im Arbeitsrecht treten „Religion“, „Weltanschauung“, „Behinderung“, „Alter“ und „sexuelle Ausrichtung“ zu den vorgenannten Kriterien hinzu.218 Zudem existiert im Bereich der selbstständigen Erwerbstätigkeit ebenfalls ein Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts.219 Das wohl umfangreichste zivilrechtliche Diskriminierungsverbot stellt das unionale Sekundärrecht in Art. 15 Zahlungskontenrichtlinie auf: Dort wird eine Diskriminierung bei Zugang zu einem 214 Vgl. zu diesen unionsgrundrechtlichen Anforderungen an die Verwirklichung der unionalen Vertragsfreiheit wiederum nur EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (AlemoHerron), EU:C:2013:521 Rn. 33 f.; EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 68; EuGH Urt. v. 27.4.2017 – Rs. C-680/15 u.a. (Asklepios Kliniken u.a.), EU:C:2017:317 Rn. 23. Zu Recht untersucht auch Grünberger, Personale Gleichheit (2013), S. 936 ff. das „Gleichbehandlungsrecht als Ausdruck der Materialisierung“, wenngleich er hinter diese Aussage zum einen ein Fragezeichen setzt und zum anderen die Vertragsfreiheit nicht als Bezugspunkt der Materialisierung begreift. Vielmehr spricht Grünberger von einer „materialen Gleichbehandlungskonzeption“, die als Ergänzung der „formalen Privatautonomie“ fungiere (S. 941). 215 Bemerkenswerterweise schließt z. B. BGH Urt. v. 9.3.2016 – Az. IV ZR 168/15, NZA-RR 2016, 315, 318 die Privatrechtswirksamkeit solcher primärechtlichen Diskriminierungsverbote nicht von vornherein aus, sondern lehnt solche Wirkungen im versicherungsvertraglichen Kontext auf der Rechtfertigungsebene ab: „Ein Verstoß gegen ein Diskriminierungsverbot aus […] Art. 21 GRCh iVm Art. 6 Abs. 1 EUV […] sowie aus allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts […] scheidet gleichfalls aus. Ist – wie hier – eine ungleiche Behandlung nach den Kriterien des Art. 6 Abs. 1 der RL 2000/78/EG gerechtfertigt, verstößt sie auch nicht gegen andere gemeinschaftsrechtliche Diskriminierungsverbote“. 216 Vgl. Art. 3 Gleichbehandlungsrichtlinie 2000/43/EG. 217 Vgl. Art. 4 Unisexrichtlinie 2004/113/EG. 218 Vgl. Art. 1 ff. Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG. Diskriminierungen aufgrund der „Rasse“ und der „ethnischen Herkunft“ werden durch die Gleichbehandlungsrichtlinie 2000/43/EG, und solche aufgrund des „Geschlechts“ wiederum durch die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG sowie durch die Arbeitnehmergleichbehandlungsrichtlinie 2006/54/EG verboten. 219 Vgl. Art. 1 ff. Selbstständigengleichbehandlungsrichtlinie 2010/41/EU.

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Zahlungskonto unter anderem aufgrund aller – sechzehn – in Art. 21 GRCh genannten Merkmale untersagt. Die gesellschaftspolitischen Diskriminierungsverbote sollen in ihrem jeweiligen Anwendungsfeld laut Generalanwalt Poiares Maduro verhindern, „dass Menschen in Bereichen, die für ihr Leben von grundlegender Bedeutung sind, […] dadurch wertvolle Wahlmöglichkeiten genommen werden […], dass auf fragwürdige Kategorien abgestellt wird“.220

Damit dienen diese Diskriminierungsverbote der Materialisierung der Vertragsfreiheit der potenziell von Benachteiligungen Betroffenen: Die geschützten Merkmale werden als Unterscheidungskriterien aus dem Zivilrechtsverkehr verbannt, wodurch den Merkmalsträgern ein breiteres Spektrum von Selbstbestimmungsmöglichkeiten eröffnet wird.221 Diese gesellschaftspolitischen Materialisierungsinstrumente erfassen dabei das Verbrauchervertragsrecht ebenso wie das Finanzdienstleistungs- und das Wirtschaftsvertragsrecht.222 III. Binnenmarkt- und wettbewerbsbezogene Kontrahierungszwänge Unter engen Voraussetzungen verpflichtet das unionale Wettbewerbsrecht marktbeherrschende Unternehmen, in vertragliche Rechtsverhältnisse einzutreten und bereits bestehende Vertragsbeziehungen aufrechtzuerhalten.223 „Kartellrechtliche Geschäftsaufnahme- bzw. Geschäftsfortführungspflichten“ bestehen regelmäßig nur zugunsten von Marktakteuren, die nicht auf andere Anbieter ausweichen können und somit vom Vertragsschluss mit dem Marktbeherrscher abhängig sind.224 Ein Kontrahierungszwang kann aus Art. 102 AEUV daher beispielsweise zulasten des Inhabers standardessenzieller Patente 220 Siehe zur Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG nur GA Poiares Maduro Schlussanträge v. 31.8.2008 – Rs. C-303/06 (Coleman), Slg. 2008, I-5603 Rn. 11. Vgl. zu solchen „valuable choices“ auch Collins, The Law of Contract (1993), S. 105. 221 Deutlich wiederum GA Poiares Maduro Schlussanträge v. 31.8.2008 – Rs. C303/06 (Coleman), Slg. 2008, I-5603 Rn. 9 und 11. Eine aus der (unionalen) Vertragsfreiheit des Diskriminierten folgende hoheitliche Schutzpflicht bejaht auch Däubler /  Bertzbach/Deinert (2013), § 21 AGG Rn. 81. Ähnlich Neuner, JZ 2003, 57, 63 f. 222 So sind z. B. rassistische Diskriminierung betreffend „den Zugang zu und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen“, nach Art. 3 Abs. 1 lit. h Gleichbehandlungsrichtlinie 2000/43/EG unterschiedslos in allen Schuldverträgen verboten. Vgl. zum Diskriminierungsschutz speziell im Finanzdienstleistungsvertragsrecht neben Art. 15 Zahlungskontenrichtlinie nur EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 (Test-Achats), Slg. 2011, I-773 Rn. 30 ff. Vgl. zur „Beseitigung des Ungleichgewichts zwischen den Geschlechtern im Unternehmertum“ sowie bei selbstständigen Tätigkeiten nur Erwägungsgrund Nr. 6 Selbstständigengleichbehandlungsrichtlinie 2010/41/EU. 223 Siehe zu den einzelnen Anforderungen und Fallgruppen nur Immenga / Mestmäcker /  Fuchs / Möschel (2012), Art. 102 AEUV Rn. 305 ff. 224 Immenga / Mestmäcker / Fuchs / Möschel (2012), Art. 102 AEUV Rn. 305 f.

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folgen: Letzterer wird im Interesse eines funktionierenden Wettbewerbs gezwungen, einen Lizenzvertrag zu FRAND-Bedingungen225 mit interessierten Akteuren zu schließen.226 Im Lichte der unionalen Vertragsfreiheit des Verpflichteten stellt das Unionsrecht solche Kontrahierungszwänge nur in Fällen auf, in denen nach der Berücksichtigung des legitimen Geschäftsinteresses des marktbeherrschenden Unternehmens das Interesse an der Aufrechterhaltung eines freien, wirksamen und unverfälschten Wettbewerbs überwiegt. 227 Hinzu treten sektorspezifische Zugangsansprüche, die ein natürliches Monopol oder eine vergleichbare Stellung, etwa im Bereich der Energie-, Telekommunikations- und Eisenbahninfrastruktur, zum Ausgangspunkt nehmen. Während diese Ansprüche auf Netzzugang in erster Linie der Marktöffnung dienen, laufen sie zugleich auf eine Pflicht zum Vertragsschluss hinaus: Gerade unter Berücksichtigung des effet utile des Unionsrechts ist z. B. aus den Zugangsrechten nach Art. 10 Eisenbahnraumrichtlinie, Art. 32 Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie, Art. 32 ff. Erdgasbinnenmarktrichtlinie und Art. 4 Abs. 2 Genehmigungsrichtlinie228 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 S. 2 Zugangsrichtlinie229 sowie aus Art. 3 Roamingverordnung jeweils ein privatrechtlicher Kontrahierungszwang abzuleiten.230 225 Siehe zur Bedeutung der sogenannten FRAND-Verpflichtung (fair, reasonable and non-discriminatory) bereits oben Kapitel 2 § 1 B II 1. 226 Laut EuGH Urt. v. 16.7.2015 – Rs. C-170/13 (Huawei Technologies), EU:C:2015: 477 Rn. 53 ff. „kann eine Weigerung des Inhabers des SEP, eine Lizenz zu diesen Bedingungen zu erteilen, grundsätzlich einen Missbrauch im Sinne von Art. 102 AEUV darstellen“. Siehe zu weiteren Fallgruppen Immenga / Mestmäcker / Fuchs / Möschl (2012), Art. 102 AEUV Rn. 320 ff. 227 Vgl. zu dieser Abwägung nur EuGH Urt. v. 3.10.1985 – Rs. 311/84 (Télémarketing), Slg. 1985, 3261 Rn. 25 ff. Siehe auch Immenga / Mestmäcker / Fuchs / Möschl (2012), Art. 102 AEUV Rn. 305 ff. 228 Richtlinie 2002/20/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. März 2002 über die Genehmigung elektronischer Kommunikationsnetze und -dienste (Genehmigungsrichtlinie), ABl. 2002 L 108/21. 229 Richtlinie 2002/19/EG vom 7.3.2002 über den Zugang zu elektronischen Kommunikationsnetzen und zugehörigen Einrichtungen (Zugangsrichtlinie), ABl. 2002 L 108/7. 230 Vgl. schon Basedow, ZHR 170 (2006), 178, 189. So mit Blick auf die Zugangsrichtlinie nun auch ausdrücklich GA Ruiz-Jarabo Colomer Schlussanträge v. 14.5.2009 – Rs. C-192/08 (TeliaSonera), EU:C:2009:309 Rn. 103 ff. Der Netzbetreiber könnte den Marktzutritt den Vertragsschluss- und Netzöffnungspflichten zum Trotz durch überzogene Preise faktisch vereiteln. Die Zugangskonditionen werden deshalb ebenfalls reguliert, siehe zum Ganzen Basedow, ZHR 170 (2006), 178, 181 und 185 ff. Vgl. auch Immenga /  Mestmäcker / Fuchs / Möschl (2012), Art. 102 AEUV Rn. 392 ff. Erwähnung verdient schließlich – neben den bereits existierenden Regelungen im Postsektor – auch der Anspruch auf grenzüberschreitenden Zugang zur Infrastruktur von Paketzustelldiensten nach Art. 6 des Vorschlags des Europäischen Kommission v. 25.5.2016 für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über grenzüberschreitende Paketzustelldienste, KOM(2016) 285 endg.

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IV. Gesellschaftspolitische Kontrahierungszwänge Im Unionsrecht existieren ferner bereichsspezifische Kontrahierungszwänge, welche die Vertragsbegründungsfreiheit all jener Parteien aufrechterhalten sollen, die andernfalls ihre Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit nicht oder nicht in demselben Umfang ausüben könnten. Anders als die gesellschaftspolitisch motivierten Diskriminierungsverbote231 betreffen diese Kontrahierungszwänge in der Regel nur Verträge, die für die Lebensführung von zentraler Bedeutung sind. Beispielsweise können Energieversorgungsunternehmen gemäß Art. 3 Abs. 3 S. 2 Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie und Art. 3 Abs. 3 Erdgasbinnenmarktrichtlinie verpflichtet werden, mit jedem Endkunden zu kontrahieren. Ebenso sehen Art. 4 und Art. 20 Abs. 1 Universaldienstrichtlinie vor, dass alle Endnutzer „die dies verlangen […], Anspruch auf einen Vertrag“ mit einem Unternehmen haben, das Kommunikationsdienstleistungen öffentlich anbietet. Die vorgenannten Regelungen materialisieren hierdurch die Vertrags(abschluss)freiheit sozial schwacher Vertragsprätendenten und ermöglichen ihnen den Zugang zu Energieversorgungs- und Telekommunikationsverträgen. Soweit diese Pflicht zum Vertragsschluss reicht, dürfen die betroffenen Unternehmen ihre negative Partnerwahl- und Abschlussfreiheit nicht mehr an kaufmännischen Kriterien, wie etwa der Bonität des Geschäftspartners, ausrichten. Besonders einschneidend fällt in diesem Punkt der gesellschafts231 Inwieweit aus den in Deutschland im AGG umgesetzten allgemeinen gesellschaftspolitischen Diskriminierungsverboten ein Kontrahierungszwang folgt, ist umstritten, befürwortend etwa Bruns, JZ 2007, 385, 388 f.; Thüsing / v. Hoff, NJW 2007, 21, 22 ff. Ablehnend dagegen z. B. Busche, in: Leible / Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht (2006), S. 159, 174 f; Armbrüster, NJW 2007, 1494, 1497. In dieser Debatte wird zumeist übergangen, dass aus Sicht des Unionsrechts jedenfalls in allen Bereichen, in denen das mitgliedstaatliche Recht einen Kontrahierungszwang infolge diskriminierender Vertragsverweigerung vorsieht, aufgrund des in Art. 4 Abs. 3 EUV wurzelnden saktionsrechtlichen Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatzes auch Verstöße gegen die gesellschaftspolitischen Diskriminierungsverbote des Unionsrechts einen solchen Vertragsschlusszwang nach sich ziehen müssen, vgl. zuletzt nur EuGH Urt. v. 27.3.2014 – Rs. C-565/12 (Crédit Lyonnais), EU:C:2014:190 Rn. 44, wo der Gerichtshof allgemein herausstellt, dass die Mitgliedstaaten gewährleisten müssen, „dass Verstöße gegen das Unionsrecht nach materiellen […] Regeln geahndet werden, die denjenigen ähneln, die bei nach Art und Schwere gleichartigen Verstößen gegen das nationale Recht gelten, und jedenfalls der Sanktion einen wirksamen, verhältnismäßigen und abschreckenden Charakter verleihen“. Soweit also z. B. nach deutschem Recht ein Kontrahierungszwang nach § 826 BGB bei rassistischen Diskriminierungen anerkannt wird, muss dies auch für den Verstoß gegen unionsrechtliche Diskriminierungsverbote gelten, vgl. MünchKommBGB / Wagner (2013), § 826 BGB Rn. 156 f.; Staudinger /  Bork (2015), Vor §§ 145 BGB Rn. 24. Darüber hinaus mag ein Kontrahierungszwang im Einzelfall durch den unionalen Effektivitätsgrundsatz vorgegeben sein, wenn dem diskriminierten Vertragsprätendenten kein anderer Vertragspartner zur Verfügung steht: Hier kann die Diskriminierung nur durch den Vertragsschluss „wirksam“ beseitigt werden.

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politisch motivierte Kontrahierungszwang in der Zahlungskontenrichtlinie aus: Art. 16 der Richtlinie fordert, dass alle Nachfrager mit rechtmäßigem Aufenthalt in der Union „das Recht haben, ein Zahlungskonto […] zu eröffnen und zu nutzen“, soweit dieses Konto „ad personam geführ[t]“ wird.232 Gemäß Art. 15 Zahlungskontenrichtlinie dürfen die Nachfrager bei der Anbahnung und Durchführung eines Zahlungskontovertrages nicht aufgrund eines der in Art. 21 GRCh genannten Merkmale diskriminiert werden. Zu diesen Kriterien zählt neben der „sozialen Herkunft“ auch das „Vermögen“. Entsprechend sind die betroffenen Kreditinstitute verpflichtet, selbst mit zahlungsunfähigen Personen zu kontrahieren, wobei die damit verbundenen Risiken nicht ohne weiteres durch höhere – und damit „diskriminierende“ – Kontoentgelte eingepreist werden dürfen.233 Während es beim derzeitigen Stand kein im unionalen Sozialmodell wurzelndes „allgemeines Verbot gibt, potenzielle Vertragspartner wegen ihres (geringen) Einkommens zu diskriminieren“,234 existieren durchaus bereichsspezifische Kontrahierungszwänge und gesellschaftspolitische Diskriminierungsverbote, welche die Vertragsfreiheit ökonomisch schwächerer Parteien materialisieren und dadurch zugleich die rechtsgeschäftliche Privatautonomie der Anbieter empfindlich verkürzen.235 D. Klauselkontrolle Indem allgemeine Geschäftsbedingungen für alle Transaktionen gleichförmige Vertragsinhalte schaffen, rationalisieren sie die Geschäftsabwicklung und senken die Kosten des Verwenders.236 Indes droht bei einem unter Einbeziehung solcher Klauseln geschlossenen Vertrag „[t]rotz rechtlicher Selbstbe232 Während der Kontrahierungszwang primär zugunsten von Verbrauchern Platz greift, folgt aus Erwägungsgrund Nr. 12 Zahlungskontenrichtlinie, dass auch „Konten, deren Inhaber Unternehmen, einschließlich Klein- und Kleinstunternehmen sind […], in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallen“, wenn es „sich um ad personam geführte Konten“ handelt (Herv. d. Verf.). Siehe zum Anwendungsbereich der deutschen Umsetzungsregelung in § 31 des Gesetzes über die Vergleichbarkeit von Zahlungskontoentgelten, den Wechsel von Zahlungskonten sowie den Zugang zu Zahlungskonten mit grundlegenden Funktionen (Zahlungskontengesetz – ZKG), BGBl. I 2016, S. 720, statt vieler Gondert / Huneke, VuR 2016, 323. 233 Siehe zu den nach Art. 16 Zahlungskontenrichtlinie nach §§ 34 f. und §§ 35 ff. sowie § 42 ZKG zulässigen Ausnahme-, Ablehnungs- und Kündigungstatbeständen nur Gondert / Huneke, VuR 2016, 323, 330 ff. 234 Rott, JZ 2014, 358, 360, der allerdings in Zukunft mit einer solchen Regelung zu rechnen scheint („bislang kein allgemeines Verbot“). 235 Siehe zu den durch die unionale Vertragsfreiheit gesteckten Grenzen solcher Materialisierungsinstrumente noch eingehend unten Kapitel 7 § 1. 236 Statt vieler Hellwege, in: BasedowHopt / Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009), S. 28, 29; MünchKommBGB / Basedow (2016), Vor § 305 BGB Rn. 2.

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stimmung“ beider Vertragsparteien „faktische Fremdbestimmung durch den Verwender der AGB“.237 Nach dem markt- und wettbewerbsgestützten Funktionsmodell der unionalen Vertragsfreiheit führt allerdings weder das einseitige Stellen oder das fehlende Aushandeln der Vertragsbedingungen noch eine etwaig „überlegene Verhandlungsmacht“ des AGB-Verwenders automatisch dazu, dass der Verbraucher ohne jeden Einfluss auf die Vertragsbedingungen bleibt, während der Verwender die Freiheit zur Gestaltung des Vertragsinhalts faktisch allein für sich in Anspruch nimmt.238 Statt die Vertragsinhaltsfreiheit im Dialog mit einem Vertragspartner so lange zu betätigen, bis der gewünschte Vertragsinhalt erzielt ist, kann ein aus Sicht des Unionsrechts äquivalentes Ergebnis schließlich auch dadurch erreicht werden, dass unter verschiedenen möglichen Vertragspartnern derjenige ausgewählt wird, der den gesuchten Vertragsinhalt am Markt anbietet.239 Anders gewendet kann der Verbraucher also grundsätzlich auf andere Angebote ausweichen. Dank der Kräfte des Marktes und des freien Wettbewerbs wird dadurch ohne Verhandlungen über die Vertragskonditionen und sogar ohne, dass Letztere überhaupt zur Disposition gestellt werden müssten, die Vertragsfreiheit als Abschluss-, Vertragspartnerwahl- und insbesondere auch als Inhaltsfreiheit betätigt. Der Konditionenwettbewerb als zentrales Element dieses Funktionsmodells kann sich aber nur entfalten, soweit die durch einen Vertragsteil angebotenen Vertragsinhalte von der anderen Partei zur Kenntnis genommen und bei der Entscheidung für oder wider den Vertragsschluss berücksichtigt werden. Wo bestimmte Vertragsinhalte von vornherein nicht am Wettbewerb teilhaben oder aber intransparent gestaltet werden, versagt dieser Mechanismus, und die Entfaltung der unionalen Vertrags(inhalts)freiheit ist potenziell bedroht. Dieser Gefahr begegnen die Inhalts- (I) sowie die Transparenzkontrolle (II), indem sie bestimmte Defizite des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus zu kompensieren suchen. I.

Inhaltskontrolle

Ein unter Verwendung von AGB geschlossener Vertrag beruht auf der Inanspruchnahme rechtlich und damit formal gleicher Vertragsfreiheit der VerCanaris, AcP 200 (2000), 273, 321. Dennoch hebt der EuGH Urt. v. 14.6.2012 – Rs. C-618/10 (Banco Español de Crédito), EU:C:2012:349 Rn. 39 in ständiger Rechtsprechung unter anderem darauf ab, „dass der Verbraucher sich gegenüber dem Gewerbetreibenden in einer schwächeren Verhandlungsposition befindet“. Vgl. auch Erwägungsgrund Nr. 9 Klauselrichtlinie („Machtmißbrauch des Verkäufers oder des Dienstleistungserbringers“). Siehe für einen Überblick über die unterschiedlichen Ansätze zur Rechtfertigung der Klauselkontrolle nur Fornasier, Freier Markt und zwingendes Vertragsrecht (2013), S. 147 ff. 239 Siehe zum markt- und wettbewerbsgestützten Funktionsmodell der unionalen Vertragsfreiheit erneut oben Kapitel 3 § 3. 237 238

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tragsparteien: Schließlich erzielen der Verwender und der Verbraucher auch hier Konsens über das sie verbindende rechtsgeschäftliche Band. Doch nur weil der in diesem Modus geschlossene Vertrag formal auf einen Akt der Selbstbestimmung rückführbar ist, bedeutet dies noch lange nicht, dass er auch material-inhaltlich Ausdruck der Selbstbestimmung beider Vertragsteile ist. Denn gerade durch das einseitige Stellen der Vertragsklauseln nimmt der AGB-Verwender die Vertragsinhaltsfreiheit faktisch für sich allein in Anspruch.240 Die Inhaltskontrolle wehrt daher unter dem Gesichtspunkt der negativen Vertragsfreiheit bestimmte Klauseln ab (1). Hierdurch werden zugleich die durch den Verbraucher ursprünglich angestrebten Vertragsinhalte und insbesondere das Äquivalenzverhältnis erhalten. Insoweit materialisiert die Inhaltskontrolle auch die positive Vertragsfreiheit (2). 1. Materialisierung negativer Vertragsfreiheit Bereits in den Vorarbeiten zur Klauselrichtlinie wird der AGB-Kontrolle die Aufgabe zugewiesen, einen „Mißbrauch des Grundsatzes der Vertragsfreiheit“ durch den Klauselverwender zu verhindern.241 Einseitig vorformulierte Vertragsklauseln, die andere Aspekte als die Hauptleistung und den Preis betreffen, kann der AGB-Verwender in der Tat nahezu in beliebiger Form stellen, weil rationale Verbraucher bereits nicht motiviert sind, diese Vertragsklauseln überhaupt zur Kenntnis zur nehmen.242 Zum einen schließen Verbraucher regelmäßig nur eine geringe Zahl solcher Verträge, weshalb das Risiko, dass Klauseln, die selten auftretende Ereignisse – wie etwa Gewährleistungs- und Haftungsfälle – betreffen, tatsächlich relevant werden, aus Sicht des Verbrauchers vergleichsweise gering erscheint.243 Zum anderen muss ein Verbraucher, der alle Klauseln detailliert verstehen, bewerten und sodann womöglich im Einzelnen neu aushandeln will, einen Zeit- und Kostenaufwand betreiben, der regelmäßig außer Verhältnis zu dem zu erwartenStatt aller Palandt / Grüneberg (2017), Vor § 305 BGB Rn. 8. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen: Mitteilung der Kommission an den Rat v. 14. Februar 1984 (Dokument auf der Grundlage von Dok. KOM (84) 55 endg.), Bulletin der Europäischen Gemeinschaften Beilage 1/84, S. 5. 242 Dagegen wird der Verbraucher „bezüglich der Hauptleistungen […] durch den Wettbewerb hinreichend geschützt“, so dass transparente Hauptleistungs- und Preisklauseln durch Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie von der Inhaltskontrolle ausgenommen werden können, siehe nur GA Trstenjak Schlussanträge v. 29.10.2009 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 40. Siehe auch Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers (1998), S. 340 f. 243 Statt vieler MünchKommBGB / Basedow (2016), Vor § 305 BGB Rn. 4 ff.; Fornasier, Freier Markt und zwingendes Vertragsrecht (2013), S. 154 ff. sowie 147 ff., die sich dort jeweils – zu Recht – kritisch mit abweichenden Begründungsansätzen der Klauselkontrolle auseinandersetzen. 240 241

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den Nutzen steht.244 Angesichts dieses Motivations- und Informationsgefälles zwischen den Parteien verhält sich der Verbraucher durchaus rational, wenn er den mit der Kenntnisnahme und Bewertung der Klauseln verbundenen Aufwand scheut und sich stattdessen unbesehen den AGB des Verwenders unterwirft.245 Jenseits der Hauptleistung und des Preises findet somit kein Konditionenwettbewerb statt, da kaum ein Verbraucher die Nebenbestimmungen des Vertrags zur Kenntnis nimmt, geschweige denn die Klauseln in konkurrierenden Angeboten am Markt vergleicht.246 Ausgangspunkt des Schutzsystems der Klauselrichtlinie ist daher auch laut EuGH der Umstand, dass der Verbraucher „den vom Gewerbetreibenden vorformulierten Bedingungen zustimmt, ohne auf deren Inhalt Einfluss nehmen zu können“.247 Nach dem zuvor Gesagten gründet die fehlende Einflussmöglichkeit gerade darin, dass rationale Verbraucher sich aufgrund des Motivations- und Informationsgefälles mit Blick auf solche Klauseln weder den Vertragsmechnismus – durch individuelles Aushandeln – noch den Wettbewerbsmechanismus – durch den Vergleich der Konditionen und das Ausweichen auf andere Angebote am Markt – zunutze machen. Soweit das wettbewerbsgestützte formal-prozedurale Funktionsmodell der unionalen Vertragsfreiheit versagt,248 sucht die Klauselrichtlinie die negative Vertragsfreiheit des Verbrauchers dadurch zu schützen, dass im Sinne des Art. 3 Klauselrichtlinie „missbräuchliche“ AGB kassiert werden.249 2. Erhaltung positiver Vertragsinhaltsfreiheit bezüglich des angestrebten Äquivalenzverhältnisses Die Klauselkontrolle bewahrt den Verbraucher vor all jenen klauselförmigen Vertragsbestimmungen, die er angesichts des besonderen Vertragsgestaltungs244 Siehe wiederum nur MünchKommBGB / Basedow (2016), Vor § 305 BGB Rn. 5. Siehe auch Fornasier, Freier Markt und zwingendes Vertragsrecht (2013), S. 73. 245 MünchKommBGB / Basedow (2016), Vor § 305 BGB Rn. 4 f. Siehe auch Fornasier, Freier Markt und zwingendes Vertragsrecht (2013), S. 73 und 154 ff. 246 Statt vieler Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers (1998), S. 340 f.; MünchKommBGB / Basedow (2016), Vor § 305 BGB Rn. 5 f. 247 Siehe aus der ständigen Rechtsprechung nur EuGH Urt. v. 26.10.2006 – Rs. C168/05 (Mostaza Claro), Slg. 2006, I-10421 Rn. 25; EuGH Urt. v. 30.5.2013 – Rs. C488/11 (Brusse), EU:C:2013:341 Rn. 31; EuGH Urt. v. 15.1.2015 – Rs. C-537/13 (Šiba), EU:C:2015:14 Rn. 22. 248 Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers (1998), S. 339 spricht hier daher prägnant vom „Versagen der formalen Privatautonomie“ und auch MünchKommBGB / Basedow (2016), Vor § 305 BGB Rn. 5 betont, dass die Vertragsfreiheit insoweit „nicht funktioniert“. 249 BGH Urt. v. 19.11.2009 – Az. III ZR 108/08, NJW 2010, 1277, 1278 bringt das dahingehend auf den Punkt, dass „zur Sicherung der Vertragsfreiheit Schutz und Abwehr gegen die Inanspruchnahme einseitiger Gestaltungsmacht durch den Verwender zu gewährleisten“ ist. Siehe statt vieler auch G. Wagner, ZEuP 2007, 180, 198 f.

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modus rationalerweise nicht zur Kennntnis nimmt und die ihm über Gebühr nachteilig sind. Neben der Wahrung der negativen Inhaltsfreiheit schöpft die Klauselkontrolle ihre Legitimation gleichermaßen auch aus der positiven Vertragsinhaltsfreiheit des Konsumenten: Schließlich können AGB-Klauseln insbesondere das dem Verbraucher bei Vertragsschluss erkennbare und von ihm inhaltlich explizit gewollte Verhältnis von Haupt- und Gegenleistung aus der Balance bringen. Während der Verbraucher sein Augenmerk typischerweise auf den Preis und die dafür versprochene Hauptleistung richtet,250 können Nebenbestimmungen in AGB beispielsweise den tatsächlich zu entrichtenden Preis in die Höhe treiben oder den Wert der Gegenleistung empfindlich schmälern.251 Indem die Inhaltskontrolle gerade jene Klauseln ausschaltet, bleibt das für den Verbraucher bei Vertragsschluss erkennbare Äquivalenzverhältnis erhalten. Auf diesem Wege wird die positive Vertragsgestaltungsfreiheit des Verbrauchers gewahrt, da dieser nur an den von ihm gewollten Vertragsinhalt gebunden ist. Soweit die Klauselrichtlinie hier darauf zielt, „die formale Ausgewogenheit der Rechte und Pflichten der Vertragsparteien […] durch eine materielle Ausgewogenheit zu ersetzen“,252 geschieht dies also nicht im Namen einer – wie auch immer zu definierenden – „Vertragsgerechtigkeit“, sondern vielmehr im Interesse der Vertragsfreiheit. 3. Unionsrechtlich-autonome und nationale Maßstabbildung Missbräuchliche AGB-Bestimmungen werden im Wege der Inhaltskontrolle kassiert, weil der Verbraucher diese Klauseln einerseits rationalerweise gar nicht zur Kenntnis nimmt und er andererseits nur „übliche“, das Verhältnis von Haupt- und Gegenleistungs nicht über Gebühr beeinträchtigende, Bedingungen in seinen Willen aufnehmen möchte. Dies wirft die Folgefrage auf, 250 Dies betont auch GA Trstenjak Schlussanträge v. 29.10.2009 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 40, wenn sie ausführt, dass im Recht der Klauselkontrolle der Hauptgegenstand des Vertrags und der Preis gerade deshalb gemäß Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie nicht der Inhaltskontrolle unterliegen, weil der Verbraucher seine Aufmerksamkeit auf diese Parameter lenke und deshalb „bezüglich der Hauptleistungen als durch den Wettbewerb hinreichend geschützt angesehen“ werde. 251 Z. B. Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers (1998), S. 339 ff.; Fornasier, Freier Markt und zwingendes Vertragsrecht (2013), S. 73 und 160 f. 252 Dass EuGH Urt. v. 26.10.2006 – Rs. C-168/05 (Mostaza Claro), Slg. 2006, I-10421 Rn. 36 hierbei in der Tat das vertraglich geschaffene Gleichgewicht im Blick hat, wird dabei in anderen Sprachfassungen des Urteils, wie z. B. der französischen, deutlich: „Il s’agit d’une disposition impérative qui, tenant compte de l’infériorité de l’une des parties au contrat, tend à substituer à l’équilibre formel que celui-ci établit entre les droits et obligations des cocontractants un équilibre réel de nature à rétablir l’égalité entre ces derniers“ (Herv. d. Verf.). Siehe aus der ständigen Rechtsprechung ferner nur EuGH Urt. 4.6.2009 – Rs. C-243/08 (Pannon), Slg. 2009, I-4713 Rn. 25; EuGH Urt. v. 9.11.2010 – Rs. C-137/08 (VB Pénzügyi Lízing), Slg. 2010, I-10847 Rn. 47; EuGH Urt. v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 (Aziz), EU:C:2013:164 Rn. 45.

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welcher Prüfungsmaßstab bei der Inhaltskontrolle nach der Klauselrichtlinie zugrundezulegen ist. Der EuGH verfolgt hier bekanntlich keine einheitliche Linie: Während er in Océano Grupo die Missbräuchlichkeit einer Klausel noch selbst geprüft und festgestellt hat, überantwortete er diese Aufgabe seit der Rechtssache Freiburger Kommunalbauten weitgehend den mitgliedstaatlichen Gerichten.253 Dazu passt einerseits, dass der Gerichtshof dem mitgliedstaatlichen Recht eine Leitbildfunktion zuerkennt. Andererseits entwickelt der EuGH allmählich einen autonomen Missbräuchlichkeitsmaßstab, der den mitgliedstaatlichen Gerichten einen unionsrechtlichen Rahmen vorgibt. a) Leitbildfunktion dispositiven Rechts Der EuGH sieht im mitgliedstaatlichen Privatrecht eine bedeutende Leitlinie für die Beurteilung der Missbräuchlichkeit nach Art. 3 Klauselrichtlinie. Namentlich sind laut der Entscheidung in der Rechtssache Aziz „bei der Frage, ob eine Klausel ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner zulasten des Verbrauchers verursacht, insbesondere diejenigen Vorschriften zu berücksichtigen, die im nationalen Recht anwendbar sind, wenn die Parteien in diesem Punkt keine Vereinbarung getroffen haben. Anhand einer solchen vergleichenden Betrachtung kann das nationale Gericht bewerten, ob – und gegebenenfalls inwieweit – der Vertrag für den Verbraucher eine weniger günstige Rechtslage schafft, als sie das geltende nationale Recht vorsieht“.254

Hinter dieser Leitbildfunktion255 steht das Postulat, dass der Gesetzgeber im dispositiven Vertragsrecht „eine ausgewogene Regelung aller Rechte und Pflichten der Parteien bestimmter Verträge getroffen hat“.256 Dies erklärt auch, warum der Unionsgesetzgeber durch Erwägungsgrund Nr. 13 und Art. 1 Abs. 2 Klauselrichtlinie alle Vertragsbedingungen von der Klauselkontrolle ausnimmt, die lediglich den Regelungsgehalt nationaler Rechtsnormen widergeben: Wo die mitgliedstaatlichen Privatrechtsordnungen durch ihr

Vgl. einerseits EuGH Urt. v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 u. a. (Océano Grupo u. a.), Slg. 2000, I-4941 Rn. 24 und andererseits EuGH Urt. v. 1.4.2004 – Rs. C- 237/02 (Freiburger Kommunalbauten), Slg. 2004, I-3403 Rn. 18 ff. Siehe zum Ganzen statt aller MünchKommBGB / Basedow (2016), Vor § 305 BGB Rn. 43 ff. 254 EuGH Urt. v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 (Aziz), EU:C:2013:164 Rn. 68 (Herv. d. Verf.). 255 Das Verständnis des dispositiven Rechts als „Leitbild“ der Klauselkontrolle ist dem deutschen Bürgerlichen Recht freilich bereits seit Längerem geläufig, vgl. bereits BGH Urt. v. 9.10.1956 – Az. II ZR 79/55, BGHZ 22, 90, 94 ff. und siehe statt aller MünchKommBGB / Wurmnest (2016), § 307 BGB Rn. 65 m. w. N. 256 EuGH Urt. v. 31.3.2013 – Rs. C-92/11 (RWE), EU:C:2013:180 Rn. 28. Gleichsinnig EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-280/13 (Barclays), EU:C:2014:279 Rn. 41: „Deshalb ist die Annahme zulässig, dass die vom nationalen Gesetzgeber vorgesehene vertragliche Ausgewogenheit weiterhin beachtet ist“. 253

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Schuldvertragsrecht ein ausgewogenes Vertragsverhältnis garantieren, bedarf es keiner Materialisierung durch das Unionsrecht.257 Freilich kann die Leitbildfunktion des mitgliedstaatlichen Rechts keineswegs dazu führen, dass allen abweichenden AGB-Klauseln automatisch und schablonenhaft die Wirksamkeit zu versagen wäre: Art. 3 Abs. 1 Klauselrichtlinie erfordert schließlich eine Gesamtabwägung, ob die in dem Klauselwerk geschaffene Regelung ein „erhebliches und ungerechtfertigtes Mißverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursacht“. Generalanwältin Trstenjak fordert in diesem Zusammenhang daher zu Recht eine Einzelfallprüfung, „ob ein sachlicher Grund für die Klauselregelung besteht und ob der Verbraucher trotz Verschiebung des vertraglichen Gleichgewichts zugunsten des Klauselverwenders hinsichtlich des Regelungsgegenstands der jeweiligen Klausel nicht schutzlos gestellt wird“.258

Darüber hinaus bleibt abzuwarten, ob der EuGH seine Rechtsprechungslinie zur Leitbildfunktion künftig derjenigen des BGH annähert, wonach die Inhaltskontrolle sich nur gegen den in den „AGB enthaltenen gesetzesfremden Kerngehalt, also die den wesentlichen Inhalt der gesetzlichen Regelung ändernden oder ergänzenden Bestimmungen“ richtet.259 Wie auch immer der EuGH hier verfahren mag, so ist das „Leitbild“ schon beim derzeitigen Stand keineswegs nur eine Frage des mitgliedstaatlichen Privatrechts: Schließlich existiert zumindest bereichspezifisch durchaus (dispositives) Unionsprivatrecht, das ebenfalls als Maßstab heranzuziehen ist.260 Davon abgesehen wirken auch andere Faktoren auf eine Unitarisierung der Missbräuchlichkeitskontrolle hin. 257 Vgl. auch EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-280/13 (Barclays), EU:C:2014:279 Rn. 41. Allerdings hat diese Vermutung der Ausgewogenheit der durch nationale Rechtsnormen getroffenen Regelungen Grenzen und der EuGH unterscheidet genau zwischen gesetzlichem und vertraglichem Geltungsgrund: Bildet ein Verwender die für eine bestimmte Art von Verträgen geltenden gesetzlichen Vorschriften in seinen AGB-Klauseln ab und erstreckt diese Klauseln sodann auch auf andere Vertragstypen, verneint EuGH Urt. v. 31.3.2013 – Rs. C-92/11 (RWE), EU:C:2013:180 Rn. 29 ff. und insbesondere 31 das Postulat der Ausgewogenheit, denn „[d]ie Rechte und Pflichten, die mit dem auf diese Weise verfassten Vertrag begründet werden, wären […] in ihrer Gesamtheit nicht zwangsläufig so ausgewogen, wie es der nationale Gesetzgeber für die Verträge wollte, die unter seine entsprechende Regelung fallen“. 258 GA Trstenjak Schlussanträge v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 (Aziz), EU:C:2012:700 Rn. 75. 259 Vgl. z. B. BGH Urt. v. 20.3.2014 – Az. VII ZR 248/13, NJW 2014, 1725, 1727 (Herv. d. Verf.). 260 Vgl. z. B. Art. 6 Abs. 5 i. V. m. Abs. 1 Verbraucherrechterichtlinie; Art. 5 Abs. 2 Time-Sharing-Richtlinie. Vgl. zu einem unionsrechtlich-autonomen und rechtsaktsübergreifenden Ansatz bei der Konkretisierung der Kategorien der Klauselrichtlinie nun auch EuGH Urt. v. 26.4.2012 – Rs. C-472/10 (Invitel), EU:C:2012:242 Rn. 28 ff.; EuGH Urt. v. 21.3.2013 – Rs. C-92/11 (RWE), EU:C:2013:180 Rn. 45 ff. (jeweils mit Blick auf die Transparenzkontrolle).

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b) Herausbildung unionsrechtliche-autonomer Maßstäbe aa) Hypothetischer Vertragsmechanismus Ein wiederholt im Kontext der Klauselkontrolle anzutreffendes unionsrechtlich-autonomes Kriterium weist enge Bezüge zum Funktionsmodell der Vertragsfreiheit auf: Namentlich will der EuGH in den Rechtssachen Aziz und Banco Popular die hypothetische Betätigung des unionalen Vertragsmechanismus für die Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer Klausel nach Art. 3 Abs. 1 Klauselrichtlinie fruchtbar machen: „Zur Frage, unter welchen Umständen ein solches Missverhältnis „entgegen dem Gebot von Treu und Glauben“ verursacht wird, ist festzustellen, dass das nationale Gericht gemäß der Rechtsprechung des Gerichtshofs prüfen muss, ob der Gewerbetreibende bei loyalem und billigem Verhalten gegenüber dem Verbraucher vernünftigerweise erwarten durfte, dass der Verbraucher sich nach individuellen Verhandlungen auf eine solche Klausel einlässt “.261

Gerade angesichts des prozeduralen Funktionsmodells unionaler Vertragsfreiheit erscheint der Ansatz des EuGH durchaus konsequent: Ob ein Vertrag mit all seinen Klauseln aus Sicht des Unionsrechts als „richtig“ gelten kann, hängt in erster Linie davon ab, ob er im Rahmen des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus zustande gekommen ist.262 Prima facie liegt es deshalb nahe, das Verdikt über die Richtigkeit oder aber die Missbräuchlichkeit von Vertragsbestimmungen mithilfe eines – hypothetischen – Verfahrens zu bestimmen. Dieser Ansatz findet zudem eine gewisse Stütze in Art. 3 Abs. 1 Klauselrichtlinie, wonach individuell ausgehandelte Vertragsbedingungen von der Warte des Unionsrechts als „richtig“ gelten und deshalb kontrollfrei bleiben sollen. Dennoch ist es mehr als fraglich, ob sich die Formel des EuGH in der Praxis bewähren und eine unionsweit einheitliche Rechtsanwendung fördern kann. Schließlich bürdet der Gerichtshof sowohl dem AGB-Verwender als auch den mitgliedstaatlichen Zivilgerichten eine Prognoseentscheidung über den Ausgang fiktiver Vertragsverhandlungen auf.263 Ohne jeden Mehrwert bleibt die Bezugnahme auf hypothetische individuelle Verhandlungen indes nicht: Zumindest wenn man funktionierenden Wettbewerb, die Transparenz der Bedingungen und einen gut informierten Verbraucher unterstellt, so wird sich Letzterer regelmäßig nicht auf gänzlich marktunübliche Klauseln einlassen, die ihm im Vergleich zu den Konditionen der Wettbewerber Nachteile 261 EuGH Beschl. v. 14.11.2013 – verb. Rs. C-537/12 u. a. (Banco Popular u. a.), EU:C:2013:759 Rn. 66 (Herv. d. Verf.). Ebenso bereits EuGH Urt. v. 14.3.2013 – Rs. C415/11 (Aziz), EU:C:2013:164 Rn. 69. Siehe auch GA Trstenjak Schlussanträge v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 (Aziz), EU:C:2012:700 Rn. 74. 262 Siehe hierzu erneut oben Kapitel 3 § 3 B. 263 Ähnlich MünchKommBGB / Basedow (2016), Vor § 305 BGB Rn. 48, der zu Recht darauf verweist, dass die Abgrenzungsformel des EuGH „sehr abstrakt“ bleibt und „dem nationalem Gericht immer noch erhebliche Beurteilungsspielräume“ eröffnet.

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bringen.264 Auch grob einseitige, nur den Verwenderinteressen dienende, Gestaltungen ohne jedwede Konzession an die Belange des Verbrauchers wird man auf diesem Wege ausscheiden können.265 Die Kontrollfrage, die der EuGH in seinen Aziz- und Banco PopularEntscheidungen den mitgliedstaatlichen Gerichten mit auf den Weg gibt, lautet also: Hätte der konkrete Vertragsteil auch im Rahmen des Vertragsund Wettbewerbsmechanismus mit einem verständigen und vollumfänglich informierten Verbraucher individuell vereinbart werden können? bb) Wertungen des Anhangs zur Klauselrichtlinie Auch über das „hypothetische Verhandlungsmodell“ hinaus hat der EuGH dem Unionsrecht bereits autonome Maßstäbe für die Beurteilung der Missbräuchlichkeit von AGB entnommen. Eine zentrale Rolle spielt dabei der Anhang zur Klauselrichtlinie, der eine Aufzählung von Klauseln enthält, die gemäß Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie „für mißbräuchlich erklärt werden können“. Allerdings schwankt die Rechtsprechung des EuGH gerade mit Blick auf den Grad der Verbindlichkeit des Klauselkatalogs: Einerseits will der Gerichtshof dem Anhang nur eine „Hinweisfunktion“ zuerkennen, andererseits betont er zuletzt, dass der Anhang eine „wesentliche Grundlage“ der Missbräuchlichkeitskontrolle ist.266 Bei genauerer Analyse lassen sich diese scheinbare perplexen Aussagen des Gerichtshofs mühelos miteinander übereinbringen: So betont der EuGH, dass der Anhang in aller Regel nicht die einzige, abschließende Basis für die Missbräuchlichkeitsprüfung bildet, sondern als eine unionsrechtliche Leitlinie für die mitgliedstaatlichen Gerichte Inwieweit „sich der Verbraucher auf eine entsprechende Regelung im Rahmen individueller Vertragsverhandlungen eingelassen hätte“, will GA Trstenjak Schlussanträge v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 (Aziz), EU:C:2012:700 Rn. 75 nicht zuletzt durch die Prüfung klären, „ob entsprechende Vertragsklauseln gebräuchlich sind, d. h., in vergleichbaren Verträgen regelmäßig im Rechtsverkehr verwendet werden“. 265 GA Trstenjak Schlussanträge v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 (Aziz), EU:C:2012:700 Rn. 75 fragt daher, „ob ein sachlicher Grund für die Klauselregelung besteht und ob der Verbraucher trotz Verschiebung des vertraglichen Gleichgewichts zugunsten des Klauselverwenders hinsichtlich des Regelungsgegenstands der jeweiligen Klausel nicht schutzlos gestellt wird“. Dieser Ansatz läuft freilich Gefahr, in einen Zirkelschluss zu münden, soweit die Missbräuchlichkeit einerseits an der hypothetischen Durchsetzbarkeit der Klauseln bei individuellen Vertragsverhandlungen festgemacht wird, die Akzeptanz der Klauseln durch den Verbraucher sodann andererseits daran geknüpft wird, ob die Klauseln insgesamt missbräuchlich sind. 266 Vgl. einerseits nur EuGH Urt. v. 7.5.2002 – Rs. C-478/99 (Kommission / Schweden), Slg. 2002, I-4147 Rn. 20; EuGH Urt. 4.6.2009 – Rs. C-243/08 (Pannon), Slg. 2009, I-4713 Rn. 37 f.; EuGH Urt. v. 9.11.2010 – Rs. C-137/08 (VB Pénzügyi Lízing), Slg. 2010, I-10847 Rn. 42 und andererseits z. B. EuGH Urt. v. 26.4.2012 – Rs. C-472/10 (Invitel), EU:C:2012: 242 Rn. 26; EuGH Urt. v. 30.5.2013 – Rs. C-488/11 (Brusse), EU:C:2013:341 Rn. 55; EuGH Beschl. v. 3.4.2014 – Rs. C-342/13 (Sebestyén), EU:C:2014:1857 Rn. 32. 264

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fungieren soll.267 Der Gerichtshof fasst dies zuletzt dahingehend, dass der Anhang eine „graue Liste“ von Klauseln enthält, bei denen die Missbräuchlichkeit besonders naheliegt.268 Weil es sich um einen unionsrechtlich-autonomen Maßstab für die Klauselkontrolle handelt, ist die Aufzählung im Anhang zur Klauselrichtlinie für die mitgliedstaatlichen Gerichte allerdings insofern verbindlich, als sie die darin enthaltenen Wertungen nicht einfach übergehen können: 269 Laut EuGH soll die gesamte Liste an der praktischen Wirksamkeit des Unionsrechts teilhaben und im Lichte des Effektivitätsgrundsatzes ausgelegt und angewendet werden.270 Praktische Wirksamkeit können indes nur verbindliche Rechtssätze des Unionsrechts entfalten. Vor diesem Hintergrund nimmt es kaum Wunder, dass der EuGH den Anhang zur Klauselrichtlinie in seiner jüngeren Rechtsprechung bei der Beurteilung missbräuchlicher Klauseln berücksichtigt wissen will. 271 Vereinzelt hat der Gerichtshoft bereits betont, dass ein nationales Gerichte den Anhang heranziehen „muss“272 – freilich ohne, dass dadurch die Missbräuchlichkeit der konkreten Vertragsbestimmung präjudiziert wäre: Schließlich misst Art. 3 Abs. 3 Klauselrichtlinie dem Katalog gerae nur eine Indizwirkung zu.

Z. B. EuGH Urt. v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 (Aziz), EU:C:2013:164 Rn. 70. EuGH Urt. v. 26.2.2015 – Rs. C-143/13 (Matei), EU:C:2015:127 Rn. 60. 269 In diesem Sinne zuletzt auch EuGH Beschl. v. 14.11.2013 – verb. Rs. C-537/12 u. a. (Banco Popular u. a.), EU:C:2013:759 Rn. 68 f. 270 Namentlich dürfen die im Anhang aufgeführten Klauseln deshalb nicht pauschal als von der Ausnahme des Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie erfasst angesehen werden, weil andernfalls „der Einbeziehung von Klauseln […] in diese Liste zu einem großen Teil ihre praktische Wirksamkeit genommen“ würde, EuGH Urt. v. 26.2.2015 – Rs. C-143/13 (Matei), EU:C:2015:127 Rn. 60 (Herv. d. Verf.). 271 EuGH Urt. v. 26.4.2012 – Rs. C-472/10 (Invitel), EU:C:2012:242 Rn. 24 führt aus, dass „wegen Nr. 1 Buchst. j und l sowie Nr. 2 Buchst. b und d des Anhangs der Richtlinie insbesondere Grund oder Modus der Änderung dieser Kosten angegeben werden und der Verbraucher über das Recht zur Beendigung des Vertrags verfügen“ muss (Herv. d. Verf.). Gleichsinnig z. B. EuGH Urt. v. 21.3.2013 – Rs. C-92/11 (RWE), EU:C:2013:180 Rn. 49. 272 EuGH Beschl. v. 14.11.2013 – verb. Rs. C-537/12 u. a. (Banco Popular u. a.), EU:C:2013:759 Rn. 67 ff. und insbesondere 68 f.: „Insbesondere werden in Anhang Nr. 1 Buchst. e und g die Klauseln genannt, die darauf abzielen oder zur Folge haben, dass zum einen dem Verbraucher, der seinen Verpflichtungen nicht nachkommt, ein unverhältnismäßig hoher Entschädigungsbetrag auferlegt wird und zum anderen dem Gewerbetreibenden – außer bei Vorliegen schwerwiegender Gründe – gestattet ist, einen unbefristeten Vertrag ohne angemessene Frist zu kündigen […]. Das Juzgado de Primera Instancia n° 17 de Palma de Mallorca muss im Licht dieser Kriterien die Missbräuchlichkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Klausel über die vorzeitige Fälligstellung des Hypothekendarlehens beurteilen“ (Herv. d. Verf.). 267 268

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c) Zwischenfazit Die Klauselkontrolle nach Art. 3 Abs. 1 Klauselrichtlinie bewegt sich zwischen mitgliedstaatlichen und unionsrechtlich-autonomen Maßstäben. Der EuGH weist die Beurteilung der Missbräuchlichkeit zunächst den nationalen Gerichten zu und erkennt nunmehr auch dem dispositiven Recht der Mitgliedstaaten ausdrücklich eine Leitbildfunktion zu. Konsequenterweise muss dann auch der wachsende Normbestand des Unionsprivatrechts als Leitbild dienen können.273 Fraglos ist mit Blick auf das Harmonisierungsanliegen der Klauselrichtlinie eine umfassende Emanzipation der Missbräuchlichkeitskontrolle von den nationalen Kategorien wünschenswert.274 Einen ersten Schritt in diese Richtung bildet der vom EuGH bemühte „hypothetische Vertragsmechanismus“: Aus Sicht des Unionsrechts ist eine Klausel demnach missbräuchlich, wenn der Unternehmer von einem informierten Verbraucher vernünftigerweise nicht erwarten darf, dass dieser sich im Rahmen individueller Vertragsverhandlungen auf die Klausel einlässt.275 Wachsende praktische Bedeutung kommt darüber hinaus dem Anhang zur Klauselrichtlinie zu. Der EuGH behandelt den darin enthaltenen Katalog in jüngeren Entscheidungen als unionsrechtlich-autonome Leitlinie: Die mitgliedstaatlichen Gerichte haben den Anhang einerseits zwingend zu beachten und dessen praktische Wirksamkeit sicherzustellen. Andererseits präjudiziert der Katalog nicht die Missbräuchlichkeit einer Klausel im Einzelfall. II. Transparenzkontrolle und „Markttransparenzgebot“ Das Transparenzerfordernis der Klauselrichtlinie materialisiert die Vertragsfreiheit der Verbraucher unter zwei Gesichtspunkten: Erstens können nach Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie die von der Missbrauchskontrolle gemäß Art. 3 ausgenommenen Preis- und Hauptleistungsklauseln im Fall ihrer Intransparenz dennoch als missbräuchlich behandelt werden. Denn die Unionsrechtsordnung geht davon aus, dass der Vertragspartner des Verwenders diesen Klauseln zwar „besondere Aufmerksamkeit widmet und insoweit seine […] Marktchancen interessengerecht wahrnimmt. Das kann er jedoch nur, wenn der Vertragsinhalt ihm ein vollständiges und wahres Bild vermittelt und ihn so auch zum Marktvergleich befähigt“.288

Vgl. zu einem solchen rechtsaktsübergreifenden Ansatz bei der Konkretisierung der Kategorien der Klauselrichtlinie EuGH Urt. v. 26.4.2012 – Rs. C-472/10 (Invitel), EU:C: 2012:242 Rn. 28 ff.; EuGH Urt. v. 21.3.2013 – Rs. C-92/11 (RWE), EU:C:2013:180 Rn. 45 ff. (jeweils mit Blick auf die Transparenzkontrolle). 274 Kritisch zum Ansatz des EuGH daher z. B. Basedow, AcP 210 (2010), 158, 172 ff. 275 EuGH Beschl. v. 14.11.2013 – verb. Rs. C-537/12 u. a. (Banco Popular u. a.), EU:C: 2013:759 Rn. 66. Ebenso bereits EuGH Urt. v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 (Aziz), EU:C: 2013:164 Rn. 69. Siehe auch GA Trstenjak Schlussanträge v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 (Aziz), EU:C:2012:700 Rn. 74. 273

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Ein Verwender, der durch intransparente Leistungs- und Preisklauseln vorteilhaftere Vertragskonditionen vorgaukelt, kann Verbraucher zum Abschluss eines weder von den Konsumenten in dieser Form gewollten noch typischerweise im Vergleich zu den Konditionen der Wettbewerber günstigeren Vertrags verleiten. Intransparente Preis- und Hauptleistungsklauseln stellen damit sowohl die Funktionsfähigkeit des Vertrags- als auch die des Wettbewerbsmechanismus in Frage. Neben dem unionalen Lauterkeitsrecht277 bekämpft daher Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie unklare und unverständliche Leistungs- und Preisbeschreibungen des Klauselverwenders auch auf Ebene des Vertragsrechts.278 Zweitens erstreckt Art. 5 Klauselrichtlinie das Transparenzgebot auch auf alle weiteren schriftlichen Klauseln. Zwar postuliert die Klauselrichtlinie, dass Verbraucher andere Vertragsklauseln als diejenigen betreffend den Preis und die Hauptleistung typischerweise gar nicht zur Kenntnis nehmen. Dennoch gibt das Unionsrecht dem Verwender insoweit nicht carte blanche, sondern schützt durch Art. 5 Klauselrichtlinie vielmehr die Selbstbestimmungschancen der – wenigen – Konsumenten, die bei ihrer Vertragsentscheidung auch die Nebenbestimmungen berücksichtigen wollen. Dies geschieht zum einen dadurch, dass unklar und unverständlich gestaltete schriftliche Vertragsbedingungen das Verdikt der Missbräuchlichkeit nach Art. 3 Abs. 1 Klauselrichtlinie treffen kann. 279 In jedem Fall gilt für intransparente Klauseln die Auslegungsregel des Art. 5 S. 2 der Richtlinie, wonach bei Zweifeln über die Auslegung der Vertragsklausel die für den Verbraucher günstigste Lesart maßgeblich ist.280 Indem Art. 4 Abs. 2 und Art. 5 Klauselrichtlinie Mindestanforderungen an die Qualität und vor allem an die Formulierung der Klauseln stellen, werden die Funktionsvoraussetzungen der unionalen Vertragsfreiheit der Konsumen276 So zu § 307 Abs. 3 S. 2 BGB prägnant BGH Urt. v. 12.10.2007 – Az. V ZR 283/06, NJW-RR 2008, 251, 253. 277 Das unionale Lauterkeitsrecht als wettbewerbsbezogenes Materialisierungsinstrument ordnet intransparente Gestaltungen von Preis- und Hauptleistungsklauseln im Sinne von Art. 6 Abs. 1 bzw. Art. 7 Abs. 1 Lauterkeitsrichtlinie 2005/29/EG gerade deshalb als wettbewerbswidrig ein, weil sie den Verbraucher zu einer „Entscheidung veranlass[en] […], die er sonst nicht getroffen hätte“, vgl. hierzu erneut oben § 2 B. 278 Bezüglich der Preistransparenz folgen dabei nähere bereichsspezifische Vorgaben z. B. aus der Preisangaberichtlinie, Art. 5 Abs. 1 lit. c und Art. 6 Abs. 1 lit. e Verbraucherrechterichtlininie sowie aus Art. 22 Abs. 1 lit. i und Abs. 3 lit. a Dienstleistungsrichtlinie. Auch die erforderliche Beschreibung des Hauptleistungsversprechens wird durch Unionsrechtsakte für einzelne Sachmaterien näher umrissen: Dies trifft etwa auf Art. 3 Abs. 1 Nr. 2 Finanzdienstleistungsfernabsatzrichtlinie und Art. 5 Abs. 1 Pauschalreiserichtlinie zu. Siehe dazu nur Wolf / Lindacher /  Pfeiffer, AGB-Recht (2013), Art. 4 Klauselrichtlinie Rn. 34 und Art. 5 Klauselrichtlinie Rn. 6. 279 Vgl. z. B. EuGH Urt. v. 26.4.2012 – Rs. C-472/10 (Invitel), EU:C:2012:242 Rn. 31. Siehe nur Wolf / Lindacher / Pfeiffer, AGB-Recht (2013), Art. 5 Klauselrichtlinie Rn. 22. 280 Eingehend hierzu statt aller MünchKommBGB / Basedow (2016), § 305c BGB Rn. 18 ff.

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Kapitel 4 – Materialisierung der Vertragsfreiheit durch Unionsrecht

ten gestärkt. Im Fall des Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie können die Verbraucher ihre Entscheidung für den Vertragsschluss an den jeweiligen am Markt angebotenen Hauptleistungen und Preisen ausrichten, ohne dass ihnen insoweit durch intransparente Klauseln andere Konditionen untergeschoben werden. Materialisiert wird hierdurch mithin neben der Abschluss- und Vertragspartnerwahl- gerade auch die Inhaltsfreiheit der Verbraucher.281 Art. 5 Klauselrichtlinie erstreckt diesen Transparenzmechanismus auf alle schriftlich abgefassten Klauseln, um die Vertragsfreiheit derjenigen Konsumenten zu materialisieren, die auch Nebenbestimmungen bei ihrer Entscheidung für oder gegen den Vertragsschluss berücksichtigen wollen. Dabei versteht der EuGH die Transparenzkontrolle nach der Klauselrichtlinie mittlerweile als privatrechtliches Markttransparenzgebot,282 das dem „normal informierte[n], angemessen aufmerksame[n] und verständige[n] Durchschnittsverbraucher“ nicht nur die Kenntnis, sondern gerade auch das Verständnis der (wirtschaftlichen) Bedeutung der Klauseln und damit den umfassenden Vergleich mit Vertragskonditionen von Wettbewerbern ermöglichen soll.283 Wo insbesondere bei Massenverträgen der Hauptgegenstand und der Preis in Klauseln einseitig durch den Verwender vorgegeben werden, kann der Verbraucher diese Vertragsinhalte typischerweise nur durch die Entscheidung für den Vertragsschluss mit demjenigen Anbieter am Markt – mittelbar – beeinflussen, der von vornherein die gesuchten Vertragskonditionen anbietet. Die Verpflichtung, Preis- und Hauptleistungsklauseln transparent zu gestalten, erleichtert also das Auffinden des gewünschten Vertragspartners und die Entscheidung für den tatsächlich gewollten Vertrag. Entsprechend wird in erster Linie die Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit sowie zugleich auch die Inhaltsfreiheit materialisiert. Vgl. dazu erneut oben Kapitel 3 § 3 A II. 282 Eingehend Micklitz / Reich, EuZW 2013, 457; Fornasier, ZEuP 2014, 410, 420 f. Siehe auch MünchKommBGB / Basedow (2016), Vor § 305 BGB Rn. 50. 283 EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:282 Rn. 73 ff. bemisst die Transparenz z. B. im Darlehensvertragsrecht danach, „ob ein normal informierter, angemessen aufmerksamer und verständiger Durchschnittsverbraucher […], nicht nur wissen konnte, dass auf dem Wertpapiermarkt beim Umtausch einer ausländischen Währung zwischen dem Verkaufs- und dem Ankaufskurs im Allgemeinen ein Unterschied besteht, sondern auch die für ihn möglicherweise erheblichen wirtschaftlichen Folgen der Heranziehung des Verkaufskurses bei der Berechnung der von ihm letztlich geschuldeten Rückzahlungen und damit die Gesamtkosten seines Darlehens einschätzen konnte“ (Herv. d. Verf.). Siehe zuletzt auch EuGH Urt. v. 23.4.2015 – Rs. C-96/14 (Van Hove), EU:C: 2015:262 Rn. 47. Vgl. auch EuGH Urt. v. 26.4.2012 – Rs. C-472/10 (Invitel), EU:C:2012: 242 Rn. 27 ff.; EuGH Urt. v. 21.3.2013 – Rs. C-92/11 (RWE), EU:C:2013:180 Rn. 45 ff. Vgl. zur Rolle von Informations- und Transparenzerfordernissen im Versicherungsvertragsrecht ferner EuGH Urt. v. 5.3.2002 – Rs. C-386/00 (Axa), Slg. 2002, I-2209 Rn. 28; EuGH Urt. v. 19.12.2013 – Rs. C-209/12 (Endress), EU:C:2013:864 Rn. 24. Vgl. zum Kreditvertragsrecht ferner nur EuGH Urt. v. 4.3.2004 – Rs. C-264/02 (Sachithanathan), Slg. 2004, I-2157 Rn. 26 f. Siehe zum Ganzen nur Fornasier, ZEuP 2014, 410, 420 f.; MünchKommBGB / Basedow (2016), Vor § 305 BGB Rn. 50. 281

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E. Zwingendes Vertragsrecht und Unwirksamkeitstatbestände Die zwingende Ausgestaltung zahlreicher Normen des Unionsprivatrechts hat manche Beobachter zur provokanten Frage verleitet, ob ein „Abschied von der Privatautonomie im Schuldrecht“ bevorstehe.284 Zwingende Normen und die damit im EU-Privatrecht häufig verbundenen Unwirksamkeitstatbestände sind in der Tat von vergleichsweise hoher Eingriffsintensität, weil sie den Parteien die Gestaltung des Vertragsinhalts zumindest teilweise entziehen. Allerdings unterfallen bei weitem nicht alle zwingenden Regelungen des Unionsprivatrechts dem hier entwickelten Materialisierungsverständnis. Dies lässt sich zunächst am Beispiel der – häufig im Kontext der Materialisierung angeführten – 285 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie veranschaulichen. Diese Richtlinie sieht in ihrem Art. 7 Abs. 1 Unterabs. 1 die Unwirksamkeit von Vertragsbestimmungen vor, in denen die durch diese Richtlinie gewährten Rechte des Verbrauchers abbedungen oder auch nur eingeschränkt werden. Zulässig bleiben allein Vereinbarungen, die nach der Unterrichtung des Verkäufers über die Vertragswidrigkeit getroffen werden. Nach Art. 7 Abs. 1 Unterabs. 2 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie wird bei gebrauchten Kaufsachen eine privatautonome Verkürzung der Gewährleistungsfrist auf ein Jahr zugelassen. Dient nun dieses vergleichsweise enge Korsett zwingenden Rechts der Materialisierung der unionalen Vertragsfreiheit? Bei näherem Hinsehen wird offenbar, dass die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie nicht auf die Schaffung und Erhaltung der Funktionsbedingungen des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus, sondern einzig auf die Festlegung von als „gerecht“ zu erachtenden Gewährleistungsstandards für Kaufverträge mit Verbraucherbeteiligung zielt.286 Anders ausgedrückt eröffnet diese Richtlinie also keiner der Vertragsparteien größere tatsächliche Chancen zur Selbstbestimmung durch das Instrument des Vertrags, sondern schränkt vielmehr die Gestaltungsfreiheit beider Seiten in Bezug auf bestimmte Vertragsinhalte ein.287 Demnach ist die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie nicht dem unionalen Instrumentarium zur Materialisierung der Vertragsfreiheit zuzurechnen. Sie ist 284 So der Titel der Abhandlung von Medicus, Abschied von der Privatautonomie im Schuldrecht? (1994). Verneinend mit Blick auf die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie Repgen, Kein Abschied von der Privatautonomie (2001). 285 In diesem Sinne – wenn auch zu Recht kritisch – z. B. Canaris, AcP 200 (2000), 273, 362 ff.; G. Wagner, in: Blaurock / Hager (Hrsg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), S. 13, 40 ff. 286 Ähnlich Repgen, Kein Abschied von der Privatautonomie (2001), S. 87, der zudem treffend bemerkt, dass die Einführung zwingenden Gewährleistungsrechts gerade keinen Gewinn an Vertragsfreiheit bringt. 287 Dies gilt nicht nur für klauselförmige, sondern gerade auch für individuell ausgehandelte Vereinbarungen über die Gewährleistungsrechte, obwohl im letzteren Fall der Vertragsmechanismus grundsätzlich seine Richtigkeitsgewähr entfalten kann, vgl. Canaris, AcP 200 (2000), 273, 362.

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vielmehr ein – im Unionsprivatrecht vergleichsweise seltenes – Beispiel für eine zwingende Festlegung von Vertragsinhalten, die als „angemessen“ und damit als Ausdruck „materialer Vertragsgerechtigkeit“ gelten sollen.288 Demgegenüber können einige zwingende Vorschriften des Unionsprivatrechts durchaus die Funktionsvoraussetzungen des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus stärken und so die unionale Vertragsfreiheit materialisieren. Beispielsweise verbietet im unionalen Wirtschaftsvertragsrecht Art. 52 Abs. 3 S. 1 Zahlungsdiensterichtlinie289 bestimmte vertragliche Vereinbarungen zwischen Zahlungsdienstleistern, wie etwa Visa oder PayPal, einerseits und den Zahlungsempfängern, wie z. B. Einzelhändlern, andererseits: Namentlich dürfen die Zahlungsdienstleister den Zahlungsempfängern nicht vertraglich untersagen, von den zahlenden Endkunden („Zahlern“) für die Nutzung eines bestimmten Zahlungsinstruments ein Entgelt zu verlangen oder eine Ermäßigung anzubieten. Durch diese Verbotsnorm wird nun zum einen ein größerer Freiraum zur vertraglichen Selbstbestimmung sowohl für die Zahlungsempfänger als auch vor allem für die zahlenden Endkunden geschaffen. Zum anderen wird auch der Wettbewerbsmechanismus im Sinne eines „Wettbewerbs der Zahlungsmittel“ angespornt, weil die zahlenden Endkunden einen Anreiz haben, aus den unterschiedlichen Zahlungsdiensten den für sie kostengünstigsten zu wählen.290 F. Materialisierung durch Aktualisierung der Vertragsfreiheit Die Aktualisierung der Vertragsfreiheit wird im Unionsrecht insbesondere unter zwei Gesichtspunkten relevant: Zum einen mag die unionale Vertragsfreiheit in Situationen, in denen einer Partei eine informierte Willensbildung im Vorfeld des Vertragsschlusses typischerweise erschwert wird, gebieten, dass die betroffene Partei ihre Vertragsentscheidung erneut überdenken und gegebenenfalls revidieren kann. Zwar überlässt das Unionsprivatrecht die Behand288 Kritisch zu dieser „Materialisierung der Vertragsgerechtigkeit“ im Allgemeinen und den Regelungen der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie im Besonderen z. B. Canaris, AcP 200 (2000), 273, 286 f. und 362 ff.; G. Wagner, in: Blaurock / Hager (Hrsg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), S. 13, 40 ff. Dabei ist freilich zu berücksichtigen, dass Art. 2 ff. Verbrauchsgüterkaufrichtlinie den Parteien bezüglich der essentialia negotii und insbesondere hinsichtlich der Hauptleistungspflichten volle Vertragsfreiheit belässt und in erster Linie die Gewährleisungsregelungen zwingend vorgibt, siehe auch Repgen, Kein Abschied von der Privatautonomie (2001), S. 101 f. 289 Art. 52 Abs. 3 S. 1 Richtlinie 2007/64/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2007 über Zahlungsdienste im Binnenmarkt, zur Änderung der Richtlinien 97/7/EG, 2002/65/EG, 2005/60/EG und 2006/48/EG sowie zur Aufhebung der Richtlinie 97/5/EG, ABl. 2007 L 319/1 lautet: „Der Zahlungsdienstleister darf dem Zahlungsempfänger nicht verwehren, vom Zahler für die Nutzung eines bestimmten Zahlungsinstruments ein Entgelt zu verlangen oder ihm eine Ermäßigung anzubieten“. 290 Ähnlich Omlor, NJW 2014, 1703.

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lung von Willensmängeln in der Regel dem jeweiligen mitgliedstaatlichen Recht. In einigen Konstellationen will das EU-Privatrecht indes selbst der „Gefahr bestimmter Irrtümer“291 begegnen und sieht eigene Instrumente, wie etwa Widerrufs-, Rücktritts- und sonstige Vertragsbeseitigungsrechte,292 vor (I). Zum anderen geht die Unionsrechtsordnung in diversen Sachmaterien davon aus, dass sehr langfristige Vertragsbindungen nicht nur die individuelle Selbstbestimmung, sondern auch das markt- und wettbewerbsgestützte Funktionsmodell unionaler Vertragsfreiheit stören können. In diesen Fällen sieht das Unionsrecht eine Höchstbindungsdauer vor und zwingt die Vertragsparteien auf diese Weise dazu, ihre Vertragsfreiheit nach Ablauf des jeweiligen Zeitintervalls erneut zu betätigen (II). I.

Vertragsbeseitigungsrechte

Die Vertragsbeseitigungsrechte des Unionsrechts setzen in einem Stadium an, in dem alle anderen unionalen Materialisierungsinstrumente bereits zum Einsatz gekommen, aber aufgrund bestimmter Eigenheiten der Vertragsschlusssituation oder des Vertragsgegenstandes wirkungslos geblieben sind. Revidiert werden dürfen entsprechend nur Vertragsentscheidungen, die angesichts der Natur des Geschäfts oder der Art der Vertragsanbahnung typischerweise von vornherein einer soliden Grundlage entbehren. Das Unionsrecht gibt der betroffenen Partei hier also allein deshalb ein Recht zur Vertragsaufsage, weil sie ihren Willen – allen sonstigen Materialisierungsinstrumenten zum Trotz – schon nicht ausreichend hat bilden können.293 Damit lassen sich die Vertragsbeseitigungsrechte durchaus „als typisierte Anfechtungstatbestände betrachten, welche dem Verbraucher bei bestimmten Abschlusssituationen den Nachweis eines Willensmangels ersparen sollen“.294 Das Fehlen der Voraussetzungen vollumfänglicher Selbstbestimmung bei Eingehen der vertraglichen Verbindlichkeit soll dadurch kompensiert werden, dass über einen gewissen Zeitraum nach Vertragsschluss die einseitige Vertragsaufsage möglich ist. Auf diesem Wege materialisieren die Vertragsbeseitigungsrechte die negative Abschluss-, Kontrahentenwahl- und Inhaltsfreiheit nach Zustandekommen des Vertrags.295 Im Vordergrund steht hierbei also stets Vgl. EuGH Urt. v. 16.10.2008 – Rs. C-298/07 (DIV), Slg. 2008, I-7841 Rn. 23. Vgl. zum Begriff Mankowski, Beseitigungsrechte (2003), S. 2 ff. 293 In diesem Sinne schon Lurger, Vertragliche Solidarität (1998), S. 34 ff.; Reiner, AcP 203 (2003), 1, 9. 294 S. Lorenz, GS Wolf (2011), S. 77, 84. 295 Zugleich können besagte Freiheitsfacetten nach Ausübung des Lösungsrechts im Rahmen des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus neu betätigt und damit aktualisiert werden. Im Vordergrund steht hierbei also stets die Gewährleistung umfassender und werthaltiger – wenn auch nachträglicher – Selbstbestimmungschancen. Bei dieser Lesart dienen die Vertragsbeseitigungsrechte entgegen Micklitz, EuZW 1997, 229, 236 gerade nicht der Schaffung eines „kompetitiven Vertragsrechts“, welches die Vertragsbindung 291 292

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die Gewährleistung umfassender und werthaltiger – wenn auch nachträglicher – Selbstbestimmungschancen. Die Vertragsbeseitigungsrechte schaffen zugleich ein „kompetitives Vertragsrecht“, das unter bestimmten Voraussetzungen die Vertragsbindung preisgibt, um den „Wettbewerb über den Zeitpunkt des Vertragsschlusses hinaus“ zu verlängern.296 Eine Ausweitung des Wettbewerbs stärkt grundsätzlich die Funktionsvoraussetzungen der Vertragsfreiheit und trägt zur Materialisierung dieser Freiheit bei.297 Flankiert werden die Vertragslösungsrechte häufig durch Instrumente des Informationsmodells: Durch die Pflicht zur transparenten, in der Regel stark formalisierten Information über das Recht zur Vertragsaufsage wird die betroffene Partei über die Möglichkeit der Aktualisierung ihrer Vertragsfreiheit aufgeklärt.298 Im unionalen Verbrauchervertragsrecht gestatten zunächst Widerrufsrechte den Konsumenten, ihre Vertragsentscheidung während der Widerrufsfrist zu überdenken und sich gegebenenfalls durch Ausübung des Widerrufsrechts ihrer Bindung an den Vertrag zu entschlagen. Verbraucherwiderrufsrechte finden sich etwa in Art. 6 ff. Time-Sharing-Richtlinie, und auch Art. 9 Verbraucherrechterichtlinie baut bei Fernabsatz- und außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen auf diese Instrumente. Diesen Ansatz verfolgen im unionalen Finanzdienstleistungsvertragsrecht etwa Art. 14 Verbraucherkreditsowie Art. 6 Finanzdienstleistungsfernabsatzrichtlinie und auch Art. 14 Abs. 6 Unterabs. 2 Wohnimmobilienkreditrichtlinie lässt Raum für Verbraucherwiderrufsrechte. Von der Warte der unionalen Vertragsfreiheit sind diese Vertragsbeseitigungsrechte je nach Ausrichtung und Sachmaterie unter zwei Aspekten zu rechtfertigen: Auf der einen Seite stehen Außergeschäftsraum- und Fernabsatzverträge, bei denen Verbraucher – anders als z. B. bei einer Vertragsanbahnung im Ladengeschäft – typischerweise nicht die Möglichkeit haben, ihre Entscheidung für den Vertragsschluss auf eine hinreichend solide Grundlage zu stellen: Im Fall des Außergeschäftsraumvertrages droht der Konschon allein deshalb preisgibt, um den „Wettbewerb über den Zeitpunkt des Vertragsschlusses hinaus“ zu verlängern. 296 Micklitz, EuZW 1997, 229, 236. In diesem Sinne nun auch BGH Urt. v. 16.3.2016 – Az. VIII ZR 146/15, NJW 2016, 1951, 1952: „Dass ein Verbraucher […] nach der Bestellung Preise vergleicht und mit dem Verkäufer darüber verhandelt, bei Zahlung einer Preisdifferenz vom Widerruf des Vertrags Abstand zu nehmen, ist lediglich eine Folge der sich aus dem grundsätzlich einschränkungslos gewährten Widerrufsrecht ergebenden Wettbewerbssituation. Diese darf der Verbraucher zu seinen Gunsten nutzen“ (Herv. d. Verf.). Kritisch Baldus / Vogel, GPR 2007, 158 ff. 297 Vgl. erneut oben § 2. 298 Statt aller Heiderhoff, in: Basedow / Hopt / Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009), S. 858, 859. Wird dieser Informationspflicht nicht genügt, kann dies laut EuGH zumindest im Lebensversicherungsvertragsrecht ein „ewiges“ Vertragsbeseitigungsrecht zur Folge haben, siehe nur EuGH Urt. v. 19.12.2013 – Rs. C209/12 (Endress), EU:C:2013:864 Rn. 32. Vgl. zur Funktion der Informationspflichten auch schon EuGH Urt. v. 5.3.2002 – Rs. C-386/00 (Axa), Slg. 2002, I-2209 Rn. 28.

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sument in einer Situation „überrumpelt“ zu werden, in der er nicht mit der Vornahme geschäftlicher Handlungen rechnet und auf solche entsprechend gar nicht eingestellt ist.299 Damit wird der Verbraucher zu einer Ad-hocWillensbildung getrieben, die wichtige Faktoren potenziell unberücksichtigt lässt. Hingegen rechtfertigt sich das Widerrufsrecht bei Fernabsatzverträgen dadurch, dass der Verbraucher in dieser Situation naturgemäß außer Stande ist, die Ware eingehend zu begutachten und auf dieser Basis eine fundierte Entscheidung zu treffen.300 Auf der anderen Seite stehen neben Finanzdienstleistungs- auch z. B. TimeSharing-Verträge, die jeweils eine langfristige und finanziell bedeutsame Bindung mit sich bringen. Hier ist die Widerrufsmöglichkeit ebenfalls durch die regelmäßig unzureichende Entscheidungsbasis des Verbrauchers gerechtfertigt: Zum einen vermögen durchschnittliche Konsumenten angesichts der Komplexität der Verträge und der langen Vertragslaufzeit häufig die gewichtigen finanziellen Konsequenzen ihrer Vertragserklärung nicht vollständig abzuschätzen.301 Zum anderen werden bei Krediten und vor allem bei Time-SharingVerträgen und Versicherungsprodukten oft Ratschläge durch die Anbieter selbst oder durch externe Vertriebsmitarbeiter erteilt, die – etwa aufgrund von Abschlussprämien – ein den Interessen des Verbrauchers möglicherweise zuwiderlaufendes Eigeninteresse am Zustandekommen des Vertrags haben.302 Diese Faktoren zieht der EuGH ausdrücklich zur Begründung des „Rücktrittsrechts“ nach Art. 186 Solvency II im unionsrechtlich determinierten Lebensversicherungsvertragsrecht heran und betont, dass ein Versicherungsnehmer zum einen „häufig keine Möglichkeit [hat], Qualität und Preis des Angebots mit anderen Angeboten zu vergleichen“,303 und ihm durch ein Rücktrittsrecht die Möglichkeit eingeräumt werden müsse, „die Verpflichtungen aus dem Vertrag noch einmal zu überdenken“. Zum anderen stützt der Gerichtshof das Recht, vom Vertrag zurückzutreten, auf den Umstand, dass „Versicherungsverträge rechtlich komplexe Finanzprodukte sind, die je nach anbietendem Versicherer große Unterschiede aufweisen und über einen potenziell sehr langen Zeitraum erhebliche finanzielle Verpflichtungen mit sich bringen können“.316

Angesichts der aus dem EU-Grundrecht der Vertragsfreiheit fließenden Schutzpflichten muss der Unionsgesetzgeber auf die jeweiligen Defizite bei Vgl. nur Erwägungsgrund Nr. 21 Verbraucherrechterichtlinie. Vgl. nur Erwägungsgrund Nr. 37 Verbraucherrechterichtlinie. 301 Eidenmüller, AcP 210 (2010), 67, 90 f. und 103 sieht hierin unter Berücksichtigung verhaltensökonomischer Erkenntnisse eine „endogene Präferenzstörung“ und meint, das Widerrufsrecht erscheine schon aufgrund der typischen Überforderung des Verbrauchers durch die komplexe und finanziell besonders relevante Entscheidungssituation sachgerecht. 302 Eidenmüller, AcP 210 (2010), 67, 91 f. und 103 bezeichnet dies als „exogene Präferenzstörung“. 303 EuGH Urt. v. 19.12.2013 – Rs. C-209/12 (Endress), EU:C:2013:864 Rn. 29. 299 300

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der Willensbildung in den vorgenannten Fallgruppen reagieren und Abhilfe für den Verbraucher schaffen. Das Widerrufs- oder Rücktrittsrecht setzt den Verbraucher dabei in den Stand, seine (negative) Vertragsfreiheit erneut auf einer belastbareren Entscheidungsgrundlage auszuüben. Unter diesem Aspekt sind die Vertragsbeseitigungsrechte aus der unionalen Vertragsfreiheit des Konsumenten heraus zu rechtfertigen. Das Ziel, dem Verbraucher eine Aktualisierung seiner Vertragsfreiheit zu erlauben, steht bei typisierender Betrachtung auch nicht außer Verhältnis zu der mit der Vertragsaufsagemöglichkeit verbundenen Einschränkung der Vertragsfreiheit der anderen Partei:305 Zum einen besteht lediglich eine Vertragsbeseitigungschance, die in der Praxis keineswegs immer wahrgenommen wird und im Vergleich zu einer schwebenden Unwirksamkeit des Vertrags bis zur Bestätigung durch den Verbraucher ein milderes, weil die Vertragsfreiheit beider Teile schonendes Mittel ist. Zum anderen preist jeder Unternehmer die mit der Vertragsbeseitigungsmöglichkeit verbundenen Kosten von vornherein in seine Vertragsofferte ein und ist insoweit keiner Mehrbelastung ausgesetzt. II. Höchstbindungsdauern im Verbraucher-, Finanzdienstleistungs- und Wirtschaftsvertragsrecht Höchstbindungsdauern sollen einer Versteinerung sowohl des Marktes als auch der einmal zugunsten eines bestimmten Geschäftes und Geschäftspartners ausgeübten Vertragsfreiheit entgegenwirken. Damit wirken zwei Triebkräfte zugunsten der Reaktivierung der unionalen Vertragsfreiheit mithilfe von Höchstbindungsdauern: Erstens kann die in zeitlicher Hinsicht unbegrenzte Bindung im Einzelfall – ebenso wie z. B. im deutschen Bürgerlichen Recht –306 eine übermäßige Verkürzung der individuellen Vertragsfreiheit EuGH Urt. v. 19.12.2013 – Rs. C-209/12 (Endress), EU:C:2013:864 Rn. 29. Diese Einschränkung besteht in der Durchbrechung der Vertragsbindung, wobei die Bindungswirkung auch aus Sicht des Unionsrechts gerade die Folge der Ausübung der Vertragsfreiheit beider Parteien ist, dazu eingehend oben Kapitel 3 § 2 A. 306 Vgl. etwa zur Anwendung des § 138 BGB im Kontext von Bierlieferungsverträgen – bejahend – nur BGH Urt. v. 7.5.1975 – Az. VIII ZR 210/73, BGHZ 64, 288, 290 ff.: „In seiner Rechtsprechung zur Wirksamkeit einer langfristigen Bindung in Bierlieferungsverträgen hat der Senat wiederholt zum Ausdruck gebracht, daß Sittenwidrigkeit erst dann vorliegt, wenn festgestellt werden muß, daß durch die Bindung allein oder ihre Ausgestaltung im Einzelfall […] die persönliche Selbständigkeit und Freiheit, sowie ein Mindestmaß an wirtschaftlichen Bewegungsspielraum eines der Vertragspartner so beschränkt werden, daß er seinem Kontrahenten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist“. Freilich sind solche Verträge nunmehr Gegenstand der – wegen § 310 Abs. 1 BGB regelmäßig reduzierten – Klauselkontrolle, vgl. nur OLG Frankfurt Urt. v. 1.10.1987 – Az. 6 U 38/87 NJW-RR 1988, 177; MünchKommBGB / Wurmnest (2016), § 309 Nr. 9 BGB Rn. 5. Gegen eine Höchstbindungsdauer bei gänzlichem Ausschluss der ordentlichen Kündigung bei Mietund Pachtverträgen auf die Lebenszeit dagegen BGH Urt. v. 7.5.1975 – Az. VIII ZR 210/73, NJW 1975, 1268, 1269: „Der das Schuldrecht bestimmende Grundsatz der allge304 305

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bedeuten. Neben dieses indivdualrechtliche tritt in der Unionsrechtsordnung, zweitens, ein binnenmarkt- und wettbewerbsbezogenes Argument: Das Funktionieren des Wettbewerbs ist auf die ständig aktualisierte, neu betätigte Vertragsfreiheit der Marktakteure angewiesen, so dass eine Häufung von Langfristbindungen diesen Mechanismus bedrohen kann. Entsprechend wirft auch GA Kokott die „hochinteressante […] Frage“ auf, „ob dem Abschluss unbefristeter Dauerschuldverhältnisse durch […] Bestimmungen des [Unions]rechts irgendwelche Grenzen gesetzt sind“.307 Die Forderung, die einmal ausgeübte Vertragsfreiheit nach bestimmter Zeit aktualisieren zu können, steht indes in einem Spannungsfeld zur ebenfalls durch die Vertragsfreiheit legitimierten Bindungswirkung des Vertrags.308 Vertragliche Höchstbindungsdauern können daher nur das Ergebnis einer sorgfältigen Abwägung dieser widerstreitenden Postitionen sein. Das Unionsprivatrecht sieht solche Höchstfristen daher insbesondere dort vor, wo bei Dauerschuldverhältnissen mit Konsumentenbeteiligung sowohl die individuelle Vertragsfreiheit als auch der Wettbewerb im Verbraucherinteresse gestärkt werden sollen. Entsprechend nimmt das unionale Verbrauchervertragsrecht z. B. Verträge über Mobilfunk- und Internetdienste in den Blick: Gemäß Art. 30 Abs. 5 Universaldienstrichtlinie darf die anfängliche Mindestlaufzeit bei Verträgen über elektronische Kommunikationsdienste 24 Monate nicht überschreiten, und die Unternehmen sind überdies verpflichtet, Verträge mit einer Höchstlaufzeit von nur 12 Monaten anzubieten.309 Auch Art. 16 des Richtlinienvorschlags über vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte310 räumt Verbrauchern das Recht ein, „langfristige Verträge“ jederzeit zu beenden, sobald die Vertragslaufzeit 12 Monate übersteigt. Darüber hinaus kann aber auch die allgemeine Klauselkontrolle in Stellung gebracht werden, um einer überlangen Vertragsbindung unter bestimmten Voraussetzungen Grenzen zu setzen: Beispielsweise ist nach Art. 3 Abs. 3 i.V.m. lit. h des Anhangs zur Klauselrichtlinie die Missbräuchlichkeit einer Klausel indiziert, durch die meinen Vertragsfreiheit eröffnet auch die Möglichkeit, rechtsgeschäftliche Bindungen über einen langen Zeitraum einzugehen. Grundsätzlich verstößt das weder gegen die guten Sitten (§ 138 BGB) noch gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB)“. Vgl. darüber hinaus auch BGH Urt. v. 10.7.2013 – Az. VIII ZR 388/12, NJW 2013, 2820 f. 307 So im Kontext des unionalen Vergaberechts GA Kokott Schlussanträge v. 13.3.2008 – Rs. C-454/06 (pressetext), Slg. 2008, I-4401 Rn. 40. In diesem Verfahren musste die Generalanwältin auf das Problem indes nicht weiter eingehen, da der Sachverhalt in zeitlicher Hinsicht nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fiel. 308 Siehe zur Vertragsbindung erneut oben unten Kapitel 3 § 2 A. 309 Darüber hinaus dürfen auch die Kündigungsbedingungen den Verbrauchern einen Wechsel des Anbieters nicht übermäßig erschweren, vgl. Art. 30 Abs. 5 Universaldienstrichtlinie, siehe auch Kühling, in: Ruffert (Hrsg.), EnzEuR V: Europäisches sektorales Wirtschaftsrecht (2013), § 4 Rn. 152. 310 KOM(2015) 634 endg.

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„ein befristeter Vertrag automatisch verlängert wird, wenn der Verbraucher sich nicht gegenteilig geäußert hat und als Termin für diese Äußerung des Willens des Verbrauchers, den Vertrag nicht zu verlängern, ein vom Ablaufzeitpunkt des Vertrags ungebührlich weit entferntes Datum festgelegt wurde“.

Richtigerweise ist lit. h des Anhangs zur Klauselrichtlinie als Hinweis darauf zu deuten, dass überlange Vertragslaufzeiten aufgrund der damit verbundenen Einschränkung der Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 Klauselrichtlinie potenziell Bedenken begegnen.311 Entsprechend kann gerade eine in AGB vorgesehene langfristige Vertragsbindung, die durch ebenfalls klauselförmige Kündigungsausschlüsse flankiert wird, missbräuchlich im Sinne des Art. 3 Klauselrichtlinie sein.312 Beim derzeitigen Stand der Rechtsentwicklung hat sich indes noch keine präzise „ungeschriebene europarechtliche Grenze für Laufzeitklauseln und Verlängerungsklauseln“ herausgebildet.313 Im Finanzdienstleistungsvertragsrecht geht bereits aus der Zahlungskontenrichtlinie deutlich hervor, dass eine zeitnahe Aufhebung von Kontoverträgen und die erneute Betätigung der Vertragsfreiheit im Rahmen des Vertragsund Wettbewerbsmechanismus intendiert ist: Verbraucher sollen sich gemäß Art. 7 mithilfe von Vergleichswebsites fortwährend über alternative Angebote am Markt informieren können, und sie müssen im Falle eines Wechsels zu einem Wettbewerber sogar durch den „Kontowechsel-Service“ ihrer bisherigen Bank nach Art. 9 ff. Zahlungskontenrichtlinie unterstützt werden.314 Darüber hinaus klang auch in der – mittlerweile aufgehobenen – Gruppenfreistellungsverordnung für den Versicherungssektor315 an, dass aus Sicht des Uni-

311 MünchKommBGB / Wurmnest (2016), § 309 Nr. 9 BGB Rn. 3 verweist zudem zu Recht darauf, dass die Regelung in lit. h des Anhangs zur Klauselrichtlinie entbehrlich wäre, wenn ohnehin Verträge mit unbegrenzter Vertragsdauer pauschal zulässig wären. 312 Vgl. z. B. zur Missbräuchlichkeit einer dreißigjährigen Bindung an einen TimeSharing-Vertrag, der zugleich einen Ausschluss der ordentlichen Kündigung vorsieht OLG Linz Urt. v. 9.12.2013 – Az. 6 R 179/13f (abrufbar unter: ). 313 MünchKommBGB / Wurmnest (2016), § 309 Nr. 9 BGB Rn. 3. Vgl. aber erneut auch GA Kokott Schlussanträge v. 13.3.2008 – Rs. C-454/06 (pressetext), Slg. 2008, I-4401 Rn. 40. 314 Zudem sieht Art. 19 Zahlungskontenrichtlinie zahlreiche Einschränkungen für eine Kündigung des Kontovertrages seitens der Zahlungsdienstleister vor, wohingegen für Verbraucher keine derartigen Restriktionen bestehen. 315 Art. 6 Abs. 1 lit. f Verordnung (EG) Nr. 358/2003 der Kommission vom 27. Februar 2003 über die Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag auf Gruppen von Vereinbarungen, Beschlüssen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen im Versicherungssektor, ABl. 2003 L 53/8 lautete: „Die […] Freistellung gilt nicht, wenn die Muster allgemeiner Versicherungsbedingungen Klauseln enthalten, […] die dem Versicherungsnehmer, außer im Bereich der Lebensversicherung, eine Versicherungsdauer von mehr als drei Jahren auferlegen“. Art. 6 Abs. 1 lit. g schloss die Freistellung zudem aus, wenn „im

§ 3 Materialisierung durch Unionsprivatrecht

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onsgesetzgebers die Laufzeiten von Nicht-Lebensversicherungsverträgen mit Verbrauchern eine Höchstfrist von drei Jahren nicht überschreiten sollen.316 Die mit Höchstbindungsdauern einhergehende Dynamik macht sich das Unionsrecht schließlich auch im Wirtschaftsvertragsrecht zu Nutze, um durch die Möglichkeit der Aktualisierung der Vertragsfreiheit die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs im Binnenmarkt zu stärken. Unter bestimmten Voraussetzungen steht gerade das unionale Wettbewerbsrecht langfristigen Lieferverträgen entgegen, soweit sich die Vertragsparteien durch eine überlange und ausschließliche Vertragsbindung „ihrer unternehmerisch-wirtschaftlichen Handlungsfreiheit mit Dritten zu kontrahieren“, begeben.317 Anders gewendet existiert im Unionsrecht also eine – von verschiedenen weiteren Faktoren beeinflusste – wettbewerbsrechtlich maximal zulässige Höchstbindungsdauer.318 Eine ähnliche Haltung nimmt das unionale Vergaberecht gegenüber langfristigen Vertragsbindungen ein. Beispielsweise bedürfen ausweislich der Konzessionsrichtlinie319 zunächst alle Konzessionsverträge, die für einen fünf Jahre übersteigenden Zeitraum vergeben werden, einer besonderen Rechtfertigung, weil „[d]ie Laufzeit einer Konzession […] begrenzt sein [sollte], damit der Markt nicht abgeschottet und der Wettbewerb nicht eingeschränkt wird“.320 Auch im Übrigen hat der EuGH für das unionale Vergaberecht beFalle der Vereinbarung einer stillschweigenden Vertragsverlängerung mangels vorheriger Kündigung, eine Vertragsverlängerung für mehr als jeweils ein Jahr“. 316 Die Gruppenfreistellungsverorndnung entfaltete dabei zumindest Indizwirkungen im Rahmen der Klauselkontrolle, dazu statt vieler Henkel, Inhaltskontrolle von Finanzprodukten (2004), S. 421 ff.; Stempel, Treu und Glauben im Unionsprivatrecht (2016), S. 186. 317 Prägnant Säcker / Wolf, Deutsches und europäisches Wettbewerbsrecht (2008), S. 137 ff. und 140. Siehe insbesondere EuGH Urt. v. 13.2.1979 – Rs. 85/76 (Hoffmann-La Roche / Kommission), Slg. 1979, 461 Rn. 115 und auch z. B. Kommission Entsch. v. 5.9.1979 (BP Kemi), ABl. 1979 L 286/32 Rn. 46 und 59 ff.; Kommission Entsch. v. 30.4.1991 (Scottish Nuclear), ABl. 1991 L 178/31 Rn. 29 und 40; EuGH Urt. v. 27.4.1994 – Rs. C-393/92 (Almelo), Slg. 1994, I-1477 Rn. 25 ff. und 34 ff. 318 Deutlich führt z. B. bereits EuGH Urt. v. 13.2.1979 – Rs. 85/76 (Hoffmann-La Roche/ Kommission), Slg. 1979, 461 Rn. 115 mit Blick auf Alleinbezugsverträge aus, dass es einem Unternehmen in beherrschender Stellung untersagt ist, seine Abnehmer „durch ausschließliche Bezugsverpflichteungen jedenfalls über einen so langen Zeitraum zu binden, wie es in diesem Vertrag vorgesehen ist“ (Herv. d. Verf.). Siehe ferner nur EuG Urt. v. 8.6.1995 – Rs. T-7/93 (Langnese-Iglo / Kommission),  Slg. 1995, II-1533 Rn. 137 f. und 106. 319 Richtlinie 2014/23/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die Konzessionsvergabe, ABl. 2014 L 94/1. 320 Erwägungsgrund Nr. 52 Konzessionsrichtlinie führt weiter aus: „Eine lange Vertragslaufzeit kann allerdings gerechtfertigt sein […]. Die Laufzeit von Konzessionen, die für mehr als fünf Jahre vergeben werden, sollte […] nicht länger sein als der Zeitraum, innerhalb dessen der Konzessionsnehmer nach vernünftigem Ermessen die Investitionsaufwendungen […] zuzüglich einer Rendite des eingesetzten Kapitals […] erwirtschaften kann […]. Die Höchstdauer des Konzessionsvertrags sollte in den Konzessionsunterlagen angegeben werden, sofern die Vertragsdauer nicht selbst ein Zuschlagskriterium ist. Öf-

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Kapitel 4 – Materialisierung der Vertragsfreiheit durch Unionsrecht

reits die Frage aufgeworfen, inwieweit durch das Unionsrecht Höchstbindungsdauern für Vergabeverträge angezeigt sein können.321 Generalanwältin Kokott hält es insbesondere für „[v]ergaberechtlich problematisch […], zu einem zeitlich unbefristeten Dauerschuldverhältnis auch noch einen Kündigungsverzicht für längere Zeit zu vereinbaren oder gar die Kündigung […] gänzlich auszuschließen. Eine solche Vereinbarung würde nämlich auf Dauer jeglichen Wettbewerb zwischen den möglichen Dienstleistungserbringern ausschließen”.322

Schließlich wird das unionale Wirtschaftsvertragsrecht ebenfalls von dem Grundsatz beherrscht, dass sich auch professionelle Akteure von auf unbestimmte Zeit geschlossenen Verträgen lösen können: Beispielsweise ist ein Handelsvertretervertrag unter Einhaltung einer Frist gemäß Art. 15 Handelsvertreterrichtlinie jederzeit kündbar. Die vorstehend dargestellten Begrenzungen der vertraglichen Bindungsdauer sollen in unterschiedlichen Sachmaterien jeweils eine Aktualisierung der Vertragsfreiheit ermöglichen. Als Materialisierungsinstrumente des Unionsprivatrechts dienen Höchstbindungsdauern damit sowohl der individuellen Selbstbestimmungsfreiheit als auch vor allem der Stärkung des Wettbewerbs im Binnenmarkt. G. Summe des vierten Kapitels Ist die Materialisierung ein Paradoxon, weil sie auf den ersten Blick „Schutz vor den Auswirkungen der Privatautonomie im Namen der Privatautonomie“ verheißt?323 Nach hiesigem Verständnis greift das Materialisierungsinstrumentarium des EU-Privatrechts nur ein, wenn eine Partei ihre rechtsgeschäftliche Privatautonomie – zumindest bei typisierender Betrachtung – nicht oder nur unzulänglich im Rahmen des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus entfalten kann. Relevante Störfaktoren, denen die Materialisierung zu begegnen sucht, sind entsprechend vor allem unzulängliche Entscheidungsgrundlagen sowie Beeinträchtigungen der Funktionsvoraussetzungen des Vertragsfentliche Auftraggeber und Auftraggeber sollten jederzeit eine Konzession für einen kürzeren […] Zeitraum vergeben können“. 321 Obschon der Gerichtshof unbefristete Verträge im Vergaberecht nicht ohne Weiteres als rechtswidrig ansieht, führt EuGH Urt. v. 19.6.2008 – Rs. C-454/06 (pressetext), Slg. 2008, I-4401 Rn. 73 unmissverständlich aus: „Was zunächst die Vereinbarung einer neuen Kündigungsverzichtsklausel während der Laufzeit eines unbefristeten Vertrags angeht, so ist darauf hinzuweisen, dass die Praxis der Vergabe eines unbefristeten öffentlichen Dienstleistungsauftrags an und für sich der Systematik und den Zielen der Gemeinschaftsvorschriften […] fremd ist. Eine solche Praxis kann auf lange Sicht den Wettbewerb zwischen potenziellen Dienstleistungserbringern beeinträchtigen“ (Herv. d. Verf.). 322 GA Kokott Schlussanträge v. 13.3.2008 – Rs. C-454/06 (pressetext), Slg. 2008, I-4401 Rn. 74. 323 Kittner, FS Dieterich (1999), S. 279, 282. Siehe auch Maunz / Dürig / Di Fabio (2016), Art. 2 GG Rn. 112.

§ 3 Materialisierung durch Unionsprivatrecht

393

und Wettbewerbsmechanismus. Gegen vollumfänglich selbstbestimmte Vertragsentscheidungen und deren Auswirkungen bietet dieses Phänomen hingegen keinerlei „Schutz“. Während sich die Regelungsansätze deutlich unterscheiden, verfolgen alle Materialisierungsinstrumente des Unionsprivatrechts das Ziel, die faktischen Grundlagen der Vertragsfreiheit zu schaffen, zu stärken und zu erhalten. Die Instrumente entfalten ihre Wirkungen dabei in unterschiedlichen Vertragsphasen und materialisieren jeweils andere Aspekte der unionalen Vertragsfreiheit. Beispielsweise stehen im Rahmen des Informationsmodells des EUPrivatrechts die Abschluss-, Vertragspartnerwahl- sowie die Inhaltsfreiheit im Vordergrund. Die Inhaltskontrolle fokussiert hingegen auf die negative Vertragsinhaltsfreiheit der Verbraucher. Sodann dienen Vertragsbeseitigungsrechte der Materialisierung durch Aktualisierung der Vertragsfreiheit: Dadurch, dass die Bindung an den Vertrag während einer bestimmten Zeitspanne – etwa durch ein Widerrufsrecht – aufgelöst werden kann, wird die neuerliche Betätigung der (negativen) Abschluss- und Kontrahentenwahlfreiheit ermöglicht. Um möglichst umfassende und werthaltige Selbstbestimmungschancen zu schaffen, greifen im Unionsprivatrecht regelmäßig unterschiedliche Materialisierungsinstrumente, etwa in Form von vorvertraglichen Informationen und nachvertraglichen Vertragsbeseitigungsrechten ineinander. Zudem komplementieren die privatrechtlichen häufig die wettbewerbsbezogenen Instrumente zur Materialisierung der Vertragsfreiheit: Beispielsweise konkretisieren die unionsprivatrechtlichen Informationspflichten gerade die lauterkeitsrechtlichen Anforderungen im Rahmen von Art. 6 und Art. 7 Lauterkeitsrichtlinie. Auch kompensiert die Inhaltskontrolle nach der Klauselrichtlinie gerade die Defizite des Wettbewerbsmechanismus in den Bereichen, in denen typischerweise kein Konditionenwettbewerb herrscht. Schließlich sichert die Transparenzkontrolle die Funktionsfähigkeit des wettbewerbsbasierten Vertragsmechanismus mit Blick auf die Haupt- und Gegenleistung ab. Allerdings kann die Vertragsfreiheit der einen Partei regelmäßig nur um den Preis der Beschränkung der Vertragsfreiheit der anderen Partei materialisiert werden. Deshalb wird im weiteren Verlauf der Abhandlung noch zu fragen sein, inwieweit eine Abstufung der Materialisierungsinstrumente entlang ihrer Eingriffsintensität unionsrechtlich vorgezeichnet ist.324 Zunächst gilt die Aufmerksamkeit indes den weiteren Bausteinen des Materialisierungssystems: Namentlich bleibt die Entfaltung unionaler Vertragsfreiheit nicht allein dem Instrumentarium des EU-Privatrechts überlassen, sondern das mitgliedstaatliche Privat- und Zivilprozessrecht kann ebenfalls in den Dienst dieses Ziels gestellt werden.

324

Siehe dazu noch eingehend unten Kapitel 7 § 1.

Kapitel 5

Indienstnahme des BGB zur Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit Kapitel 5 – Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit durch das BGB

Soweit die Materialisierungsinstrumente des EU-Privatrechts in Richtlinien enthalten und in das mitgliedstaatliche Zivilrecht umzusetzen sind, wird das deutsche bürgerliche Recht unweigerlich zur Entfaltung der unionalen Vertragsfreiheit herangezogen. Aber auch darüber hinaus sind die Materialisierungsinstrumente des Privatrechts der Union und ihrer Mitgliedstaaten eng verzahnt. Zwei Triebkräfte (§ 1) bewirken, dass selbst diverse nicht-harmonisierte Bereiche des deutschen BGB in den Dienst der Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit gestellt werden (§ 2). So gerät z. B. mit den Anfechtungstatbeständen der §§ 119 ff. BGB die bürgerlich-rechtliche Rechtsgeschäftslehre in den Einflussbereich des Unionsrechts. Gleiches gilt für die culpa in contrahendo und die Generalklauseln des BGB. Das EU-Privatrecht baut damit auch bei der Materialisierung der Vertragsfreiheit auf einen „hybriden Kodex“, der genuin unionsrechtliche Elemente mit dem mitgliedstaatlichen Zivilrecht kombiniert.1 Das Ineinandergreifen dieser Bausteine folgt bestimmten Regeln, die zugleich die Rolle des deutschen BGB im unionalen Materialisierungssystem festlegen (§ 3).

§ 1 Einwirkungsebenen des unionalen Materialisierungsgebots § 1 Einwirkungsebenen des unionalen Materialisierungsgebots

Aufgrund des stetig dichter werdenden Netzes unionsprivatrechtlicher Regelungen geraten vertragliche Schuldverhältnisse auf vielfältige Weise in den Anwendungsbereich des Unionsrechts und sind in ihrer Gesamtheit an der unionalen Vertragsfreiheit zu messen. Dies gilt selbst für Rechtsakte wie die Verbraucherrechte- sowie die Klauselrichtlinie, die prima facie nur Teilbereiche des Schuldvertragsrechts erfassen: Zwar überantworten diese Richtlinien beispielsweise die Frage, ob ein Dissens das Zustandekommen des Vertrags verhindert oder, ob Willensmängel eine Partei zur Anfechtung berechtigen, grundsätzlich dem Zivilrecht der Mitgliedstaaten.2 Jedoch enthalten beide 1 2

linie.

Siehe zum Begriff des „hybriden Kodex“ bereits Basedow, AcP 200 (2000), 445. Vgl. nur Erwägungsgründe Nr. 14 und 42 sowie Art. 3 Abs. 5 Verbraucherrechtericht-

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Kapitel 5 – Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit durch das BGB

Sekundärrechtsakte zugleich Regelungen, die sämtliche Etappen des Vertrags – von der Anbahnung über den Abschluss und die Durchführung bis hin zur Beendigung – betreffen.3 Wo alle Phasen eines Vertragsverhältnisses – zumindest punktuell – unionsrechtlich geregelt werden, kann die unionale Vertragsfreiheit in gewissem Rahmen vorgeben, inwiefern sie einer Materialisierung durch das mitgliedstaatliche Privatrecht bedarf.4 Hierbei geht es freilich nur um Mindeststandards betreffend die Entfaltung und Durchsetzung der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie. Diese Einwirkung auf die Zivilrechtsordnungen der Mitgliedstaaten ist von der Verbandskompetenz der Europäischen Union gedeckt: Soweit das Privatrecht auf Basis des Art. 114 AEUV oder speziellerer Kompetenztitel harmonisiert wird, verfügt die EU grundsätzlich über eine Annexkompetenz zur Rahmensetzung hinsichtlich der Art, des Umfangs sowie insbesondere der Durchsetzung der privatrechtlichen Rechtsfolgen.5 Zugunsten der Inanspruchnahme des deutschen Bürgerlichen Rechts als Materialisierungsinstrument wirken im Wesentlichen zwei Kräfte: Zum einen erweitern die unterschiedlichen Facetten des Effektivitätsgrundsatzes den Einflussbereich der unionalen Vertragsfreiheit auf die nicht-harmonisierten Areale des deutschen Bürgerlichen Rechts (A). Darüber hinaus ist das Unionsgrundrecht der Vertragsfreiheit selbst Triebfeder der Materialisierung (B). A. Effektivitätsgrundsatz als Einfallstor Neben der allgemeinen Verpflichtung zur wirksamkeitsorientierten Auslegung und Anwendung des gesamten mitgliedstaatlichen Rechts fördert insbesondere der Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz eine Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit mithilfe des BGB (I). Über die beiden vorgenannten Ausprägungen des in Art. 4 Abs. 3 EUV wurzelnden allgemeinen Effektivitätsprinzips6 gelangen auch unharmonisierte nationale Regelungen in den 3 Vgl. nur Art. 5, Art. 6 Abs. 1 und Abs. 5, Art. 7 f. sowie Art. 9 ff. und Art. 18 ff. Verbraucherrechterichtlinie. Vgl. ferner z. B. Art. 3 i. V. m. Anhang Nr. 1 lit. c–d sowie f–o Klauselrichtlinie. 4 Siehe dazu erneut eingehend oben Kapitel 2 § 3 B II 2 c. 5 Vgl. aus der ständigen Rechtsprechung nur EuGH Urt. v. 16.12.1976 – Rs. 33/76 (Rewe), Slg. 1976, 1989 Rn. 5; EuGH Urt. v. 13.9.2005 – Rs. C-176/03 (Kommission / Rat), Slg. 2005, I-7879 Rn. 47 f. Siehe statt vieler Poelzig, Normdurchsetzung durch Privatrecht (2012), S. 297; Heinze, Schadensersatz im Unionsprivatrecht (2017), S. 26 ff. 6 Siehe zur Anbindung der wirksamkeitsorientierten Auslegung sowie des Effektivitätsgrundsatzes an Art. 4 Abs. 3 EUV und damit an einen „Effektivitätsgrundsatz im weiteren Sinne“ z. B. Weyer, ZEuP 2003, 318, 322; Heinze, Schadensersatz im Unionsprivatrecht (2017), S. 47 f., jeweils m. w. N. Vgl. nur EuGH Urt. v. 9.3.2004 – verb. Rs. C-397/01 u. a. (Pfeiffer u. a.), Slg. 2004, I-8835 Rn. 114: „Das Gebot einer gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts ist dem EG-Vertrag immanent“. Deutlich zu Art. 4 Abs. 3 EUV auch z. B. EuGH Gutachtenverfahren v. 8.3.2011 – Gutachten 1/09

§ 1 Einwirkungsebenen des unionalen Materialisierungsgebots

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Anwendungsbereich des EU-Rechts. Dies zwingt zugleich zur Beachtung der Unionsgrundrechte einschließlich der Vertragsfreiheit.7 Soweit die Normen des BGB im Lichte des effet utile interpretiert oder im Einklang mit dem Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz angewendet werden, ist hiermit automatisch eine unionsgrundrechtskonforme Auslegung im Lichte der unionalen Vertragsfreiheit verbunden (II). I. Wirksamkeitsorientierte Auslegung und Äquivalenz- sowie Effektivitätsgrundsatz Die der Umsetzung sekundärrechtlicher Vorgaben dienenden Vorschriften sind stets in einer Weise auszulegen, die dem Unionsrecht zu größtmöglicher praktischer Wirksamkeit verhilft. 8 Allerdings beschränkt sich das Gebot der wirksamkeitsorientierten Auslegung keineswegs nur auf „die zur Umsetzung der fraglichen Richtlinie erlassenen innerstaatlichen Bestimmungen, […] sondern verlangt, dass das nationale Gericht das gesamte nationale Recht berücksichtigt“.9

Soweit dies die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts gebietet, müssen daher insbesondere auch alle nicht-harmonisierten Bereiche des deutschen Bürgerlichen Rechts im Lichte des effet utile des jeweiligen Unionsrechtsakts interpretiert und angewendet werden.10 Dies gilt insbesondere, wenn Normkonflikte zwischen den Regelungen des BGB einerseits und den unionalen Materialisierungsinstrumenten andererseits drohen: Hier dürfen die mitgliedstaatlichen Vorschriften grundsätzlich nicht die vom Unionsprivatrecht intendierte Wirkung konterkarieren.

(Einheitliches Patentgerichtssystem), Slg. 2011, I-1137 Rn. 68; EuGH Urt. v. 27.3.2014 – Rs. C-565/12 (Crédit Lyonnais), EU:C:2014:190 Rn. 44 ff. 7 Siehe zu dieser Ausweitung des Anwendungsbereich des Unionsrechts und der Unionsgrundrechte bereits oben Kapitel 2 § 3 B II 2 b. 8 Z. B. EuGH Urt. v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 (von Colson und Kamann), Slg. 1984, 1891 Rn. 24. 9 EuGH Urt. v. 9.3.2004 – verb. Rs. C-397/01 u. a. (Pfeiffer u. a.), Slg. 2004, I-8835 Rn. 114 f. (Herv. d. Verf.). 10 Siehe wiederum EuGH Urt. v. 9.3.2004 – verb. Rs. C-397/01 u. a. (Pfeiffer u. a.), Slg. 2004, I-8835 Rn. 114 f. Vgl. zum Schuldvertragsrecht nur EuGH Urt. v. 6.6.2002 – Rs. C159/00 (Sapod Audic), Slg. 2002, I-5031 Rn. 52. Im Kontext des Zivilprozessrechts hat zuletzt etwa EuGH Urt. v. 30.5.2013 – Rs. C-397/11 (Jőrös), EU:C:2013:340 Rn. 53; EuGH Urt. v. 12.2.2015 – Rs. C-567/13 (Baczó), EU:C:2015:88 Rn. 37, entschieden „dass die Richtlinie 93/13 dahin auszulegen ist, dass das nationale Gericht, das von Amts wegen die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel festgestellt hat, das innerstaatliche Prozessrecht nach Möglichkeit so anzuwenden hat, dass alle Konsequenzen gezogen werden, die sich nach nationalem Recht aus der Feststellung der Missbräuchlichkeit der fraglichen Klausel ergeben, damit es sicher sein kann, dass diese Klausel für den Verbraucher unverbindlich ist“.

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Kapitel 5 – Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit durch das BGB

Zudem zwingt der Effektivitätsgrundsatz alle EU-Mitgliedstaaten, „die den […] Bürgern aus der unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrecht erwachsenden Rechte“ mithilfe aller in der jeweiligen innerstaatlichen Rechtsordnung verfügbaren materiell- und verfahrensrechtlichen Regelungen zu gewährleisten.11 Von besonderer Wirkmacht ist dieser Grundsatz bislang vor allem im Verfahrensrecht, einschließlich des Zivilprozessrechts: So findet die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten im Zivilprozessrecht dort eine Grenze, wo die Regelungen der ZPO „die Ausübung der Rechte, die die Unionsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren“.12 Mit Blick auf die Verwirklichung der durch die Unionsrechtsordnung gewährleisteten Rechte verlangt der EuGH nunmehr auch, dass auch die mitgliedstaatlichen „Regeln und Grundsätze des Vertragsrechts […] nicht weniger günstig sein [dürfen] als bei gleichartigen […] innerstaatliche[n] Recht[en] […] (Grundsatz der Gleichwertigkeit), und […] nicht so ausgestaltet sein [dürfen], dass sie die Ausübung der Rechte, die die [Unions]rechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen (Grundsatz der Effektivität)“.13

Dabei wirkt der Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz insbesondere in seiner sanktionenrechtlichen Ausprägung14 auf eine Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit durch das nationale Zivilrecht hin. Der Äquivalenzgrundsatz gebietet zunächst, dass Verstöße gegen unionsrechtliche Materialisierungsinstrumente – etwa gegen die zahlreichen sekundärrechtlichen Diskrimierungsverbote oder gegen die Plicht zur Kreditwürdigkeitsprüfung nach Art. 8 Verbraucherkreditrichtlinie – „nach materiellen und verfahrensrechtlichen Regeln geahndet werden, die denjenigen ähneln, die bei nach Art und Schwere gleichartigen Verstößen gegen das nationale Recht gelten“.15

Der Effektivitätsgrundsatz fordert sodann die praktische Wirksamkeit der jeweiligen Sanktion ein. Die sanktionenrechtliche Variante dieser Grundsätze 11 Ständige Rechtsprechung seit EuGH Urt. v. 16.12.1976 – Rs. 33/76 (Rewe), Slg. 1976, 1989 Rn. 5; EuGH Urt. v. 16.12.1976 – Rs. 45/76 (Comet), Slg. 1976, 2043 Rn. 11/18. 12 Siehe aus der ständigen Rechtsprechung nur EuGH Urt. v. 3.10.2013 – Rs. C-32/12 (Duarte Hueros), EU:C:2013:637 Rn. 31 m. w. N. Zum Ganzen statt aller Heinze, in: Basedow / Hopt / Zimmermann (Hrsg.) Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009), S. 337, 337 ff. Siehe hierzu noch eingehend unten Kapitel 6. 13 EuGH Urt. v. 6.6.2002 – Rs. C-159/00 (Sapod Audic), Slg. 2002, I-5031 Rn. 52 (Herv. d. Verf.). 14 Dazu eingehend Heinze, Schadensersatz im Unionsprivatrecht (2017), S. 20 ff. 15 So zur Verbraucherkreditrichtlinie z. B. EuGH Urt. v. 27.3.2014 – Rs. C-565/12 (Crédit Lyonnais), EU:C:2014:190 Rn. 44 (Herv. d. Verf.). Siehe aus der ständigen Rechtsprechung zu den Diskriminierungsverboten nur EuGH Urt. v. 22.4.1997 – Rs. C-180/95 (Draehmpaehl), Slg. 1997, I-2195 Rn. 29.

§ 1 Einwirkungsebenen des unionalen Materialisierungsgebots

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entfaltet ihre Wirkungen vor allem in jenen Regelungsbereichen, in denen das Sekunddärrecht seinerseits effektive, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen vorgibt und die konkrete Ausgestaltung dem mitgliedstaatlichen (Privat)Recht überantwortet.16 Hier wirkt der Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz auch in nicht-harmonisierten Regelungsfelder hinein und stellt sicher, dass sich die mitgliedstaatlichen Sanktionsinstrumente stets in dem unionsrechtlich gebotenen Rahmen bewegen. II. Erweiterungen der unionsgrundrechtskonformen Interpretation durch effet utile und Äquivalenz- sowie Effektivitätsgrundsatz Soweit der Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz auf das nicht-harmonisierte Privatrecht einwirkt, ist der Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte eröffnet.17 Dies hat zur Folge, dass die fraglichen Normen des mitgliedstaatlichen Zivilrechts ihrerseits unionsgrundrechtskonform auszulegen sind.18 Hierbei ist wiederum zu beachten, dass ein Vertrag, der auch nur in Teilaspekten in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, grundsätzlich in seiner Gesamtheit von der unionalen Vertragsfreiheit erfasst wird: Der Vertrag bildet den einheitlichen Schutzgegenstand der ihrerseits unteilbaren Vertragsfreiheit.19 Während in nicht ausschließlich durch das EU-Recht determinierten Bereichen zwar die jeweilige nationale neben die unionale Vertragsfreiheit tritt, sind korrespondierende mitgliedstaatliche Freiheitsverbürgungen nur zu berücksichtigen, soweit sie ein höheres Schutzniveau bieten.20 Ähnlich verhält es sich, wenn das unharmonisierte mitgliedstaatliche Recht auf andere Weise in den Anwendungsbereich des Unionsrechts gelangt. Soweit etwa der sanktionenrechtliche Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz zu einer Inanspruchnahme des Bürgerlichen Rechts zwingt, geht hiermit ebenfalls zwangsläufig eine unionsgrundrechtskonforme Auslegung und Anwendung der betreffenden Regelungen einher. Dies trifft beispielsweise zu, wenn ein Verstoß gegen Materialisierungsinstrumente –z. B. gegen vorvertragliche Informationspflichten – des EU-Privatrechts aufgrund des Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatzes eine zivilrechtliche Sanktion im System des deutschen BGB erfordert: Hier muss das erzielte Resultat in jedem Fall nicht nur die Wirksamkeit des (sekundären) Unionsrechts, sondern gerade auch die unionsgrundrechtlich gebotene volle Entfaltung der Vertragsfreiheit sicherstellen.

Vgl. z. B. Art. 23 Verbraucherkreditrichtlinie; Art. 24 Verbraucherrechterichtlinie und Art. 20 E-Commerce-Richtlinie. 17 Siehe bereits oben Kapitel 2 § 3 B II 2 b. 18 Siehe auch erneut oben Kapitel 2 § 3 B II 2 sowie oben Kapitel 3 § 1 A III 2. 19 Siehe dazu eingehend oben Kapitel 2 § 3 B II 2 c. 20 Vgl. Art. 53 GRCh. Siehe auch bereits oben Kapitel 2 § 3 B II 2 c bb. 16

400

Kapitel 5 – Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit durch das BGB

B. Vertragsfreiheit als unionsgrundrechtliche Triebfeder der Materialisierung Soweit die Vertragsfreiheit als Unionsgrundrecht ihrerseits Bezugspunkt des Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatzes ist, mag sie auch unter diesem Aspekt auf eine Materialisierung mithilfe des deutschen BGB hinwirken (I). In jedem Fall sind die EU-Mitgliedstaaten unter bestimmten Voraussetzungen Adressaten der aus der unionalen Vertragsfreiheit fließenden Schutzpflichten. Ebendiese unionsgrundrechtlichen Pflichten müssen dann nicht zuletzt mithilfe des nationalen Privatrechts erfüllt werden (II). I. Gebot äquivalenter und effektiver Entfaltung unionaler Vertragsfreiheit im nationalen Privat- und Zivilprozessrecht Der Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz zwingt die Mitgliedstaaten, „die volle Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten und den Schutz der Rechte zu gewährleisten, die den Einzelnen aus diesem Recht erwachsen“.21

Die Unionsgrundrechte zählen fraglos zu den „Rechte[n], die die Unionsrechtsordnung einräumt“.22 Entsprechend kann auch die unionale Vertragsfreiheit selbst Bezugspunkt des Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatzes sein. Anerkannt ist dies zunächst mit Blick auf die Durchsetzung von EUGrundrechten mithilfe des nationalen Prozessrechts. Letzteres muss „einen wirksamen Grundrechtsschutz bieten […] und [darf] Verstöße gegen Unionsgrundrechte nicht schlechter als solche gegen nationale Grundrechte behandeln“.23

EuGH Gutachten v. 8.3.2011 – Gutachtenverfahren 1/09 (Einheitliches Patentgerichtssystem), Slg. 2011, I-1137 Rn. 68; EuGH Gutachten v. 18.12.2014 – Gutachtenverfahren 2/13 (EMRK-Beitritt II), EU:C:2014:2454 Rn. 175. 22 EuGH Urt. v. 3.10.2013 – Rs. C-32/12 (Duarte Hueros), EU:C:2013:637 Rn. 31. 23 Wollenschläger, in: Hatje / Müller-Graff (Hrsg.), EnzEuR I: Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht (2014), § 8 Rn. 108 (Herv d. Verf.). Ebenso auch z. B. GA Bot Schlussanträge v. 7.11.2013 – Rs. C-604/12 (H.N.), EU:C:2013:714 Rn. 33: „[D]ie Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten wird jedoch seit jeher dadurch nuanciert, dass die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität beachtet werden müssen und die Beachtung der Grundrechte zu gewährleisten ist“. Dieser Befund findet zudem eine Stütze in der Entscheidungspraxis des Gerichtshofs: So sieht z. B. EuGH Urt. v. 23.10.2014 – Rs. C-437/ 13 (Unitrading), EU:C:2014:2318 Rn. 30 das Grundrecht des Art. 47 GRCh nur dann nicht verletzt, wenn „die Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz gewahrt werden“. Auch im Übrigen zieht der EuGH in seiner jüngeren Judikatur bisweilen sowohl das Effektivitätsgebot als auch gleichlaufende Unionsgrundrechte und insbesondere Art. 47 GRCh heran, siehe nur EuGH Urt. v. 18.3.2010 – verb. Rs. C-317/08 u. a. (Alassini u. a.), Slg. 2010 I-2213 Rn. 47 ff. sowie 61 ff.; EuGH Urt. v. 22.12.2010 – Rs. C-279/09 (DEB), Slg. 2010, I-13849 Rn. 28 ff.; EuGH Urt. v. 6.10.2015 – Rs. C-61/14 (Orizzonte Salute), EU:C:2015:655 Rn. 46 ff. und 72; EuGH Urt. v. 30.6.2016 – Rs. C-200/14 (Câmpean), EU:C:2016:494 Rn. 39 und 70. Siehe auch GA Sharpston Schlussanträge v. 28.4.2016 – 21

§ 1 Einwirkungsebenen des unionalen Materialisierungsgebots

401

Geht man mit dem EuGH davon aus, dass der Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz bei der Anwendung aller „materiellen und verfahrensrechtlichen Regeln“ des mitgliedstaatlichen Rechts zu beachten ist,24 was insbesondere die „Regeln und Grundsätze des Vertragsrechts“ einschließt,25 kann die unionale Vertragsfreiheit auch auf diesem Wege auf ihre Materialisierung mithilfe des BGB hinwirken. Für diese Lesart spricht ein Erst-recht-Schluss: Wenn schon sekundärrechtlich fundierte Rechtspositionen gegebenenfalls durch die Inanspruchnahme nicht-harmonisierter Regeln des nationalen Privat- und Prozessrecht zu voller Wirksamkeit zu bringen sind, muss dies erst recht für die mit der Dignität eines Unionsgrundrechts ausgestatte Vertragsfreiheit gelten. Ist der Anwendungsbereich des EU-Rechts eröffnet, müssen die durch Art. 4 Abs. 3 EUV verpflichteten Mitgliedstaaten die unionale Vertragsfreiheit demnach unter Beachtung des Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatzes möglichst umfassend mithilfe des gesamten Instrumentariums ihres nationalen Rechts verwirklichen und absichern.26 Wo das deutsche Privatrecht beispielsweise die im nationalen Recht verbürgte Vertragsfreiheit auf eine bestimmte Weise – etwa im Rahmen der §§ 119 ff. oder des § 138 BGB – materialisiert,27 müssen diese Mechanismen aufgrund des Äquivalenzgrundsatzes in unionsrechtlich determinierten Sachverhalten in gleicher Form auch für die unionale Vertragsfreiheit herangezogen werden.28 Der Effektivitätsgrundsatz gebietet sodann, dass die Entfaltung der als Unionsgrundrecht verbürgten Vertragsfreiheit im Anwendungsbereich des EU-Rechts nicht durch Vorschriften des unharmonisierten mitgliedstaatlichen Privatrechts praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird.29 verb. Rs. C-439/14 u. a. (Star Storage), EU:C:2016:307 Rn. 36 ff.; Heinze, Schadensersatz im Unionsprivatrecht (2017), S. 45 ff. 24 Siehe z. B. zur Verbraucherkreditrichtlinie nur EuGH Urt. v. 27.3.2014 – Rs. C565/12 (Crédit Lyonnais), EU:C:2014:190 Rn. 44. 25 Siehe erneut nur EuGH Urt. v. 6.6.2002 – Rs. C-159/00 (Sapod Audic), Slg. 2002, I5031 Rn. 52. 26 In diese Richtung deutet auch EuGH Urt. v. 16.7.2015 – Rs. C-580/13 (Coty), EU:C: 2015:485 Rn. 42: Um eine unionsgrundrechtskonformes Ergebnis zu erzielen habe das nationale Zivilgericht jenseits der unmittelbar harmonisierten Regelungen „zu prüfen, ob das betreffende nationale Recht gegebenenfalls andere Rechtsbehelfe oder Rechtsmittel enthält“. Wie hier Jarass, in: Heiderhoff / Lohsse / Schulze (Hrsg.), EU-Grundrechte und Privatrecht (2016), S. 31, 43 („folgenreiche Ausweitung der grundrechtskonformen Auslegung“). 27 Siehe zur Einordnung der Anfechtungstatbestände als Materialisierungsinstrumente bereits Canaris, AcP 200 (2000), 273, 280 ff. und 295 ff. 28 Vgl. im vertragsrechtlichen Kontext erneut nur EuGH Urt. v. 6.6.2002 – Rs. C159/00 (Sapod Audic), Slg. 2002, I-5031 Rn. 52; EuGH Urt. v. 27.3.2014 – Rs. C-565/12 (Crédit Lyonnais), EU:C:2014:190 Rn. 44 ff. 29 Vgl. zum Verbot der Vereitelung unionsrechtlich gewährter Rechte durch mitgliedstaatliche „Regeln und Grundsätze des Vertragsrechts“ erneut EuGH Urt. v. 6.6.2002 – Rs. C-159/00 (Sapod Audic), Slg. 2002, I-5031 Rn. 52.

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Kapitel 5 – Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit durch das BGB

Ganz im Gegenteil müssen die Mitgliedstaaten aufgrund ihrer Förderungsund Loyalitätspflicht auch auf Ebene ihres nationalen Zivilrechts zur bestmöglichen Verwirklichung der unionalen Vertragsfreiheit beitragen.30 Dies geht potenziell über das Gebot der unionsgrundrechtskonformen Auslegung hinaus: Während Letztere grundsätzlich auf den Anwendungsbereich des EURechts beschränkt ist,31 kann der Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz gerade auch die Einbeziehung nicht unmittelbar harmonisierter Instrumente des mitgliedstaatlichen Privat- und Zivilprozessrechts gebieten.32 II. Erfüllung unionsgrundrechtlicher Schutzpflichten durch mitgliedstaatliches Privatrecht Als Unionsgrundrecht gebietet die rechtsgeschäftliche Privatautonomie, dass den Vertragsparteien jeweils die werthaltige Selbstbestimmungsmöglichkeiten eröffnet werden: Die Materialisierungsinstrumente – wie z. B. die Informationspflichten – des EU-Privatrechts dienen daher nicht zuletzt der Erfüllung der aus der unionalen Vertragsfreiheit folgenden Schutzpflichten.33 Wo nun die unionsprivatrechtlichen Materialisierungsinstrumente diesen Zweck verfehlen, muss gegebenenfalls das mitgliedstaatliche Privatrecht sicherstellen, dass ein mit den Anforderungen der unionalen Vertragsfreiheit übereinstimmendes Ergebnis erzielt wird. Dies gilt jedenfalls soweit der Anwendungsbereich des Unionsrechts eröffnet ist: In dem so gesteckten Rahmen sind die EU-Mitgliedstaaten nämlich ihrerseits Adressaten der unionsgrundrechtlichen Schutzpflichten. Bei dieser Lesart gebieten demnach nicht der Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz, sondern gerade auch die aus der unionalen Vertragsfreiheit folgenden Schutzpflichten eine Flankierung und Ergänzung der Materialisierungsinstrumente des EU-Privatrechts. Diese gleichlaufenden Triebkräfte können damit jeweils auf die Inanspruchnahme des deutschen Bürgerlichen Rechts als Materialisierungsinstrument hinwirken.

30 Siehe zu dem – unter anderem durch Art. 4 Abs. 3 EUV gesteckten – Rahmen für zivilrechtliche Reaktionen auf die Verletzung der vorvertraglichen Verpflichtung zur Kreditwürdigkeitsprüfung nach Art. 8 Verbraucherkreditrichtlinie zuletzt EuGH Urt. v. 27.3.2014 – Rs. C-565/12 (Crédit Lyonnais), EU:C:2014:190 Rn. 44 ff. 31 Z. B. Herresthal, ZEuP 2014, 238, 275 f.; Leible / Domröse, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre (2015), § 8 Rn. 41. Siehe aber zur Ausweitung der unionsgrundrechtskonformen Auslegung durch den effet utile erneut oben A. 32 Vgl. erneut nur EuGH Urt. v. 9.3.2004 – verb. Rs. C-397/01 u. a. (Pfeiffer u. a.), Slg. 2004, I-8835 Rn. 114 f. 33 Siehe zu dieser Schutzpflichtendimension erneut oben Kapitel 3 § 1 A II 2 und siehe zu ihrer Rolle als Triebfeder der Materialisierung oben Kapitel 4 § 1 B I und II.

§ 1 Einwirkungsebenen des unionalen Materialisierungsgebots

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C. Zwischenfazit Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass durch den effet utile als Auslegungsleitlinie sowie durch die Einwirkung des Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatzes auch die nicht-harmonisierten Bereiche des deutschen BGB in den Einflussbereich des Unionsrechts gelangen. Soweit dies der Fall ist, muss auch durch die Inanspruchnahme des deutschen Privatrechts stets ein mit dem Unionsgrundrecht der Vertragsfreiheit kompatibles Ergebnis erzielt werden. Dies gilt umso mehr, als die Vertragsfreiheit selbst Bezugspunkt des Äquivalenz- und Effektivitätsgebots sein kann: Instrumente des Bürgerlichen Rechts, die der Materialisierung der nationalen Vertragsfreiheit dienen, müssen in unionsrechtlich determinierten Sachverhalten zunächst in gleicher Weise auch für die unionale Vertragsfreiheit herangezogen werden. Vor allem dürfen die unharmonisierten Vorschriften des Privatrechts die Entfaltung der unionalen Vertragsfreiheit nicht erschweren, sondern müssen, ganz im Gegenteil, ihre bestmögliche Verwirklichung sicherstellen. Hinzu kommt, dass die EU-Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich des Unionsrechts gehalten sind, die aus der unionalen Vertragsfreiheit folgenden Schutzpflichten zu erfüllen. Zu diesem Zweck müssen sie gegebenenfalls auch auf das Instrumenatrium ihres nationalen Zivilrechts zurückgreifen. Bei dieser Inanspruchnahme des nationalen Privatrechts zur Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit geht es somit stets um mehr als nur die Absicherung der praktischen Wirksamkeit des EU-Privatrechts: Soweit das Sekundärrecht der Union das Ziel verfolgt, möglichst umfassende materiale Selbstbestimmungschancen im Schuldvertragsrecht zu gewährleisten, wird dadurch zugleich ein aus der Vertragsfreiheit folgendes unionsgrundrechtliches Gebot erfüllt. Entsprechend liefert die unionale Vertragsfreiheit hier neben dem Effektivitätsgrundsatz ein weiteres wirkmächtiges primärrechtliches Argument für die Überformung des nationalen Zivilrechts. Die vorgenannten Triebkräfte nehmen dabei in zweierlei Hinsicht Einfluss auf die Umsetzung des unionsrechtlichen Materialisierungsgebots durch das deutsche Privatrecht: Zum einen sichern sie die Wirksamkeit der Materialisierungsinstrumente dadurch ab, dass entgegenstehende Vorschriften des Bürgerlichen Rechts stets unions(grund)rechtskonform ausgelegt und angewendet werden. Zum anderen wirken insbesondere der Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz sowie die Schutzpflichtendimension der unionalen Vertragsfreiheit darauf hin, dass das mitgliedstaatliche Privatrecht aktiv zur Gewährleistung tatsächlicher Selbstbestimmungschancen beiträgt.

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Kapitel 5 – Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit durch das BGB

§ 2 Interaktion der Materialisierungsinstrumente des BGB und des EU-Privatrechts § 2 Interaktion der Materialisierungsinstrumente

Unter dem Eindruck unionsrechtlicher Vorgaben wird das BGB insbesondere dann in den Dienst der Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit gestellt, wenn EU-privatrechtliche und bürgerlich-rechtliche Normen zur Stärkung der faktischen Grundlagen der Selbstbestimmung parallel anwendbar sind. Dies ist in vielen Bereichen des Unionsprivatrechts der Fall, wie etwa die Verbraucherrechterichtlinie verdeutlichen mag. Ausweislich ihres Art. 3 Abs. 5 sowie ihres Erwägungsgrundes Nr. 14 lässt die Richtlinie „das allgemeine innerstaatliche Vertragsrecht“ und vor allem „die allgemeinen vertraglichen Rechtsbehelfe“ selbst dann unberührt, wenn diese Instrumente des mitgliedstaatlichen Rechts ebenfalls eine Materialisierung der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie bezwecken: Entsprechend können z. B. unionale Verbraucherwiderrufsrechte und nationale Anfechtungsrechte regelmäßig parallel bestehen.34 Vor diesem Hintergrund ist der Frage nachzugehen, wie sich das Materialisierungsgebot des Unionsrechts im Einzelnen auf das deutsche Bürgerliche Recht auswirkt und insbesondere, welche Komplementariäten und Konflikte zwischen den unionalen und nationalen Instrumenten bestehen. Besonderes Augenmerk gilt dabei den zentralen Vorschriften zum Schutz der rechtsgeschäftlichen Selbstbestimmung: Hierzu zählen neben den Anfechtungstatbeständen der §§ 119 ff. BGB (A) auch die culpa in contrahendo nach § 311 Abs. 2 i.V.m. § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2, § 249 BGB (B) sowie insbesondere § 138 und § 242 BGB als Generalklauseln des deutschen Bürgerlichen Rechts (C).35 A. Anfechtung nach §§ 119, 123 BGB Die bürgerlich-rechtlichen Anfechtungstatbestände sollen die unbeeinträchtigte Entscheidungsfreiheit des Erklärenden dadurch sicherstellen, dass mit Willensmängeln behaftete Vertragserklärungen gemäß §§ 119 ff., § 142 BGB beseitigt werden können. Entsprechend werden diese Normen dem Materialisierungsinstrumentarium des BGB zugeschlagen.36 BGH Urt. v. 25.11.2009 – Az. VIII ZR 318/08, NJW 2010, 610, 611 überlässt dem Verbraucher daher die Wahl, „ob er einen Fernabsatzvertrag […] widerruft oder ob er den Vertrag – gegebenenfalls – wegen Irrtums oder arglistiger Täuschung […] anficht“. Vgl. mit Blick auf unionsprivatrechtlich vorgegebene Widerrufsrechte einerseits und ähnlich motivierte Vertragsbeseitigungsrechte des mitgliestaatlichen Rechts andererseits auch Erwägungsgrund Nr. 42 Verbraucherrechterichtlinie. 35 Siehe zu dieser Gewichtung der Materialisierungsinstrumente des deutsche Bürgerlichen Rechts bereits Canaris, AcP 200 (2000), 273, 280. 36 Siehe wiederum nur Canaris, AcP 200 (2000), 273, 280 ff. 34

§ 2 Interaktion der Materialisierungsinstrumente

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In vielen Bereichen enthält auch das Unionsrecht Normen, welche die Willensbildung bei der Anbahnung und beim Abschluss von Schuldverträgen betreffen: Das Spektrum reicht von Informationspflichten über Form- und Transparenzanforderungen bis hin zur Regelung der Vertragsschlussmodalitäten.37 Darüber hinaus sieht das Unionsprivatrecht eigene Tatbestände vor, die unverfälschte rechtsgeschäftliche Privatautonomie gewährleisten sollen. Namentlich geht der Unionsgesetzgeber bei typisierender Betrachtung in bestimmten Fallgruppen davon aus, dass die Entscheidungsfreiheit einer soliden Grundlage entbehrt und daher eine Intervention angezeigt ist: So wird z. B. das Widerrufsrecht bei Außergeschäftsraumverträgen mit der Gefahr der Überrumplung des Verbrauchers gerechtfertigt.38 Das Vertragslösungsrecht bei Fernabsatzgeschäften beruht hingegen auf der fehlenden physischen Überprüfbarkeit der gekauften Ware.39 Sowohl bei Lebensversicherungsverträgen als auch bei Time-Sharing-Verträgen gründet die Widerrufsmöglichkeit in der besonderen Komplexität der Produkte sowie der Tragweite der finanziellen Verpflichtungen.40 Allen Konstellationen ist gemein, dass der Erklärende im Zeitpunkt des Vertragsschlusses typischerweise nicht alle für die Willensbildung bedeutsamen Faktoren kennt oder zutreffend zu bewerten vermag. So führt der EuGH an, dass Verbraucher und Versicherungsnehmer angesichts der Komplexität und langen Laufzeit der Verträge häufig die gewichtigen finanziellen Konsequenzen ihrer Vertragserklärung nicht vollständig abzuschätzen vermögen.41 Für die hiesige Untersuchung ist nun zweierlei von Bedeutung: Zum einen eröffnen die vorgenannten Instrumente des EU-Privatrechts den Anwendungsbereich der Unionsrechts und damit auch der unionalen Vertragsfreiheit. Zum anderen treten die Vertragslösungsrechte – gleichermaßen als „typisierte Anfechtungstatbestände“ –42 neben §§ 119 ff. BGB.43 Wo solche Überschneidungen zwischen den Materialisierungsinstrumenten des BGB und des EU-Privatrechts bestehen, können aus dem Unionsrecht Vorgaben und Grenzen für die Anwendung der §§ 119 ff. BGB folgen. NaSiehe erneut oben Kapitel 4 § 3 A und B. Vgl. Erwägungsgründe Nr. 21 und 37 Verbraucherrechterichtlinie. Vgl. auch z. B. EuGH Urt. v. 25.10.2005 – Rs. C-229/04 (Crailsheimer Volksbank), Slg. 2005, I-9273 Rn. 43. 39 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 37. 40 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 11 und Art. 6 ff. Time-Sharing-Richtlinie. Siehe mit Blick auf Lebensversicherungsverträge nur EuGH Urt. v. 19.12.2013 – Rs. C-209/12 (Endress), EU:C:2013:864 Rn. 29 und vgl. Art. 186 Solvency II. Siehe zum Ganzen oben Kapitel 4 § 3 F I. 41 Erwägungsgrund Nr. 37 Verbraucherrechterichtlinie. 42 S. Lorenz, GS Wolf (2011), S. 77, 84. 43 Vgl. nur Erwägungsgründe Nr. 14 und 42 sowie Art. 3 Abs. 5 Verbraucherrechterichtlinie. Siehe statt aller auch MünchKommBGB / Armbrüster (2015), § 119 BGB Rn. 39. 37 38

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Kapitel 5 – Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit durch das BGB

mentlich mögen – bislang durch den EuGH freilich noch nicht konkretisierte – Minimalanforderungen an das unionsrechtlich gebotene Niveau der Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit existieren. Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden drei Berührungspunkten zwischen den Anfechtungstatbeständen des deutschen BGB einerseits und den Materialisierungsinstrumenten des EU-Privatrechts andererseits nachgegangen. Zunächst kann die Ausübung des Anfechtungsrechts nach §§ 119 ff. BGB in Konflikt mit der unionsrechtlich gebotenen Materialisierung der Vertragsfreiheit des anderen Vertragsteils stehen (I). Demgegenüber ist auch eine elektive Konkurrenz zwischen unionalen und nationalen Instrumenten möglich, soweit sie dieselbe Schutzrichtung verfolgen (II). Schließlich ist die Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit mithilfe der §§ 119 ff. BGB in bestimmten Konstellationen unionsrechtlich vorgezeichnet (III). I.

Konflikte mit Materialisierungsinstrumenten des Unionsprivatrechts

Wo immer die Anfechtungstatbestände des deutschen Bürgerlichen Rechts und der Materialisierungsinstrumente des Unionsprivatrechts entgegengesetzte Schutzrichtungen verfolgen, muss die dadurch geschaffene Konfliktlage aufgelöst werden. Dies betrifft insbesondere Fallgestaltungen, in denen das BGB die rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit der einen Vertragspartei zu gewährleisten sucht, während das Unionsprivatrecht den Schutz der Vertragsfreiheit der anderen Partei bezweckt. 1. Anfechtung und Diskriminierungsschutz im Schuldvertragsrecht Soweit beispielsweise ein Arbeitgeber den Arbeitsvertrag aufgrund eines Irrtums über die Schwangerschaft der Arbeitnehmerin nach deutschem Zivilrecht ausnahmsweise anfechten könnte,44 konfligiert dieser Schutz der Entscheidungsfreiheit des Arbeitsgebers mit der Materialisierung der Vertragsfreiheit der Arbeitnehmerin durch das unionale Antidiskriminierungsrecht: Um jedermann werthaltige Selbstbestimmungschancen durch das Instrument des Vertrags zu eröffnen, untersagt das gesellschaftspolitische Diskriminierungsverbot in Art. 14 Arbeitnehmergleichbehandlungsrichtlinie 2006/54/EG grundsätzlich alle – unmittelbaren wie mittelbaren – Ungleichbehandlungen aufgrund des Geschlechts.45 Dieses Diskriminierungsverbot steht nicht nur der Verweigerung von Vertragsschlüssen, sondern auch der durch das Geschlecht motivierten Anfechtung eines Vertrags entgegen. Entsprechend hat der EuGH bereits in der Rechtssache Habermann-Beltermann entschieden, dass die arbeitgeberseitige Anfechtung der auf Abschluss eines Arbeitsver44 Zu Recht zurückhaltend BAG Urt. v. 6.2.1992 – Az. 2 AZR 408/91, NJW 1992, 2173 ff.; Jauernig / Mansel (2015), § 119 BGB Rn. 13. 45 Siehe erneut oben Kapitel 4 § 3 C II.

§ 2 Interaktion der Materialisierungsinstrumente

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trages gerichteten Willenserklärung nach § 119 Abs. 2 BGB jedenfalls dann der praktischen Wirksamkeit des Unionsrechts zuwiderläuft, wenn der Irrtum sich auf die Schwangerschaft der Arbeitnehmerin bezieht.46 Diese Sichtweise hat der Gerichtshof sodann auch in seiner BuschEntscheidung mit Blick auf die Arglistanfechtung gemäß § 123 BGB eingenommen: In besagter Rechtssache hat der Arbeitgeber seine Willenserklärung unter anderem nach § 123 BGB mit der Begründung angefochten, er sei gezielt über das Bestehen einer Schwangerschaft getäuscht worden.47 Der Gerichtshof sah durch die nach deutschem Bürgerlichen Recht gewährte Anfechtungsmöglichkeit die praktische Wirksamkeit des gesellschaftspolitisch motivierten Verbots der Geschlechterdiskriminierung gefährdet und entschied daher, dass das Unionsrecht auch einer Arglistanfechtung nach § 123 BGB entgegenstehe.48 Gleiches muss entsprechend auch für Ansprüche aus culpa in contrahendo gelten, soweit § 311 Abs. 2 i.V.m. § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2, § 249 BGB die Beseitigung des Vertrags im Wege der Naturalrestitution erlaubt.49 Obschon der EuGH damit bislang nur über arbeitsvertragliche Konstellationen zu urteilen hatte, lassen sich die Aussagen des Gerichtshofs auf das gesamte Schuldvertragsrecht übertragen, da hier durch die Antidiskriminierungsrichtlinien mittlerweile ebenfalls umfassende Diskriminierungsverbote bestehen. Dies lässt sich am Beispiel des Finanzdienstleistungsvertragsrechts exemplifizieren: Irrt sich etwa eine Bank beim Abschluss eines Zahlungskontenvertrags über eine verkehrswesentliche Eigenschaft, wie etwa die Zahlungsfähigkeit und das Vermögen des Bankkunden,50 so steht das Unionsrecht einer Anfechtung des Vertrags durch das Geldinstitut nach § 119 Abs. 2 BGB entgegen. Beim Zugang zu Zahlungskonten untersagt nämlich Art. 15 Zahlungskontenrichtlinie i.V.m. Art. 21 GRCh alle Ungleichbehandlungen aufgrund des „Vermögens“. Entsprechend zwingt hier die praktische Wirksamkeit des EU-Rechts nicht nur zu einer richtlinienkonformen, sondern zugleich auch zu einer unionsgrundrechtskonformen Auslegung und Anwendung des gesamten deutschen Bürgerlichen Rechts – einschließlich des § 119 Abs. 2 BGB. Im Ergebnis wird dann das auf die Materialisierung der VerSo EuGH Urt. v. 5.5.1994 – Rs. C-421/92 (Habermann-Beltermann), Slg. 1994, I1657 Rn. 14 f. und 25 f. noch mit Blick auf die Regelungen in Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen, ABl. 1976 L 39/40. 47 Vgl. EuGH Urt. v. 27.2.2003 – Rs. C-320/01 (Busch), Slg. 2003, I-2041 Rn. 24. 48 So noch zu Art. 2 Abs. 1 Richtlinie 76/207/EWG EuGH Urt. v. 27.2.2003 – Rs. C320/01 (Busch), Slg. 2003, I-2041 Rn. 48 ff. 49 Siehe zur culpa in contrahendo noch eingehend unten B. 50 Zur Verkehrswesentlichkeit dieser Eigenschaften statt aller Jauernig / Mansel (2015), § 119 BGB Rn. 15. 46

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Kapitel 5 – Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit durch das BGB

tragsfreiheit der einen Partei zielende Anfechtungsrecht nach dem BGB durch das zugunsten der anderen Vertragspartei wirkende unionale Materialisierungsinstrument vollständig verdrängt.51 Gleiches muss in Anlehnung an die Urteile des EuGH in der Rechtssache Busch selbst dann gelten, wenn der Kunde die Bank bei der Vertragsanbahnung arglistig im Sinne des § 123 BGB über die nach Art. 15 Zahlungskontenrichtlinie i.V.m. Art. 21 GRCh geschützten Merkmale getäuscht hat.52 2. Unternehmerseitige Anfechtung und Verbraucherwiderruf Schließlich stellt sich mit Blick auf das Verbrauchervertragsrecht die Frage, ob ein Unternehmer, der bei einem Fernabsatzvertrag z. B. einem Inhaltsoder Erklärungsirrtum erliegt, den Verbraucher durch die Anfechtung nach § 119 BGB an der Ausübung des durch Art. 9 Verbraucherrechterichtlinie vorgegebenen Verbraucherwiderrufsrechts hindern kann.53 a) Lösung im Lichte des effet utile In diesem Zusammenhang wird teilweise vertreten, dass bei einer unternehmerseitigen Anfechtung „jede Legitimität fehlt“, den Unternehmer mit verbraucherschützenden Regelungen zu belasten.54 Womöglich übergeht diese Lesart indes die unionsrechtliche Dimension dieser Frage. Mit Blick auf das Verhältnis der Verbraucherrechterichtlinie zum allgemeinen Vertragsrecht der Mitgliedstaaten stellt Art. 3 Abs. 5 der Richtlinie zunächst heraus: „Diese Richtlinie lässt das allgemeine innerstaatliche Vertragsrecht wie die Bestimmungen über die Wirksamkeit, das Zustandekommen oder die Wirkungen eines Vertrags, soweit Aspekte des allgemeinen Vertragsrechts in dieser Richtlinie nicht geregelt werden, unberührt“.

Erwägungsgrund Nr. 42 Verbraucherrechterichtlinie präzisiert dies mit Blick auf mitgliedstaatliche Instrumente zur Vertragsbeendigung oder -vernichtung wie folgt: „Die Bestimmungen zum Widerrufsrecht sollten die Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Beendigung oder die Unwirksamkeit eines Vertrags […] unberührt lassen“.

Siehe zu Diskriminierungsverboten und Kontrahierungszwängen als Materialisierungsinstrumente des Unionsrprivatechts erneut oben Kapitel 4 § 3 C II und IV. 52 Vgl. erneut EuGH Urt. v. 27.2.2003 – Rs. C-320/01 (Busch), Slg. 2003, I-2041 Rn. 24 und 48 ff. 53 Dies bejaht S. Lorenz, GS Wolf (2011), S. 77, 89. Hohe Anforderungen an die Anfechtung eines im elektronischen Geschäftsverkehr geschlossenen Vertrags stellt – auch ohne Verbraucherbeteiligung – zuletzt z. B. OLG Düsseldorf Urt. v. 19.5.2016 – Az. I-16 U 72/15, BeckRS 2016, 10659. 54 S. Lorenz, GS Wolf (2011), S. 77, 89. 51

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Diese Vorgaben der Verbraucherrechterichtlinie bedeuten jedoch zunächst nur, dass von der Warte des Unionsrechts die Anfechtung fehlerbehafteter Willenserklärungen nach den Normen des deutschen Bürgerlichen Rechts weiterhin möglich bleiben soll. Umgekehrt lässt sich daraus aber keineswegs ableiten, dass die §§ 119, 123 BGB Vorrang vor dem Verbraucherwiderrufsrecht genießen, so dass eine Anfechtung seitens des Unternehmers dem Verbraucher dieses Recht aus der Hand schlägt. Vielmehr führt Art. 9 mit dem Widerrufsrecht ein Instrument ein, das die Vertragsaufsage gestattet und damit gerade einen „Aspekt des allgemeinen Vertragsrechts“ im Sinne des Art. 3 Abs. 5 Verbraucherrechterichtlinie ausdrücklich unionsrechtlich regelt. Die praktische Wirksamkeit ebendieses Instruments des EU-Privatrechts würde beeinträchtigt, wenn die unternehmerseitige Anfechtung dem Verbraucher die Möglichkeit nähme, durch Ausübung seines Widerrufsrechts das verbraucherfreundliche Rückabwicklungsschuldverhältnis herbeizuführen. b) Kipp’sche „Doppelwirkung im Recht“: Widerruf des gemäß § 142 BGB nichtigen Vertrags Weil der Verbraucherwiderruf im Interesse des effet utile der Verbraucherrechterichtlinie demnach nicht durch die Anfechtung seitens des Unternehmers ausgeschlossen werden kann, stellt sich die Folgefrage nach der dogmatischen Konstruktion der unionsrechtlich vorgezeichneten Koexistenz dieser Instrumente im deutschen Bürgerlichen Recht. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass eine erfolgreiche Anfechtung durch den anderen Vertragsteil gemäß § 142 Abs. 1 BGB ex tunc zur Nichtigkeit des Vertrags führt. Aus Sicht des deutschen Bürgerlichen Rechts liegt von Anfang an kein wirksamer Vertrag vor, so dass ein Widerruf – gleichgültig, ob er durch den Verbraucher vor, nach oder zeitgleich mit der Anfechtung erklärt wird – eigentlich keinerlei Angriffspunkt mehr vorfindet.55 Jedoch kann der unionsrechtlichen Forderung nach dem Fortbestand des Verbraucherwiderrufsrechts im System des deutschen Bürgerlichen Rechts womöglich durch die Kipp’sche „Doppelwirkung im Recht“ vollumfänglich entsprochen werden: In seiner ursprünglichen Ausformung besagt dieser Ansatz, dass selbst eine bereits aus anderen Gründen nichtige Willenserklärung weiterhin Gegenstand einer Anfechtung sein könne. 56 Während in der von Kipp behandelten Fallgestaltung zwei unterschiedliche Nichtigkeitsgründe aufeinandertreffen, kollidiert in der hier interessierenden Konstellation aber gerade die Anfechtungsfolge der Nichtigkeit gemäß § 142 BGB einerseits mit dem auf Herbeiführung eines Rückgewährschuldverhältnisses gerichteten Widerruf nach § 355 Abs. 1 i.V.m. §§ 357, 346 ff. BGB. Dies führt zu der 55 56

In diesem Sinne wohl auch S. Lorenz, GS Wolf (2011), S. 77, 89. Siehe hierzu grundlegend Kipp, FS v. Martitz (1911), S. 211 ff.

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Frage, ob diese Kipp’sche „Doppelwirkung im Recht“ auch auf diese zuletzt genannten Fallgestaltungen übertragbar ist. Zweifel mögen sich deshalb ergeben, weil der Verbraucherwiderruf, anders als die Anfechtungserklärung des Unternehmers, gerade den grundsätzlichen Fortbestand des schuldvertraglichen Bandes – wenn auch in Form eines Rückgewährschuldverhältnisses – zur Folge hat. Mit Stephan Lorenz lässt sich diese unterschiedliche Ausgangslage prägnant auf die Formel bringen, dass es hier aus Sicht des deutschen Bürgerlichen Rechts nicht darum geht, einen bereits nichtigen Vertrag erneut zu vernichten, sondern vielmehr einen ex tunc nichtigen Vertrag umzugestalten.57 Die Konzeption der Widerrufsfolgen als Rückgewährschuldverhältnis geht jedoch auf den Entschluss des deutschen Gesetzgebers bei der Richtlinienumsetzung zurück. Die Verbraucherrechterichtlinie selbst bestimmt in Art. 12 lediglich, dass die Verpflichtungen der Vertragsparteien mit Ausübung des Widerrufsrechts „enden“ und regelt die Rückzahlung durch den Unternehmer in Art. 13 und die Rückgabe seitens des Verbrauchers nach Maßgabe des Art. 14. Die in der Verbraucherrechterichtlinie angestrebte Rückabwicklung ließe sich von der Warte des Unionsrechts daher z. B. auch als – mit einigen Besonderheiten behafteter – Bereicherungsausgleich konstruieren. Vor diesem Hintergrund kann die unionsrechtlich gebotene Koexistenz von Verbraucherwiderruf und unternehmerseitiger Anfechtung gerade nicht von der spezifischen Umsetzung im deutschen Recht abhängen. Anders ausgedrückt ist die dogmatische Konzeption als Rückgewährschuldverhältnis aus Sicht des EU-Privatrechts kein tragfähiges Argument, um die Verbraucherrechte im Fall einer Anfechtung durch den Unternehmer auszuschließen. Vielmehr erzwingt der effet utile der Verbraucherrechterichtlinie eine Auslegung und Anwendung des gesamten deutschen Bürgerlichen Rechts – einschließlich der Figur der „Doppelwirkungen im Recht“ –, die dem Widerrufsrecht des Verbauchers zur Wirksamkeit verhilft. Aufgrund dieser Vorgaben ist die Kipp’sche Doppelwirkung auch auf das Verhältnis einer Anfechtung durch den Unternehmer einerseits und die Ausübung des Verbraucherwiderrufsrechts andererseits zu übertragen. Diesen Lösungsweg hat auch der BGH in einer ähnlichen, das Verhältnis von § 138 Abs. 1 BGB und Widerrufsrecht betreffenden Konstellation gewählt: „Auch bei einer etwaigen Nichtigkeit des Vertrags hat der Verbraucher […] grundsätzlich die Wahl, seine auf den Abschluss des Fernabsatzvertrags gerichtete Willenserklärung zu widerrufen oder sich auf die Nichtigkeit des geschlossenen Vertrags zu berufen“.58

Nichts anderes kann beim Aufeinandertreffen der anfechtungsbedingten Nichtigkeit nach § 142 BGB einerseits und dem durch Art. 9 ff. Verbraucherrechterichtlinie determinierten Verbraucherwiderrufsrecht gelten. Über die 57 58

S. Lorenz, GS Wolf (2011), S. 77, 82. BGH Urt. v. 25.11.2009 – Az. VIII ZR 318/08, NJW 2010, 610, 611 (Herv. d. Verf.).

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Figur der Kipp’schen Doppelwirkung im Recht ist hier gerade im Interesse der praktischen Wirksamkeit des Widerrufsrechts dem Verbraucher grundsätzlich „die Möglichkeit zu erhalten, sich von dem geschlossenen Vertrag auf einfache Weise durch Ausübung des Widerrufsrechts zu lösen, ohne mit dem Unternehmer in eine rechtliche Auseinandersetzung über die Nichtigkeit des Vertrags eintreten zu müssen“.59

Hieraus folgt freilich keineswegs, dass das Unionsrecht in allen Konstellationen die unbedingte Aufrechterhaltung des Widerrufsrechts gebietet.60 c) Einschränkungen bei arglistiger Täuschung durch den Verbraucher Die Zuerkennung der Widerrufsmöglichkeit mag insbesondere unbillig erscheinen, wenn ein Verbraucher den Unternehmer im Sinne des § 123 BGB arglistig getäuscht hat. Dies gilt umso mehr, als der Verbraucher im Rahmen des Rückgewährschuldverhältnisses nach § 357 BGB regelmäßig privilegiert wird. Bei arglistigem ebenso wie auch bei – einseitig – sittenwidrigem Verhalten des Verbrauchers ist daher zu fragen, ob dem Widerrufsrecht der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung nach § 242 BGB entgegengehalten werden kann. Hiergegen spricht zunächst nicht die Lösung, welche der BGH im Fall eines nach § 138 Abs. 1 BGB nichtigen Kaufvertrages über ein nach der deutschen StVO verbotenes Radarwarngerät gefunden hat: In dieser Konstellation erkannte der BGH dem Verbraucher weiterhin ein Widerrufsrecht zu, weil sowohl das Verhalten des Unternehmers als auch des Verbrauchers die Nichtigkeit im Rahmen des § 138 Abs. 2 BGB begründete.61 Entsprechend erschien es auch weiterhin hinnehmbar, den gleichermaßen sittenwidrig handelnden Unternehmer mit einem Rückabwicklungsschuldverhältnis nach § 357 BGB zu konfrontieren. Anders liegt der Fall, wenn nur der Verbraucher sich sittenwidrig oder arglistig verhält, da hier die Interessen des Unternehmers vorrangig schützenswert erscheinen.62 Wertungsmäßig wird dies durch Art. 18 Abs. 4 Wohnimmobilienkreditrichtlinie bestätigt: Hat ein Verbraucher im Vorfeld des Vertragsschlusses Informationen über seine Kreditwürdigkeit – etwa über sein Einkommen – „wissentlich vorenthalten oder gefälscht“, kann der Kreditge-

BGH Urt. v. 25.11.2009 – Az. VIII ZR 318/08, NJW 2010, 610, 611. Siehe zu den Ausnahmen sogleich unten c sowie ferner unten Kapitel 7 § 1 A II 2. Darüber hinaus sind auch Verbotstatbestände denkbar, die einen vollständigen Ausschluss des Widerrufsrechts rechtfertigen, etwa bei „Fernabsatzverträgen“ über Waffen oder Drogen, die einem Verbotsgesetz im Sinne des § 134 BGB zuwiderlaufen, vgl. S. Lorenz, GS Wolf (2011), S. 77, 87. 61 BGH Urt. v. 25.11.2009 – Az. VIII ZR 318/08, NJW 2010, 610, 611 f. Vgl. auch schon BGH Urt. v. 23.2.2005 – Az. VIII ZR 129/04, NJW 2005, 1490 f. 62 So wohl auch BGH Urt. v. 25.11.2009 – Az. VIII ZR 318/08, NJW 2010, 610, 611 f. 59 60

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ber sich von dem Kreditvertrag lösen.63 Nach dieser Vorschrift soll bei vorsätzlicher Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit des Kreditgebers also allein diesem ein Recht zur Vertragsbeseitigung zustehen.64 Hieraus lässt sich entnehmen, dass das Unionsprivatrecht keineswegs die Interessen des Verbrauchers in allen Konstellationen um jeden Preis in den Vordergrund stellt, sondern gerade im Fall von Arglist der Materialisierung der Vertragsfreiheit des gewerblich handelnden Vertragsteils Vorrang einräumt. Vor diesem Hintergrund erscheint der Ausschluss des Widerrufsrechts arglistig handelnder Verbraucher aus Sicht des EU-Privatrechts ebenfalls hinnehmbar, zumal das Verbot rechtsmissbräuchlichen Verhaltens und unzulässiger Rechtsausübung dem Unionsrecht ohnehin bekannt ist.65 Aufgrund dieses Wertungsgleichlaufs von BGB und Unionsprivatrecht kann dem Verbraucherwiderrufsrecht grundsätzlich der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung nach § 242 BGB entgegengehalten werden, wenn der Unternehmer seinerseits zur Anfechtung nach § 123 BGB berechtigt ist. Schließlich hat auch der EuGH bereits in anderem Kontext gebilligt, dass „Treu und Glauben“ gegenüber unionalen Verbraucherrechten in Stellung gebracht wird.66

63 Namentlich kann der Kreditgeber in dieser Konstellation den Vertrag unter anderem „widerrufen“. Da die Richtlinie dem Kreditgeber kein eigenständiges Widerrufsrecht einräumt, ist hiermit die Vertragsbeseitigung mithilfe der Instrumente des mitgliedstaatlichen Privatrechts angesprochen, zu denen im deutschen Recht neben dem Kündigungsrecht gemäß § 499 Abs. 3 S. 2 i. V. m. § 314 BGB bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen gerade auch § 123 BGB zählt, vgl. nur Art. 20 Abs. 3 Unterabs. 3 Wohnimmobilienkreditrichtlinie sowie ferner BT-Drucks. 18/5922, S. 89; BeckOK-BGB / Möller (2016), § 499 BGB Rn. 7. 64 Freilich ist das Verbraucherwiderrufsrecht ausweislich des Art. 14 Abs. 6 Wohnimmobilienkreditrichtlinie fakultativ. Zum einen kann sich ein solches Recht aber aus Art. 6 Finanzdienstleistungsfernabsatzrichtlinie ergeben. Zum anderen wird man die Erwägungen in Art. 18 Abs. 4 Wohnimmobilienkreditrichtlinie auch auf die Parallelnorm in Art. 8 Verbraucherkreditrichtlinie übertragen können, wobei letzterer Rechtsakt in Art. 14 ein Widerrufsrecht vorsieht. 65 Vgl. nur EuGH Urt. v. 2.5.1996 – Rs. C-206/94 (Paletta), Slg. 1996, I-2357 Rn. 25; EuGH Urt. v. 12.5.1998 – Rs. C-367/96 (Kefalas), Slg. 1998, I-2843 Rn. 21; EuGH Urt. v. 23.3.2000 – Rs. C-373/97 (Diamantis), Slg. 2000, I-1705 Rn. 33 f. Siehe hierzu nur Fleischer, JZ 2003, 865, 868 ff.; Basedow, FS Stathopoulos I (2010), S. 159 ff. sowie noch eingehend unten Kapitel 7 § 1 A II. 66 Vgl. nur EuGH Urt. v. 3.9.2009 – Rs. C-489/07 (Messner), Slg. 2009, I-7315 Rn. 26 (restriktive Auslegung des Art. 6 Fernabsatzrichtlinie im Einklang mit den „Grundsätzen des bürgerlichen Rechts wie denen von Treu und Glauben“, wenn ein Verbraucher die im Fernabsatz gekaufte Ware über Gebühr nutzt); EuGH Urt. v. 15.4.2010 – Rs. C-215/08 (E. Fritz), Slg. 2010, I-2947 Rn. 48 (restriktive Lesart des Art. 5 und Art. 7 Haustürgeschäfterichtlinie entsprechend „den allgemeinen Grundsätzen des Zivilrechts“). Siehe wiederum näher unten Kapitel 7 § 1 A II 2.

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3. Zwischenfazit Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass Normkonflikte zwischen Anfechtungstatbeständen des deutschen Bürgerlichen Rechts und den Materialisierungsinstrumenten des Unionsprivatrechts in der Regel zugunsten Letzterer aufzulösen sind. Namentlich müssen die §§ 119, 123 BGB unionsrechtssowie unionsgrundrechtskonform ausgelegt und angewendet werden, um die praktische Wirksamkeit der im Dienste der Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit stehenden Instrumente zu gewährleisten. II. Koexistenz bei gleicher Zielsetzung unionaler und nationaler Instrumente In bestimmten Fällen reagieren das deutsche Bürgerliche Recht und das Unionsprivatrecht jeweils mit unterschiedlichen Instrumenten auf Beeinträchtigungen der rechtsgeschäftlichen Entscheidungsfreiheit derselben Vertragspartei. So fehlen einem Verbraucher nach der typisierenden Betrachtungsweise des Unionsprivatrechts z. B. bei einem Fernabsatzvertrag von vornherein die Grundlagen für eine im anspruchsvollen Sinne freie Willensbildung, weil er sich nicht vor Vertragsschluss über die Charakteristika der Ware informieren konnte.67 Auf einer ähnlichen Prämisse baut auch das unionale Finanzdienstleistungsrecht auf: Einerseits entbehre die Entscheidung für einen Verbraucherkredit- oder einen Lebensversicherungsvertrag aufgrund der Komplexität dieser Produkte oftmals einer soliden Informationsgrundlage, obwohl diese Verträge andererseits eine besondere finanzielle Tragweite haben.68 Das EU-Privatrecht gewährt in diesen Bereichen deshalb pauschal Vertragsbeseitigungsrechte in Gestalt von Widerrufs- bzw. Widerspruchsrechten.69 Wenn nun beispielsweise ein Verbraucher in einer Fernabsatzkonstellation zugleich einem Eigenschaftsirrtum nach § 119 Abs. 2 BGB erlegen oder gar durch den anderen Vertragsteil in einer von § 123 BGB erfassten Weise gezielt in die Irre geführt worden ist, wird die Frage nach dem Verhältnis von Anfechtungstatbeständen und unionalen Vertragsbeseitigungsrechten relevant. Eigenständige praktische Bedeutung gewinnen die §§ 119 ff. BGB neben den Vertragsbeseitigungsrechten des Unionsprivatrechts – wie etwa Widerrufsrechten – schon deshalb, weil Letztere keineswegs in allen Fallgestaltungen bestehen70 und regelmäßig nur vierzehn Tage lang ausgeübt werden können.71 Siehe dazu erneut oben Kapitel 4 § 3 F I. Siehe wiederum oben Kapitel 4 § 3 F I. 69 Vgl. nur Art. 9 Verbraucherrechterichtlinie; Art. 14 Verbraucherkreditrichtlinie; Art. 6 Finanzdienstleistungsfernabsatzrichtlinie; Art. 14 Abs. 6 Unterabs. 2 Wohnimmobilienkreditrichtlinie; Art. 186 Solvency II. 70 Vgl. nur die Ausnahmetatbestände in Art. 16 Verbraucherrechterichtlinie. 71 Vgl. nur Art. 9 Abs. 1 Verbraucherrechterichtlinie. Auch soweit nach unionalem Verbrauchsgüterkaufrecht Gewährleistungsansprüche in Betracht kommen, kann Bedarf 67 68

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1. Grundsatz elektiver Konkurrenz In dieser Konstellation droht zwischen den Instrumenten des BGB und des Unionsprivatrechts zunächst kein Zielkonflikt, weil Widerrufsrecht und Anfechtung den Berechtigten jeweils gleichermaßen gestatten, eine (potenziell) fehlerbehaftete Vertragserklärung zu revidieren.72 Die Widerrufsrechte des Unionsprivatrechts lassen sich insoweit als „typisierte Anfechtungstatbestände“ verstehen.73 Vor diesem Hintergrund geht auch das Unionsprivatrecht explizit davon aus, dass gerade das Widerrufsrecht nach der Verbraucherrechterichtlinie neben mitgliedstaatliche Regelungen betreffend die Vertragsbeendigung oder -vernichtung treten: „Die Bestimmungen zum Widerrufsrecht sollten die Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Beendigung […] eines Vertrags […] unberührt lassen“.74

Entsprechend ist von der Warte des Unionsrechts eine Anfechtung nach §§ 119 ff. BGB grundsätzlich unabhängig von einem sekundärrechtlich vorgezeichneten Widerrufsrecht möglich. Auch der BGH betont die Koexistenz dieser Gestaltungsrechte: „Der Sinn des Widerrufsrechts […] besteht darin, dem Verbraucher ein an keine materiellen Voraussetzungen gebundenes, einfach auszuübendes Recht zur einseitigen Loslösung vom Vertrag in die Hand zu geben, das neben und unabhängig von den allgemeinen Rechten besteht, die jedem zustehen, der einen Vertrag schließt“.75

Allerdings zeitigen die Anfechtungstatbestände des BGB andere Rechtsfolgen als die Widerrufsrechte des Unionsrechts: Die Anfechtung führt gemäß § 142 BGB zur Nichtigkeit des Vertrags und zieht damit eine bereicherungsrechtliche Rückabwicklung gemäß §§ 812 ff. BGB nach sich. Widerruft der nach einer Materialisierung mithilfe der Anfechtungstatbestände der §§ 119 ff. BGB bestehen: So bleibt zum einen die Arglistanfechtung immer möglich. Zum anderen können einem Verbraucher durchaus vorvertragliche Informationen erteilt worden sein, die vom sodann geschlossenen Vertrag abweichen, ohne dass dies Gewährleistungsansprüche begründet: Nach Erwägungsgrund Nr. 8 und Art. 2 Abs. 4 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie ist zur Beurteilung der Vertragsgemäßheit des Kaufgegenstandes nur dann auf vorvertragliche Informationen abzustellen, wenn der sodann geschlossene Vertrag diesbezüglich nicht davon abweichende „spezifische Vertragsklauseln“ enthält. Demnach kann ein Käufer also zur Anfechtung berechtigt sein, obwohl von der Warte des Verbrauchsgüterkaufrechts kein Mangel vorliegt, so zu Recht auch Heinze, Schadensersatz im Unionsprivatrecht (2017), S. 290 (dort auch in Fn. 544). Anders wohl Jansen, Revision des Verbraucher-Acquis? (2012), S. 32. 72 Dazu G. Wagner, ZEuP 2007, 180, 195. 73 S. Lorenz, GS Wolf (2011), S. 77, 84. In diesem Sinne auch z. B. EuGH Urt. v. 22.4.1999 – Rs. C-423/97 (Travel Vac), Slg. 1999, I-2195 Rn. 39 ff.; EuGH Urt. v. 25.10.2005 – Rs. C-229/04 (Crailsheimer Volksbank), Slg. 2005, I-9273 Rn. 44. 74 Erwägungsgrund Nr. 42 Verbraucherrechterichtlinie. 75 BGH Urt. v. 25.11.2009 – Az. VIII ZR 318/08, NJW 2010, 610, 611 (Herv. d. Verf.).

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Verbraucher hingegen den Vertrag, sieht das BGB ein Rückabwicklungsschuldverhältnis nach §§ 346 ff. vor. Aus der Perspektive des deutschen Bürgerlichen Rechts spricht dies für eine elektive Konkurrenz dieser Instrumente: Der Verbraucher kann sich demnach für ein Gestaltungsrecht entscheiden und ist nach Ausübung dieses Rechts grundsätzlich an seine Wahl gebunden.76 Jedoch muss dabei stets die praktische Wirksamkeit des Verbraucherwiderrufsrechts gewährleistet werden. Wenn beispielsweise ein anfechtungs- und zugleich widerrufsberechtigter Konsument nur allgemein die Vertragsaufsage begehrt, ohne das zur Lösung berechtigende Gestaltungsrecht konkret zu benennen, streitet neben den nationalen Vorschriften der §§ 133, 157, 242 BGB insbesondere auch der effet utile regelmäßig für eine Auslegung der Erklärung des Verbrauchers als Widerruf.77 Darüber hinaus kann die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts in bestimmten Konstellationen gebieten, dass ein Vertragsbeseitigungsrecht trotz einer bereits zuvor erklärten Anfechtung fortbesteht. 2. Fortbestand des Vertragsbeseitigungsrechts mangels Belehrung Zunächst muss ein unionales Vertragsbeseitigungsrecht trotz Anfechtung der Vertragserklärung nach §§ 119 ff. BGB immer dann uneingeschänkt fortbestehen, wenn die Belehrung über das Lösungsrecht unterblieben oder fehlerhaft ist. Schließlich suchen die Vertragsbeseitigungsrechte des EU-Privatrechts, wie etwa der Verbraucherwiderruf, die Optionen des Berechtigten zu erweitern, der sich der Vertragsbindung entschlagen will. Diese Funktion kann das Lösungsrecht aber nur erfüllen, wenn der Betreffende Kenntnis von diesem Recht und somit tatsächlich eine Wahl zwischen dem unionalen Vertragsbeseitigungsrecht einerseits und den Gestaltungsrechten des Bürgerlichen Rechts – wie etwa der Anfechtung – andererseits hat.78 76 In diese Richtung deutet z. B. auch BGH Urt. v. 25.11.2009 – Az. VIII ZR 318/08, NJW 2010, 610, 611, der dem Verbraucher ein „Wahlrecht“ gibt, „ob er einen Fernabsatzvertrag […] widerruft oder ob er den Vertrag – gegebenenfalls – wegen Irrtums oder arglistiger Täuschung […] anficht und sich damit für eine bereicherungsrechtliche Rückabwicklung […] entscheidet“. Gleichsinnig etwa MünchKommBGB / Fritsche (2016), § 355 BGB Rn. 34. 77 Im Ergebnis ebenso MünchKommBGB / Fritsche (2016), § 355 BGB Rn. 34. Eine Einschränkung ist hier nur in dem – konstruierten – Ausnahmefall angebracht, in dem die Rechtsfolgen des Widerrufs für den Verbraucher ungünstiger sind als diejenigen der bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung nach einer Anfechtungserklärung. S. Lorenz, GS Wolf (2011), S. 77, 83 nennt hier etwa den Fall, dass ein arglistig getäuschter Verbraucher im Widerrufsfall nach § 357 Abs. 7 BGB Wertersatz für eine bei ihm untergegangene Sache schuldet, wohingegen er bei der bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung nach der Rechtsprechung des BGH durch die Nichtanwendung der Saldotheorie privilegiert würde, vgl. BGH Urt. v. 29.9.2000 – Az. V ZR 305/99, NJW 2000, 3562. 78 Ebenso zum Widerspruchsrecht im Versicherungsvertragsrecht BGH Urt. v. 16.10.2013 – Az. IV ZR 52/12, NJW 2013, 3776, 3378: „Bei Fehlen einer ordnungsgemä-

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Auf dieser Linie liegt insbesondere die Entscheidungspraxis des EuGH zum „Widerspruchs-“ oder „Rücktrittsrecht“ im Lebensversicherungsvertragsrecht: In der Rechtssache Endress kündigte der nicht ausreichend über sein Widerspruchsrecht belehrte Versicherungsnehmer zunächst den Versicherungsvertrag.79 Obwohl der Vertrag damit bereits beendet wurde, hat der Gerichtshof entschieden, dass der Versicherungsnehmer weiterhin sein Widerspruchsrecht nach § 5a VVG a. F. ausüben kann.80 Dahinter steht die Überlegung, dass nur auf diesem Wege die sekundärrechtlichen Vorgaben zum Widerspruchsrecht ihre praktische Wirksamkeit entfalten können.81 Der Umstand, dass der Vertrag bereits durch ein Gestaltungsrecht des mitgliedstaatlichen Privatrechts – sei es nun eine Anfechtung oder eine Kündigung – beseitigt worden ist, steht dem Widerruf dann nicht entgegen: Bei unionsrechtskonformer Auslegung und Anwendung des deutschen Privatrechts im Lichte des effet utile ist der Kipp’sche Ansatz der Doppelwirkung auch auf das Verhältnis von Anfechtung und Widerruf zu übertragen.82 3. Rechtssicherheit, Vertrauensschutz und Verbot des Rechtsmissbrauchs als Schranken Sowohl von der Warte des Unionsrechts als auch von derjenigen des deutschen Rechts können hingegen Verbraucher und Versicherungsnehmer, die ordnungsgemäß über ihr Widerrufs- oder Widerspruchsrecht belehrt worden sind und die dennoch für eine Anfechtung oder Kündigung optieren, an ihrer Wahl festgehalten werden.83 Für eine strikte Beachtung der elektiven Konkurrenz der ßen Belehrung über das Widerrufsrecht ist nicht sichergestellt, dass dem Versicherungsnehmer zur Zeit der Kündigung bewusst ist, neben dem Kündigungsrecht ein Recht zum Widerruf zu haben, um so die Vor- und Nachteile einer Kündigung gegen die eines Widerrufs abwägen zu können“. Siehe auch BGH Urt. v. 7.5.2014 – Az. IV ZR 76/11, BGHZ 201, 101, 116. 79 EuGH Urt. v. 19.12.2013 – Rs. C-209/12 (Endress), EU:C:2013:864 Rn. 14 f. 80 Vgl. EuGH Urt. v. 19.12.2013 – Rs. C-209/12 (Endress), EU:C:2013:864 Rn. 20 ff. 81 So mit Blick auf die unionsrechtskonforme Auslegung und Anwendung des § 5a VVG a. F. auch BGH Urt. v. 7.5.2014 – Az. IV ZR 76/11, BGHZ 201, 101, 118 f. 82 Siehe erneut oben I 2 b. Auch laut BGH Urt. v. 16.10.2013 – Az. IV ZR 52/12, NJW 2013, 3776, 3378 „schließt […]. die zuerst erklärte Kündigung des Versicherungsvertrags den späteren Widerruf nicht aus“. 83 Dies lässt sich für das Unionsrecht zunächst mit einem Erst-recht-Schluss zu EuGH Urt. v. 10.4.2008 – Rs. C-412/06 (Hamilton), Slg. 2008, I-2383 Rn. 42 f. (Ausschluss des Widerrufsrechts bei Abschluss eines Kreditvertrages in einer Außergeschäftsraumsituation) sowie zu BGH Urt. v. 16.10.2013 – Az. IV ZR 52/12, NJW 2013, 3776, 3378 (Ausschluss des Widerspruchsrechts bei Abschluss eines Lebensversicherungsvertrags) begründen: Wenn aus Sicht des Unionsrechts schon der Ausschluss des Vertragsbeseitigungsrechts bei einer unterbliebenen oder fehlerhaften Belehrung unter bestimmten Voraussetzungen möglich ist, muss dies erst recht gelten, wenn der Berechtigte über seine Rechte korrekt belehrt worden ist, so im Ergebnis auch BGH Urt. v. 16.7.2014 – Az. IV ZR 73/13, NJW 2014, 2723, 2727.

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Gestaltungsrechte sprechen hier die im Unionsrecht gleichermaßen anerkannten Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes.84 Demgegenüber gebietet das Unionsrecht in dieser Konstellation keine Überlagerung der Instrumente des deutschen Zivilrechts, weil dem Gebot der Materialisierung der Vertragsfreiheit durch unionsprivatrechtliche Vertragsbeseitigungsrechte schon dann Genüge getan ist, wenn der Berechtigte nur die tatsächliche Möglichkeit hat, das Widerrufs- oder Widerspruchsrecht auszuüben.85 In Übereinstimmung mit dem Unionsrecht kann das deutsche BGB den Materialisierungsinstrumenten des EU-Privatrechts auch darüber hinaus Schranken ziehen. In diesem Zusammenhang ist beispielsweise das – in der Unionsrechtsordnung ebenfalls anerkannte – Verbot widersprüchlichen und in sonstiger Weise rechtsmissbräuchlichen Verhaltens zu nennen.86 Allerdings ist bei jeder Beschränkung der Vertragsbeseitigungsrechte des EUPrivatrechts durch § 242 BGB der unionsrechtliche Rahmen zu beachten.87 Zum einen wird durch diese Intervention potenziell die praktische Wirksamkeit dieser Materialisierungsinstrumente gefährdet.88 Zum anderen muss gerade beim Rückgriff auf die im Rahmen des § 242 BGB entwickelten FacetVgl. EuGH Urt. v. 19.12.2013 – Rs. C-209/12 (Endress), EU:C:2013:864 Rn. 27 ff. und insbesondere Rn. 30, wo der Gerichtshof allerdings nur schutzwürdiges Vertrauen berücksichtigen will und diese Schutzwürdigkeit im konkreten Fall verneint. Siehe zur Rechtssicherheit als allgemeinem Rechtsgrundsatz des Unionsrechts nur Basedow, ZEuP 1996, 570 ff.; ders., ERPL 24 (2016), 331, 349. 85 Ganz in diesem Sinne fordert auch BGH Urt. v. 16.10.2013 – Az. IV ZR 52/12, NJW 2013, 3776, 3378 vor dem Hintergrund der unionsrechtlichen Vorgaben im Lebensversicherungsvertragsrecht nur, dass sich der Versicherungsnehmer „bewusst ist, neben dem Kündigungsrecht ein Recht zum Widerruf zu haben“. 86 Eingehend hierzu noch unten Kapitel 7 § 1 A II 1. Siehe zum Unionsprivatrecht zuletzt nur EuGH Urt. v. 28.6.2016 – Rs. C-423/15 (R+V Allgemeine Versicherung), EU:C:2016:604 Rn. 37 ff. (Keine Anwendung des unionsrechtlich fundierten Diskriminierungsschutzes zugunsten von rechtsmissbräuchlich handelnden Scheinbewerbern). Siehe auch BGH Urt. v. 16.7.2014 – Az. IV ZR 73/13, NJW 2014, 2723, 2728. Vgl. zum Verbot widersprüchlichen und in sonstiger Weise rechtsmissbräuchlichen Verhaltens im Kontext der Art. 13 ff. EuGVÜ (nunmehr Art. 17 Brüssel Ia) auch EuGH Urt. v. 20.1.2005 – Rs. C464/01 (Gruber), Slg. 2005, I-439 Rn. 51 ff. Siehe zum Ganzen Basedow, FS Stathopoulos I (2010), S. 159 ff. und speziell zum Verbot widersprüchlichen Verhaltens nur Lakkis, FS Scheuring (2011), S. 574, 580; Stempel, Treu und Glauben im Unionsprivatrecht (2016), S. 229, 262 und 271. 87 Dazu eingehend mit Blick auf das Gesamtsystem unionaler Materialisierungsinstrumente unten Kapitel 7 § 1 A II 2. Deutlich etwa BGH Urt. v. 16.7.2014 – Az. IV ZR 73/13, NJW 2014, 2723, 2728. Dagegen bejaht OLG Bremen Urt. v. 26.2.2016 – Az. 2 U 92/15, NJW-RR 2016, 875 ff. die Anwendung des § 242 BGB pauschal mit folgendem Verweis: „Es gibt keinen Grund, dem Verbraucherwiderruf gegenüber anderen Gestaltungsrechten eine Sonderstellung einzuräumen“. 88 BGH Urt. v. 16.7.2014 – Az. IV ZR 73/13, NJW 2014, 2723, 2728; BGH Beschl. v. 13.1.2016 – Az. IV ZR 117/15, BeckRS 2016, 02174 Rn. 2 ff. 84

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ten des Rechtsmissbrauchsverbots genau geprüft werden, inwieweit auch das Unionsprivatrecht einen solchen Rechtsmissbrauchseinwand anerkennt.89 III. Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit durch §§ 119, 123 BGB Die unionale Vertragsfreiheit gebietet die Gewährleistung und Erhaltung tatsächlicher Selbstbestimmungschancen. Während das EU-Privatrecht zu diesem Zweck unterschiedliche Regelungen enthält, wird diese Aufgabe gerade durch den Einfluss des Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatzes sowie angesichts der Schutzpflichtendimension der unionalen Vertragsfreiheit teilweise auch dem unharmonisierten nationalen Privatrecht überantwortet.90 Entsprechend kann das Unionsrecht bei der Materialisierung der unionalen Vertragsfreiheit nicht zuletzt auch auf die Anfechtungstatbestände der §§ 119 ff. BGB bauen. Dies kommt immer dann in Betracht, wenn der Anwendungsbereich des Unionsrechts in einem für die Willensbildung relevanten Bereich eröffnet ist: In solchen Konstellationen ist schließlich das Unionsgrundrecht der Vertragsfreiheit – zumindest auch – als Maßstab anzulegen.91 Das wichtigste Einfallstor bilden insoweit die zahlreichen Informationspflichten des EU-Privatrechts.92 Ihren Wechselwirkungen mit den Anfechtungstatbeständen des deutschen Bürgerlichen Rechts wird im Folgenden nachgegangen. 1. Vertragsschlussrelevante Informationspflichten Zu den vorvertraglichen Informationen, welche die Willensbildung des Verbrauchers in besonderem Maße beeinflussen und die daher regelmäßig Gegenstand unionsrechtlicher Informationspflichten sind, gehört fraglos die Beschreibung der essentialia negotii, wie sie etwa Art. 5 Abs. 1 lit. a und lit. c sowie Art. 6 Abs. 1 lit. a und lit. e Verbraucherrechterichtlinie, Art. 5 Abs. 1 lit. a und lit. c Pauschalreiserichtlinie und Art. 4 Abs. 1 Time-Sharing89 In diesem Sinne im Kontext des Unionsprivatrechts auch EuGH Urt. v. 28.6.2016 – Rs. C-423/15 (R+V Allgemeine Versicherung), EU:C:2016:604 Rn. 37 ff.; BGH Urt. v. 16.7.2014 – Az. IV ZR 73/13, NJW 2014, 2723, 2728. Siehe zur Emanation eines eigenständigen unionsprivatrechtliche Rechtsmissbrauchsverbots noch ausführlich unten Kapitel 7 § 1 A II 1 b. Dabei ist schon an dieser Stelle vorauszuschicken, dass BVerfG Beschl. v. 2.2.2015 – Az. 2 BvR 2437/14, NJW 2015, 1294, 1295; BGH Beschl. v. 13.1.2016 – Az. IV ZR 117/15, BeckRS 2016, 02174 Rn. 2 ff. keine Zustimmung verdienen, soweit sie die Auffassung vertreten, dass die „Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben und des Verbots widersprüchlicher Rechtsausübung […] in das nationale Zivilrecht eingebettet bleibt “ (Herv. d. Verf.). 90 Siehe zu den Einwirkungsebenen erneut oben § 1. 91 Siehe zum Verhältnis der unionalen Vertragsfreiheit zu den korrespondierenden Verbürgungen des mitgliedstaatlichen Rechts erneut oben Kapitel 2 § 3 B II 2 c. 92 Vgl. nur Art. 6 Abs. 1 und Abs. 5 Verbraucherrechterichtlinie; Art. 5 f. und Art. 10 Verbraucherkreditrichtlinie; Art. 6 Abs. 1 PRIIP-Verordnung.

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Richtlinie vorgeben.93 Nicht nur zählt die Festlegung der zentralen Vertragsbestandteile zum Kernbereich der unionalen Vertragsfreiheit, sondern die vorvertragliche Transparenz von Hauptleistung und Preis ist zugleich unabdingbare Voraussetzung der Funktionsfähigkeit des Vertragsmechanismus.94 Schon aus diesem Grund besteht aus der Perspektive der unionalen Vertragsfreiheit besonderer Interventionsbedarf, wo immer die Vertragsentscheidung des Verbrauchers durch unzureichende oder unzutreffende vorvertragliche Informationen über die essentialia negotii beeinträchtigt wird. Gleiches gilt, wenn Verstöße gegen unionsrechtliche Informationspflichten zur Folge haben, dass einer Partei entweder schon gar nicht bewusst ist, überhaupt eine rechtsgeschäftliche Erklärung abzugeben oder hierdurch die Gefahr geschaffen oder erhöht wird, dass der gewollte sich nicht mit dem tatsächlichen Erklärungsinhalt deckt. Solche ebenfalls unmittelbar vertragsschlussrelevanten Informationspflichten enthalten etwa Art. 10 Abs. 1 lit. a und lit. c sowie Art. 11 E-Commerce-Richtlinie unter anderem im Hinblick auf den technischen Ablauf des Vertragsschlusses und die Korrekturmöglichkeit von Eingabefehlern im elektronischen Geschäftsverkehr. Hierher gehören insbesondere auch die Pflicht zur Information über „die Hauptbestandteile des Vertrags“ sowie die Modalitäten der „zahlungspflichtigen Bestellung“ über Webseiten nach Art. 8 und Erwägungsgrund Nr. 39 Verbraucherrechterichtlinie.95 An dieser Stelle ist in Erinnerung zu rufen, dass die vertragsschlussrelevanten Informationspflichten gerade der Erfüllung der aus der Vertragsfreiheit fließenden unionsgrundrechtlichen Schutzpflichten dienen.96 Durch die Nichteinhaltung der Informationsanforderungen wird dieser Zweck verfehlt und zugleich die praktische Wirksamkeit dieser Materialisierungsinstrumente in Frage gestellt. Soweit beispielsweise Art. 24 Verbraucherrechterichtlinie oder Art. 20 E-Commerce-Richtlinie wirksame, angemessene und abschreckende Sanktionen bei Verstößen gegen die aufgrund der Richtlinien erlassenen inner93 Art. 5 Abs. 1 lit. a und lit. b, Art. 6 Abs. 1 lit. a und lit. e Verbraucherrechterichtlinie verpflichten insbesondere zur vorvertraglichen Information über „die wesentlichen Eigenschaften der Waren oder Dienstleistungen“ sowie über „den Gesamtpreis der Waren oder Dienstleistungen“. 94 Siehe oben Kapitel 2 § 3 A II 2 und vgl. ferner Kapitel 3 § 3 A I. 95 Den Bezug zur unverfälschten Willenbilung macht Erwägungsgrund Nr. 39 Verbraucherrechterichtlinie besonders deutlich: „Es ist wichtig, dass sichergestellt wird, dass die Verbraucher bei Fernabsatzverträgen, die über Webseiten abgeschlossen werden, in der Lage sind, die Hauptbestandteile des Vertrags vor Abgabe ihrer Bestellung vollständig zu lesen und zu verstehen […]. Es ist außerdem wichtig, […] dass die Verbraucher den Zeitpunkt erkennen, zu dem sie gegenüber dem Unternehmer eine Zahlungsverpflichtung eingehen. Aus diesem Grunde sollte die Aufmerksamkeit der Verbraucher durch eine unmissverständliche Formulierung auf die Tatsache gelenkt werden, dass die Abgabe der Bestellung eine Zahlungsverpflichtung gegenüber dem Unternehmer zur Folge hat“ (Herv. d. Verf.). 96 Vgl. zur Rolle von Informationspflichten im Rahmen des Informationsmodells erneut oben Kapitel 4 § 3 A.

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staatlichen Vorschriften fordern, ist bei einer Verletzung dieser Informationspflichten der sanktionenrechtliche Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz zu beachten.97 Freilich zwingen weder eine unionsgrundrechtskonforme Auslegung des mitgliedstaatlichen Privatrechts noch dessen Überformung durch den Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz zu einer spezifischen privatrechtlichen Reaktion: Auf welche Weise das deutsche Recht die Verletzung von vorvertraglichen Informationspflichten sanktioniert, bleibt zunächst grundsätzlich dieser Rechtsordnung überlassen. Jedoch muss das gewählte Instrument stets den unionsrechtlichen Mindestanforderungen genügen. Eine Sanktion ist nur effektiv, wenn sie die aus der Informationspflichtverletzung resultierende Beeinträchtigung der Willensbildung zumindest ex post revidieren kann. Eine solche Reaktion gebieten auch die aus der unionalen Vertragsfreiheit folgenden Schutzpflichten, wenn der Vertrag – etwa aufgrund einer gezielten Täuschung des anderen Vertragsteils – nicht das Produkt der unionsgrundrechtlich erforderlichen Selbstbestimmung, sondern vielmehr von Fremdbestimmung ist. Entsprechend muss bei der Verletzung unmittelbar vertragsentschlussrelevanter Informationspflichten eine Beseitigung des Vertrags ermöglicht werden. Dies kann im deutschen Recht weder mithilfe von aufsichts- noch ordnungswidrigkeitenrechtlichen Sanktionen gelingen und auch das Lauterkeitsrecht versagt bei der Materialisierung der Vertragsfreiheit des individuell von der Informationspflicht Betroffenen. Entsprechend gibt das Unionsrecht hier einen privatrechtlichen Anspruch vor.98 Hinzu kommt, dass im System des deutschen Privatrechts unterlassene oder irreführende vorvertragliche Informationen ebenfalls zur Anfechtbarkeit des Vertrags führen können: Dies gilt im Rahmen des § 123 BGB insbesondere mit Blick auf Informationen über wichtige Umstände, die für die Willensbildung der anderen Vertragspartei von zentraler Bedeutung sind.99 Schon vor diesem Hintergrund mag der Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz dazu zwingen, den Verstoß gegen unionsprivatrechtliche ebenso wie gegen originär bürgerlich-rechtliche Informationspflichten gleichermaßen mit einem Anfechtungsrecht zu sanktionieren. Daneben können dann innerhalb des Vgl. mit Blick auf die Vertragsaufhebung im Rahmen der culpa in contrahendo Heinze, Schadensersatz im Unionsprivatrecht (2017), S. 281 und 288 f. 98 Gleichsinnig Hoffmann, ZIP 2005, 829, 835; Ackermann, ZEuP 2009, 230, 255 ff.; Heinze, Schadensersatz im Unionsprivatrecht (2017), S. 274 ff., die jeweils zwar privatrechtliche Sanktionen im Interesse des Individualschutzes fordern, ohne jedoch den Bezug zur Materialisierung der Vertragsfreiheit herzustellen. Insgesamt zurückhaltender Grigoleit, in: Eidenmüller / Faust / Grigoleit u. a. (Hrsg.) Revision des Verbraucher-acquis (2011), S. 223, 251 ff. und insbesondere 257 f. 99 Vgl. aus der ständigen Rechtsprechung nur RG Urt. v. 7.7.1925 – Az. II 494/24, RGZ 111, 233, 234; BGH Urt. v. 11.8.2010 – Az. XII ZR 192/08, NJW 2010, 3363. Siehe zu den Aufklärungs- und Informationspflichten in unterschiedlichen Fallgruppen statt aller Palandt / Ellenberger (2017), § 123 BGB Rn. 5a ff. 97

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bürgerlich-rechtlichen Systems freilich auch weitere, auf Vertragsbeseitigung zielende Ansprüche, wie etwa solche aus culpa in contrahendo, treten.100 2. Inhalts- und Erklärungsirrtum im Kontext der E-Commerce-Richtlinie Die Sanktion vertragsschlussrelevanter unionsrechtlicher Vorgaben mithilfe der Anfechtungstatbestände des BGB lässt sich zunächst anhand der ECommerce-Richtlinie nachvollziehen: Im elektronischen Geschäftsverkehr sollen die Informationen über den technischen Ablauf des Vertragsschlusses ebenso wie der vorgeschriebene Mechanismus zur Erkennung und Korrektur von Eingabefehlern gemäß Art. 10 Abs. 1 lit. a und lit. c E-Commerce-Richtlinie den Verbraucher gerade vor Irrtümern bei der Abgabe seiner Willenserklärung bewahren.101 Gleiches gilt für die Verpflichtung des Unternehmers, die Bestellung nach Art. 11 Abs. 2 E-Commerce-Richtlinie unverzüglich auf elektronischem Wege zu bestätigen: Dies soll den Nutzer vor doppelten Bestellungen schützen, die in der irrigen Annahme getätigt werden, dass die erste Erklärung auf elektronischem Wege womöglich nicht übermittelt worden ist. Vor diesem Hintergrund sieht auch der EuGH die Funktion dieser Instrumente der ECommerce-Richtlinie gerade darin, „die Gefahr bestimmter Irrtümer zu vermeiden, die zum Abschluss eines nachteiligen Vertrags führen können“.102 Verstößt nun ein Unternehmer gegen eine der vorgenannten Informationspflichten nach der E-Commerce-Richtlinie, muss eine dadurch hervorgerufene Beeinträchtigung der Willensbildung des Betroffenen entsprechend nach Art. 20 der Richtlinie in effektiver Weise durch individuelle privatrechtliche Ansprüche sanktioniert werden. So mag eine unzutreffende Information über den konkreten Ablauf des Vertragsschlusses im elektronischen Geschäftsverkehr nach Art. 10 Abs. 1 lit. a ebenso einen Erklärungsirrtum des Kunden im Sinne des § 119 Abs. 1 2. Alt. BGB hervorrufen wie ein Verstoß gegen die Pflicht zur Aufklärung über den Mechanismus zur Korrektur von Eingabefehlern gemäß und Art. 10 lit. c E-Commerce-Richtlinie.103 Auch kommt ein beachtlicher Inhaltsirrtum gemäß § 119 Abs. 2 BGB in Betracht, wenn der Diensteanbieter entgegen Art. 10 lit. d E-Commerce-Richtlinie keine Informationen über die für den Vertragsschluss zur Verfügung stehenden Sprachen Siehe dazu sogleich unten B. In diesem Sinne z. B. Grigoleit NJW 2002, 1151, 1157; Janal, Sanktionen und Rechtsbehelfe bei der Verletzung verbraucherschützender Informations- und Dokumentationspflichten im elektronischen Geschäftsverkehr (2003), S. 147 ff.; Heinze, Schadensersatz im Unionsprivatrecht (2017), S. 282 f. („Vermeidung eines Irrtums über die Verbindlichkeit des Vertragsschlusses“). Siehe zur Umsetzung in Art. 246c EGBGB nur Palandt /  Grüneberg (2017), Einf. v. Art. 238 EGBGB Rn. 4. 102 EuGH Urt. v. 16.10.2008 – Rs. C-298/07 (DIV), Slg. 2008, I-7841 Rn. 23 (Herv. d. Verf.). 103 Statt vieler Palandt / Grüneberg (2017), Einf. v. Art. 238 EGBGB Rn. 4. 100 101

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bereitstellt und der Kunde sodann den Bedeutungsgehalt seiner Erklärung in einer für ihn fremden Sprache verkennt.104 Weil hier unionsrechtliche Vorschriften zum Schutz der Willensbildung anwendbar sind, materialisieren die Anfechtungstatbestände des Bürgerlichen Rechts in diesen Konstellationen – zumindest auch – die unionale Vertragsfreiheit. Dabei gebietet der sanktionenrechtliche Effektivitätsgrundsatz im Anwendungsbereich der E-Commerce-Richtlinie, dass der Kunde von der Ersatzpflicht nach § 122 BGB befreit wird, sofern er den Vertrag wegen eines Inhalts- oder Erklärungsirrtums nach § 119 BGB anficht und der Unternehmer seinerseits die unionsrechtlich vorgegebenen Maßnahmen zur Verhinderung solcher Irrtümer unterlassen hat.105 Schließlich wäre eine wirksame und abschreckende Sanktion der Informationspflichtverletzung kaum im Sinne des Art. 20 E-Commerce-Richtlinie gewährleistet, wenn der Verbraucher durch Schadensersatzansprüche von der Anfechtung abgehalten oder dem Unternehmer über § 122 BGB zumindest der wirtschaftliche Vorteil des Vertrags erhalten wird. 3. Anwendungsbeispiele aus dem Finanzdienstleistungs- und Verbrauchervertragsrecht Soweit sich die im Unionsprivatrecht zwingend zu erteilenden Informationen auf essentialia negotii beziehen, sind damit häufig verkehrswesentliche Eigenschaften im Sinne des § 119 Abs. 2 BGB betroffen: Dies trifft auf die „wesentlichen Eigenschaften der Waren oder Dienstleistungen“ im Rahmen von Art. 6 Abs. 1 Verbraucherrechterichtlinie ebenso zu wie auf die zentralen Eigenschaften von Anlage- oder Versicherungsprodukten, die den Kunden nach Art. 6 Abs. 1 PRIIP-Verordnung vor Vertragsschluss mitzuteilen sind.106 Gleiches gilt beispielsweise auch für die „wesentlichen Merkmale der Finanzdienstleistung“ im Sinne des Art. 3 Abs. 1 Finanzdienstleistungsfernabsatzrichtlinie. Wenn nun z. B. ein Verbraucher bei einem Fernabsatzvertrag über eine Finanzdienstleistung in Bezug auf diese Elemente einem im Rahmen des § 119 Abs. 2 BGB beachtlichen Irrtum unterliegt oder durch den Unternehmer arglistig getäuscht wird, ist gerade die durch das Unionsgrundrecht der Vertragsfreiheit geschützte Selbstbestimmung des Verbrauchers betroffen. Entsprechend materialisieren die § 119 Abs. 2 BGB, § 123 BGB hier – jedenfalls Palandt / Grüneberg (2017), Einf. v. Art. 238 EGBGB Rn. 4. Wie hier unter Verweis auf § 242 BGB – allerdings ohne auf die unionsrechtliche Dimension einzugehen – auch BT-Drucks. 14/6040, S. 173; Palandt / Grüneberg (2017), Einf. v. Art. 238 EGBGB Rn. 4; Herresthal, in: Langenbucher (Hrsg.), Europäisches Privat- und Wirtschaftsrecht (2013), § 2 Rn. 162. 106 Siehe mit Blick auf diese „Hauptbestandteile des Vertrags“ auch Erwägungsgrund Nr. 39 Verbraucherrechterichtlinie. 104 105

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auch – die unionale rechtsgeschäftliche Privatautonomie. Zugleich fordert Art. 11 Finanzdienstleistungsfernabsatzrichtlinie eine wirksame „Ahndung von Verstößen des Anbieters“ gegen die auf die essentialia negotii bezogenen Informationspflichten. Der sanktionenrechtliche Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz gebietet in dieser Konstellation, dass der Anfechtungstatbestand des deutschen Bürgerlichen Rechts in gleicher Weise zur Sicherung der durch die unionale Vertragsfreiheit geschützten Willensfreiheit des Verbrauchers herangezogen wird wie in allein vom nationalen Recht beherrschten Fällen.107 Unionale Informationspflichten dienen auch in anderen Bereichen dem Schutz der unverfälschten Willensbildung, so dass die Anfechtungstatbestände der §§ 119 ff. BGB dort ebenfalls unter den Einfluss des EU-Rechts geraten. Beispielsweise missbilligen diverse Rechtsakte des Unionsprivatrechts Beeinträchtigungen der Vertragsentscheidung des Verbrauchers, die darin bestehen, dass die vorvertraglich erteilten Informationen nicht mit dem Inhalt des sodann geschlossen Vertrags übereinstimmen. Um dem zu begegnen, erheben unter anderem die Verbraucherrechterichtlinie, die PRIIP-Verordnung und die Time-Sharing-Richtlinie die in der vorvertraglichen Leistungsbeschreibung enthaltenen „wesentlichen Eigenschaften“ partiell zum Vertragsinhalt und lassen abweichende Regelungen nur durch ausdrückliche Vereinbarungen der Parteien zu.108 Dieser Mechanismus versagt jedoch bei unvollständigen, missverständlichen oder gar perplexen vorvertraglichen Informationen.109 Vor allem erfasst diese Regelung nicht die nunmehr in Art. 5 Abs. 1 107 Darüber hinaus schließt der unionsrechtliche Effektivitätsgrundsatz bei Verletzung einer gerade der Vermeidung solcher Irrtümer dienender Informationspflichten einen Anspruch gegen den Verbraucher nach § 122 BGB aus, vgl erneut oben 2. 108 Gemäß Art. 6 Abs. 5 Verbraucherrechterichtlinie sind insbesondere die Informationen über „die wesentlichen Eigenschaften der Waren oder Dienstleistungen“ im Sinne des Art. 6 Abs. 1 grundsätzlich „fester Bestandteil des Fernabsatzvertrags oder des außerhalb von Geschäftsräumen abgeschlossenen Vertrags“. Auch laut Art. 6 Abs. 1 PRIIPVerordnung enthält das Basisinformationsblatt nicht nur alle „wesentlichen Informationen“ über die Anlage- oder Versicherungsprodukte, sondern es „stimmt mit […] [den] Vertragsunterlagen […] überein“. Ausweislich Art. 6 Abs. 1 Pauschalreiserichtlinie werden vorvertragliche „Informationen integraler Bestandteil des Pauschalreisevertrags“. Schließlich sind nach Art. 5 Abs. 2 Time-Sharing-Richtlinie die vorvertraglichen „Informationen […] fester Vertragsbestandteil und dürfen nicht geändert werden, es sei denn, die Vertragsparteien vereinbaren ausdrücklich etwas anderes“. 109 Zwar werden z. B. gemäß Art. 6 Abs. 5 und Abs. 1 lit. a Verbraucherrechterichtlinie auch unrichtige, über den sodann vereinbarten Vertragstext hinausgehende, vorvertragliche Leistungsbeschreibungen Inhalt des Vertrags, so dass der Verbraucher einen der vorvertraglichen Information entsprechenden Erfüllungsanspruch bzw. bei einem Kaufvertrag nach Ablieferung der Kaufsache Gewährleistungsansprüche hat, dazu statt vieler Grigoleit, in: Eidenmüller / Faust / Grigoleit u. a. (Hrsg.), Revision des Verbraucher-acquis (2011), S. 223, 259; Jansen, Revision des Verbraucher-Acquis? (2012), S. 35. Dagegen können aber widersprüchliche, unvollständige oder perplexe vorvertragliche Informationen gerade nicht den Vertragsinhalt gemäß Art. 6 Abs. 5 Verbraucherrechterichtlinie ausgestalten.

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lit. a und lit. c Verbraucherrechterichtlinie vorgesehene generelle vorvertragliche Pflicht zur Information über die essentialia negotii, die grundsätzlich für alle in Ladengeschäften und im Präsenzhandel geschlossenen Verbraucherverträge gilt.110 Weil hier die Willensbildung des Verbrauchers in einem durch die Informationspflichten unionsrechtlich überformten Bereich beeinträchtigt wird, sind die Reaktionen des deutschen Bürgerlichen Rechts auch unionsrechtlich determiniert. So sind bei der Frage, ob der Irrtum eine verkehrswesentliche Eigenschaft betrifft und damit zur Anfechtung berechtigt, nicht zuletzt die Vorgaben der jeweiligen Unionsrechtsakte zu berücksichtigen, wie sie beispielsweise die PRIIP-Verordnung oder die Verbraucherrechterichtlinie hinsichtlich der „wesentlichen Eigenschaften“ enthalten. Ruft die Verletzung der vorvertraglichen Informationspflicht über die essentialia negotii einen Irrtum hervor, ist neben dem sanktionenrechtlichen Effektivitätsgrundsatz auch das Gebot der unionsgrundrechtskonformen Auslegung und Anwendung des mitgliedstaatlichen Rechts im Lichte der unionalen Vertragsfreiheit zu beachten. Erneut werden die Anfechtung nach §§ 119 ff. BGB ebenso wie ihre Rechtsfolgen – und namentlich etwa der Ausschluss von Ansprüchen nach § 122 BGB gegen den Verbraucher –111 in diesem Rahmen unionsrechtlich überformt. B. Culpa in contrahendo Die culpa in contrahendo ist ein weiterer, nicht unmittelbar harmonisierter Regelungsbereich des deutschen BGB, der unter bestimmten Voraussetzungen in den Dienst der Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit gestellt wird (I). Dies gründet darin, dass vorvertragliche Pflichten zunehmend durch das EU-Privatrecht geprägt sind und die culpa in contrahendo infolgedessen in unterschiedlichen Regelungsbereichen unionsrechtlich „aufgeladen“ wird: So fordert etwa die PRIIP-Verordnung, dass die Verletzung vorvertraglicher Informationspflichten eine „zivilrechtliche Haftung“ des Anbieters von Versicherungs- oder Anlageprodukten nach sich zieht (II). Auch mit Blick auf die Klauselkontrolle des späteren Vertrags erscheinen sie wenig hilfreich: Selbst wenn man – entgegen MünchKommBGB / Basedow (2016) § 305 BGB Rn. 56 – die Maßstäbe für die Einbeziehung von AGB mit MünchKommBGB / Wendehorst (2016) § 312d BGB Rn. 13 grundsätzlich an den Informationspflichten ausrichten will, dürften jedenfalls unvollständige oder perplexe Informationen insoweit unergiebig sein. Ebenso ist zu bezweifeln, dass hier über § 305c Abs. 1 BGB Abhilfe geschaffen werden kann, dafür aber MünchKommBGB / Wendehorst (2016) § 312d BGB Rn. 13. 110 Allerdings können die Mitgliedstaaten gemäß Art. 5 Abs. 3 Verbraucherrechterichtlinie davon absehen, die vorvertragliche Informationspflicht auch auf solche „Verträge anzuwenden, die Geschäfte des täglichen Lebens zum Gegenstand haben und zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses sofort erfüllt werden“. 111 Vgl. zum Ausschluss des § 122 BGB wiederum oben 2.

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Darüber hinaus kann ein Verstoß gegen die Pflicht zur Kreditwürdigkeitsprüfung nach Art. 8 Verbraucherkreditrichtlinie einen Anspruch aus culpa in contrahendo gegen die Bank auslösen (III). Schließlich fallen auch einzelne Informationspflichten des allgemeinen Verbrauchervertragsrechts unter die von § 311 Abs. 2, § 241 Abs. 2 BGB erfassten (Neben)Pflichten (IV). Gerade im durch die Verbraucherrechterichtlinie vollharmonisierten Bereich nimmt die Information über Widerrufsrechte nun aber eine Sonderstellung ein (V). I. Voraussetzungen der Inanspruchnahme des § 311 Abs. 2 BGB als Materialisierungsinstrument Zunächst begründet nicht jede Verletzung einer Informationspflicht unionsrechtlicher Provenienz einen Anspruch aus culpa in contrahendo. Vielmehr ist anhand der Art und Zielsetzung der konkret betroffenen Pflicht zu unterscheiden, wobei Dreh- und Angelpunkt der Beitrag der Informationspflicht zur unverfälschten Entfaltung des rechtsgeschäftlichen Willens sein muss. 112 Manche Informationserfordernisse beziehen sich indes auf Faktoren, die keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Willensbildung haben: Beispielsweise wird ein Verbraucher bei seiner Vertragsentscheidung typischerweise nicht dadurch beeinflusst, dass ihm entgegen Art. 5 Abs. 1 lit. b Verbraucherrechterichtlinie die Telefonnummer des Unternehmers vor Vertragsschluss nicht oder aber fehlerhaft übermittelt wird.113 Nur soweit die verletzte Informationspflicht gerade die vertragsschlussbezogene Willensbildung sichern soll, kann die culpa in contrahendo als Materialisierungsinstrument fruchtbar gemacht werden.114 § 311 Abs. 2 i.V.m. § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2, § 249 BGB erlaubt dann die Beseitigung des Vertrags im Wege der Naturalrestitution und materialisiert entsprechend im Nachhinein die Vertragsfreiheit der Partei, deren Willensbildung durch die verletzte Informationspflicht eigentlich von Anbeginn hätte geschützt werden sollen. Darüber hinaus muss der Betroffene gerade infolge dieser Pflichtverletzung einen in dieser Form nicht Laut Heinze, Schadensersatz im Unionsprivatrecht (2017), S. 281 ist eine Differenzierung anhand der Ausrichtung der jeweiligen Informationspflichten „unionsrechtlich gestattet und geboten“. Dafür streitet, dass EuGH Urt. v. 10.4.2008 – Rs. C-412/06 (Hamilton), Slg. 2008, I-2383 Rn. 39 die Verbraucherschutzmaßnahmen – und damit auch die Sanktionen von Informationspflichtverletzungen – gerade am „Hauptzweck der Richtlinie“ sowie an der Schutzrichtung der jeweils verletzten Richtlinienvorgaben ausrichten will. 113 Vgl. zu dieser Informationspflicht Art. 5 Abs. 1 lit. b Verbraucherrechterichtlinie. Demgegenüber können dem Verbraucher aber durch einen Verstoß gegen die Pflichten zur Offenlegung der Identität des Unternehmers Einbußen dadurch entstehen, dass der Konsument zur Durchsetzung seiner Rechte erst Nachforschungen anstellen muss, Grigoleit, in: Eidenmüller / Faust / Grigoleit u. a. (Hrsg.), Revision des Verbraucher-acquis (2011), S. 223, 258; Heinze, Schadensersatz im Unionsprivatrecht (2017), S. 283 f. 114 Vgl. auch Herresthal, in: Langenbucher (Hrsg.), Europäisches Privat- und Wirtschaftsrecht (2013), § 2 Rn. 162. 112

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gewollten Vertrag schließen, der zu einer im Rahmen des § 249 BGB relevanten Einbuße führt. Im deutschen Bürgerlichen Recht wird die Verletzung der Willensbildungsfreiheit durchaus als Schaden anerkannt.115 Vor allem sollen die unionsrechtlichen Informationspflichten im Vorfeld des Vertragsschlusses laut EuGH gerade „die Gefahr bestimmter Irrtümer […] vermeiden, die zum Abschluss eines nachteiligen Vertrags führen können“.116 Wo durch die Nichteinhaltung solcher Informationspflichten die vertragsentschlussbezogene Willensbildung beeinträchtigt wird, hat dies daher sowohl aus Sicht des BGB als auch des Unionsprivatrechts zur Folge, dass der Vertrag gegebenenfalls beseitigt werden kann.117 Im Rahmen des § 311 Abs. 2 i.V.m. § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2, § 249 BGB muss schließlich die Kausalität zwischen der Pflichtverletzung und dem Vertragsschluss gegeben oder aber im Interesse einer effektiven Sanktion von Informationspflichtverletzungen zu vermuten sein.118 II. Anordnung vorvertraglicher Informationshaftung bei Versicherungsverträgen und Kapitalanlageprodukten Die vorstehenden Überlegungen finden eine Stütze im unionalen Finanzdienstleistungsvertragsrecht, da hier die Haftung für vorvertragliche Informationspflichtverletzungen partiell explizit vorgegeben wird: Nach Art. 11 Abs. 1 PRIIP-Verordnung haftet ein Anbieter von Versicherungs- oder Anlageprodukten für alle vor Vertragsschluss auf dem Basisinformationsblatt gemachten irreführenden oder ungenauen Angaben.119 Insoweit erhebt das Unionsrecht die vor Vertragsschluss zu erfüllenden Informationspflichten und insbesondere Vgl. zum Schadenscharakter einer objektiv zwar werthaltigen, von der Partei aber in dieser Form nicht gewollten und für ihre Zwecke auch nicht verwendbaren Leistung nur BGH Urt. v. 8.3.2005 – Az. XI ZR 170/04, NJW 2005, 1579, 1580. Siehe auch Palandt /  Grüneberg (2017), § 311 BGB Rn. 13; Heinze, Schadensersatz im Unionsprivatrecht (2017), S. 289 (dort auch in Fn. 541). 116 Siehe zu den Pflichten im Rahmen der E-Commerce-Richtlinie EuGH Urt. v. 16.10.2008 – Rs. C-298/07 (DIV), Slg. 2008, I-7841 Rn. 23. 117 Vgl. erneut EuGH Urt. v. 16.10.2008 – Rs. C-298/07 (DIV), Slg. 2008, I-7841 Rn. 23. Siehe zur E-Commerce-Richtlinie auch Grigoleit NJW 2002, 1151, 1157. 118 Vgl. Herresthal, in: Langenbucher (Hrsg.), Europäisches Privat- und Wirtschaftsrecht (2013), § 2 Rn. 162. Vgl. zum Kausalitätserfordernis im Rahmen der Haftung für vorvertragliche Informationspflichten unionsrechtlicher Provenienz auch BGH Urt. v. 19.9.2006 – Az. XI ZR 204/04, BGHZ 169, 109, 121 f. 119 Gleiches gilt auch, wenn die Angaben auf dem Informationsblatt nicht mit den Elementen des sodann geschlossenen Vertrags übereinstimmen, siehe Art. 11 Abs. 1 PRIIPVerordnung: „Für einen PRIIP-Hersteller entsteht aufgrund des Basisinformationsblatts und dessen Übersetzung alleine noch keine zivilrechtliche Haftung, es sei denn, das Basisinformationsblatt oder die Übersetzung ist irreführend, ungenau oder stimmt nicht mit den einschlägigen Teilen der rechtlich verbindlichen […] Vertragsunterlagen […] überein“ (Herv. d. Verf.). Vgl. hierzu bereits Loacker, FS E. Lorenz (2014), S. 259, 273. 115

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jene betreffend die zentralen Charakteristika des Versicherungs- oder Anlageproduktes120 zu Pflichten im Sinne des § 241 Abs. 2 BGB. Verletzt der Anbieter die aus der Basisinformationsverordnung folgenden Pflichten zumindest fahrlässig, trifft ihn nach deutschem Bürgerlichen Recht ein Anspruch aus culpa in contrahendo: Zum einen schützen die unionsrechtlich fundierten Informationspflichten gerade die vertragsschlussbezogene Willensbildung des Nachfragers.121 Zum anderen dürfte das Kausalitätserfordernis im Rahmen der § 311 Abs. 2 i.V.m. § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2, § 249 BGB mit Blick auf den sanktionenrechtlichen Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz keine Hürde darstellen: Besagte unionsrechtliche Vorgaben sprechen nämlich für eine – widerlegbare – Vermutung dahingehend, dass der Nachfrager bei Erfüllung der Aufklärungspflicht vom Vertragsschluss Abstand genommen hätte und ihm daher kein Schaden – in Gestalt des Vertrags – entstanden wäre.122 Auf eine solche Vermutung aufklärungsrichtigen Verhaltens baut der BGH gerade auch in anderen Bereichen des Kapitalanlagerechts, wobei die Zielsetzung der Aufklärungspflichten im Wesentlichen gleichläuft. Hier wie dort wird „[d]er Zweck der Aufklärungspflichten, dem Anleger eine sachgerechte Entscheidung über den Abschluss bestimmter Geschäfte zu ermöglichen, […] in solchen Fällen, in denen die Aufklärung der Information zur freien Entscheidung des Anlegers dient, nur erreicht, wenn Unklarheiten, die durch eine Aufklärungspflichtverletzung bedingt sind, zu Lasten des Aufklärungspflichtigen gehen“.123

Der Äquivalenzgrundsatz gebietet, dass zumindest die Verletzung ähnlicher unionsrechtlich fundierter Informationspflichten in gleicher Weise sanktioniert wird. Um den Vorgaben der PRIIP-Verordnung zu praktischer Wirksamkeit zu verhelfen, ist daher auch bei einem Verstoß gegen die in Art. 11 der Verordnung angesprochenen Pflichten zu vermuten, dass der Nachfrager bei korrekter Information vom Vertragsschluss abgesehen hätte. Auf Rechtsfolgenseite ermöglicht der Anspruch nach § 311 Abs. 2 i.V.m. § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2, § 249 BGB sodann die Aufhebung des Vertrags im Wege der Naturalrestitution. Entsprechend kann sich der Nachfrager von Anlage- bzw. Versicherungsprodukten also der Vertragsbindung vollständig entschlagen. Vgl. Art. 8 Abs. 3 lit. c PRIIP-Verordnung. Siehe zu diesen Erfordernissen im Kontext unionsprivatrechtlicher (Informations)Pflichten nur Herresthal, in: Langenbucher (Hrsg.), Europäisches Privat- und Wirtschaftsrecht (2013), § 2 Rn. 162. 122 In diese Richtung deutet – wenn auch für eine Haustürsituation – auch schon EuGH Urt. v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 (Schulte), Slg. 2005, I-9215 Rn. 99 ff.: Namentlich geht der Gerichtshof davon aus, dass „der Verbraucher, wenn das Kreditinstitut ihn über sein Widerrufsrecht belehrt hätte, es hätte vermeiden können, sich den Risiken auszusetzen, die mit Kapitalanlagen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Art verbunden sind“ (Herv. d. Verf.). Vgl. auch BGH Urt. v. 8.5.2012 – Az. XI ZR 262/10, BGHZ 193, 159, 171 f. 123 BGH Urt. v. 8.5.2012 – Az. XI ZR 262/10, BGHZ 193, 159, 171 f. m. w. N. 120 121

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III. Culpa in contrahendo als Sanktion von Verstößen gegen die Bonitätsprüfungspflicht im Verbraucherkreditvertragsrecht In anderem Zusammenhang sind unionsrechtlich fundierte (Informations)Pflichten auch ohne ausdrückliche Hinweise im EU-Sekundärrecht potenziell als vorvertragliche Pflichten gemäß § 311 Abs. 2 i.V.m. § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2 BGB zu behandeln. Die zentrale Antriebskraft, die zugunsten einer Haftung für vorvertragliche Informationspflichtverletzungen wirkt, ist dabei wiederum der Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz: Soweit bestimmte unionsrechtlich fundierte Pflichten eine Materialisierung der Vertragsfreiheit bezwecken, mag gerade der sanktionenrechtliche Effektivitätsgrundsatz die Ahndung von Pflichtverletzungen im Rahmen der culpa in contrahendo gebieten.124 Als Beispiel soll im Folgenden die Pflicht zur Überprüfung und Bewertung der Kreditwürdigkeit von Verbrauchern dienen. Während im unionalen Finanzdienstleistungsvertragsrecht grundsätzlich den Nachfrager eine Selbstinformationsobliegenheit hinsichtlich seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit trifft,125 wird die Informationslast durch Art. 8 Abs. 1 Verbraucherkreditrichtlinie auf den Anbieter verlagert: Nach dieser Vorschrift muss der Kreditgeber „vor Abschluss des Kreditvertrages […] die Kreditwürdigkeit des Verbrauchers anhand ausreichender Informationen bewerte[n], die er gegebenenfalls beim Verbraucher […] und erforderlichenfalls anhand von Auskünften aus der in Frage kommenden Datenbank [einholt]“.126

Hinter dieser Regelung steht die Überlegung, dass nur ein Verbraucher, dessen Bonität durch ein sachkundiges Kreditinstitut beurteilt wird, in der Lage ist, sehenden Auges eine informierte – und gerade bei schlechter Bonität riskante – Entscheidung für oder wider den Abschluss des Kreditvertrages zu treffen.127 In der Rechtssache CA Consumer Finance hat der EuGH entsprechend herausgestellt, dass der Kreditgeber gerade die Ergebnisse einer negativen oder auch nur grenzwertigen Bonitätsprüfung dem Verbraucher immer mitzuteilen und zu erläutern hat.128 124 Siehe zum sanktionenrechtlichen Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz erneut oben § 1 I. 125 Vgl. Fleischer, ZEuP 2000, 772, 791. 126 Ebenso verlangt auch Art. 18 Abs. 1 Wohnimmobilienkreditrichtlinie im Vorfeld des Vertragsschlusses die „eingehende Prüfung der Kreditwürdigkeit des Verbrauchers“, wobei alle Faktoren berücksichtigt werden müssen, „die für die Prüfung der Aussichten relevant sind, dass der Verbraucher seinen Verpflichtungen aus dem Kreditvertrag nachkommt“. 127 Vgl. auch Art. 5 Abs. 6 Verbraucherkreditrichtlinie („damit der Verbraucher in die Lage versetzt wird, zu beurteilen, ob der Vertrag seinen Bedürfnissen und seiner finanziellen Situation gerecht wird“). Siehe statt vieler auch Staudinger / Freitag (2015), § 488 BGB Rn. 36d. 128 Obschon die vorvertraglichen Informations- und Erläuterungspflichten nach Art. 5 nicht deckungsgleich mit der ebenfalls vorvertraglichen Prüfungspflicht nach Art. 8 Verbraucherkreditrichtlinie sind, hat „[d]er Kreditgeber jedoch die Bewertung der Kreditwür-

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1. Verletzung der Bonitätsprüfungspflicht und ihre Folgen Diese Zielsetzung des Art. 8 Abs. 1 Verbraucherkreditrichtlinie wirft die Frage auf, welche privatrechtlichen Rechtsfolgen eine Pflichtverletzung von der Warte des Unionsrechts nach sich ziehen muss. Die Richtlinie verweist nur darauf, dass alle Sanktionen von Verstößen gegen die Richtlinienvorgaben „wirksam, verhältnismäßig und abschreckend“ sein müssen.129 Obschon den Mitgliedstaaten grundsätzlich die Wahl der Instrumente überlassen bleibt, derer sie sich insoweit bedienen,130 bestehen nach der Crédit-LyonnaisEntscheidung des EuGH keine Zweifel mehr daran, dass die Nichtbeachtung der Pflicht zur Informationseinholung nach Art. 8 Abs. 1 Verbraucherkreditrichtlinie auch privatrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen muss.131 Schließlich vermögen nur privatrechtliche Sanktionen den vom Gerichtshof in dieser Rechtssache geforderten lückenlosen Schutz des individuellen Verbrauchers zu gewährleisten: Aufsichts- und ordnungswidrigkeitenrechtliche Instrumente kommen nämlich zum einen erst bei einer Vielzahl von Verstößen zum Einsatz und entfalten ihre (Abschreckungs)Wirkung zum anderen nur für künftige Fälle, ohne dem konkret und aktuell betroffenen Verbraucher Abhilfe zu schaffen.132 Dies ist indes weder ausreichend noch hinnehmbar, digkeit des Verbrauchers zu berücksichtigen, soweit diese Bewertung eine Anpassung der gegebenen Erläuterungen erfordert“, EuGH Urt. v. 18.12.2014 – Rs. C-449/13 (CA Consumer Finance), EU:C:2014:2464 Rn. 45. Dies ist bei unzureichender und grenzwertiger Bonität stets der Fall, weil der Kreditgeber den Verbraucher nach Art. 5 Abs. 6 Verbraucherkreditrichtlinie ausnahmslos immer über die „spezifischen Auswirkungen der Produkte auf den Verbraucher“ informieren und ihn so in die Lage versetzen muss, „zu beurteilen, ob der Vertrag seinen Bedürfnissen und seiner finanziellen Situation gerecht wird“ (Herv. d. Verf.). Bei unzureichender Bonität entspricht der Kreditvertrag zwangsläufig nicht der „finanziellen Situation“ des Verbrauchers. 129 Art. 23 Verbraucherkreditrichtlinie. 130 Vgl. z. B. EuGH Urt. v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 (Schulte), Slg. 2005, I-9215 Rn. 101. Siehe statt vieler auch Heiderhoff, Europäisches Privatrecht (2016), S. 185 f. 131 EuGH Urt. v. 27.3.2014 – Rs. C-565/12 (Crédit Lyonnais), EU:C:2014:190 Rn. 42 ff. So auch ausdrücklich Freitag, LMK 2014, 358906; Barta / Braune, BKR 2014, 324, 329 f.; Staudinger / Freitag (2015), § 488 BGB Rn. 36d. Obwohl die Erwägungsgründe Nr. 57 und Nr. 83 Wohnimmobilienkreditrichtlinie auf den ersten Blick Raum für rein aufsichtsrechtliche Instrumente lassen, dürfte eine Verletzung des Art. 18 Wohnimmobilienkreditrichtlinie gerade im Interesse der praktischen Wirksamkeit des mit der Regelung intendierten individuellen Verbraucherschutzes ebenfalls privatrechtliche Sanktionen erfordern. Zu Recht hat der deutsche Gesetzgeber hier ebenfalls den Weg über §§ 505a ff. BGB gewählt. Für die Zulässigkeit einer rein aufsichtsrechtlichen Lösung plädiert dagegen Herresthal, EuZW 2014, 497, 499. 132 Siehe zum Erfordernis des „wirksamen Schutz[es] der Verbraucher“ EuGH Urt. v. 27.3.2014 – Rs. C-565/12 (Crédit Lyonnais), EU:C:2014:190 Rn. 42 ff. Siehe statt vieler auch Staudinger / Freitag (2015), § 488 BGB Rn. 36b und 36d, der zu Recht die „offenkundigen Defizite eines rein aufsichtsrechtlichen Schutzes insbesondere im Hinblick auf den Individualschutz des Verbrauchers“ betont.

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wenn man die Gewährleistung individueller Selbstbestimmungschancen als Ziel der Materialisierungsinstrumente erkennt. Entsprechend hat der EuGH schon in der Rechtssache Schulte im Kontext des Verbraucherkreditvertragsrechts gefordert, dass der Konsument durch privatrechtliche Instrumente von den negativen Folgen einer Verletzung unionsrechtlicher Informationspflichten freizustellen ist.133 Vor diesem Hintergrund ist es begrüßenswert, dass der deutsche Gesetzgeber bei der Umsetzung des Art. 8 Abs. 1 Verbraucherkreditrichtlinie nicht mehr vorrangig auf aufsichtsrechtliche Instrumente134 baut, sondern in § 505d BGB auch zivilrechtliche Rechtsfolgen vorsieht. Allerdings erlaubt § 505d BGB bei einer Verletzung der Pflicht zur Kreditwürdigkeitsprüfung in erster Linie die Herabsetzung der vertraglich geschuldeten Zinssätze. Ob dies in jeder Situation eine zureichende – nachträgliche – Materialisierung der vertraglichen Selbstbestimmung des Verbrauchers ermöglicht, muss bezweifelt werden: In der Rechtssache Crédit Lyonnais hat der EuGH betont, dass „in allgemeinerer Weise die Sanktion der Verwirkung des Anspruchs auf die vertraglich vereinbarten Zinsen nicht als wirklich abschreckend angesehen werden“ könne.135 Somit ist zu fragen, ob bei einer Verletzung der Pflicht zur Bonitätsprüfung und Aufklärung des Verbrauchers weitere bürgerlich-rechtliche Normen zum Schutz der Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers heranzuziehen sind. 2. Unionsrechtliche Vorgaben mit Blick auf § 311 Abs. 2 BGB Weder § 505d BGB noch Art. 8 Abs. 1 Verbraucherkreditrichtlinie stehen einem Rückgriff auf das allgemeine Instrumentarium des Bürgerlichen Rechts, wie etwa Ansprüchen aus culpa in contrahendo, entgegen.136 Ganz im Gegenteil gebieten womöglich gerade der sanktionenrechtliche Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz ebenso wie die aus der Vertragsfreiheit folgenden Schutzpflichten eine Ahndung von Verstößen des Art. 8 Abs. 1 Verbraucherkreditrichtlinie mithilfe des § 311 Abs. 2 BGB: Soweit bei einer Verletzung vergleichbarer vorvertraglicher Aufklärungspflichten nach deutschem Privatrecht eine Beseitigung des Vertrags im Wege der Naturalrestitution gemäß § 311 Abs. 2 i.V.m. § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2, § 249 BGB möglich ist, muss dies bereits nach dem Vgl. EuGH Urt. v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 (Schulte), Slg. 2005, I-9215 Rn. 100 f. Vgl. § 18a KWG. 135 EuGH Urt. v. 27.3.2014 – Rs. C-565/12 (Crédit Lyonnais), EU:C:2014:190 Rn. 42 ff. und insbesondere 52 (Herv. d. Verf.). In dieser Rechtssache bestand freilich die Besonderheit, dass der an die Stelle des vertraglich vereinbarten tretende gesetzliche Zinssatz womöglich sogar höher ausfallen könnte. 136 Vgl. auch Art. 23 Verbraucherkreditrichtlinie. Siehe zu § 505d Abs. 2 BGB nur BTDrucks. 18/5922, S. 98 sowie BeckOK-BGB / Bamberger / Roth, § 505d BGB Rn. 4; BuckHeeb, NJW 2016, 2065, 2069. Anders noch zum Gesetzesentwurf wohl Staudinger / Freitag (2015), § 488 BGB Rn. 36d. 133 134

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Grundsatz der Äquivalenz auch für unionsrechtliche fundierte Pflichten gelten. Mit Blick auf die Verletzung des Art. 8 Abs. 1 Verbraucherkreditrichtlinie hebt der EuGH ausdrücklich hervor, dass dieser Verstoß „nach materiellen […] Regeln geahndet werden [muss], die denjenigen ähneln, die bei nach Art und Schwere gleichartigen Verstößen gegen das nationale Recht gelten, und jedenfalls der Sanktion einen wirksamen, verhältnismäßigen und abschreckenden Charakter verleihen“.137

Dies wirft die Folgefrage auf, ob die Pflicht zur Bonitätsbewertung und Aufklärung des Kreditnehmers nach Art. 8 Abs. 1 Verbraucherkreditrichtlinie ein Pendant im deutschen Recht findet. Auf die finanzielle Risikotragfähigkeit und damit auf die Vermögensverhältnisse bezogene Informationspflichten sind – etwa im Vorfeld von Kapitalanlagegeschäften – auch dem deutschen Privatrecht bekannt und können im Fall ihrer Verletzung einen Anspruch aus culpa in contrahendo begründen.138 Diese Konstellation ist auch deshalb vergleichbar,139 weil in beiden Fallgestaltungen der Nachfrager in den Stand gesetzt werden soll, eine informierte Vertragsentscheidung in einem finanziell besonders relevanten Bereich zu treffen: Hier wie dort ist für den Nachfrager die „Aufklärung und Beratung von besonderer Wichtigkeit, um seine Entscheidungsfreiheit zu wahren“.140 Besagte Pflichten dienen gleichermaßen dem Schutz der vertragsschlussbezogenen Willensbildung, weshalb ihre Verletzung grundsätzlich einen Anspruch aus culpa in contrahendo begründen kann. Schon nach dem unionsrechtlichen Äquivalenzprinzip darf die privatrechtliche Sanktion von Verstößen gegen Art. 8 Abs. 1 Verbraucherkreditrichtlinie daher nicht anders ausfallen. Konkret ist bei einer unterbliebenen oder fehlerhaften Kreditwürdigkeitsprüfung dann im Rahmen der § 311 Abs. 2 i.V.m. § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2 BGB an der versäumten Information des Verbrauchers über seine Kreditunwürdigkeit und damit an der Verletzung einer Hinweis- und Aufklärungspflicht anzuknüpfen.141 EuGH Urt. v. 27.3.2014 – Rs. C-565/12 (Crédit Lyonnais), EU:C:2014:190 Rn. 44 (Herv. d. Verf.). 138 Vgl. etwa zur Pflicht zur anleger- und objektgerechten Beratung entsprechend der individuellen Risikotragfähigkeit und -bereitschaft nur BGH Urt. v. 22.3.2011 – Az. XI ZR 33/10, BGHZ 189, 13, 21 ff. Siehe zur Rolle des § 311 Abs. 2 BGB in diesem Kontext statt aller MünchKommBGB / Emmerich (2016), § 311 BGB Rn. 100 f. 139 Eine Parallele zieht hier z. B. auch Buck-Heeb, NJW 2016, 2065, 2070. 140 Siehe zur Kapitalanlageberatung nur BGH Urt. v. 8.5.2012 – Az. XI ZR 262/10, BGHZ 193, 159, 171 f. Der EuGH Urt. v. 27.3.2014 – Rs. C-565/12 (Crédit Lyonnais), EU:C:2014:190 Rn. 42 bringt dies im Kontext des Art. 8 Abs. 1 Verbraucherkreditrichtlinie wie folgt auf den Punkt: „Die vorvertragliche Verpflichtung des Kreditgebers zur Beurteilung der Kreditwürdigkeit des Kreditnehmers trägt insoweit, als sie den Schutz der Verbraucher vor der Gefahr der Überschuldung und der Zahlungsunfähigkeit bezweckt, zur Verwirklichung des Ziels der Richtlinie 2008/48 bei“. 137

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Die Kausalität der Pflichtverletzung für den Schaden ist bei einem Verstoß gegen die Bonitätsprüfungs- und Aufklärungspflicht immer dann zu bejahen, wenn der Kreditgeber bei einer negativen Kreditwürdigkeitsprüfung den Verbaucherdarlehensvertrag gar nicht hätte schließen dürfen.142 Auch soweit die Prüfung eine grenzwertige Bonität offenbart, welche die Kreditvergabe zwar gerade noch vertretbar, für den Kreditnehmer aber äußerst riskant erscheinen lässt, wird man im Interesse der praktischen Wirksamkeit der unionsrechtlichen Vorgaben eine – widerlegbare – Vermutung dahingehend aufstellen müssen, dass der Kreditnehmer bei aufklärungsrichtigem Verhalten des Kreditgebers vom Vertragsschluss abgesehen hätte.143 Denn Art. 8 Verbraucherkreditrichtlinie soll die Verbraucher schon davor bewahren, dass sie – ohne alle für eine informierte Entscheidung erforderlichen Faktoren zu kennen – Kreditverträge schließen, „die ihre finanziellen Möglichkeiten überschreiten und zu ihrer Zahlungsunfähigkeit führen können“.144 In diese Richtung deutet nun auch der EuGH in der Rechtssache CA Consumer Finance, wenn er unter Verweis auf den unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz fordert, dass der Kreditgeber seinerseits beweisen muss, dass er die Bonitätsprüfung vorgenommen und den Verbraucher als Kreditnehmer informiert hat.145 141 Buck-Heeb, NJW 2016, 2065, 2069. Siehe auch Staudinger / Freitag (2015), § 488 BGB Rn. 36 („Aufklärungspflicht des Darlehensgebers über Kreditwürdigkeit des Darlehensnehmers“). Nach der hier vertretenen Auffassung kann die Lösung auch mit Blick auf die Bonitätsprüfungspflichten nach Art. 18 Wohnimmobilienkreditrichtlinie nicht anders ausfallen: Ungeachtet der Erwägungsgründe Nr. 57 und Nr. 83 der Richtlinie gebietet der unionsrechtliche Äquivalenzgrundsatz, dass Verletzungen der auf den Schutz des individuellen Verbrauchers – und namentlich auf dessen vertragsschlussbezogene Willensbildung – zielenden Pflichten nach Art. 18 Abs. 1 Wohnimmobilienkreditrichtlinie ebenfalls im Rahmen des § 311 Abs. 2 i. V. m. § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2, § 249 BGB sanktioniert werden können. Dies gilt umso mehr, als der deutsche Gesetzgeber hier nicht für eine rein aufsichtsrechtliche Lösung optiert hat und nach Art. 28 Wohnimmobilienkreditrichtlinie gerade effektive Sanktionen erforderlich sind, die indes weder § 18a KWG noch § 506d BGB vollumfänglich sicherzustellen vermögen, vgl. insbesondere zur potenziellen Unzulänglichkeit des Ausschlusses von Zinsansprüchen als Sanktionsinstrument erneut nur EuGH Urt. v. 27.3.2014 – Rs. C-565/12 (Crédit Lyonnais), EU:C:2014:190 Rn. 42 ff. 142 Buck-Heeb, NJW 2016, 2065, 2070. 143 Siehe zur Parallelfrage bei der PRIIP-Verordnung erneut oben II. Dieser Ansatz entspricht im Übrigen wiederum der Entscheidungslinie des BGH zum Kapitalanlagerecht: „Gerade die zurückgehaltene Information wäre geeignet gewesen, den Anleger vom empfohlenen Geschäft abzubringen. Stattdessen hat sich der Anleger jedoch ohne diese (negative) Information für das Anlagegeschäft entschlossen. Das Risiko der Unaufklärbarkeit muss demzufolge […] die beratende Bank tragen“ (Herv. d. Verf.), siehe BGH Urt. v. 8.5.2012 – Az. XI ZR 262/10, BGHZ 193, 159, 171 f. 144 EuGH Urt. v. 27.3.2014 – Rs. C-565/12 (Crédit Lyonnais), EU:C:2014:190 Rn. 43 (Herv. d. Verf.). 145 Vgl. EuGH Urt. v. 18.12.2014 – Rs. C-449/13 (CA Consumer Finance), EU:C:2014: 2464 Rn. 20 ff. und insbesondere 25 sowie 27.

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Abschließend bleibt festzuhalten, dass Art. 8 Verbraucherkreditrichtlinie bei allen Interventionen zugunsten des Konsumenten lediglich verlangt, dass der Verbraucher aus sachkundiger Hand eine zutreffende Einschätzung seiner Bonität erhält. Auf dieser informationellen Basis kann sich der Verbraucher sodann – dem Prinzip der Selbstbestimmung und Selbstverantwortung folgend – sehenden Auges durchaus für eine riskoreiche vertragliche Verpflichtung entscheiden. § 311 Abs. 2 i.V.m. § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2, § 249 BGB kommt als Instrument zur nachträglichen Materialisierung der Vertragsfreiheit entsprechend nur zum Einsatz, wo der Verbraucher dieser Entscheidungsgrundlage entbehrt. IV. Informationshaftung im allgemeinen Verbrauchervertragsrecht Angesichts der Rolle, welche die culpa in contrahendo bei Verstößen gegen Informationspflichten des unionalen Finanzdienstleistungsrechts übernimmt, ist im Folgenden zu fragen, inwieweit dieses Instrument auch im allgemeinen Verbrauchervertragsrecht zur Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit fruchtbar gemacht werden kann. 1. Kategorien vertragsentschlussrelevanter Informationspflichten Eine Vertragsaufhebung im Wege der Naturalrestitution nach § 311 Abs. 2 i.V.m. § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2, § 249 BGB kommt auch im allgemeinen Konsumentenvertragsrecht nur in Betracht, wenn eine vorvertragliche Informationspflicht verletzt wird, welche die rechtsgeschäftliche Willensbildung des Verbrauchers zu schützen bestimmt ist.146 Die Informationspflichten unionsrechtlicher Provenienz dienen dem Schutz der Willensbilung, wenn sie eine Partei vor der irrtümlichen Abgabe einer Willenserklärung oder vor einem Irrtum über den Erklärungsinhalt bewahren sollen. Besonders vertragsentschlussrelevant sind somit zunächst Informationspflichten, die sich auf die essentialia negotii des Vertrags beziehen: Solche Pflichten statuieren neben Art. 5 Abs. 1 lit. a und lit. c sowie Art. 6 Abs. 1 lit. a und lit. e Verbraucherrechterichtlinie beispielsweise auch Art. 4 Abs. 1 Time-Sharing-Richtlinie und Art. 5 Abs. 1 lit. a und lit. c Pauschalreiserichtlinie.147 Darüber hinaus soll beispielsweise Art. 10 Abs. 1 lit. a E-CommerceRichtlinie den Nutzer im elektronischen Geschäftsverkehr davor schützen, dass er allein aufgrund der Unkenntnis der technischen Vertragsschlussmodalitäten eine Willenserklärung abgibt.148 Demgegenüber sucht Art. 10 Abs. 1 lit. c und lit. d E-Commerce-Richtlinie Irrtümer über den Inhalt der Erklärung Vgl. oben I. Siehe erneut oben A III 1. Vgl. auch MünchKommBGB / Wendehorst (2016), § 312d BGB Rn. 19. 148 Siehe oben A III 1 sowie statt vieler Grigoleit NJW 2002, 1151, 1157. 146 147

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zu verhindern, die darauf beruhen, dass der Nutzer entweder nicht über die Möglichkeit der Korrektur von Eingabefehlern oder über die verfügbaren Vertragssprachen informiert ist.149 Schließlich sollen die in der E-CommerceRichtlinie enthaltenen Informationspflichten nach der Lesart des Gerichtshofs helfen, „die Gefahr bestimmter Irrtümer zu vermeiden, die zum Abschluss eines nachteiligen Vertrags führen können“.150 Wo sich diese Gefahr nach einer Informationspflichtverletzung realisiert, muss dem Verbraucher daher ein Korrektiv an die Hand gegeben werden.151 2. Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz sowie Einwirkung unionaler Vertragsfreiheit Im Fall der Missachtung vertragsschlussbezogener Informationspflichten des allgemeinen Verbrauchervertragsrechts wird die praktische Wirksamkeit dieser Materialisierungsinstrumente in Frage gestellt.152 Art. 20 E-CommerceRichtlinie fordert daher ebenso wie auch Art. 24 Abs. 1 Verbraucherrechterichtlinie, Art. 15 Time-Sharing-Richtlinie und Art. 25 Pauschalreiserichtlinie wirksame, angemessene und abschreckende Sanktionen.153 Freilich gibt das Unionsrecht wiederum keine konkrete Reaktion vor, sondern überlässt diese dem mitgliedstaatlichen Recht. Allerdings liegt im System des deutschen Privatrechts bei einer Verletzung vorvertraglicher Informationspflichtverletzungen eine Haftung aus culpa in contrahendo druchaus nahe. Dabei mag der Äquivalenzgrundsatz dazu zwingen, den Verstoß gegen unionsprivatrechtliche ebenso wie auch den gegen vergleichbare bürgerlich-rechtliche Informationspflichten nach § 311 Abs. 2 i.V.m. § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2, § 249 BGB zu sanktionieren. Vor allem muss das gewählte Sanktionsinstrument des mitgliedstaatlichen Rechts gerade im Lichte des sanktionenrechtlichen Effektivitätsgrundsatzes die aus der Pflichtverletzung resultierende Beeinträchtigung der Willensbildung ex post revidieren können.154 Dies vermögen weder aufsichts- noch Siehe zum Ganzen erneut oben A III 2. Siehe ferner nur Palandt / Grüneberg (2017), Einf. v. Art. 238 EGBGB Rn. 4. 150 EuGH Urt. v. 16.10.2008 – Rs. C-298/07 (DIV), Slg. 2008, I-7841 Rn. 23. 151 Ebenso Grigoleit NJW 2002, 1151, 1157. 152 Vgl. zur Rolle von Informationspflichten im Rahmen des Informationsmodells erneut oben Kapitel 4 § 3 A. 153 Art. 24 Abs. 1 Verbraucherrechterichtline verdeutlicht, dass es aus Sicht des Unionsgesetzgebers nicht immer bei dem unionsrechtlich vorgesehen Widerrufsrecht nach Art. 9 ff. Verbraucherrechterichtlinie sein Bewenden haben kann, sondern auch weitere Ansprüche des mitgliedstaatlichen Privatrechts – wie etwa solche aus culpa in contrahendo – in Betracht zu ziehen sind, ebenso bereits Heinze, Schadensersatz im Unionsprivatrecht (2017), S. 259 ff. Hierfür streitet auch Erwägungsgrund Nr. 14 S. 3 Verbraucherrechterichtlinie, der gerade auf die – weitergehenden – „allgemeinen vertraglichen Rechtsbehelfe“ des mitgliedstaatlichen Privatrechts verweist. 149

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lauterkeitsrechtliche Sanktionen zu leisten. Vor diesem Hintergrund gebieten sowohl der Effektivitätsgrundsatz als auch die Schutzpflichtendimension der unionalen Vertragsfreiheit, dass dem individuell betroffenen Konsumenten ein privatrechtlicher Anspruch auf Vertragsbeseitigung gewährt wird.155 Dies gilt aber freilich nur, soweit zugunsten des Verbrauchers nicht bereits andere Instrumente eingreifen. 3. Keine Kompensation durch andere privatrechtliche Instrumente Mit der Missachtung vertragsentschlussbezogener Informationspflichten ist aus Sicht des Unionsrechts typischerweise eine Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers verbunden. Der sodann geschlossene Vertrag ist ausweislich der EuGH-Judikatur dem Verbraucher potenziell „nachteilig“156 und bei einer relevanten Verletzung der Willensbildungsfreiheit kann überdies ein Schaden im Sinne des § 249 BGB vorliegen.157 Allerdings kann der Nachteil und damit auch der Anspruch aus § 311 Abs. 2 i.V.m. § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2, § 249 BGB entfallen, wenn das Instrumentarium des Unionsprivatrechts oder des deutschen Bürgerlichen Rechts die Beeinträchtigung der Willensbildung durch die Informationspflichtverletzung auf anderem Wege kompensiert. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn die – dem Verbraucher günstigeren – vorvertraglichen Informationen über die essentialia negotii ohnehin Vertragsinhalt werden, obwohl der Vertrag unter Verwendung von abweichenden AGB zustande gekommen ist: So werden gemäß Art. 6 Abs. 5 Verbraucherrechterichtlinie die Informationen über „die wesentlichen Eigenschaften der Waren oder Dienstleistungen“ vorbehaltlich einer gegenteiligen Individualvereinbarung „fester Bestandteil des Fernabsatzvertrags oder des außerhalb von Geschäftsräumen abgeschlossenen Vertrags“.158 Maßstab des Erfüllungs- bzw. Gewährleistungsanspruchs159 sind hier also ohnehin die vorvertraglichen Informationen.160 Wo 154 Vgl. EuGH Urt. v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 (Schulte), Slg. 2005, I-9215 Rn. 101. So zu Recht auch Heinze, Schadensersatz im Unionsprivatrecht (2017), S. 272 ff. 155 Im Ergebnis ebenso z. B. Hoffmann, ZIP 2005, 829, 835; Heinze, Schadensersatz im Unionsprivatrecht (2017), S. 258 ff. und 272 ff. 156 Vgl. EuGH Urt. v. 16.10.2008 – Rs. C-298/07 (DIV), Slg. 2008, I-7841 Rn. 23. 157 Vgl. erneut nur BGH Urt. v. 8.3.2005 – Az. XI ZR 170/04, NJW 2005, 1579, 1580; Palandt / Grüneberg (2017) § 311 BGB Rn. 13; Heinze, Schadensersatz im Unionsprivatrecht (2017), S. 289 (dort auch in Fn. 541). 158 Eine entsprechende Regelung fehlt indes für die allgemeinen vorvertraglichen Informationspflichten über die essentialia negotii, die Art. 5 Abs. 1 lit. a und lit. c Verbraucherrechterichtlinie nun auch für sämliche innerhalb von Ladengeschäften und im Präsenzhandel geschlossenen Verbraucherverträge vorsieht. 159 Statt vieler MünchKommBGB / Wendehorst (2016), § 312d BGB Rn. 18. 160 Dieser Mechanismus versagt jedoch bei unvollständigen, missverständlichen oder gar perplexen vorvertraglichen Informationen, weil diese den Vertragsinhalt kaum gemäß Art. 6

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Art. 6 Abs. 5 Verbraucherrechterichtlinie nicht eingreift, können in AGB enthaltene Abweichungen von den vorvertraglichen Informationen gegebenenfalls im Wege der Klauselkontrolle kassiert werden.161 Soweit dagegen die durch die Informationspflichtverletzung bedingte Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit nicht auf andere Weise auszugleichen ist, steht dem Verbraucher grundsätzlich ein Anspruch aus culpa in contrahendo zu. Dieser auf Vertragsaufhebung im Wege der Naturalrestitution gerichtete Anspruch tritt dann neben die eventuell ebenfalls bestehende Möglichkeit, die Willenserklärung anzufechten.162 V. Information über Verbraucherwiderrufsrecht als Sonderfall Vertragsbeseitigungsrechte wie das Widerrufsrecht materialisieren die Vertragsfreiheit erst nach Zustandekommen des Vertrags: In bestimmten Abschlusssituationen sowie bei finanziell besonders relevanten und zugleich komplexen Geschäften sollen Verbraucher ihre Vertragsentscheidung binnen einer bestimmten Frist erneut überdenken können.163 Ihrer Funktion nach ist die Pflicht zur Information über das Bestehen und die Modalitäten des Widerrufsrechts daher gerade nicht auf die vorvertragliche Willensbildung des Verbrauchers gemünzt. Ebenso wie die unmittelbar vertragsentschlussbezogenen Informationspflichten164 soll die Information über das Widerrufsrecht den Verbraucher indes in den Stand setzen, eine im anspruchsvollen Sinne freie Entscheidung für oder wider den Vertragsschluss zu treffen. Angesichts dieser Zielsetzung mag der Effektivitätsgrundsatz bei einer Verletzung dieser Informationspflichten durchaus privatrechtliche Sanktionen, einschließlich einer Haftung nach § 311 Abs. 2 i.V.m. § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2, § 249 BGB, gebieten.165 Dies gilt allerdings nur, soweit das Unionsprivatrecht nicht bereits eine vorrangige Regelung trifft. Für die hier allein interessierende Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit durch VerAbs. 5 Verbraucherrechterichtlinie ausgestalten können, siehe erneut oben A III 3. Hier verbleibt also durchaus Raum für die vorvertragliche Informationshaftung. 161 Siehe zum Rückgriff auf § 305c Abs. 1 BGB in dieser Fallgestaltung nur Kramme, NJW 2015, 279, 281; MünchKommBGB / Wendehorst (2016) § 312d BGB Rn. 13. Darüber hinaus will MünchKommBGB / Wendehorst (2016) § 312d BGB Rn. 13 die Informationspflichten allgemein als Maßstab bei der Einbeziehung von AGB berücksichtigen. Zu Recht skeptisch MünchKommBGB / Basedow (2016) § 305 BGB Rn. 56. 162 Siehe zu den §§ 119 ff. BGB erneut oben A III. Vgl. zudem nur Grigoleit NJW 2002, 1151, 1157; Palandt / Grüneberg (2017), Einf. v. Art. 238 EGBGB Rn. 4. 163 Siehe erneut oben Kapitel 4 § 3 F I. 164 Vgl. dazu erneut oben 1. 165 Vgl. im Anschluss an EuGH Urt. v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 (Schulte), Slg. 2005, I-9215 Rn. 100 f. auch BGH Urt. v. 19.9.2006 – Az. XI ZR 204/04, BGHZ 169, 109, 120 ff. Siehe zu den Einzelheiten nur Heinze, Schadensersatz im Unionsprivatrecht (2017), S. 258 ff. und 272 ff.

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tragsaufhebung bedeutet dies, dass die Widerrufsregelungen Sperrwirkung entfalten.166 Denn das EU-Privatrecht bestimmt nicht nur abschließend, unter welchen Voraussetzungen der vom Verbraucher geschlossene Vertrag beseitigt werden kann, sondern auch, wie sich eine Verletzung der Informationspflichten auf dieses Vertragsaufhebungsrecht auswirkt: Entweder beginnt die Widerrufsfrist bereits gar nicht zu laufen,167 oder das Unionsrecht schreibt zumindest eine zeitlich begrenzte Verlängerung der Widerrufsfrist vor.168 Besonders offenkundig ist diese Sperrwirkung im Rahmen der Verbraucherrechterichtlinie, die als neues Kernstück des allgemeinen Konsumentenvertragsrechts ausweislich ihres Art. 4 eine weitgehende Vollharmonisierung bezweckt. Verstöße gegen die Pflicht zur Belehrung über das Widerrufsrecht sanktioniert Art. 10 Abs. 1 Verbraucherrechterichtlinie mit einer Verlängerung der Widerrufsfrist um bis zu zwölf Monate. Ansprüche aus culpa in contrahendo sind daher jedenfalls insoweit gesperrt, als sie auch über diese Zeitspanne hinaus die Vertragsaufhebung im Wege der Naturalrestitution ermöglichen würden.169 Dagegen fehlt es während der Widerrufsfrist an einem im Rahmen des § 311 Abs. 2 i.V.m. § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2, § 249 BGB relevanten Schaden, weil sich der Verbraucher mithilfe seines Widerrufsrechts vom Vertrag lösen kann.170 Die Verletzung der Pflicht zur Information über das Widerrufsrecht zieht daher keinen auf Vertragsbeseitigung gerichteten Anspruch aus culpa in contrahendo nach sich.171 Insoweit fällt hier 166 So bereits Hoffmann, ZIP 2005, 829, 834. Siehe umfassend Heinze, Schadensersatz im Unionsprivatrecht (2017), S. 260 m. w. N. auch zur Gegenauffassung. 167 Vgl. zum Verbrauchervertragsrecht nur EuGH Urt. v. 13.12.2001 – Rs. C-481/99 (Heininger), Slg. 2001, I-9945 Rn. 41 ff. Vgl. auch EuGH Urt. v. 25.10.2005 – Rs. C350/03 (Schulte), Slg. 2005, I-9215 Rn. 97 ff.; EuGH Urt. v. 25.10.2005 – Rs. C-229/04 (Crailsheimer Volksbank), Slg. 2005, I-9293 Rn. 48 f. Vgl. zum Versicherungsvertragsrecht EuGH Urt. v. 19.12.2013 – Rs. C-209/12 (Endress), EU:C:2013:864 Rn. 20 ff. 168 Diese Lösung wählt etwa Art. 10 Abs. 1 Verbraucherrechterichtlinie. 169 Heinze, Schadensersatz im Unionsprivatrecht (2017), S. 260. 170 Statt aller Staudinger / Thüsing (2012), § 312c BGB Rn. 105. 171 Ein – schmales – Anwendungsfeld für die Haftung aus culpa in contrahendo für Belehrungsmängel verbleibt in Konstellationen, in denen den Interessen des Verbrauchers nicht mit der Beseitigung des Außergeschäftsraum- oder Fernabsatzvertrages allein gedient ist. Zu denken ist etwa an die Konstellation in der Rechtssache (Schulte), wo der Verbraucher bei einem in einer Haustürsituation geschlossenen Darlehensvertrag nicht ordnungsgemäß über sein Widerrufsrecht belehrt wird und sodann nur dank der Darlehensvaluta einen anderen Vertrag schließen kann: Zumindest bei Erwerb sogenannter „Schrottimmobilien“ weit über deren Verkehrswert hat der EuGH Urt. v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 (Schulte), Slg. 2005, I-9215 Rn. 101 betont, dass sich der Verbraucher bei ordnungsgemäßer Belehrung auch der aus diesem Folgevertrag erwachsenden Risiken hätte entziehen können: „In einem Fall, in dem der Verbraucher, wenn das Kreditinstitut ihn über sein Widerrufsrecht belehrt hätte, es hätte vermeiden können, sich den Risiken auszusetzen, die mit Kapitalanlagen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Art verbunden sind, verpflichtet Artikel 4 der Richtlinie daher die Mitgliedstaaten, dafür zu sorgen, dass ihre

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im Ergebnis allein dem Widerrufsrecht die Aufgabe der Materialisierung der unionalen Vertragsfreiheit zu. C. §§ 138, 242 BGB als Generalklauseln des Bürgerlichen Rechts Je nachdem, welchen Einfluss das Unionsrecht auf die Generalklauseln des deutschen Bürgerlichen Rechts zu nehmen vermag (I), kann die unionale Vertragsfreiheit auch über § 138 und § 242 BGB auf schuldvertragliche Rechtsverhältnisse einwirken. Im Folgenden zeigt sich, dass § 138 BGB erforderlichenfalls zur Erfüllung der aus der Vertragsfreiheit folgenden unionsgrundrechtlichen Schutzpflichten heranzuziehen ist (II). Demgegenüber dient § 242 BGB vor allem der Flankierung der Materialisierungsinstrumente des EU-Privatrechts (III). I.

Unionsrechtsoffenheit der Generalklauseln des BGB

Als Generalklauseln erlauben § 138 und § 242 BGB die Berücksichtigung fundamentaler Wertentscheidungen der Rechtsordnung: Mit Blick auf die Grundrechte des deutschen Grundgesetzes, einschließlich der darin verbürgten Vertragsfreiheit, ist dies seit Langem anerkannt. 172 Das BVerfG sah z. B. in seiner Grundsatzentscheidung zu Bürgschaften einkommensschwacher Angehöriger rechtsgeschäftliche Selbstbestimmung nicht mehr in dem verfassungsrechtlich gebotenen Maße gewährleistet und verlangte eine Korrektur mithilfe des § 138 BGB.173 Insofern dienen §§ 138, 242 BGB nicht nur als „Scharniere“ zwischen Rechtsvorschriften die Verbraucher schützen, die es nicht vermeiden konnten, sich solchen Risiken auszusetzen, indem sie Maßnahmen treffen, die verhindern, dass die Verbraucher die Folgen der Verwirklichung dieser Risiken tragen“ (Herv. d. Verf.). Allerdings fordert BGH Urt. v. 19.9.2006 – Az. XI ZR 204/04, BGHZ 169, 109, 120 ff. vom Verbraucher in dieser Situation gerade den Beweis, dass er „den Darlehensvertrag bei ordnungsgemäßer Belehrung tatsächlich widerrufen und die Anlage nicht getätigt hätt[e]“. Dies dürfte dem Verbraucher in der Praxis kaum gelingen, so dass die Haftung aus culpa in contrahendo hier eher theoretischer Natur bleibt, ebenso auch Heiderhoff, Europäisches Privatrecht (2016), S. 185 f. Hinzu kommt, dass der deutsche Gesetzgeber dem aufgrund von Belehrungsmängeln vormals zeitlich unbefristeten Widerrufsrecht nun durch Art. 229 § 38 Abs. 3 EGBGB mit Wirkung zum 21.6.2016 weitgehend ein Ende gesetzt hat. 172 Grundlegend BVerfG Urt. v. 15.1.1958 – Az. 1 BvR 400/57, BVerfGE 7, 198, 206. Siehe zur grundrechtlichen Gewährleistung der Vertragsfreiheit im Rahmen der vor allem die §§ 138, 242 BGB nur BVerfG Beschl. v. 7.2.1990 – Az. 1 BvR 26/84, BVerfGE 81, 242, 256: „Gerade bei der Konkretisierung und Anwendung dieser Generalklauseln sind die Grundrechte zu beachten […]. Der entsprechende Schutzauftrag der Verfassung richtet sich hier an den Richter, der den objektiven Grundentscheidungen der Grundrechte in Fällen gestörter Vertragsparität mit den Mitteln des Zivilrechts Geltung zu verschaffen hat“. Dazu statt aller Jauernig / Mansel (2015), § 138 BGB Rn. 6 und § 242 BGB Rn. 3. 173 BVerfG Beschl. v. 19.10.1993 – Az. 1 BvR 567/89 u. a., BVerfGE 89, 214, 229. Zum Ganzen statt aller MünchKommBGB / Armbrüster (2015), § 138 BGB Rn. 20 ff.

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Grundrechten und Privatrecht,174 sondern gerade als Instrumente zur Materialisierung der Vertragsfreiheit des deutschen Grundgesetzes.175 Vor diesem Hintergrund nimmt es kaum Wunder, dass wiederholt erwogen wird, auch die Grundrechte der Europäischen Union und insbesondere „die Chartagrundrechte […] über die Generalklauseln des deutschen Rechts fruchtbar zu machen, verkörpern sie doch die gemeineuropäische Werteordnung“.176 Dem will jedoch insbesondere das deutsche Bundesarbeitsgericht eine Absage erteilen: Ohne eine Vorlage an den zur Auslegung der GRCh allein berufenen EuGH zu erwägen, spricht das BAG den EU-Grundrechten nicht nur den Charakter einer „objektiven Werteordnung“, sondern auch jedweden Einfluss im Rahmen der bürgerlich-rechtlichen Generalklauseln pauschal ab.177 Diese Lesart bedarf im Folgenden einer kritischen Überprüfung. 1. Berücksichtigung im Geltungsbereich des Unionsrechts Die ungeschriebenen Unionsgrundrechte und die GRCh binden die Mitgliedstaaten nur im Anwendungsbereich des Unionsrechts und erweitern weder die bestehenden Zuständigkeiten der EU noch schaffen sie neue Zuständigkeit.178 Wo indes der Geltungsbereich des Unionsrechts für einen Schuldvertrag eröffnet ist, können die Unionsgrundrechte ohne Weiteres als Wertmaßstab im Rahmen der Generalklauseln herangezogen werden.179 Der Anwendungsbe174 Siehe auch BVerfG Urt. v. 15.1.1958 – Az. 1 BvR 400/57, BVerfGE 7, 198, 206 („Generalklauseln als die ‚Einbruchstellen‘ der Grundrechte in das bürgerliche Recht“). 175 Canaris, AcP 200 (2000), 273, 280 f. und 295 f. 176 Meyer / Borowsky (2014), Vor Art. 51 GRCh Rn. 30 und Art. 51 GRCh Rn. 30b (dort in Fn. 74) hält es beim derzeitigen Stand allerdings noch für „offen, ob sich die Generalklauseln des deutschen Rechts wie §§ 138, 242 BGB als Eingangstor für die Chartarechte eignen“. Eine umfassende Unionsrechtsoffenheit der §§ 138, 242 BGB befürworten dagegen z. B. Ritter, NJW 2010, 1110 ff.; ders., NJW 2012, 1549 ff.; Herresthal, ZEuP 2014, 238, 257. 177 So führt BAG Beschl. v. 8.12.2011 – Az. 6 AZN 1371/11, NZA 2012, 286, 287 mit Blick auf § 242 BGB explizit aus: „Die Grundrechte des Grundgesetzes bilden eine objektive Werteordnung, aus der sich Schutz- und Handlungsaufträge des Staates ergeben können, deren Erfüllung eine inhaltliche Anreicherung unbestimmter Begriffe des einfachen Rechts durch die Rechtsprechung erfordern kann, wie etwa bei der Gewinnung von Kündigungsschutz aus § 242 BGB für nicht vom Kündigungsschutzgesetz erfasste Arbeitnehmer […]. Im Vergleich zu den Grundrechten des Grundgesetzes fehlt der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 12.12.2007 (GRCh) ein solcher umfassender […] Charakter“ (Herv. d. Verf.). 178 Vgl. Art. 51 Abs. 1 sowie Abs. 2 GRCh, Art. 6 Abs. 1 EUV. 179 Siehe zum Anwendungsbereich oben Kapitel 2 § 3 B II und siehe zur objektivrechtlichen Dimension oben Kapitel 3 § 1 A II 3. Für eine objektiv-rechtliche Dimension der Unionsgrundrechte im Rahmen der EU-Kompetenzordnung plädiert z. B. auch Herresthal, ZEuP 2014, 238, 257. Siehe ferner MünchKommBGB / Armbrüster (2015), § 138 BGB Rn. 16; NomosKommBGB / Looschelders (2016), § 138 BGB Rn. 68. Vgl. zur Konkretisie-

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reich des Unionsrechts ist dabei gerade im Vertragsrecht weit gesteckt: Nach der hier vertretenen Ansicht ist ein Schuldvertrag zumindest für die Zwecke der unionalen Vertragsfreiheit grundsätzlich als einheitlicher und untrennbarer Schutzgegenstand zu behandeln.180 Entsprechend kann der Vertrag bereits dann in den Geltungsbereich des Unionsrechts fallen, wenn nur ein Teilaspekt des Schuldvertrages Gegenstand unionsrechtlicher Regelung ist.181 Vor allem wirken die Unionsgrundrechte – einschließlich der unionalen Vertragsfreiheit – insbesondere mithilfe der Ausprägungen des Effektivitätsgrundsatzes auch in die unharmonisierten Bereiche des deutschen Privatrechts hinein.182 Denn wie alle Vorschriften des Bürgerlichen Rechts müssen auch §§ 138, 242 erforderlichenfalls im Lichte des effet utile ausgelegt sowie unter Beachtung des Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatzes angewendet werden.183 Wann immer § 138 und § 242 BGB auf diese Weise in den Anwendungsbereich des Unionsrechts geraten, sind diese Vorschriften unionsgrundrechtskonform im Einklang mit der Vertragsfreiheit zu handhaben.184 Dies bedeutet zugleich, dass die Generalklauseln auf diesem Wege in den Dienst der Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit gestellt werden können. Hinzu kommt, dass aus der unionalen Vertragsfreiheit – ebenso wie aus Art. 2 Abs. 1 GG – Schutzpflichten folgen, welche die Mitgliedstaaten im Rahmen ihres nationalen Rechts und damit gegebenfalls auch mithilfe der Generalklauseln erfüllen müssen.185 Für eine Berücksichtigung der unionalen Vertragsfreiheit im Rahmen der Generalklauseln des Bürgerlichen Rechts streitet insbesondere, dass dieses Unionsgrundrecht prinzipiell in gleicher Weise zu praktischer Wirksamkeit gelangen muss wie korrespondierende nationale Grundrechte.186 In der ständigen Rechtsprechung des BVerfG ist gerade anerkannt, dass die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte rechtsgeschäftliche Selbstbestimmung im Rahmen des rung des § 138 BGB mithilfe der „Grundsätze des Europarechts“ auch Palandt / Ellenberger (2017), § 138 BGB Rn. 5. 180 Siehe oben Kapitel 2 § 3 B II 2 c aa. 181 Siehe erneut oben Kapitel 2 § 3 B II 2 c aa. 182 Siehe oben § 1 A. 183 Siehe erneut oben § 1 A I und II. Vgl. zur Beachtung des Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatzes bei der Anwendung des in § 242 BGB wurzelnden Instituts der Verwirkung nur EuGH Urt. v. 13.2.2014 – Rs. C-479/12 (H. Gautzsch Großhandel), EU:C:2014:75 Rn. 50. Vgl. zur Bedeutung des Effektivitätsgrundsatzes im Kontext des § 242 BGB auch BGH Urt. v. 10.2.2011 – Az. I ZR 136/09, EuZW 2011, 440, 444. 184 Siehe erneut oben § 1 A II. In diese Richtung deutet mit Blick auf § 138 BGB und die Unionsgrundrechte etwa NomosKommBGB / Looschelders (2016), § 138 BGB Rn. 69 f. und mit Blick auf § 242 BGB z. B. MünchKommBGB / Schubert (2016), § 242 BGB Rn. 74 f.; BeckOGK / Kähler (2016) § 242 BGB Rn. 292 ff. 185 Siehe oben § 1 B II sowie oben Kapitel 3 § 1 A II 2. 186 Siehe zum Gebot der äquivalenten und effektiven Entfaltung des Unionsgrundrechts der Vertragsfreiheit wiederum oben § 1 B I.

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§ 138 BGB zu berücksichtigen ist.187 Daher kann mit Blick auf den Effektivitäts- und Äquivalenzgrundsatz für die unionale Vertragsfreiheit kaum etwas anderes gelten. 2. Heranziehung als Werteordnung jenseits des Anwendungsbereichs des EU-Rechts Schließlich wird man auch jenseits des Anwendungsbereichs des EU-Rechts die Zugehörigkeit der Unionsgrundrechte zur deutschen Werteordnung kaum dauerhaft negieren können. Das BVerfG hat wiederholt betont, dass selbst in Bezug auf das – in seiner Gesamtheit unzweifelhaft nicht unionsrechtlich determinierte – deutsche Grundgesetz stets der „Grundsatz der Europafreundlichkeit […] als Korrelat des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) zu beachten und fruchtbar zu machen“ ist.188

Wenn sich das Grundgesetz als Richtschnur allen einfachen Rechts den Wertungen des Unionsrechts öffnet, liegt es nahe, dass sich auch das dem einfachen Recht zugehörige deutsche Privatrecht der EU-Werteordnung nicht verschließen kann. Ein umfassender „Grundsatz der Europafreundlichkeit“ fördert schließlich die Einheit und Widerspruchsfreiheit der einzelnen Normebenen der deutschen Rechtsordnung. Vor allem müssen deutsche Hoheitsträger und insbesondere die Gerichte aufgrund des allgemeinen Loyalitätsgebots in Art. 4 Abs. 3 EUV die Existenz der EU-Werteordnung beachten.189 Hierbei geht es wohlgemerkt nicht um die Heranziehung der Unionsgrundrechte als verbindliche Rechtsnormen, sondern um ihre Berücksichtigung als Ausdruck einer Werteordnung. Soweit deutsche Gerichte den Wertekanon der EU als argumentative Stütze im Rahmen der Generalklauseln heranziehen, begegnet dies daher auch keinerlei Bedenken mit Blick auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung oder den Subsidiaritätsgrundsatz.190 Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Generalklauseln des BGB und insbesondere die §§ 138, 242 BGB in keiner Weise „unionsrechtsneut187 Vgl. erneut nur BVerfG Beschl. v. 7.2.1990 – Az. 1 BvR 26/84, BVerfGE 81, 242, 256; BVerfG Beschl. v. 19.10.1993 – Az. 1 BvR 567/89 u. a., BVerfGE 89, 214, 229. 188 So die prägnante Zusammenfassung im Sondervotum des Richters Landau in BVerfG Beschl. v. 6.7.2010 – Az. 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286, 321. Siehe zuvor nur BVerfG Urt. v. 30.6.2009 – Az. 2 BvE 2/08 u. a., BVerfGE 123, 267, 354. 189 Vgl. BVerfG Urt. v. 30.6.2009 – Az. 2 BvE 2/08 u. a., BVerfGE 123, 267, 346 f.: „Der aus Art. 23 Abs. 1 GG und der Präambel folgende Verfassungsauftrag zur Verwirklichung eines vereinten Europas […] bedeutet insbesondere für die deutschen Verfassungsorgane, dass es nicht in ihrem politischen Belieben steht, sich an der europäischen Integration zu beteiligen oder nicht. Das Grundgesetz will eine europäische Integration und eine internationale Friedensordnung: Es gilt deshalb […] der Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit“. 190 Im Ergebnis ebenso Ritter, NJW 2012, 1549, 1551.

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ral“, sondern – ganz im Gegenteil – offen für die nicht zuletzt in den Unionsgrundrechten verkörperte EU-Werteordnung sind.191 Dies entspricht auch der Lesart des Generalanwalts Cruz Villalón: Seiner Auffassung nach sind „die Grundrechte [der Europäischen Union] als in der Rechtsordnung insgesamt ‚präsent‘ anzusehen“.192 Die Unionsgrundrechte begreift er dabei als Ausdruck der „in der europäischen Gesellschaft […] am tiefsten verwurzelten Überzeugungen“.193 Jedes dieser Grundrechte sei daher ein „aus der Charta zu entnehmende[r] Wert“.194 Und ebenso wenig wie außerhalb des Anwendungsbereichs des Uniosrechts eine rechtliche Bindung an diese Werte besteht, ebenso wenig darf nach Meinung Cruz Villalóns ein mitgliedstaatliches „Zivilgericht bei seiner Rechtsfindung […] ignorieren […], dass die Charta existiert“.195 Dies lässt sich dahingehend verstehen, dass diese Grundrechte zumindest als Wertekanon und Leitfaden auch jenseits des unmittelbaren Geltungsbereichs des EU-Rechts „in einem zivilrechtlichen Verfahren Wirkungen entfalte[n]“ können.196 Diese Form der Berücksichtigung der Unionsgrundrechte findet nicht zuletzt auch eine Stütze in der EuGH-Judikatur197 und in der Rechtsprechungspraxis des BGH.198 Ritter, NJW 2012, 1549; Meyer / Borowsky (2014), Vor Art. 51 GRCh Rn. 30; Herresthal, ZEuP 2014, 238, 257. Vgl. auch M. Stürner, in: Collins, Hugh (ed.), European contract law and the Charter of Fundamental Rights (2017), S. 33, 36 ff. 192 GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 22.5.2014 – Rs. C-201/13 (Deckmyn), EU:C: 2014:458 Rn. 85. 193 So mit Blick auf Art. 1, Art. 11 und Art. 21 GRCh GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 22.5.2014 – Rs. C-201/13 (Deckmyn), EU:C:2014:458 Rn. 84. 194 So mit Blick auf Art. 1, Art. 11 und Art. 21 GRCh GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 22.5.2014 – Rs. C-201/13 (Deckmyn), EU:C:2014:458 Rn. 80. 195 GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 22.5.2014 – Rs. C-201/13 (Deckmyn), EU:C: 2014:458 Rn. 84. 196 GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 22.5.2014 – Rs. C-201/13 (Deckmyn), EU:C: 2014:458 Rn. 84. 197 Z. B. stellt EuGH Urt. v. 22.12.2010 – Rs. C-279/09 (DEB), Slg. 2010, I-13849 Rn. 30 mit Blick auf die – ihrerseits nicht harmonisierte – Prozesskostenhilfe nach § 122 ZPO ausdrücklich heraus: „Hinsichtlich der Grundrechte ist die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) zu berücksichtigen“ (Herv. d. Verf.). Im Kontext des Art. 5 Abs. 3 lit. k Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft, ABl. 2001 L 167/10 verweist EuGH Urt. v. 3.9.2014 – Rs. C-201/13 (Deckmyn), EU:C:2014:2132 Rn. 30 mitgliedstaatliche Zivilgerichte bei der Beurteilung der Frage, ob eine „Parodie“ vorliegt, ganz allgemein „auf die Bedeutung des Verbots der Diskriminierung aufgrund der Rasse, der Hautfarbe oder der ethnischen Herkunft […], wie es […] insbesondere in Art. 21 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union bestätigt worden ist“. 198 Z. B. orientiert sich BGH Urt. v. 5.2.1998 – Az. I ZR 211/95, BGHZ 138, 55 im Rahmen der Generalklausel des § 1 UWG an unionsrechtlichen Wertungen. Auch im Übrigen bezieht der BGH gerade die Unionsgrundrechte in seine Argumentation mit ein, 191

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Weil im deutschen Privatrechtsystem vor allem die Generalklauseln des Bürgerlichen Rechts hinreichend wertungsoffen sind, kann die unionale Vertragsfreiheit insbesondere über §§ 138, 242 BGB als eines der „Elemente einer werteorientierten Gesamtrechtsordnung“199 der EU zu berücksichtigen sein. II. Sittenwidriges Rechtsgeschäft und Wucher i.S.d. § 138 BGB Als weitere Generalklausel des Bürgerlichen Rechts kann § 138 BGB zur Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit fruchtbar gemacht werden. Umgekehrt mag § 138 BGB aber auch in Konflikt mit unionsprivatrechtlichen Materialisierungsinstrumenten stehen: Hier ist dann im Einzelfall zu prüfen, ob die praktische Wirksamkeit dieser Instrumente in unzulässiger Weise beeinträchtigt wird. 1. Unionale Vertragsfreiheit und „Bürgschaftsfälle“ Bekanntlich hat das deutsche BVerfG insbesondere bei einer Bürgschaft vermögensschwacher Angehöriger § 138 Abs. 1 BGB als Korrektiv genutzt, um einer Vertragsschlusssituation abzuhelfen, in welcher der Bürge seine rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit nicht in dem durch Art. 2 Abs. 1 GG gebotenen Maße entfalten konnte.200 Vor diesem Hintergrund ist zu erwägen, ob § 138 Abs. 1 BGB in vergleichbaren Konstellationen auch zur Materialisierung der unionalen Vertragsfreiheit herangezogen werden muss. a) Bürgschaftsverträge im Anwendungsbereich des Unionsrechts Unter welchen Voraussetzungen unterfallen Bürgschaftsverträge dem Geltungsbereich des Unionsrechts und damit dem Schutzbereich des Unionsgrundrechts der Vertragsfreiheit? Die Verbraucherkreditrichtlinie scheidet jedenfalls als „Türöffner“ aus, da sie ausschließlich für Kreditverträge gilt und Bürgschaften selbst dann nicht erfasst, wenn letztere der Besicherung von Verbraucherkreditverträgen dienen.201 siehe zur Anwendung und Auslegung deutschen Rechts im Lichte der Wertungen des Art. 11 Abs. 1 S. 1 GRCh etwa BGH Urt. v. 1.2.2011 – Az. VI ZR 345/09, WRP 2011, 582, 586; BGH Urt. v. 22.2.2011 – Az. VI ZR 114/09, WRP 2011, 586, 590; BGH, Urt. v. 22.2.2011 – Az. VI ZR 346/09, WRP 2011, 591, 595; BGH Urt. v. 22.2.2011 – Az. VI ZR 115/09, BeckRS 2011, 07516. Siehe zur Berücksichtigung der unionsgrundrechtlich in Art. 12 Abs. 1 und Art. 28 GRCh geschützten Koalitionsfreiheit als zentrale Wertungen bei der Auslegung privatrechtlicher Normen auch BGH Urt. v. 21.8.2012 – Az. X ZR 138/11, BGHZ 194, 258, 266 f.; BGH Urt. v. 21.8.2012 – Az. X ZR 146/11, BeckRS 2012, 19694. 199 Herresthal, ZEuP 2014, 238, 257. 200 BVerfG Beschl. v. 19.10.1993 – Az. 1 BvR 567/89 u. a., BVerfGE 89, 214. Siehe zur zivilprozessualen Dimension BVerfG Beschl. v. 6.12.2005 – Az. 1 BvR 1905/02, BVerfGE 115, 51, 66 ff. sowie M. Vollkommer / G. Vollkommer, FS Canaris I (2007), S. 1243 ff.

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Hingegen kann die Bürgschaft eines Verbrauchers aber z. B. dann in den Anwendungsbereich des Unionsrechts geraten, wenn die Bürgschaft eines Verbrauchers den außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen im Sinne des Art. 2 Nr. 8 Verbraucherrechterichtlinie zuzurechnen ist. Zwar ist die Abgabe einer Bürgschaftserklärung durch ein Finanzdienstleistungsunternehmen als „Dienstleistung im Zusammenhang mit einer Kreditgewährung“ und damit als eine von der Verbraucherrechterichtlinie ausweislich ihres Art. 3 Abs. 2 ausgenommene „Finanzdienstleistung“ zu qualifizieren.202 Jedoch greift dieser Ausschlusstatbestand gerade nicht in Konstellationen, in denen die Bürgschaft durch einen Verbraucher gestellt wird.203 Sodann erfasst die Verbraucherrechterichtlinie gemäß Art. 3 Abs. 1 explizit „jegliche Verträge, die zwischen einem Unternehmer und einem Verbraucher geschlossen werden“.204 Vor diesem Hintergrund hat der EuGH bereits mit Blick auf die Haustürgeschäfterichtlinie herausgestellt, dass „die Bürgschaft grundsätzlich unter die Richtlinie fallen“ kann.205 Allerdings fordert der Gerichtshof für 201 Deutlich bereits zum Vorgängerrechtsakt EuGH Urt. v. 23.3.2000 – Rs. C-208/98 (Berliner Kindl), Slg. 2000, I-1741 Rn. 18 ff.: „Der Bürgschaftsvertrag ist kein Kreditvertrag im Sinne dieser Bestimmung“. Zudem kann eine Verbraucherbürgschaft weder nach der Finanzdienstleistungsfernabsatzrichtlinie noch gemäß der Verbraucherrechterichtlinie Gegenstand eines Fernabsatzvertrages sein. Auch können Bürgschaften von Verbrauchern aus dem Anwendungsbereich der E-Commerce-Richtlinie herausgenommen werden, da deren Art. 9 Abs. 2 lit. c den EU-Mitgliedstaaten gestattet, Vertragsschlüsse auf elektronischem Wege für „Bürgschaftsverträge und Verträge über Sicherheiten, die von Personen außerhalb ihrer gewerblichen, geschäftlichen oder beruflichen Tätigkeit eingegangen werden“, zu verhindern. Insoweit ist § 766 S. 2 BGB mit der Richtlinie vereinbar, wohingegen im Übrigen Zweifel an der Unionsrechtskonformität bestehen, siehe nur MünchKommBGB / Habersack (2013), § 766 BGB Rn. 16. 202 Vgl. Art. 2 Nr. 12 Verbraucherrechterichtlinie. 203 Vgl. bereits EuGH Urt. v. 17.3.1998 – Rs. C-45/96 (Dietzinger), Slg. 1998, I-1199 Rn. 19 ff.; EuGH Urt. v. 23.3.2000 – Rs. C-208/98 (Berliner Kindl), Slg. 2000, I-1741 Rn. 24. Siehe mit Blick auf die Verbraucherrechterichtlinie statt vieler Schürnbrand, WM 2014, 1157, 1159 f.; Hoffmann, ZIP 2015, 1365, 1366; BeckOGK / Madaus (2016), § 765 BGB Rn. 63.4. A. A. aber v. Loewenich, NJW 2014, 1409, 1411. 204 Insbesondere rechnet auch Art. 2 Nr. 8 Verbraucherrechterichtlinie zu den außerhalb von Geschäftsräumen abgeschlossenen Verträgen „jeden Vertrag zwischen dem Unternehmer und dem Verbraucher“. Daher ist die nunmehr in § 312 Abs. 1 BGB vorgesehene Beschränkung auf „Verbraucherverträge im Sinne des § 310 Abs. 3 […], die eine entgeltliche Leistung des Unternehmers zum Gegenstand haben“, im Interesse der praktischen Wirksamkeit der sekundärrechtlichen Vorgaben außer Acht zu lassen. Dies gilt umso mehr, als Art. 4 Verbraucherrechterichtlinie gerade eine Vollharmonisierung anstrebt und derartige Abweichungen zuungunsten des Verbrauchers unzulässig sind. Wie hier auch z. B. Schürnbrand, WM 2014, 1157, 1159; Musielak, JA 2015, 161, 167; BeckOGK / Madaus (2016), § 765 BGB Rn. 63.4. Dies übergeht indes v. Loewenich, NJW 2014, 1409, 1411. 205 EuGH Urt. v. 17.3.1998 – Rs. C-45/96 (Dietzinger), Slg. 1998, I-1199 Rn. 20. Die nunmehr in der Verbraucherrechterichtlinie aufgegangene Haustürgeschäfterichtlinie stellt in ihrem Art. 1 Abs. 2 sowie in ihrem ersten Erwägungsgrund heraus, dass sie auch auf

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die Einbeziehung solcher Verträge, dass sowohl der Bürge als auch der Hauptschulder Verbraucher sind und die jeweiligen Verträge außerhalb eines Geschäftsraums schließen.206 Der Anwendungsbereich des Unionsrechts ist für Bürgschaftsverträge von Verbrauchern aber keineswegs nur in dieser Ausnahmekonstellation eröffnet. Ganz im Gegenteil erfasst das Unionsrecht mittlerweile auch Fallgestaltungen, in denen der Verbraucher – wie in der Bürgschaftsentscheidung des BVerfG – in den Räumlichkeiten des Finanzinstituts ohne vorherige Kontaktaufnahme der Bank im Sinne des Art. 2 Nr. 8 Verbraucherrechterichtlinie Erklärungen abgibt: Gemäß Art. 5 treffen den Unternehmer nämlich auch bei innerhalb von Geschäftsräumen im Präsenzverkehr geschlossenen Verträgen zahlreiche unionsprivatrechtliche Pflichten. Insbesondere können Bürgschaften durch die Mitgliedstaaten auch nicht gemäß Art. 5 Abs. 3 Verbraucherrechterichtlinie aus dem Anwendungsbereich herausgenommen werden, weil es sich hierbei keineswegs um Verträge handelt, „die Geschäfte des täglichen Lebens zum Gegenstand haben und zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses sofort erfüllt werden“. Überdies sieht die Verbraucherrechterichtlinie für die gemäß Art. 5 im Präsenzverkehr in Geschäftsräumen geschlossenen Verträge gerade kein Widerrufsrecht nach Art. 9 ff. Verbraucherrechterichtlinie vor. Bei Bürgschaftsverträgen, die den allgemeinen Regelungen des Art. 5 Verbraucherrechterichtlinie, hingegen – etwa aufgrund der restriktiven Lesart des EuGH – nicht dem speziellen Regime für Außergeschäftsraumverträge unterliegen, ist eine Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit mithilfe anderer Instrumente, wie etwa des § 138 Abs. 1 BGB, deshalb besonders relevant. Schließlich ist darüber hinaus zu beachten, dass Bürgschaftsverträge in aller Regel auf einseitig durch das Kreditinstitut gestellten allgemeinen Geschäftsbedingungen beruhen. In solchen Konstellationen wird der Vertrag daher von der Klauselrichtlinie erfasst. Insgesamt dürfte bei Verbraucher„Verträge und einseitigen Verpflichtungserklärungen“ („engagement unilatéral“; „unilateral engagement“) anzuwenden ist, siehe nur Herresthal, in: Langenbucher (Hrsg.), Europäisches Privat- und Wirtschaftsrecht (2013), § 2 Rn. 139. 206 EuGH Urt. v. 17.3.1998 – Rs. C-45/96 (Dietzinger), Slg. 1998, I-1199 Rn. 22 f. Vgl. auch EuGH Urt. v. 23.3.2000 – Rs. C-208/98 (Berliner Kindl), Slg. 2000, I-1741 Rn. 24. Der BGH hat dieses doppelte Verbrauchererfordernis in der Folgezeit für das deutsche Recht aufgegeben, da es für den mit der Richtlinie intendierten Schutz vor einer „Überrumpelung“ des Bürgen in einer Haustürsituation nicht darauf ankommen kann, ob der Hauptschuldner seinerseits Verbraucher ist, siehe grundlegend BGH Urt. v. 10.1.2006 – Az. XI ZR 169/05, BGHZ 165, 363; BGH Urt. v. 27.2.2007 – Az. XI ZR 195/05, BGHZ 171, 180, wonach es bereits ausreicht, dass die personellen und situativen Voraussetzungen allein in der Person der Bürgen erfüllt sind. Siehe zum Ganzen statt vieler BeckOGK /  Madaus (2016), § 765 BGB Rn. 63.3. Mit Blick auf die Vollharmonisierung nach Art. 4 Verbraucherrechterichtlinie mag dieser Ansatz des BGH nun aber Bedenken begegnen, anders wohl Herresthal, in: Langenbucher (Hrsg.), Europäisches Privat- und Wirtschaftsrecht (2013), § 2 Rn. 140.

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bürgschaften der Anwendungsbereich des Unionsrechts – und damit auch der Geltungsbereich der unionalen Vertragsfreiheit – häufig durch die Verbraucherrechte- oder die Klauselrichtlinie eröffnet sein. b) Unionale Vertragsfreiheit als Maßstab i.R.d. § 138 Abs. 1 BGB Sowohl die Verbraucherrechte- als auch die Klauselrichtlinie lassen freilich die mitgliedstaatlichen „Vorschriften über sittenwidrige Rechtsgeschäfte unberührt“.207 Bleibt es den deutschen Gerichten damit auch bei einer in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallenden (Angehörigen)Bürgschaft eines Verbrauchers vollständig freigestellt, inwieweit sie auf § 138 BGB zurückgreifen? In der Tat mag man argumentieren, dass der Vertrag nicht gänzlich durch Unionsrecht bestimmt wird, sondern gerade bezüglich der Beurteilung der Sittenwidrigkeit und anderer Wirksamkeitserfodernisse auf das jeweilige mitgliedstaatliche Recht zurückzugreifen ist. Wie gezeigt, reicht es aber bereits aus, dass Teilaspekte eines Vertrages in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, damit dieser Vertrag von der unionalen Vertragsfreiheit beherrscht wird.208 Demnach bildet bei einem Bürgschaftsvertrag mit Verbraucherbeteiligung die unionale Vertragsfreiheit – zumindest auch – den Maßstab bei der Prüfung, ob die Entscheidungsfreiheit des Bürgen in einer im Rahmen des § 138 Abs. 1 BGB relevanten Weise beeinträchtigt worden ist.209 Angesichts der Rechtsprechungspraxis des BVerfG zwingt sodann der – in Bezug auf die Vertragsfreiheit als Unionsgrundrecht ebenfalls zu beachtende –210 Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz dazu, dass die unionale rechtsgeschäftliche Privatautonomie des Bürgen im Fall ihrer Beeinträchtigung in gleicher, effektiver Weise über § 138 Abs. 1 BGB materialisiert wird, wie dies für die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Freiheit der Fall ist.211 207 Erwägungsgrund Nr. 14 Verbraucherrechterichtlinie. Vgl. auch Erwägungsgrund Nr. 12 Klauselrichtlinie, wonach die Mitgliedstaaten „einen besseren Schutz durch strengere einzelstaatliche Vorschriften als den in dieser Richtlinie enthaltenen Vorschriften […] gewähren“ können. 208 Siehe erneut oben Kapitel 2 § 3 B II 2 c. Siehe auch allgemein wiederum EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 29, wonach „in einer Situation, in der das Handeln eines Mitgliedstaats nicht vollständig durch das Unionsrecht bestimmt wird, […] es […] den nationalen Behörden und Gerichten weiterhin frei[steht], nationale Schutzstandards für die Grundrechte anzuwenden, sofern durch diese Anwendung weder das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden“ (Herv. d. Verf.). 209 Siehe zu den einzelnen Voraussetzungen, unter denen eine nach § 138 Abs. 1 BGB relevante Überforderung des Bürgen angenommen wird, statt aller Palandt / Ellenberger (2017), § 138 BGB Rn. 37 ff. 210 Siehe dazu erneut oben § 1 B I. 211 Vgl. zur Berücksichtigung der „grundrechtlichen Gewährleistung der Privatautonomie“ im Rahmen des § 138 BGB erneut nur BVerfG Beschl. v. 19.10.1993 – Az. 1 BvR 567/89 u. a., BVerfGE 89, 214, 229 ff.

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Von der Warte des Unionsrechts ist der Weg über § 138 Abs. 1 BGB zweifelsohne nicht der einzig gangbare: Die in anderen Mitgliedstaaten durch die Legislative212 oder die Judikative213 für die Fallgruppe der Angehörigenbürgschaften entwickelten Lösungen werden regelmäßig Resultate liefern können, die mit dem Unionsgrundrecht der Vertragsfreiheit ebenfalls vereinbar sind.214 Im System des deutschen Bürgerlichen Rechts ist der Rekurs auf § 138 Abs. 1 BGB aber zum einen etabliert und zum anderen grundsätzlich anderen Materialisierungsinstrumenten vorzuziehen: So trifft den Kreditgeber beispielsweise keine im Rahmen des § 311 Abs. 2, § 241 Abs. 2 BGB sanktionierbare Pflicht, den Bürgen über dessen „emotionale Zwangslagen“ aufzuklären.215 Ebenso wenig ist ein Kreditinstitut beim derzeitigen Entwicklungsstand des deutschen Bürgerlichen Rechts verpflichtet, einen durch enge Bande mit dem Kreditnehmer beeinflussten Bürgen auf den Rat unabhängiger Dritter zu verweisen.216 2. Kein genereller Vorrang der Materialisierungsinstrumente des Unionsprivatrechts vor § 138 BGB Gerade im Verbrauchervertragsrecht drohen auf den ersten Blick Normkonflikte zwischen § 138 BGB einerseits und den Materialisierungsinstrumenten des Unionsprivatrechts andererseits. Ursache hierfür sind die unterschiedlichen Zielsetzungen dieser Regelungen: Während sich das deutsche Bürgerli212 Vgl. in Frankreich nur Art. L332-1 Code de la Consommation: „Un créancier professionnel ne peut se prévaloir d’un contrat de cautionnement conclu par une personne physique dont l’engagement était, lors de sa conclusion, manifestement disproportionné à ses biens et revenus, à moins que le patrimoine de cette caution, au moment où celle-ci est appelée, ne lui permette de faire face à son obligation“. 213 Vgl. im Vereinigten Königreich nur Barclays Bank plc v O’Brien [1994] 1 AC 180; Royal Bank of Scotland v Etridge [2001] UKHL 44; Smith v Bank of Scotland, [1997] UKHL 26. Siehe hierzu z. B. Du Plessis / Zimmermann, MJ 10 (2004), 345, 365 f. und 371 f. Vgl. in Österreich etwa OGH Urt. v. 27.3.1995 – Az. 1 Ob 544/95, JBl. 1995, 651 und siehe dazu statt vieler P. Bydlinski, Bürgerliches Recht I (2013), S. 121 f. 214 Vgl. zur – grundsätzlichen – Gleichwertigkeit etwa Colombi Ciacchi, ERPL 13 (2005), 285, 297 ff., die freilich unter anderem das Fehlen eines zureichenden Materialisierungsinstrumentariums in der italienischen Rechtsordnung beklagt. 215 Anders wohl Ungan, Sicherheiten durch Angehörige (2012), S. 156 ff. 216 Demgegenüber baut z. B. gerade die Rechtsordnung des Vereinigten Königreichs wesentlich auf die Aufklärung von unabhängiger Seite, um „undue influence“ durch den Ehegatten auszuschließen, vgl. nur Barclays Bank plc v O’Brien [1994] 1 AC 180, 196 f. (Lord Browne-Wilkinson): „[T]he creditor […] can reasonably be expected to take steps to bring home to the wife the risk she is running by standing as surety and to advise her to take independent advice“. Dieser Ansatz wird indes mit dem Argument hinterfragt, dass auch durch Dritte beratene Angehörige allein aufgrund emotionaler Bande zuweilen unverhältnismäßige wirtschaftliche Risiken eingehen mögen, in diesem Sinne etwa Colombi Ciacchi, ERPL 13 (2005), 285, 297 ff.

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che Recht mithilfe des § 138 BGB gegen bestimmte wucherische oder in sonstiger Weise sittenwidrige Verträge wendet, suchen unionsprivatrechtliche Materialisierungsinstrumente zumeist die rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit einer bestimmten Vertragspartei zu stärken. Folgender, durch den BGH entschiedener Fall verdeutlicht jedoch, dass das Unionsrecht in Konfliktlagen keineswegs einen generellen Vorrang beansprucht: Ein Konsument erwarb im Fernabsatzverkehr ein Radarwarngerät, das er – für den Unternehmer erkennbar – für verkehrsgefährdendes Verhalten im Geltungsbereich der deutschen StVO nutzen wollte.217 Die deutsche Rechtsordnung behandelt diesen Kaufvertrag als im Sinne des § 138 Abs. 1 BGB sittenwidrig und damit als nichtig.218 Nicht zuletzt mit Blick auf die Vorgaben des unionalen Verbrauchervertragsrechts erkannte der BGH dem Käufer in dieser Konstellation dennoch ein Widerrufsrecht zu: Ebenso wie auch nichtige Rechtsgeschäfte nach der auf Kipp zurückgehenden „Doppelwirkung im Recht“ angefochten werden könnten, müssten auch bereits nach § 138 Abs. 1 BGB nichtige Verträge durch einen Verbraucher weiterhin widerrufen werden können.219 Jenseits der auf Ebene des deutschen Bürgerlichen Rechts gegen diese Entscheidung geäußerten Kritik220 ist zu fragen, ob das Unionsrecht tatsächlich eine Aufrechterhaltung des Widerrufsrechts in dieser Konstellation gebietet.221 Die Verbraucherrechterichtlinie, die nunmehr Grundlage des Verbraucherwiderrufsrechts bei Fernabsatzverträgen ist,222 stellt in ihrem Erwägungsgrund Nr. 14 ausdrücklich heraus, dass die Richtlinie insbesondere die innerstaatlichen „Vorschriften über sittenwidrige Rechtsgeschäfte unberührt“ lässt. Auch darüber hinaus findet sich in der unionalen Rechtsprechung durchaus die Tendenz, nationale Unwirksamkeitstatbestände zu respektieren.223 Weshalb nun in der durch den BGH entschiedenen Fallgestaltung etwas gänzlich anderes gelten sollte, ist nicht ersichtlich: Zumindest wo der Verbraucher sehenden Auges gesetzes- oder sittenwidrig handelt, zwingt das Unionsrecht kaum dazu, dass dem Konsumenten das Privileg eines Wider-

BGH Urt. v. 25.11.2009 – Az. VIII ZR 318/08, NJW 2010, 610, 611. BGH Urt. v. 25.11.2009 – Az. VIII ZR 318/08, NJW 2010, 610, 611. Vgl. auch schon zuvor BGH Urt. v. 23.2.2005 – Az. VIII ZR 129/04, NJW 2005, 1490, 1491. 219 BGH Urt. v. 25.11.2009 – Az. VIII ZR 318/08, NJW 2010, 610, 611 („aus Gründen des Verbraucherschutzes“). Siehe hierzu erneut oben § 2 A I 2 b. 220 Siehe dazu nur S. Lorenz, GS Wolf (2011), S. 77, 82; Bork, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches (2016), Rn. 929a. 221 Dafür wohl Schinkels, LMK 2010, 298105. 222 Vgl. Art. 9 ff. Verbraucherrechterichtlinie. 223 Vgl. EuG Urt. v. 16.7.1998 – verb. Rs. T-202/96 u. a. (von Löwis u. a.), Slg. 1998, II-2829 Rn. 58: „Weder der Wille der Parteien einer Vereinbarung noch das Gleichgewicht einer Vereinbarung können zulässigerweise mit dem Ziel geltend gemacht werden, die Erfüllung oder Aufrechterhaltung rechtswidriger Verpflichtungen zu erreichen“. 217 218

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rufsrechts gewährt wird.224 Vielmehr findet die Anwendung des § 138 BGB – ebenso wie auch des § 134 BGB –225 erst dort eine unionsrechtliche Grenze, wo die Norm im Einzelfall den sekundärrechtlichen effet utile in ungerechtfertigter Weise beschneidet oder dem Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz zuwiderläuft. III. § 242 BGB als Ergänzung unionaler Materialisierungsinstrumente Ungeachtet der Frage, inwieweit die EU-Rechtsordnung bereits einen eigenständigen, unionsrechtlich-autonomen Grundsatz von Treu und Glauben enthält,226 wird § 242 BGB als Generalklausel des deutschen Bürgerlichen Rechts zuweilen in den Dienst der Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit gestellt. Der in § 242 BGB verankerte Grundsatz durchdringt das gesamte deutsche Bürgerliche Recht.227 Soweit unions(grund)rechtliche Wertungen im Rahmen dieser Generalklausel zu beachten sind, bietet sie daher ein Instrument, das auf eine unionsrechtskonforme Lesart und Handhabung des nationalen Privatrechts hinwirkt. Insbesondere können über § 242 BGB auch nicht-harmonisierte Areale des Bürgerlichen Rechts an der praktischen WirkBeispielsweise wird das Unionsrecht kaum verlangen, dass ein mit einer „OhneRechnung-Abrede“ zwischen einem Verbraucher und einem Werkunternehmer geschlossener Vertrag durch den Verbraucher widerrufen werden kann: Zwar fallen auch solche Verträge unter bestimmten Voraussetzungen in den Anwendungsbereich der Verbraucherrechterichtlinie, so dass ein Widerrufsrecht gemäß §§ 312g Abs. 1, § 312 Abs. 2 Nr. 3, 355 Abs. 1 S. 1 BGB bestehen kann. Allerdings ist der Vertrag nach § 1 Abs. 2 Nr. 2 SchwarzArbG i. V. m. § 134 BGB nichtig und der BGH hält in seiner jüngeren Rechtsprechung im Namen der „Generalprävention“ strikt an § 817 S. 2 Hs. 1 BGB fest, vgl. nur BGH Urt. v. 10.4.2014 – Az. VII ZR 241/13, BGHZ 201, 1, 8 f. Gerade soweit Steuerhinterziehung bekämpft werden soll, wird das Unionsrecht einen Ausschluss des Widerrufsrechts hinnehmen, vgl. zur Zielsetzung des unionalen Umsatzsteuerrechts nur EuGH Urt. v. 21.2.2006 – Rs. C-255/02 (Halifax), Slg. 2006, I-1609 Rn. 71. Wie hier auch Rieländer, AcP 216 (2016), 763, 786 ff. 225 Mit Blick auf unionale, nunmehr in Art. 14 Arbeitnehmergleichbehandlungsrichtlinie 2006/54/EG enthaltene Antidiskriminierungsvorschriften hat bereits EuGH Urt. v. 5.5.1994 – Rs. C-421/92 (Habermann-Beltermann), Slg. 1994, I-1657 Rn. 4 f., 15 ff. betont, dass ein nationales Verbotsgesetz (Nachtarbeitsverbot für Schwangere nach § 8 Abs. 1 MuschG a. F.), welches gemäß § 134 BGB pauschal zur Nichtigkeit eines Arbeitsvertrages führt, der praktischen Wirksamkeit der unionalen Materialisierungsinstrumente zuwiderläuft. Umgekehrt können binnenmarktbezogene Diskriminierungsverbote aber gerade aufgrund der unionalen Vorgaben als Verbotsgesetze im Sinne des § 134 BGB zu behandeln sein, siehe zu Art. 56 AEUV zuletzt ausdrücklich BVerfG Beschl. v. 19.7.2016 – Az. 2 BvR 470/08, NJW 2016, 3153, 3156. Siehe ferner nur MünchKommBGB /  Armbrüster (2015), § 134 BGB Rn. 37. 226 Siehe zur Emanation eines eigenständigen unionprivatrechtlichen Grundsatzes noch eingehend unten Kapitel 7 § 1 A II 1. 227 Siehe zur prominenten Rolle des § 242 BGB bei der Privatrechtsanwendung statt aller BeckOGK / Kähler (2016) § 242 BGB Rn. 297. 224

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samkeit der unionalen Materialisierungsinstrumente ausgerichtet werden. Damit ist „§ 242 BGB das Vehikel, mit dem der […] unionsrechtlich[e] Effektivitätsgrundsatz in das BGB hineintransportiert“ wird228 und mithilfe dessen die unionsrechtlichen Materialisierungsinstrumente flankiert und etwaige Lücken überbrückt werden können. Zunächst kann die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts gebieten, dass der Einwand des § 242 BGB in Situationen in Stellung gebracht wird, in denen Instrumente des deutschen Bürgerlichen Rechts die unionsrechtlich gebotene Materialisierung zu konterkarieren drohen. Beispielsweise wirken der Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz darauf hin, dass „es ebenso wie bei anderen zu erwartenden Rechtsverstößen treuwidrig“ ist, sich gegenüber einer aus dem Unionsrecht folgenden Rechtsposition auf eine unionsrechtswidrige Einwendung zu berufen.229 So liegt der Fall etwa, wenn ein Verbraucher im Anwendungsbereich der E-Commerce-Richtlinie nur deshalb einem nach § 119 BGB beachtlichen Irrtum erliegt, weil der Unternehmer seine vorvertraglichen Informationspflichten230 verletzt hat: Ficht der Verbraucher seine Willenserklärung erfolgreich an, muss es dem Unternehmer gemäß § 242 BGB verwehrt sein, den Anfechtenden nach § 122 BGB auf Schadensersatz in Anspruch zu nehmen.231 Mithilfe des § 242 BGB wird damit eine wirksame – nachträgliche – Materialisierung der Vertragsfreiheit des Verbrauchers sichergestellt und dem sanktionenrechtlichen Effektivitätsgrundsatz Rechnung getragen.232 Auch wo marktkonstitutive und wettbewerbsschützende Materialisierungsinstrumente des Unionsrechts die Vertragsfreiheit auf einer dem Vertragsrecht vorgelagerten Stufe schützen, muss § 242 BGB gegebenfalls in Stellung gebracht werden, um die volle Wirksamkeit dieser Instrumente sicherzustellen. Dies lässt sich am Beispiel des EU-Beihilferechts illustrieren, das integThiessen, FS Kirchner (2015), S. 381, 382. Vgl. BeckOGK / Kähler (2016) § 242 BGB Rn. 298. Zu diesem Ergebnis gelangt auch BGH Urt. v. 10.2.2011 – Az. I ZR 136/09, EuZW 2011, 440, 444. 230 Zu denken ist hier insbesondere an die Pflichten zur Information über den technischen Ablauf des Vertragsschlusses, über den Mechanismus zur Erkennung und Korrektur von Eingabefehlern sowie über die für den Vertragsschluss verfügbaren Sprachen gemäß Art. 10 Abs. 1 lit. a, lit. c und lit. d E-Commerce-Richtlinie, vgl. oben § 2 A III 2. 231 Siehe dazu bereits oben § 2 A III 2. 232 Weil der Unternehmer die durch Art. 20 E-Commerce-Richtlinie vorgegebenen Maßnahmen zur Verhinderung solcher Irrtümer unterlassen hat, muss dies nach Art. 18 der Richtlinie eine wirksame und abschreckende Sanktion nach sich ziehen. Dies wäre indes kaum der Fall, wenn der Verbraucher durch Schadensersatzansprüche von der Anfechtung abgehalten wird oder dem Unternehmer über § 122 BGB zumindest die wirtschaftlichen Vorteile des Vertrags erhalten bleiben, siehe wiederum oben § 2 A III 2. Vgl. auch BTDrucks. 14/6040, S. 173; Palandt / Grüneberg (2017), Einf. v. Art. 238 EGBGB Rn. 4; Herresthal, in: Langenbucher (Hrsg.), Europäisches Privat- und Wirtschaftsrecht (2013), § 2 Rn. 162. 228 229

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raler Bestandteil der unionalen Wettbewerbsregeln ist.233 Soweit Einreden – wie etwa die der Verjährung nach § 214 Abs. 1 BGB – die Durchsetzung des EU-Beihilferechts auf Ebene des deutschen Privatrechts behindern, kann der unionsrechtliche Effektivitätsgrundsatz gebieten, dass die Geltendmachung der Einrede durch § 242 BGB vereitelt wird.234 Schließlich können mithilfe des § 242 BGB im Bedarfsfall auch etwaige Lücken im nationalen Materialisierungsinstrumentarium geschlossen werden. So sah das BAG im Anschluss an die EuGH-Judikatur zur Befristungsrichtlinie235 gerade alle nationalen Gerichte „aus unionsrechtlichen Gründen verpflichtet, alle Umstände des Einzelfalls […] zu berücksichtigen, um auszuschließen, dass Arbeitgeber missbräuchlich auf befristete Arbeitsverträge zurückgreifen. Diese zusätzliche Prüfung ist nach den Grundsätzen des institutionellen Rechtsmissbrauchs (§ 242 BGB) vorzunehmen“.236

Darüber hinaus haben deutsche Gerichte auch das unionsrechtlich gebotene Materialisierungsniveau im Bereich des gesellschaftspolitisch motivierten Diskriminierungsschutzes bereits über § 242 BGB abgesichert.237 Statt aller v. d. Groeben / Schwarze / Hatje / Mederer (2015), Art. 107 ff. AEUV Rn. 1. Laut BGH Urt. v. 10.2.2011 – Az. I ZR 136/09, EuZW 2011, 440, 444 ist es dem Beihilfeempfänger „nach § 242 BGB i. V. m. Art. 108 III 3 AEUV versagt, sich auf eine zwischenzeitlich eingetretene Verjährung des Rückforderungsanspruchs zu berufen. Das folgt aus dem unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz“. 235 Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28. Juni1999 zu der EGB-UNICE-CEEPRahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge, ABl. 1999 L 175/43. 236 BAG Urt. v. 10.7.2013 – Az. 7 AZR 761/11, NZA 2014, 26, 29 (Herv. d. Verf.) sowie BAG Urt. v. 21.3.2017 – Az. 7 AZR 369/15, NZA 2017, 706, 709. Siehe grundlegend zuvor BAG Urt. v. 18. 7.2012 – Az. 7 AZR 783/10, NZA 2012, 1359, 1364: „Für die hiernach unionsrechtlich gebotene Missbrauchskontrolle eignet sich nach bundesdeutschem Recht der allgemeine Prüfungsmaßstab des institutionellen Rechtsmissbrauchs […]. Der Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) als Gebot der Redlichkeit und allgemeine Schranke der Rechtsausübung beschränkt sowohl subjektive Rechte als auch Rechtsinstitute und Normen […]. Rechtsmissbrauch setzt voraus, dass ein Vertragspartner eine an sich rechtlich mögliche Gestaltung in einer mit Treu und Glauben unvereinbaren Weise nur dazu verwendet, sich zum Nachteil des anderen Vertragspartners Vorteile zu verschaffen, die nach dem Zweck der Norm und des Rechtsinstituts nicht vorgesehen sind. Beim institutionellen Missbrauch ergibt sich der Vorwurf bereits aus Sinn und Zweck des Rechtsinstituts, beim individuellen Rechtsmissbrauch dagegen folgt er erst aus dem Verhalten […]. Die institutionelle Rechtsmissbrauchskontrolle verlangt daher weder ein subjektives Element noch eine Umgehungsabsicht“ (Herv. d. Verf.). Damit unterscheidet sich dieses Instrument des deutschen Bürgerlichen Rechts womöglich von dem unionsrechtlichautonomen Rechtsmissbrauchsverbot, siehe dazu eingehend unten Kapitel 7 § 1 A II 1 b. 237 Z. B. sah ArbG Lübeck Urt. v. 29.5.2007 – Az. 6 Ca 642/07 (juris) Rn. 17 ff., 22 ff. in § 242 BGB ein Instrument zur Kompensation einer unzureichenden Umsetzung der Diskriminierungsrichtlinien im Bereich des Schutzes vor diskriminierenden Kündigungen, welche nicht vom KSchG erfasst werden. Mittlerweile handhabt das BAG indes den Ausschlusstatbestand in § 2 Abs. 4 AGG restriktiv, so dass auf diesem Wege regelmäßig ein 233 234

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Kapitel 5 – Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit durch das BGB

§ 3 Das BGB im hybriden Materialisierungssystem des Unionsprivatrechts § 3 Das BGB im hybriden Materialisierungssystem des Unionsprivatrechts

Da das EU-Privatrecht bei seinem gegenwärtigen Entwicklungsstand lückenhaft ist, überantwortet es die Regelung zahlreicher schuldvertraglicher Fragen dem mitgliedstaatlichen Zivilrecht. Dies trifft auch auf das Phänomen der Materialisierung zu: In der Zusammenschau der bisherigen Erkenntnisse werden erste Konturen eines Systems erkennbar, in dem unionale Vertragsfreiheit sowohl mithilfe der Instrumente des Unionsprivatrechts als auch mithilfe derjenigen des deutschen Bürgerlichen Rechts materialisiert wird. Dabei übernimmt auch das BGB unterschiedliche Rollen als Komplement des Unionsprivatrechts (A). In der Summe (B) baut das EU-Privatrecht bei der Materialisierung der Vertragsfreiheit somit auf ein hybrides System, welches das mitgliedstaatliche und das unionale Privatrecht in sich vereint. A. Komplementarität der Materialisierungsinstrumente An vielen Stellen bedient sich das Unionsrecht des Instrumentatriums des deutschen Bürgerlichen Rechts, um die unionale Vertragsfreiheit zu verwirklichen. Soweit auf Basis der bisherigen Ergebnisse bereits ein Grundriss des unionsprivatrechtlichen Materialisierungssystems nachgezeichnet werden kann (I), erschließt sich auch die Rolle, die dem BGB in diesem Gesamtgefüge zukommt (II). I.

Determinanten des unionsprivatrechtlichen Materialisierungssystems

Wie gezeigt, greifen die Materialisierungsinstrumente des EU-Privatrechts zunächst in unterschiedlichen Vertragsphasen ein: Während der Vertragsanbahnung entfaltet das Informationsmodell seine Wirkungen.238 Das Zustandekommen des Vertrags wird sodann durch unionale Vorgaben betreffend die Abschlussmodalitäten sowie gegebenenfalls durch Diskriminierungsverbote und Kontrahierungszwänge überformt.239 Einfluss auf den Inhalt des Vertrags können dabei die Instrumente der Klauselkontrolle sowie das übrige zwingende Vertragsrecht der EU nehmen.240 Mit Blick auf die Beendigung des Vertrags greifen neben Höchstbindungsfristen insbesondere Vertragslösungsrechte unionsrechtlicher Provenienz Platz.241 unionsrechtskonformes Ergebnis erzielt werden kann, vgl. BAG Urt. v. 19.12.2013 – Az. 6 AZR 190/12, BAGE 147, 60. Siehe zum Ganzen Glatzel, NZA-RR 2014, 290; MünchKommBGB / Schubert (2016), § 242 BGB Rn. 75. NomosKommBGB / Looschelders (2016), § 138 BGB Rn. 69 betont zu Recht, dass sekundärrechtlichen „Wertungen […] mithilfe der zivilrechtlichen Generalklauseln […] Rechnung getragen werden“ muss. 238 Siehe oben Kapitel 4 § 3 A. 239 Siehe oben Kapitel 4 § 3 B und C. 240 Siehe oben Kapitel 4 § 3 D.

§ 3 Das BGB im hybriden Materialisierungssystem des Unionsprivatrechts

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Neben diese Unterteilung in situativer und zeitlicher Hinsicht tritt eine durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebotene Abstufung anhand der Eingriffsintensität der einzelnen Instrumente: Vorrang gebührt den im Regelfall vergleichsweise eingriffsarmen Informations-, Form- und Transparenzanforderungen sowie ferner den Restriktionen der Vertragsschlussmodalitäten.242 Demgegenüber besteht für eine zwingende Regulierung der Vertragsinhalte grundsätzlich erst Raum, wenn die vorgenannten milderen Mittel wirkungslos bleiben. Nur als ultima ratio kommen sodann Kontrahierungszwänge und Diskriminierungsverbote in Betracht, weil diese Instrumente die Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit der belasteten Partei aushöhlen und somit in den Kernbereich der Vertragsfreiheit eingreifen.243 Dieses durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eingefasste System der unionsprivatrechtlichen Materialisierungsinstrumente ist freilich alles andere als lückenlos: So sind nur in Ausnahmefällen sämtliche Elemente der vorstehend beschriebenen Kaskade – vom Informationsmodell über Diskriminierungsver- und Kontrahierungsgebote bis hin zu Vertragsbeseitigungsrechten – auf ein und denselben Vertrag anwendbar.244 Vor allem bleiben beispielsweise gerade die Informationspflichten im Fall ihrer Missachtung wirkungslos, ohne dass das Unionsrecht hierfür stets ein adäquates Korrektiv bereithält. Hinzu kommt, dass die Vertragsfreiheit als unionsgrundrechtliche Gewährleistung dann kraft des Effektivitätsgrundsatzes auch in nicht-harmonisierte Areale des mitgliedstaatlichen Privatrechts hineinwirken kann.245 Entsprechend mag diese Freiheit auch dort ihre Materialisierung verlangen, wo zwar der Anwendungsbereich des EU-Rechts eröffnet ist, der Unionsgesetzgeber aber seinerseits keine privatrechtlichen Instrumente zur Sicherung der rechtsgeschäftlichen Selbstbestimmung vorgesehen hat. In diese Lücken müssen dann die Materialisierungsinstrumente des BGB stoßen und die unionale ebenso wie die nationale Vertragsfreiheit effektiv verwirklichen.246 Siehe oben Kapitel 4 § 3 F. Siehe hierzu noch eingehend unten Kapitel 7 § 1 A. 243 Siehe näher unten Kapitel 7 § 1 A. 244 Zu denken ist etwa an den Abschluss eines Basiskontovertrages durch einen Verbraucher über das Internet: Hier bestehen nach Art. 3 ff. Finanzdienstleistungsfernabsatz-, Art. 30 ff. Zahlungsdienste und Art. 4 ff. Zahlungskontenrichtlinie nicht nur vorvertragliche Informations-, Transparenz- und Formanforderungen, sondern das Kreditinstitut unterliegt auch Diskriminierungsverboten und einem Kontrahierungszwang gemäß Art. 15 f. Zahlungskontenrichtlinie. Die Vertragsschlussmodalitäten werden sodann durch Art. 9 ff. E-Commerce-Richtlinie unionsrechtlich überformt. Hinzu tritt eine Klauselkontrolle nach der Klauselrichtlinie sowie eine zwingende unionsrechtliche Vorgabe bestimmter Vertragsinhalte, vgl. nur Art. 17, 19 Zahlungskontenrichtlinie. Schließlich verfügt der Verbraucher auch über ein Widerrufsrecht nach Art. 6 Finanzdienstleistungsfernabsatzrichtlinie, und das Unionsrecht erzwingt auch im Übrigen eine erleichterte Vertragsaufsage seitens des Verbrauchers, vgl. Art. 10 Zahlungskontenrichtlinie. 245 Siehe erneut oben § 1 A. 241 242

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Kapitel 5 – Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit durch das BGB

II. Drei Funktionen des Bürgerlichen Rechts Wo immer unionsrechtliche Vorschriften zur Gewährleistung werthaltiger Selbstbestimmungschancen bestehen, sind diese Regelungen gegebenenfalls durch das Instrumentarium des BGB zu ergänzen: Soweit dies der Effektivitätsgrundsatz und die Schutzpflichtendimension der Vertragsfreiheit verlangen, kann jedes Materialisierungsinstrument des Unionsprivatrechts also eine bürgerlich-rechtliche Flankierung erhalten.247 Dabei sind im Wesentlichen drei Konstellationen zu unterscheiden. 1. Unionsprivatrechtsakzessorische Ergänzung Zunächst mag die effektive Anwendung einer der Materialisierung dienenden Vorschrift des EU-Privatrechts z. B. den Ausschluss von Einwendungen oder auch die Vervollständigung nationaler Umsetzungsrechtsakte mithilfe des § 242 BGB gebieten.248 In solchen Fallgestaltungen erfüllt das deutsche Bürgerliche Recht lediglich eine unterstützende Funktion und bleibt damit strikt akzessorisch zu den Instrumenten des Unionsprivatrechts: Im Vordergrund steht hier die praktische Wirksamkeit des EU-Rechts und die Absicherung der im Unionsprivatrecht konkret vorgesehenen Rechtsfolgen. 2. Teilautonomes Materialisierungsinstrument Demgegenüber gewinnt das deutsche Bürgerliche Recht als Materialisierungsinstrument in anderen Konstellationen an Eigenständigkeit. Sofern das Unionsprivatrecht nicht eine anderweitige, abschließende Regelung trifft,249 wird die Verletzung von vorvertraglichen Informationspflichten mit den Mitteln des deutschen BGB nicht in der Vertragsanbahnungsphase, sondern vielmehr erst 246 Siehe zur Bindung der Mitgliedstaaten an den Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz bei der Verwirklichung von Unionsgrundrechten erneut oben § 1 B I. 247 Darüber hinaus können diese unionsrechtlichen Vorgaben eine bestimmte Auflösung der Normkonflikte zwischen dem EU-Privatrecht und dem BGB gebieten: Z. B. gebührt dem Unionsprivatrecht der Vorrang, wenn die Anfechtungstatbestände der §§ 119 ff. BGB oder das Instrument der culpa in contrahendo einer Vertragspartei die Beseitigung des Vertrags ermöglichen, obwohl z. B. der unionale Diskriminierungsschutz gerade die Selbstbestimmungsfreiheit des anderen Vertragsteils zu stärken sucht, vgl. erneut oben § 2 A I und § 2 B. 248 Vgl. erneut nur BGH Urt. v. 10.2.2011 – Az. I ZR 136/09, EuZW 2011, 440, 444 und siehe oben § 2 C III. 249 Die Materialisierungsinstrumente des Unionsrechts sind überall dort vorrangig und abschließend, wo das EU-Privatrecht eine bestimmte Reaktion auf – bei typisierter Betrachtung bestehende – Defizite bei der Willensbildung vorsieht. So liegt der Fall bei der unterbliebenen Information über das Widerrufsrecht im Rahmen von Art. 9 f. Verbraucherrechterichtlinie: Hier hat es mit der Verlängerung der Widerrufsfrist sein Bewenden, ohne dass den Unternehmer darüber hinaus eine Haftung aus culpa in contrahendo wegen einer Informationspflichtverletzung treffen würde, siehe erneut oben § 2 B V.

§ 3 Das BGB im hybriden Materialisierungssystem des Unionsprivatrechts

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nach Abschluss des Vertrags durch ein Recht auf Vertragsaufsage sanktioniert. Insoweit trifft das Bürgerliche Recht eine autonome Rechtsfolgenanordnung, die lediglich der unionsrechtlichen Zielvorgabe unterliegt, dass die jeweilige Rechtsfolge werthaltige Selbstbestimmungsmöglichkeiten eröffnen muss. Namentlich kommt bei einem Verstoß gegen vertragsschlussrelevante Informationspflichten neben einer Anfechtung nach §§ 119 ff. BGB gegebenenfalls ein Anspruch auf Vertragsaufhebung im Wege der Naturalrestitution gemäß § 311 Abs. 2 i.V.m. § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2, § 249 BGB in Betracht.250 Während diese Reaktion freilich an die jeweils betroffene unionale Informationspflicht anknüpft, übernimmt das Bürgerliche Recht hier doch die Rolle eines weitgehend selbstständigen Materialisierungsinstruments: Weil die Informationspflicht ihre Aufgabe im Vorfeld des Vertragsschlusses nicht erfüllen kann, fällt dem BGB die Aufgabe zu, die Vertragsfreiheit nunmehr in einer anderen Phase und auf anderem Wege zu materialisieren. Das Unionsrecht verlangt dabei nur, dass ein Ergebnis erzielt wird, welches mit dem Gebot der unionalen Vertragsfreiheit übereinstimmt: Dem Verbraucher, Versicherungsnehmer oder Kapitalanleger muss – wenn auch erst im Nachhinein – eine Chance zur informierten und freiverantwortlichen Selbstbestimmung gegeben werden.251 Genau dies erlaubt das Vertragslösungsrecht, weil die vor Vertragsschluss entgegen der Vorgaben des EU-Privatrechts nicht informierte Partei nun frei entscheiden kann, ob sie an dem Vertrag festhalten will und auf diese Weise also ihre (negative) Vertragsfreiheit erneut zu betätigen vermag. Die bürgerlich-rechtlichen Anfechtungstatbestände bzw. die culpa in contrahendo können dabei aber nur insoweit in Stellung gebracht werden, als dies zur Materialisierung der Vertragsfreiheit der einen Partei erforderlich und vor allem in Ansehung der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie der anderen Partei auch verhältnismäßig ist: Kann die durch das Ausbleiben der vorvertraglichen Information hervorgerufene Beeinträchtigung der rechtsgeschäftlichen Selbstbestimmungsfreiheit auf andere Weise als durch Vertragsauflösung kompensiert werden, verdient dieser weniger eingriffsintensive Weg grundsätzlich den Vorzug. 3. Unionsgrundrechtsoffene Auffangordnung Schließlich kann den Materialisierungsinstrumenten des BGB – und insbesondere den bürgerlich-rechtlichen Generalklauseln – in Ausnahmefällen 250 Siehe wiederum oben § 2 A III sowie ferner § 2 B IV. Mit Blick auf bestimmte Versicherungs- und Kapitalanlageverträge gibt jetzt auch Art. 11 Abs. 1 PRIIP-Verordnung eine Haftung für vorvertragliche Informationspflichtverletzungen vor, siehe dazu näher oben § 2 B II. 251 Vgl. zur Haftung für vorvertragliche Informationspflichtverletzungen bei bestimmten Kapitalanlageverträgen und Versicherungsprodukten nur Art. 11 Abs. 1 PRIIPVerordnung sowie erneut oben § 2 B II.

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Kapitel 5 – Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit durch das BGB

auch die Rolle einer nur durch die Leitlinien des Unionsgrundrechts der Vertragsfreiheit gebundenen Auffangordnung zukommen. Dies betrifft Konstellationen, in denen vertragliche Beziehungen zwar sachlich in den Schutzbereich des Unionsgrundrechts der Vertragsfreiheit fallen, der Unionsgesetzgeber in dieser konkreten Sachmaterie aber keine oder nur unzureichende Vorkehrungen zur Gewährleistung werthaltiger Selbstbestimmungschancen getroffen hat. Entsprechend kann insoweit keine Akzessorität zum (sekundärrechtlichen) Instrumentarium des EU-Privatrechts bestehen, sondern es bleibt vielmehr dem deutschen Bürgerlichen Recht überlassen, die unionale Vertragsfreiheit innerhalb des durch dieses Unionsgrundrecht gesteckten Rahmens zu materialisieren. So verhält es sich etwa bei „Angehörigenbürgschaften“, die durch die Verbraucherrechte- sowie durch die Klauselrichtlinie in den Anwendungsbereich des Unionsrechts – und damit der unionalen Vertragsfreiheit – gelangen.252 Hier muss § 138 Abs. 1 BGB als Generalklausel des deutschen Bürgerlichen Rechts in den Dienst der Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit gestellt werden.253 Insgesamt nimmt das Instrumentarium des BGB bei der Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit somit vielfältige Rollen im hybriden Materialisierungssystem des EU-Privatrechts wahr. B. Summe des fünften Kapitels Das Unionsprivatrecht und das mitgliedstaatliche Zivilrecht teilen sich zuweilen die Aufgabe der Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit. Unionsprivatrechtliche und bürgerlich-rechtliche Vorschriften, welche die faktischen Grundlagen rechtsgeschäftlicher Selbstbestimmung garantieren sollen, sind in vielen Bereichen parallel anwendbar: So treten z. B. §§ 119 ff. BGB als Elemente der bürgerlich-rechtlichen Rechtsgeschäftslehre grundsätzlich ebenso neben unionsprivatrechtliche Materialisierungsinstrumente wie auch § 138 und § 242 als Generalklauseln des BGB.254 Entsprechend kann sich ein Verbraucher regelmäßig frei entscheiden, ob er einen Vertrag auf Basis eines unionsrechtlich fundierten Widerrufsrechts oder aber mithilfe bürgerlichrechtlicher Instrumente, etwa einer Anfechtung nach §§ 119 ff. BGB, oder im Wege der Naturalrestitution über §§ 311 Abs. 2 i.V.m. § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2, § 249 BGB zu Fall bringt. Diese elektive Konkurrenz der Instrumente reicht indes immer nur soweit, wie sie die gleiche Stoßrichtung verfolgen. Wo die Tatbestände des deutschen Bürgerlichen Rechts einerseits und die Materialisierungsinstrumente des UniSiehe hierzu bereits oben § 2 C II 1. Siehe erneut oben § 2 C II 1. 254 Vgl. erneut nur Art. 3 Abs. 5 sowie Erwägungsgründe Nr. 14 und 42 Verbraucherrechterichtlinie, wonach „das allgemeine innerstaatliche Vertragsrecht“ im Grundsatz unberührt bleiben soll. 252 253

§ 3 Das BGB im hybriden Materialisierungssystem des Unionsprivatrechts

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onsprivatrechts andererseits die Vertragsfreiheit unterschiedlicher Parteien zu materialisieren suchen, müssen die dadurch entstehenden Konflikte in unionsrechtskonformer Weise aufgelöst werden. Ist ein Vertrag nach deutschem Privatrecht, z. B. infolge einer Anfechtung gemäß § 142 BGB oder aber aufgrund von Sittenwidrigkeit nach § 138 BGB, nichtig, kann der effet utile des Unionsrechts gegebenenfalls gebieten, dass unter Rückgriff auf die Figur der Kipp’schen Doppelwirkung im Recht einem Verbraucher dennoch der unionsrechtlich vorgesehene Widerruf seiner Vertragserklärung ermöglicht wird.255 Das Unionsrecht stellt die Vorschriften des deutschen BGB unter bestimmten Voraussetzungen zudem direkt in den Dienst der Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit. Triebfedern sind dabei sowohl der Effektivitätsgrundsatz als auch unionsgrundrechtliche Schutzpflichten.256 Dabei treten die Instrumente insbesondere dort auf den Plan, wo rechtsgeschäftliche Selbstbestimmung im anspruchsvollen Sinne nur durch eine Ergänzung des unionsprivatrechtlichen Instrumentariums erreicht werden kann. Eine solche Komplementärfunktion übernehmen z. B. die Anfechtungstatbestände der §§ 119 ff. BGB bei der Verletzung vertragsschlussrelevanter Informationspflichten im Finanzdienstleistungs- und Verbrauchervertragsrecht wie auch bei einem durch Verstöße gegen die Vorgaben der E-Commerce-Richtlinie hervorgerufenen Inhalts- oder Erklärungsirrtum. 257 Darüber hinaus kann auch die culpa in contrahendo unionsrechtlich aufgeladen werden, beispielsweise soweit die PRIIP eine vorvertragliche Informationshaftung bei Versicherungsverträgen und Kapitalanlageprodukten gebieten.258 Des Weiteren muss § 311 Abs. 2 BGB zuweilen als Sanktionsinstrument bei Verstößen gegen die Bonitätsprüfungspflicht im Verbraucherkreditvertragsrecht sowie als Haftungstatbestand im allgemeinen Verbrauchervertragsrecht in Stellung gebracht werden.259 Schließlich sind die §§ 138, 242 BGB ebenfalls offen für unionsrechtliche Wertungen. Entsprechend kann auch die Vertragsfreiheit als Bestandteil der objektiven Werteordnung des EU-Rechts über diese bürgerlich-rechtlichen Generalklauseln in das deutsche Privatrecht hineinwirken.260 Dabei kommt § 242 BGB eine Flankierungsfunktion zu: Durch den Rekurs auf den Grundsatz von Treu und Glauben kann das zur Verwirklichung rechtsgeschäftlicher Selbstbestimmungsfreiheit unionsrechtlich gebotene Regelungsniveau abgesichert werden, indem § 242 BGB etwaige Lücken im nationalen Recht zu füllen und erforderlichenfalls auch nicht-harmonisierte Areale des Bürgerli255 256 257 258 259 260

Vgl. wiederum oben § 2 A I 2 b sowie oben § 2 A II 2. Siehe erneut oben § 1. Siehe dazu oben § 2 A III. Siehe erneut oben § 2 B II. Siehe hierzu oben § 2 B III und § 2 B IV. Siehe dazu oben § 2 C I.

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Kapitel 5 – Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit durch das BGB

chen Rechts an der praktischen Wirksamkeit der unionalen Materialisierungsinstrumente auszurichten hilft. Auch § 138 Abs. 1 BGB kann zur Materialisierung herangezogen werden: So etwa in Konstellationen, in denen ein Bürgschaftsvertrag mit Verbraucherbeteiligung in den Anwendungsbereich des EU-Privatrechts und damit zugleich in denjenigen der Unionsgrundrechte gelangt. Soweit nach der Rechtsprechung des BVerfG bei einer Angehörigenbürgschaft die Generalklausel als Korrektiv fehlender Selbstbestimmungsfreiheit des Bürgen dient, muss dies gleichermaßen in unionsrechtlich determinierten Sachverhalten mit Blick auf das EU-Grundrecht der Vertragsfreiheit gelten: Hier wird § 138 Abs. 1 BGB in den Dienst der (nachträglichen) Materialisierung unionaler rechtsgeschäftlicher Privatautonomie gestellt.261 Im Materialisierungssystem des Unionsprivatrechts übernimmt das BGB damit im Wesentlichen drei Funktionen: Erstens dient es als strikt akzessorische Flankierung der Materialisierungsinstrumente des EU-Privatrechts und sichert im Interesse des effet utile die dort vorgesehenen Rechtsfolgen ab. Zweitens kann das deutsche Bürgerliche Recht gerade bei der Verletzung unionaler Informationspflichten eine weitgehend autonome Rechtsfolgenanordnung treffen, die lediglich der unionsrechtlichen Zielvorgabe unterliegt, dass die jeweilige Rechtsfolge werthaltige Selbstbestimmungsmöglichkeiten eröffnen muss. Drittens kommt vor allem den Generalklauseln des BGB in Ausnahmefällen die Rolle einer nur durch die Leitlinien des Unionsgrundrechts der Vertragsfreiheit gebundenen Auffangordnung zu.

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Siehe wiederum oben § 2 C II.

Kapitel 6

Materialisierung durch Zivilprozessrecht Kapitel 6 – Materialisierung durch Zivilprozessrecht

Die prozessuale Rechtsdurchsetzung ist nach dem berühmten Kant’schen Diktum die „wichtigste unter allen rechtlichen Angelegenheiten“. 1 Eine zivilprozessuale Absicherung der materiellrechtlichen Instrumente des Unionsprivatrechts empfahl daher schon ein im Jahr 1976 für die Europäische Kommission erstelltes Rechtsgutachten zum „Schutz des Verbrauchers vor unlauteren Allgemeinen Geschäftsbedingungen in den EG-Staaten“: „Um zu verhindern, daß die materiellrechtlichen Schutzvorschriften toter Buchstabe bleiben, müssen sie durch eine wirksame verfahrensrechtliche Kontrolle ergänzt werden“.2

Die prozessuale Durchsetzung des Unionsprivatrechts fällt beim derzeitigen Stand allerdings überwiegend3 dem mitgliedstaatlichen Zivilverfahrensrecht zu. Vor diesem Hintergrund nimmt es kaum Wunder, dass der EuGH in seiner Rechtsprechung die Materialisierung der unionalen Vertragsfreiheit auf die Ebene des nationalen Zivilprozessrechts ausweitet: Vom Mahn- über das Erkenntnis- bis hin zum Zwangsvollstreckungsverfahren sieht der Gerichtshof die Mitgliedstaaten in der Pflicht, das unionsrechtlich gebotene Niveau rechtsgeschäftlicher Selbstbestimmungsfreiheit notfalls auch zivilprozessual abzusichern.4 Insoweit wird das nationale Zivilverfahrensrecht durch die Einstrahlung materiellrechtlicher Vorgaben des Unionsrechts zumindest in einzelnen Teilbereichen europäisiert.5 Auch wo das Unionsrecht ausnahmsVgl. Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797, 1907), AA VI, S. 306. In überarbeiteter Fassung abgedruckt in v. Hippel, RabelsZ 41 (1977), 237, 246. 3 Eine wichtige Ausnahme bilden das in weiten Teilen unitarisierte internationale Zivilprozessrecht sowie das sektorielle Sonderprozessrecht, z. B. im unionalen Immaterialgüterrecht, dazu statt vieler Heinze, JZ 2011, 709 ff. und 714 f. 4 Vgl. nur EuGH Urt. 4.6.2009 – Rs. C-243/08 (Pannon), Slg. 2009, I-4713; EuGH Urt. v. 9.11.2010 – Rs. C-137/08 (VB Pénzügyi Lízing), Slg. 2010, I-10847; EuGH Urt. v. 14.6.2012 – Rs. C-618/10 (Banco Español de Crédito), EU:C:2012:349; EuGH Urt. v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 (Aziz), EU:C:2013:164; EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-280/13 (Barclays), EU:C:2014:279 Rn. 37; EuGH Urt. v. 17.7.2014 – Rs. C-169/14 (Sánchez Morcillo), EU:C:2014:2099; EuGH Urt. v. 4.6.2015 – Rs. C-497/13 (Faber), EU:C:2015: 357; EuGH Urt. v. 18.2.2016 – Rs. C-49/14 (Finanmadrid), EU:C:2016:98. Siehe zum Erkenntnisverfahren unten § 2, zum Zwangsvollstreckungsverfahren unten § 3 sowie zum Mahnverfahren unten § 4. 5 Siehe zu dieser Tendenz – wenn auch nicht unter dem Aspekt der Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit – bereits Hess, JZ 2005, 540, 552; Tulibacka, CMLR 46 (2009), 1 2

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Kapitel 6 – Materialisierung durch Zivilprozessrecht

weise eigene zivilverfahrensrechtliche Vorschriften enthält, wird das – nach überkommenem Verständnis „moralinfreie“ –6 Prozessrecht zunehmend materiellrechtlich aufgeladen.7 Diese „Materialisierung des Verfahrensrechts“8 ist dem deutschen Zivilprozessrecht weniger fremd, als teilweise suggeriert wird: Nach ständiger Rechtsprechung des BGH sind „[d]ie Verfahrensbestimmungen der Prozessordnung […] nur Hilfsmittel für die Verwirklichung oder Wahrung von Rechten; dabei soll die Durchsetzung des materiellen Rechts so wenig wie möglich an Verfahrensfragen scheitern“.9

Hieraus folgert der BGH, dass „Verfahrensvorschriften […] – wenn irgend vertretbar – so auszulegen [sind], dass sie eine Entscheidung über die materielle Rechtslage ermöglichen und nicht verhindern“.10 Unter dem Einfluss des Unionsrechts gewinnt diese „materiellrechtsfreundliche“ Handhabung des deutschen Zivilprozessrechts freilich eine ganz neue Dimension. Im Folgenden wird zunächst den Antriebskräften und Zielen der Materialisierung durch Verfahrensrecht (§ 1) am Beispiel des EU-Verbrauchervertragsrechts nachgespürt. Sodann ist zu fragen, wie sich die unionsrechtlichen Materialisierungstendenzen auf die einzelnen Verfahrensabschnitte des Zivilprozesses nach der deutschen ZPO auswirken können. Der Fokus liegt dabei auf der Durchsetzung individueller schuldvertraglicher Ansprüche mithilfe des mitgliedstaatlichen Verfahrensrechts. Entsprechend bleiben international-verfahrensrechtliche Fragen,11 alternative Streitbeilegungsmechanis-

1527 ff.; Heinze, JZ 2011, 709, 715 f.; Dutta, ZZP 126 (2013), 153; Wolf / Lindacher /  Pfeiffer, AGB-Recht (2013), Art. 6 Klauselrichtlinie Rn. 6.; Zeno-Zencovich / Paglietti, RIDC 91 (2014), 321, 324 f.; Fornasier, ZEuP 2014, 410, 419; MünchKommBGB /  Basedow (2016), Vor § 305 BGB Rn. 37 ff. 6 Goldschmidt, Der Prozess als Rechtslage (1925), S. 292. 7 Als Beispiel lässt sich wiederum das internationale Zivilprozessrecht der EU anführen, das für Versicherungsnehmer, Verbraucher und Arbeitnehmer besondere prozessuale Schutzregimes etabliert, vgl. nur Art. 11 ff., Art. 17 ff. und Art. 20 ff. Brüssel Ia. Siehe zu dieser Facette der Materialisierung des Zivilprozessrechts nur Heinze, EuZW 2011, 947, 950; Rösler, Europäische Gerichtsbarkeit auf dem Gebiet des Zivilrechts (2012), S. 250 f. 8 Heinze, JZ 2011, 709, 715 f. Siehe auch G. Wagner, ZEuP 2008, 6, 13 und insbesondere 17 f.; Micklitz, in: DJT (Hrsg.), Verhandlungen des 69. DJT I (2012), S. A 1, A 89 f. Vgl. ferner nur Zeno-Zencovich / Paglietti, RIDC 91 (2014), 321, 324 f. („connexion entre le droit substantiel et le droit procédural“). Kritisch zu dieser Entwicklung H. Roth, JZ 2014, 801, 807. 9 BGH Urt. v. 11.7.1960 – Az. III ZR 104/59, LM Nr. 9 zu § 209 BGB. Siehe auch Zöller / Vollkommer (2016), Einl. ZPO Rn. 99. 10 Siehe z. B. BGH Urt. v. 19.11.1981 – Az. III ZR 85/80, NJW 1982, 888. Siehe auch Zöller / Vollkommer (2016), Einl. ZPO Rn. 92. 11 Siehe zu den Materialisierungsinstrumenten des internationalen Unionsprivatrechts nur Rösler, Europäische Gerichtsbarkeit auf dem Gebiet des Zivilrechts (2012), S. 250 f.

§ 1 Die verfahrensrechtliche Dimension der Materialisierung

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men12 und Verbandsklagen13 ebenso außer Betracht wie die zivilprozessrechtliche Dimension wettbewerbsschützender Materialisierungsinstrumente.14 Besonderes Augenmerk gilt hingegen der Beeinflussung der Prozessmaximen der ZPO (§ 2). Neben dem streitigen Erkenntnisverfahren werden das Zwangsvollstreckungs- (§ 3) sowie das Mahnverfahren unionsrechtlich überformt (§ 4). Schließlich ist zu fragen, ob die Materialisierung des Zivilprozessrechts beim derzeitigen Stand auch über das in der EuGH-Judikatur dominante Konsumentenvertragsrecht hinausgreift (§ 5).

§ 1 Triebkräfte und Ziele der verfahrensrechtlichen Dimension der Materialisierung § 1 Die verfahrensrechtliche Dimension der Materialisierung

Die prozessuale Durchsetzung unionsrechtlich determinierter Rechte bleibt im Ausgangspunkt den EU-Mitgliedstaaten überlassen.15 Schon vor diesem Hintergrund können die Wertungen des materiellen EU-Privatrechts nicht 12 Siehe zur Richtlinie 2013/11/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2013 über die alternative Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2009/22/EG (Richtlinie über alternative Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten), ABl. 2013 L 165/63, statt vieler Rühl, ZZP 127 (2014), 61 ff. 13 So mag etwa die Verbandsklage nach dem UKlaG als eine eigenständige Form der Materialisierung durch Zivilprozessrecht betrachtet werden: Dieses Instrument bezweckt den vorbeugenden Schutz der tatsächlichen Entscheidungsfreiheit einer Vielzahl von Verbrauchern, indem missbrächliche Klauseln des beklagten Verwenders aus dem Rechtsverkehr verbannt werden, siehe nur Fornasier, Freier Markt und zwingendes Vertragsrecht (2013), S. 176. Der EuGH Urt. v. 24.4.2016 – verb. Rs. C-381/14 u. a. (Sinués u. a.), EU:C: 2016:252 Rn. 30 ff. und insbesondere Rn. 43, hat dabei jüngst die unterschiedliche Zielsetzung von Individual- sowie Verbandsklagen betont und gefordert, dass Letztere die individuelle Rechtsdurchsetzung des Verbrauchers nicht behindern dürfen. 14 Siehe zur Rolle des unionalen Wettbewerbsrechts bei der Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit erneut oben Kapitel 4 § 2 B. Siehe zu der wettbewerbsrechtlichen Dimension der „Materialisierung des Zivilprozessrechts“ nur G. Wagner, ZEuP 2008, 6, 13 f. und vgl. auch die verfahrensrechtlichen Sonderregelungen in der Richtlinie 2014/104/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. November 2014 über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union, ABl. 2014 L 349/1. 15 Siehe nur EuGH Urt. v. 16.12.1976 – Rs. 33/76 (Rewe), Slg. 1976, 1989 Rn. 5 sowie aus jüngerer Zeit z. B. EuGH Urt. v. 12.2.2015 – Rs. C-567/13 (Baczó), EU:C:2015:88 Rn. 41: „Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es in Ermangelung einer einschlägigen Unionsregelung nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten jeweils Sache von deren innerstaatlichem Recht, die zuständigen Gerichte zu bestimmen und die Verfahrensmodalitäten für Klagen zu regeln, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen“.

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Kapitel 6 – Materialisierung durch Zivilprozessrecht

einfach aus sich heraus Eingang in das unharmonisierte nationale Zivilprozessrecht finden. Vergegenwärtigt man sich zudem sowohl ihre Zielsetzung als auch den Weg, auf dem sie erfolgt (A), so wird deutlich, dass die „Materialisierung des Verfahrensrechts“ zumindest im Bereich des Schuldvertragsrechts weit mehr als eine materiellrechtliche Überformung der Zivilprozessordnungen bedeutet. Insbesondere zielt sie nicht auf die Schaffung eines „sozialen Zivilprozessrechts“,16 sondern die Materialisierung steht auch auf Ebene des Verfahrensrechts zuvörderst im Dienste der Verwirklichung rechtsgeschäftlicher Selbstbestimmungsmöglichkeiten (B).17 A. Zwei zentrale Einfallstore unionsrechtlicher Wertungen Eine Durchbrechung erfährt die mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie zunächst aufgrund des Vorrangs des Unionsrechts überall dort, wo das nationale Prozessrecht in offenem Konflikt mit unionalen Gewährleistungen steht.18 Für das Phänomen der Materialisierung von besonderem Gewicht ist, dass das Äquivalenz- und Effektivitätsprinzip ebenso wie die EU-Grundrechte eine bestimmte Lesart des mitgliedstaatlichen Verfahrensrechts gebieten können. Generalanwalt Bot fasst dies wie folgt zusammen: „[D]ie Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten wird jedoch seit jeher dadurch nuanciert, dass die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität beachtet werden müssen und die Beachtung der Grundrechte zu gewährleisteten ist“.19

Anders als der Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz20 hat die Einwirkung der Unionsgrundrechte auf das nationale Zivilprozessrecht bislang vergleichsweise Siehe zu dieser Konzeption etwa Koch, Verbraucherprozessrecht (1990), S. 6 ff. und zuvor allgemein Wassermann, Der soziale Zivilprozess (1978). 17 Ein enges Begriffsverständnis legt dagegen z. B. H. Roth, FS Henckel (2015), S. 283 zugrunde, wenn er meint, Materialisierung sei nicht mehr als „ein Übergreifen materiellrechtlicher Wertungen in die Sphäre des Prozessrechts“. 18 So lief etwa das in § 110 Abs. 1 ZPO a. F. enthaltene Erfordernis der Prozesskostensicherheit für Ausländer dem grundfreiheitlichen Diskriminierungsverbot zuwider, siehe EuGH Urt. v. 1.7.1993 – Rs. C-20/92 (Hubbard), Slg. 1993, I-3777 Rn. 14 f. und vgl. zudem EuGH Urt. v. 26.9.1996 – Rs. C-43/95 (Data Delecta), Slg. 1996, I-4661 Rn. 9 ff.; EuGH Urt. v. 2.10.1997 – Rs. C-122/96 (Saldanha), Slg. 1997, I-5325 Rn. 25 ff. (jeweils zu Art. 6 EGV). Ebenso verstieß der in § 917 Abs. 2 ZPO a. F. normierte Arrestgrund der Auslandsvollstreckung gegen das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit gemäß Art. 18 AEUV, vgl. EuGH Urt. v. 10.2.1994 – Rs. C-398/92 (Mund & Fester), Slg. 1994 I-467 Rn. 14 ff. (zu Art. 7 EWG). 19 GA Bot Schlussanträge v. 7.11.2013 – Rs. C-604/12 (H.N.), EU:C:2013:714 Rn. 33 (Herv. d. Verf.). 20 Hierzu statt vieler Heinze, in: Basedow / Hopt / Zimmermann (Hrsg.) Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009), S. 337 ff.; Wolf / Lindacher /  Pfeiffer, AGB-Recht (2013), Art. 6 Klauselrichtlinie Rn. 6; MünchKommBGB / Basedow (2016), Vor § 305 BGB Rn. 38, dort jeweils m. w. N. 16

§ 1 Die verfahrensrechtliche Dimension der Materialisierung

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wenig Aufmerksamkeit erhalten.21 Dabei hat der Effektivitätsgrundsatz gerade im Zusammenspiel mit den Grundrechten das Potenzial, die nationale Verfahrensautonomie empfindlich zu beschränken: Wie bereits ausführlich dargelegt,22 wird der Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte durch den Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz gerade auch auf nicht-harmonisierte Areale des nationalen Rechts, einschließlich des Verfahrensrechts, erweitert. Damit können weite Teile des nationalen Zivilprozessrechts unionsrechtlich überformt werden und an den Maßstäben EU-Grundrechte zu messen sein.23 Die materiellrechtlichen Wertungen des Schuldvertragsrechts der Union finden demnach zunächst dort in das nationale Zivilverfahrensrecht Eingang, wo dies zur Gewährleistung ihrer Effektivität geboten ist. Dabei entfaltet sich hier mit den EU-Grundrechten zugleich eine weitere, besonders wirkmächtige Kraft, die zur Berücksichtigung materieller – und namentlich grundrechtlicher – Vorgaben im nationalen Zivilprozessrecht zwingen kann. Für den hier untersuchten Bereich des Schuldvertragsrechts von herausgehobener Bedeutung ist, dass die Vertragsfreiheit als unionsgrundrechtliche Gewährleistung stets Beachtung verlangt, wenn das Zivilprozessrecht in den Geltungsbereich des Unionsrechts gerät. B. Verwirklichung unionaler Vertragsfreiheit durch nationales Prozessrecht Als Triebkräfte wirken der Effektivitätsgrundsatz und das Unionsgrundrecht der Vertragsfreiheit in zweierlei Hinsicht auf eine Materialisierung mithilfe des Zivilprozessrechts hin. Zum einen folgt hieraus eine Pflicht zur zivilprozessualen Durchsetzung von Verträgen, die dem EU-Privatrecht unterfallen (I). Zum anderen drängt das Unionsrecht auch auf eine Kompensation fehlender rechtsgeschäftlicher Selbstbestimmungschancen durch das Instrumentarium des Zivilverfahrensrechts (II). I. Pflicht zur zivilprozessualen Durchsetzung unionsrechtlich determinierter Verträge Wenn das Unionsrecht Vorgaben in Bezug auf privatrechtliche Verträge macht, müssen zunächst alle hieraus erwachsenden vertraglichen Rechte und 21 Vgl. aber z. B. zur Prozesskostenhilfe nach §§ 114 ff. ZPO nur EuGH Urt. v. 22.12.2010 – Rs. C-279/09 (DEB), Slg. 2010, I-13849 Rn. 27 ff. Siehe zur Berücksichtigung von Art. 17 und Art. 47 GRCh im Rahmen von § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO nun auch EuGH Urt. v. 16.7.2015 – Rs. C-580/13 (Coty), EU:C:2015:485 Rn. 22 ff.; BGH Urt. v. 21.10.2015 – Az. I ZR 51/12, NJW 2016, 2190, 2191 und 2193. Siehe frühzeitig auch Hess, JZ 2005, 540 ff. 22 Siehe hierzu erneut eingehend oben Kapitel 2 § 3 B II 2 b. 23 Bereits Hess, JZ 2005, 540, 551 (dort in Fn. 187) prognostiziert angesichts der Wirkmacht der EU-Grundrechte „[m]ittelfristig eine Abkehr von der zurückhaltenden Judikatur des EuGH zur Autonomie der nationalen Verfahrensrechte“.

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Kapitel 6 – Materialisierung durch Zivilprozessrecht

Pflichten in äquivalenter und effektiver Weise durch das mitgliedstaatliche Zivilprozessrecht geschützt werden. Dies hat der EuGH in seiner Rechtsprechung zum Verbraucher- und Finanzdienstleistungsvertragsrecht wiederholt herausgestellt.24 Vor allem kann die unionale Vertragsfreiheit selbst nur praktisch wirksam werden,25 wenn privatrechtliche Verträge, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, mithilfe des nationalen Verfahrensrechts durchsetzbar sind. Denn soweit das Unionsrecht die Freiheit, Verträge zu schließen, gewährleistet, fällt notwendig auch der Vertrag als Ergebnis dieser privatautonomen Willensbetätigung in den Schutzbereich der Vertragsfreiheit.26 Hier treffen die EU-Mitgliedstaaten unionsgrundrechtliche Leistungs- und Schutzpflichten, die neben den allgemeinen Justizgewährleistungsanspruch aus Art. 47 GRCh treten: Die unionale Vertragsfreiheit gebietet damit insbesondere, dass vom Geltungsbereich des Unionsrechts erfasste Verträge nach nationalem Zivilprozessrecht klag- und vollstreckbar sind.27 Vor diesem Hintergrund ist auch die Forderung des EuGH zu sehen, dass grundsätzlich bei allen in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallenden vertraglichen Verpflichtungen die „Erfüllung einklagbar sein“ muss.28 Auf diese Weise wird die materiellrechtliche Vertragsfreiheit zivilprozessual abgesichert: Schließlich ist diese unionsgrundrechtlich garantierte Freiheit überhaupt erst dann vollumfänglich werthaltig, wenn die im Vertrag ausgedrückte Selbstbestimmung der Parteien auch von den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen – einschließlich ihres jeweiligen Zivilverfahrensrechts 24 Vgl. zum Verbrauchervertragsrecht z. B. EuGH Urt. v. 3.10.2013 – Rs. C-32/12 (Duarte Hueros), EU:C:2013:637 Rn. 34 ff. (Verbrauchsgüterkaufrichtlinie). Vgl. zum Finanzdienstleistungsvertragsrecht nur EuGH Urt. v. 27.3.2014 – Rs. C-565/12 (Crédit Lyonnais), EU:C:2014:190 Rn. 43 ff.; EuGH Urt. v. 21.4.2016 – Rs. C-377/14 (Radlinger), EU: C:2016:283 Rn. 48 ff. (jeweils zur Verbraucherkreditrichtlinie). 25 Siehe zur unionalen Vertragsfreiheit als Bezugspunkt des Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatzes erneut oben Kapitel 5 § 1 B I. 26 Siehe zum Schutzbereich oben Kapitel 2 § 3 A. 27 So zur Einwirkung der Grundrechte des Grundgesetzes bereits Höfling, Vertragsfreiheit (1991), S. 22 und 31; M.-P. Weller, Die Vertragstreue (2009) S. 180 ff. Laut EuGH Urt. v. 16.12.2008 – Rs. C-47/07 P (Masdar), Slg. 2008, I-9761 Rn. 50 gebietet darüber hinaus auch Art. 47 GRCh, dass für jeden unionsrechtlich fundierten Anspruch (hier: aus ungerechtfertigter Bereicherung) eine prozessuale Durchsetzungsmöglichkeit existiert. Vgl. zur Durchsetzbarkeit von Verträgen als Ausfluss der grundrechtlichen Gewährleistungen in Art. 2 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG in der deutschen Rechtsordnung auch z. B. BVerfG Beschl. v. 2.3.1993 – Az. 1 BvR 249/92, BVerfGE 88, 118, 123 ff; BGH Beschl. v. 13.2.2014 – Az. VII ZB 39/13, NJW 2014, 3160, 3161. 28 Mit Blick auf einen dem unionalen Vergaberecht unterliegenden Bauvertrag will der EuGH Urt. v. 25.3.2010 – Rs. C-451/08 (Müller), Slg. 2010, I-2673 Rn. 62 sodann nur „die Modalitäten für die Erfüllung solcher Verpflichtungen im Einklang mit dem Grundsatz der Autonomie dem nationalen Recht überlassen“.

§ 1 Die verfahrensrechtliche Dimension der Materialisierung

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– anerkannt und durchgesetzt wird.29 Dies lässt sich als eine erste, wenngleich sehr weit gesteckte Form der Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit mit den Instrumenten des nationalen Zivilprozessrechts fassen. II. Kompensation fehlender rechtsgeschäftlicher Selbstbestimmungschancen Die unionsrechtliche Einwirkung beschränkt sich indes nicht auf die Vorgabe, dass privatrechtliche Verträge im Anwendungsbereich des EU-Rechts überhaupt durchsetzungsfähig sein müssen. Vielmehr wird das nationale Zivilprozessrecht potenziell auch dann unionsrechtlich überformt, wenn die Materialisierungsinstrumente des materiellen EU-Schuldvertragsrechts ihre Wirkungen bislang nicht entfalten konnten. Zu denken ist dabei insbesondere an Prozesslagen, in denen eine Partei aus Unkenntnis nicht hinreichend die ihr günstigen Tatsachen vorträgt oder die Geltendmachung ihrer Rechte oder Einwendungen versäumt.30 Hinzu treten Konstellationen, in denen das nationale Zivilverfahrensrecht die Berücksichtigung solcher materiellrechtlicher Gesichtspunkte nicht (mehr) erlaubt. Hier kann sowohl die Effektivität des jeweiligen unionsprivatrechtlichen Materialisierungsinstruments als auch die Schutzpflichtendimension der unionalen Vertragsfreiheit eine bestimmte Handhabung des nationalen Zivilprozessrechts erfordern. Der Effektivitätsgrundsatz verlangt insoweit nach einer Materialisierung mithilfe prozessrechtlicher Instrumente, als auf Ebene des materiellen Rechts allein kein unionsrechtskonformes Ergebnis erzielt werden kann. Ebenso können auch die aus dem Unionsgrundrecht der Vertragsfreiheit folgenden Schutzpflichten gebieten, dass der Schauplatz der Materialisierung auf die Ebene des nationalen Zivilverfahrensrechts verlagert wird. Dass im Geltungsbereich des EU-Rechts unionsgrundrechtliche (Schutz)Pflichten 29 Vgl. wiederum nur M.-P. Weller, Die Vertragstreue (2009) S. 180 ff. Eine aus Sicht des Unionsrechts grundsätzlich hinnehmbare Grenze der Durchsetzung unionsrechtlich fundierter vertraglicher Rechte bilden dabei die materiellrechtlichen Hemmnisse und Unwirksamkeitstatbestände ebenso wie auch etwaige prozessrechtliche Anforderungen und Durchsetzungshindernisse, vgl. mit Blick auf die Unionsrechtskonformität der Verwirkung z. B. EuGH Urt. v. 13.2.2014 – Rs. C-479/12 (H. Gautzsch Großhandel), EU:C:2014:75 Rn. 50 und siehe zum Antragsgrundsatz sowie zur Dispositionsmaxime nur EuGH Urt. v. 14.12.1995 – verb. Rs. C-430/93 u. a. (van Schijndel u. a.), Slg. 1995, I-4705 Rn. 22. Siehe dagegen aber auch EuGH Urt. v. 3.10.2013 – Rs. C-32/12 (Duarte Hueros), EU:C:2013: 637 Rn. 34 ff. 30 So betont z. B. im Kontext der Klauselrichtlinie schon EuGH Urt. v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 u. a. (Océano Grupo u. a.), Slg. 2000, I-4941 Rn. 25 „die nicht zu unterschätzende Gefahr, daß der Verbraucher die Mißbräuchlichkeit der ihm entgegengehaltenen Klausel vor allem aus Unkenntnis nicht geltend macht“. Deutlich sodann auch EuGH Urt. v. 21.11.2002 – Rs. C-473/00 (Cofidis), Slg. 2002, I-10875 Rn. 34: „Somit erstreckt sich der den Verbrauchern durch die Richtlinie gewährte Schutz auf alle Fälle, in denen sich der Verbraucher […] nicht auf die Missbräuchlichkeit dieser Klauseln beruft, weil er […] seine Rechte nicht kennt“.

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Kapitel 6 – Materialisierung durch Zivilprozessrecht

bei der Anwendung der deutschen ZPO zu beachten sind, setzen nunmehr sowohl der EuGH als auch der BGH voraus.31 Das Ziel dieser Intervention auf Ebene des Prozessrechts läuft dabei mit demjenigen der materiellrechtlichen Materialisierungsinstrumente gleich: Soweit der Schuldvertrag aus Sicht des Unionsprivatrechts nicht Ausdruck von Selbstbestimmung im anspruchvollen Sinne ist, muss zugunsten der betroffenen (Prozess)Partei ein unionsrechtskonformes Ergebnis im Rahmen des Zivilverfahrens erzielt werden. Dies kann beispielsweise dadurch geschehen, dass Verbraucherrechte von Amts wegen geprüft und die zugrunde liegenden Tatsachen erforderlichenfalls durch das Gericht selbst ermittelt werden.32 Schließlich mögen auf unionalen Materialisierungsinstrumenten beruhende Einwendungen gegen einen titulierten Anspruch auch noch im Stadium der Zwangsvollstreckung zu berücksichtigen sein.33 In solchen Konstellation setzt sich die Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit damit bis in das nationale Zivilprozessrecht fort, dem sodann die Rolle zufällt, Beeinträchtigungen der tatsächlichen Selbstbestimmungschance 31 Vgl. zur Einwirkung der Unionsgrundrechte auf das deutsche Zivilprozessrecht im Kontext der Prozesskostenhilfe gemäß §§ 114 ff. ZPO nur EuGH Urt. v. 22.12.2010 – Rs. C-279/09 (DEB), Slg. 2010, I-13849 Rn. 27 und insbesondere Rn. 29 ff. sowie 59 ff. Laut EuGH Urt. v. 16.7.2015 – Rs. C-580/13 (Coty), EU:C:2015:485 Rn. 22 ff. gebietet Art. 8 Richtlinie 2004/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums, ABl. 2004 L 157/45 gerade im Lichte der Unionsgrundrechte in Art. 17 und Art. 47 GRCh, dass eine Bank dem Markenrechtsinhaber die Identität des Rechtsverletzers offenlegen muss, wenn Letzterer im Zusammenhang mit der Markenrechtsverletzung stehende Transaktionen über ein bei der Bank geführtes Konto abgewickelt hat. Um diesen Vorgaben zu genügen, legt der BGH Urt. v. 21.10.2015 – Az. I ZR 51/12, NJW 2016, 2190, 2191 und 2193 den der Richtlinienumsetzung dienenden § 19 Abs. 2 MarkenG ebenso wie auch die angrenzende Regelung des deutschen Zivilprozessrechts im Interesse der praktischen Wirksamkeit des EURechts sowohl richtlinien- als auch unionsgrundrechtskonform aus: „Mit dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf nach Art. 47 und dem Schutz des geistigen Eigentums nach Art. 17 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union stehen nationale Vorschriften – vorliegend § 19 Abs. 2 Satz 1 MarkenG i. V. m. § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO – nicht in Einklang, die eine unbegrenzte und bedingungslose Berufung auf das Bankgeheimnis und die damit geschützten personenbezogenen Daten erlauben […]. Vielmehr müssen die kollidierenden Grundrechte – auf Seiten der Klägerin die Grundrechte auf Schutz des geistigen Eigentums und auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf Seiten der beklagten Sparkasse auf Schutz personenbezogener Daten ihrer Kunden nach Art. 8 EUGrundrechtecharta – in ein angemessenes Gleichgewicht gebracht werden […]. Dabei ist in die Abwägung zugunsten der Beklagten auch deren Recht auf Berufsfreiheit nach Art. 15 EU-Grundrechtecharta einzubeziehen. Insoweit sind § 19 Abs. 2 Satz 1 MarkenG und § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO unter Berücksichtigung der kollidierenden Grundrechte unionsrechtskonform auszulegen“ (Herv. d. Verf.). 32 Siehe hierzu sogleich eingehend unten § 2 B. 33 Siehe dazu näher unten § 3.

§ 2 Materialisierungstendenzen und Prozessmaximen der ZPO

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zu kompensieren und einen den Anforderungen der unionalen Vertragsfreiheit genügenden Zustand herzustellen. Wichtige Anwendungsfälle dieser Form der Materialisierung werden im Folgenden mit Blick auf das deutsche Zivilprozessrecht beleuchtet.

§ 2 Materialisierungstendenzen und Prozessmaximen der ZPO § 2 Materialisierungstendenzen und Prozessmaximen der ZPO

Die Instrumente des unionalen Schuldvertragsrechts, die der Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit dienen, müssen unter dem Eindruck des Effektivitätsgrundsatzes und unionsgrundrechtlicher Schutzpflichten zunehmend auch durch das mitgliedstaatliche Zivilprozessrecht flankiert werden. Während die Unionsrechtsordnung die Prozessmaximen der deutschen ZPO zwar anerkennt (A), werden diese Maximen zuweilen insbesondere im Erkenntnisverfahren unionsrechtlich überlagert (B). Stark ausdifferenziert ist in diesem Punkt die Rechtsprechung des EuGH zum Verbrauchervertragsrecht: Hier durchbricht der Gerichtshof zunächst den Dispositions- und Antragsgrundsatz dahingehend, dass bestimmte Materialisierungsinstrumente von Amts wegen angewendet werden müssen.34 Hinzu kommt, dass der EuGH auch die Beibringung des Prozessstoffs insoweit nicht allein den Parteien überlässt, als die Sachverhaltselemente Voraussetzung für die Anwendung der verbrauchervertraglichen Materialisierungsinstrumente sind.35 Damit erzwingt der Gerichtshof einen bereichsspezifischen Schwenk des mitgliedstaatlichen Zivilprozesrechts hin zum Untersuchungsgrundsatz. Hierdurch droht die kontradiktorische Natur des Verfahrens in Frage gestellt zu werden, weshalb es dringend eines Korrektivs bedarf (C). A. Unionsrechtliche Anerkennung von Dispositions-, Verhandlungs- und Beschleunigungsgrundsatz Der Unionsrechtsordnung ist die Dispositionsmaxime nebst dem hieraus folgenden Antragsgrundsatz (I) ebenso bekannt wie die Verhandlungsmaxime (II) sowie der Konzentrations- und Beschleunigungsgrundsatz (III).

34 Vgl. nur EuGH Urt. v. 1.10.2015 – Rs. C-32/14 (ERSTE Bank Hungary), EU:C: 2015:637 Rn. 42. Vgl. auch schon EuGH Urt. 4.6.2009 – Rs. C-243/08 (Pannon), Slg. 2009, I-4713 Rn. 24; EuGH Urt. v. 21.2.2013 – Rs. C-472/11 (Banif Plus Bank), EU:C: 2013:88 Rn. 36. 35 Vgl. nur EuGH Urt. v. 9.11.2010 – Rs. C-137/08 (VB Pénzügyi Lízing), Slg. 2010, I10847 Rn. 45 und 56; EuGH Urt. v. 4.6.2015 – Rs. C-497/13 (Faber), EU:C:2015:357 Rn. 46.

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I. Dispositionsmaxime und Antragsgrundsatz als „Vertragsfreiheit im Prozess“ Da Zivilverfahren im Regelfall allein der Durchsetzung privater Rechte dienen, bleiben das „Ob“ und „Wie“ der Prozessführung den Parteien überlassen: Ebenso wie die Privatautonomie die Gestaltung der materiellen Rechtslage ermöglicht, überantwortet die Dispositionsmaxime sowohl die Einleitung als auch insbesondere Art und Umfang der prozessualen Rechtsdurchsetzung der Autonomie der Parteien.36 Der Dispositionsgrundsatz ist damit die zivilprozessuale Entsprechung der materiellrechtlichen Privatautonomie.37 Gerade weil die EU-Rechtsordnung die Vertragsfreiheit als Unionsgrundrecht gewährleistet, erkennt sie die Parteidisposition im Zivilprozess gleichermaßen an: „Die Gemeinschaftsrechtsordnung wie auch die Rechtsordnungen ihrer Mitgliedstaaten beruhen nämlich auf dem Gedanken der Freiheit und der Eigenverantwortung des Individuums. Ihnen ist gemeinsam, dass sie ihm die Entscheidung überlassen, wie es seine schutzwürdigen Interessen am besten wahrt. Ausfluss dieser Freiheit bei der Wahrung eigener Rechte ist der Dispositionsgrundsatz als prozessuales Korrelat zur materiellrechtlichen Privatautonomie. Dieser auch im Prozessrecht der Europäischen Union anerkannte Grundsatz besagt, dass es allein Sache der Parteien ist, ein Verfahren zu beginnen, zu beenden und den Streitgegenstand zu verändern“.38

In der Tat werden nicht nur die mitgliedstaatlichen Zivilprozessrechte,39 sondern auch die Verfahrensordnung der Unionsgerichte von der Dispositionsmaxime beherrscht: „Aus den Vorschriften, die das Verfahren vor den Unionsgerichten regeln […], ergibt sich, dass der Rechtsstreit grundsätzlich von den Parteien bestimmt und begrenzt wird“.40

Auch bei Zivilverfahren, die unionsprivatrechtliche Ansprüche zum Gegenstand haben, betont der EuGH, dass im „Grundsatz […] die Initiative in einem Prozess den Parteien zusteht“.41 Eine zentrale Facette der Dispositionsmaxime ist dabei der Antragsgrundsatz: Demnach obliegt es den Parteien als Siehe hierzu sowie zu den eng umgrenzten Ausnahmen statt aller Musielak / Voit /  Musielak (2016), Einl. Rn. 35. 37 Siehe wiederum nur Musielak / Voit / Musielak (2016), Einl. Rn. 35. 38 GA Trstenjak Schlussanträge v. 28.3.2007 – Rs. C-331/05 P (Internationaler Hilfsfonds), Slg. 2007, I-5475 Rn. 93 (Herv. d. Verf.). 39 Siehe rechtsvergleichend nur R. Stürner, FS Kollhosser II (2004), S. 727 ff. Auch GA Poiares Maduro Schlussanträge v. 23.5.2007 – Rs. C-438/05 (Viking), Slg. 2007, I10779 Rn. 52 betont das allen mitgliedstaatlichen Zivilprozessrechtsordnungen „gemeinsame Merkmal, dass die Verfahrensbeteiligten zuvörderst dafür verantwortlich sind, den Inhalt und den Umfang ihres Rechtsstreits einzugrenzen“. 40 Z. B. EuGH Urt. v. 10.12.2013 – Rs. C-272/12 P (Kommission / Irland), EU:C:2013: 812 Rn. 27 f. und Rn. 20. Vgl. ferner nur EuGH Urt. v. 11.7.2013 – Rs. C-439/11 P (Ziegler/Kommission), EU:C:2013:513 Rn. 84. 41 EuGH Urt. v. 17.12.2009 – Rs. C-227/08 (Martín), Slg. 2009, I-11939 Rn. 20. 36

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Herren des Verfahrens, welche Angriffs- und Verteidigungsmittel sie im Zivilprozess geltend machen.42 Die Gerichte sind sodann an die Anträge der Parteien gebunden und dürfen grundsätzlich nicht über das Geforderte hinausgehen (ne ultra petita).43 II. Verhandlungsgrundsatz Darüber hinaus ist nach dem Verhandlungs- bzw. Beibringungsgrundsatz die Eingrenzung des Prozessstoffes Sache der Parteien: Letztere müssen in dem durch das Zivilverfahrensrecht gesteckten Rahmen alle jene Tatsachen rechtzeitig vortragen, die der gerichtlichen Entscheidung zugrunde gelegt werden sollen.44 Die Unionsrechtsordnung erkennt ebenfalls an, dass die faktische Basis des „Rechtsstreit[s] grundsätzlich von den Parteien bestimmt und begrenzt wird“.45 Entsprechend sieht der EuGH z. B. ein Zivilgericht in erster Linie dann zur Prüfung einer Vertragsbestimmung am Maßstab der Klauselrichtlinie gehalten, wenn es nach dem Vortrag der Parteien „über die hierzu erforderlichen […] tatsächlichen Grundlagen verfügt“.46 Auch in Verfahren mit Bezügen zum Unionsprivatrecht gilt damit im Ausgangspunkt der „Beibringungsgrundsatz im Zivilprozess“.47

Statt vieler Musielak / Voit / Musielak (2016), Einl. Rn. 37 f. Siehe wiederum nur EuGH Urt. v. 10.12.2013 – Rs. C-272/12 P (Kommission/Irland), EU:C:2013:812 Rn. 27 f. und Rn. 20, der zum unionalen Verfahrensrecht hervorhebt, dass „der Unionsrichter nicht ultra petita entscheiden darf […]. [E]in Klagegrund […] darf […] vom Unionsrichter nur geprüft werden, wenn sich der Kläger darauf beruft“. 44 Vgl. zum deutschen Zivilprozessrecht nur § 282 ZPO. 45 Vgl. wiederum EuGH Urt. v. 10.12.2013 – Rs. C-272/12 P (Kommission / Irland), EU:C:2013:812 Rn. 27 f. und Rn. 20. 46 Z. B. EuGH Urt. 4.6.2009 – Rs. C-243/08 (Pannon), Slg. 2009, I-4713 Rn. 32; EuGH Urt. v. 6.10.2009 – Rs. C-40/08 (Asturcom Telecomunicaciones), Slg. 2009, I-9579 Rn. 53 (Herv. d. Verf.). 47 In diesem Sinne GA Trstenjak Schlussanträge v. 14.2.2012 – Rs. C-618/10 (Banco Español de Crédito), EU:C:2012:74 Rn. 33. Siehe auch schon GA Trstenjak Schlussanträge v. 6.7.2010 – Rs. C-137/08 (VB Pénzügyi Lízing), Slg. 2010, I-10847 Rn. 110: „Dem Gemeinschaftsrecht lässt sich keine Bestimmung entnehmen, die den nationalen Richter verpflichten würde, von sich aus Ermittlungen anzustellen, um sich die zur Beurteilung des missbräuchlichen Charakters einer Vertragsklausel erforderlichen rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen zu verschaffen, wenn diese nicht zur Verfügung stehen. Die Befugnisse des nationalen Richters bestimmen sich vielmehr nach nationalem Prozessrecht. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass das Zivilverfahren im Recht der Mitgliedstaaten durch den Verhandlungsgrundsatz geprägt ist, nach dem es den Parteien obliegt, alle relevanten Tatsachen vorzubringen, auf deren Grundlage das Gericht dann eine Entscheidung zu fällen hat“. 42 43

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Kapitel 6 – Materialisierung durch Zivilprozessrecht

III. Konzentrations- und Beschleunigungsgrundsatz Der Beschleunigungsgrundsatz wird in der Unionsrechtsordnung schon deshalb anerkannt, weil Art. 47 GRCh ein Recht auf ein zügiges Gerichtsverfahren grundrechtlich garantiert: Sämtliche Gerichte der Union und ihrer Mitgliedstaaten müssen binnen angemessener Frist entscheiden, was eine rasche, effiziente und damit notwendigerweise konzentrierte Durchführung des Verfahrens erfordert.48 Entsprechend scheint der Konzentrations- und Beschleunigungsgrundsatz nicht zuletzt in der Verfahrensordnung der Unionsgerichte auf.49 Insgesamt nimmt es daher nicht Wunder, dass laut EuGH weder der Konzentrations- und Beschleunigungsgrundsatz noch der Dispositions- und Verhandlungsgrundsatz bei der Durchsetzung unionaler Rechte durch nationale Zivilgerichte per se unionsrechtlichen Bedenken begegnen.50 Allerdings können diese Prozessmaximen der deutschen ZPO im Einzelfall kraft des Effektivitätsprinzips sowie unter dem Einfluss der Unionsgrundrechte eingeschränkt werden. B. Unionsrechtliche Überlagerung der Prozessmaximen in Verfahren mit Verbraucherbeteiligung Der Gerichtshof betont in seiner mittlerweile gefestigten Rechtsprechung zum Verbrauchervertragsrecht, dass mitgliedstaatliche Zivilgerichte bestimmte Materialisierungsinstrumente von Amts wegen anwenden müssen. Neben dieser Aufweichung des Dispositions- und Antragsgrundsatzes (I) verlangt der EuGH auch eine Abkehr von der Verhandlungsmaxime (II), soweit die effektive Durchsetzung des unionalen Verbraucherrechts die richterliche Erforschung der Tatsachengrundlagen erfordert. Schließlich mag das Unions48 In diesem Sinne z. B. eine EuGH Urt. v. 16.7.2009 – Rs. C-385/07 (Grüner Punkt), Slg. 2009, I-6155 Rn. 180 ff. Dazu eingehend statt aller Jarass (2016), Art. 47 GRCh Rn. 42 ff. 49 Vgl. insbesondere Art. 61 und Art. 105 ff. Verfahrensordnung des Gerichtshofs vom 25. September 2012, ABl. 2012 L 265/1 in der Fassung der Änderung der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vom 18. Juni 2013, ABl. 2013 L 173/65; Art. 76a Verfahrensordnung des Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften vom 2. Mai 1991, ABl. 1991 L 136/1 in der Fassung der Änderung der Verfahrensordnung des Gerichts vom 19. Juni 2013, ABl. 2013 L 173/66. Vgl. zur Konzentrationsmaxime nur GA Lenz Schlussanträge v. 12.4.1984 – Rs. 111/83 (Picciolo / Parlament), Slg. 1984, 2341, 2343. Vgl. zu Verfahrensbeschleunigung v. d. Groeben / Schwarze / Hatje / Hackspiel (2015), Art. 20 EuGH-Satzung Rn. 9. Auch im Übrigen sind diese Grundsätze der Verfahrensbeschleunigung in der Unionsrechtsordnung präsent, vgl. nur EuG Urt. v. 24.3.1994 – Rs. T-3/93 (Air France / Kommission), Slg. 1994, II-121 Rn. 67; EuGH Urt. v. 16.7.2009 – Rs. C-385/07 (Grüner Punkt), Slg. 2009, I-6155 Rn. 180 ff. 50 Vgl. z. B. EuGH Urt. v. 14.12.1995 – verb. Rs. C-430/93 u. a. (van Schijndel u. a.), Slg. 1995, I-4705 Rn. 20 ff. Siehe auch GA Kokott Schlussanträge v. 28.2.2013 – Rs. C32/12 (Duarte Hueros), EU:C:2013:128 Rn. 32.

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recht auch Einfluss auf Vorschriften nehmen, die Ausdruck des Konzentrations- und Beschleunigungsgrundsatzes sind (III): Hervorzuheben ist hierbei die Präklusion nach § 296 ZPO sowie die nach §§ 529 ff. ZPO begrenzte Tatsachenerfassung und -bewertung im Rechtsmittelverfahren. I. Durchbrechung des Dispositions- und Antragsgrundsatzes: Anwendung der Materialisierungsinstrumente von Amts wegen Im Kontext der Klauselrichtlinie hat der EuGH eine Pflicht der mitgliedstaatlichen Gerichte zur amtswegigen Prüfung missbräuchlicher Vertragsklauseln entwickelt. Nachdem diese richterliche Intervention zunächst als bloße Option behandelt wurde,51 entspricht es seit den Rechtssachen Mostaza Claro52 und Pannon53 der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass „das nationale Gericht von Amts wegen die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel, die in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt, prüfen und damit der Unausgewogenheit zwischen dem Verbraucher und dem Gewerbetreibenden abhelfen muss“.54

Diese Verpflichtung zur amtswegigen Prüfung hat der Gerichtshof in der Folge auf das gesamte unionale Verbrauchervertragsrecht ausgeweitet: Alle der Umsetzung der Klausel-, Vebraucherkredit-,55 Verbraucherrechte-56 und der Ver51 In EuGH Urt. v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 u. a. (Océano Grupo u. a.), Slg. 2000, I-4941 Rn. 25 ff. und insbesondere 28 f.; EuGH Urt. v. 21.11.2002 – Rs. C-473/00 (Cofidis), Slg. 2002, I-10875 Rn. 32 ff. betont der Gerichtshof lediglich, dass „das nationale Gericht von Amts wegen prüfen kann, ob eine Klausel des ihm vorgelegten Vertrags missbräuchlich ist“ (Herv. d. Verf.). 52 Siehe mit Blick auf eine Schiedsklausel EuGH Urt. v. 26.10.2006 – Rs. C-168/05 (Mostaza Claro), Slg. 2006, I-10421 Rn. 27 ff. und insbesondere 38 („von Amts wegen die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel prüfen […] muss“). 53 Siehe zu einer Gerichtsstandsklausel EuGH Urt. 4.6.2009 – Rs. C-243/08 (Pannon), Slg. 2009, I-4713 Rn. 35. Ebenso sodann auch EuGH Urt. v. 9.11.2010 – Rs. C-137/08 (VB Pénzügyi Lízing), Slg. 2010, I-10847 Rn. 56. Im Rahmen der Prüfung eines unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs betont EuGH Urt. v. 28.7.2016 – Rs. C-168/15 (Tomášová), EU:C:2016:602 Rn. 29 f. allerdings, der Gerichtshof habe erst in der Rechtssache Pannon wirklich „eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass sich die dem nationalen Gericht vom Unionsrecht zugewiesene Aufgabe nicht auf die bloße Befugnis beschränkt, über die etwaige Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel zu entscheiden, die in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt, sondern auch die Verpflichtung umfasst, diese Frage von Amts wegen zu prüfen“ (Herv. d. Verf.). 54 Siehe – mit Blick auf sämliche Klauseltypen – zuletzt z. B. EuGH Urt. v. 14.6.2012 – Rs. C-618/10 (Banco Español de Crédito), EU:C:2012:349 Rn. 42 f.; EuGH Urt. v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 (Aziz), EU:C:2013:164 Rn. 46; EuGH Urt. v. 1.10.2015 – Rs. C32/14 (ERSTE Bank Hungary), EU:C:2015:637 Rn. 41; EuGH Urt. v. 21.4.2016 – Rs. C377/14 (Radlinger), EU:C:2016:283 Rn. 52 (Herv. d. Verf.). Siehe statt vieler auch MünchKommBGB / Basedow (2016), Vor § 305 BGB Rn. 39. 55 Vgl. nur EuGH Urt. v. 4.10.2007 – Rs. C-429/05 (Rampion), Slg. 2007, I-8017 Rn. 60 ff. und insbesondere 65.

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Kapitel 6 – Materialisierung durch Zivilprozessrecht

brauchsgüterkaufrichtlinie57 dienenden Vorschriften sind nunmehr von Amts wegen durch den mitgliedstaatlichen Richter zu prüfen. Der EuGH fasst den derzeitigen Stand der Rechtsentwicklung daher wie folgt zusammen: „Der Gerichtshof hat […] auf der Grundlage des Grundsatzes der Effektivität ungeachtet entgegenstehender innerstaatlicher Rechtsvorschriften die Anforderung gestellt, dass das nationale Gericht von Amts wegen bestimmte Vorschriften anwendet, die in Richtlinien der Union auf dem Gebiet des Verbraucherschutzes enthalten sind“.58

Bedeutsam sind diese Vorgaben des Gerichtshofs zunächst für diejenigen mitgliedstaatlichen Prozessrechtsordnungen, die in gewissem Rahmen auch ein Vorbringen der Parteien zu den materiellrechtlichen Anspruchsgrundlagen und Einwendungen verlangen.59 Hingegen ergeben sich aus der Verpflichtung zur Prüfung des Verbrauchervertragsrechts von Amts wegen für deutsche Zivilgerichte auf den ersten Blick keine Veränderungen: Deutsche Richter sind ohnehin zur Kenntnis und gegebenenfalls amtswegigen Erforschung des inländischen Rechts, einschließlich des hierauf einwirkenden Unionsrechts, verpflichtet.60 Das deutsche Zivilprozessrecht folgt damit dem Prinzip iura novit curia bzw. da mihi factum, dabo tibi ius.61 1. Drohende Erosion des Antragsgrundsatzes zugunsten einer Legalitätskontrolle anhand des EU-Verbrauchervertragsrechts Allerdings bricht der EuGH durch die Verpflichtung zur amtswegigen Prüfung des EU-Verbrauchervertragsrechts zugleich potenziell mit dem im Unionsrecht anerkannten Antragsgrundsatz als einem zentralen Element der Dispositionsmaxime: Denn „ohne einen entsprechenden Antrag des Verbrauchers abzuwarten“, müsse

Siehe noch zur Haustürgeschäfterichtlinie z. B. EuGH Urt. v. 17.12.2009 – Rs. C227/08 (Martín), Slg. 2009, I-11939 Rn. 19 ff. Siehe auch GA Trstenjak Schlussanträge v. 7.5.2009 – Rs. C-227/08 (Martín), Slg. 2009, I-11939 Rn. 71 ff. 57 Z. B. EuGH Urt. v. 3.10.2013 – Rs. C-32/12 (Duarte Hueros), EU:C:2013:637 Rn. 34 ff.; EuGH Urt. v. 4.6.2015 – Rs. C-497/13 (Faber), EU:C:2015:357 Rn. 37 ff. 58 EuGH Urt. v. 4.6.2015 – Rs. C-497/13 (Faber), EU:C:2015:357 Rn. 42 (Herv. d. Verf.). 59 Solange keine Partei die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel geltend machte, sperrte sich z. B. die französische Cour de Cassation lange Zeit gegen eine Klauselkontrolle von Amts wegen, siehe nur Cass. 1re civ. v. 15.2.2000 – n° 98-12.713, D. 2000, 275. Als Reaktion auf die Vorgaben des EuGH hat der französische Gesetzgeber erst durch Art. 81 Loi du 17 mars 2014 relative à la consommation eine umfassende amtswegige Prüfung des unionalen Verbrauchervertragsrechts angeordnet. 60 Vgl. nur BGH Urt. v. 15.7.2008 – Az. VI ZR 105/07, BGHZ 177, 237, 239 ff. Siehe dazu statt aller Saenger / Saenger (2015), § 293 ZPO Rn. 1. 61 Siehe nur Stein / Jonas / Kern (2016), Vor § 128 ZPO Rn. 160; MünchKommZPO /  Prütting (2016), § 293 ZPO Rn. 2. 56

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„das nationale Gericht, das die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel von Amts wegen festgestellt hat, […] alle Konsequenzen [ziehen], die sich nach nationalem Recht aus dieser Feststellung ergeben“.62

Dies ist in Konstellationen weniger problematisch, in denen der Verbraucher als Beklagter ohnehin allgemein die Abweisung der Klage des Unternehmers beantragt hat und ein – von Amts wegen durch den Richter zu berücksichtigendes – unionsprivatrechtliches Materialisierungsinstrument dem Konsumenten eine Einwendung gibt. Anders liegt der Fall jedoch, wenn der Verbraucher als (Wider)Kläger auftritt. Hier fordert der EuGH zum einen ebenfalls die amtswegige Anwendung „bestimmte[r] Vorschriften […], die in Richtlinien der Union auf dem Gebiet des Verbraucherschutzes enthalten sind“.63 Zum anderen deutet der EuGH an, dass ein nationales Zivilgericht selbst dann eine Rechtsfolge ausurteilen muss, die sich aus dem unionalen Verbrauchervertragsrecht ergibt, wenn der klagende Verbraucher keinen entsprechenden Antrag gestellt hat.64 Konsequent zu Ende gedacht, fordert der EuGH im Zivilprozess damit nicht weniger als eine allgemeine Legalitätskontrolle am Maßstab des unionalen Verbrauchervertragsrechts.65 In diese Richtung deutet auch Generalanwältin Trstenjak, wenn sie betont, dass in allen vertraglichen Streitigkeiten „dem nationalen Gericht zumindest ein Exemplar des Verbrauchervertrags als wichtigstes Beweisstück für die geltend gemachten Ansprüche zur Verfügung gestellt wird […]. Das nationale Gericht wäre somit in der Lage, seine Verpflichtung zur amtswegigen Prüfung der Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel wahrzunehmen“.66

EuGH Urt. v. 1.10.2015 – Rs. C-32/14 (ERSTE Bank Hungary), EU:C:2015:637 Rn. 42 (Herv. d. Verf.). Siehe auch schon EuGH Urt. 4.6.2009 – Rs. C-243/08 (Pannon), Slg. 2009, I-4713 Rn. 24; EuGH Urt. v. 21.2.2013 – Rs. C-472/11 (Banif Plus Bank), EU: C:2013:88 Rn. 36. 63 EuGH Urt. v. 4.6.2015 – Rs. C-497/13 (Faber), EU:C:2015:357 Rn. 42. In der Rolle des Klägers trat ein Verbaucher zudem beispielsweise in EuGH Urt. v. 3.10.2013 – Rs. C32/12 (Duarte Hueros), EU:C:2013:637 auf. 64 In diese Richtung deutet EuGH Urt. v. 3.10.2013 – Rs. C-32/12 (Duarte Hueros), EU:C:2013:637 Rn. 34 ff. und insbesondere 39 ff.: Der Effektivitätsgrundsatz kann gebieten, dass ein Zivilgericht einem Verbraucher von Amts wegen einen Anspruch auf Minderung des Kaufpreises im Sinne der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie zuspricht, obwohl der Konsument allein die Rückabwicklung des Vertrags beantragt hat. In der Rechtssache bestand die Besonderheit, dass die Minderung durch das spanische Zivilprozessrecht nicht bereits als „Minus“ in den auf Vertragsrückabwicklung gerichteten Antrag hineingelesen werden konnte. Zum anderen war der Verbraucher durch die spanische Zivilprozessordnung gehindert, seinen Anträg zu ändern, und er konnte aufgrund der weit gesteckten Rechtskraftwirkungen auch keine neue Klage erheben. Siehe auch GA Kokott Schlussanträge v. 28.2.2013 – Rs. C-32/12 (Duarte Hueros), EU:C:2013:128 Rn. 32 ff. 65 Ähnlich Cahn, AcP 198 (1998), 35 ff., 45 und 69 ff., ohne jedoch auf die unionsrechtliche Dimension einzugehen. 62

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Dies droht den Richter mit einer uferlosen, den Antragsgrundsatz aushöhlenden Kompetenz zu belasten. Wenn ein Verbraucher etwa klageweise nur die Erfüllung eines Vertrags – etwa die Übergabe und Übereignung der Kaufsache – begehrt, ohne irgendeine weitergehende Feststellung oder Zahlung zu beantragen, könnte das Gericht nach der Lesart des EuGH nun gehalten sein, von Amts wegen z. B. eine missbräuchliche Klausel über Nebenentgelte in dem Vertragswerk aufzuspüren und vor allem sodann die Unwirksamkeit der betreffenden Klausel festzustellen oder dem Verbraucher gar einen entsprechenden Rückzahlunganspruch zuzusprechen. So befremdlich dies wirkt: Dem Gerichtshof scheint im Ausgangspunkt just diese dem Antragsgrundsatz zuwiderlaufende umfassende Prüfungspflicht der mitgliedstaatlichen Zivilgerichte vorzuschweben.67 Der EuGH erkennt nämlich die in seiner Lösung liegende Gefahr der Beschneidung der prozessualen Privatautonomie des Verbrauchers und sucht Abhilfe zu schaffen. Namentlich soll der Konsument durch das Zivilgericht auf die nach unionalem Verbraucherrecht vorgesehene Rechtsfolge – wie etwa die Unwirksamkeit einer missbräuchlichen Vertragsklausel – hingewiesen werden und dadurch die Möglichkeit erhalten, ebendiese Rechtsfolge „nicht geltend [zu] machen“.68 Ungeachtet dieses Korrektivs wird der Antragsgrundsatz in sein Gegenteil verkehrt, weil der EuGH bereits die Untätigkeit des Verbauchers ausreichen lässt: Ohne jeden Antrag kann die jeweilige Rechtsfolge ausgeurteilt werden, „sofern der Verbraucher dem nicht widerspricht“.69 Damit lädt der EuGH den Zivilgerichten weiterhin die Last auf, potenziell das gesamte Rechtsverhältnis der Prozessparteien auf mögliche Verstöße gegen das Verbrauchervertragsrecht zu überprüfen und dann selbst in dem Fall, dass der Verbraucher auf einen richterlichen Hinweis schweigt, zugunsten des Konsumenten die unionprivatrechtlich vorgesehenen Rechtsfolgen auszuurteilen. Es erscheint allerdings kaum sachgerecht und durch den EuGH intendiert, dass Zivilrichter alle ihnen anlässlich eines Verfahrens mit gänz66 GA Trstenjak Schlussanträge v. 6.7.2010 – Rs. C-137/08 (VB Pénzügyi Lízing), Slg. 2010, I-10847 Rn. 113 (Herv. d. Verf.). Ebenso lässt sich auch die Entscheidung des EuGH Urt. v. 24.4.2016 – verb. Rs. C-381/14 u. a. (Sinués u. a.), EU:C:2016:252 Rn. 24 verstehen, wonach das nationale Zivilgericht gerade „von Amts wegen die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel […] unter Berücksichtigung […] aller anderen Klauseln desselben Vertrags […] prüfen“ muss. Zu beachten ist allerdings, dass im deutschen Zivilprozessrecht gemäß § 131 Abs. 2 ZPO grundsätzlich ein Textauszug aus der Vertragsurkunde genügt, sofern nur dieser Teil relevant ist, statt aller MünchKommZPO / Fritsche (2016), § 131 ZPO Rn. 8. 67 Siehe wiederum EuGH Urt. v. 1.10.2015 – Rs. C-32/14 (ERSTE Bank Hungary), EU:C:2015:637 Rn. 42. 68 EuGH Urt. 4.6.2009 – Rs. C-243/08 (Pannon), Slg. 2009, I-4713 Rn. 33; EuGH Urt. v. 21.2.2013 – Rs. C-472/11 (Banif Plus Bank), EU:C:2013:88 Rn. 35; EuGH Urt. v. 24.4.2016 – verb. Rs. C-381/14 u. a. (Sinués u. a.), EU:C:2016:252 Rn. 25. 69 EuGH Urt. 4.6.2009 – Rs. C-243/08 (Pannon), Slg. 2009, I-4713 Rn. 35.

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lich anderer Zielsetzung vorgelegten Verbraucherverträge in toto beispielsweise auf missbräuchliche Klauseln prüfen und sodann auch noch ex officio dem Verbraucher nicht beantragte Rechtsfolgen zusprechen müssen. Dies gilt umso mehr, als der EuGH die nationalen Zivilgerichte unter bestimmten Voraussetzungen darüber hinaus in der Pflicht sieht, „von Amts wegen eine Untersuchung vorzunehmen, um die […] tatsächlichen Grundlagen festzustellen, die es für die Beurteilung benötigt, […] ob eine Klausel in den Anwendungsbereich der Richtlinie fällt“.70

Wenn demnach die Verhandlungsmaxime als Schranke der Prüfungsverpflichtung des nationalen Richters auszufallen droht,71 besteht Bedarf nach einer anderweitigen Eingrenzung. 2. Sachgerechte Eingrenzung durch den Streitgegenstand In Anlehnung an die EuGH-Entscheidung in der Rechtssache van Schijndel wird die unionsrechtliche Pflicht zur amtswegigen Prüfung des Verbrauchervertragsrechts womöglich „dadurch begrenzt […], daß sich das Gericht an den Streitgegenstand halten […] muß“.72 Mag der Streitgegenstand im EU-Prozessrecht selbst auch nicht immer deckungsgleich mit demjenigen des deutschen Zivilprozessrechts sein,73 so ist die Bindung der Gerichte an den durch die Parteien bestimmten Streitgegenstand jedenfalls auch in der Unionsrechtsordnung anerkannt.74 Dies spricht dafür, dass beispielsweise die durch den EuGH statuierte richterliche Pflicht, einen Verbrauchervertrag von Amts wegen auf missbräuchliche Klauseln hin zu überprüfen, ebenfalls nur so weit reichen kann, wie der 70 EuGH Urt. v. 9.11.2010 – Rs. C-137/08 (VB Pénzügyi Lízing), Slg. 2010, I-10847 Rn. 45 und 56 (Herv. d. Verf.), betont zugleich, dass dies auch dann gilt, „wenn das nationale Recht eine solche Untersuchung nur auf Antrag einer der Parteien zulässt“. 71 Siehe zu dieser Abkehr vom Verhandlungs- und Hinwendung zum Untersuchungsgrundsatz noch sogleich eingehend unten II. 72 EuGH Urt. v. 14.12.1995 – verb. Rs. C-430/93 u. a. (van Schijndel u. a.), Slg. 1995, I-4705 Rn. 20 ff. 73 Vgl. zur Bedeutung im unionalen Wettbewerbsrecht z. B. EuGH, Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-286/11 (Kommission / Tomkins), EU:C:2013:29 Rn. 23 ff. und insbesondere Rn. 43; EuGH Urt. v. 17.9.2015 – Rs. C-597/13 (Total / Kommission), EU:C:2015:613 Rn. 30 ff. und insbesondere Rn. 29 f. Vgl. zu den unterschiedlichen Begrifflichkeiten im Rahmen der Brüssel Ia beispielsweise Erwägungsgrund Nr. 15 Brüssel Ia sowie etwa EuGH Urt. v. 16.6.2016 – Rs. C-12/15 (Universal Music), EU:C:2016:449 Rn. 27. Siehe zu Art. 29 Brüssel Ia und der „Kernpunkttheorie“ des EuGH auch eingehend Kropholler / v. Hein (2011), Art. 27 EuGVO Rn. 6 ff. und 9; Rauscher / Mankowski (2016), Art. 29 Brüssel Ia-VO Rn. 13 ff. sowie 21. 74 Vgl. nur EuGH Urt. v. 10.12.2013 – Rs. C-272/12 P (Kommission / Irland), EU:C: 2013:812 Rn. 27 f. und Rn. 20. Deutlich auch GA Trstenjak Schlussanträge v. 28.3.2007 – Rs. C-331/05 P (Internationaler Hilfsfonds), Slg. 2007, I-5475 Rn. 93.

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Vertrag überhaupt den Streitgegenstand des konkreten Verfahrens bildet. Nach dem – freilich umstrittenen –75 zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff des BGH wird der Streitgegenstand im Rahmen der deutschen Zivilprozessordnung durch das mit dem Klageantrag verfolgte Rechtsschutzbegehren und den zugrundeliegenden Lebenssachverhalt bestimmt.76 Orientiert man die vom EuGH eingeforderte richterliche Intervention an diesem Streitgegenstandverständnis, so kann zum einen verhindert werden, dass der Zivilprozess zu einer allgemeinen Legalitätskontrolle in Bezug auf das unionale Verbrauchervertragsrecht mutiert. Zum anderen wird der Verbraucher bei dieser Lösung mit Blick auf sein konkretes Rechtsschutzbegehren weiterhin durch die unionsrechtlich gebotene amtswegige Intervention des Gerichts unterstützt.77 3. Verwirklichung des Effektivitätsgrundsatzes sowie unionsgrundrechtlicher Schutzpflichten über § 139 ZPO Die Forderung nach einer amtswegigen Prüfung der Materialisierungsinstrumente und der Verzicht auf ausdrückliche Anträge des Verbrauchers ist aus Sicht des EuGH durch den Effektivitätsgrundsatz geboten und dient zudem der Erfüllung unionsgrundrechtlicher, in der Vertragsfreiheit des Konsumenten wurzelnder, Schutzpflichten.78 Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund ist auch die in der ständigen Rechtsprechung des EuGH zum Prozessrecht geprägte Formel zu verstehen, wonach „die bestehende Ungleichheit zwischen Verbraucher und Gewerbetreibendem nur durch ein positives und von den Vertragsparteien unabhängiges Eingreifen des nationalen Gerichts ausgeglichen werden kann“.79

Statt aller Zöller / Vollkommer (2016), Einl. Rn. 61 ff. m. w. N. Siehe in ständiger Rechtsprechung zuletzt z. B. BGH Beschl. v. 3.3.2016 – Az. IX ZB 33/14, NJW 2016, 1818, 1821: „Der Streitgegenstand wird bestimmt durch das Rechtsschutzbegehren (Antrag), in dem sich die vom Kl. in Anspruch genommene Rechtsfolge konkretisiert, und den Lebenssachverhalt (Anspruchsgrund), aus dem der Kl. die begehrte Rechtsfolge herleitet (§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO)“. 77 Im Übrigen steht die hier befürwortete Einschränkung der Prüfungskompetenz durch den Streitgegenstand auch nicht in Konflikt mit dem vom EuGH befürworteten – teilweisen – Schwenk hin zum Untersuchungsgrundsatz (dazu sogleich noch eingehend unten II): Laut BGH Beschl. v. 3.3.2016 – Az. IX ZB 33/14, NJW 2016, 1818, 1821, werden „[v]om Streitgegenstand […] alle materiell-rechtlichen Ansprüche erfasst, die sich im Rahmen des gestellten Antrags aus dem zur Entscheidung unterbreiteten Lebenssachverhalt herleiten lassen. Das gilt unabhängig davon, ob die einzelnen Tatsachen des Lebenssachverhalts von den Parteien vorgetragen worden sind oder nicht“ (Herv. d. Verf.). Entsprechend kann der Streitgegenstandsbegriff der ZPO durchaus auch die in partieller Abkehr vom Verhandlungsgrundsatz durch richterliche Untersuchungen ermittelten Tatsachen einbeziehen. 78 Siehe dazu erneut oben § 1 B II. 79 So zuletzt EuGH Urt. v. 21.4.2016 – Rs. C-377/14 (Radlinger), EU:C:2016:283 Rn. 53 (Herv. d. Verf.) m. w. N. aus der Rechtsprechung. Dabei ist es von der Warte des Effektivitäts75 76

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Sowohl dem unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz als auch den aus dem Unionsgrundrecht der Vertragsfreiheit folgenden Schutzpflichten ist dadurch Rechnung zu tragen, dass das Gericht von seiner Befugnis zur materiellen Prozessleitung und insbesondere von den Hinweismöglichkeiten nach § 139 ZPO Gebrauch macht: Schließlich soll hierdurch verhindert werden, „dass eine Partei aus Irrtum oder Versehen vermeidbare Nachteile in ihrem materiellen Recht erleidet. Hilfestellung für die Parteien und Waffengleichheit sind die tragenden Ideen“.80

Soweit dies zur Durchsetzung unionsrechtlicher Rechte unverzichtbar erscheint, kann auf Basis des dem Gericht unterbreiteten Streitstoffs auch eine Modifikation der Prozess- und Sachanträge angeregt werden: In den durch die ZPO gesteckten Grenzen reicht dies von einer Klageänderung81 über neue Klage- oder Hilfsanträge82 bis hin zur Widerklage.83 Dabei müssen sich die angeregten Änderungen allerdings stets im Rahmen des Prozessbegehrens der jeweiligen Partei bewegen.84 Des Weiteren darf das Gericht auf neue Klagegründe oder auf Einwendungen, die aus unionalen Materialisierungsinstrumenten folgen, hinweisen, soweit diese bereits im Sachvortrag der Parteien angedeutet worden sind.85 Falls jedoch eine Gestaltungserklärung – wie etwa ein Widerruf – erforderlich ist, bleibt dem Gericht der Weg über § 139 ZPO auch dann versperrt, wenn zwar Einwendungstatsachen vorgebracht worden grundsatzes ebenso wie von derjenigen der Unionsgrundrechte zunächst belanglos, mit welchen Mitteln des nationalen Recht ein unions(grund)rechtskonformes Ergebnis erzielt wird: Beide Triebkräfte diktieren nämlich keineswegs „eine spezifische Lösung für jeden Fall, sondern ziehen lediglich bestimmte Grenzen, in deren Rahmen ein Konflikt zwischen zwei Privatrechtssubjekten gelöst werden kann“, vgl. mit Blick auf die Grundfreiheiten GA Poiares Maduro Schlussanträge v. 23.5.2007 – Rs. C-438/05 (Viking), Slg. 2007, I-10779 Rn. 50 f. 80 Prägnant MünchKommZPO / Fritsche (2016), § 139 ZPO Rn. 2. 81 Dies gilt jedenfalls, soweit die Klageänderung nach § 264 zulässig oder nach § 263 ZPO sachdienlich ist, siehe nur MünchKommZPO / Fritsche (2016), § 139 ZPO Rn. 22 ff.; Musielak / Voit / Stadler (2016), § 139 ZPO Rn. 12. Insgesamt zurückhaltender dagegen Stein / Jonas / Kern (2016), § 139 ZPO Rn. 51. 82 Z. B. MünchKommZPO / Fritsche (2016), § 139 ZPO Rn. 25 ff.; Musielak / Voit /  Stadler (2016), § 139 ZPO Rn. 11. 83 Statt vieler MünchKommZPO / Fritsche (2016), § 139 ZPO Rn. 27. Siehe zum Rahmen, innerhalb dessen das Gericht eine Antragsänderung anregen kann, ferner nur Stein /  Jonas / Kern (2016), § 139 ZPO Rn. 50 ff. Siehe zur unionsrechtlich fundierten Hinweispflicht nach § 139 ZPO bei Verbraucherprorogation auch Zöller / Greger (2016), § 139 ZPO Rn. 19. Vgl. schließlich H. Roth, FS Henckel (2015), S. 283, 294 f., der eine allgemeine „Stärkung der Rechtsstellung des Verbrauchers“ mithilfe des § 139 ZPO allerdings ebenso ablehnt, wie zuvor etwa Heiderhoff, ZEuP 2001, 276, 292 ff. 84 Statt vieler Zöller / Greger (2016), § 139 ZPO Rn. 15; Musielak / Voit / Stadler (2016), § 139 ZPO Rn. 5, jeweils m. w. N. 85 Z. B. Stein / Jonas / Kern (2016), § 139 ZPO Rn. 52 ff.; MünchKommZPO / Fritsche (2016), § 139 ZPO Rn. 36; Zöller / Greger (2016), § 139 ZPO Rn. 3a und 17.

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sind, die Gestaltungserklärung selbst dem Vorbringen aber noch nicht einmal konkludent entnommen werden kann.86 Während das Unionsrecht einerseits die extensive Handhabung des § 139 ZPO gebieten mag,87 so zieht andererseits der Grundsatz der Waffengleichheit der Parteien der materiellen Verfahrensleitung eine absolute, unionsgrundrechtliche Grenze: Dieser Grundsatz ist durch den in Art. 47 GRCh verankterten effektiven gerichtlichen Schutz verbürgt88 und dazu verpflichtet, „jeder Partei eine angemessene Möglichkeit zu bieten, ihre Sache unter Bedingungen zu vertreten, die sie gegenüber ihrem Gegner nicht klar benachteiligen“.89

Entsprechend darf die konkrete Handhabung des § 139 ZPO weder die richterliche Neutralität in Frage stellen noch über Maßnahmen hinausgehen, die zur Herstellung oder Wahrung der Waffengleichheit von Verbraucher und Unternehmer geboten sind.90 Die mitgliedstaatlichen Zivilgerichte stehen hier somit vor der Herausforderung, bei der Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit mithilfe prozessualer Instrumente das richtige Maß zu finden. Ob dem Effektivitätsgrundsatz sowie den unionsgrundrechtlichen Schutzpflichten Genüge getan wird, kann dabei in Zweifelsfällen nur durch ein Vorabentscheidungsverfahren zum EuGH geklärt werden. Nach der hier vertretenen Auffassung sollte die durch den EuGH geforderte amtswegige Prüfung des unionalen Verbrauchervertragsrechts auf den konkreten Streitgegenstand beschränkt und erforderlichenfalls durch § 139 ZPO flankiert werden. Auf diesem Wege kann zunächst ein unionsrechtskonformes Ergebnis erzielt werden. Vor allem verhindert diese Lösung, dass der Zivilprozess zum Schauplatz einer überbordenden, dem Antragsgrundsatz – Statt aller MünchKommZPO / Fritsche (2016), § 139 ZPO Rn. 37. So betont etwa GA Trstenjak Schlussanträge v. 14.2.2012 – Rs. C-618/10 (Banco Español de Crédito), EU:C:2012:74 Rn. 33, dass das Unionsrecht den nationalen Zivilrichter gegebenenfalls verpflichtet, „zum Schutz des Verbrauchers in das Verfahren einzugreifen, obwohl sein nationales Recht ihm ein solches Vorgehen in der Regel nicht gestatten würde. Die Befugnis zum Eingreifen wäre dann unmittelbar aus dem Unionsrecht abzuleiten, so dass entgegenstehende nationale Verfahrensvorschriften infolge des Vorrangs des Unionsrechts […] verdrängt werden“ (Herv. d. Verf.). 88 So im Kontext des Zivilprozessrechts zuletzt etwa EuGH Urt. v. 17.7.2014 – Rs. C169/14 (Sánchez Morcillo), EU:C:2014:2099 Rn. 48 f. Siehe zuvor bereits EuGH Urt. v. 26.11.2011 – Rs. C-199/11 (Otis), EU:C:2012:684 Rn. 48. 89 Siehe im zivilverfahrens- und unionsprivatrechtlichen Kontext nur EuGH Urt. v. 17.7.2014 – Rs. C-169/14 (Sánchez Morcillo), EU:C:2014:2099 Rn. 49 f. (Herv. d. Verf.). 90 Vgl. Zeno-Zencovich / Paglietti, RIDC 91 (2014), 321, 343 f. Siehe zur materiellen Prozessleitung im Rahmen der deutschen ZPO allgemein nur Musielak / Voit / Stadler (2016), § 139 ZPO Rn. 5, die „[e]rgänzende Hilfestellung […] im Interesse materieller Gerechtigkeit“ für hinnehmbar hält. „Hinweise zu völlig neuem tatsächlichem Vorbringen und Anträgen, die ein anderes, bislang in der Sache im Parteivortrag nicht angeklungenes Prozessziel verfolgen,“ jedoch für unvereinbar mit der richterlichen Neutralität erachtet. 86 87

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und damit der Dispositionsmaxime – widersprechenden allgemeinen Legalitätskontrolle am Maßstab des EU-Verbrauchervertragsrechts wird. Denn durch Heranziehung des § 139 ZPO kann in der Regel bereits den Vorgaben des EuGH genügt werden, ohne dass der Antragsgrundsatz preisgegeben werden müsste. Diese Überlegungen lassen sich grundsätzlich auch für die prozessuale Dimension sämtlicher Materialisierungsinstrumente des unionalen Verbauchervertragsrechts fruchtbar machen. Freilich ist der Antragsgrundsatz nicht die einzige Prozessmaxime der deutschen Zivilprozessordnung, die unter den Einfluss des Unionsrechts geraten kann. II. Partielle Abkehr vom Verhandlungs- und Hinwendung zum Untersuchungsgrundsatz Vor den Gerichten der Union ebenso wie vor den Zivilgerichten der Mitgliedstaaten wird der Tatsachenstoff, der dem Rechtsstreit zugrunde liegt, „grundsätzlich von den Parteien bestimmt und begrenzt“.91 Entsprechend hat der EuGH zunächst gebilligt, dass die amtswegige Anwendung von Materialisierungsinstrumenten des unionalen Verbrauchervertragsrechts nur dann erfolgt, wenn das mitgliedstaatliche Zivilgericht über die hierzu erforderlichen „tatsächlichen Grundlagen verfügt“.92 Um die praktische Wirksamkeit der unionsprivatrechtlichen Materialisierungsinstrumente sicherzustellen, nimmt der EuGH die mitgliedstaatliche Gerichte jedoch seit Kurzem im Verbrauchervertragsrecht in die Pflicht, bei der Sammlung des Prozessstoffes mitzuwirken. Dies wirft die Frage auf, wie weit diese Abkehr vom Verhandlungsgrundsatz und der Schwenk hin zum Untersuchungsgrundsatz im Zivilprozessrecht im Einzelnen reichen. 1. Unionsrechtliche determinierte Untersuchungsmaxime Mit Blick auf die Klauselrichtlinie hat hat die Große Kammer des EuGH in der Rechtssache VB Pénzügyi Lízing erstmals entschieden, dass ein mitgliedstaatliches Zivilgericht verpflichtet ist, „von Amts wegen eine Untersuchung vorzunehmen, um die […] tatsächlichen Grundlagen festzustellen, die es für die Beurteilung benötigt, […] ob eine Klausel in den Anwendungsbereich der Richtlinie fällt“.93

91 Vgl. EuGH Urt. v. 10.12.2013 – Rs. C-272/12 P (Kommission / Irland), EU:C:2013: 812 Rn. 27 f. sowie Rn. 20 und siehe erneut oben A II. 92 Siehe zur Klauselrichtlinie z. B. EuGH Urt. 4.6.2009 – Rs. C-243/08 (Pannon), Slg. 2009, I-4713 Rn. 32; EuGH Urt. v. 6.10.2009 – Rs. C-40/08 (Asturcom Telecomunicaciones), Slg. 2009, I-9579 Rn. 53. 93 EuGH Urt. v. 9.11.2010 – Rs. C-137/08 (VB Pénzügyi Lízing), Slg. 2010, I-10847 Rn. 45 und 56 (Herv. d. Verf.) betont zugleich, dass dies auch dann gilt, „wenn das nationale Recht eine solche Untersuchung nur auf Antrag einer der Parteien zulässt“. Dabei

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Diese Wendung zielt in der Tat auf die Ermittlung der Tatsachengrundlagen und damit auf den Prozessstoff: Denn laut EuGH muss das nationale Gericht unter anderem „in allen Fällen und ungeachtet der innerstaatlichen Rechtsvorschriften feststellen, ob die streitige Vertragsklausel zwischen einem Gewerbetreibenden und einem Verbraucher im Einzelnen ausgehandelt wurde“.94

Der Gerichtshof hat diese Interpretation sodann in seinen Banco Español- und Banif Plus Bank-Entscheidungen bestätigt und wiederholt, dass sich die amtswegigen „Untersuchungsmaßnahmen“ auf alle „tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte“ erstrecken müssen.95 Laut Generalanwältin Trstenjak soll diese „Abweichung vom Beibringungsgrundsatz im Zivilprozess […] die vom Unionsgesetzgeber angestrebte Effektivität des Verbraucherschutzes […] gewährleisten […]. Indem dem nationalen Zivilrichter eine umfassende Untersuchungspflicht auferlegt wird, wird ihm nämlich die Möglichkeit gegeben, zum Schutz des Verbrauchers in das Verfahren einzugreifen, obwohl sein nationales Recht ihm ein solches Vorgehen in der Regel nicht gestatten würde. Die Befugnis zum Eingreifen wäre dann unmittelbar aus dem Unionsrecht abzuleiten, so dass entgegenstehende nationale Verfahrensvorschriften infolge des Vorrangs des Unionsrechts […] verdrängt werden“.96

Diese Linie verfolgt der EuGH nun auch in anderen Materien des Verbrauchervertragsrechts weiter und verlangt dort ebenfalls einen Bruch mit dem Verhandlungsgrundsatz. So hat in der Rechtssache Faber ein niederländisches Gericht gefragt, ob der Effektivitätsgrundsatz die Prüfung der Verbrauchereigenschaft einer Partei von Amts wegen erfordere und – bejahendenfalls –, ob dies auch dann gelte, wenn der Sachvortrag der Partei „keine […] tatsächlichen Informationen enthält, um die Eigenschaft […] feststellen zu können“.97 Der EuGH erzwingt nicht nur eine amtswegige Prüfung der Verbrauchereigenschaft der Partei, sondern sieht das mitgliedstaatliche Zivilgericht

stellt sich der EuGH gegen das Gutachten seiner Generalanwältin, die für die Einhaltung des Verhandllungsgrundsatzes eintrat, vgl. GA Trstenjak Schlussanträge v. 6.7.2010 – Rs. C-137/08 (VB Pénzügyi Lízing), Slg. 2010, I-10847 Rn. 108 ff. 94 EuGH Urt. v. 9.11.2010 – Rs. C-137/08 (VB Pénzügyi Lízing), Slg. 2010, I-10847 Rn. 45 und 56. Wie hier auch z. B. MünchKommBGB / Basedow (2016), Vor § 305 BGB Rn. 40. 95 EuGH Urt. v. 21.2.2013 – Rs. C-472/11 (Banif Plus Bank), EU:C:2013:88 Rn. 24 sowie 31. Vgl. auch EuGH Urt. v. 14.6.2012 – Rs. C-618/10 (Banco Español de Crédito), EU:C:2012:349 Rn. 44. 96 GA Trstenjak Schlussanträge v. 14.2.2012 – Rs. C-618/10 (Banco Español de Crédito), EU:C:2012:74 Rn. 33 (Herv. d. Verf.). 97 So mit Blick auf die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie Gerechtshof Arnhem-Leeuwarden v. 16.9.2013 – Rs. C-497/13 (Faber), ABl. 2013 C 367/21. Siehe auch EuGH Urt. v. 4.6.2015 – Rs. C-497/13 (Faber), EU:C:2015:357 Rn. 31.

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verpflichtet, sich die für die Verbrauchereigenschaft relevanten Tatsachen gegebenenfalls selbst zu beschaffen: „Der Grundsatz der Effektivität verlangt […], dass in einem Rechtsstreit über einen Vertrag, der möglicherweise in den Geltungsbereich dieser Richtlinie fällt, das mit dem Rechtsstreit befasste nationale Gericht, sofern es über die dafür nötigen […] tatsächlichen Anhaltspunkte verfügt oder darüber auf ein einfaches Auskunftsersuchen hin verfügen kann, die Frage prüft, ob der Käufer als Verbraucher eingestuft werden kann, selbst wenn er sich nicht ausdrücklich auf diese Eigenschaft berufen hat“.98

2. Umsetzung im Rahmen der ZPO Der EuGH stellt die deutschen Zivilgerichte somit vor die Herausforderung, die unionsrechtlichen Zielvorgaben mit den Mitteln des deutschen Zivilprozessrechts umzusetzen. a) Materielle Prozessleitung nach §§ 139 ff. ZPO Auch die durch den Gerichtshof geforderte Sachaufklärung lässt sich im Rahmen der deutschen Zivilprozessordnung vor allem mithilfe des Instrumentariums der materiellen Verfahrensleitung realisieren.99 Zunächst wird die Erörterungs- und Fragepflicht nach § 139 Abs. 1 ZPO durch den Effektivitätsgrundsatz sowie grundrechtliche Schutzpflichten unionsrechtlich aufgeladen: Das Gericht kann auf diesem Wege beispielsweise auf einen möglichst vollständigen Vortrag der Parteien zur potenziellen Verbrauchereigenschaft eines der Vertragspartner hinwirken,100 wenn – wie in dem der Rechtssache Faber zugrunde liegenden Verfahren – das bisherige Vorbringen „keine (oder nicht genügend oder widersprüchliche) tatsächliche Informationen enthält, um die Eigenschaft“ zu prüfen.101

98 EuGH Urt. v. 4.6.2015 – Rs. C-497/13 (Faber), EU:C:2015:357 Rn. 46. Zurückhaltender demgegenüber noch Saare / Sein, EUVR 2013, 15, 28. 99 Dagegen eröffnen ausländische Zivilprozessordnungen – und namentlich etwa das französische Verfahrensrecht – weitergehende richterliche Erforschungsmöglichkeiten: So steht es dem juge de la mise en état gemäß Art. 771 Code de procédure civile frei, „[d’o]rdonner, même d’office, toute mesure d’instruction“. 100 Siehe zur Pflicht des Gerichts, nach § 139 Abs. 1 ZPO auf eine Ergänzung des Tatsachenvorbringens hinzuwirken, statt aller MünchKommZPO / Fritsche (2016), § 139 ZPO Rn. 19 f. 101 Vgl. wiederum EuGH Urt. v. 4.6.2015 – Rs. C-497/13 (Faber), EU:C:2015:357 Rn. 31 und 46. Vgl. auch Wolf / Lindacher /  Pfeiffer, AGB-Recht (2013), Art. 6 Klauselrichtlinie Rn. 7.; MünchKommBGB / Basedow (2016), Vor § 305 BGB Rn. 40. Den „gezielten Einsatz des richterlichen Fragerechts“ zum Zwecke des Verbraucherschutzes erwägt auch Heiderhoff, ZEuP 2001, 276, 292 ff. und insbesondere 294 f., um sodann aber insbesondere eine richterliche Pflicht zur Frage nach der Verbrauchereigenschaft abzulehnen. Ablehnend auch H. Roth, JZ 2014, 801, 807. Vgl. zuvor bereits Bahnsen, Verbraucherschutz im Zivilprozess (1997),

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Zum Zwecke der Erörterung des Sachvortrags und zur Beseitigung etwaiger Lücken und Unklarheiten kann das Gericht dann auch nach § 141 ZPO das persönliche Erscheinen der Parteien anordnen: Diese Vorgehensweise ermöglicht dem Gericht allerdings nur ein besseres Verständnis dessen, was die Parteien behaupten und beantragen wollen, ohne jedoch eine Beweisaufnahme im Sinne der §§ 445 ff. ZPO darzustellen.102 Obschon es grundsätzlich nicht über den ihm bereits unterbreiteten Sachverhalt hinaus gehen darf,103 kann das Zivilgericht auf diese Weise durchaus neuen Tatsachenvortrag seitens der Parteien auslösen.104 Damit kommt das Gericht den für die amtswegige Prüfung des unionalen Verbrauchervertragsrecht benötigten „tatsächlichen Grundlagen“ womöglich näher.105 b) Anordnung der Urkundsvorlage nach § 142 ZPO §§ 142 f. ZPO gestatten die Anordnung der Urkundsvorlage, soweit eine Partei die Prozessrelevanz der fraglichen Urkunde schlüssig vorträgt106 und zugleich das berechtigte Geheimhaltungsinteresse der belasteten Partei einer Vorlage nicht entgegensteht.107 Dass das Unionsrecht auf § 142 ZPO einstrahlen kann, verdeutlicht ein Seitenblick auf das EU-Wirtschaftsrecht: Wenn eine Vorlageanordnung zur Anspruchsverfolgung bei Verletzungen von Immaterialgütern erforderlich ist, sieht sich der BGH angesichts der Vorgaben in Art. 6 Durchsetzungsrichtlinie108 zur unionsrechtskonformen Handhabung S. 149 ff. Dagegen sieht Cahn, AcP 198 (1998), 35, 45 und 69 ff. die Gerichte in der Pflicht, die zur Durchsetzung zwingenden materiellen Rechts erforderlichen Tatsachen zu erforschen. 102 Freilich behandeln die Gerichte gerade vor dem Hintergrund der „Vier-AugenRechtsprechung“ die Anhörung der Partei nach § 141 ZPO wie Beweise, vgl. nur BGH Urt. v. 12.7.2007 – Az. III ZR 83/06, NJW-RR 2007, 1690, 1691; BGH Urt. v. 8.7.2010 – Az. III ZR 249/09, NJW 2010, 3292, 3293, jeweils m. w. N. Siehe zu den Einzelheiten statt vieler Musielak / Voit / Stadler (2016), § 141 ZPO Rn. 2; Zöller / Greger (2016), § 141 ZPO Rn. 1; MünchKommZPO / Fritsche (2016), § 141 ZPO Rn. 5 f. 103 MünchKommZPO / Fritsche (2016), § 141 ZPO Rn. 7 stellt heraus, dass sich das Gericht in den Grenzen des Streitgegenstandes sowie des § 139 ZPO bewegen muss. 104 Statt aller Zöller / Greger (2016), § 139 ZPO Rn. 8. 105 Vgl. zu dieser Forderung des Gerichtshofs erneut nur EuGH Urt. v. 9.11.2010 – Rs. C-137/08 (VB Pénzügyi Lízing), Slg. 2010, I-10847 Rn. 45 und 56, der zugleich betont, dass dies auch dann gilt, „wenn das nationale Recht eine solche Untersuchung nur auf Antrag einer der Parteien zulässt“. Anders GA Trstenjak Schlussanträge v. 6.7.2010 – Rs. C-137/08 (VB Pénzügyi Lízing), Slg. 2010, I-10847 Rn. 108 ff. 106 Siehe nur BGH Urt. v. 26.6.2007 – Az. XI ZR 277/05, BGHZ 173, 23, 32; Zöller /  Greger (2016), § 142 ZPO Rn. 7. 107 Siehe zu den Grenzen der Vorlagepflicht allgemein z. B. G. Wagner, JZ 2007, 706, 715 ff.; Rühl, ZZP 125 (2012), 25 ff.; Musielak / Voit / Stadler (2016), § 142 ZPO Rn. 7, dort jeweils m. w. N. 108 Richtlinie 2004/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums, ABl. 2004 L 157/45.

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des § 142 ZPO verpflichtet.109 Darüber hinaus ist der Pflicht zur „Offenlegung von Beweismitteln“ nach Art. 5 Kartellschadensersatzrichtlinie110 nicht zuletzt über § 142 ZPO Rechnung zu tragen.111 Es ist kein Grund ersichtlich, weshalb die für das Kartellschadensersatz- und Immaterialgüterrecht anerkannte unionsrechtliche Überformung des § 142 ZPO nur auf diese Rechtsgebiete beschränkt sein sollte. Vielmehr kann die hinter den spezialgesetzlich geforderten Vorlageanordnungen stehende ratio grundsätzlich auch auf Zivilprozesse in anderen Sachmaterien übertragen werden.112 Der Effektivitätsgrundsatz sowie die unionsgrundrechtlichen Schutzpflichten verlangen, dass § 142 ZPO auch zur Erfüllung der richterlichen Untersuchungspflichten im unionalen Verbrauchervertragsrecht fruchtbar gemacht wird. Ein Zivilgericht kann daher beispielsweise die Vorlage des gesamten Verbrauchervertrags anordnen, statt sich mit einem – nach § 131 Abs. 2 ZPO grundsätzlich ausreichenden Textauszug – zu begnügen. Während in diesem Fall beide Parteien Adressaten der Anordnung sein können,113 ist im hiesigen Kontext vor allem die Anordnung der Dokumentenvorlage durch den nicht beweisbelasteten Prozessgegner des Verbrauchers bedeutsam. Bei Verbraucherkreditverträgen ist etwa an Unterlagen über die Kreditwürdigkeitsprüfung sowie z. B. die in den Bankdokumenten vermerkte Bonitätseinschätzung zu denken, wenn der Verbraucher vorträgt, dass er über die hieraus folgenden Bedenken gegen die Kreditvergabe – anders als vom EuGH in der Rechtssache CA Consumer Finance gefordert – nicht informiert worden ist.114 Durch Vgl. BGH Urt. v. 1.8.2006 – Az. X ZR 114/03, GRUR 2006, 962, 967. Eine „richtlinienkonforme Auslegung des § 142 ZPO“ sieht darin z. B. McGuire, GPR 2007, 34 ff. Ähnlich Zöller / Greger (2016), § 142 ZPO Rn. 2 und 7, der zutreffend darauf verweist, dass § 142 ZPO dann als – ebenfalls unionsrechtlich gebotene – zivilprozessuale Flankierung der materiellrechtlichen Vorlageansprüche dient, wie sie unter anderem § 101 UrhG, § 19a MarkenG und § 140c PatG enthalten. 110 Richtlinie 2014/104/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. November 2014 über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union, ABl. 2014 L 349/1. 111 Siehe nur Wiedemann / Ollerdißen, Handbuch des Kartellrechts (2016), § 61 Rn. 104 ff. Vgl. auch § 89b Abs. 1 Referentenentwurf eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (9. GWB-ÄndG) v. 1.7.2016 lautet: „Für die Erteilung von Auskünften gemäß § 33g gilt § 142 der Zivilprozessordnung entsprechend“. Siehe zudem § 89d Abs. 4 des Entwurfs. 112 Vgl. bereits G. Wagner, JZ 2007, 706, 714 f. 113 Statt vieler Musielak / Voit / Stadler (2016), § 142 ZPO Rn. 7 m. w. N. 114 Siehe oben Kapitel 5 § 2 B III 1. Laut EuGH Urt. v. 18.12.2014 – Rs. C-449/13 (CA Consumer Finance), EU:C:2014:2464 Rn. 45 hat der Kreditgeber stets „die Bewertung der Kreditwürdigkeit des Verbrauchers zu berücksichtigen, soweit diese Bewertung eine Anpassung der gegebenen Erläuterungen erfordert“. Ergibt die Kreditwürdigkeitsprüfung eine unzureichende oder auch nur grenzwertige Bonität, so muss der Kreditgeber den Verbraucher 109

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den Rückgriff auf § 142 ZPO kann dann im Einzelfall der Verbraucher in den Stand gesetzt werden, seine unionsrechtlich fundierten Ansprüche effektiv durchzusetzen.115 Dies gilt umso mehr, als der BGH im Zusammenhang mit der Verletzung von kreditvertraglichen Aufklärungspflichten des nationalen Rechts ebenfalls bereits auf § 142 ZPO zurückgegriffen hat.116 Die Anordnung der Urkundsvorlage ist damit ein weiteres Werkzeug, mithilfe dessen ein Zivilgericht sich einen Überblick über den Prozessstoff verschaffen kann. Allerdings ermöglicht auch § 142 ZPO keine Amtsaufklärung: Der Richter darf den vorgelegten Urkunden grundsätzlich keine Tatsachen entnehmen, die von den Parteien nicht bereits vorgetragen worden sind.117 Im Lichte der Vorgaben des EuGH werden Zivilgerichte auch angrenzenden Tatsachenstoff allerdings dann berücksichtigen müssen, wenn die Parteien zumindest konkludent auf die jeweilige Urkunde und ihren Inhalt Bezug genommen haben.118 Dann lässt sich § 142 ZPO durchaus – wie vom EuGH gefordert – als ein „einfaches Auskunftsersuchen“119 nutzen, um die für die Durchsetzung der unionalen Materialisierungsinstrumente relevanten Tatsachen möglichst lückenlos zu erfassen.120 c) Inaugenscheinnahme von Amts wegen nach § 144 ZPO Während die Urkundsvorlage nach § 142 ZPO für sich genommen keine Beweiszwecke verfolgt, kann das Gericht in Bezug auf elektronische Dokumenhierüber ausdrücklich informieren und ihn so in die Lage versetzen, „zu beurteilen, ob der Vertrag seinen Bedürfnissen und seiner finanziellen Situation gerecht wird“ (Herv. d. Verf.). 115 Siehe zur culpa in contrahendo als Instrument der Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit wiederum oben Kapitel 5 § 2 B III. Auch der EuGH Urt. v. 18.12.2014 – Rs. C-449/13 (CA Consumer Finance), EU:C:2014:2464 Rn. 27, deutet an, dass Bedarf nach einer solchen Flankierung bestehen kann, weil der Verbraucher vielfach schon keinen Zugriff auf die Dokumente hat, die belegen, „dass ihm der Kreditgeber zum einen nicht die in Art. 5 der Richtlinie vorgesehenen Informationen gegeben und zum anderen seine Kreditwürdigkeit nicht geprüft hat“. 116 Vgl. nur BGH Urt. v. 26.6.2007 – Az. XI ZR 277/05, BGHZ 173, 23, 32: Die kreditgebende Bank kann gegebenenfalls nach § 142 ZPO zur Vorlage von Bewertungsunterlagen verpflichtet werden, wenn hierin womöglich Hinweise enthalten sind, dass das Kreditinstitut erkannt hat, dass es sich bei dem kreditfinanzierten Objekt um eine „Schrottimmobilie“ handelt. 117 Laut BGH Urt. v. 27.5.2014 – Az. XI ZR 264/13, NJW 2014, 3312, 3313 darf ein Gericht grundsätzlich „einer Urkunde nichts entnehmen, was von den Parteien im Prozess noch nicht vorgetragen worden ist, denn auch § 142 ZPO ermöglicht keine Amtsaufklärung“. Dazu statt vieler Zöller / Greger (2016), § 142 ZPO Rn. 1; Stein / Jonas / Althammer (2016), § 142 ZPO Rn. 4. 118 Siehe nur Stein / Jonas / Althammer (2016), § 142 ZPO Rn. 4; Zöller / Greger (2016), § 142 ZPO Rn. 1. 119 EuGH Urt. v. 4.6.2015 – Rs. C-497/13 (Faber), EU:C:2015:357 Rn. 46. 120 Vgl. EuGH Urt. v. 9.11.2010 – Rs. C-137/08 (VB Pénzügyi Lízing), Slg. 2010, I10847 Rn. 45.

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te gemäß § 144 ZPO von Amts wegen die Einnahme des Augenscheins im Sinne des § 371 Abs. 1 S. 2 ZPO anordnen und die hierbei gewonnenen Erkenntnisse beweismäßig im Verfahren verwerten.122 Unter unionsrechtlichen Einfluss kann § 144 ZPO beispielsweise dann geraten, wenn ein Verbraucher die Anfechtung des Vertrags oder die Vertragsaufhebung gemäß § 311 Abs. 2 i.V.m. § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2, § 249 BGB begehrt und sich auf die Nichtbeachtung von Informationspflichten nach der E-Commerce-Richtlinie stützt.123 Soweit sich nun die zum Beleg einer solchen Pflichtverletzung benötigten elektronischen Dokumente allein in der Sphäre des Unternehmers befinden, kann das Gericht die Einnahme des Augenscheins gemäß § 144 ZPO anordnen. Gleiches gilt, wenn der Verbraucher vorträgt, dass bei einem Fernabsatzgeschäft über das Internet Formvorschriften sowie Informationspflichten nach der Verbraucherrechterichtlinie124 verletzt worden seien und die relevanten elektronischen Dokumente nur dem Unternehmer vorlägen, etwa weil der Vertragsschluss über eine Eingabemaske der Verkäuferwebsite erfolgt sei. 3. Reichweite und Folgefragen der Geltung des Untersuchungsgrundsatzes Die vom EuGH geforderte – begrenzte – amtswegige Erforschung des Streitstoffes lässt sich im Regelfall mit den Instrumenten der materiellen Prozessleitung nach §§ 139 ff. ZPO sicherstellen. Durch den Einfluss des Unionsrechts verengt sich der Ermessensspielraum125 des Gerichts in Bezug auf die Sachverhaltsaufklärung bis hin zu einer Aufklärungspflicht. Allerdings ist kritisch zu fragen, wie hoch die Schwelle anzusetzen ist, ab der ein Zivilgericht den Sachverhalt von sich aus weiter erforschen muss: Nach der Lesart des Gerichtshofs gebietet das Unionsrecht die Geltung des Untersuchungsgrundsatzes im Zivilprozess schließlich schon dann, wenn nur die Möglichkeit besteht, dass ein Verbraucher an dem Prozess beteiligt ist.126 Bemerkenswerterweise soll dies auch zugunsten eines anwaltlich vertretenen Verbauchers gelten.127 Doch muss tatsächlich auch ein Unternehmer, der in einem Anwaltsprozess behauptet, bei einem konkreten Vertragsschluss als Z. B. Zöller / Greger (2016), § 142 ZPO Rn. 1. Berger, NJW 2005, 1016, 1119 f.; Zöller / Greger (2016), § 144 ZPO Rn. 1. Siehe zur beweismäßigen Behandlung elektronischer Dokumente auch Stein / Jonas / Berger (2015), § 371 ZPO Rn. 19 ff. Hingegen kann dieser Weg nicht für Urkunden und andere Unterlagen beschritten werden, weil § 142 ZPO hier die speziellere Norm ist, siehe nur Stein / Jonas / Althammer (2016), § 144 ZPO Rn. 6. 123 Siehe zum Materialisierungsziel dieser Instrumente erneut oben Kapitel 5 § 2 A III und oben Kapitel 5 B IV. 124 Vgl. nur Art. 6 und Art. 8 Abs. 4 und Abs. 1 Verbraucherrechterichtlinie. 125 Dazu statt aller R. Stürner, Die richterliche Aufklärung im Zivilprozeß (1982), S. 16 f. 126 EuGH Urt. v. 4.6.2015 – Rs. C-497/13 (Faber), EU:C:2015:357 Rn. 46. 127 EuGH Urt. v. 4.6.2015 – Rs. C-497/13 (Faber), EU:C:2015:357 Rn. 47. 121 122

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Verbraucher gehandelt zu haben, in den Genuss umfassender richterlicher „Schützenhilfe“ kommen können? Auf den ersten Blick handelt es sich auch in dieser Konstellation um einen „Rechtsstreit über einen Vertrag, der möglicherweise in den Geltungsbereich“ des unionalen Verbrauchervertragsrechts fällt.128 Angesichts der bisherigen Spruchpraxis deutscher Gerichte wäre gerade in Fällen von „Putativ-Verbrauchern“ eine Vorlage an den EuGH angezeigt.129 Darüber hinaus steht die EuGH-Rechtsprechungslinie zur amtswegigen Sachverhaltsermittlung in einem klaren Spannungsverhältnis zur Verteilung der Darlegungs- und Substantiierungslast nach der deutschen Zivilprozessordnung: Sobald eine Prozesspartei womöglich Verbraucher ist, muss diese nicht mehr unbedingt alle ihr günstigen Tatsachen hinreichend substantiiert vortragen, sondern wird erforderlichenfalls durch Eingreifen des Gerichts von dieser Bürde befreit. Erste Vorboten einer derartigen unionsrechtlichen Überlagerung der Darlegungslast lassen sich bereits in der BGH-Judikatur nachweisen.130 Ob allerdings eine weitgehende Hinwendung zur Untersuchungsmaxime – insbesondere im Zusammenspiel mit der partiellen Abkehr vom Antragsgrundsatz –131 stets mit der unionsgrundrechtlich geforderten Waffengleichheit der Parteien132 und dem Gebot richterlicher Neutralität zu vereinbaren ist, darf bezweifelt werden.

Siehe erneut EuGH Urt. v. 4.6.2015 – Rs. C-497/13 (Faber), EU:C:2015:357 Rn. 46. Vgl. mit Blick auf einen Unternehmer, der sich auf die Verbrauchervorschriften beruft, zuletzt nur OLG Frankfurt a.M. Urt. v. 3.5.2016 – Az. 10 U 152/15, BeckRS 2016, 10871. 130 Vgl. zur unionsrechtlichen Beeinflussung der Anforderungen an die Darlegungsund Substantiierungslast im Kontext des internationalen Zivilprozessrechts nun z. B. BGH Urt. v. 15.1.2015 – Az. I ZR 88/14, NJW 2015, 2339, 2341: „Es entspricht allgemeinen Regeln der Darlegungs- und Beweislast, dass die Partei, die sich auf eine zuständigkeitsleugnende Vorschrift mit Ausnahmecharakter beruft, die hierfür maßgeblichen Tatsachen darzulegen und zu beweisen hat […]. Die verbraucherschützenden Vorschriften der Brüssel-I-VO sind dabei allerdings so auszulegen, dass ihnen nicht die praktische Wirksamkeit genommen wird […]. Bei der Auslegung ist das Ziel der Regelung des Art. 15 Abs. 1 Buchst. c Brüssel-I-VO zu berücksichtigen, den Verbraucher als die schwächere Vertragspartei zu schützen […]. Bei einer solchen Sachlage ist es gerechtfertigt, den Gewerbetreibenden, der sich darauf beruft, er habe erst nach dem Abschluss eines Vertrags mit einem Verbraucher aus einem anderen Mitgliedstaat seine Unternehmensstrategie auf diesen Mitgliedstaat ausgerichtet und dementsprechend erst später seinen Internetauftritt entsprechend gestaltet, für verpflichtet zu halten, den entsprechenden Vortrag mit einem detaillierten Vorbringen zu bestreiten. Anderenfalls würde der mit Art. 15 Absatz 1 Buchst. c Brüssel-I-VO intendierte Verbraucherschutz beeinträchtigt“ (Herv. d. Verf.). 131 Vgl. erneut oben I. 132 So im Kontext des Zivilprozessrechts zuletzt etwa EuGH Urt. v. 17.7.2014 – Rs. C169/14 (Sánchez Morcillo), EU:C:2014:2099 Rn. 48 f. Siehe zuvor bereits EuGH Urt. v. 26.11.2011 – Rs. C-199/11 (Otis), EU:C:2012:684 Rn. 48. 128 129

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Vor diesem Hintergrund ist in jedem Einzelfall sehr genau zu prüfen, ob die andere Partei nach der richterlichen Intervention zugunsten des Verbrauchers überhaupt noch in der Lage ist, „ihre Sache unter Bedingungen zu vertreten, die sie gegenüber ihrem Gegner nicht klar benachteiligen“.133 Auf der einen Seite ist die Inanspruchnahme des deutschen Zivilprozessrechts als Materialisierungsinstrument also unionsrechtlich durch den Effektivitätsgrundsatz sowie aus der Vertragsfreiheit folgender Schutzpflichten vorgezeichnet. Auf der anderen Seite setzt Art. 47 GRCh überbordender richterlicher Inquisitionstätigkeit Grenzen. Dies konfrontiert die Zivilgerichte unweigerlich mit schwierigen Abwägungsentscheidungen, wobei Zweifelsfälle – in Ermangelung einer hinreichend ausdifferenzierten Kasuistik für das Zivilprozessrecht – im Rahmen von Vorabentscheidungsverfahren durch den EuGH zu klären sind. III. Einfluss auf den Konzentrations- und Beschleunigungsgrundsatz Obgleich das Unionsrecht nicht zuletzt angesichts der Vorgaben aus Art. 47 GRCh auch im Zivilprozess auf eine zügige Verfahrensführung hinwirkt, mag insbesondere die praktische Wirksamkeit des Verbauchervertragsrechts eine großzügige Handhabung der Präklusionsvorschriften im Erkenntnisverfahren (1) sowie des Novenrechts im Rechtsmittelverfahrens (2) gebieten. 1. Präklusion nach § 296 ZPO Der Verfahrensbeschleunigung und -konzentration dient im Zivilprozessrecht insbesondere die in § 282 ZPO verankerte Verpflichtung der Parteien zu rechtzeitigem Vorbringen von Angriffs- und Verteidigungsmitteln. 134 Letztere umfassen tatsächliche und rechtliche Behauptungen, Bestreiten, Einreden sowie Beweisanträge.135 Als Sanktion sieht das Prozessrecht die Präklusion verspäteten Vorbringens nach § 296 ZPO vor.136 Konflikte können nun entstehen, wenn die Präklusion die Anwendung von Materialisierungsinstrumenten des EU-Privatrechts zu verhindern droht. Es ist in der Tat mit der Rechtsprechungslinie des EuGH zur amtswegigen Prüfung des EU-Verbrauchervertragsrechts sowie zur ergänzenden Tatsachenerforschung im Wege der materiellen Prozessleitung kaum übereinzubringen, wenn die auf diese Weise provozierten Angriffs- und Verteidigungsmittel des Verbrauchers sodann durch § 296 ZPO vereitelt würden. Dies streitet dafür, in Verfahren mit Verbraucherbeteiligung die Zurückweisungsmöglichkeit wegen Verletzung der allgemeinen Prozessförderungspflicht nach § 296 Abs. 2 ZPO restriktiv zu handhaben. Dies gilt erst recht, 133 134 135 136

EuGH Urt. v. 17.7.2014 – Rs. C-169/14 (Sánchez Morcillo), EU:C:2014:2099 Rn. 49 f. Statt vieler Stein / Jonas / Kern (2016), Vor § 128 ZPO Rn. 223 und 226. Vgl. nur Zöller / Greger (2016), § 282 ZPO Rn. 1. Zöller / Greger (2016), § 282 ZPO Rn. 3a.

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wenn das für die amtswegige Durchsetzung des unionalen Verbrauchervertragsrechts verantwortliche Gericht seinerseits den vom EuGH statuierten Pflichten zur materiellen Prozessleitung nicht vollständig nachkommt und dadurch mitursächlich für die Verzögerung wird.137 Das Unionsrecht dürfte hier zum einen das richterliche Ermessen hinsichtlich der Annahme einer Verfahrensverzögerung einschränken. Zum anderen wird man hohe Anforderungen an die Nachlässigkeit des Verbrauchers stellen und – konform mit der Rechtsprechung des EuGH – einem anwaltlich vertretenen Konsumenten die Versäumnisse seines Vertreters entgegen § 85 Abs. 2 ZPO nicht ohne weiteres zurechnen können.138 Allerdings entlässt das Unionsrecht auch Verbraucher weder gänzlich aus ihrer Pflicht zur Prozessförderung noch gestattet es ihnen, den Verfahrensablauf durch taktisches Verhalten zu verzögern. Ein Konsument, der sich gezielt erst verspätet auf das Eingreifen unionaler Materialisierungsinstrumente beruft, um dem Gegner die Verteidigung zu erschweren, kann durchaus nach § 296 Abs. 2 ZPO präkludiert werden. Ebenso kommt eine Präklusion nach § 296 Abs. 1, § 273 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 5 ZPO in Betracht, wenn der Verbraucher richterlichen Aufklärungsauflagen oder Vorlageanordnungen nach §§ 142, 144 ZPO aus taktischen Gründen nicht rechtzeitig nachkommt. Schließlich gebietet das Unionsrecht zwar, dass das Gericht dem Verbraucher im Wege der materiellen Prozessleitung Hilfestellung bietet. Wirkt der Konsument im Prozess jedoch nicht mit oder vereitelt er diese Anstrengungen sogar, können sodann weder der Effektivitätsgrundsatz noch die unionsgrundrechtlichen Schutzpflichten gegen eine Präklusion in Stellung gebracht werden. Vielmehr ist zu berücksichtigen, dass § 296 ZPO neben der Verfahrensbeschleunigung auch der Wahrung der Verteidigungsmöglichkeiten des Prozessgegners dient.139 Ohnehin ist zu berücksichtigen, dass bei drohender Präklusion – je nach Lage des Prozesses – eine „Flucht“ in die Säumnis, in eine Klageerweiterung, in die Widerklage oder in die Berufung und somit insgesamt eine Umgehung der Folgen des § 296 ZPO möglich sein kann.140 2.

Tatsachenerfassung und -bewertung im Rechtsmittelverfahren

Im Berufungsrecht wird die Erfassung der Tatsachengrundlagen durch § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO grundsätzlich dem Gericht des ersten Rechtszuges zuge-

137 Vgl. zur Berücksichtigung der mitursächlichen Untätigkeit des Gerichts im Rahmen von § 296 Abs. 2 ZPO nur Zöller / Greger (2016), § 296 ZPO Rn. 8b. 138 Laut EuGH Urt. v. 4.6.2015 – Rs. C-497/13 (Faber), EU:C:2015:357 Rn. 47 darf es schließlich keinerlei Rolle spielen, „ob der Verbraucher anwaltlich vertreten wird oder nicht“. 139 Zöller / Greger (2016), § 296 ZPO Rn. 40. 140 Siehe zu den Einzelheiten statt aller Zöller / Greger (2016), § 296 ZPO Rn. 39 ff.

§ 2 Materialisierungstendenzen und Prozessmaximen der ZPO

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wiesen.141 Insbesondere sind auch neue Angriffs- und Verteidigungsmittel nur unter engen Voraussetzungen zulässig.142 Kommt jedoch das erstinstanzliche Gericht seiner Verpflichtung zur amtswegigen Durchsetzung des unionalen Verbrauchervertragsrechts und insbesondere zur ergänzenden Tatsachenermittlung im Wege der materiellen Prozessleitung nicht nach, können die unionsrechtlichen Vorgaben das Novenrecht der deutschen ZPO beeinflussen. Namentlich muss eine unionsrechtlich gebotetene Tatsachenerforschung auch noch auf Ebene des Berufungsverfahrens möglich sein, sofern das Gericht des ersten Rechtszuges von dem ihm nach §§ 139 ff. ZPO zur Verfügung stehenden Instrumentarium nicht oder nur unzureichend Gebrauch gemacht hat. Sollte dieses Versäumnis nicht schon eine Korrektur der Tatsachengrundlage wegen nur lücken- und damit rechtsfehlerhafter Erfassung gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 rechtfertigen, so wird die Berücksichtigung der für die Durchsetzung des EU-Verbrauchervertragsrechts erforderlichen „neuen Tatsachen“ bei unionsrechtskonformer Auslegung der § 529 Abs. 1 Nr. 2, § 530, § 531 Abs. 2 ZPO regelmäßig als zulässig anzusehen sein.143 Ebenso wie bei der Präklusion nach § 296 ZPO ist im Berufungsverfahren zunächst eine großzügige Handhabung des § 530 ZPO angezeigt, wenn der Verbraucher Angriffs- und Verteidigungsmittel verspätet vorbringt, die auf den Materialisierungsinstrumenten des unionalen Verbrauchervertragsrechts beruhen. Darüber hinaus muss das Berufungsgericht im Rahmen des § 531 Abs. 1 ZPO genau prüfen, ob das erstinstanzliche Gericht derartige Angriffsund Verteidigungsmittel des Verbrauchers nach § 296 ZPO zu Recht zurückgewiesen hat. Sodann dürften die im EU-Verbrauchervertragsrecht wurzelnden neuen Angriffs- und Verteidigungsmittel nach § 531 Abs. 2 Nr. 1 zuzulassen sein, wenn das Gericht des ersten Rechtszuges diese aufgrund unzureichender Tatsachenermittlung mithilfe der §§ 139 ff. ZPO übergangen hat. Ist die unionsrechtlich gebotene Tatsachenerforschung unterblieben, kann das Gericht auch keinen Hinweis an den Verbraucher richten, so dass es seine Hinweispflicht gemäß § 139 ZPO verletzt und einen im Rahmen des § 531 Abs. 2 Nr. 2 ZPO beachtlichen Verfahrensmangel produziert.144 In solchen Konstellationen wird der Konsument schließlich im Sinne des § 531 Abs. 2 Nr. 3 ZPO ohne eigene Nachlässigkeit an einem entsprechenden Vorbringen gehindert.145 141 Vgl. zur beschränkten Nachprüfbarkeit tatsächlicher Feststellungen gemäß § 559 ZPO im Revisionsverfahren statt aller Zöller / Heßler (2016), § 559 ZPO Rn. 1 ff. Vor diesem Hintergrund wird der Fokus im Folgenden auf das Berufungsverfahren gelegt. 142 Vgl. § 531 Abs. 2 ZPO. 143 Vgl. zur Korrektur der Tatsachengrundlage sowie der Zulässigkeit neuer Tatsachen statt vieler Heiderhoff, JZ 2003, 490, 492 ff.; Zöller / Heßler (2016), § 529 ZPO Rn. 2 und 2a. 144 Siehe zur Rolle des unterlassenen Hinweises nach § 139 ZPO im Rahmen des § 531 Abs. 2 Nr. 2 ZPO nur Heiderhoff, JZ 2003, 490, 495 f.; Zöller / Heßler (2016), § 531 ZPO Rn. 27, jeweils m. w. N. 145 Vgl. zu den Hinweispflichten erneut oben 2 b.

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Kapitel 6 – Materialisierung durch Zivilprozessrecht

C. Sicherung der kontradiktorischen Verfahrensgestaltung Der Zivilprozess nach der deutschen ZPO ist – ebenso wie nach anderen mitgliedstaatlichen Verfahrenordnungen – grundsätzlich als kontradiktorisches Verfahren konzipiert:146 Es obliegt demnach den Parteien, ihre jeweiligen Rechte mit gegenläufigen Anträgen durchzusetzen und den Prozessstoff streitig zu verhandeln.147 Die Rechtsprechung des EuGH zur prozessualen Durchsetzung des Verbrauchervertragsrechts droht diese kontradiktorische Natur des Verfahrens in Frage zu stellen. Mit der Aufweichung des Antragsgrundsatzes und der partiellen Einführung des Untersuchungsgrundsatzes geht die Gefahr einher, dass die Prozessparteien von einer durch das Gericht amtswegig ermittelten Tatsachengrundlage und der hierauf aufbauenden rechtlichen Würdigung überrascht werden. Entsprechend bedarf es eines Korrektivs (I), welches sich in das System der deutschen ZPO einpassen lässt (II). I. Unionsrechtlich gebotene Hinweis-, Kenntnisnahme- und Erörterungspflichten Der Gerichtshof setzt sich in seiner jüngeren Entscheidungspraxis mit der vorgenannten Problematik auseinander: In der Rechtssache Banif Plus Bank leitet der EuGH aus Art. 47 GRCh auch für Zivilprozesse einen „Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens“ ab, der „Bestandteil der Verteidigungsrechte“ sei und den ein Gericht insbesondere auch dann wahren müsse, „wenn es einen Rechtsstreit auf der Grundlage eines von Amts wegen berücksichtigten Gesichtspunkts entscheidet“.148 Unter Bezugnahme auf seine Judikatur zu den Verfahren vor Unionsgerichten betont der EuGH nun auch für Zivilprozesse vor mitgliedstaatlichen Spruchkörpern, „dass es für die Erfüllung der Anforderungen im Zusammenhang mit dem Recht auf ein faires Verfahren […] darauf ankommt, dass die Beteiligten sowohl die tatsächlichen als auch die rechtlichen Umstände kennen, die für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sind“.149

Hierauf stützt der EuGH das Recht der Parteien, „die Gesichtspunkte zur Kenntnis zu nehmen, die das [G]ericht von Amts wegen berücksichtigt hat 146 Eine Ausnahme bilden – neben dem nicht streitigen Versäumnisverfahren mit „echtem“ Versäumnisurteil – bestimmte familien- und insbesondere statusrechtliche Streitigkeiten, die in Deutschland zumeist dem FamFG unterfallen, dazu statt vieler Musielak / Borth /  Grandel (2015), § 26 FamFG Rn. 3 ff. Vgl. in Frankreich zudem Art. 771 Code de procédure civile. 147 Zu dieser „Dialektik“ des Verfahrens prägnant Braun, Lehrbuch des Zivilprozessrechts (2014), S. 94. 148 EuGH Urt. v. 21.2.2013 – Rs. C-472/11 (Banif Plus Bank), EU:C:2013:88 Rn. 29. 149 EuGH Urt. v. 21.2.2013 – Rs. C-472/11 (Banif Plus Bank), EU:C:2013:88 Rn. 30 unter Verweis auf EuGH Urt. v. 2.12.2009 – Rs. C-89/08 P (Kommission / Irland), Slg. 2009, I-11245 Rn. 55 f.

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und auf die es seine Entscheidung gründen möchte“.150 Den ersten Schritt bildet ein Hinweis des Gerichts an die Parteien, dass es amtswegig tätig geworden ist.151 In einem zweiten Schritt hat das Zivilgericht die Parteien sowohl über die „tatsächlichen […] Gesichtspunkte, […] von denen es infolge […] von Amts wegen durchgeführter Untersuchungsmaßnahmen Kenntnis erlangt hat“, als auch über das Ergebnis der hierauf aufbauenden „von Amts wegen vorgenommenen [rechtlichen] Beurteilung“ umgehend „zu informieren und sie aufzufordern, dies in der von den nationalen Verfahrensvorschriften dafür vorgesehenen Form kontradiktorisch zu erörtern“.152 Zugleich macht der Gerichtshof die Einhaltung dieser Anforderungen zur Vorbedingung jeglicher Abweichung vom Antragsgrundsatz. Ein mitgliedstaatliches Gericht dürfe bei amtswegiger Tatsachenermittlung und Anwendung des unionalen Verbraucherschutzrechts nur „vorbehaltlich der Einhaltung des Grundsatzes des kontradiktorischen Verfahrens alle Konsequenzen […] ziehen […], ohne einen entsprechenden Antrag des Verbrauchers abzuwarten“.153

II. Einpassung in das System der deutschen ZPO Die vom EuGH geforderte Information der Parteien nach amtswegiger (ergänzender) Erforschung des Tatsachenstoffs sowie der Prüfung des unionalen Verbrauchervertragsrechts ist über die Hinweispflicht des Zivilgerichts sicherzustellen: Weil diese entscheidungserheblichen Gesichtspunkte in der Regel nicht nur Nebenforderungen betreffen, darf das Gericht seine Entscheidung hierauf gemäß § 139 Abs. 2 ZPO „nur stützen, wenn es darauf hingewiesen und Gelegenheit zur Äußerung dazu gegeben hat“.154 § 139 Abs. 2 ZPO setzt dabei den in Art. 47 GRCh verbürgten Anspruch auf ein faires, kontradiktorisches Verfahren sowie auf rechtliches Gehör um und wird insoweit unionsrechtlich aufgeladen. Entsprechend sind die Zivilgerichte bei der Anwendung des § 139 Abs. 2 ZPO verpflichtet, die Hinweis- und Informationserteilung an den Vorgaben des EuGH zu Art. 47 GRCh auszurichten.155 Besondere Schwierigkeiten dürften hierbei nicht entstehen: Dem EffekEuGH Urt. v. 21.2.2013 – Rs. C-472/11 (Banif Plus Bank), EU:C:2013:88 Rn. 30. In diesem Sinne schon EuGH Urt. v. 4.6.2009 – Rs. C-243/08 (Pannon), Slg. 2009, I-4713 Rn. 33. 152 EuGH Urt. v. 21.2.2013 – Rs. C-472/11 (Banif Plus Bank), EU:C:2013:88 Rn. 31. 153 EuGH Urt. v. 1.10.2015 – Rs. C-32/14 (ERSTE Bank Hungary), EU:C:2015:637 Rn. 42 (Herv. d. Verf.). Siehe auch schon EuGH Urt. v. 21.2.2013 – Rs. C-472/11 (Banif Plus Bank), EU:C:2013:88 Rn. 36. 154 Siehe zum „Anspruch auf Information durch das Gericht“ statt aller eingehend Stein / Jonas / Kern (2016), Vor § 128 ZPO Rn. 69 ff. 155 Vgl. erneut EuGH Urt. v. 21.2.2013 – Rs. C-472/11 (Banif Plus Bank), EU:C:2013: 88 Rn. 31 und 33, wobei der Gerichtshof hier zudem betont, dass „die Verpflichtung, die Parteien darauf hinzuweisen und ihnen Gelegenheit zur Äußerung zu geben, für sich ge150 151

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Kapitel 6 – Materialisierung durch Zivilprozessrecht

tivitätsgrundsatz und den unionsgrundrechtlichen Schutzpflichten ist schließlich im Rahmen der materiellen Prozessleitung nach §§ 139 ff. ZPO Rechnung zu tragen, so dass die Gerichte bei der „Materialisierung durch Prozessrecht“ ohnehin bereits die Hinweispflichten beachten müssen. Durch die Hinweise nach § 139 Abs. 2 ZPO werden die Parteien vor Überraschungsentscheidungen bewahrt und können unter Einbeziehung dieser Informationen streitig verhandeln.156 Zugleich gibt es den Prozessparteien die Möglichkeit, in Anbetracht der neuen Gesichtspunkte über den Rechtsstreit zu disponieren. Denn keineswegs zwingt das Unionsrecht zur amtswegigen Durchsetzung des Verbrauchervertragsrechts, sofern diese dem Willen der Parteien – und insbesondere der Intention des Konsumenten – zuwiderläuft. Dies stellt der EuGH mit Blick auf die Klauselkontrolle ausdrücklich heraus: Ein Zivilgericht, das seinen Hinweispflichten „nachkommt, muss […] die fragliche Klausel jedoch dann nicht unangewendet lassen, wenn der Verbraucher nach einem Hinweis […] die Missbräuchlichkeit und Unverbindlichkeit nicht geltend machen möchte“.157

Soweit ersichtlich, haben deutsche Gerichte diese unionsrechtlichen Vorgaben bislang noch nicht ausdrücklich aufgegriffen. Demgegenüber richtet die italienische Corte di Cassazione die amtswegige Anwendung des unionsrechtlich fundierten Verbrauchervertragsrechts nun explizit an dieser Entscheidungslinie des EuGH aus.158

nommen nicht als mit dem Grundsatz der Effektivität unvereinbar angesehen werden [kann], der für die Anwendung der durch Unionsrecht verliehenen Rechte durch die Mitgliedstaaten gilt. Es steht nämlich fest, dass bei der Anwendung dieses Grundsatzes insbesondere […] der Schutz der Verteidigungsrechte, von denen der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens ein Teil ist,“ berücksichtigt werden muss. 156 Vgl. erneut auch EuGH Urt. v. 21.2.2013 – Rs. C-472/11 (Banif Plus Bank), EU:C: 2013:88 Rn. 31: Das Zivilgericht, das nach einer von Amts wegen den Tatsachenstoff weiter erforscht und das unionale Verbrauchervertragsrecht anwendet, ist „verpflichtet, die Parteien darüber zu informieren und sie aufzufordern, dies in der von den nationalen Verfahrensvorschriften dafür vorgesehenen Form kontradiktorisch zu erörtern“ (Herv. d. Verf.). Siehe auch MünchKommBGB / Basedow (2016), Vor § 305 BGB Rn. 39: „Im Ergebnis wird so der Eingriff in den verfahrensrechtlichen Grundsatz der Dispositionsmaxime abgemildert, den die Statuierung einer richterlichen Inhaltskontrolle von Amts wegen unweigerlich zur Folge hat“. 157 EuGH Urt. v. 4.6.2009 – Rs. C-243/08 (Pannon), Slg. 2009, I-4713 Rn. 33. Siehe zu dieser partiellen Disponibilität der Materialisierung eingehend unten Kapitel 7 § 1 C. 158 Vgl. Cass. civ. v. 12.12.2014 – n° 26242, Foro it. 2015. I, 862, 875. Dazu statt vieler Patti, ZEuP 2016, 950, 952 ff.

§ 3 Zwangsvollstreckungsrecht und unionale Materialisierungsvorgaben

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§ 3 Zwangsvollstreckungsrecht im Bannkreis unionaler Materialisierungsvorgaben § 3 Zwangsvollstreckungsrecht und unionale Materialisierungsvorgaben

Die unionsrechtliche Überformung des deutschen Zivilprozessrechts kann sämtliche Verfahrensabschnitte und -arten betreffen. Entsprechend wird neben dem Insolvenzverfahren als Gesamtvollstreckungsverfahren159 auch das Zwangsvollstreckungsverfahren in den Dienst der Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit gestellt. So sieht der EuGH in seiner Aziz-Entscheidung das mitgliedstaatliche Zwangsvollstreckungsrecht unter bestimmten Voraussetzungen in der Pflicht, ein unionsrechtskonformes Ergebnis zu erzielen, wenn die Materialisierungsinstrumente des EU-Verbrauchervertragsrechts im Erkenntnisverfahren nicht zur Anwendung gelangt sind. Dabei betont der Gerichtshof zwar einerseits, dass die „im Rahmen eines [V]ollstreckungsverfahrens zulässigen Einwendungen […] der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten“ unterfallen.160 Andererseits könne der Effektivitätsgrundsatz aber einer Regelung des nationalen Zwangsvollstreckungsrechts entgegenstehen, „die im Rahmen eines [V]ollstreckungsverfahrens keine Einwendungen in Bezug auf die Missbräuchlichkeit einer dem vollstreckbaren Titel zugrunde liegenden Vertragsklausel zulässt“.161

Nach Auffassung des EuGH dient das nationale Zwangsvollstreckungsrecht also gegebenenfalls als letzte Bastion der Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit: „Nationale Vollstreckungsverfahren […] unterliegen den Anforderungen, die sich aus d[er] einem wirksamen Verbraucherschutz dienenden Rechtsprechung des Gerichtshofs ergeben“.162

Allerdings sind nach der Konzeption der deutschen ZPO materiellrechtliche Einwendungen im Erkenntnisverfahren regelmäßig bis zum Schluss der

159 Vgl. im Kontext der Klauselrichtlinie EuGH Urt. v. 21.4.2016 – Rs. C-377/14 (Radlinger), EU:C:2016:283 Rn. 51 ff.: Hier hält der Gerichtshof eine Vorschrift des nationalen Insolvenzverfahrensrechts für unvereinbar mit dem Unionsrecht, wenn diese „es dem in einem Insolvenzverfahren angerufenen Gericht nicht erlaubt, von Amts wegen die etwaige Missbräuchlichkeit von Vertragsklauseln zu prüfen, auf denen die im Rahmen dieses Verfahrens angemeldeten Forderungen beruhen“. 160 EuGH Urt. v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 (Aziz), EU:C:2013:164 Rn. 50. 161 So mit Blick auf das spanische Hypothekenvollstreckungsverfahren EuGH Urt. v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 (Aziz), EU:C:2013:164 Rn. 53 ff. und insbesondere 64. Vgl. auch EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-280/13 (Barclays), EU:C:2014:279 Rn. 37; EuGH Urt. v. 26.1.2017 – Rs. C-412/14 (Banco Primus), EU:C:2017:60 Rn. 35 ff. 162 EuGH Urt. v. 17.7.2014 – Rs. C-169/14 (Sánchez Morcillo), EU:C:2014:2099 Rn. 25.

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Kapitel 6 – Materialisierung durch Zivilprozessrecht

mündlichen Verhandlung geltend zu machen.163 Unterlässt der Beklagte dies, so wird die fragliche Einwendung zum Schutz der Rechtskraft präkludiert.164 Etwas anderes gilt nur, wenn der Grund, auf dem die Einwendung beruht, erst nachträglich entstanden ist. Letzteres dürfte bei den Materialisierungsinstrumenten des EU-Verbrauchervertragsrechts indes kaum der Fall sein: Beispielsweise ist eine missbräuchliche Klausel fraglos bereits vor dem Schluss der mündlichen Verhandlung als solche einzuordnen. Gleiches gilt für eine Vertragsbestimmung, die gegen ein Diskriminierungsverbot des Unionsprivatrechts verstößt. Zu diesem Zeitpunkt bestehen auch gesetzliche Vertragslösungsrechte, wie das Verbraucherwiderrufsrecht oder das Widerspruchsrecht im Lebensversicherungsvertragsrecht.165 Zwingt nun das Unionsrecht womöglich dennoch zu einer Korrektur auf Ebene des Vollstreckungsverfahrens, falls das Zivilgericht im Erkenntnisverfahren – entgegen der Vorgaben des EuGH – nicht alle Materialisierungsinstrumente des Unionsprivatrechts geprüft hat oder prüfen konnte? Zu denken ist zunächst an Fallgestaltungen, in denen Verbraucher ihre unionsrechtlich determinierten Gestaltungsrechte erst im Zwangsvollstreckungsverfahren als Einwendung vorbringen, weil ihnen diese Rechte zuvor unbekannt waren (A). Aber auch darüber hinaus ist zu fragen, unter welchen Voraussetzungen das nationale Zwangsvollstreckungsrecht etwaige Versäumnisse im Erkenntnisverfahren kompensieren muss. Hier gilt es verallgemeinerungsfähige Kriterien aufzustellen, mithilfe derer ermittelt werden kann, ob das Unionsrecht im Einzelfall eine Materialisierung durch das Zwangsvollstreckungsrecht gebietet (B). A. § 767 Abs. 2, § 796 Abs. 2 ZPO und die Ausübung unionsprivatrechtlicher Gestaltungsrechte Ebenso wie nationale Ausschlussfristen für die Einlegung von Rechtsbehelfen erkennt das Unionsrecht auch die (Einwendungs)Präklusion selbst dann an, wenn hierdurch die Durchsetzung unionaler Rechte vereitelt wird.166 EntspreVgl. § 767 Abs. 2 ZPO. Hingegen ist im Mahnverfahren nach § 796 Abs. 2 ZPO die Zustellung des Vollstreckungsbescheids maßgeblich. 164 Vgl. wiederum § 767 Abs. 2; § 796 Abs. 2 ZPO. Vgl. zum Schutz der materiellen Rechtskraft durch die Präklusionvorschriften nur BGH Urt. v. 19.11.2003 – Az. VIII ZR 60/03, BGHZ 157, 47 ff. und siehe eingehend statt aller Zöller / Herget (2016), § 767 ZPO Rn. 14. 165 Wie bei anderen Gestaltungsrechten beruhen solche Einwendungen im Rahmen der § 767 Abs. 2, § 796 Abs. 2 ZPO ebenfalls auf dem Gestaltungsgrund, nicht hingegen erst auf der Gestaltungserklärung, vgl. bereits RG Urt. v. 20.11.1903 – Az. III 414/03, RGZ 64, 228, 230. 166 Deutlich mit Blick auf das Vergaberecht etwa EuGH Urt. v. 12.12.2002 – Rs. C470/99 (Universale-Bau), Slg. 2002, I-11617 Rn. 76 und 78: „Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die Festsetzung angemessener Ausschlussfristen für die Einlegung von Rechtsbehelfen grundsätzlich dem […] Effektivitätsgebot genügt, da sie ein Anwendungsfall des 163

§ 3 Zwangsvollstreckungsrecht und unionale Materialisierungsvorgaben

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chend können auch die Präklusionsvorschriften der § 767 Abs. 2, § 796 Abs. 2 ZPO in der Regel nicht durch den Effektivitätsgrundsatz überwunden werden, wenn ein Unternehmer seine Forderungen aus einem Verbrauchervertrag gegen einen Konsumenten tituliert hat, obwohl dem Verbraucher ein unionsprivatrechtliches Gestaltungsrecht, z. B. in Form eines Vertragslösungsrechts, zusteht.167 Eine Ausnahme muss indes gelten, wenn dem Konsumenten die Wahrnehmung seiner Rechte im Erkenntnisverfahren faktisch unmöglich war: So liegt der Fall, wenn der Verbraucher nicht über ein ihm zustehendes Widerrufsrecht belehrt worden ist und er es daher im Vorprozess nicht ausüben und gegen den Anspruch einwenden konnte. Eine kenntnisunabhängige Präklusion des Widerrufsrechts hätte hier zur Folge, dass dieses unionsprivatrechtliche Materialisierungsinstrument seiner Wirksamkeit beraubt würde. Indes beruht das Widerrufsrecht gerade auf der Prämisse, dass die Vertragsfreiheit in der konkreten Abschlusssituation nicht oder nur eingeschränkt verwirklicht werden konnte und der Verbraucher deshalb nachträglich die Chance zur Selbstbestimmung erhalten muss. 168 Solange das Unionsrecht dem Verbraucher das Vertragslösungsrecht materiellrechtlich zuerkennt und die Ausübungfrist noch nicht abgelaufen ist, verlangen sowohl der Effektivitätsgrundsatz als auch die hinter diesem Materialisierungsinstrument stehenden unionsgrundrechtlichen Schutzpflichten, dass der Verbraucher hiervon auch noch nach dem in § 767 Abs. 2, § 796 Abs. 2 ZPO genannten Zeitpunkten Gebrauch machen und entsprechend seine Vertragsfreiheit aktualisieren kann. 169 grundlegenden Prinzips der Rechtssicherheit ist […]. Zudem steht außer Zweifel, dass durch Sanktionen wie die Präklusion gewährleistet werden kann, dass rechtswidrige Entscheidungen […] so rasch wie möglich angefochten und berichtigt werden, was […] mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit in Einklang steht“ (Herv. d. Verf.). Grundlegend betont bereits EuGH Urt. v. 16.12.1976 – Rs. 33/76 (Rewe), Slg. 1976, 1989 Rn. 6, „dass das Gemeinschaftsrecht es […] nicht verbietet, einem Bürger, der vor einem mitgliedstaatlichen Gericht die Entscheidung einer innerstaatlichen Stelle wegen Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht anficht, den Ablauf der im innerstaatlichen Recht vorgesehenen Fristen für die Rechtsverfolgung entgegenzuhalten“. Siehe sodann nur EuGH Urt. v. 10.7.1997 – Rs. C-261/95 (Palmisani), Slg. 1997, I-4025 Rn. 28; EuGH Urt. v. 16.5.2000 – Rs. C78/98 (Preston), Slg. 2000, I-3201 Rn. 33. 167 Demgegenüber wollen z. B. MünchKommZPO / Schmidt / Brinkmann (2016), § 767 ZPO Rn. 80 und 82 ebenso wie bei vertraglich eingeräumten Gestaltungsrechten auf den – durch den Verbraucher frei wählbaren – Zeitpunkt der Ausübung des Verbraucherwiderrufsrechts abstellen. 168 Siehe erneut oben Kapitel 4 § 3 F I. 169 Vgl. zur Aktualisierung der Vertragsfreiheit durch Vertragslösungsrechte oben Kapitel 4 § 3 F I. Im Ergebnis ebenso LG Darmstadt Urt. v. 30.4.2010 – Az. 6 S 40/10, NJOZ 2011, 644, 645 sowie z. B. Mankowski, Beseitigungsrechte (2003), S. 44 f.; A. Staudinger, FS Kollhosser I (2004), S. 347, 351 ff. und 359 ff.; Schwab, JZ 2006, 170, 176; Schapp, Die Präklusion von Gestaltungsrechten nach § 767 Abs. 2 ZPO (2011), S. 240; MünchKomm-

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Praktisch bedeutsam wird dies insbesondere in Konstellationen, in denen das Unionsrecht nicht ordnungsgemäß belehrten Verbrauchern zeitlich unbefristete Widerrufsrechte gewährt.170 Aber auch bei Vertragslösungsrechten, die – etwa im Anwendungsbereich der Verbraucherrechterichtlinie – einer Höchstfrist unterliegen,171 sind ähnliche Fallgestaltungen denkbar: Verschafft sich der Unternehmer im Mahnverfahren einen Titel gegen den Verbraucher und betreibt hieraus die Zwangsvollstreckung, so mag die Widerrufsfrist zu diesem Zeitpunkt durchaus noch einige Monate laufen. Das deutsche Zivilprozessrecht darf in diesem Fall die Wirksamkeit der unionsrechtlichen Vorgaben nicht dadurch konterkarieren, dass es den Widerrufszeitraum durch Präklusion verkürzt, obwohl der Verbraucher mangels Kenntnis seines Vertragslösungsrechtes gar nicht in Lage war, dieses auszuüben.172 Unter bestimmten Voraussetzungen kann daher der Konsument sein Vertragslösungsrecht mit Erfolg im Rahmen einer Vollstreckungsgegenklage nach § 767 ZPO einwenden, ohne dass die Präklusion nach § 767 Abs. 2, § 796 Abs. 2 ZPO entgegensteht. Methodisch ist dies mit einer unions(grund)rechtskonformen Auslegung und Anwendung der Normen dahingehend zu erreichen, dass das Vertragsbeseitigungsrecht erst mit seiner Ausübung als „entstanden“ gilt.173 Diese Lösung läuft auch nicht der mit diesen Vorschriften intendierten und in der Unionsrechtsordnung ebenfalls anerkannten174 Wahrung der Rechtskraft

ZPO / Schmidt / Brinkmann (2016), § 767 ZPO Rn. 80 und 82; Zöller / Herget (2016), § 767 ZPO Rn. 14. Vgl. auch Thole, ZZP 124 (2011), 45, 61 f.; Klimke, ZZP 126 (2013), 43 ff. 170 Vgl. zu einer solchen Fallgestaltung nur LG Darmstadt Urt. v. 30.4.2010 – Az. 6 S 40/10, NJOZ 2011, 644, 645. Vgl. zum Widerrufsrecht bei Verbraucherkreditverträgen nur EuGH Urt. v. 13.12.2001 – Rs. C-481/99 (Heininger), Slg. 2001, I-9945 Rn. 41 ff. Vgl. auch EuGH Urt. v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 (Schulte), Slg. 2005, I-9215 Rn. 97 ff.; EuGH Urt. v. 25.10.2005 – Rs. C-229/04 (Crailsheimer Volksbank), Slg. 2005, I-9293 Rn. 48 f. Allerdings hat der deutsche Gesetzgeber dem im Fall von Belehrungsmängeln vormals zeitlich unbefristeten Widerrufsrecht durch Art. 229 § 38 Abs. 3 EGBGB mit Wirkung zum 21.6.2016 nun zumindest im Bereich der Verbraucherkreditverträge – weitgehend – ein Ende gesetzt. Vgl. zur nach wie vor ungelösten Parallelfrage des „ewigen“ Widerspruchsrechts im Versicherungsvertragsrecht EuGH Urt. v. 19.12.2013 – Rs. C209/12 (Endress), EU:C:2013:864 Rn. 20 ff. 171 Ausweislich des Art. 10 Abs. 1 endet die Widerrufsfrist zwölf Monate nach Ablauf der – grundsätzlich vierzehntägigen – Widerrufsfrist gemäß Art. 9 Abs. 2 Verbraucherrechterichtlinie. 172 In diese Richtung auch Schapp, Die Präklusion von Gestaltungsrechten nach § 767 Abs. 2 ZPO (2011), S. 240; MünchKommZPO / Schmidt / Brinkmann (2016), § 767 ZPO Rn. 82. 173 Vgl. Zöller / Herget (2016), § 767 ZPO Rn. 14. 174 Vgl. nur EuGH Urt. v. 1.6.1999 – Rs. C-126/97 (Eco Swiss), Slg. 1999, I-3055 Rn. 46 ff.; EuGH Urt. v. 6.10.2009 – Rs. C-40/08 (Asturcom Telecomunicaciones), Slg. 2009, I-9579 Rn. 36; EuGH Beschl. v. 16.11.2010 – Rs. C-76/10 (Pohotovosť), Slg. 2010, I-11557 Rn. 46.

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zuwider: § 767 Abs. 2, § 796 Abs. 2 ZPO bieten schließlich keinerlei Schutz gegenüber solchen nachträglichen Einwendungen. Erforderlich ist allerdings, dass der nicht ordnungsgemäß belehrte Verbraucher im Vorprozess nicht auf anderem Wege von dem Widerrufsrecht erfahren hat und er dieses Recht nach etwaiger Kenntniserlangung unverzüglich ausübt.175 Eine solche Einschränkung der Verbraucherrechte ist nach Ansicht des EuGH durch das Gebot der Verfahrensbeschleunigung gerechtfertigt und steht mit dem Effektivitätsgebot in Einklang. 176 Die positive Kenntnis des Verbrauchers dürfte in der Praxis jedoch nur selten belegbar sein. Insbesondere reicht laut EuGH der Umstand allein nicht aus, dass der Verbraucher anwaltlich vertreten war.177 Wie bereits dargelegt,178 sind die Zivilgerichte im Erkenntnisverfahren zudem grundsätzlich nicht berechtigt, den Verbraucher auf das Bestehen eines Widerrufsrechts hinzuweisen. Insgesamt zwingt das Unionsrecht die deutsche Rechtsprechung damit zur Abkehr von ihrer überkommenen Linie: Der BGH stellte sich in der Vergangenheit nämlich auf den Standpunkt, dass ein Verbraucherwiderrufsrecht nach § 767 Abs. 2, § 796 Abs. 2 ZPO selbst dann präkludiert werden kann, wenn der Verbraucher nicht über sein Recht belehrt worden ist.179 Solange der Konsument aber keine Kenntnis vom Widerrufsrecht hat, gebieten der Effektivitätsgrundsatz jedoch ebenso wie die unionsgrundrechtlichen Schutzpflichten, dass der Verbraucher dieses Recht notfalls noch im Stadium der Zwangsvollstreckung durch eine Vollstreckungsabwehrklage geltend machen kann. Auch insoweit erfolgt eine Materialisierung mithilfe des Zivilverfahrensrechts. Schwab, JZ 2006, 170, 176. Noch weiter gehen MünchKommZPO / Schmidt /  Brinkmann (2016), § 767 ZPO Rn. 80 und 82: Als „tatbestandloses“ Gestaltungsrecht könne das Widerrufsrecht willkürlich ausgeübt werden, ohne durch § 767 Abs. 2 präkludiert zu sein. 176 Namentlich nimmt der EuGH Einschränkungen durch die Verfahrensgrundsätze hin, zu denen auch das Beschleunigungsgebot zählt, vgl. nur EuGH Urt. v. 18.2.2016 – C-49/14 (Finanmadrid), EU:C:2016:98 Rn. 39und 44. 177 EuGH Urt. v. 4.6.2015 – Rs. C-497/13 (Faber), EU:C:2015:357 Rn. 47. Dies lässt sich auch mit der Überlegung rechtfertigen, dass der Unternehmer, der gegen die Belehrungspflicht verstoßen hat, nicht dadurch von den Folgen seines eigenen Fehlverhaltens entlastet werden soll, dass sich der Verbraucher einen Anwalt nimmt, Schwab, JZ 2006, 170, 176. 178 Siehe oben § 2 B I 3. 179 Unter Geltung der nunmehr durch die Schuldrechtsmodernisierung überholten alten Rechtslage sah BGH Urt. v. 16.10.1995 – Az. II ZR 298/94, BGHZ 131, 82, 85 ff. den Widerruf bereits nicht als Gestaltungserklärung an. Dazu statt vieler S. Lorenz, NJW 1995, 2258, 2262 f. Zu Recht anders nun aber LG Darmstadt Urt. v. 30.4.2010 – Az. 6 S 40/10, NJOZ 2011, 644, 645. Siehe ferner nur A. Staudinger, FS Kollhosser I (2004), S. 347, 351 ff. und 359 ff.; Schwab, JZ 2006, 170, 176; Zöller / Herget (2016), § 767 ZPO Rn. 14; MünchKommZPO / Schmidt / Brinkmann (2016), § 767 ZPO Rn. 80 und 82. 175

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B. Keine umfassende Korrektur über das Zwangsvollstreckungsverfahren Gerade im Gefolge der Aziz- sowie der Finanmadrid-Entscheidungen des EuGH drängt sich die Frage auf, ob das Zwangsvollstreckungsrecht allgemein als Korrektiv heranzuziehen ist, wenn unionsrechtliche Materialisierungsinstrumente im Rahmen des Erkenntnis- oder des Mahnverfahrens unberücksichtigt geblieben sind: Schließlich fordert der Gerichtshof die Durchsetzung des Unionsrechts entweder in dem Verfahren, das zur Schaffung des Vollstreckungstitels führt „oder im Rahmen des Verfahrens zur Vollstreckung“ dieses Titels.180 Allerdings muss schon unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der Rechtskraft einer Materialisierung im Erkenntnisverfahren Vorrang gebühren (I). Damit ist den Voraussetzungen nachzugehen, unter denen das Unionsrecht ausnahmsweise eine Fortsetzung der Materialisierung auf Ebene und mit den Mitteln des Zwangsvollstreckungsrechts verlangt (II). I. Vorrang der Materialisierung im Erkenntnisverfahren und Schutz der Rechtskraft Zunächst ist in die Waagschale zu werfen, dass die Rechtssicherheit grundsätzlich die Aufrechterhaltung der rechtskräftigen Entscheidung gebietet. Schließlich anerkennt und schützt das Unionsrecht die Rechtskraft zivilrechtlicher Entscheidungen unter bestimmten Voraussetzungen selbst dann, wenn der Entscheidungsinhalt der Verwirklichung unionaler Rechte zuwiderläuft. 181 In seiner ständigen Rechtsprechung verweist der EuGH dabei auch im unionalen Verbrauchervertragsrecht auf die herausgehobene Bedeutung der Rechtskraft in der Rechtsordnung der Union und ihrer Mitgliedstaaten und folgert daraus, dass „zur Gewährleistung des Rechtsfriedens und der Beständigkeit rechtlicher Beziehungen sowie einer geordneten Rechtspflege die nach Ausschöpfung des Rechtswegs oder nach Ablauf der entsprechenden Rechtsmittelfristen unanfechtbar gewordenen Gerichtsentscheidungen nicht mehr in Frage gestellt werden können“.182

Entsprechend zwingt das Unionsrecht die nationalen Zivilgerichte grundsätzlich selbst dann nicht zu einer Rechtskraftdurchbrechung, „wenn dadurch ein Verstoß dieser Entscheidung gegen Gemeinschaftsrecht abgestellt werden 180 Vgl. zum spanischen Hypothekenvollstreckungsverfahren erneut EuGH Urt. v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 (Aziz), EU:C:2013:164 Rn. 53 ff. und insbesondere Rn. 64. Vgl. zum spanischen Mahnverfahren EuGH Urt. v. 18.2.2016 – Rs. C-49/14 (Finanmadrid), EU:C:2016:98 Rn. 46. 181 Siehe mit Blick auf Art. 101 AEUV etwa EuGH Urt. v. 1.6.1999 – Rs. C-126/97 (Eco Swiss), Slg. 1999, I-3055 Rn. 46 ff. Siehe zur Klauselrichtlinie nun auch EuGH Urt. v. 26.1.2017 – Rs. C-412/14 (Banco Primus), EU:C:2017:60 Rn. 45 ff. 182 Siehe im Kontext der Klauselrichtlinie nur EuGH Urt. v. 6.10.2009 – Rs. C-40/08 (Asturcom Telecomunicaciones), Slg. 2009, I-9579 Rn. 36; EuGH Beschl. v. 16.11.2010 – Rs. C-76/10 (Pohotovosť), Slg. 2010, I-11557 Rn. 46.

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könnte“.183 Allerdings hat diese Rechtsprechungslinie mit der Klausner-Entscheidung des EuGH zumindest im Wirtschaftsvertragsrecht nun erste Risse bekommen.184 Vor allem verlangen der Effektivitätsgrundsatz wie auch die unionsgrundrechtlichen Schutzpflichten, dass die materiellrechtlichen Materialisierungsinstrumente zumindest „in irgendeiner […] Phase des Verfahrens“ – einschließlich des Zwangsvollstreckungsverfahrens – ihre Wirkungen zugunsten des Verbrauchers entfalten können. 185 Ebenso wie die Materialisierungsinstrumente die unionsgrundrechtlich geforderte Chance auf Selbstbestimmung durch das Instrument des Vertrags garantieren sollen, so muss der Konsument auch im Rahmen des mitgliedstaatlichen Zivilprozesses eine Chance haben, von den auf Selbstbestimmungsmöglichkeiten gerichteten Materialisierungsinstrumenten zu profitieren. Lässt er diese Chance im Erkenntnis- oder im Mahnverfahren vorüberziehen, obwohl er zur Wahrnehmung seiner Rechte bereits von sich aus oder zumindest durch die materielle Prozessleitung des Gerichts in der Lage ist,186 bedarf es aus der Warte des Unionsrechts keiner weiteren Intervention auf der nachgelagerten Ebene des Zwangsvollstreckungsrechts. So liegt der Fall z. B., wenn ein Konsument die Tatsachen kennt, welche das Eingreifen der unionalen Materialisierungsinstrumente begründen, aber mit seinem – neuen – Vorbringen aus taktischen Gründen so lange zögert, bis er nach § 296 Abs. 2

Siehe wiederum nur EuGH Urt. v. 6.10.2009 – Rs. C-40/08 (Asturcom Telecomunicaciones), Slg. 2009, I-9579 Rn. 37; EuGH Beschl. v. 16.11.2010 – Rs. C-76/10 (Pohotovosť), Slg. 2010, I-11557 Rn. 45. 184 EuGH Urt. v. 11.11.2015 – Rs. C-505/14 (Klausner), EU:C:2015:742 Rn. 27 und Rn. 44 ff. wendet sich explizit dagegen, dass Verträge, die eine unter Verstoß gegen Art. 108 Abs. 3 S. 3 AEUV durchgeführte Beihilfe enthalten, nach nationalem Privat- und Zivilprozessrecht fortbestehen können. Dabei deutet der Gerichtshof erstmals an, dass es notfalls einer Durchbrechung der nach § 322 ZPO eingetretenen Rechtskraft eines deutschen zivilgerichtlichen Urteils bedarf, in dem die Wirksamkeit der als Beihilfe eingestuften Verträge festgestellt worden ist: Namentlich relativiert der EuGH seine bisherige Spruchpraxis und befindet nunmehr, dass „das Unionsrecht es einem nationalen Gericht nicht in jedem Fall [gebietet], von der Anwendung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften, aufgrund deren eine Entscheidung Rechtskraft erlangt, abzusehen, selbst wenn dadurch ein durch die fragliche Entscheidung eingetretener Verstoß gegen das Unionsrecht beseitigt werden könnte“ (Rn. 39, Herv. d. Verf.). Auch deutet EuGH Urt. v. 26.1.2017 – Rs. C412/14 (Banco Primus), EU:C:2017:60 Rn. 49 ff. und 52 im Kontext der Klauselkontrolle nun womöglich ein unionsrechtliches Verständnis der Reichweite der Rechtskraft an. 185 Vgl. EuGH Urt. v. 14.6.2012 – Rs. C-618/10 (Banco Español de Crédito), EU:C:2012:349 Rn. 52 ff. und insbesondere 57. Siehe zum Hypothekenvollstreckungsverfahren nach spanischem Prozessrecht zudem EuGH Urt. v. 17.7.2014 – Rs. C-169/14 (Sánchez Morcillo), EU:C:2014:2099 Rn. 50. 186 Vgl. hierzu erneut oben § 2 B I 3 und oben § 2 B II 2. 183

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ZPO präkludiert ist.187 Gleiches gilt, wenn der Konsument entgegen § 296 Abs. 1, § 273 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 5 ZPO richterlichen Aufklärungsauflagen oder Vorlageanordnungen nach §§ 142, 144 ZPO nicht rechtzeitig nachkommt und somit die ihm durch das Gericht im Rahmen der materiellen Prozessleitung angebotene Hilfestellung nicht annimmt.188 II. Voraussetzungen und Instrumente der subsidiären Materialisierung durch Zwangsvollstreckungsrecht Anders verhält es sich, wenn der Verbraucher keine Möglichkeit hat, die der Verwirklichung seiner Vertragsfreiheit dienenden Materialisierungsinstrumente zu nutzen, da hier die Effektivität dieser Instrumente bedroht ist und auch die unionsgrundrechtlichen Schutzpflichten unerfüllt bleiben. Soweit beispielsweise das Gericht im Vorprozess trotz entsprechender Anhaltspunkte seinen unionsrechtlichen Pflichten zur materiellen Prozessleitung und insbesondere zur ergänzenden Tatsachenerforschung nicht genügt und deshalb Materialisierungsinstrumente außer Betracht gelassen hat, spricht dies dafür, dass die aus dem EU-Verbrauchervertragsrecht folgenden materiellrechtlichen Einwendungen auch noch auf Ebene der Zwangsvollstreckung im Rahmen einer Vollstreckungsgegenklage berücksichtigt werden müssen. 189 Wie gezeigt, können bei Vertragsbeseitigungsrechten dann der Effektivitätsgrundsatz sowie die aus der Vertragsfreiheit folgenden Schutzpflichten gegebenenfalls über die Präklusion nach § 767 Abs. 2, § 796 Abs. 2 ZPO hinweghelfen.190 Dass der EuGH eine solche unionsrechtliche Überformung der Rechtsbehelfe im Zwangsvollstreckungsverfahren intendiert, zeigt sich jüngst darin, dass der Gerichtshof auch hier die „ fehlende Waffengleichheit zwischen den Gewerbetreibenden als Vollstreckungsgläubigern auf der einen und den Verbrauchern in ihrer Eigenschaft als Vollstreckungsschuldner auf der anderen Seite“ postuliert.191 187 Vgl. zu den Voraussetzungen des § 296 Abs. 2 ZPO statt aller Zöller / Greger (2016), § 296 ZPO Rn. 8b. Siehe zur Präklusion nach § 296 ZPO erneut oben § 2 B III 1. 188 Vgl. zur unionsrechtlichen Beeinflussung der materiellen Prozessleitung erneut oben § 2 B I 3 und oben § 2 B II 2. 189 Vgl. zum Hypothekenvollstreckungsverfahren nach spanischem Prozessrecht wiederum EuGH Urt. v. 17.7.2014 – Rs. C-169/14 (Sánchez Morcillo), EU:C:2014:2099 Rn. 50; EuGH Urt. v. 26.1.2017 – Rs. C-412/14 (Banco Primus), EU:C:2017:60 Rn. 52. Vgl. zum Mahnverfahren auch EuGH Urt. v. 14.6.2012 – Rs. C-618/10 (Banco Español de Crédito), EU:C:2012:349 Rn. 52 ff. und siehe auch sogleich unten § 4 C II. 190 Siehe hierzu erneut oben A. Vgl. zudem LG Darmstadt Urt. v. 30.4.2010 – Az. 6 S 40/10, NJOZ 2011, 644, 645 sowie z. B. A. Staudinger, FS Kollhosser I (2004), S. 347, 351 ff. und 359 ff.; Schwab, JZ 2006, 170, 176; Zöller / Herget (2016), § 767 ZPO Rn. 14; MünchKommZPO / Schmidt / Brinkmann (2016), § 767 ZPO Rn. 80 und 82. 191 EuGH Urt. v. 17.7.2014 – Rs. C-169/14 (Sánchez Morcillo), EU:C:2014:2099 Rn. 47 ff. und insbesondere Rn. 50 (Herv. d. Verf.).

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Zudem bringt der EuGH mit Art. 47 GRCh ein weiteres Unionsgrundrecht in Stellung, welches im Zusammenspiel mit den Materialisierungsinstrumenten des EU-Verbrauchvertragsrechts eine bestimmte Lesart des nationalen Zwangsvollstreckungsrechts gebieten kann. Allerdings erzwingt Art. 47 GRCh nur den Zugang zu einer Gerichtsinstanz.192 Deshalb lässt der EuGH kurzerhand den Effektivitätsgrundsatz mit dem Erfordernis des effektiven Rechtsschutzes verschmelzen und begründet so, dass kein mitgliedstaatliches „[V]ollstreckungsverfahren […] die Wirksamkeit des mit der Richtlinie 93/13, in Verbindung mit Art. 47 der Charta, angestrebten Verbraucherschutzes“ bedrohen dürfe, indem der Konsument durch die Verfahrensvorschriften daran gehindert wird, „aufgrund der Rechte, die den Verbrauchern nach der Richtlinie 93/13 zustehen, Rechtsbehelfe bei Gericht einzulegen“.193 Auch hier ist allerdings die Einschränkung zu machen, dass der Verbraucher nur dann entgegen der § 767 Abs. 2, § 796 Abs. 2 ZPO privilegiert werden kann, wenn er nicht bereits im Erkenntnisverfahren sowohl um die entsprechenden Tatsachengrundlagen als auch um die daraus folgenden unionsrechtlich fundierten Rechte wusste.194 Darüber liegt eine unionsrechtlich untermauerte Durchbrechung der Rechtskraft gerade bei einem gezielten Missbrauch des Mahnverfahrens durch den Unternehmer nahe: Namentlich mag das Zusammenspiel der unionalen Vorgaben und des deutschen Prozessrechts hier eine auf Unterlassung der Zwangsvollstreckung sowie auf Herausgabe des Titels gerichtete Klage des Verbrauchers nach § 826 BGB gebieten.195 C. Zwischenergebnis Wenn im Erkenntnisverfahren vor deutschen Zivilgerichten Materialisierungsinstrumente des EU-Privatrechts außer Betracht geblieben sind, gebietet das Unionsrecht keineswegs in jedem Fall eine Korrektur über das Zwangsvollstreckungsrecht. Vielmehr ist danach zu differenzieren, ob der Konsument eine werthaltige Möglichkeit hatte, von der Anwendung der einschlägigen Normen des unionalen Verbrauchervertragsrechts zu profitieren. Dabei sind in erster Linie die mitgliedstaatlichen Zivilgerichte im Erkenntnisverfahren gefragt, den Anforderungen des EuGH durch Rückgriff auf das InstruSiehe aus der ständigen Rechtsprechung nur EuGH Urt. v. 28.7.2011 – Rs. C-69/10 (Samba Diouf), EU:C:2011:524 Rn. 69. 193 EuGH Urt. v. 17.7.2014 – Rs. C-169/14 (Sánchez Morcillo), EU:C:2014:2099 Rn. 50 (Herv. d. Verf.). 194 Vgl. zum Interesse der Verfahrensbeschleunigung und der Präklusion als legitime Sanktion von Verstößen gegen dieses Gebot erneut oben § 2 B III. 195 Dazu noch eingehend unten § 4 C II. Demgegenüber werden in den hiesigen Fallgestaltungen kaum je die strengen Voraussetzungen einer Restitutionsklage nach §§ 578, 580 ff. ZPO erfüllt sein, vgl. statt aller Zöller / Greger (2016), § 580 ZPO Rn. 1 ff. 192

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mentarium der materiellen Prozessleitung Genüge zu tun. Nur wo die Gerichte dieser Funktion nicht gerecht werden und auch der Verbraucher seinerseits die Durchsetzung seiner Rechte nicht in vorwerfbarer Weise versäumt, verlagert sich die Materialisierung auf das Stadium der Zwangsvollstreckung. So liegt der Fall z. B. bei unionsprivatrechtlich fundierten Gestaltungsrechten: Hat ein Verbraucher mangels Belehrung keine Kenntnis von seinem Widerrufsrecht, gebieten der Effektivitätsgrundsatz und die unionsgrundrechtlichen Schutzpflichten, dass der Verbraucher dieses Recht noch im Stadium der Zwangsvollstreckung mithilfe einer Vollstreckungsabwehrklage geltend machen kann.196 Insoweit überlagert das Unionsrecht die nationalen Präklusionsvorschriften in § 767 Abs. 2, § 796 Abs. 2 ZPO und zwingt zu einer unions(grund)rechtskonformen Auslegung und Anwendung dieser Normen dahingehend, dass das Vertragsbeseitigungsrecht erst mit seiner Ausübung als „entstanden“ gilt. Wie weit der EuGH die Pflichten der mitgliedstaatlichen Zivilgerichte zu spannen bereit ist, verdeutlicht zuletzt die Rechtssache Tomášová: Hier deutet der Gerichtshof an, dass dem betroffenen Verbraucher ein unionsrechtlicher Staatshaftungsanspruch gegen den Mitgliedstaat zustehen kann, dessen letztinstanzliche Zivilgerichte sowohl im Erkenntnis- als auch im Zwangsvollstreckungsverfahren die Rechtsprechung des EuGH zum Verbrauchervertragsrecht missachten und dadurch in hinreichend qualifizierter Weise gegen das Unionsrecht verstoßen.197 Während der Gerichtshof in der konkreten Rechtssache einen solchen Verstoß deshalb verneint, weil die Entscheidung des nationalen Zivilgerichts vor den einschlägigen Judikaten des EuGH ergangen ist, lässt sich dieses Urteil durchaus als Warnung an die mitgliedstaatlichen Gerichte verstehen, die prozessuale Durchsetzung der Materialisierungsinstrumente des EU-Verbrauchervertragsrecht ernst zu nehmen.198 Im Übrigen ist der deutschen Rechtsordnung eine durch die Vertragsfreiheit motivierte Materialisierung auf Ebene des Vollstreckungsrechts keineswegs unbekannt. So gibt BVerfG Beschl. v. 6.12.2005 – Az. 1 BvR 1905/02, BVerfGE 115, 51, 66 ff. bei unanfechtbaren Vollstreckungstiteln, welche seiner Bürgschaftsrechtsprechung zuwiderlaufen, den Betroffenen unter bestimmten Voraussetzungen eine Vollstreckungsabwehrklage analog § 79 Abs. 2 S. 3 BVerfGG i. V. m. § 767 ZPO an die Hand. Dazu eingehend M. Vollkommer / G. Vollkommer, FS Canaris I (2007), S. 1243 ff. 197 Im Kontext des Verbrauchervertragsrechts bejaht EuGH Urt. v. 28.7.2016 – Rs. C168/15 (Tomášová), EU:C:2016:602 Rn. 16 ff. und 22 ff. gundsätzlich die Möglichkeit einer „Haftung eines Mitgliedstaats für Schäden, die durch eine unionsrechtswidrige Entscheidung eines letztinstanzlichen Gerichts verursacht wurden“. Siehe zu den Voraussetzungen der unionsrechtlich induzierten Haftung der Mitgliedstaaten für „judikatives Unrecht“ nur Calliess / Ruffert (2016), Art. 340 AEUV Rn. 50. 198 In der Rechtssache hätte der EuGH die Haftung bereits von vornherein mit dem Argument verneinen können, dass der Verbraucher die Rechtsmittel nach nationalem Verfahrensrecht noch nicht erschöpft hatte, obwohl dem Primärrechtsschutz immer Vorrang vor der unionsrechtlich geforderten Staatshaftung der Mitgliedstaaten gebührt. Stattdessen 196

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§ 4 Mahnverfahren und Materialisierung § 4 Mahnverfahren und Materialisierung

Das Mahnverfahren nach der deutschen Zivilprozessordnung erlaubt eine einfache und zeitnahe Durchsetzung unbestrittener Geldforderungen. Der Antragssteller kann nach §§ 688 ff. ZPO ohne kontradiktorisches Verfahren einen Vollstreckungstitel erhalten, sofern der Antragsgegner weder Widerspruch gegen den gerichtlichen Mahnbescheid noch Einspruch gegen den Vollstreckungsbescheid einlegt.199 Weil für das Mahnverfahren der Rechtspfleger am Amtsgericht funktionell zuständig ist200 und nach § 689 Abs. 1 ZPO überdies eine maschinelle Bearbeitung erfolgen kann, ist eine im Vergleich zu streitig geführten Verfahren wesentlich schnellere sowie kostengünstige Anspruchstitulierung möglich. Allerdings stellt sich gerade vor dem Hintergrund der EuGH-Rechtsprechung zur prozessualen Durchsetzung des EU-Verbauchervertragsrechts die Frage, inwieweit die Materialisierung des Prozessrechts auch das Mahnverfahren nach §§ 688 ff. ZPO erfasst. Schließlich ist im Rahmen des Mahnverfahrens gemäß § 690 Abs. 1 Nr. 3 ZPO grundsätzlich nur die „Bezeichnung des Anspruchs unter bestimmter Angabe der verlangten Leistung“ erforderlich, ohne dass die Forderung weiter substantiiert oder Tatsachen vorgebracht werden müssten. 201 Zudem erfolgt gerade keine Anhörung des Antragsgegners, obschon der Schuldner womöglich Einwendungen gegen die Forderung vorzubringen hätte.202 Abgesehen davon, dass die materielle Prüfungskompetenz des Rechtspflegers ohnehin eng umgrenzt ist,203 verfügt das Mahngericht somit auch gar nicht über die notwendigen Informationen, um den Bestand und die Durchsetzbarkeit der Geldforderung umfassend zu prüfen. Diese Ausgestaltung des Mahnverfahrens konfligiert zum einen potenziell mit der Forderung des EuGH nach einer amtswegigen Prüfung des EUVerbrauchervertragsrechts (A). Zum anderen drängt sich die Frage auf, ob das Gericht nun ebenfalls verpflichtet sein soll, die Tatsachengrundlagen von Amts wegen zu erforschen (B). Wäre dies zu bejahen, drohte in der Tat ein Ende des Mahnverfahrens in Verbauchersachen.204 Entsprechend ist nach alternativen Wegen zur Umsetzung der unionalen Vorgaben zu suchen (C). nutzt der Gerichtshof die Gelegenheit, um seine Rechtsprechungslinie zur zivilprozessualen Durchsetzung des Verbraucherrechts in Erinnerung zu rufen, vgl. EuGH Urt. v. 28.7.2016 – Rs. C-168/15 (Tomášová), EU:C:2016:602 Rn. 15, 20 ff. und 28 ff. 199 Statt vieler Dutta, ZZP 126 (2013), 153; Zöller / Vollkommer (2016), Vor § 688 ZPO Rn. 2. 200 Vgl. § 689 ZPO und § 20 Abs. 1 Nr. 1 RPflG. 201 Bei Verbaucherkreditverträgen im Sinne der §§ 491 ff. BGB sind indes auch das Datum des Vertragsabschlusses sowie der nach § 492 Abs. 2 BGB maßgebliche effektive Jahreszins anzugeben. Siehe zum Ganzen nur Dutta, ZZP 126 (2013), 153, 167. 202 Vgl. § 702 Abs. 2 ZPO. 203 Statt aller Zöller / Vollkommer (2016), § 691 ZPO Rn. 1a.

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A. Amtswegige Prüfung des EU-Verbrauchervertragsrechts Nimmt man zunächst die fehlende Schlüssigkeitsprüfung im Mahnverfahren in den Blick, so bietet § 688 Abs. 2 Nr. 1 ZPO ein gewisses Korrektiv für Verbaucherdarlehensverträge nach §§ 491 ff. BGB: Übersteigt der im Mahnverfahren geltend gemachte effektive Jahreszins die zulässige Höchstgrenze von zwölf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz,205 bleibt das Mahnverfahren dem Antragssteller von vornherein verschlossen. Hier offenbart sich bereits eine gewisse Sensibilität für materiellrechtliche Aspekte. Vor allem ist das Mahngericht auch im Übrigen keineswegs gehalten, Verstöße gegen unionales Verbrauchervertragsrecht außer Betracht zu lassen: Jedenfalls bei offenkundig unbegründeten oder gar missbräuchlichen Forderungen ist der Antrag zurückzuweisen.206 Dies gilt insbesondere auch dann, wenn die Forderung evident solchen zwingenden Vorschriften zuwiderläuft, die auf EURichtlinien beruhen.207 Das deutsche Modell des Mahnverfahrens ist damit keineswegs per se mit den unionsrechtlichen Vorgaben unvereinbar. Insbesondere verpflichtet der EuGH die Mahngerichte nicht, alle Anträge bereits a limine abzuweisen, nur weil diese sich auf eine Forderung beziehen, die möglicherweise unter Verletzung von Vorgaben des EU-Verbrauchervertragsrechts zustande gekommen ist.208 Vielmehr muss das Mahngericht die Begründetheit des Antrags lediglich „in irgendeiner […] Phase des Verfahrens prüfen […] können“.209 Unproblematisch sind daher Konstellationen, in denen der Antragsgegner Widerspruch gegen den Mahnbescheid erhebt und auf Antrag einer Partei das streitige Verfahren nach § 696 ZPO eröffnet wird: Hier ist eine umfassende gerichtliche Prüfung ohne weiteres möglich. Auch sofern der Widerspruch des Schuldners unterbleibt, kann das Gericht gerade aufgrund der Zweistufigkeit des deutschen Mahnverfahrens noch in der Phase nach Erlass des Mahnbescheides den Anforderungen des EuGH genügen.210 Anders gewendet steht es dem Mahngericht in Fällen mit Verbraucherbeteiligung also frei, zunächst ohne umfassende Schlüssigkeitsprüfung einen Mahnbescheid zu erlassen.211 Bevor es allerdings einen Titel in Gestalt des Vollstreckungsbescheids schafft, sollte das Gericht angesichts der Vorgaben des EuGH womöglich Vgl. bereits Dutta, ZZP 126 (2013), 153. Vgl. § 688 Abs. 2 Nr. 1 ZPO. 206 Statt aller Zöller / Vollkommer (2016), § 691 ZPO Rn. 1a. 207 Zöller / Vollkommer (2016), § 691 ZPO Rn. 1a und Vor § 688 ZPO Rn. 6a. 208 Hau, JZ 2012, 964, 966. 209 EuGH Urt. v. 14.6.2012 – Rs. C-618/10 (Banco Español de Crédito), EU:C:2012: 349 Rn. 52 ff. und insbesondere 57. 210 Ebenso Hau, JZ 2012, 964, 966. 211 Ebenso MünchKommBGB / Basedow (2016), Vor § 305 BGB Rn. 41: Die Überprüfung des Zahlungsanspruchs habe nicht „in jedem Fall schon vor Erlass des Mahnbescheids stattzufinden“. 204 205

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indes erst prüfen, ob die Materialisierungsinstrumente des unionalen Verbrauchervertragsrechts der Entstehung oder der Durchsetzbarkeit der zu titulierenden Forderung entgegenstehen.212 Diese Lesart könnte nun eine Stütze in der Finanmadrid-Entscheidung des EuGH finden: Hier hielt der Gerichtshof eine Regelung des spanischen Prozessrechts deshalb für unvereinbar mit dem Effektivitätsgrundsatz, weil sie dem – einem deutschen Rechtspfleger vergleichbaren – „secretario judicial“ untersagt, von Amts wegen Verstöße gegen unionales Verbrauchervertragsrecht vor Erlass des Mahnbescheides zu prüfen.213 Dabei steht und fällt die amtswegige Berücksichtigung des EU-Verbrauchervertragsrechts allerdings mit der Frage, auf welcher Tatsachengrundlage das Mahngericht seine Prüfung aufbauen muss. B. Kein Untersuchungsgrundsatz im Mahnverfahren Zumindest in streitigen Verfahren sah der EuGH die mitgliedstaatlichen Zivilgerichte in der Pflicht, „von Amts wegen eine Untersuchung vorzunehmen, um die […] tatsächlichen Grundlagen festzustellen, die es für die Beurteilung benötigt,“ ob ein Materialisierungsinstrument des unionalen Verbrauchervertragsrechts zur Anwendung kommt.214 Damit drängt sich die Frage auf, ob der Gerichtshof die Geltung des Untersuchungsgrundsatzes nun auch auf Mahnverfahren nach §§ 688 ff. ZPO erstrecken will. In der Tat nimmt der EuGH in den spanische Mahnverfahren betreffenden Rechtssachen Banco Español de Crédito und Finanmadrid zunächst ausdrücklich auf seine Rechtsprechung zu streitigen Verfahren – einschließlich der amtswegigen Ermittlung der Tatsachengrundlagen – Bezug.215 Allerdings überträgt der Gerichtshof die darin getroffenen Aussagen nicht unbesehen, sondern hält eine Unterscheidung zwischen den Pflichten des Zivilgerichts in kontradiktorischen Verfahren einerseits und in Mahnverfahren andererseits für angezeigt: In diesem Sinne auch Hau, JZ 2012, 964, 966. Musielak / Voit / Voit (2016), § 691 ZPO Rn. 2; Zöller / Vollkommer (2016), Vor § 688 ZPO Rn. 6a verlagern die Prüfungspflicht gar auf den Zeitpunkt vor dem Erlass des Mahnbescheids. Hingegen sollte laut M. Stürner, ZEuP 2013, 671, 677 „eine amtswegige Prüfung […] grundsätzlich erst für das Verfahrensstadium nach Widerspruchseinlegung zu fordern sein“. 213 EuGH Urt. v. 18.2.2016 – Rs. C-49/14 (Finanmadrid), EU:C:2016:98 Rn. 34 ff. und insbesondere Rn. 50. 214 Z. B. EuGH Urt. v. 21.2.2013 – Rs. C-472/11 (Banif Plus Bank), EU:C:2013:88 Rn. 31. 215 EuGH Urt. v. 14.6.2012 – Rs. C-618/10 (Banco Español de Crédito), EU:C:2012: 349 Rn. 44 verweist namentlich auf EuGH Urt. v. 4.6.2009 – Rs. C-243/08 (Pannon), Slg. 2009, I-4713 Rn. 32 und EuGH Urt. v. 9.11.2010 – Rs. C-137/08 (VB Pénzügyi Lízing), Slg. 2010, I-10847 Rn. 56. Siehe auch EuGH Urt. v. 18.2.2016 – Rs. C-49/14 (Finanmadrid), EU:C:2016:98 Rn. 36. 212

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Kapitel 6 – Materialisierung durch Zivilprozessrecht

„Die vorliegende Rechtssache unterscheidet sich jedoch von denen, in denen die Urteile Pannon GSM und VB Pénzügyi Lízing ergangen sind, dadurch, dass sie die Frage betrifft, welche Aufgaben das nationale Gericht aufgrund der Bestimmungen der Richtlinie 93/13 im Rahmen eines Mahnverfahrens hat, bevor der Verbraucher Widerspruch erhoben hat“.216

Zugleich verkennt der EuGH nicht, dass Verbraucher gerade aufgrund der Ausgestaltung des Mahnverfahrens „davon abgehalten werden könnten, sich zu verteidigen, sei es, weil sie den Umfang ihrer Rechte nicht kennen oder nicht richtig erfassen, oder auch wegen der knappen Angaben in dem von den Gewerbetreibenden eingereichten Antrag auf Erlass eines Mahnbescheids und folglich der Unvollständigkeit der Informationen, über die sie verfügen“.217

Der Gerichtshof folgert daraus, dass das Mahngericht dem Verbraucher in diesem Verfahren beispringen muss. Anders als in streitigen Zivilverfahren muss das Mahngericht Verstöße gegen das unionale Verbrauchervertragsrecht aber lediglich „im Hinblick auf die Informationen, über die es verfügt,“ prüfen.218 Anders ausgedrückt sieht der Gerichtshof die mitgliedstaatlichen Zivilgerichte in Mahnverfahren also gerade nicht verpflichtet, gegebenenfalls durch amtswegige Sachverhaltserforschung alle „tatsächlichen Grundlagen“ zu ermitteln, die für die Anwendung der unionalen Materialisierungsinstrumente erforderlich sind.219 Der EuGH trägt hierdurch dem Wesen und Zweck des Mahnverfahrens Rechnung, das nur dank der eingeschränkten, standardisierten Tatsachenangaben des Antragstellers sowie einer stark reduzierten Schlüssigkeitsprüfung eine rasche und mittlerweile in großen Teilen automatisierte Bearbeitung ermöglicht.

EuGH Urt. v. 14.6.2012 – Rs. C-618/10 (Banco Español de Crédito), EU:C:2012: 349 Rn. 45 (Herv. d. Verf.). Vgl. auch EuGH Urt. v. 18.2.2016 – Rs. C-49/14 (Finanmadrid), EU:C:2016:98 Rn. 36. 217 EuGH Urt. v. 14.6.2012 – Rs. C-618/10 (Banco Español de Crédito), EU:C:2012: 349 Rn. 54; EuGH Urt. v. 18.2.2016 – Rs. C-49/14 (Finanmadrid), EU:C:2016:98 Rn. 52. 218 EuGH Urt. v. 14.6.2012 – Rs. C-618/10 (Banco Español de Crédito), EU:C:2012: 349 Rn. 57; EuGH Urt. v. 18.2.2016 – Rs. C-49/14 (Finanmadrid), EU:C:2016:98 Rn. 36 (Herv. d. Verf.). 219 Diese Differenzierung zwischen streitigem Verfahren und Mahnverfahren findet auch eine Stütze in EuGH Urt. v. 9.11.2010 – Rs. C-137/08 (VB Pénzügyi Lízing), Slg. 2010, I-10847 Rn. 16 ff. und 45: Hier sah der EuGH das nationale Gericht nämlich deshalb dazu verpflichtet, von Amts wegen Untersuchungsmaßnahmen durchzuführen, weil durch den Widerspruch eines Verbrauchers gegen einen Mahnbescheid bereits das streitige Verfahren eingeleitet worden war. Davon unterscheidet EuGH Urt. v. 14.6.2012 – Rs. C618/10 (Banco Español de Crédito), EU:C:2012:349 Rn. 44 f. ausdrücklich die Konstellation, in der noch kein kontradiktorisches Verfahren eingeleitet worden ist. Vgl. zuvor auch schon EuGH Urt. v. 4.6.2009 – Rs. C-243/08 (Pannon), Slg. 2009, I-4713 Rn. 14 f. und 32. 216

§ 4 Mahnverfahren und Materialisierung

507

Dieser Befund deckt sich auch mit den Wertungen, die dem autonomen EU-Verfahrensrecht nach der EuMahnVO220 zugrunde liegen: Im Rahmen des europäischen Mahnverfahrens muss der Antragsteller die wesentlichen Eckpunkte des Sachverhalts nur insoweit beibringen, als diese zur Identifikation und Spezifikation seiner Forderung erforderlich sind: Der Antrag umfasst gemäß Art. 7 Abs. 2 lit. d EuMahnVO zunächst „den Streitgegenstand einschließlich einer Beschreibung des Sachverhalts, der der Hauptforderung und gegebenenfalls der Zinsforderung zugrunde liegt“.

Dabei bleiben diese Angaben ausweislich der Ziffer 6 des Antragsformulars in Anhang I zur EuMahnVO rudimentär und erschöpfen sich namentlich in Zahlencodes, welche eine automatisierte Bearbeitung des Mahnantrags ermöglichen.221 Dies gilt insbesondere auch bei Mahnverfahren, in denen der Antragsgegner Verbaucher ist.222 Die weitere Substantiierung der Forderung erschöpft sich nach Art. 7 Abs. 2 lit. e EuMahnVO sodann in der bloßen „Bezeichnung der Beweise, die zur Begründung der Forderung herangezogen werden“. Bei diesen geringen Anforderungen an die Tatsachengrundlage nimmt es kaum Wunder, dass sich die Schlüssigkeitsprüfung durch das Mahngericht nach Art. 11 Abs. 1 lit. b i.V.m. Art. 8 EuMahnVO darauf beschränkt, ob „die Forderung offensichtlich unbegründet ist“.223 Wenn sich das Unionsrecht im Rahmen der EuMahnVO mit einer kursorischen Prüfung auf Basis der Angaben des Antragstellers begnügt, ist kaum begründbar, weshalb mit Blick auf Mahnverfahren nach mitgliedstaatlichem Prozessrecht – etwa nach §§ 688 ff. ZPO – strengere Anforderungen zu stellen sein sollen.224 220 Verordnung (EG) Nr. 1896/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens, ABl. 2008 L 399/1. 221 So bezeichnet Code 1 etwa die Anspruchsgrundlage (z. B. „01: Kaufvertrag“), Code 2 hingegen die „Umstände, mit denen die Forderung begründet wird“ (z. B. „30: Ausgebliebene Zahlung“) und schließlich erfasst Code 3 „Sonstige Angaben“ (z. B. „46: Bei Darlehen, Zweck des Darlehens: Verbraucherkredit“). Vgl. zur automatisierten Prüfung Art. 8 S. 2 EuMahnVO. 222 Vgl. beispielsweise zum Verbraucherkreditvertrag wiederum nur Ziffer 6, Code 3 Nr. 46 des Antragsformulars in Anhang I zur EuMahnVO. 223 Zwar soll das Gericht nach Art. 8 S. 1 einerseits prüfen, „ob die Forderung begründet erscheint“. Andererseits kann diese Prüfung ausweislich des S. 2 der Norm gerade „im Rahmen eines automatisierten Verfahrens erfolgen“ und ist ausweislich des Wortlautes auf die – kursorischen und codierten – Angaben „des Antragsformulars“ beschränkt, dazu statt vieler Kropholler / v. Hein (2011), Art. 8 EuMahnVO Rn. 11 f.; Rauscher / Gruber (2015), Art. 8 EG-MahnVO Rn. 4 f. 224 Dutta, ZZP 126 (2013), 153, 170, 171. Hau, JZ 2012, 964, 966 verweist indes zu Recht darauf, dass im Rahmen des Art. 11 Abs. 1 lit. b EuMahnVO angesichts der Vorgaben des EuGH zu nationalen Mahnverfahren missbräuchliche Verzugszins- und Schadenspauschalisierungsklauseln ebenfalls dazu führen dürften, dass die Forderung „offensichtlich unbegründet“ ist. Hier wie dort kann das Mahngericht allerdings nur dann eine Klau-

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Kapitel 6 – Materialisierung durch Zivilprozessrecht

Beim derzeitigen Stand der Rechtsentwicklung gilt somit auch bei Verbraucherbeteiligung keineswegs der Untersuchungsgrundsatz im Mahnverfahren nach §§ 688 ff. ZPO.225 Darüber hinaus fordert der EuGH auch keine erhöhte Beibringungslast des Antragstellers oder gar den Übergang zu einem Urkundsmahnverfahren für Forderungen aus Verbraucherverträgen.226 Dies bedeutet freilich keineswegs, dass das Mahnverfahren nicht auf andere Weise durch das Unionsrecht beeinflusst wird. C. Umsetzung der unionsrechtlichen Vorgaben bei Mahnverfahren Während der EuGH auch im Mahnverfahren eine amtswegige Prüfung der Materialisierungsinstrumente des EU-Verbrauchervertragsrechts einfordert, ist der Prüfungsumfang durch die dem Mahngericht vorliegenden Tatsachengrundlagen deutlich begrenzt. Im Mahnantrag muss der Zinssatz regelmäßig angegeben werden, so dass in der Praxis missbräuchliche Zinsklauseln dann ohne weiteres aus den beigebrachten Dokumenten ersichtlich sein dürften.227 Im Übrigen bleibt es jedoch dem Zufall – oder vielmehr dem Geschick des Antragstellers – überlassen, ob bereits aus dem Mahnantrag hervorgeht, dass es sich um eine „zweifelhafte“ Forderung handelt.228 Grundsätzlich muss aber in allen Fallgestaltungen ein Ergebnis erzielt werden, das den Anforderungen der unionalen Vertragsfreiheit genügt. Wo mangels tatsächlicher Anhaltspunkte oder aber aufgrund der technischen Ausgestaltung des Mahnverfahrens eine gerichtliche Kontrolle vor Erlass des Mahn- oder des Vollstreckungsbescheides nicht möglich ist, können der Effektivitäts- und Äquivalenzgrundsatz sowie die unionsgrundrechtlichen Schutzpflichten gebieten, dass anderweitig Abhilfe geschaffen wird. Dies führt zu der Frage, ob solche Schutzmechanismen vor (I) oder aber erst nach Titelschaffung greifen müssen (II).

selkontrolle vornehmen, wenn es bereits aufgrund der Angaben des Antragstellers im Antragsformular über hinreichende Anhaltspunkte – etwa hinsichtlich der Zinshöhe – verfügt, vgl. nur Kropholler / v. Hein (2011), Art. 8 EuMahnVO Rn. 12; Rauscher / Gruber (2015), Art. 11 EG-MahnVO Rn. 7. 225 Ebenso – obschon nicht ohne Zweifel – Dutta, ZZP 126 (2013), 153, 170 ff. Wie hier im Ergebnis wohl auch Wendenburg, EuZW 2012, 758, 759; M. Stürner, ZEuP 2013, 671, 675 f.; Musielak / Voit / Voit (2016), § 691 ZPO Rn. 2. 226 Vgl. wiederum EuGH Urt. v. 14.6.2012 – Rs. C-618/10 (Banco Español de Crédito), EU:C:2012:349 Rn. 54 ff. und 57. So auch Dutta, ZZP 126 (2013), 153, 170, 168 f. 227 Dazu statt vieler Wendenburg, EuZW 2012, 758, 759. Vgl. zu den erforderlichen Angaben sowie den Ausnahmen nur Musielak / Voit / Voit (2016), § 688 ZPO Rn. 7 f. m. w. N. 228 M. Stürner, ZEuP 2013, 671, 676.

§ 4 Mahnverfahren und Materialisierung

I.

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Lösungsmöglichkeiten vor Titelschaffung

1. Mahnverfahrenssperre für Verbrauchersachen analog § 688 Abs. 2 Nr. 1 ZPO Wo die Materialisierungsinstrumente des EU-Verbrauchervertragsrechts mangels Geltung des Untersuchungsgrundsatzes im Mahnverfahren nicht lückenlos durchgesetzt werden können, bietet vor Erlass des Vollstreckungsbescheids nur eine Mahnverfahrenssperre umfassenden Schutz.229 Sofern Forderungen gegen Verbraucher gänzlich aus dem Mahnverfahren ferngehalten werden, sind die Gläubiger gezwungen, streitige Verfahren anzustrengen, in deren Rahmen dann nicht nur eine eingehende gerichtliche Prüfung des unionalen Verbrauchervertragsrechts, sondern vor allem die Aufklärung des Sachverhalts mit den Instrumenten der materiellen Prozessleitung möglich ist. 230 Doch weder in der Rechtsprechung des EuGH noch im Unionsrecht finden sich Hinweise darauf, dass ein Mahnverfahren nicht zur Titulierung von Forderungen gegen Verbraucher genutzt werden darf. Ganz im Gegenteil ist die EuMahnVO ausdrücklich auch auf Verbraucherkreditverträge anwendbar.231 Darüber hinaus stehen hinter der Mahnverfahrenssperre für überhöhte Zinsforderungen aus Konsumentenkreditverträgen nach § 688 Abs. 2 Nr. 1 ZPO allein die Wertungen des autonomen deutschen Rechts, während die Verbraucherkreditrichtlinie diesbezüglich keinerlei Vorgaben macht.232 Vor allem würde eine pauschale Mahnverfahrenssperre den Gläubigern den Zugang zu einem kostengünstigen und effizienten Instrument zur Durchsetzung ihrer Rechte nehmen. Eine solche Einschränkung ist im Anwendungsbereich des unionalen Verbrauchervertragsrechts an Art. 47 GRCh zu messen und kommt daher allenfalls in Betracht, wenn nicht mildere Mittel zur Verfügung stehen.233 229 In diese Richtung deutet bereits Heiderhoff, ZEuP 2001, 276, 290 und 298, die sodann aber für eine Stärkung der Stellung des Verbrauchers durch Information plädiert. 230 Siehe erneut oben § 2 B. 231 Vgl. Ziffer 6, Code 3 Nr. 46 des Antragsformulars in Anhang I zur EuMahnVO. 232 Vgl. BT-Drucks. 11/5462, S. 15 sowie 31. 233 Weil Art. 47 GRCh nicht nur effektiven, sondern auch effizienten Rechtsschutz binnen „angemessener Frist“ verlangt – vgl. statt aller Jarass (2015), Art. 47 GRCh Rn. 23 und 42 m. w. N. – kommt eine derart einschneidende Intervention allenfalls dann in Betracht, wenn der Ausschluss des Mahnverfahrens durch ein konfligierendes Unionsgrundrecht gerechtfertigt ist, beispielsweise, weil die Titulierung im Mahnverfahren die unionale Vertragsfreiheit des Verbrauchers in ihrem Kernbereich bedroht. Zu denken ist insbesondere an unionsrechtlich determinierte Fälle von Bürgschaften naher Angehöriger: Ebenso wie nach den Wertungen der deutschen Rechtsordnung kann auch das Unionsrecht eine Intervention gebieten, um zu verhindern, dass ein Bürgschaftsvertrag durchgesetzt wird, der Ausdruck von Fremd-, nicht aber von eigenverantwortlicher Selbstbestimmung ist, siehe erneut oben Kapitel 5 § 2 C II 1. Zumindest im Fall eines nach den Maßstäben seiner Bürgschaftsrechtsprechung sittenwidrigen Vertrags sah das BVerfG Beschl. v. 6.12.2005 – Az. 1 BvR 1905/02, BVerfGE 115, 51, 66 ff. darin einen Eingriff in die Vertragsfreiheit,

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Kapitel 6 – Materialisierung durch Zivilprozessrecht

2. Herausnahme der Verbraucherfälle aus dem automatisierten Mahnverfahren? Im Vergleich zu einer allgemeinen Mahnverfahrenssperre würde die Herausnahme der Verbraucherforderungen aus dem automatisierten Mahnverfahren die Rechte der Gläubiger weniger beeinträchtigen. Im deutschen Mahnverfahren trifft den Rechtspfleger eine – wenn auch eng begrenzte – Prüfungspflicht, da er als als unabhängiges Organ der Rechtspflege gehalten ist, materielle Gerechtigkeit zu erzielen.234 Die unionsrechtlich gebotene Berücksichtigung der Materialisierungsinstrumente wird dem Rechtspfleger indes zum einen dadurch praktisch unmöglich gemacht, dass er anhand der ihm vorliegenden Angaben nicht immer erkennen kann, ob die im Mahnverfahren geltend gemachte Forderung auf einem Verbrauchervertrag beruht. Zum anderen wird eine solche Prüfung in den nach §§ 689, 703b, 703c ZPO zulässigen automatisierten Mahnverfahren weiter erschwert. Vor diesem Hintergrund ist zu erwägen, die Pflichtangaben im Antragsverfahren zu ergänzen: Ebenso wie dies bei Arbeitsverträgen bereits praktiziert wird, könnte im Mahnantrag zwingend angegeben werden, ob die Forderung in Zusammenhang mit einem Verbrauchervertrag steht. Solche Fallgestaltungen wären dann jedenfalls mit Blick auf den Erlass des Vollstreckungsbescheides von der maschinellen Bearbeitung auszunehmen, damit der Rechtspfleger eine den unionsrechtlichen Vorgaben genügende Prüfung durchführen kann.235 Hierdurch wird dem Rechtspfleger indes eine allgemeine und umfassende „Schlüssigkeitsprüfung“236 – nicht zuletzt unter Berücksichtigung der etwaigen Missbräuchlichkeit von AGB-Klauseln – auferlegt, die seiner Rolle im dass ein Zivilgericht die vertraglichen Forderungen dennoch in einem Urteil zugesprochen hat. Mit Blick auf die deutsche Rechtsordnung wird daher teilweise in Analogie zu § 688 Abs. 2 Nr. 1 ZPO eine Mahnverfahrenssperre für solche Forderungen befürwortet: Hier bestehe die Gefahr, dass gemäß § 138 BGB sittenwidrige Forderungen tituliert und somit ein mit der durch Art. 2 Abs. 1 GG grundrechtlich geschützten Vertragsfreiheit des Bürgen unvereinbarer Vollstreckungsbescheid geschaffen werde, siehe M. Vollkommer / G. Vollkommer, FS Canaris I (2007), S. 1243, 1257. Folgt man dieser Auffassung, so würde bereits der Äquivalenzgrundsatz gebieten, dass unionsrechtlich determinierte Bürgschaftsfälle gleich behandelt werden. 234 Statt vieler Wieczorek / Schütze / Olzen (2013), § 691 ZPO Rn. 12; Zöller / Vollkommer (2016), § 691 ZPO Rn. 1; Musielak / Voit (2016), § 691 ZPO Rn. 2, jeweils unter Verweis auf Art. 20 Abs. 3 GG. 235 Vgl. zu solchen „Nicht-EDV-Fällen“, die aus Gründen der Verfahrenskontrolle durch den Rechtspfleger von Anbeginn oder aber im weiteren Verlauf des Mahnverfahrens von der automatisierten Bearbeitung ausgenommen werden, nur Justizverwaltungen der Bundesländer, Die maschinelle Bearbeitung der gerichtlichen Mahnverfahren (2014), S. 58. 236 Vgl. zum – missverständlichen – Begriff der „eingeschränkten Schlüssigkeitsprüfung“ nur Stein / Jonas / Berger (2013), § 691 ZPO Rn. 10 ff.; Wieczorek / Schütze / Olzen (2013), § 691 ZPO Rn. 13 ff.

§ 4 Mahnverfahren und Materialisierung

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Mahnverfahren wesensfremd ist.237 Vergegenwärtigt man sich zudem, dass Forderungen gegen Verbraucher den Hauptanwendungsfall des automatisierten Mahnverfahrens darstellen, wird die Herausnahme solcher Forderungen einen erheblichen Mehraufwand und damit Kostensteigerungen verursachen. Hierdurch würde die beabsichtigte rasche und günstige Titelschaffung infrage gestellt. Auch dürften die Unternehmer die zu erwartenden Mehrkosten der Rechtsverfolgung über Preissteigerungen an die Gesamtheit der Verbraucher weiterreichen. Neben diesen Erwägungen spricht gegen eine Herausnahme von Verbraucherforderungen aus dem Verfahren nach §§ 689, 703b, 703c ZPO, dass auch Art. 8 S. 2 EuMahnVO eine Prüfung sämtlicher Forderungen – einschließlich solcher aus Verbraucherverträgen – „im Rahmen eines automatisierten Verfahrens“ zulässt.238 Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, ob der Schutz gegen die Umgehung der Materialisierungsinstrumente des EU-Verbraucherrechts in der Phase nach Erlass des Vollstreckungsbescheids gewährleistet werden kann. II. Nachgelagerte Kontrolle über § 767, § 796 Abs. 2 ZPO und § 826 BGB Ohne Einspruch des Antragsgegners erwächst der Vollstreckungsbescheid nach ständiger – wenn auch nicht unbestrittener –239 Rechtsprechung des BGH in materieller Rechtskraft.240 Da der EuGH nur verlangt, dass ein Zivilgericht das EU-Verbrauchervertragsrecht „in irgendeiner […] Phase des Verfahrens prüfen“ kann,241 ließe sich die Kontrolle womöglich selbst noch in diesem Stadium verwirklichen. Eine amtswegige Prüfung materiellrechtlicher Einwendungen ist den Vollstreckungsorganen nach der ZPO freilich verwehrt. Auch kann der Verbraucher im Wege der Vollstreckungsabwehrklage gemäß § 796 Abs. 2, § 767 ZPO Einwendungen gegen den im Vollstreckungsbescheid titulierten Anspruch grundsätzlich geltend machen, wenn die Einwendungen erst nach Zustellung des Vollstreckungsbescheids entstanden 237 Vgl. nur EuGH Urt. v. 14.6.2012 – Rs. C-618/10 (Banco Español de Crédito), EU: C:2012:349 Rn. 53 ff.; EuGH Urt. v. 18.2.2016 – Rs. C-49/14 (Finanmadrid), EU:C:2016: 98 Rn. 34 ff. und insbesondere Rn. 50 ff. Für eine umfassende AGB-Prüfung plädiert Wieczorek / Schütze / Olzen (2013), § 691 ZPO Rn. 17. Zu Recht bemerkt dagegen Stein / Jonas /  Berger (2013), § 691 ZPO Rn. 16 angesichts der Eigenheiten des Mahnverfahrens: „Zur Kontrolle einer Klausel nach §§ 305–310 BGB kann es danach praktisch nicht kommen“. 238 Vgl. Ziffer 6, Code 3 Nr. 46 des Antragsformulars in Anhang I zur EuMahnVO. 239 Für eine begrenzte – formelle – Rechtskraft plädiert jedoch z. B. Zöller / Vollkommer (2016), § 700 ZPO Rn. 15. Siehe auch Stein / Jonas / Berger (2013), § 700 ZPO Rn. 14 ff., Wieczorek / Schütze / Olzen (2013), § 700 ZPO Rn. 11 ff., dort jeweils m. w. N. zum Meinungsstand. 240 Siehe aus der ständigen Rechtsprechung nur BGH Urt. v. 29.6.2005 – Az. VIII ZR 299/04, NJW 2005, 2991, 2994. 241 EuGH Urt. v. 14.6.2012 – Rs. C-618/10 (Banco Español de Crédito), EU:C:2012: 349 Rn. 53 und 57.

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Kapitel 6 – Materialisierung durch Zivilprozessrecht

sind.242 Hier mag nun das Unionsrecht einer solchen Präklusion entgegenstehen und zu einer einer unions(grund)rechtskonformen Auslegung und Handhabung der Norm zwingen.243 Nach deutschem Prozessrecht kann der Vollstreckungsschuldner unter bestimmten Voraussetzungen über § 826 BGB die Durchbrechung der Rechtskraft des Vollstreckungsbescheids erreichen. Der Anspruch richtet sich dabei auf die Unterlassung der Zwangsvollstreckung und die Herausgabe des Titels.244 Dabei reduziert der BGH gerade bei der missbräuchlichen Verwendung des Mahnverfahrens zur Titulierung „dubioser“ Forderungen den Prüfungsumfang deutlich: Eine auf § 826 BGB gestützte Klage ist begründet, wenn der Antragsteller das Mahnverfahren bewusst gewählt hat, um eine Schlüssigkeitsprüfung des ihm nicht zustehenden Anspruchs zu vermeiden.245 Erforderlich und zugleich ausreichend ist dann, dass der Antragsteller seine Forderung in dem Wissen tituliert, dass sie einer Schlüssigkeitsprüfung am Maßstab der zur Zeit der Antragstellung vorherrschenden Rechtsprechungspraxis nicht standgehalten hätte.246 Diese Anforderungen lassen sich ohne weiteres auf die ausdifferenzierte Rechtsprechung des EuGH zu den Materialisierungsinstrumenten des EUVerbrauchervertragsrechts übertragen. Vor allem kann schon aufgrund des Äquivalenzprinzips in Bezug auf die Umgehung der Schlüssigkeitsprüfung anhand unionsprivatrechtlich determinierter Vorschriften nichts anderes gelten als bei der Vermeidung nationaler Tatbestände. Entsprechend muss § 826 BGB in Stellung gebracht werden, wenn durch die Wahl des Mahnverfahrens z. B. die Bestimmungen der Klausel- oder der Verbraucherrechterichtlinie umgangen werden sollen.247 Von der Warte des Unionsrechts aus mag es im Einzelfall auch mit Blick auf den Effektivitätsgrundsatz und die unionsgrundrechtlichen Schutzpflichten nicht hinnehmbar sein,

242 Statt aller Zöller / Vollkommer (2016), § 700 ZPO Rn. 10 und Zöller / Stöber (2016), § 796 ZPO Rn. 2. 243 Siehe zur Frage der Beeinflussung der Einwendungspräklusion durch das Unionsrecht erneut oben § 3 A. Tendenziell für eine großzügigere Handhabung des § 796 Abs. 2 ZPO auch z. B. Stein / Jonas / Berger (2013), § 700 ZPO Rn. 13. 244 Siehe aus der ständigen Rechtsprechung nur BGH Urt. v. 29.6.2005 – Az. VIII ZR 299/04, NJW 2005, 2991, 2993 f. 245 Zuletzt z. B. BGH Urt. v. 29.6.2005 – Az. VIII ZR 299/04, NJW 2005, 2991, 2994. 246 Siehe nur BGH Urt. v. 9.2.1999 – Az. VI ZR 9/98, NJW 1999, 1257, 1258 f. Dazu statt vieler Stein / Jonas / Berger (2013), § 700 ZPO Rn. 13; Musielak / Voit / Voit (2016), § 700 ZPO Rn. 3. 247 Wie hier Zöller / Vollkommer (2016), § 700 ZPO Rn. 16 ff. und insbesondere Rn. 16b. Zu Recht sieht daher auch BGH Urt. v. 29.6.2005 – Az. VIII ZR 299/04, NJW 2005, 2991, 2994 alle Fälle von § 826 BGB erfasst, in denen „der Gläubiger das Mahnverfahren bewusst missbraucht, um für einen ihm nicht zustehenden Anspruch einen Vollstreckungstitel zu erlangen“.

§ 4 Mahnverfahren und Materialisierung

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„dass der Titelgläubiger seine formelle Rechtsstellung unter Missachtung der materiellen Rechtslage zu Lasten des Schuldners ausnutzt“.248

Dies gilt insbesondere dann, wenn durch die Titulierung des Anspruchs im Vollstreckungsbescheid eine vertragliche Forderung perpetuiert wird, die nicht auf freiverantwortlicher Selbstbestimmung des Verbrauchers, sondern auf Fremdbestimmung durch den anderen Vertragsteil beruht: Hier ist die Titelschaffung durch das – grundrechtsverpflichtete – Zivilgericht womöglich als Verkürzung der unionalen Vertragsfreiheit zu werten.249 Ausgeschlossen werden kann der Rekurs auf § 826 BGB allerdings, wenn der Verbraucher es unterlassen hat, diejenigen Instrumente zur Wahrung seiner Interessen zu nutzen, die für ihn ohne weiteres erkennbar und naheliegend waren.250 Im Lichte der EuGH-Judikatur wird indes weder das Unterbleiben eines Widerspruchs gegen den Mahnbescheid noch eines Einspruchs gegen den Vollstreckungsbescheid zum Ausschluss des § 826 BGB führen können. 251 Darüber hinaus ist zu hinterfragen, ob die Rechtskraftdurchbrechung in Fällen ausscheidet, in denen der Verbraucher anwaltlich vertreten war: Schließlich hat der EuGH in den Rechtssachen Faber und Rampion explizit herausgestellt, dass die Pflicht zur amtswegigen Prüfung der Materialisierungsinstrumente des unionalen Verbrauchervertragsrechts unabhängig von der Frage besteht, „ob der Verbraucher anwaltlich vertreten wird oder nicht“.252 BGH Urt. v. 29.6.2005 – Az. VIII ZR 299/04, NJW 2005, 2991, 2994. In diesem Zusammenhang nennt Zöller / Vollkommer (2016), § 700 ZPO Rn. 16b z. B. unter Verletzung zwingenden Verbraucherrechts „erschlichene Vergütungsansprüche gegen Verbaucher“ und führt als Rechtfertigung der Rechtskraftdurchbrechung nach § 826 BGB den „Umstand der beeinträchtigten Vertragsfreiheit (Art. 2 I GG)“ an. In der Tat behandelt auch BVerfG Beschl. v. 6.12.2005 – Az. 1 BvR 1905/02, BVerfGE 115, 51, 69 die Titulierung sittenwidriger vertraglicher Forderungen durch ein Zivilgericht als Eingriff in die Vertragsfreiheit des Schuldners: „Das gegen die Beschwerdeführerin gleichwohl erlassene Versäumnisurteil […] verstößt gegen die durch Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistete Privatautonomie, weil es diese Gewährleistung bei der Konkretisierung und Anwendung des § 138 BGB nicht beachtet hat“ (Herv. d. Verf.). Freilich bildet im durch unionsrechtliche Vorgaben harmonisierten Verbrauchervertragsrecht die unionale Vertragsfreiheit den vorrangigen Prüfungsmaßstab. 250 BGH Urt. v. 30.6.1998 – Az. VI ZR 160/97, NJW 1998, 2818, 2819 begrenzt dies aber auf „die naheliegendsten, in dieser Lage von ihm als selbstverständlich zu verlangenden Maßnahmen“. 251 EuGH Urt. v. 14.6.2012 – Rs. C-618/10 (Banco Español de Crédito), EU:C:2012: 349 Rn. 57 verlangt eine amtswegige Prüfung schließlich auch, „sofern der Verbraucher keinen Widerspruch erhebt“. 252 EuGH Urt. v. 4.6.2015 – Rs. C-497/13 (Faber), EU:C:2015:357 Rn. 47, verweist zur Begründung darauf, dass „die Auslegung des Unionsrechts sowie die Tragweite der Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz von den konkreten Umständen jedes Einzelfalls unabhängig sind“. Siehe zuvor schon EuGH Urt. v. 4.10.2007 – Rs. C-429/05 (Rampion), Slg. 2007, I-8017 Rn. 65. Anders zum deutschen Recht aber BGH Urt. v. 24.9.1987 – Az. III ZR 264/86, NJW 1987, 3259, 3260. 248 249

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Kapitel 6 – Materialisierung durch Zivilprozessrecht

III. Zwischenergebnis Das Unionsrecht zwingt nach der Lesart des EuGH auch in Mahnverfahren zur Durchsetzung der Materialisierungsinstrumente des EU-Verbrauchervertragsrechts von Amts wegen, ohne indes eine allgemeine Mahnverfahrenssperre für Forderungen aus Verbraucherverträgen zu statuieren. Während der Gerichtshof im Erkenntnisverfahren partiell den Übergang zum Untersuchungsgrundsatz fordert, sieht der EuGH die mitgliedstaatlichen Zivilgerichte in Mahnverfahren nicht zur (ergänzenden) Erforschung des Tatsachenstoffs verpflichtet. Bei der amtswegigen Prüfung des unionalen Verbrauchervertragsrechts bleiben Kontrolldichte und -umfang daher zwangsläufig gering: In der Praxis dürften vor allem unter Verstoß gegen zwingende Vorgaben des Verbraucherrechts zustande gekommene Zinsklauseln vor Erlass des Mahnbescheides kontrolliert werden können. Freilich existiert hier in Gestalt des § 688 Abs. 2 Nr. 1 ZPO zumindest für Verbraucherkreditverträge ohnehin schon ein Schutzmechanismus. Die Zurückhaltung des EuGH ist zu begrüßen, weil eine amtswegige Tatsachenermittlung und die darauf aufbauende umfängliche Schlüssigkeitsprüfung der Funktion des Mahnverfahrens diametral zuwiderliefe. Zugleich legen die Vorgaben des Gerichtshofs nahe, dass deutsche Mahngerichte spätestens vor Erlass des Vollstreckungsbescheids die Materialisierungsinstrumente des EU-Verbrauchervertragsrechts von Amts wegen prüfen sollten.253 Voraussetzung dafür ist jedoch, dass der Rechtspfleger überhaupt erkennen kann, dass es sich um eine Verbrauchersache handelt. Dies wäre indes nur der Fall, wenn die Pflichtangaben im Mahnverfahren dahingehend angepasst würden, dass schon aus dem Mahnantrag ersichtlich ist, ob sich die Forderung auf einen Verbrauchervertrag bezieht. Auch müssten solche Fälle sodann von der maschinellen Bearbeitung des Mahnverfahrens ausgenommen werden. Da diese Lösung den Kostenaufwand drastisch erhöht, erscheint sie ebenso wenig wünschenswert wie eine generelle Mahnverfahrenssperre für Forderungen aus Verbraucherverträgen.254 Dies lenkt den Blick auf die nachgelagerte Korrektur mithilfe des § 767 ZPO und gegebenenfalls des § 826 BGB. Wo eine Vollstreckungsabwehrklage trotz der unionsrechtlichen Überformung des § 796 Abs. 2 ZPO scheitert, kann der Schuldner unter erleichterten Voraussetzungen nach § 826 BGB eine Durchbrechung der Rechtskraft des Vollstreckungsbescheids erreichen, wenn der Antragsteller das Mahnverfahren gezielt dazu missbraucht, die Schlüssigkeitsprüfung am Maßstab der Materialisierungsinstrumente des EU-Verbrauchervertragsrechts zu umgehen. Dabei sind insbesondere der Effektivitätsgrundsatz sowie die unionsgrundrechtlichen Schutzpflichten zu beachten. 253 254

Siehe erneut oben A. So wohl auch Hau, JZ 2012, 964, 966. Siehe oben I 1.

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Ob eine solche nachgelagerte Kontrolle über § 767, § 796 Abs. 2 ZPO und § 826 BGB den unionsrechtlichen Anforderungen genügt, begegnet nach der Finanmadrid-Entscheidung deshalb Zweifeln, weil der EuGH auch im Vollstreckungsstadium grundsätzlich eine amtswegige Durchsetzung des unionalen Verbrauchervertragsrechts fordert und damit den Verbraucher von jeglicher Initiative entlasten will. 255 Allerdings soll es nach Auffassung des Gerichtshofs ausreichen, dass zumindest in einer Phase des Verfahrens eine Prüfung von Amts wegen möglich ist: Mit Blick auf die Klauselrichtlinie müssten „die nationalen Verfahrensregeln es ermöglichen, dass die im betreffenden Vertrag enthaltenen Klauseln im Rahmen des Mahnverfahrens oder im Rahmen des Verfahrens zur Vollstreckung des Mahnbescheids von Amts wegen auf ihre Missbräuchlichkeit überprüft werden“.256

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Im Privatrecht baut die Unionsrechtsordnung auf ein hybrides Materialisierungssystem, in dem Instrumente des EU-Privatrechts sowie solche des mitgliedstaatlichen Zivilrechts ineinandergreifen.257 Diese Verschränkung ist bei der Materialisierung durch Verfahrensrecht weniger stark ausgeprägt, weil ausdrückliche zivilprozessuale Vorgaben im Unionsrecht beim derzeitigen Stand der Rechtsentwicklung vergleichsweise selten sind: In erster Linie setzt das nationale Verfahrensrecht die Materialisierungsinstrumente des unionalen ebensowie des mitgliedstaatlichen Privatrechts durch.258 Vor diesem Hintergrund übernimmt das Zivilprozessrecht im Gesamtgefüge der Materialisierungsinstrumente mittlerweile klar abgrenzbare Funktionen (A). In der Judikatur des EuGH steht gegenwärtig vor allem die verfahrensrechtliche Dimension des EU-Verbrauchervertragsrechts im Zentrum. Vieles deutet darauf hin, dass dies lediglich den Anfang einer umfassenderen Entwicklung markiert, in deren Rahmen die ehemals losen und eher zufälligen EuGH Urt. v. 18.2.2016 – Rs. C-49/14 (Finanmadrid), EU:C:2016:98 Rn. 46 ff. und insbesondere Rn. 52. 256 EuGH Urt. v. 18.2.2016 – Rs. C-49/14 (Finanmadrid), EU:C:2016:98 Rn. 46 (Herv. d. Verf.). 257 Siehe erneut oben Kapitel 5 § 3. 258 Freilich hält das Unionsrecht – neben dem Materialisierungsinstrumentarium des internationalen Unionsprivatrechts, z. B. in Art. 17 ff. Brüssel Ia, – in bestimmten Sachmaterien durchaus prozessuale Vorgaben bereit, vgl. z. B. im Antidiskriminierungsrecht nur Art. 7 Gleichbehandlungsrichtlinie 2000/43/EG sowie im Wirtschaftsrecht etwa Art. 3 ff. Durchsetzungsrichtlinie. Insoweit lässt sich daher auch im Zivilverfahrensrecht von einem aus nationalen und unionalen Regelungen zusammengesetzten hybriden Materialisierungssystem sprechen. 255

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Querverbindungen zwischen dem Privatrecht der EU einerseits und dem Zivilprozessrecht der Mitgliedstaaten andererseits zu einem immer dichteren Netz erstarken. In der Summe steht daher zu erwarten, dass das deutsche Zivilverfahrensrecht künftig zunehmend in den Dienst der Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit gestellt wird (B). A. Funktion und Entwicklungstendenzen der Materialisierung durch Zivilverfahrensrecht In der Zusammenschau mit den privatrechtlichen Instrumenten offenbart sich ein System zur Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit, in dem materiellrechtliche und prozessuale Bausteine ineinandergreifen (I). Bislang hat der EuGH diese Zusammenhänge vor allem im Bereich des Konsumentenvertragsrechts beleuchtet. Vergegenwärtigt man sich erneut die Triebfedern der Materialisierung durch Zivilprozessrecht, so liegt es nahe, dass der Gerichtshof seinen Ansatz künftig auch auf andere Bereiche des EU-Privatrechts ausdehnt (II). I. Ineinandergreifen materiellrechtlicher und prozessualer Materialisierungsinstrumente Dem mitgliedstaatlichen Zivilverfahrensrecht kommt zunächst die Aufgabe zu, die privatrechtlichen Materialisierungsinstrumente durchzusetzen und deren effet utile erforderlichenfalls durch eine wirksamkeitsorientierte Lesart der prozessualen Normen sicherzustellen (1). Vor allem etabliert sich das Zivilprozessrecht im Gesamtsystem zunehmend als eine Auffangordnung, welche die Versäumnisse auf Ebene des materiellen Privatrechts ausgleichen und werthaltige Selbstbestimmungschancen notfalls unter Zuhilfenahme verfahrensrechtlicher Mittel garantieren muss. Das Unionsrecht gibt dabei lediglich die Erzielung eines bestimmten Ergebnisses, nicht aber den Weg dorthin vor, so dass dem Zivilprozessrecht bei der Wahl der Instrumente und der konkreten Rechtsfolgenanordnung vergleichsweise große Freiräume verbleiben (2). 1. Durchsetzung privatrechtlicher Materialisierungsinstrumente Das nationale Zivilverfahrensrecht dient zunächst der Verwirklichung der mit den unionsprivatrechtlichen Materialisierungsinstrumenten intendierten Zwecke: Soweit dies die praktische Wirksamkeit dieser Instrumente gebietet, sind auch die unharmonisierten Normen der deutschen ZPO im Lichte des effet utile des jeweiligen Unionsrechtsakts auszulegen und anzuwenden. Im Kontext der Klauselrichtlinie kann dies etwa bedeuten, dass eine Vorgabe des materiellen Unionsprivatrechts – etwa die Unverbindlichkeit missbräuchlicher AGB-Bestimmungen für den Verbraucher nach Art. 6 Abs. 1 Klausel-

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richtlinie – auch die Handhabung zivilprozessualer Vorschriften leitet: Mit Blick auf die sekundärrechtlichen Vorgaben hat ein nationales Zivilgericht daher auch „das innerstaatliche Prozessrecht nach Möglichkeit so anzuwenden […], dass alle Konsequenzen gezogen werden“, die unionsrechtlich geboten sind.259 In dieser Konstellation ist das nationale Zivilverfahrensrecht also ein unselbstständiges Vehikel, welches die Wirksamkeit des materiellen Unionsprivatrechts und der darin umrissenen Rechtsfolgen zu gewährleisten hat. Beispielsweise gebieten Art. 6 Abs. 1 und Art. 3 Klauselrichtlinie nach der Lesart des EuGH gerade, dass AGB in einem streitigen Erkenntnis- ebenso wie auch in einem Mahnverfahren kontrolliert und missbräuchliche Klauseln sodann als „unverbindlich“ kassiert werden.260 Sicherzustellen ist dies unter anderem durch eine unionsrechtskonforme Interpretation und Anwendung der §§ 139 ff. ZPO dahingehend, dass der für die Inhaltskontrolle notwendige Tatsachenstoff erforderlichenfalls durch Maßnahmen der materiellen Prozessleitung ergänzt und auf dieser Basis sodann eine amtswegige AGB-Prüfung durchgeführt werden kann.261 2. Zivilprozessrecht als mehrstufige Auffangordnung Eine weitaus größere Eigendynamik entfaltet das deutsche Zivilprozessrecht, wenn die im materiellen EU-Privatrecht vorgesehenen Rechtsfolgen in einem bestimmten Verfahrensabschnitt nicht herbeigeführt werden können, etwa weil das Gericht einer zureichenden Tatsachengrundlage entbehrt oder aber prozessuale Hürden bestehen. Hier ist die praktische Wirksamkeit der unionsrechtlichen Vorgaben vorrangig durch eine (erneute) amtswegige Prüfung sowie erforderlichenfalls eine ergänzende Tatsachenerforschung im Rahmen des Rechtsmittelverfahrens262 oder auf Ebene des Zwangsvollstreckungsverfahrens263 sicherzustellen. Dies läuft auf eine notfalls stufenweise Materialisierung durch Prozesssrecht in unterschiedlichen Verfahrensstadien hinaus. Aus Perspektive des Unionsrechts ist dieser ausgreifende Ansatz nur konsequent: Schließlich darf das nationale Zivilprozessrecht zu keinem Zeitpunkt „die Ausübung der Rechte, die die Unionsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren“.264 Ganz im Gegenteil hat 259 So mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 Klauselrichtlinie etwa EuGH Urt. v. 30.5.2013 – Rs. C-397/11 (Jőrös), EU:C:2013:340 Rn. 53; EuGH Urt. v. 12.2.2015 – Rs. C-567/13 (Baczó), EU:C:2015:88 Rn. 37. 260 Vgl. erneut EuGH Urt. v. 30.5.2013 – Rs. C-397/11 (Jőrös), EU:C:2013:340 Rn. 53; EuGH Urt. v. 12.2.2015 – Rs. C-567/13 (Baczó), EU:C:2015:88 Rn. 37. 261 Siehe dazu erneut oben § 2 B II 2. 262 Siehe erneut oben § 2 B III 2. 263 Siehe wiederum oben § 3. 264 Siehe aus der ständigen Rechtsprechung nur EuGH Urt. v. 3.10.2013 – Rs. C-32/12 (Duarte Hueros), EU:C:2013:637 Rn. 31 m. w. N.

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die ZPO die Durchsetzung dieser Rechte notfalls auf mehreren nachgelagerten Verfahrensebenen so lange sicherzustellen, bis das unionsrechtlich vorgezeichnete Ergebnis erzielt werden kann. Anders gewendet muss sich das nationale Zivilverfahrensrecht also an der Zielvorgabe des EU-Privatrechts orientieren, wonach das Materialisierungsinstrument zumindest in einem Abschnitt des Prozesses zum Einsatz kommen und so werthaltige Selbstbestimmungschancen – und sei es auch erst nachträglich, z. B. durch Vertragslösungsrechte – eröffnen muss. Allerdings reicht hierbei aus Sicht des EuGH gerade eine Möglichkeit des Verbrauchers aus, von dem Materialisierungsinstrument zu profitieren: Wo Letzterer diese Chance in vorwerfbarer Weise vorüberziehen lässt, sie gezielt vereitelt oder sehenden Auges auf die Anwendung des jeweiligen Instruments im aktuellen Prozessstadium verzichtet, bedarf es keiner weiteren Intervention auf nachfolgenden Ebenen.265 Die Rolle einer echten Auffangordnung übernimmt das deutsche Zivilprozessrecht, wenn die materiellrechtlichen Materialisierungsinstrumente auch nicht mehr in nachgelagerten Verfahrensstadien zur Anwendung kommen können, beispielweise weil die Rechtskraft der Entscheidung entgegensteht. Unter bestimmten Voraussetzungen mag der Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz im Zusammenspiel mit der Schutzpflichtendimension der unionalen Vertragsfreiheit gebieten, dass über § 826 BGB die Rechtskraft durchbrochen wird. So liegt der Fall etwa bei Vollstreckungsbescheiden, die nur deshalb ergangen sind, weil der Antragsteller das Mahnverfahren genutzt hat, um die Anwendung der unionsprivatrechtlichen Materialisierungsinstrumente gezielt zu umgehen und so einen ihm nicht zustehenden Anspruch zu titulieren.266 In dieser Konstellation definiert das deutsche Zivilprozessrecht die zur Materialisierung erforderlichen Rechtsfolgen: Nach § 826 BGB kann die Unterlassung der Zwangsvollstreckung und die Herausgabe des Titels verlangt werden.267 Auf diese Weise wird die Aufrechterhaltung einer den unionsrechtli265 Z. B. muss laut EuGH Urt. v. 21.2.2013 – Rs. C-472/11 (Banif Plus Bank), EU:C: 2013:88 Rn. 35 und 31 ein nationales Zivilgericht im Prozess „den vom Verbraucher geäußerten Willen […] berücksichtigen, wenn dieser im Wissen um die Unverbindlichkeit einer missbräuchlichen Klausel gleichwohl angibt, dass er gegen deren Nichtanwendung sei, und so nach vorheriger Aufklärung seine freie Einwilligung in die fragliche Klausel erteilt“. Dem Verbraucher muss dann auch im Rechtsmittelverfahren oder im Rahmen einer Vollstreckungsgegenklage der Einwand der Missbräuchlichkeit der Klausel verwehrt bleiben. 266 Siehe hierzu erneut oben § 4 C II. Dabei ist es von der Warte des Effektivitätsgrundsatzes ebenso wie von derjenigen der Unionsgrundrechte freilich zunächst belanglos, mit welchen Mitteln des nationalen Rechts ein unions(grund)rechtskonformes Ergebnis erzielt wird: Beide Triebkräfte diktieren nämlich keineswegs „eine spezifische Lösung für jeden Fall, sondern ziehen lediglich bestimmte Grenzen, in deren Rahmen ein Konflikt zwischen zwei Privatrechtssubjekten gelöst werden kann“, vgl. mit Blick auf die Grundfreiheiten GA Poiares Maduro Schlussanträge v. 23.5.2007 – Rs. C-438/05 (Viking), Slg. 2007, I-10779 Rn. 50 f. 267 Siehe hierzu erneut oben § 4 C II.

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chen Vorgaben zuwiderlaufenden Entscheidung verhindert und der Weg für die Berücksichtigung der Materialisierungsinstrumente in einem etwaigen neuen Verfahren freigemacht. II. Materialisierung duch Zivilprozessrecht im Antidiskriminierungs- und Finanzdienstleistungsvertragsrecht Der EuGH hat das Zivilprozessrecht bislang vornehmlich im Verbrauchervertragsrecht zur Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit instrumentalisiert. Allerdings verlangen sowohl der Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz als auch die Schutzpflichtendimension der unionalen Vertragsfreiheit im gesamten Anwendungsbereich des Unionsrechts Beachtung. Entsprechend können diese Triebkräfte grundsätzlich auch auf eine zivilprozessuale Flankierung der Materialisierungsinstrumente des unionalen Finanzdienstleistungs- und Wirtschaftsvertragsrechts hinwirken. Der Gerichtshof legt den Fokus vor allem deshalb auf das Konsumentenvertragsrecht, weil er hier mit einer besonders großen Zahl an Vorabentscheidungsverfahren konfrontiert wird, die zivilprozessuale Bezüge aufweisen. Damit ist es vor allem ein Mangel an Gelegenheiten, der den EuGH an einer systematischen Ausweitung seines Ansatzes auf weitere Bereiche des unionalen Schuldvertragsrechts hindert. Bei näherem Hinsehen finden sich indes bereits eine Reihe von Entscheidungen, welche eine Materialisierung durch Prozessrecht auch in anderen Materien des EU-Schuldvertragsrechts andeuten. Hierzu zählt neben dem Antidiskriminierungsrecht (1) auch das Finanzdienstleistungsvertragsrecht (2). 1. Antidiskriminierungsrecht Die gesellschaftspolitisch motivierten Antidiskriminierungsvorschriften der Union sind nach hiesigem Verständnis Instrumente zur Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit.268 Entsprechend tritt ebenso wie im Konsumentenvertragsrecht ein bestimmtes materiellrechtliches Regelungsziel – nämlich die Gewährleistung vollwertiger Selbstbestimmungschancen – in den Vordergrund. Für die hier interessierende Frage der Ausweitung der Rechtsprechungslinie des EuGH zur zivilprozessualen Dimension der Materialisierung ist dieser Normkomplex gerade deshalb besonders vielversprechend, weil es sich um eine Querschnittsmaterie handelt: Diskriminierungsverbote erfassen sowohl das Verbraucher- und Finanzdienstleistungsvertragsrecht als auch Wirtschaftsverträge.269 Im Ausgangspunkt erfolgt die prozessuale Durchsetzung der nach dem EU-Privatrecht vorgesehenen Rechte der Diskriminierungsopfer nach nationalem Zivilprozessrecht. Dieser Grundsatz der mitgliedstaatlichen Verfahren268 269

Siehe erneut oben Kapitel 4 § 3 C. Vgl. zum Anwendungsbereich erneut oben Kapitel 4 § 3 C.

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sautonomie wird jedoch auch hier dadurch relativiert, dass das Zivilprozessrecht stets unter Beachtung des unionalen Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatzes anzuwenden ist.270 Vor diesem Hintergrund liegt es keineswegs fern, dass der Gerichtshof die Zivilgerichte auch in Verfahren, die privatrechtliche Ansprüche infolge von Verstößen gegen die unionsrechtlich fundierten Antidiskriminierungsvorschriften zum Gegenstand haben, in die Pflicht nimmt, diese Vorschriften nicht nur von Amts wegen anzuwenden, sondern auch die hierfür erforderliche Tatsachengrundlage gegebenenfalls amtswegig zu ergänzen.271 In der Tat betont der EuGH, dass die zur Beurteilung potenzieller Verstöße gegen unionsrechtliche Diskriminierungsverbote notwendigen „Feststellungen zum Sachverhalt […] dem vorlegenden Gericht obliegen“.272 Dies lässt sich nun ebenso wie im Verbrauchervertragsrecht dahingehend verstehen, dass mitgliedstaatliche Zivilgerichte durch den Effektivitätsgrundsatz gehalten sein können, mithilfe des Instrumentariums der materiellen Prozessleitung nach §§ 139 ff. ZPO zusätzliche Tatsachen zu erforschen, um dem unionalen Antidiskriminierungsrecht zu voller Wirksamkeit zu verhelfen. 273 Für eine solche Intervention zugunsten des Diskriminierungsopfers streitet hierbei insbesondere auch die Schutzpflichtendimension der unionalen Vertragsfreiheit sowie des Unionsgrundrechts der Nichtdiskriminierung gemäß Art. 21, 23 GRCh.274 Siehe zur Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG z. B. EuGH Urt. v. 8.7.2010 – Rs. C-246/09 (Bulicke), Slg. 2010, I-7003 Rn. 25 ff. EuGH Urt. v. 19.6.2014 – verb. Rs. C-501/12 u. a. (Specht u. a.), EU:C:2014:2005 Rn. 111 f.; EuGH Urt. v. 28.1.2015 – Rs. C-417/13 (Starjakob), EU:C:2015:38 Rn. 61. Siehe zur Gleichbehandlungsrichtlinie 2000/43/EG auch EuGH Urt. v. 10.7.2008 – Rs. C-54/07 (Feryn), Slg. 2008, I-5187 Rn. 37. Vgl. mit Blick auch schon GA Léger Schlussanträge v. 14.1.1997 – Rs. C-180/95 (Draehmpaehl), Slg. 1997, I-2195 Rn. 54. 271 Siehe zum Verbrauchervertragsrecht erneut oben § 2 B II und vgl. z. B. EuGH Urt. v. 9.11.2010 – Rs. C-137/08 (VB Pénzügyi Lízing), Slg. 2010, I-10847 Rn. 45; EuGH Urt. v. 4.6.2015 – Rs. C-497/13 (Faber), EU:C:2015:357 Rn. 46. 272 EuGH Urt. v. 16.7.2015 – Rs. C-83/14 (CHEZ), EU:C:2015:480 Rn. 119 (Herv. d. Verf.). 273 Vgl. zum Verbrauchervertragsrecht wiederum oben § 2 B II 2 und siehe insbesondere EuGH Urt. v. 9.11.2010 – Rs. C-137/08 (VB Pénzügyi Lízing), Slg. 2010, I-10847 Rn. 45, wonach mitgliedstaatliche Gerichte gehalten sind, „von Amts wegen eine Untersuchung vorzunehmen, um die […] tatsächlichen Grundlagen festzustellen, die es für die Beurteilung benötigt, […] ob eine Klausel in den Anwendungsbereich der Richtlinie fällt“. 274 Ebenso wie beispielsweise EGMR Urt. v. 13.11.2007 – Nr. 57325/00 (D.H./Czech Republic), Rn. 175 f.; EGMR Urt. v. 13.7.2004 – Nr. 69498/01 (Pla and Puncernau/Andorra), Rn. 43 ff. und 62 anerkannt hat, dass aus dem Parallelgrundrecht des Art. 14 EMRK „positive obligations“ folgen, müssen schon wegen des in Art. 52 Abs. 3 GRCh angeordneten Gleichklangs von EMRK und GRCh auch aus Art. 21, 23 der Grundrechtecharta Schutzpflichten erwachsen, die im Anwendungsbereich des Unionsrechts neben der EU auch ihre Mitgliedstaaten – einschließlich der Zivilgerichte – treffen, vgl. zur Schutzpflichtendimension der Unionsgrundrechte bereits oben Kapitel 3 § 1 A II 2, und siehe nur 270

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Diese Triebfedern dürften schließlich auch die Berücksichtigung „unkonventioneller Beweismittel“, wie etwa Statistiken, im nationalen Zivilprozessrecht begünstigen, obschon diesbezüglich ausdrückliche, über eine materiellrechtliche Beweislastumkehr hinausgehende unionsrechtliche Vorgaben fehlen.275 Um die effektive Durchsetzung des Antidiskriminierungsrechts sicherzustellen, senkt indes das deutsche BAG bereits die Anforderungen an den Tatsachenvortrag eines Diskriminierungsopfers ab: Damit die im EU-Privatrecht wurzelnde Beweislastumkehr greifen kann, müssen nur Indizien vorgebracht werden, die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf eine Diskriminierung schließen lassen.276 Dabei sollen sich laut BAG unter anderem „auch aus Statistiken grundsätzlich Indizien für eine [D]iskriminierung ergeben können“.277 Zugleich muss in solchen Fällen Sorge dafür getragen werden, dass die durch Art. 47 GRCh geschützten Verteidigungsrechte des vermeintlich Diskriminierenden weiterhin gewährleistet sind. 2. Versicherungsvertragsrecht Besonders nahe liegt die Übertragung der Rechtsprechungslinie des EuGH zur Materialisierung durch Zivilprozessrecht darüber hinaus im unionalen Lebensversicherungsvertragsrecht. Diese Materie weist nämlich laut Gerichtshof zumindest im Bereich der Vertragslösungsrechte umfassende Parallelen zum Verbrauchervertragsrecht auf.278 Namentlich sieht der EuGH die rechtsgeschäftliche Selbstbestimmungsfreiheit von Verbrauchern bei Außergeschäftsraumverträgen einerseits und von Versicherungsnehmern bei Lebensversicherungspolicen andererseits durch dieselben Gefahren bedroht und will daher die Grundsätze seiner Heininger-Entscheidung279 auch auf diesen Bereich übertragen.280 Jarass (2016), Art. 21 GRCh Rn. 4 und 18, dort m. w. N. auch zu abweichenden Auffassungen im Schrifttum. 275 Vgl. nur Art. 8 Abs. 1 Gleichbehandlungsrichtlinie 2000/43/EG. Siehe hierzu nur EuGH Urt. v. 10.7.2008 – Rs. C-54/07 (Feryn), Slg. 2008, I-5187 Rn. 29 ff. 276 Vgl. BAG Urt. v. 22.7.2010 – Az. 8 AZR 1012/08, NZA 2011, 93, 98. 277 BAG Urt. v. 22.7.2010 – Az. 8 AZR 1012/08, NZA 2011, 93, 98 f. 278 EuGH Urt. v. 19.12.2013 – Rs. C-209/12 (Endress), EU:C:2013:864 Rn. 28. 279 EuGH Urt. v. 13.12.2001 – Rs. C-481/99 (Heininger), Slg. 2001, I-9945. 280 EuGH Urt. v. 19.12.2013 – Rs. C-209/12 (Endress), EU:C:2013:864 Rn. 28: „Zwar betrifft das Urteil Heininger insbesondere die Bestimmungen der Richtlinie 85/577 zum Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, und es bestehen, wie die Generalanwältin in Nr. 43 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, erhebliche Unterschiede zwischen dieser Richtlinie und der Zweiten und der Dritten Richtlinie Lebensversicherung. Die […] Erwägungen des Gerichtshofs im Urteil Heininger lassen sich jedoch auf die im Ausgangsverfahren fragliche Bestimmung übertragen. Die Gefahren, die zum einen für den Verbraucher mit dem Abschluss eines Vertrags außerhalb der Geschäftsräume seines Vertragspartners und zum anderen für den Versicherungsnehmer mit dem Abschluss eines Versicherungsvertrags […] verbunden sind, sind nämlich vergleichbar“.

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In der Rechtssache Endress betont der EuGH, dass sich Verbraucher wie auch Versicherungsnehmer entweder aufgrund der Vertragsschlusssituation oder aber angesichts der komplexen Natur des Vertrags „in einer schwachen Position“ gegenüber dem gewerblich handelnden Vertragsteil befänden.281 Diese relative Unterlegenheit bezieht sich nach hiesigem Verständnis auf die Möglichkeit, Selbstbestimmungsfreiheit im anspruchsvollen Sinne zu entfalten: Weil bei typisierender Betrachtung im Zeitpunkt des Vertragsschlusses eine umfänglich informierte und freie Vertragsentscheidung des Verbrauchers oder Versicherungsnehmers nicht gewährleistet ist, soll die rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit nachträglich durch ein Vertragslösungsrecht gewährleistet werden.282 In der Sache geht es hierbei also jeweils um die Materialisierung der Vertragsfreiheit in Gestalt der (negativen) Auswahl- und Abschlussfreiheit. Führt man diese Überlegungen des EuGH konsequent fort, wäre daher auch im unionalen Lebensversicherungsvertragsrecht die in Bezug auf die Selbstbestimmungschancen bestehende „Ungleichheit“ zwischen Versicherungsnehmer und Versicherer „durch ein positives Eingreifen von dritter, von den Vertragsparteien unabhängiger Seite“ auszugleichen.283 Dies gilt umso mehr, als das unionale Versicherungsvertragsrecht das hehre Ziel verfolgt, dem Versicherungsnehmer „das tatsächliche Verständnis der wesentlichen Bestandteile der Versicherungspolice“ und der „vertragsspezifischen Risiken“ zu ermöglichen,284 damit dieser „den seinen Bedürfnissen am ehesten entsprechenden Vertrag auswählen“ kann.285 Diese Motive der Stärkung der EuGH Urt. v. 19.12.2013 – Rs. C-209/12 (Endress), EU:C:2013:864 Rn. 29. Gleichsinnig GA Sharpston Schlussanträge v. 11.7.2013 – Rs. C-209/12 (Endress), EU:C:2013: 472 Rn. 45: „Ebenso wie der Verbraucher bei einem Haustürgeschäft ist der Versicherungsnehmer im Vertragsverhältnis mit dem Versicherer die schwächere Partei“. 282 Vgl. zum Vertragslösungsrecht im Versicherungsvertragsrecht Art. 186 Solvency II. Laut EuGH Urt. v. 19.12.2013 – Rs. C-209/12 (Endress), EU:C:2013:864 Rn. 21 ff. und 29 muss, um Verbrauchern und Versicherungsnehmern „die Möglichkeit zu geben, die Verpflichtungen aus dem Vertrag noch einmal zu überdenken, […] das Recht eingeräumt werden, […] vom Vertrag zurückzutreten“. Dies gründe darin, dass sich auch „Versicherungsnehmer, da Versicherungsverträge rechtlich komplexe Finanzprodukte sind, die je nach anbietendem Versicherer große Unterschiede aufweisen und über einen potenziell sehr langen Zeitraum erhebliche finanzielle Verpflichtungen mit sich bringen können, dem Versicherer gegenüber in einer schwachen Position [befinden], die derjenigen eines Verbrauchers beim Abschluss eines außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Vertrags entspricht“. 283 Vgl. zum Verbrauchervertragsrecht erneut nur EuGH Urt. v. 21.4.2016 – Rs. C377/14 (Radlinger), EU:C:2016:283 Rn. 53; EuGH Urt. v. 24.4.2016 – verb. Rs. C-381/14 u. a. (Sinués u. a.), EU:C:2016:252 Rn. 25. 284 Vgl. Art. 185 Abs. 5 und 7 Solvency II. 285 EuGH Urt. v. 5.3.2002 – Rs. C-386/00 (Axa), Slg. 2002, I-2209 Rn. 28; EuGH Urt. v. 19.12.2013 – Rs. C-209/12 (Endress), EU:C:2013:864 Rn. 24. Auch betont EuGH Urt. v. 29.4.2015 – Rs. C-51/13 (Van Leeuwen), EU:C:2015:286 Rn. 19 ff., dass der Versiche281

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faktischen Grundlagen der Abschluss- und Auswahlfreiheit laufen damit im Verbraucher- und Versicherungsvertragsrecht der Union parallel.286 Gerade angesichts der expliziten Gleichsetzung der Regelungsbereiche durch den EuGH in der Rechtssache Endress liegt es nahe, dass im Versicherungsvertragsrecht – genauso wie im Verbrauchervertragsrecht – die materiellrechtlichen gegebenenfalls durch zivilprozessrechtliche Materialisierungsinstrumente flankiert werden müssen. Beispielsweise dürften die bereits zum Verbrauchervertragsrecht angestellten Überlegungen zur unionsrechtlichen Überformung der Präklusion von Vertragslösungsrechten nach deutschem Zivilprozessrecht für das in Art. 186 Solvency II vorgesehene Rücktrittsrecht gleichermaßen gelten: Eine kenntnisunabhängige Präklusion dieses Rechts zur Vertragsaufsage gemäß § 296, aber auch nach § 767 Abs. 2, § 796 Abs. 2 ZPO liefe dem Effektivitätsgrundsatz sowie auch unionsgrundrechtlichen Schutzpflichten zuwider.287 B. Summe des sechsten Kapitels Wann erfolgt eine Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit mit den Mitteln des deutschen Zivilprozessrechts? Verallgemeinerungsfähige Kriterien lassen sich nur aufstellen, wenn man die Funktion und Zielsetzung der Materialisierung in den Blick nimmt: Die Materialisierungsinstrumente des materiellen Privatrechts sollen tatsächliche Selbstbestimmungschancen eröffnen und somit die Verwirklichung von Vertragsfreiheit im anspruchsvollen Sinne ermöglichen. Auf die Ebene des Prozessrechts verlagert sich die Materialisierung, sobald die angestrebten Wirkungen im materiellen Recht allein nicht zu erreichen sind. Als Antriebskräfte wirken dabei wiederum in erster Linie der Effektivitätsgrundsatz sowie die Schutzpflichtendimension der unionalen Vertragsfreiheit. Obschon die Unionsrechtsordnung die Prozessmaximen der deutschen ZPO im Grundsatz ebenfalls anerkennt, kann im Interesse der Materialisierung durch Verfahrensrecht zunächst der Dispositions- und Antragsgrundsatz aufgeweicht werden. Namentlich müssen mitgliedstaatliche Zivilgerichte die volle Wirksamkeit des EU-Verbrauchervertragsrechts durch die amtswegige Prüfung der in dieser Materie bestehenden Materialisierungsinstrumente sicherstellen. Soweit der EuGH teilweise sogar ein Abgehen vom Antragsgrundsatz andeutet, ist dem im deutschen Zivilprozessrecht durch die gerichtliche Befugnis zur materiellen Prozessleitung und insbesondere durch die Hinweismöglichkeiten nach § 139 ZPO zu entsprechen: Ist dies zur Durchsetrungsnehmer stets „klare und genaue Angaben über die wesentlichen Merkmale der ihm angebotenen Produkte“ benötigt. 286 Vgl. erneut oben Kapitel 4 § 3 A I und siehe zum Verbraucherkreditvertragsrecht z. B. nur EuGH Urt. v. 4.3.2004 – Rs. C-264/02 (Sachithanathan), Slg. 2004, I-2157 Rn. 26 f. 287 Vgl. erneut oben § 2 B III 1 sowie ferner oben § 3 A.

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zung unionsrechtlicher Rechte unverzichtbar, kann das Zivilgericht auf Basis des ihm unterbreiteten Streitstoffs unter anderem eine Modifikation der Prozess- und Sachanträge anregen. Diese Prüfungs- und Hinweiskompetenz ist dabei durch den Streitgegenstand sowie durch den in Art. 47 GRCh verankerten Grundsatz der Waffengleichheit der Parteien zu begrenzen. Darüber hinaus erzwingt der EuGH eine partielle Abkehr vom Verhandlungs- sowie eine Hinwendung zum Untersuchungsgrundsatz in Zivilprozessen mit Verbraucherbeteiligung. Die Forderung des Gerichtshofs nach einer amtswegigen Erforschung des Streitstoffes kann dabei regelmäßig mithilfe des Instrumentariums der Prozessleitung nach §§ 139 ff. ZPO erfüllt werden. Je nach Konstellation und Sachmaterie kommt dabei auch eine Anordnung der Urkundsvorlage nach § 142 ZPO sowie eine Inaugenscheinnahme von Amts wegen gemäß § 144 ZPO in Betracht. Gerade im Zusammenspiel mit der Erosion des Dispositions- und Antragsgrundsatzes ist allerdings stets genau zu fragen, ob die unionsrechtlich determinierte Untersuchungsmaxime im Einzelfall mit den Geboten der richterlichen Neutralität sowie der Waffengleichheit zu vereinbaren ist. Orientierungspunkte für das Zivilverfahrensrecht hält die bisherige Judikatur des EuGH dabei kaum bereit. Angesichts der komplexen Abwägungsentscheidungen ist es daher unabdingbar, dass mitgliedstaatliche Zivilgerichte Zweifelsfälle künftig im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens an den EuGH herantragen. Schließlich kann das Unionsrecht auch in Konflikt mit dem Konzentrations- und Beschleunigungsgrundsatz stehen, soweit es im Interesse der Materialisierung der Selbstbestimmungsfreiheit eine restriktive Handhabung sowohl der Präklusion nach § 296 ZPO als auch des Novenrechts im Rechtsmittelverfahren gebietet. Während im Zivilverfahrensrecht das Erkenntnisverfahren die erste Bastion zur Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit bildet, können die materiellrechtlich intendierten Ziele nicht immer in diesem Stadium verwirklicht werden. In solchen Fallgestaltungen muss die Materialisierung durch Prozessrecht gegebenfalls auf die Phase der Zwangsvollstreckung ausgedehnt werden. Zu denken ist z. B. an Konstellationen, in denen ein Konsument mangels Belehrung keine Kenntnis von seinem Verbraucherwiderrufsrecht hatte. Hier gebieten der Effektivitätsgrundsatz und die unionsgrundrechtlichen Schutzpflichten, dass der Verbraucher dieses Recht notfalls noch im Stadium der Zwangsvollstreckung mithilfe einer Vollstreckungsabwehrklage geltend machen kann. Die nationalen Präklusionsvorschriften der § 767 Abs. 2, § 796 Abs. 2 ZPO werden dabei durch das Unionsrecht überlagert. Diese Korrektur auf Ebene des Zwangsvollstreckungsverfahrens ist indes eine Ausnahme, die nur Platz greifen kann, wenn dem Konsumenten nicht bereits zuvor eine Chance geboten worden ist, von den unionsrechtlichen Materialisierungsinstrumenten zu profitieren.

§ 5 Zivilprozessrecht als Baustein des unionalen Materialisierungssystems

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In den Dienst der Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit stellt der EuGH schließlich auch das Mahnverfahrensrecht nach §§ 688 ff. ZPO: Hier fordert der Gerichtshof einerseits die amtswegige Prüfung des EU-Verbrauchervertragsrechts und verzichtet andererseits aber sachgerechterweise darauf, das Mahngericht mit der Untersuchungsmaxime zu belasten. Angesichts der kursorischen Tatsachenangaben im Mahnverfahren drohen die Materialisierungsinstrumente des Konsumentenvertragsrechts in der Praxis jedoch unangewendet zu bleiben. Wie insbesondere der Vergleich mit der EuMahnVO zeigt, erscheint indes weder eine allgemeine Mahnverfahrenssperre für Forderungen aus Verbraucherverträgen noch die Herausnahme solcher Forderungen aus dem automatisierten Verfahren nach §§ 689, 703b, 703c ZPO angezeigt. Damit rückt eine nachgelagerte Korrektur mithilfe des § 767 ZPO sowie gegebenenfalls des § 826 BGB in den Fokus, wann immer ein Vollstreckungsbescheid unionalen Materialisierungsinstrumenten zuwiderläuft. Inwieweit diese Kombination aus einer amtswegigen, durch die Tatsachengrundlagen sachlich eng umgrenzten Prüfung durch das Mahngericht einerseits und einer von einem Rechtsbehelf des Verbrauchers abhängigen nachträglichen Korrektur über §§ 767, 796 Abs. 2 ZPO, § 826 BGB andererseits den Anforderungen des Unionsrechts genügt, kann letztverbindlich nur der EuGH entscheiden. 288 Insgesamt zieht der Gerichtshof damit sowohl das Privatrecht der Union und ihrer Mitgliedstaaten als auch das nationale Zivilprozessrecht heran, um im Hinblick auf die rechtsgeschäftlichen Selbstbestimmungsmöglichkeiten etwaig „bestehende Ungleichheit[en] […] durch ein positives Eingreifen von dritter, von den Vertragsparteien unabhängiger Seite“ auszugleichen.289 Von der Warte des Unionsrechts aus besehen, sind die einzelnen Instrumente dabei grundsätzlich funktionsäquivalent: Das „positive Eingreifen“ kann durch unionsprivatrechtliche Sonderregelungen ebenso wie durch eine am Effektivitägsgrundsatz und an unionsgrundrechtlichen Schutzpflichten orientierte Anwendung des BGB erfolgen.290 Wie gezeigt, fordert das Unionsrecht zuweilen auch eine weitreichende Materialisierung mithilfe des nationalen Prozessrechts.291 Die Materialisierung ist dabei keineswegs Selbstzweck, sondern findet sowohl auf Ebene des Privatrechts als auch auf derjenigen des Zivilprozessrechts Grenzen. Dieser Abstufung und Beschränkung der Materialisierungsinstrumente wird im Folgenden nachgespürt. Wenig überraschend dient die unionale Vertragsfreiheit dabei als Richtschnur. 288 Vgl. nur EuGH Urt. v. 18.2.2016 – Rs. C-49/14 (Finanmadrid), EU:C:2016:98 Rn. 46 auf der einen und Rn. 50 ff. auf der anderen Seite. 289 So zuletzt EuGH Urt. v. 21.4.2016 – Rs. C-377/14 (Radlinger), EU:C:2016:283 Rn. 53; EuGH Urt. v. 24.4.2016 – verb. Rs. C-381/14 u. a. (Sinués u. a.), EU:C:2016:252 Rn. 25, jeweils m. w. N. aus der Rechtsprechung. 290 Siehe erneut oben Kapitel 5. 291 In diese Richtung deutet zuletzt etwa EuGH Urt. v. 21.4.2016 – Rs. C-377/14 (Radlinger), EU:C:2016:283 Rn. 53 („Eingreifen des nationalen Gerichts“).

Kapitel 7

Kompass- und Schrankenfunktion der Vertragsfreiheit Kapitel 7 – Kompass- und Schrankenfunktion der Vertragsfreiheit

Die unionale Vertragsfreiheit weist dem Schuldvertragsrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten die Richtung und setzt ihm zugleich Grenzen. Zunächst gebietet die rechtsgeschäftliche Privatautonomie eine möglichst ungehinderte Freiheitsentfaltung durch den Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus. Während damit das Zusammenspiel von Parteipräferenzen und Marktkräften im Vordergrund steht, kommt auf der anderen Seite auch dieser Modus der Freiheitsausübung nicht ohne Interventionen aus. Zunächst bietet das Kartell- und Lauterkeitsrecht dem Wettbewerbsmechanismus einen institutionellen Rahmen.1 Auf Ebene der individuellen Schuldverhältnisse suchen die zahlreichen Materialisierungsinstrumente sodann die Funktionsfähigkeit des Vertragsmechanismus mit den Mitteln des unionalen wie nationalen Privat- und Zivilprozessrechts sicherzustellen.2 Dies gelingt oftmals nur um den Preis einer Einschränkung der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie einer der Parteien. Vor diesem Hintergrund muss die Materialisierung selbst in enge Grenzen gefasst werden, die wiederum durch die unionale Vertragsfreiheit definiert werden (§ 1). Die Schranken verlaufen grundsätzlich dort, wo der Vertragsund Wettbewerbsmechanismus die – erforderlichenfalls bereits in einem bestimmten Maße materialisierte – Vertragsfreiheit wieder aus eigner Kraft in dem unionsrechtlich gebotenen Umfang zu entfalten vermag. Hieraus lässt sich ein für alle Verkürzungen der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie relevanter Maßstab entwickeln. Die unionale Vertragsfreiheit kann erst recht jenen schuldvertraglichen Normen Grenzen ziehen, die von vornherein keinerlei Beitrag zur Materialisierung leisten. Diese Schrankenfunktion erfasst auch Regelungsbereiche, in denen die EU-Mitgliedstaaten Sekundärrechtsakte „überschießend“ umsetzen: Vor diesem Hintergrund widmet die Abhandlung der Ausweitung der Klauselkontrolle auf Individualvereinbarungen und auf die essentialia negotii besondere Aufmerksamkeit (§ 2).

1 2

Siehe oben Kapitel 4 § 2. Siehe oben Kapitel 5 und Kapitel 6.

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Kapitel 7 – Kompass- und Schrankenfunktion der Vertragsfreiheit

§ 1 Vertragsfreiheit als Leitprinzip und Schranke des unionalen Materialisierungssystems § 1 Leitprinzip und Schranke des unionalen Materialisierungssystems

Trotz ihrer großen Relevanz wurde dem EuGH die der Materialisierung „gegenläufige Frage bisher nicht gestellt, nämlich ob der weit greifende Verbraucherschutz […] die Privatautonomie […] über Gebühr beschränkt und damit das [union]srechtliche Übermaßverbot verletzt“.3 Diese Frage muss gleichermaßen mit Blick auf die Instrumente des unionalen Finanzdienstleistungs- und Wirtschaftsvertragsrechts beantwortet werden. Ebenso wie die Vertragsfreiheit Triebfeder der Materialisierung ist, zieht sie diesem Phänomen auch Grenzen (A) und erzwingt eine graduelle Abstufung der Interventionsformen im Gesamtsystem (B). Teilweise gebietet die unionale Vertragsfreiheit sogar die Disponibilität der Materialisierungsinstrumente (C). A. Grenzen der Materialisierungsinstrumente Weil mit der Materialisierung der Vertragsfreiheit der einen Partei oftmals eine Verkürzung der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie der anderen Partei einhergeht, muss stets der Erforderlichkeits- und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachtet werden (I). Darüber hinaus können auch gegenläufige unionsprivatrechtliche Rechtsgrundsätze den Materialisierungsinstrumenten Grenzen ziehen (II). Aufmerksamkeit verdienen schließlich die im Unionsrecht anerkannten Prozessmaximen, da sie die Materialisierung durch Zivilverfahrensrecht einhegen (III). I. Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus als Erforderlichkeits- und Verhältnismäßigkeitsmaßstab Soweit Materialisierungsinstrumente vertragsfreiheitsverkürzend wirken, bedürfen sie – wie jede andere belastende Privatrechtsnorm – einer Rechtfertigung und müssen insbesondere geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sein.4 3 Hess, JZ 2005, 540, 548. An die nationale Verfassungsgerichtsbarkeit sind indes schon erste Fragen nach der (Unions)Grundrechtskonformität der Materialisierungsinstrumente, wie z. B. der Verbraucherrechterichtlinie und der zahlreichen EU-Antidiskriminierungsrichtlinien, herangetragen worden, vgl. aus der österreichischen Rechtsprechung nur VfGH v. 9.10.2015 – Az. G 164/2014 (RIS) sowie in Deutschland etwa BVerfG Beschl. v. 6.7.2010 – Az. 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286, 300 ff. 4 Siehe mit Blick auf Art. 52 Abs. 1 GRCh zuletzt etwa EuGH Urt. v. 29.4.2015 – Rs. C-528/13 (Léger), EU:C:2015:288 Rn. 52, wonach „jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und zudem den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten [muss]. Außerdem dürfen nach dieser Bestimmung unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des

§ 1 Leitprinzip und Schranke des unionalen Materialisierungssystems

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Hinweise hierauf sucht man in den einschlägigen Unionsrechtsakten jedoch vergebens, und auch der EuGH hat sich mit diesem Problemkomplex zumindest im privatrechtlichen Kontext bislang nicht umfassend auseinandergesetzt.5 Dabei wurzelt diese Konfliktlage gerade in der Doppelköpfigkeit der unionalen Vertragsfreiheit: Als klassisches Abwehrgrundrecht des einen Vertragsteils verlangt sie größtmögliche Freiheitsgewährleistung. Dagegen kann die Schutzpflichtendimension der unionalen Vertragsfreiheit des anderen Teils eine Materialisierung seiner rechtsgeschäftlichen Privatautonomie gebieten. Mag das Spannungsfeld auch auf Ebene der Unionsgrundrechte liegen (1), so fällt seine Auflösung des Konflikts dem Privatrecht zu, wobei der Vertrags- und Martktmechanismus von zentraler Bedeutung ist (2). Bei Zugrundelegung des auf diesem Wege entwickelten allgemeinen Prüfungsmaßstabs erscheint eine Neubewertung mancher unionsprivatrechtlicher Regelungen angezeigt. 1. Unionsgrundrechtlicher Rahmen Welche Anforderungen stellt die unionale Vertragsfreiheit an die Materialisierungsinstrumente des Privatrechts der EU und – im Anwendungsbereich des Unionsrechts – die ihrer Mitgliedstaaten? Zunächst haben Gesetzgeber und Gerichte konfligierende Freiheiten der Vertragsparteien in Ausgleich zu bringen. Dabei ist eine typisierende Betrachtung in gewissem Rahmen zulässig. a) Erforderlichkeit, Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit i.e.S. Materialisierungsinstrumente müssen zuvörderst geeignet sein, ihr Regelungsziel zu erreichen, also die Funktionsfähigkeit des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus sicherzustellen. Zudem ist die Wahl eines bestimmten Materialisierungsinstruments nur insoweit erforderlich, als es keine gleichermaßen wirksame, aber die Vertragsfreiheit schonendere Interventionsform gibt. Denn auch die Beschränkung der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie einer Partei durch Materialisierungsinstrumente darf

Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen“. Siehe ferner nur Cornils, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 5 Rn. 52 f. Im Kontext des EU-Verbrauchervertragsrechts postuliert auch Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers (1998), S. 450 ein „verbraucherschützendes Verhältnismäßigkeitsprinzip“. Ähnlich auch Reich, General Principles of EU Civil Law (2014), S. 48 ff. und 155 ff.; Cherednychenko, ERCL 10 (2014), 390, 392; Riesenhuber, FS Micklitz (2014), S. 105, 116. 5 Vgl. nun aber mit Blick auf das Arbeitsvertragsrecht EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 30 ff.; EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 67 f. und 82 ff.; EuGH Urt. v. 27.4.2017 – Rs. C-680/15 u.a. (Asklepios Kliniken u.a.), EU:C:2017:317 Rn. 19 ff.

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„nicht die Grenzen dessen überschreiten […], was zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist, wobei zu beachten ist, dass dann, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist und die verursachten Nachteile nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen dürfen“.6

Den Maßstab bildet wiederum der Vertrags- und Marktmechanismus: Kann dessen Funktionieren auf anderem, vergleichsweise milderem Wege – oder gar ohne jeden Eingriff – garantiert werden, bedarf es des konkreten Materialisierungsinstruments nicht. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebietet sodann, dass, wann immer im Zuge der Materialisierung der Vertragsfreiheit des einen die rechtsgeschäftliche Privatautonomie des anderen Vertragspartners beschränkt wird, diese Beschränkung nicht über das zur Zweckerreichung erforderliche Maß hinausgehen darf.7 Korrespondierend mit der dialogischen Natur der Vertragsfreiheit als notwendigerweise nur durch die Vertragspartner gemeinsam ausübbare Freiheit müssen demnach die Grundrechtspositionen beider Parteien im Pendelblick betrachtet werden.8 In diesem Zusammenhang bedient sich das deutsche BVerfG der Figur der praktischen Konkordanz: Demnach bezwecken Materialisierungsinstrumente nicht nur „einseitige Eingriffe des Staates in die Freiheitsausübung Privater, sondern […] einen Ausgleich, bei dem die Freiheit der einen mit der Freiheit der anderen in Einklang zu bringen ist. Dabei kollidierende Grundrechtspositionen sind hierfür in ihrer Wechselwirkung zu erfassen und […] nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz so in Ausgleich zu bringen, dass sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden“.9

Siehe mit Blick auf die durch Art. 16 GRCh geschützte Vertragsfreiheit nur EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C:2013:28 Rn. 50. Siehe erneut auch oben Kapitel 2 § 3 A III 1 b. 7 Als weitere Belange, die in diesem Zusammenhang zugunsten einer Materialisierung der Vertragsfreiheit in die Abwägung einzustellen sein können, kommen andere in der Charta verbürgte Rechte, einschließlich der „Solidaritätsgrundrechte“, in Betracht. Allerdings beschränken sich diese Grundrechte und insbesondere der in Art. 38 GRCh angesprochene „Grundsatz des Verbraucherschutzes“ regelmäßig auf bloße Leitlinien und dürften allenfalls geringes Gewicht haben, in diesem Sinne führt auch EuGH Urt. v. 31.1.2013 – Rs. C-12/11 (McDonagh), EU:C:2013:43 Rn. 62 f. lediglich aus, Art. 38 GRCh sei insofern „zu berücksichtigen“, als dieser Grundsatz besagt, „dass in der Politik der Union ein hohes Niveau des Schutzes der Verbraucher […] gewährleistet ist“. Konkret justiziable Schutzpflichten lassen sich hieraus kaum ableiten, siehe dazu bereits oben Kapitel 4 § 1 B II. 8 Laut EuGH Urt. v. 31.1.2013 – Rs. C-12/11 (McDonagh), EU:C:2013:43 Rn. 62 ist, wann immer „sich mehrere durch die Unionsrechtsordnung geschützte Rechte gegenüberstehen, darauf zu achten, dass die Erfordernisse des Schutzes dieser verschiedenen Rechte miteinander in Einklang gebracht werden müssen und dass ein angemessenes Gleichgewicht zwischen ihnen besteht“. 9 So zur Gewährleistung der Vertragsfreiheit im deutschen Grundgesetz BVerfG Beschl. v. 23.10.2013 – Az. 1 BvR 1842/11 u. a., NJW 2014, 46, 47. 6

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Dieses Verständnis lässt sich durchaus mit demjenigen des EuGH übereinbringen,10 und es stützt die hier vertretene Auffassung, dass die Vertragsfreiheit der einen Partei in ihrer Schutzpflichtendimension zugunsten der Materialisierung, die Vertragsfreiheit der anderen Partei in ihrer Abwehrdimension indes gegen eine solche Intervention streitet. Aus der Perspektive der grundrechtsverpflichteten Hoheitsträger folgt aus der Schutzpflichtendimension damit ein Untermaßverbot: Soweit die EU und ihre Mitgliedstaaten Adressaten der aus der unionalen Vertragsfreiheit folgenden Schutzpflichten sind, haben sie bei der Setzung und Anwendung des Privatrechts zunächst immer das unionsgrundrechtlich gebotene Minimum an rechtsgeschäftlichen Selbstbestimmungschancen sicherzustellen. Zugleich müssen die zum Zweck der Materialisierung erfolgenden Verkürzungen der Privatautonomie des anderen Vertragsteils in einem angemessenen Verhältnis zum angestrebten Ziel stehen und somit das Übermaßverbot einhalten. b) Typisierende Materialisierungstatbestände und ihre Grenzen Doch wann setzt die unionale Vertragsfreiheit den Materialisierungsbestrebungen des Gesetzgebers Grenzen? Zunächst wird ihm von der Warte der unionalen Vertragsfreiheit aus besehen ein beträchtlicher Ermessensspielraum zuzubilligen sein. Insbesondere ist der Gesetzgeber „nicht daran gehindert, jenseits allgemein-zivilrechtlicher Generalklauseln spezielle Schutzmechanismen einzuführen, auch wenn er hierzu nicht auf Grund des Eingreifens grundrechtlicher Schutzpflichten angehalten sein mag. Insbesondere kann er durch spezielle Schutzvorschriften zu Gunsten des typischerweise unterlegenen Vertragsteils einen stärkeren Schutz vorsehen, als ihn die Gerichte durch Anwendung der bestehenden Generalklauseln im konkreten Fall gewähren könnten“.11

Demnach dürfen Materialisierungstatbestände an einer bei typisierender Betrachtung häufig – aber keineswegs immer – vorliegenden Beeinträchtigung der Selbstbestimmungsfreiheit ansetzen, obwohl damit unweigerlich Fälle erfasst werden, in denen die Vertragsfreiheit auch ohne Intervention zur vollen Entfaltung gelangen kann und unionsgrundrechtliche Schutzpflichten daher gar keine Materialisierung gebieten. Beispiele für solche Instrumente liefern etwa die Widerrufs- und Vertragslösungsrechte des Verbraucher- und Finanzdienstleistungsvertragsrechts. Unter Erforderlichkeits- und Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten ist dieser Regelungsansatz aber auf Konstellationen zu beschränken, in denen nicht nur in Ausnahmefällen, sondern gerade in einer Reihe gleichförmiger Sachverhalte die Verwirklichung der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie typiEuGH Urt. v. 31.1.2013 – Rs. C-12/11 (McDonagh), EU:C:2013:43 Rn. 62. BVerfG Beschl. v. 23.10.2013 – Az. 1 BvR 1842/11 u. a., NJW 2014, 46, 47 (Herv. d. Verf.) mit Blick auf die Gewährleistung der Vertragsfreiheit durch das deutsche Grundgesetz. 10 11

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scherweise infrage gestellt wird. Entscheidend ist dabei wiederum, ob der Vertrags- und Marktmechanismus in der Regel schon für sich genommen werthaltige Selbstbestimmungschancen eröffnet oder nicht. Liegt eine Störung der Selbstbestimmungsfreiheit nur ausnahmsweise und in nichttypisierbarer Form vor, erscheint ein pauschaler Materialisierungsansatz nicht erforderlich: Schließlich kann hier im jeweiligen Einzelfall mithilfe der Generalklauseln des mitgliedstaatlichen Privatrechts auf solche „Extremabweichungen“ grundsätzlich ebenso effektiv reagiert werden, ohne dass eine Vielzahl von Sachverhalten mit erfasst wird, in denen die Freiheitsverwirklichung im Rahmen des Vertrags- und Marktmechanismus reibungslos funktioniert. Eine solche überbordende Regelung wäre in Ansehung des Regelungsziels zudem unverhältnismäßig, weil hier pauschal „eine Grundrechtsposition den Interessen des anderen Vertragspartners in einer Weise untergeordnet wird, dass in Anbetracht der Bedeutung und Tragweite des betroffenen Grundrechts von einem angemessenen Ausgleich nicht mehr gesprochen werden kann“.12

Eine solche Fallgestaltung liegt nahe, wenn hoheitliche Interventionen auch in Konstellationen erfolgen, in denen der Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus bei typisierender Betrachtung – sowie gegebenenfalls unter Berücksichtigung anderer zu Gebote stehender Materialisierungsinstrumente – den Vertragsparteien bereits werthaltige rechtsgeschäftliche Selbstbestimmungschancen gewährleistet. 2. Privatrechtliche Anwendungsbeispiele In dem durch die Schutzpflichten- und Abwehrdimension der unionalen Vertragsfreiheit erzeugten Spannungsfeld kommt dem Privatrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten die Rolle zu, den Parteien die jeweils größtmögliche Entfaltung ihrer Vertragsfreiheit zu ermöglichen und die Grundrechtspositionen adäquat in Ausgleich zu bringen. In der Tat wird damit die unionsgrundrechtlich „unausweichliche […] Aufgabe der Herstellung praktischer Konkordanz zu einem Thema des Zivilrechts“.13 Insbesondere ist die Frage, ob der Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus schon für sich genommen adäquate rechtsgeschäftliche Selbstbestimmungschancen garantieren kann oder ob im Gegenteil Interventionsbedarf besteht, zuvörderst durch das Vertragsrecht zu beantworten. Wo eine Beeinträchtigung der Selbstbestimmungsmöglichkeiten diagnostiziert wird, ist – mit Blick auf die Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhält12 BVerfG Beschl. v. 23.10.2013 – Az. 1 BvR 1842/11 u. a., NJW 2014, 46, 47 nimmt unter dieser Voraussetzung eine Verletzung des nach dem deutschen Grundgesetz geschützten Grundrechts der Vertragsfreiheit an. 13 So mit Blick auf die Entfaltung der Vertragsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG in der deutschen Rechtsordnung auch Maunz / Dürig / Di Fabio (2016), Art. 2 GG Rn. 112.

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nismäßigkeit – vorrangig zu untersuchen, ob der Mechanismus zur Verwirklichung unionaler Vertragsfreiheit bereits durch eine vergleichsweise geringfügige oder sogar ohne jede Intervention funktionsfähig gehalten werden kann. Den Vorzug verdienen entsprechend Informations-, Form- und Transparenzanforderungen sowie Restriktionen der Vertragsschlussmodalitäten als regelmäßig milde Mittel, wohingegen für eine zwingende Regulierung der Vertragsinhalte erst Raum ist, wenn weniger eingriffsintensive Materialisierungsinstrumente versagen. Besonders hohe Anforderungen sind dabei an Eingriffe in den Kernbereich der Vertragsfreiheit – etwa durch Kontrahierungszwänge oder Diskriminierungsverbote – zu stellen. Der Unionsgesetzgeber und auch die mitgliedstaatliche Legislative können dabei wiederum eine typisierende Betrachtung zugrunde legen: So mag beispielsweise im Einzelfall die Belastung durch Informationspflichten für einen Unternehmer schwerer wiegen als eine zwingende Gestaltung des Vertragsinhalts.14 Dadurch wird die abstrakt-generelle Auferlegung von Informationspflichten indes nicht per se unverhältnismäßig. Die Kontrollfrage muss vielmehr lauten, ob das Instrument typischerweise das mildere unter den gleichermaßen effektiven Mitteln darstellt, um den Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus funktionsfähig zu halten, so dass dieser werthaltige Selbstbestimmungschancen eröffnen kann. Unter diesem Gesichtspunkt lassen sich durchaus unionsprivatrechtliche Materialisierungsinstrumente identifizieren, die generell weder geeignet noch erforderlich erscheinen. Dies wird im Folgenden anhand zweier Beispiele aus dem Verbraucher- und Finanzdienstleistungsvertragsrecht illustriert. a) Selbstbestimmungschancen durch den Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus bei „umgekehrten“ Verbraucherverträgen Die Verbraucherrechterichtlinie ist in erster Linie auf Fallgestaltungen zugeschnitten, in denen der Unternehmer z. B. Waren an den Verbraucher veräußert oder Dienstleistungen für diesen erbringt: Den „Kauf-“ ebenso wie den „Dienstleistungsvertrag“ definiert die Richtlinie gerade darüber, dass hier der Unternehmer die vertragscharakteristische Leistung erbringt.15 Zugleich versteht die Richtlinie unter Fernabsatz- und Außergeschäftsraumverträgen aber explizit „jeden Vertrag zwischen dem Unternehmer und dem Verbraucher“.16 Vor allem zählt ein Kaufvertrag ebenso wenig wie ein Dienstleistungsvertrag 14 Vgl. hierzu nur Riesenhuber, FS Micklitz (2014), S. 105, 116. Vgl. unter dem Gesichtspunkt der Transaktionskosten auch Schön, FS Canaris I (2007), S. 1191, 1208; Fornasier, Freier Markt und zwingendes Vertragsrecht (2013), S. 81. 15 Vgl. zur Definition von Kauf- und Dienstleistungsverträgen nur Art. 2 Nr. 5, Nr. 6 Verbraucherrechterichtlinie. 16 Art. 2 Nr. 7, Nr. 8 Verbraucherrechterichtlinie (Herv. d. Verf.). Siehe auch Erwägungsgrund Nr. 20 Verbraucherrechterichtlinie:

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zu den Tatbestandsmerkmalen der Normen, welche dem Verbraucher Rechte nach dieser Richtlinie einräumen.17 Hinzu kommt, dass der EuGH mit Blick auf die – nunmehr in der Verbraucherrechterichtlinie aufgegangenen – Haustürgeschäfterichtlinie bereits ausdrücklich eine Leistungserbringung des Verbrauchers an den Unternehmer hat ausreichen lassen: Unter bestimmten Voraussetzungen soll nach der Dietzinger-Entscheidung des Gerichtshofs auch einem Konsumenten, der in seiner Privatwohnung eine Bürgschaftserklärung gegenüber einem Bankangestellten abgibt, ein Widerrufsrecht zustehen.18 Insbesondere stellte der EuGH heraus, dass sich hinsichtlich der Rolle des vertragsschließenden Verbrauchers in dem Sekundärrechtsakt „kein Hinweis darauf findet, dass derjenige, der den Vertrag geschlossen hat, auf Grund dessen Waren zu liefern oder Dienstleistungen zu erbringen sind, der Empfänger dieser Waren oder Dienstleistungen sein müsste“.19

Dies wirft die Frage auf, ob Verbraucher auch dann von den Materialisierungsinstrumenten der Verbraucherrechterichtlinie profitieren können, wenn sie ihrerseits die Hauptleistung an einen Unternehmer erbringen, etwa weil sie ihm außerhalb seines Ladenlokals oder über das Internet eine Sache veräußern. Diese Konstellation wird angesichts des Rollentausches zwischen Verbraucher und Unternehmer treffend als „umgekehrter“ Verbauchervertrag beschrieben.20 Die Praxisrelevanz dieser Fallgruppe ist nicht zu unterschätzen, da sie alltägliche Konstellationen umfasst: Zu denken ist beispielsweise an Gebrauchtwagenhändler, die den Verbraucher zuhause aufsuchen, um dessen Kfz anzukaufen. Ähnlich liegt der Fall, wenn ein Händler über eine Internetplattform – wie beispielsweise ebay oder momox –21 Antiquitäten, Bücher 17 Relevant werden die an der Leistungserbringung durch den Unternehmer ausgerichteten Begriffe des Kauf- und Dienstleistungsvertrags allein bei der Widerrufsfrist – vgl. Art. 9 Abs. 2 Verbraucherrechterichtlinie –, bei der Einschränkung von Widerrufsrechten – vgl. Art. 16 und Art. 13 Abs. 3 Verbraucherrechterichtlinie – sowie bei der Abgrenzung zu sonstigen Verbraucherrechten, vgl. Art. 17 Verbraucherrechterichtlinie. Wie hier auch BeckOGK / Busch (2016), § 312 BGB Rn. 13. Ähnlich Maume, NJW 2016, 1041, 1042. 18 Siehe EuGH Urt. v. 17.3.1998 – Rs. C-45/96 (Dietzinger), Slg. 1998, I-1199 Rn. 22 f. und vgl. auch EuGH Urt. v. 23.3.2000 – Rs. C-208/98 (Berliner Kindl), Slg. 2000, I-1741 Rn. 24. Siehe hierzu auch Maume, NJW 2016, 1041, 1043 f.; HK-BGB / Schulte-Nölke (2017), § 312 BGB Rn. 4. 19 EuGH Urt. v. 17.3.1998 – Rs. C-45/96 (Dietzinger), Slg. 1998, I-1199 Rn. 19. Wie hier Maume, NJW 2016, 1041, 1043 f. Allerdings galt die Haustürgeschäfterichtlinie ausweislich ihres Art. 1 Abs. 1 sehr wohl nur „für Verträge, die zwischen einem Gewerbetreibenden, der Waren liefert oder Dienstleistungen erbringt, und einem Verbraucher geschlossen werden“. 20 Maume, NJW 2016, 1041. Vgl. auch HK-BGB / Schulte-Nölke (2017), § 312 BGB Rn. 4. 21 Bei „momox“ handelt es sich um den derzeit größten deutschen Ankäufer von gebrauchten Büchern und anderen Medien, der diese Produkte sodann mit Gewinn über

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oder ähnliches von einem Verbraucher erwirbt, um die Gegenstände sodann weiterzuveräußern. Während der BGH die Verbraucherrechterichtlinie zumindest in Fernabsatzkonstellationen für unanwendbar hält,22 wird die Anwendung der Materialisierungsinstrumente der Verbraucherrechterichtlinie teilweise auch bei „umgekehrten“ Verbraucherverträgen befürwortet.23 Nach der hier vertretenen Auffassung ist diese Frage anhand der Rolle der Verbraucherrechterichtlinie für die Funktionsfähigkeit des Vertrags- und Marktmechanismus zu beantworten: Entscheidend ist damit, ob dieser Mechanismus bei „umgekehrten“ Verbraucherverträgen typischerweise bereits für sich genommen werthaltige Selbstbestimmungschancen garantieren kann. Nur sofern dies zu verneinen ist, wäre die Intervention der Materialisierungsinstrumente der Richtlinie überhaupt erforderlich, um die Leistungsfähigkeit des Mechanismus zu gewährleisten oder etwaige Fehlentwicklungen nachträglich durch Vertragslösungsrechte zu korrigieren. aa) Fernabsatzverträge Nimmt man unter diesem Aspekt zunächst die Fernabsatzkonstellation in den Blick, zeigt sich, dass die rechtgeschäftliche Willensbildung des Verbrauchers hier nicht in einer typisierbaren Weise beeinträchtigt wird. Die sekundärrechtlichen Regelungen für Fernabsatzverträge gründen schließlich zuvörderst darin, dass „der Verbraucher […] die Waren nicht sehen kann, bevor er den Vertrag abschließt“ und er diese daher auch nicht prüfen und untersuchen kann, „um die Beschaffenheit, die Eigenschaften und die Funktionsweise der Waren festzustellen“.24 Diese Erwägungen treffen auf den Fernabsatz von Waren im Rahmen umgekehrter Verbraucherverträge indes nicht zu: Der Verbraucher kennt als Verkäufer die Eigenschaften der Waren – und zwar in aller Regel besser als sein Vertragspartner. Entsprechend würden hier zum einen alle Informationspflichten nach Art. 6 und Art. 8 Verbraucherrechte-

Plattformen wie z. B. „amazon“ europaweit weiterveräußert. Der Umsatz betrug im Jahr 2015 rund 80 Millionen Euro. 22 Siehe hierzu auch BGH Urt. v. 10.12.2014 – Az. VIII ZR 90/14, NJW 2015, 1009, 1011. Ebenso mit Blick auf die deutschen Umsetzungsvorschriften und die dazu verfasste Gesetzesbegründung in BT-Drucks 17/12637, S. 45 auch z. B. Palandt / Grüneberg (2017), § 312 BGB Rn. 2; Jauernig / Stadler (2015), § 312 BGB Rn. 2. 23 So z. B. Spindler / Schuster/Schirmbacher (2015), § 312 BGB Rn. 3; HK-BGB /  Schulte-Nölke (2017), § 312 BGB Rn. 4. Maume, NJW 2016, 1041 ff. schlägt eine Differenzierung anhand der Art des Geschäfts vor: Die Verbraucherrechterichtlinie soll demnach bei umgekehrten Außergeschäftsraumverträgen, nicht aber bei umgekehrten Fernabsatzverträgen zwischen Verbrauchern und Unternehmern Anwendung finden, 24 Vgl. nur Erwägungsgrund Nr. 37 Verbraucherrechterichtlinie.

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Kapitel 7 – Kompass- und Schrankenfunktion der Vertragsfreiheit

richtlinie ins Leere laufen.25 Zum anderen ist nicht ersichtlich, dass die tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen eines Verbrauchers, der bei einem Fernabsatzvertrag die Hauptleistung erbringt, typischerweise derart beeinträchtigt werden, dass ihm pauschal ein Widerrufsrecht zuzuerkennen wäre.26 Mangels einer typisierbaren, auf eine Vielzahl gleichgelagerter Fälle zutreffenden Beeinträchtigung der faktischen Grundlagen der Selbstbestimmung des Verbrauchers ist die Anwendung der Materialisierungsinstrumente der Art. 6 und Art. 8 ff. Verbraucherrechterichtlinie bereits nicht erforderlich. Schutz gegen eine Übervorteilung des Verbrauchers bieten hier die Anfechtungstatbestände sowie die zivilrechtlichen Generalklauseln und in Deutschland damit insbesondere § 123 sowie § 138 BGB. Gegen die Verwendung missbräuchlicher AGB in den Ankaufverträgen des Unternehmers bietet sodann die Klauselkontrolle ausreichenden Schutz.27 Soweit nicht diese oder aber speziellere Materialisierungsinstrumente des nationalen oder auch des unionalen Privatrechts eingreifen, bleibt die Verwirklichung der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie indes dem freien Spiel des Vertrags- und Marktmechanismus überlassen. bb) Außergeschäftsraumverträge Auf den ersten Blick scheint eine andere Bewertung angezeigt, wenn ein Unternehmer den Verbraucher zuhause oder an dessen Arbeitsplatz aufsucht, 25 Ebenso BT-Drs. 17/12637, S. 45; Maume, NJW 2016, 1041, 1043 f. Anders aber mit Blick auf die Identitätsangabe des Unternehmers BeckOGK / Busch (2016), § 312 BGB Rn. 14. Bei Geschäften im elektronischen Geschäftsverkehr folgt diese Pflicht indes schon aus Art. 5 E-Commerce-Richtlinie, sofern der Ankäufer – wie etwa im Fall von „momox.de“ – mit dem Diensteanbieter identisch ist. 26 Dies mag man allenfalls bei unangekündigten Telefonanrufen, mit denen ein Verbraucher zum Vertragsschluss gedrängt wird, anders sehen, vgl. nur Maume, NJW 2016, 1041, 1043. Da es sich aber um absolute Ausnahmefälle – und damit gerade nicht um typische und typisierbare Konstellationen – handelt, in denen einem Verbraucher als Verkäufer ein Gegenstand am Telefon „ab-“ statt „aufgeschwatzt“ wird, kann dem im Einzelfall nicht zuletzt mithilfe des § 123 BGB sowie gegebenenfalls auch durch Rückgriff auf § 138 BGB begegnet werden. Hinzu mögen auch lauterkeitsrechtliche Tatbestände treten, die sich schließlich auch gegen unlauteres Verhalten von miteinander in Wettbewerb stehenden Ankäufern richten können, vgl. nur BGH Urt. v. 28.11.2013 – Az. I ZR 34/13 GRUR 2014, 498 (gewerbliche Goldankäufer). Die Vorgaben der Lauterkeitsrichtlinie finden indes nur Anwendung, sofern bei solchen „C2B“-Sachverhalten nicht allein die Nachfrageseite betroffen ist oder der Ankäufer – z. B. durch professionelle Wertschätzung – zugleich eine Dienstleistung gegenüber Verbrauchern erbringt, siehe nur Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen v. 25.5.2016, Leitlinien zur Umsetzung / Anwendung der Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken im Binnenmarkt, SWD(2016) 163 final, S. 8 f. Vgl. auch Harte-Bavendamm / Henning-Bodewig / Glöckner (2016), Einl. UWG B Rn. 240. 27 Vgl. nur OLG Stuttgart Urt. v. 10.12.2002 – Az. 12 U 150/02, NJW-RR 2003, 419.

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um einen umgekehrten Verbrauchervertrag zu schließen. Die Ratio der Vorschriften über den Außergeschäftsraumvertrag nach Art. 6 f. Verbraucherrechterichtlinie besteht darin, dass der Verbraucher aufgrund des „möglichen Überraschungsmoments und/oder psychologischen Drucks“ seine Entscheidung für den Vertragsschluss nicht auf eine solide Grundlage stützen kann.28 Zudem habe der Verbraucher hier mitunter keine Gelegenheit, die „Qualität […] des Angebots mit anderen Angeboten zu vergleichen“ und ließe sich in Außergeschäftsraumkonstellationen daher leichter zu einem nachteiligen Vertragsschluss hinreißen.29 Von zentraler Bedeutung ist aber wiederum allein die Frage, ob die Selbstbestimmungsmöglichkeiten des Verbrauchers hier in typisierbarer Weise in einer Vielzahl von Fällen derart beeinträchtigt werden, dass die Anwendung der Materialisierungsinstrumente der Verbraucherrechterichtlinie zum reibungslosen Funktionieren des Vertragsmechanismus erforderlich erscheint. Dies wäre nur dann zu bejahen, wenn ein als Verkäufer auftretender Verbraucher im Regelfall gleichermaßen durch „Überrumplung“ und „psychologischen Druck“ beeinträchtigt würde, wie dies die Verbraucherrechterichtlinie bei einem auf Käuferseite stehenden Verbraucher postuliert. Bei Verbrauchern, die einen Kaufgegenstand oder eine Dienstleistung von einem Unternehmer nachfragen, sieht der EU-Sekundärrechtsakt den Verbraucher den Verkaufstechniken und dem „Verkaufsdruck“ des professionellen Händlers ausgesetzt, weshalb es hier „keine Rolle spielt, ob der Verbraucher den Besuch des Unternehmers herbeigeführt hat oder nicht“.30 Bei einer Umkehrung der Leistungsrichtung, das heißt also bei der (Haupt)Leistungserbringung durch den Verbraucher, sah der EuGH dies in seiner Dietzinger-Entscheidung aber richtigerweise anders: Die Materialisierungsinstrumente des Unionsrechts – wie etwa das Verbraucherwiderrufsrecht – sollten nur gegenüber einem Vertrag in Stellung gebracht werden können, „der nicht auf Initiative des Kunden, sondern auf die des Gewerbetreibenden geschlossen wurde, so daß der Kunde möglicherweise nicht alle Folgen seines Handelns überblicken konnte“.31

28 Vgl. wiederum nur Erwägungsgrund Nr. 37 und siehe auch Erwägungsgrund Nr. 21 Verbraucherrechterichtlinie: „Außerhalb von Geschäftsräumen steht der Verbraucher möglicherweise psychisch unter Druck oder ist einem Überraschungsmoment ausgesetzt“. Für eine Anwendung der Verbraucherrechterichtlinie plädiert daher insbesondere Maume, NJW 2016, 1041 ff. 29 In diesem Sinne zur Haustürgeschäfterichtlinie z. B. EuGH v. 19.12.2013 – Rs. C209/12 (Endress), EU:C:2013:864 Rn. 24 f. 30 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 21 und Nr. 37 Verbraucherrechterichtlinie. 31 EuGH Urt. v. 17.3.1998 – Rs. C-45/96 (Dietzinger), Slg. 1998, I-1199 Rn. 19 (Herv d. Verf.).

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Entsprechend erscheinen bei umgekehrten Verbraucherverträgen allein diejenigen Konstellationen mit Blick auf die Selbstbestimmungschancen des Verbrauchers problematisch, in denen der Unternehmer den Verbraucher ohne dessen vorherige Anforderung aufsucht und „den Verbraucher zum Verkauf von Antiquitäten, Schmuck oder Gebrauchtwagen überredet“.32 Eine solche Form der „Kaltakquise“ durch einen gewerblichen Ankäufer ist bei einem als Verkäufer agierenden Verbraucher indes kaum relevant: Z.B. ist in der deutschen Gerichtspraxis nicht ein einziger Fall ersichtlich, in dem ein Gebrauchtwagen- oder Antiquitätenhändler sich unangekündigt und aus eigenem Antrieb in den Wohnräumen oder an der Arbeitsstätte eines Verbrauchers um einen Ankauf bemüht hätte. Den Regelfall bildet vielmehr die Situation, in der sich ein Verbraucher seinerseits an einen gewerblich handelnden Ankäufer wendet und dieser den Verbraucher sodann aufsucht.33 In dieser Konstellation hat es der Verbraucher in seiner Rolle als Verkäufer in der Hand, sich vor dem Vertragsschluss ausgiebig über den Marktpreis sowie über andere Parameter zu informieren. Gerade im praktisch bedeutsamen Fall des Gebrauchtwagenmarktes ist dies anhand etablierter Marktdokumentationen (wie z. B. der „Schwacke-Liste“) ohne weiteres möglich. Unter diesem Aspekt droht dem „normal informierte[n], angemessen aufmerksame[n] und verständige[n] Durchschnittsverbraucher“34 daher auch weder eine „Überrumplung“ noch „psychischer Verkaufsdruck“ in den Verhandlungen, wenn er – wie dies den Regelfall bilden dürfte – im Vorfeld den für ihn akzeptablen Mindestverkaufspreis definiert und gegebenenfalls auch andere Modalitäten des Vertrags bedenkt. Eine typisierbare Beeinträchtigung, welche die Funktionsfähigkeit des Vertrags- und Marktmechanismus dergestalt infrage stellt, dass es der Intervention der Materialisierungsinstrumente der Verbraucherrechterichtlinie bedürfte, ist daher auch bei umgekehrten Außergeschäftsraumverträgen nicht ersichtlich. Wo ein Unternehmer im Einzelfall die Schwelle zu einer nach § 123 BGB oder gar gemäß § 138 BGB beachtlichen Einflussnahme auf die Willensbildung des Verbrauchers überschreitet – etwa, indem er diesen gezielt über den Wert der Kaufsache täuscht –, ist der Konsument durch diese

32 In diese Richtung wohl auch MünchKommBGB / Wendehorst (2016), § 312 BGB Rn. 21 (Herv. d. Verf.). 33 Dies trifft auch auf die gängige Praxis von Gebrauchtwagenankäufern zu, den Verbraucher durch eine unter die Scheibenwischerblätter geklemmte Visitenkarte zur Kontaktaufnahme zu bewegen: Hierdurch wird der Konsument nämlich gerade nicht im Sinne der Verbraucherrechterichtlinie „außerhalb von Geschäftsräumen persönlich und individuell angesprochen“, vgl. Erwägungsgrund Nr. 21 der Richtlinie. 34 Siehe zu diesem Verbraucherleitbild des EU-Verbrauchervertragsrechts z. B. EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:282 Rn. 74; EuGH Urt. v. 23.4.2015 – Rs. C-96/14 (Van Hove), EU:C:2015:262 Rn. 47.

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Normen adäquat geschützt. Missbräuchlichen Ankaufsbedingungen des Unternehmers wirkt schließlich auch hier die AGB-Kontrolle entgegen. Obschon umgekehrte Verbraucherverträge im Schrifttum nicht zuletzt in Anlehnung an die Dietzinger-Entscheidung des EuGH35 teilweise der Verbraucherrechterichtlinie zugeschlagen werden, müssen solche Verträge bei unionsgrundrechtskonformer Lesart mangels Erforderlichkeit vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgeschlossen bleiben. b) Keine Stärkung des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus durch bestimmte Informationpflichten des Finanzdienstleistungsvertragsrechts Finanzdienstleistungsunternehmen und insbesondere Banken und Versicherer werden durch das Unionsprivatrecht angehalten, ihren Kunden vor Vertragsschluss zahllose Informationen zu übermitteln.36 Dabei werden diese Informationpflichten als Elemente des unionalen Informationsmodells durch ihre Rolle bei der Stärkung einzelner Facetten der Vertragsfreiheit legitimiert.37 Manchen Informationen muss indes die Eignung zur Materialisierung der Vertragsfreiheit von vornherein abgesprochen werden. So liegt der Fall etwa bei Art. 185 Abs. 2 lit. d i.V.m. Art. 51 Solvency II: Diese Vorschriften zwingen Versicherer, ihre potenziellen Versicherungsnehmer vor Abschluss eines Lebensversicherungsvertrags unter anderem über den Solvabilitätsbericht zu informieren. Letzterer umfasst – neben einer Beschreibung des unternehmenseigenen Governance-Systems – auch „Informationen für das richtige Verständnis der Hauptunterschiede zwischen den Annahmen, die der Standardformel und jedem vom Unternehmen für die Berechnung der Solvenzkapitalanforderung verwendeten internen Modell zugrunde liegen“.38

Durchschnittliche Versicherungsnehmer können mit diesen hochkomplexen mathematischen Formeln39 kaum etwas anfangen, geschweige denn ihre Vertragsentscheidung von den dort enthaltenen Parametern abhängig machen.40 EuGH Urt. v. 17.3.1998 – Rs. C-45/96 (Dietzinger), Slg. 1998, I-1199 Rn. 22 f. Einen Überblick bietet z. B. Loacker, FS E. Lorenz (2014), S. 259 ff.; ders., Informed Insurance Choice? (2015), S. 8 ff., 186 ff. 37 Siehe erneut oben Kapitel 4 § 3 A I. 38 Art. 51 Abs. 1 Unterabs. 2 lit. e Ziff. iv Solvency II. 39 Allein die Standardformel zur Berechnung der Solvenzkapitalanforderung in Anhang IV zu Solvency II nimmt zwei ganze Seiten im Amtsblatt der EU ein. Interne Modelle sind – da sie den Eigenheiten des jeweiligen Unternehmens Rechnung tragen müssen – in der Regel noch bedeutend komplexer und umfangreicher. 40 Dreher / Schaaf, in: Dreher / Wandt (Hrsg.), Solvency II in der Rechtsanwendung (2009), S. 129, 172 f.; Lüttringhaus, EuZW 2011, 856, 858. Schließlich wird auch das Leitbild des Versicherungsnehmers kaum an den Spezialkenntnissen eines Aktuars, sondern wiederum nur am Verständnishorizont einer „normal informierte[n], angemessen aufmerksame[n] und verständige[n]“ Person auszurichten sein, vgl. zum Verbraucherver35 36

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Zwar mag die Kapitalstärke des Unternehmens in der Tat ein bei der Vertragspartnerwahl relevantes Kriterium und damit zugleich ein Wettbewerbsfaktor sein. Typischerweise vermögen Versicherungsnehmer aber anhand der konkreten Angaben in Art. 185 Abs. 2 lit. d i.V.m. Art. 51 Abs. 1 Unterabs. 2 lit. e Ziff. iv Solvency II die Solvenz ihres Vertragspartners gerade nicht selbst einzuschätzen. Anders ausgedrückt leisten diese spezifischen Informationspflichten – und die damit aus Sicht des Versicherungsunternehmens korrespondierenden Informationslasten – also keinerlei Beitrag zur Funktionsfähigkeit des Vertrags- bzw. Wettbewerbsmechanismus und sind daher von vornherein ungeeignet, um die Vertragsfreiheit der Versicherungsnehmer zu materialisieren. Dieser Geeignetheitsmaßstab findet eine Stütze in der EuGH-Judikatur: Mit Blick auf die Informationspflichten der Versicherungsunternehmen nach der nunmehr in Solvency II aufgegangenen Dritten Richtlinie Lebensversicherung hat der Gerichtshof wiederholt betont, dass die Auferlegung einer Informationspflicht nur insoweit zulässig sein soll, wie „sie zur Information des Versicherungsnehmers notwendig ist und […] die geforderten Angaben genau und klar genug sind, um d[as] Ziel zu erreichen“.41 Obschon es in den Rechtssachen um Abweichungen von der unionsrechtlichen Mindestharmonisierung ging, zeigt der EuGH zugleich auf, dass alle Informationspflichten angesichts ihrer beschwerenden Wirkungen für Versicherungsunternehmen sowohl verhältnismäßig als auch zur Herstellung der Funktionfähigkeit des Vertrags- und Marktmechanismus geeignet sein müssen: Nicht nur sei eine größere Informationslast nur unter der Bedingung hinzunehmen, „dass diese Angaben dem Versicherungsnehmer ein Verständnis der wesentlichen Bestandteile der Verpflichtung ermöglichen“, sondern die Informationen müssten auch beschränkt werden „auf das, was zur Erreichung dieses Ziels notwendig ist“.42 Diese Erwägungen treffen auch unter Solvency II weiterhin zu, denn gemäß Art. 185 Abs. 7 Solvency II ist Ziel – und damit zugleich Maßstab – der Informationspflichten, dass „der Versicherungsnehmer die wesentlichen Merkmale der ihm angebotenen Versicherungsprodukte tatsächlich versteht“.43 Diesen Anforderungen genügt Art. 185 Abs. 2 lit. d i.V.m. Art. 51 Abs. 1 Unterabs. 2 lit. e Ziff. iv Solvency II wie gezeigt nicht und ist daher als Materialisierungsinstrument von vornherein ungeeignet. tragsrecht erneut EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:282 Rn. 74; EuGH Urt. v. 23.4.2015 – Rs. C-96/14 (Van Hove), EU:C:2015:262 Rn. 47. 41 So mit Blick auf Art. 31 Abs. 3 i. V. m. Anhang II und Erwägungsgrund Nr. 23 Dritte Richtlinie Lebensversicherung, die über die Mindestharmonisierung hinausgehende nationale Informationspflichten zulässt, EuGH Urt. v. 29.4.2015 – Rs. C-51/13 (Van Leeuwen), EU:C:2015:286 Rn. 22. Gleichsinnig bereits EuGH Urt. v. 5.3.2002 – Rs. C-386/00 (Axa Royale Belge), Slg. 2002, I-2209 Rn. 24. 42 Z. B. EuGH Urt. v. 29.4.2015 – Rs. C-51/13 (Van Leeuwen), EU:C:2015:286 Rn. 26.

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II. Unionsprivatrechtliche Rechtsgrundsätze als Schranken der Materialisierung Eine genuin zivilrechtliche Schranke finden die Materialisierungsinstrumente in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsprivatrechts. Zunächst sollen allgemeine Grundsätze des EU-Zivilrechts – zu denen die Vertragsfreiheit selbst zählt –44 laut EuGH in Privatrechtsbeziehungen „für einen vernünftigen Ausgleich […] zwischen den einzelnen Beteiligten sorgen“.45 Auch unter diesem Gesichtspunkt kann eine Materialisierung der Vertragsfreiheit der einen Vertragspartei daher nicht weiter gehen, als dies für einen „vernünftigen Ausgleich“ zwischen Vertragsparteien erforderlich ist. Auf diese Weise übersetzt der EuGH das Verhältnismäßigkeitsgebot in die Kategorien des Schuldvertragsrechts und erzielt so einen Gleichlauf zwischen der Vertragsfreiheit in ihrer Ausprägung als privatrechtlichem Grundsatz einerseits und Unionsgrundrecht andererseits. In beiden Eigenschaften fungiert die unionale Vertragsfreiheit daher „als Maßstab für die Überprüfung von Rechtsakten“, die ihre Materialisierung bezwecken.46 Darüber hinaus setzen den zivilrechtlichen Materialisierungsinstrumenten gerade auch gegenläufige allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts Schranken. Der EuGH hat im Kontext des Verbrauchervertragsrechts wiederholt herausgestellt, „dass für den Verbraucherschutz bestimmte Grenzen gelten“.47 Entsprechend sind die Instrumente zur Materialisierung der Vertragsfreiheit des Verbrauchers – wie etwa Widerrufsrechte – keineswegs absolut gewährleistet. Auch in anderen Sachmaterien können die „allgemeinen Grundsätz[e] des Zivilrechts“48 den Materialisierungsinstrumenten des EU-Privatrechts entgegengehalten werden. Besonders relevant sind dabei das Rechtsmissbrauchsverbot sowie die einzelnen Facetten des Grundsatzes von 43 Vgl. wiederum EuGH Urt. v. 29.4.2015 – Rs. C-51/13 (Van Leeuwen), EU:C:2015: 286 Rn. 27. Angestrebt wird laut Art. 185 Abs. 7 Solvency II „das tatsächliche Verständnis der wesentlichen Bestandteile der Versicherungspolice durch den Versicherungsnehmer“. 44 Siehe erneut oben Kapitel 2 § 2 C I. 45 Vgl. EuGH Urt. v. 15.4.2010 – Rs. C-215/08 (E. Fritz), Slg. 2010, I-2947 Rn. 48; EuGH Urt. v. 19.12.2013 – Rs. C-174/12 (Hirmann), EU:C:2013:856 Rn. 61. 46 Vgl. mit Blick auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze Basedow, AcP 210 (2010), 157, 179: „Sie sind somit nicht nur eine gute Hilfe bei der Auslegung des Unionsrechts und zum Ausfüllen seiner Lücken; sie dienen vielmehr auch als Maßstab für die Überprüfung von Rechtsakten der Union“. 47 So mit Blick auf die mittlerweile in der Verbraucherrechterichtlinie aufgegangene Haustürgeschäfterichtlinie EuGH Urt. v. 19.12.2013 – Rs. C-174/12 (Hirmann), EU:C: 2013:856 Rn. 61. Gleichsinnig bereits EuGH Urt. v. 10.4.2008 – Rs. C-412/06 (Hamilton), Slg. 2008, I-2383 Rn. 39 f.; EuGH Urt. v. 15.4.2010 – Rs. C-215/08 (E. Fritz), Slg. 2010, I2947 Rn. 44. 48 Vgl. nur EuGH Urt. v. 15.4.2010 – Rs. C-215/08 (E. Fritz), Slg. 2010, I-2947 Rn. 48; EuGH Urt. v. 19.12.2013 – Rs. C-174/12 (Hirmann), EU:C:2013:856 Rn. 61. Siehe auch EuGH Urt. v. 3.9.2009 – Rs. C-489/07 (Messner), Slg. 2009, I-7315 Rn. 26.

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Treu und Glauben (1). Am Beispiel der Vertragslösungsrechte des Verbraucher- und Finanzdienstleistungsrechts (2) sowie der unionalen Antidiskriminierungsvorschriften (3) lässt sich aufzeigen, wie insbesondere das Verbot des Rechtsmissbrauchs den Materialisierungsinstrumenten Schranken zieht. 1. Rechtsmissbrauchsverbot und Treu und Glauben In seiner ständigen Rechtsprechung geht der EuGH davon aus, dass das Rechtsmissbrauchsverbot auch gegenüber unionsrechtlich verbürgten Rechten, einschließlich zivilrechtlicher Rechtspositionen, wirken kann. 49 Insbesondere bringt der Gerichtshof den Grundatz von Treu und Glauben gegenüber Tatbeständen des unionalen Verbrauchervertragsrechts in Stellung.50 Zu Beginn seiner Entscheidungslinie hat der EuGH dabei zuvörderst auf die Generalklauseln des mitgliedstaatlichen Privatrechts – wie etwa § 242 BGB – Bezug genommen.51 Dies bedeutet aber noch lange nicht, dass der hierbei anzulegende Prüfungsmaßstab allein oder auch nur vorrangig dem mitgliedstaatlichen Recht entstammt.52 Vielmehr ist in der jüngeren Rechtsprechung des Gerichtshofs eine unionsrechtlich-autonome Konzeption und Maßstabbildung zu beobachten, die bis hin zur Entwicklung eines eigenständigen allgemeinen Rechtsmissbrauchsverbots im Unionsrecht reicht.53 a) Rahmensetzung durch Unionsrecht Sowohl der deutsche Bundesgerichtshof als auch das Bundesverfassungsgericht gehen davon aus, dass gegenüber unionsrechtlich fundierten Materialisierungsinstrumenten – wie etwa dem Widerspruchsrecht von Versicherungsnehmern – ein Rückgriff auf § 242 BGB uneingeschränkt möglich sei, weil die 49 Siehe z. B. EuGH Urt. v. 2.5.1996 – Rs. C-206/94 (Paletta), Slg. 1996, I-2357 Rn. 25. Siehe mit Blick auf Aktionärsrechte EuGH Urt. v. 12.5.1998 – Rs. C-367/96 (Kefalas), Slg. 1998, I-2843 Rn. 21; EuGH Urt. v. 23.3.2000 – Rs. C-373/97 (Diamantis), Slg. 2000, I-1705 Rn. 33 f. Dazu statt vieler Fleischer, JZ 2003, 865, 868 ff.; Basedow, FS Stathopoulos I (2010), S. 159 ff.; Staudinger / Olzen / Looschelders (2015), § 242 BGB Rn. 1246; MünchKommBGB / Schubert (2016), § 242 BGB Rn. 76. 50 Vgl. nur EuGH Urt. v. 3.9.2009 – Rs. C-489/07 (Messner), Slg. 2009, I-7315 Rn. 26 (restriktive Auslegung des Art. 6 Fernabsatzrichtlinie im Einklang mit den „Grundsätzen des bürgerlichen Rechts wie denen von Treu und Glauben“, wenn ein Verbraucher die im Fernabsatz gekaufte Ware über Gebühr nutzt); EuGH Urt. v. 15.4.2010 – Rs. C-215/08 (E. Fritz), Slg. 2010, I-2947 Rn. 48 (restriktive Lesart des Art. 5 und Art. 7 Haustürgeschäfterichtlinie entsprechend „den allgemeinen Grundsätzen des Zivilrechts“). 51 Deutlich etwa EuGH Urt. v. 12.5.1998 – Rs. C-367/96 (Kefalas), Slg. 1998, I-2843 Rn. 21. 52 Anders zuletzt aber BVerfG Beschl. v. 2.2.2015 – Az. 2 BvR 2437/14, NJW 2015, 1294, 1295; BGH Beschl. v. 13.1.2016 – Az. IV ZR 117/15, BeckRS 2016, 02174 Rn. 2 ff. 53 Siehe mit Blick auf das Verbot des Rechtsmissbrauchs Basedow, AcP 210 (2010), 157, 182; ders., FS Stathopoulos I (2010), S. 159 ff.

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„Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben und des Verbots widersprüchlicher Rechtsausübung […] in das nationale Zivilrecht eingebettet bleibt und die nationalen Gerichte ein missbräuchliches Verhalten auch nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union berücksichtigen dürfen“.54

Dem ist entgegenzuhalten, dass die mitgliedstaatlichen Zivilrechtsordnungen die unionalen Materialisierungsinstrumente nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH gerade nicht beliebig unter Rückgriff auf nationale Rechtsfiguren beschränken können.55 Ganz im Gegenteil streiten verschiedene Faktoren für eine autonome Maßstabbildung bei Prüfung, ob die Berufung auf unionsprivatrechtliche Materialisierungsinstrumente ausnahmsweise rechtsmissbräuchlich ist. Zunächst zieht der unionsrechtliche Effektivitätsgrundsatz dem mitgliedstaatlichen Privatrecht Grenzen, wann immer nationale Tatbestände, wie etwa § 242 BGB, gegenüber unionsrechtlich fundierten Rechtspositionen in Stellung gebracht werden sollen: Die Handhabung nationaler Generalklauseln darf weder den Zweck der Materialisierungsinstrumente vereiteln noch die „die volle Wirksamkeit und die einheitliche Anwendung“ des Unionsrechts beeinträchtigen.56 Eine ausschließlich auf das nationale Privatrecht fokussierte Lesart, wie sie der BGH und das BVerfG bevorzugen,57 läuft zunächst schon dem Ziel der unionsweit einheitlichen Anwendung des EU-Privatrechts zuwider: Beispielsweise unterscheiden sich die nationalen Konzepte des

BGH Beschl. v. 13.1.2016 – Az. IV ZR 117/15, BeckRS 2016, 02174 Rn. 2 ff. (Herv. d. Verf.). Gleichsinnig BVerfG Beschl. v. 2.2.2015 – Az. 2 BvR 2437/14, NJW 2015, 1294, 1295. Präziser zuvor noch BGH Urt. v. 16.7.2014 – Az. IV ZR 73/13, NJW 2014, 2723, 2728. Siehe auch BeckOGK / Kähler (2016) § 242 BGB Rn. 286 ff. 55 Vgl. schon EuGH Urt. v. 12.5.1998 – Rs. C-367/96 (Kefalas), Slg. 1998, I-2843 Rn. 22 f. Siehe zuletzt auch EuGH Urt. v. 28.6.2016 – Rs. C-423/15 (R+V Allgemeine Versicherung), EU:C:2016:604 Rn. 37 ff. Wie hier statt vieler Heiderhoff, Europäisches Privatrecht (2016), S. 137. Davon zu trennen ist der Umstand, dass den mitgliedstaatlichen Gerichten die Würdigung der Tatsachen zufällt, welche im Einzelfall eine Einschränkung – z. B. wegen rechtsmissbräuchlichen Verhaltens – rechtfertigen, vgl. wiederum nur EuGH Urt. v. 28.6.2016 – Rs. C-423/15 (R+V Allgemeine Versicherung), EU:C:2016:604 Rn. 42 ff. sowie schon zuvor GA Tesauro Schlussanträge v. 4.2.1998 – Rs. C-367/96 (Kefalas), Slg. 1998, I-2845 Rn. 26 f. 56 So explizit EuGH Urt. v. 12.5.1998 – Rs. C-367/96 (Kefalas), Slg. 1998, I-2843 Rn. 22 f.: „[J]edoch ist daran zu erinnen, daß die Anwendung einer solchen nationalen Rechtsvorschrift nicht die volle Wirksamkeit und die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten beeinträchtigen darf […]. Insbesondere können die nationalen Gerichte bei der Beurteilung der Ausübung eines sich aus einer Gemeinschaftsbestimmung ergebenden Rechtes nicht die Tragweite dieser Bestimmung verändern oder die mit ihr verfolgten Zwecke vereiteln“. 57 Vgl. erneut BGH Beschl. v. 13.1.2016 – Az. IV ZR 117/15, BeckRS 2016, 02174 Rn. 2 ff.; BVerfG Beschl. v. 2.2.2015 – Az. 2 BvR 2437/14, NJW 2015, 1294, 1295. 54

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Rechtsmissbrauchsverbots durchaus, und zwar sowohl hinsichtlich der Tatbestandsvoraussetzungen als auch in Bezug auf die Rechtsfolgen.58 Vor allem gebietet das unionsrechtliche Effektivitätsprinzip, dass „materiell[e] Ausschlussgründ[e] nach nationalem Recht – wie de[r] Grundsatz von Treu und Glauben –“ die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung eingeräumten Rechte nicht praktisch unmöglich machen.59 Weil eine Beschränkung unionaler Verbraucherwiderrufsrechte z. B. mithilfe des § 242 BGB fraglos deren Wirksamkeit berührt, müssen nationale Gerichte bei der Auslegung und Anwendung der Generalklausel also immer den unionsrechtlichen Rahmen beachten.60 Ob und inwieweit der Effektivitätsgrundsatz im Einzelfall § 242 BGB Schranken zieht, wird zwangsläufig durch das Unionsrecht, nicht aber durch das nationale Privatrecht beantwortet, so dass das Gebot der Effektivität auch insoweit eine zumindest indirekte Hamonisierungswirkung entfalten kann.61 Gerade wo – wie etwa bei Vertragslösungsrechten – noch keine gefestigte Rechtsprechungslinie des EuGH existiert, muss daher in Zweifelsfällen der Gerichtshof im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens angerufen werden, damit dieser den nationalen Gerichten abstrakte Kriterien zur Bewältigung des individuellen Falles an die Hand geben kann.62 Auf diese Überlegungen allein lässt sich freilich weder ein vollständig ausdifferenzierter Grundsatz von Treu und Glauben noch ein hinreichend konkretes Verbot rechtsmissbräuchlichen Verhaltens im Unionsrecht stützen. Allerdings wird bereits hier deutlich, dass die Unionsrechtsordnung die Außengrenzen für die Anwendung nationaler Tatbestände absteckt.63 Wenn das In diesem Sinne bereits GA Tesauro Schlussanträge v. 4.2.1998 – Rs. C-367/96 (Kefalas), Slg. 1998, I-2845 Rn. 22 (dort m. w. N. in den Fn.). Siehe aus rechtsvergleichender Perspektive auch Fleischer, JZ 2003, 865 ff.; Basedow, FS Stathopoulos I (2010), S. 159, 163 ff. 59 Vgl. EuGH Urt. v. 12.5.1998 – Rs. C-367/96 (Kefalas), Slg. 1998, I-2843 Rn. 22 f. Siehe auch schon EuGH Urt. v. 12.3.1996 – Rs. C-441/93 (Pafitis), Slg. 1996, I-1347 Rn. 68 ff. 60 Insoweit zutreffend BGH Beschl. v. 13.1.2016 – Az. IV ZR 117/15, BeckRS 2016, 02174 Rn. 2 ff. 61 In diesem Sinne auch Schmidt-Kessel, JbJZWiss. 2000 (2001), S. 61, 75. 62 Die abschließende Würdigung der Tatsachengrundlage obliegt dabei freilich stets den mitgliedstaatlichen Gerichten, nicht hingegen dem EuGH, vgl. im Kontext des Rechtsmissbrauchsverbots GA Tesauro Schlussanträge v. 4.2.1998 – Rs. C-367/96 (Kefalas), Slg. 1998, I-2845 Rn. 26 f., der gerade fordert, dass der EuGH „den Zweck der betreffenden Rechtsvorschrift definiert und die dieser innewohnenden Grenzen [ab]steckt, um es sodann dem nationalen Gericht zu überlassen, die Möglichkeit einer Berufung auf die Vorschrift allein für den Fall auszuschließen, daß diese Grenzen überschritten wurden“. Siehe ferner nur Basedow, FS Stathopoulos I (2010), S. 159, 181 f. 63 Vgl. zu den unionsprivatrechtlichen Regelungen „innewohnenden Grenzen“ wiederum GA Tesauro Schlussanträge v. 4.2.1998 – Rs. C-367/96 (Kefalas), Slg. 1998, I-2845 Rn. 26. Vgl. zum unionsrechtlichen Verbot des Rechtsmissbrauchs im EU-Privatrecht zuletzt auch EuGH Urt. v. 28.6.2016 – Rs. C-423/15 (R+V Allgemeine Versicherung), EU:C: 58

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EU-Recht einen solchen Rahmen für nationale Rechtsgrundsätze setzt, muss das Unionsrecht selbst zumindest ein negatives Abbild solcher Grundsätze – und damit ein „halbautonomes“ Konzept –64 enthalten: Schließlich definiert es zum einen, bis zu welchem Grad der Einwand rechtsmissbräuchlichen oder in sonstiger Weise treuwidrigen Verhaltens beachtlich ist, und zum anderen, ab wann der Effektivitätsgrundsatz die Anwendung eines bestimmten Materialisierungsinstruments gebietet.65 Überdies verdeutlichen nicht zuletzt die Heininger- sowie die Endress-Entscheidung des EuGH, dass das Unionsrecht auch diejenigen Faktoren entscheidend beeinflussen kann, die im Rahmen der Bewertung missbräuchlichen oder treuwidrigen Verhaltens – etwa im Rahmen des § 242 BGB –66 eine Rolle spielen können: Namentlich kann sich ein Finanzdienstleistungsunternehmen grundsätzlich weder auf sein schutzwürdiges Vertrauen noch auf vermeintlich widersprüchliches Verhalten ihres Vertragspartners berufen, wenn der Finanzdienstleister die zugrunde liegende „Situation […] dadurch selbst herbeigeführt hat, dass er seiner unionsrechtlichen Obliegenheit zur Mitteilung von in einer Liste festgelegten Informationen […] nicht nachgekommen ist“.67

Während die vorgenannten Konturen noch rudimentär sind, hat der EuGH zumindest mit Blick auf das Verbot des Rechtsmissbrauchs bereits eine detaillierte unionsrechtlich-autonome Konzeption entwickelt. b) Autonomes Rechtsmissbrauchsverbot in der EuGH-Judikatur Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist eine „missbräuchliche Berufung auf das Unionsrecht nicht erlaubt“.68 Während der Gerichtshof dabei 2016:604 Rn. 37 ff. m. w. N. aus der Rechtsprechungspraxis. Ein unionales Rechtsmissbrauchsverbot postuliert auch BGH Urt. v. 16.7.2014 – Az. IV ZR 73/13, NJW 2014, 2723, 2728, der sodann aber annimmt, dass die „Maßstäbe für eine Berücksichtigung der Gesichtspunkte von Treu und Glauben“ letztlich doch allein dem deutschen Recht obliegen. 64 Vgl. Stempel, Treu und Glauben im Unionsprivatrecht (2016), S. 312. 65 Zumindest andeutungsweise mit Blick auf das Widerspruchsrecht des Versicherungsnehmers auch EuGH v. 19.12.2013 – Rs. C-209/12 (Endress), EU:C:2013:864 Rn. 30. 66 Vgl. jüngst etwa BGH Urt. v. 16.3.2016 – Az. VIII ZR 146/15, NJW 2016, 1951, 1952: „Nach der Rechtsprechung des Senats kommt ein Ausschluss des Widerrufsrechts wegen Rechtsmissbrauchs bzw. unzulässiger Rechtsausübung (§ 242 BGB) nur ausnahmsweise – unter dem Gesichtspunkt besonderer Schutzbedürftigkeit des Unternehmers – in Betracht“ kommt (Herv. d. Verf.). Vgl. zu den Schutzwürdigkeitskriterien auch BGH Urt. v. 12.7.2016 – Az. XI ZR 501/15, BeckRS 2016, 12590; BGH Urt. v. 12.7.2016 – Az. XI ZR 564/15, BeckRS 2016, 17206. Siehe hierzu statt vieler Mankowski, JZ 2016, 787, 790. 67 So zum Widerrufsrecht nach der Haustürgeschäfterichtlinie EuGH Urt. v. 13.12.2001 – Rs. C-481/99 (Heininger), Slg. 2001, I-9945 Rn. 47. Siehe mit Blick auf das Versicherungsvertragsrecht EuGH v. 19.12.2013 – Rs. C-209/12 (Endress), EU:C:2013:864 Rn. 30. 68 Zuletzt z. B. EuGH Urt. v. 13.3.2014 – Rs. C-155/13 (SICES), EU:C:2014:145 Rn. 29. Siehe auch EuGH Urt. v. 8.6.2017 – Rs. C-54/16 (Vinyls Italia), EU:C:2017:433

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teilweise eine klare Abgrenzung zum Verbot der Gesetzesumgehung vermissen lässt,69 ist das Rechtsmissbrauchsverbot mittlerweile zu einem allgemeinen unionsrechtlichen Rechtsgrundsatz erstarkt, der als Schranke aller durch das EU-Recht gewährleisteten subjektiven Rechte fungiert.70 Dieser Grundsatz durchdringt damit die gesamte Unionsrechtsordnung von der Grundrechtecharta71 bis hin zum EU-Privatrecht.72 Auf Tatbestandsseite setzt der autonome Rechtsmissbrauchseinwand „das Vorliegen eines objektiven und eines subjektiven Tatbestandsmerkmals“ voraus.73 In objektiver Hinsicht muss sich namentlich „aus einer Gesamtwürdigung der […] Umstände ergeben, dass trotz formaler Einhaltung der von der Unionsregelung vorgesehenen Bedingungen das Ziel dieser Regelung nicht erreicht wurde“.74

Rn. 51. Siehe zuvor nur EuGH Urt. v. 2.5.1996 – Rs. C-206/94 (Paletta), Slg. 1996, I-2357 Rn. 25; EuGH Urt. v. 12.5.1998 – Rs. C-367/96 (Kefalas), Slg. 1998, I-2843 Rn. 21; EuGH Urt. v. 23.3.2000 – Rs. C-373/97 (Diamantis), Slg. 2000, I-1705 Rn. 33 f.; EuGH Urt. v. 21.2.2006 – Rs. C-255/02 (Halifax), Slg. 2006, I-1609 Rn. 68. 69 Dazu eingehend Basedow, FS Stathopoulos I (2010), S. 159, 160 ff., der den Missbrauch eines tatsächlich bestehenden subjektiven Rechts überzeugend von der Gesetzesumgehung oder -erschleichung dadurch abgrenzt, dass im letzteren Fall eigentlich noch kein Recht entstanden ist, sondern die Tatbestandsvoraussetzungen einer Norm von den Parteien nur künstlich, d. h. „nicht wirklich um ihrer selbst willen“ herbeigeführt werden (S. 161). 70 Siehe für eine umfassende Analyse der einzelnen Regelungsbereiche des Unionsrechts wiederum nur Basedow, FS Stathopoulos I (2010), S. 159 ff. m. w. N. Siehe zum Rechtsmissbrauchsverbot als allgemeinem Rechtsgrundsatz des Unionsrechts ferner GA Poiares Maduro Schlussanträge v. 7.4.2005 – Rs. C-255/02 (Halifax), Slg. 2006, I-1613 Rn. 64; Schmidt-Kessel, JbJZWiss. 2000 (2001), S. 61, 79 ff.; Fleischer, JZ 2003, 865, 871; Wendehorst, GPR 2015, 55, 58. Siehe zuletzt eingehend Stempel, Treu und Glauben im Unionsprivatrecht (2016), S. 207 ff.; Baudenbacher, Vom gemeineuropäischen zum europäischen Rechtsmissbrauchsverbot (2016). Dabei hat der EuGH bislang nicht eindeutig erkennen lassen, ob das unionale Rechtsmissbrauchsverbot subjektive Rechte unberürht lässt und lediglich deren Ausübung sperrt oder aber eine jedem unionsrechtlich fundierten Recht immanente Schranke bildet, siehe nur Rieländer, AcP 216 (2016), 763, 764. 71 Art. 54 GRCh enthält ein „Verbot des Missbrauchs der Rechte“, welche durch die Charta gewährleistet werden. Dies zielt gerade auch auf den Rechtsmissbrauch durch die Grundrechtsträger, siehe statt aller Jarass (2016), Art. 54 GRCh Rn. 2 f. 72 EuGH Urt. v. 28.6.2016 – Rs. C-423/15 (R+V Allgemeine Versicherung), EU:C: 2016:604 Rn. 37 ff.; EuGH Urt. v. 8.6.2017 – Rs. C-54/16 (Vinyls Italia), EU:C:2017:433 Rn. 51 ff. Siehe hierzu schon Schmidt-Kessel, JbJZWiss. 2000 (2001), S. 61, 73 ff. 73 Siehe nur EuGH Urt. v. 28.6.2016 – Rs. C-423/15 (R+V Allgemeine Versicherung), EU:C:2016:604 Rn. 38 f. Siehe aus der ständigen Rechtsprechung ferner nur EuGH Urt. v. 14.12.2000 – Rs. C-110/99 (Emsland-Stärke), Slg. 2000, I-11569 Rn. 52 f. 74 EuGH Urt. v. 28.6.2016 – Rs. C-423/15 (R+V Allgemeine Versicherung), EU:C: 2016:604 Rn. 40 f.; EuGH Urt. v. 8.6.2017 – Rs. C-54/16 (Vinyls Italia), EU:C:2017:433 Rn. 52.

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In subjektiver Hinsicht fordert der EuGH, dass aus den Umständen die Absicht hervorgeht, einen „ungerechtfertigten Vorteil“ zu erlangen, wobei dieser „wesentlicher Zweck der fraglichen Handlungen“ sein muss, worauf „u. a. der rein künstliche Charakter“ der Handlungen hindeuten soll.75 Dem mitgliedstaatlichen Gericht obliegt sodann die Würdigung der Tatsachengrundlagen und die Subsumption des Einzelfalls unter den unionsrechtlich-autonomen Rechtsmissbrauchstatbestand.76 Im Kern müssen beim Rechtsmissbrauch dabei stets „die Zwecke des genutzten subjektiven Rechts als Maßstab der Rechtsausübung herangezogen“ werden.77 Damit mag das unionsrechtliche Rechtsmissbrauchsverbot der aus § 242 BGB folgenden immanenten Inhaltsbegrenzung zwar durchaus ähneln.78 Deckungsgleich sind die Tatbestände indes nicht: Beispielsweise hat der EuGH in seiner bisherigen Judikatur weder auf eine subjektive Komponente verzichtet79 noch spielt die Zweckwidrigkeit der Rechtsausübung im deutschen Bürgerlichen Recht eine auch nur annähernd so große Rolle wie im Unionsrecht.80 Vor diesem Hintergrund müssen deutsche Gerichte eine zweischrittiEuGH Urt. v. 28.6.2016 – Rs. C-423/15 (R+V Allgemeine Versicherung), EU:C: 2016:604 Rn. 40 f.; EuGH Urt. v. 8.6.2017 – Rs. C-54/16 (Vinyls Italia), EU:C:2017:433 Rn. 53. 76 Bei der Prüfung des Rechtsmissbrauchsverbots hat das mitgliedstaatliche Gericht „gemäß den Beweisregeln des nationalen Rechts – soweit dadurch die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigt wird – festzustellen, ob die Tatbestandsvoraussetzungen eines missbräuchlichen Verhaltens […] erfüllt sind“, EuGH Urt. v. 28.6.2016 – Rs. C-423/ 15 (R+V Allgemeine Versicherung), EU:C:2016:604 Rn. 42. Siehe bereits Basedow, FS Stathopoulos I (2010), S. 159, 181 f. 77 Basedow, FS Stathopoulos I (2010), S. 159, 171. Gleichsinnig bereits SchmidtKessel, JbJZWiss. 2000 (2001), S. 61, 79 f.; Vogenauer, in: de la Feria / Vogenauer (eds.), Prohibition of Abuse of Law (2011), S. 521, 571. 78 In diese Richtung ist wohl BGH Urt. v. 16.7.2014 – Az. IV ZR 73/13, NJW 2014, 2723, 2728 zu verstehen. Siehe auch Staudinger / Olzen / Looschelders (2015), § 242 BGB Rn. 1246; Mankowski, JZ 2016, 787, 789. 79 Demgegenüber wird insbesondere in Deutschland vorgebracht, dass das subjektive Element nicht immer eingefordert werden dürfe und teilweise vielmehr ein rein objektiver Maßstab an den Rechtsmissbrauch im Unionsrecht anzulegen sei, dafür zuletzt etwa BVerfG Beschl. v. 2.2.2015 – Az. 2 BvR 2437/14, NJW 2015, 1294, 1295: „Auch die Auffassung, dass ein missbräuchliches Verhalten allein auf der Grundlage objektiver Kriterien festgestellt werden könne und unredliche Absichten oder ein Verschulden insoweit nicht erforderlich seien, steht nicht in einem erkennbaren Widerspruch zur Rechtsprechung des EuGH“. Siehe hierzu ferner nur Fleischer JZ 2003, 865, 872; MünchKommBGB /  Schubert (2016), § 242 BGB Rn. 161. 80 Vgl. im privatrechtlichen Kontext zuletzt etwa EuGH Urt. v. 28.6.2016 – Rs. C423/15 (R+V Allgemeine Versicherung), EU:C:2016:604 Rn. 39 und 35. Deutlich bereits GA Tesauro Schlussanträge v. 4.2.1998 – Rs. C-367/96 (Kefalas), Slg. 1998, I-2845 Rn. 26 f., der hervorhebt, dass der EuGH „den Zweck der betreffenden Rechtsvorschrift definiert und die dieser innewohnenden Grenzen [ab]steckt, um es sodann dem nationalen Gericht zu überlassen, die Möglichkeit einer Berufung auf die Vorschrift allein für den Fall 75

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ge Prüfung durchführen, wenn sie eine unionsprivatrechtliche Rechtsposition wegen Rechtsmissbrauchs gemäß § 242 BGB beschneiden wollen: In einem ersten Schritt ist zu fragen, ob und inwieweit der unionsrechtliche Rechtsmissbrauchstatbestand erfüllt ist und das Unionsrecht daher eine Einschränkung der praktischen Wirksamkeit des betreffenden Unionsrechtsaktes grundsätzlich zulässt.81 Erst wenn die unionsrechtliche Hürde genommen ist, kann in einem zweiten Schritt auf § 242 BGB zurückgegriffen werden. Genau genommen ist diese Norm dann nur noch das Vehikel, welches den unionsprivatrechtlichen Rechtsmissbrauchseinwand in das deutsche Bürgerliche Recht transportiert.82 c) Ausstehende Konturierung des Grundsatzes von Treu und Glauben Das durch den EuGH für das gesamte Unionsrecht, einschließlich des EUPrivatrechts, entwickelte unionale Verbot des Rechtsmissbrauchs wird teilweise als Facette eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes von Treu und Glauben begriffen: Dieses Verständnis legt nicht zuletzt Generalanwältin Trstenjak zugrunde, wenn sie ausführt, das Verbot des Rechtsmissbrauchs bedeute, „dass die Inanspruchnahme eines formal gegebenen Rechtsanspruchs durch den Grundsatz von Treu und Glauben beschränkt ist“.83 auszuschließen, daß diese Grenzen überschritten wurden“. Siehe auch Basedow, FS Stathopoulos I (2010), S. 159, 171; Schmidt-Kessel, JbJZWiss. 2000 (2001), S. 61, 79 („Rechtsmißbräuchlichkeit [….] ist Zweckwidrigkeit“); Vogenauer, in: de la Feria /  Vogenauer (eds.), Prohibition of Abuse of Law (2011), S. 521, 532 ff. Demgegenüber sieht z. B. BGH Urt. v. 12.7.2016 – Az. XI ZR 501/15, NZG 2016, 1268, 1270 sogar einen Rechtsfehler darin, dass die Vorinstanz die Anwendung des § 242 BGB mit dem Argument bejaht hat, dass „das Motiv für den Widerruf nichts mit dem Schutzzweck des Widerrufsrechts zu tun habe“. 81 Vgl. EuGH Urt. v. 28.6.2016 – Rs. C-423/15 (R+V Allgemeine Versicherung), EU:C: 2016:604 Rn. 37 ff. und zumindest andeutungsweise auch BGH Urt. v. 16.7.2014 – Az. IV ZR 73/13, NJW 2014, 2723, 2728. Ist das Ziel der unionsprivatrechtlichen Regelung und damit auch die Frage der Zweckwidrigkeit der Rechtsausübung im Einzelfall zweifelhaft, muss gegebenenfalls erst der EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens über diese Fragen befinden, vgl. GA Tesauro Schlussanträge v. 4.2.1998 – Rs. C-367/96 (Kefalas), Slg. 1998, I-2845 Rn. 26 f. Anders aber BVerfG Beschl. v. 2.2.2015 – Az. 2 BvR 2437/14, NJW 2015, 1294, 1295; BGH Beschl. v. 13.1.2016 – Az. IV ZR 117/15, BeckRS 2016, 02174 Rn. 2 ff. sowie z. B. BeckOGK / Kähler (2016), § 242 BGB Rn. 289. 82 Allenfalls insoweit bleibt die „Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben und des Verbots widersprüchlicher Rechtsausübung […] in das nationale Zivilrecht eingebettet“, vgl. BGH Beschl. v. 13.1.2016 – Az. IV ZR 117/15, BeckRS 2016, 02174 Rn. 2 ff. 83 GA Trstenjak Schlussanträge v. 2.6.2011 – Rs. C-118/09 (Koller), Slg. 2010, I13627 Rn. 81 (dort in Fn. 36). Ebenso z. B. Stempel, Treu und Glauben im Unionsprivatrecht (2016), S. 66 f., 235 und 317; Mankowski, JZ 2016, 787, 789. In diese Richtung deutete schon GA Mancini Schlussanträge v. 8.6.1983 – Rs. 201/82 (Gerling), Slg. 1983, 2519 Rn. 6: „Ein letztes Argument, das meine Auffassung stützt, leitet die Kommission aus

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In die gleiche Richtung deutet auch Lenaerts, wenn er Rechtsmissbrauch und Treu und Glauben als zwei Seiten derselben Medaille auffasst.84 Dies führt zu der Frage, ob Treu und Glauben einen eigenständigen, übergeordneten unionsrechtlich-autonomen Rechtsgrundsatz darstellt. Im Sekundärrecht übernimmt der Grundsatz von Treu und Glauben sehr unterschiedliche Funktionen und ist z. B. in der Klauselrichtlinie selbst Tatbestandsmerkmal.85 Im Rahmen des unionsrechtlich-autonomen Rechtsmissbrauchsverbots verhält es sich ähnlich, da Treu und Glauben hier als Kriterium zur Ermittlung der Missbräuchlichkeit der Rechtsausübung dient.86 Auch in der Judikatur des EuGH, z. B. zu Gerichtsstandsvereinbarungen, taucht der Grundsatz wiederholt auf.87 Der Grundsatz von Treu und Glauben ist damit in der Unionsrechtsordnung präsent, wobei gerade die Durchdringung unterschiedlicher Sachmaterien die Einordnung als allgemeinen Grundsatz des Unionsprivatrechts indizieren mag.88 Anders als im Fall des Rechtsmissbrauchsverbots fehlt beim aktuellen Stand der Rechtsentwicklung jedoch sowohl auf Tatbestands- als auch auf Rechtsfolgenseite eine hinreichende Konturierung sowie Systematisierung dieses Grundsatzes und seiner einzelnen Facetten. Dies mag erklären, weshalb der EuGH gerade in den unionsprivatrechtlichen Rechtssachen Messner und E. Fritz Treu und Glauben nicht ausdrücklich als selbstständige unionsrechtliche Inhaltsbegrenzung subjektiver Rechte heranzieht.89 Obschon eine dem Grundsatz von Treu und Glauben her, der für das Zustandekommen und die Erfüllung von Verträgen gilt. Wenn, so trägt sie vor, das Brüsseler Übereinkommen dem Versicherer gestatten würde, die Verpflichtung nicht einzuhalten, die er durch den Abschluß der Gerichtsstandsvereinbarung mit seinem Vertragspartner dem Dritten gegenüber übernommen hat, so würde es ein planmäßig illoyales und treuwidriges Verhalten belohnen […]. Diese Ausführungen sind meines Erachtens zutreffend“ (Herv. d. Verf.). 84 Lenaerts, ERPL 2010, 1121, 1146: „[G]ood faith and fair dealing, on the one hand, and the principle of the prohibition of abuse of rights, on the other hand, seem to constitute two sides of the same question: a positive side, namely the duty of good faith in the performance of contracts, and a negative side, namely the prohibition of abuse of rights“. 85 Vgl. Art. 3 Klauselrichtlinie sowie zuletzt besonders prägnant EuGH Urt. v. 21.3.2013 – Rs. C-92/11 (RWE), EU:C:2013:180 Rn. 47 und 65. 86 Vgl. wiederum GA Trstenjak Schlussanträge v. 2.6.2011 – Rs. C-118/09 (Koller), Slg. 2010, I-13627 Rn. 81 (dort in Fn. 36). So auch Basedow, FS Stathopoulos I (2010), S. 159, 186; Stempel, Treu und Glauben im Unionsprivatrecht (2016), S. 317. 87 Siehe im Kontext von Gerichtsstandsvereinbarungen nach Art. 17 EuGVÜ frühzeitig z. B. EuGH Urt. v. 14.12.1976 – Rs. 25/76 (Segoura), Slg. 1976, 1851 Rn. 11; EuGH Urt. v. 19.6.1984 – Rs. 71/83 (Tilly Russ), Slg. 1984, 2417 Rn. 18. Eine umfassende Aufarbeitung der Entscheidungspraxis des EuGH leistet wiederum Stempel, Treu und Glauben im Unionsprivatrecht (2016), S. 77 ff. und 207 ff. 88 Siehe zur Identifikation allgemeiner Rechtsgrundsätze des EU-Privatrechts erneut oben Kapitel 2 § 2 A. Vgl. auch MünchKommBGB / Basedow (2016), § 310 BGB Rn. 54. 89 Vgl. EuGH Urt. v. 3.9.2009 – Rs. C-489/07 (Messner), Slg. 2009, I-7315 Rn. 26 (restriktive Auslegung des Art. 6 Fernabsatzrichtlinie im Einklang mit den „Grundsätzen

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eigene, autonome Konzeption von Treu und Glauben mit Blick auf den Harmonisierungszweck des Unionsrechts fraglos erstrebenswert ist,90 überwiegen derzeit die Argumente dafür, dass der Gerichtshof im Kontext des EUPrivatrechts in erster Linie auf den nationalen Generalklauseln aufsetzt.91 Demnach würde allenfalls ein halbautonomer Grundsatz insoweit existieren, als das Unionsrecht nationalen Tatbeständen – wie etwa § 242 BGB – durch den Effektivitätsgrundsatz Schranken zieht.92 Diese Sichtweise hat der EuGH zuletzt ausdrücklich mit Blick auf das in Deutschland ebenfalls aus Treu und Glauben abgeleitete93 Institut der Verwirkung unionsprivatrechtlicher Rechtspositionen eingenommen und hervorgehoben, dass „die Verwirkung […] dem nationalen Recht unterlieg[t], das unter Beachtung des Äquivalenzund des Effektivitätsgrundsatzes angewandt werden muss“.94 des bürgerlichen Rechts wie denen von Treu und Glauben“, wenn ein Verbraucher die im Fernabsatz gekaufte Ware über Gebühr nutzt); EuGH Urt. v. 15.4.2010 – Rs. C-215/08 (E. Fritz), Slg. 2010, I-2947 Rn. 48 (restriktive Lesart der Art. 5, 7 Haustürgeschäfterichtlinie entsprechend „den allgemeinen Grundsätzen des Zivilrechts“). Wie hier auch M. Stürner, in: Schulte-Nölke / Zoll / Jansen u. a. (Hrsg.), Der Entwurf für ein optionales europäisches Kaufrecht (2012), S. 47, 81. Anders wohl z. B. Faust, JuS 2009, 1049, 1052. 90 Stempel, Treu und Glauben im Unionsprivatrecht (2016), S. 279. Vgl. auch Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 415. 91 Vgl. zu den „materiellen Ausschlussgründen nach nationalem Recht – wie dem Grundsatz von Treu und Glauben –“ bereits EuGH Urt. v. 12.5.1998 – Rs. C-367/96 (Kefalas), Slg. 1998, I-2843 Rn. 22 f. (Herv. d. Verf.). In diese Richtung auch allgemein Staudinger / Olzen / Looschelders (2015), § 242 BGB Rn. 1246; Mankowski, JZ 2016, 787, 789 („Unter nationalen Richtlinienumsetzungen gelten im Prinzip die nationalen Maßstäbe“). Wie hier prägnant auch Wendehorst, GPR 2015, 55, 61: „Für die Frage, unter welchen Umständen Treu und Glauben einem Verbraucher die Berufung auf eine formale Rechtsposition verwehren kann […], gibt die europäische Rechtsordnung bislang nichts her“. Anders z. B. Stempel, Treu und Glauben im Unionsprivatrecht (2016), S. 270 ff. 92 Siehe bereits oben a. Ebenso Stempel, Treu und Glauben im Unionsprivatrecht (2016), S. 312 und 310 f., der überdies eher von einem (halbautonomen) Grundsatz denn von einem Rechtsgrundsatz des Unionsrechts sprechen möchte, weil Treu und Glauben – anders als Rechtsgrundsätze – keinen normhierarchischen Vorrang vor dem Sekundärrecht habe. Nach der hier vertretenen Auffassung handelt es sich bei den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsprivatrechts ohnehin nur um Rechtsprinzipien, die eine Ergänzungs- und Reservefunktion erfüllen, siehe oben Kapitel 2 § 2 A I 1. Auch Wendehorst, GPR 2015, 55, 61 attestiert dem Grundsatz von Treu und Glauben im Unionsrecht richtigerweise nur die „Qualität eines allgemeinen Rechtsprinzips auf Sekundärrechtsebene, welches den EuGH bei der Interpretation einzelner Sekundärrechtsakte leiten sollte“. Vgl. mit Blick auf § 242 BGB ferner nur Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit (2000), S. 412 f. 93 Z. B. BGH Urt. v. 16.6.1982 – Az. IV b ZR 709/80, BGHZ 84, 280, 284: „Der eigentliche Grund für das aus § 242 BGB hergeleitete Rechtsinstitut der Verwirkung [besteht] […] in dem Widerspruch zu eigenem früheren Verhalten“. Dazu statt vieler Kegel, FS Pleyer (1986), S. 513, 523; Jauernig / Mansel (2015), § 242 BGB Rn. 55.

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Nach dieser Vorklärung sind im Folgenden der semi-autonome Grundsatz von Treu und Glauben95 und das unionsrechtlich-autonome Rechtsmissbrauchsverbot als Schranken der einzelnen Materialisierungsinstrumente in den Blick zu nehmen. 2. Begrenzung von Vertragslösungsrechten im Verbraucher- und Finanzdienstleistungsvertragsrecht Das allgemeine Verbot des Rechtsmissbrauchs wirkt auch gegenüber jenen Instrumenten, die der Materialisierung der Vertragsfreiheit von Verbrauchern und Versicherungsnehmern dienen. Zu denken ist hier insbesondere an Widerrufs- oder Widerspruchsrechte, zumal der EuGH selbst ausdrücklich betont hat, „dass für den Verbraucherschutz bestimmte Grenzen gelten“ und somit auch Rechte zur Vertragsaufsage keineswegs schrankenlos gewährleistet werden.96 Anders als bei Schädigungs- und Missbrauchsabsicht ist die Instrumentalisierung von Vertragsbeseitigungsrechten zur Nachverhandlung von Vertragsbedingungen in der Regel nicht rechtsmissbräuchlich. Weitere Schranken finden die Vertragslösungsrechte schließlich in dem semiautonomen Grundsatz von Treu und Glauben und insbesondere im Rechtsinstitut der Verwirkung. a) Ausschluss bei Schädigungs- und Missbrauchsabsicht Ein Paradebeispiel für die Anwendung des unionalen Rechtsmissbrauchsverbots ist arglistiges, schikanöses oder auch gezielt opportunistisches Verhalten des Verbrauchers.97 Hierzu rechnen zunächst Fälle, in denen Konsumenten wiederholt Ware bei einem Anbieter bestellen, um diesem durch Ausübungen des Widerrufsrechts gezielt finanzielle Einbußen beizubringen. Dem unionalen Verbot des Rechtsmissbrauchs läuft es zudem potenziell zuwider, wenn Waren von vornherein nur zur kurzfristigen Nutzung und mit dem Ziel der unmittelbaren Rückgabe bestellt werden: Zu denken ist an die – in der Praxis häufige – Anschaffung teurer Großbildfernseher mit dem alleinigen Ziel, die

94 EuGH Urt. v. 13.2.2014 – Rs. C-479/12 (H. Gautzsch Großhandel), EU:C:2014:75 Rn. 50. 95 Siehe hierzu wiederum Stempel, Treu und Glauben im Unionsprivatrecht (2016), S. 310 f. und 312. 96 Vgl. nur EuGH Urt. v. 19.12.2013 – Rs. C-174/12 (Hirmann), EU:C:2013:856 Rn. 61 und bereits zuvor EuGH Urt. v. 10.4.2008 – Rs. C-412/06 (Hamilton), Slg. 2008, I2383 Rn. 39 f.; EuGH Urt. v. 15.4.2010 – Rs. C-215/08 (E. Fritz), Slg. 2010, I-2947 Rn. 44. 97 Vgl. – freilich mit Blick auf § 242 BGB – BGH Urt. v. 25.11.2009 – Az. VIII ZR 318/08, NJW 2010, 610, 611 f. BGH Urt. v. 16.3.2016 – Az. VIII ZR 146/15, NJW 2016, 1951, 1952; OLG Brandenburg Urt. v. 1.6.2016 – Az. 4 U 125/15 (juris) Rn. 105.

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Geräte z. B. für die Dauer einer Fußballweltmeisterschaft zu nutzen und sodann zu retournieren.98 In diesen Konstellationen steht dem Konsumenten beispielsweise bei Fernabsatzverträgen zwar formal jeweils ein Widerrufsrecht zu. Dieses Recht zur Vertragsaufsage bezweckt indes allein die nachträgliche Materialisierung der Vertragsfreiheit des Verbrauchers, weil dieser im Fernabsatz die Ware nicht begutachten kann und es ihm damit an einer hinreichend soliden Entscheidungsbasis gebricht. Ist der Verbraucher aber von vornherein entschlossen, den Vertrag gar nicht aufrechtzuerhalten, sondern beabsichtigt er, allein für eine gewisse Dauer Nutzen aus der Ware zu ziehen, oder gar, dem Unternehmer Kosten zu verursachen, kann das Ziel der Materialisierung der Selbstbestimmung unter keinem Gesichtspunkt erreicht werden. Entsprechend bindet die Verbraucherrechterichtlinie das Widerrufsrecht beim Warenkauf im Fernabsatz ersichtlich daran, dass der Verbraucher den Vertrag schließt, um nach Erhalt der Waren eine Entscheidung über einen permanenten Erwerb zu treffen. „Da der Verbraucher im Versandhandel die Waren nicht sehen kann, bevor er den Vertrag abschließt, sollte ihm ein Widerrufsrecht zustehen. Aus demselben Grunde sollte dem Verbraucher gestattet werden, die Waren, die er gekauft hat, zu prüfen und zu untersuchen, um die Beschaffenheit, die Eigenschaften und die Funktionsweise der Waren festzustellen“.99

Ein Verbraucher, der seine Entscheidung gegen einen Vertragsschluss und gegen den dauerhaften Erwerb der Waren bereits im Vorfeld getroffen hat, bedarf als omnimodo facturus keiner Materialisierung seiner Selbstbestimmungsfreiheit durch ein Widerrufsrecht. Diese Bewertung ändert sich mit Blick auf das Fallbeispiel des Fernsehgerätes auch dadurch nicht, dass Art. 17 Abs. 2 Verbraucherrechterichtlinie eine Pflicht zur Nutzungsvergütung bei übermäßigem Gebrauch vorsieht, die auch bei der längeren Inbetriebnahme eines fabrikneuen Gerätes greifen mag.100 Diese Sanktion trifft nur denjenigen Verbraucher, der ursprünglich zwar den Erwerb des Gegenstands in Betracht gezogen und die Ware als sein Eigentum zunächst intensiv genutzt hat, sich aber während des Gebrauchs nachträglich anders entscheidet.101 Davon muss indes die Situation abgegrenzt werden, in der von Anbeginn nicht der Erwerb, sondern nur die – möglichst kostenfreie – Nutzung intendiert ist. Hier ist das objektive Tatbestandsmerkmal des unionalen Verbots rechtsmissbräuchlichen Siehe zu diesem Phänomen zuletzt z. B. Mankowski, JZ 2016, 787, 790. Erwägungsgrund Nr. 37 Verbraucherrechterichtlinie. Darüber hinaus definiert Art. 2 Nr. 5 Verbraucherrechterichtlinie den „Kaufvertrag“ gerade als „Vertrag, durch den der Unternehmer das Eigentum an Waren an den Verbraucher überträgt oder deren Übertragung zusagt und der Verbraucher hierfür den Preis zahlt oder dessen Zahlung zusagt“. 100 Demgegenüber wollen z. B. PWW / M. Stürner (2016), § 357 BGB Rn. 19; Mankowski, JZ 2016, 787, 790 dem Verbraucher wohl auch in dieser Fallgruppe das Widerrufsrecht einräumen und den Unternehmer durch Ansprüche auf Nutzungsersatz schützen. 101 MünchKommBGB / Fritsche (2016), § 357 BGB Rn. 24: „Eine übermäßige Nutzung führt nicht zum Verlust des Widerrrufsrechts, sondern zum Wertersatz“. 98 99

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Verhaltens erfüllt: Das Widerrufsrecht verfehlt seinen Zweck, die Entscheidung für oder gegen den permanenten Erwerb des Gegenstandes in Kenntnis seiner Eigenschaften zu ermöglichen und so die negative Vertragsfreiheit gegebenenfalls nachträglich durch Vertragsauflösung zu materialisieren.102 In subjektiver Hinsicht setzt das Rechtsmissbrauchsverbot voraus, dass der Verbraucher einen „ungerechtfertigten Vorteil“ anstrebt.103 Ein gewichtiges Indiz ist in den hier gebildeten Fallgruppen, dass die vom Konsumenten eingegangenen Kaufverträge „rein künstliche[n] Charakter“ haben, weil sie von Anfang an nur mit dem Ziel des Widerrufs geschlossen worden sind, entweder um Unternehmer gezielt zu schädigen oder aber um eine unentgeltliche Nutzung der Kaufsache zu ermöglichen.104 Der „ungerechtfertigte Vorteil“ ist im Fall der finanziellen Schädigung also immaterieller, bei der Erschleichung einer kostenlosen Nutzung der Fernsehgeräte hingegen materieller Natur.105 Soweit der unionsrechtlich-autonome Rechtsmissbrauchstatbestand erfüllt ist, sind die mitgliedstaatlichen Gerichte verpflichtet, diesen bei der Anwendung der Materialisierungsinstrumente zu beachten. Deutsche Zivilgerichte 102 Siehe zur Zweckverfehlung als objektivem Tatbestandsmerkmal erneut nur EuGH Urt. v. 28.6.2016 – Rs. C-423/15 (R+V Allgemeine Versicherung), EU:C:2016:604 Rn. 39: „Was zum einen das objektive Tatbestandsmerkmal betrifft, muss sich aus einer Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergeben, dass trotz formaler Einhaltung der von der Unionsregelung vorgesehenen Bedingungen das Ziel dieser Regelung nicht erreicht wurde“. Dies wird man mit Wendehorst, GPR 2015, 55, 56 ff. erst Recht bejahen müssen, wenn z. B. ein rechtskundiger Verbraucher gezielt einen unerfahrenen Handwerksunternehmer in seine Wohnung bestellt, wo Letzterer komplexere Werkleistungen erbringt, ohne den Verbraucher über dessen Widerrufsrecht zu belehren: Der Regelungszweck der Vertragsbeseitigungsrechts bei Außergeschäftsraumverträgen wird verfehlt, wenn der Verbraucher hier den Vertrag von vornherein nur widerrufen will, um sodann nach Art. 14 Abs. 4, Art. 9 Verbraucherrechterichtlinie vollständig von der Entgeltzahlung befreit zu werden, ohne Wertersatzansprüchen des Unternehmers ausgesetzt zu sein. Schließlich bezwecken diese Bestimmungen der Verbraucherrechterichtlinie den Schutz der Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers und die Einhaltung der Belehrungsobliegenheiten durch den Unternehmer, nicht hingegen die gezielte Bereicherung des ohnehin von Anbeginn zum Widerruf entschlossenen Verbrauchers auf Kosten eines Unternehmers. Hingegen erscheint mehr als fraglich, ob den Verbraucher angesichts der gesetzlichen Anordnung der Unentgeltlichkeit der strafrechtliche Vorwurf des Eingehungsbetrugs treffen kann, anders wohl Schürnbrand, JZ 2009, 133, 137; Rieländer, AcP 216 (2016), 763, 781 f. 103 EuGH Urt. v. 28.6.2016 – Rs. C-423/15 (R+V Allgemeine Versicherung), EU:C: 2016:604 Rn. 40; EuGH Urt. v. 8.6.2017 – Rs. C-54/16 (Vinyls Italia), EU:C:2017:433 Rn. 52. 104 Vgl. wiederum EuGH Urt. v. 28.6.2016 – Rs. C-423/15 (R+V Allgemeine Versicherung), EU:C:2016:604 Rn. 41: „Zum Beweis für das Vorliegen dieses zweiten Tatbestandsmerkmals, das auf die Absicht der Handelnden abstellt, kann u. a. der rein künstliche Charakter der fraglichen Handlungen berücksichtigt werden“. 105 Vgl. wiederum nur EuGH Urt. v. 28.6.2016 – Rs. C-423/15 (R+V Allgemeine Versicherung), EU:C:2016:604 Rn. 40 f.

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müssen entsprechend § 242 bzw. § 226 BGB gegenüber der missbräuchlichen oder rein schikanösen Ausübung des Widerrufsrechts in Stellung bringen und den unionalen Rechtsmissbrauchseinwand auf diesem Wege in das deutsche Bürgerliche Recht transportieren.106 Weil insbesondere auch eine etwaige Mentalreservation des Konsumenten, den Vertrag von vornherein nicht zu wollen, gemäß § 116 S. 1 BGB unbeachtlich bleibt,107 wird der Verbraucher damit im Ergebnis zur Vertragstreue gezwungen. Die Schwierigkeiten bei der Anwendung des Rechtsmissbrauchsverbots liegen hier freilich bei der Gewinnung einer belastbaren Tatsachengrundlage und insbesondere bei der Erforschung der Motivlage des Verbrauchers, zumal die Ausübung des Widerrufsrechts gerade keiner Begründung seitens des Konsumenten bedarf.108 Der EuGH verweist insoweit zwar auf die „Beweisregeln des nationalen Rechts“.109 Gleichzeitig hebt der Gerichtshof ausdrücklich hervor, dass „dadurch die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigt“ werden dürfe.110 Anders gewendet ist der Effektivitätsgrundsatz also auch bei der Prüfung des unionalen Rechtsmissbrauchsverbots stets zu beachten. Insgesamt steht damit auch das Widerrufsrecht ausweislich der Judikatur des EuGH stets unter dem Vorbehalt seiner missbräuchlichen Ausübung, wobei den mit diesem Recht zur Vertragsaufsage verfolgten Zwecken entscheidende Bedeutung zukommt. b) Instrumentalisierung des Widerrufs zur Erzielung günstigerer Vertragskonditionen Die Ausübung des Widerrufsrechts verursacht Unternehmern erheblichen Aufwand, da die retournierte Ware geprüft und neuverpackt oder gegebenenfalls als unverkäuflich ausgesondert werden muss. Mag der Unternehmer bei seiner Preiskalkulation einen Großteil der Kosten auf die Verbraucher überwälzen können, so ist die Widerrufserklärung dem Unternehmer in den meisten Fällen unerwünscht.111 Der Verbraucher hat mit dem Widerrufsrecht daher womöglich ein potentes Druckmittel, um nach Abschluss des Vertrags ihm genehme Änderungen der Vertragsbedingungen – und insbesondere des Siehe erneut oben 1 b. In diesem Sinne auch Rieländer, AcP 216 (2016), 763, 779 ff. Freilich ist die Bedeutung des § 226 BGB gegenüber § 242 BGB schon deshalb gering, weil der Tatbestand im Vergleich zum allgemeinen Rechtsmissbrauchsverbot sehr eng gefasst ist, siehe im hiesigen Kontext Mankowski, JZ 2016, 787, 790 sowie allgemein nur Staudinger / Repgen (2014), § 226 BGB Rn. 9 ff. 107 Jauernig / Mansel (2015), § 116 BGB Rn. 2. 108 Vgl. jüngst BGH Urt. v. 16.3.2016 – Az. VIII ZR 146/15, NJW 2016, 1951, 1952. 109 EuGH Urt. v. 28.6.2016 – Rs. C-423/15 (R+V Allgemeine Versicherung), EU:C: 2016:604 Rn. 42; EuGH Urt. v. 8.6.2017 – Rs. C-54/16 (Vinyls Italia), EU:C:2017:433 Rn. 53. Vgl. auch Basedow, FS Stathopoulos I (2010), S. 159, 181 f. 110 EuGH Urt. v. 8.6.2017 – Rs. C-54/16 (Vinyls Italia), EU:C:2017:433 Rn. 53. Vgl. auch Basedow, FS Stathopoulos I (2010), S. 159, 181 f. 106

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Preises – durchsetzen zu können. Dies trifft in erster Linie bei hochpreisigen Waren zu, bei denen bereits die bestimmungsgemäße Funktionsprüfung die Wiederverkäuflichkeit mindert oder ausschließt.112 Aber auch im Finanzdienstleistungsvertragsrecht kann das Widerrufsrecht mitunter ein Trumpf bei der Neuverhandlung von Vertragsbedingungen sein. Unter diesem Gesichtspunkt ist im Folgenden anhand besonders praxisrelevanter Fallgruppen der Frage nachzugehen, ob diese Vorgehensweise dem unionalen Rechtsmissbrauchsverbot zuwiderläuft. aa) Preisnachlässe bei Fernabsatzverträgen Zunächst ist die Konstellation in den Blick zu nehmen, in der ein Verbraucher im Rahmen eines Fernabsatzvertrages Waren erwirbt und sodann mit dem Widerruf „droht“, weil er zwischenzeitlich ein günstigeres Angebot am Markt entdeckt hat und der Konsument nun nachträglich diese vorteilhaften Vertragskonditionen ebenfalls erhalten möchte.113 Um dem unionalen Rechtsmissbrauchsverbot zu unterfallen, müsste sich in objektiver Hinsicht aus der Gesamtwürdigung der Umstände ergeben, dass das durch den Unionsrechtsakt vorgesehene Ziel des Widerrufsrechts verfehlt wird.114 Bei Fernabsatzverträgen beruht das Vertragslösungsrecht bekanntlich auf der Überlegung, dass der Käufer die Ware nicht zu prüfen vermag und er deshalb ohne Angabe von Gründen den Vertrag widerrufen können soll.115 Weil das Widerrufsrecht im Unionsrecht gerade voraussetzungslos gewährleistet ist, erscheint fraglich, ob „das Ziel dieser Regelung nicht erreicht“ wird, wenn ein Verbraucher sein Widerrufsrecht z. B. in die Waagschale wirft, um durch Nachverhandlungen einen günstigeren Preis zu erzielen: Hier lässt sich argumentieren, dass der Verbraucher ja gerade erst nach der unionsrechtlich explizit gewollten116 Untersuchung der Ware zu dem Schluss gelangt, dass der Kaufgegenstand aus 111 Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, dass manche Online-Händler ihren Kunden bei Abschluss eines Fernabsatzvertrags einen Wertgutschein für den Fall in Aussicht stellen, dass die Verbraucher ihr Widerrufsrecht nicht ausüben. 112 Zu denken ist etwa an hochpreisige Matrazen oder Bekleidung, vgl. BGH Urt. v. 16.3.2016 – Az. VIII ZR 146/15, NJW 2016, 1951. 113 So lag der Fall bei einem Fernabsatzvertrag in der durch den BGH Urt. v. 16.3.2016 – Az. VIII ZR 146/15, NJW 2016, 1951 entschiedenen Konstellation. 114 Vgl. nur EuGH Urt. v. 28.6.2016 – Rs. C-423/15 (R+V Allgemeine Versicherung), EU:C:2016:604 Rn. 40 f.; EuGH Urt. v. 8.6.2017 – Rs. C-54/16 (Vinyls Italia), EU:C:2017: 433 Rn. 52 f. 115 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 37 Verbraucherrechterichtlinie: „Da der Verbraucher im Versandhandel die Waren nicht sehen kann, bevor er den Vertrag abschließt, sollte ihm ein Widerrufsrecht zustehen“. 116 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 37 Verbraucherrechterichtlinie, wonach „dem Verbraucher gestattet werden [soll], die Waren, die er gekauft hat, zu prüfen und zu untersuchen, um die Beschaffenheit, die Eigenschaften und die Funktionsweise der Waren festzustellen“.

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seiner Sicht nur einen geringeren Preis rechtfertigt.117 Bei dieser Lesart wird der Zweck des Sekundärrechtsakts – nämlich die physische Warenprüfung, die Bewertung der Ware sowie die daran anknüpfende Freiheit zur Vertragsaufsage – durchaus erreicht. Daran ändert auch die anschließende Neuverhandlung der Vertragskonditionen unter Verweis auf das unionsrechtlich vorgesehene Widerrufsrecht grundsätzlich nichts. Den objektiven Tatbestand des unionalen Rechtsmissbrauchsverbots verneinen muss erst recht, wer den Zweck des Vertragsbeseitigungsrechts auch darin sieht, ein „kompetitives Vertragsrecht“ zu schaffen, das unter bestimmten Voraussetzungen die Vertragsbindung löst, um den „Wettbewerb über den Zeitpunkt des Vertragsschlusses hinaus“ zu verlängern.118 Selbst wenn die objektiven Anforderungen des Rechtsmissbrauchsverbots erfüllt wären, stünde immer noch die Frage im Raum, ob die „Drohung“, das Widerrufsrecht auszuüben, um einen geringeren Preis durchzusetzen, in subjektiver Hinsicht „die Erlangung eines ungerechtfertigten Vorteils“ bezweckt.119 Auch insoweit mag man einwenden, dass es aus Verbrauchersicht gerade nicht um einen Vorteil, sondern um die Vermeidung eines Nachteils gehen kann, nämlich um die Zahlung eines nach Prüfung der Kaufsache zu hoch erscheinenden Preises. Insofern existiert für die „Androhung“ des Widerrufs regelmäßig „eine andere Erklärung […] als nur die Erlangung eines Vorteils“, mit der Folge, dass „das Missbrauchsverbot [nicht] greift“.120 Die Erreichung günstigerer Konditionen mithilfe des Widerrufsrechts ist schließlich auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Zweck-Mittel-Relation zu missbilligen. Zunächst gibt das Unionsrecht durch das Widerrufsrecht gerade die Vertragsbindung preis. Fraglos steht es einem Verbraucher also frei, den Vertrag ohne Angabe von Gründen zu widerrufen und sich sodann bei einem Konkurrenzanbieter vorteilhaftere Konditionen zu sichern. Weshalb nun Neuverhandlungen unter Verweis auf diese unionsrechtlich vorgesehene Möglichkeit unzulässig sein sollen, ist schon deshalb nicht ersichtlich, weil das Unionsrecht auch die Freiheit, Verträge nachträglich zu ändern, ausdrücklich schützt.121 In einer freien Wettbewerbsordnung ist es grundsätzlich erwünscht, wenn günstigere Vertragskonditionen unter Verweis auf andere Angebote am Markt eingefordert werden.122 Vor allem aber „droht“ der KonVgl. wiederum BGH Urt. v. 16.3.2016 – Az. VIII ZR 146/15, NJW 2016, 1951. Micklitz, EuZW 1997, 229, 236. 119 Vgl. nur EuGH Urt. v. 28.6.2016 – Rs. C-423/15 (R+V Allgemeine Versicherung), EU:C:2016:604 Rn. 40. 120 EuGH Urt. v. 8.6.2017 – Rs. C-54/16 (Vinyls Italia), EU:C:2017:433 Rn. 52. Im Ergebnis ebenso BGH Urt. v. 16.3.2016 – Az. VIII ZR 146/15, NJW 2016, 1951, 1952. Siehe auch Rieländer, AcP 216 (2016), 763, 796 ff. Für eine Ausweitung dieses Ansatzes über Fernabsatzverträge hinaus mit überzeugender Argumentation Mankowski, JZ 2016, 787, 791 ff. 121 Siehe erneut oben Kapitel 2 § 1 B I 4 und Kapitel 2 § 3 A II. 117 118

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sument nur mit der Wahrnehmung eines ihm zustehenden subjektiven Rechts, welches gerade den Zweck verfolgt, die Vertragentscheidung zu revidieren.123 Gewissermaßen als ein „Minus“ in dieser Berechtigung zur vollständigen Vertragsaufsage enthalten ist das Recht, in Nachverhandlungen unter Verweis auf die Widerrufsmöglichkeit einzutreten. Ebendieses „kompetitive“ Verständnis des Verbrauchervertragsrechts macht sich nun auch der BGH zu eigen: „Dass ein Verbraucher […] nach der Bestellung Preise vergleicht und mit dem Verkäufer darüber verhandelt, bei Zahlung einer Preisdifferenz vom Widerruf des Vertrags Abstand zu nehmen, ist lediglich eine Folge der sich aus dem grundsätzlich einschränkungslos gewährten Widerrufsrecht ergebenden Wettbewerbssituation. Diese darf der Verbraucher zu seinen Gunsten nutzen“.124

Auch von der Warte des Unionsrechts ist somit insgesamt nicht zu beanstanden, dass ein Verbraucher sein Widerrufsrecht als Verhandlungsmasse einsetzt, um seinen Vertragspartner dazu zu bewegen, nachträglich dieselben günstigen Konditionen wie seine Konkurrenten zu gewähren.125 bb) Nachverhandlung von Kredit- oder Versicherungskonditionen Im Finanzdienstleistungs- und insbesondere im Verbraucherkredit- sowie im Versicherungsvertragsrecht haben fehlerhafte Widerrufsbelehrungen deshalb besondere Sprengkraft, weil der Verbraucher hierdurch bislang die Möglichkeit hatte, sich auch noch nach vielen Jahren von diesen oftmals langfristig angelegten Verträgen zu lösen.126 Im Widerrufsfall kann die Rückabwicklung des Vertrags jedoch empfindliche Einbußen für die Finanzdienstleister mit sich bringen. Daher gibt die Widerrufsmöglichkeit den Verbrauchern oder Versicherungsnehmern auch hier erhebliche Verhandlungsmacht, um nachträglich günstigere Konditionen einzufordern. Der EuGH hat den gesetzlichen Ausschluss des Widerrufsrechts dabei bislang nur dann gebilligt, wenn der Vertrag bereits „vollständig durchgeführt“ worden ist.127 Einen solchen Ausschlusstatbestand sah das BGB jedoch bislang nicht vor. Vgl. erneut die Fallgestaltung in BGH Urt. v. 16.3.2016 – Az. VIII ZR 146/15, NJW 2016, 1951. 123 Zu Recht verneint Mankowski, JZ 2016, 787, 791 daher eine Drohung im Sinne des § 123 Abs. 1 Var. 2 BGB, da die Widerrechtlichkeit hier weder aus dem Mittel oder dem Zweck noch aus der Mittel-Zweck-Relation folgen kann. So im Ergebnis wohl auch Rieländer, AcP 216 (2016), 763, 797. 124 BGH Urt. v. 16.3.2016 – Az. VIII ZR 146/15, NJW 2016, 1951, 1952 (Herv. d. Verf.). 125 So mit Blick auf das BGB auch treffend Mankowski, JZ 2016, 787, 791. 126 Vgl. aus der Rechtsprechungspraxis zuletzt nur BGH, Urt. v. 12.7.2016 – Az. XI ZR 501/15, NZG 2016, 1268; OLG Brandenburg Urt. v. 1.6.2016 – Az. 4 U 125/15 (juris); OLG Frankfurt Urt. v. 22.6.2016 – Az. 17 U 224/15, BKR 2016, 418, dort jeweils m. w. N. 127 Vgl. EuGH Urt. v. 10.4.2008 – Rs. C-412/06 (Hamilton), Slg. 2008, I-2383 Rn. 42 ff. 122

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Im Kreditvertragsrecht hat der deutsche Gesetzgeber dem im Fall von fehlerhafter Widerrufsbelehrung bislang zeitlich unbefristeten Widerrufsrecht zumindest auf den ersten Blick durch Art. 229 § 38 Abs. 3 S. 1 EGBGB ein Ende gesetzt: Dieses Recht soll bei zwischen dem 1.9.2002 und dem 10.6.2010 geschlossenen Verbraucherdarlehensverträgen – allen Belehrungsmängeln zum Trotz – spätestens mit Wirkung zum 21.6.2016 erlöschen. Allerdings existieren weiterhin zahlreiche Altfälle, in denen der Widerruf entweder schon vor dem Stichtag erklärt oder der Kreditvertrag noch nicht vollständig durchgeführt worden ist. Letzterenfalls erlischt das Widerrufsrecht bei als Haustürgeschäften geschlossenen Verbraucherdarlehensverträgen erst einen Monat nach vollständiger Erbringung der beiderseitigen Leistungen aus dem Vertrag.128 Im Fall der – besonders zahlreichen – fehlerhaften Widerrufsbelehrungen bei unter Geltung des § 5a VVG a. F. geschlossenen Lebensversicherungsverträgen fehlt demgegenüber bislang jede gesetzliche Höchstfrist. Setzen nun Versicherungs- bzw. Darlehensnehmer den Verweis auf ihr Widerrufs- respektive Widerspruchsrecht als Verhandlungsmasse ein, um günstigere Vertragskonditionen zu erzielen, ist zu fragen, ob dies schon für sich genommen dem unionalen Rechtsmissbrauchsverbot zuwiderläuft. Das objektive Tatbestandsmerkmal des Rechtsmissbrauchsverbots verlangt die Zweckverfehlung der unionalen Regelung.129 Das Widerrufsrecht soll auch im Finanzdienstleistungsvertragsrecht jeweils die unzureichende Entscheidungsbasis des Verbrauchers oder Versicherungsnehmers kompensieren, die entweder auf der konkreten Vertragsschlusssituation oder aber auf der Natur des Vertrags beruhen kann: So führt der EuGH an, dass Verbraucher und Versicherungsnehmer angesichts der Komplexität und langen Laufzeit der Verträge häufig die gewichtigen finanziellen Konsequenzen ihrer Vertragserklärung nicht vollständig abzuschätzen vermögen.130 Zudem soll das Recht zur Vertragsaufsage gerade vor dem Hintergrund eingeräumt werden, dass vor Abschluss von Finanzdienstleistungsverträgen „häufig keine Möglichkeit [besteht], Qualität und Preis des Angebots mit anderen Angeboten zu vergleichen“ und daher nachträglich die Möglichkeit eröffnet werden müsse, „die Verpflichtungen aus dem Vertrag noch einmal zu überdenken“.131

128 Art. 229 § 38 Abs. 3 S. 2 EGBGB. Dies entspricht der Lösung des EuGH Urt. v. 10.4.2008 – Rs. C-412/06 (Hamilton), Slg. 2008, I-2383 Rn. 49. 129 Siehe erneut oben 1 b. 130 Siehe erneut oben Kapitel 4 § 3 F I. Siehe ferner nur EuGH Urt. v. 19.12.2013 – Rs. C-209/12 (Endress), EU:C:2013:864 Rn. 29. 131 So mit Blick auf das unionale Lebensversicherungsvertragsrecht EuGH Urt. v. 19.12.2013 – Rs. C-209/12 (Endress), EU:C:2013:864 Rn. 29, der weiterhin ausführt, dass „Versicherungsverträge rechtlich komplexe Finanzprodukte sind, die je nach anbietendem Versicherer große Unterschiede aufweisen und über einen potenziell sehr langen Zeitraum erhebliche finanzielle Verpflichtungen mit sich bringen können“.

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Ebendieses Ziel kann aber auch bei einem aufgrund fehlender Widerrufsbelehrung unbefristeten Widerrufsrecht grundsätzlich noch erreicht werden, wenn der Konsument es nach langer Zeit ausübt, um sich seiner Vertragsbindung zugunsten eines anderen, günstigeren Angebots zu entschlagen.132 Der Wettbewerb um günstige Vertragskonditionen wird somit über den Zeitpunkt des Vertragsschlusses hinaus verlängert.133 Weil die unionalen Regelungen somit durchaus ihr Ziel erreichen, ist bereits der objektive Tatbestand des unionalen Rechtsmissbrauchsverbots nicht erfüllt. Der Einsatz dieses Rechts durch den Verbraucher, um die eigene Position in Verhandlungen über eine Vertragsanpassung zu verbessern, ist – ebenso wie bei Fernabsatzverträgen – aus Sicht des Unionsrechts ebenfalls nicht rechtsmissbräuchlich: „Gedroht“ wird nämlich mit einem dem Verbraucher zustehenden Recht, welches just den Zweck verfolgt, die Vertragentscheidung zu revidieren. Als Minus im Recht zur vollständigen Vertragsaufsage enthalten ist auch hier das Recht, unter Verweis auf die Widerrufsmöglichkeit in Nachverhandlungen einzutreten. Der potenziell sehr lange Zeitraum zwischen Vertragsabschluss und Berufung auf das Widerrufsrecht ändern an dieser Bewertung nichts, da der Verbraucher zuvor mangels Kenntnis nicht in der Lage war, das Recht geltend zu machen.134 Dies bedeutet freilich nicht, dass bei Hinzutreten weiterer Umstände nicht der Einwand der Verwirkung greifen mag.135 c) Anwendungsfälle des „halbautonomen“ Grundsatzes von Treu und Glauben Wie gezeigt, ist der Grundsatz von Treu und Glauben im Unionsrecht bislang weder auf Tatbestands- noch auch Rechtsfolgenseite vollständig ausdifferenziert und zu einem eigenständigen, von nationalen Generalklauseln, wie etwa § 242 BGB, völlig entkoppelten Rechtsinstitut erstarkt.136 Als Elemente eines semi-autonomen Grundsatzes können allerdings das Rechtsinstitut der Verwirkung sowie das allgemeine Verbot widersprüchlichen Verhaltens der Berufung auf unionale Materialisierungsinstrumente entgegengehalten werden. 132 Vgl. EuGH Urt. v. 19.12.2013 – Rs. C-209/12 (Endress), EU:C:2013:864 Rn. 29. Gleichsinnig auch BGH Urt. v. 12.7.2016 – Az. XI ZR 501/15, NZG 2016, 1268, 1270, der unter Verweis auf BT-Drucks. 18/7584, S. 146 zu Recht betont, dass „das Ziel, ‚sich von langfristigen Verträgen mit aus gegenwärtiger Sicht hohen Zinsen zu lösen‘, der Ausübung des Widerrufsrechts für sich nicht entgegensteht“. 133 Micklitz, EuZW 1997, 229, 236. Vgl. auch BGH Urt. v. 16.3.2016 – Az. VIII ZR 146/15, NJW 2016, 1951, 1952. 134 Ähnlich argumentiert auch EuGH Urt. v. 19.12.2013 – Rs. C-209/12 (Endress), EU: C:2013:864 Rn. 19 ff. mit Blick auf das Versicherungsvertragsrecht. 135 Siehe dazu sogleich unten c aa. 136 Siehe erneut oben 1 c.

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aa) Verwirkung unionaler Materialisierungsinstrumente Insbesondere bei Verbraucherdarlehensverträgen wird die Möglichkeit der Verwirkung eines Widerrufsrechts von der deutschen Rechtsprechung grundsätzlich auch dann bejaht, wenn das Vertragslösungsrecht infolge von Belehrungsmängeln nach der Rechtsprechung des EuGH zeitlich unbefristet besteht.137 Im System des deutschen Bürgerlichen Rechts bildet die Verwirkung dabei eine besondere Fallgruppe der unzulässigen Rechtsausübung wegen widersprüchlichen Verhaltens.138 Allerdings ist das Institut der Verwirkung dem Unionsrecht ebenfalls bekannt und bisweilen spezialgesetzlich geregelt: Im unionalen Markenrecht sehen sowohl Art. 9 Markenrechtsrichtlinie 139 als auch Art. 54 Unionsmarkenverordnung140 die „Verwirkung durch Duldung“ vor.141 Darüber hinaus wird die Verwirkung bereichsspezifisch – z. B. im Kartellverfahrensrecht – richterrechtlich anerkannt.142 Dies wirft die Frage auf, ob hier auch bei der Verwirkung von Materialisierungsinstrumenten des EUPrivatrechts womöglich ein unionsrechtlicher Maßstab anzulegen sein könnte. Dagegen spricht indes die Judikatur des EuGH: Wo immer eine ausdrückliche Regelung oder prätorische Ausdifferenzierung fehlt, geht der EuGH nach wie vor davon aus, dass „die Verwirkung […] dem nationalen Recht unterlieg[t], das unter Beachtung des Äquivalenz- und des Effektivitätsgrundsatzes angewandt werden muss“.143

137 Siehe zuletzt BGH, Urt. v. 12.7.2016 – Az. XI ZR 501/15, NZG 2016, 1268, 1271: „Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts, das angenommen hat, das Institut der Verwirkung finde auf das ‚ewige‘ Widerrufsrecht keine Anwendung, kann das Widerrufsrecht verwirkt werden“. Siehe ferner nur MünchKommBGB / Wendehorst (2016), § 312g BGB Rn. 67 m. w. N. 138 BGH Urt. v. 16.6.1982 – Az. IV b ZR 709/80, BGHZ 84, 280, 284. 139 Richtlinie 2008/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2008 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Marken, ABl. 2008 L 299/25. 140 Verordnung (EG) Nr. 207/2009 des Rates vom 26. Februar 2009 über die Unionsmarke, ABl. 2009 L 78/1. 141 Siehe dazu nur EuGH Urt. v. 22.9.2011 – Rs. C-482/09 (Budějovický Budvar), Slg. 2011, I-8701 Rn. 51 ff.; EuGH Urt. v. 21.2.2013 – Rs. C-561/11 (Fédération Cynologique Internationale), EU:C:2013:91 Rn. 33 ff.; EuGH Urt. v. 10.3.2015 – Rs. C-491/14 (Rosa dels Vents Assessoria), EU:C:2015:161 Rn. 25 und 21. 142 Z. B. EuG Urt. v. 15.3.2000 – Rs. T-25/95 u. a. (Cimenteries CBR u. a./Kommission), Slg. 2000, II-491 Rn. 383; EuG Urt. v. 30.9.2003 – Rs. T-191/98 u. a. (Atlantic Container Line u. a./Kommission), Slg. 2003, II-3275 Rn. 340; EuG Urt. v. 14.3.2013 – Rs. T-587/08 (Fresh Del Monte / Kommission), EU:T:2013:129 Rn. 654 ff. 143 So mit Blick auf das unionale Geschmacksmusterrecht nach der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 des Rates vom 12. Dezember 2001 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster, ABl. 2001 L 3/1, EuGH Urt. v. 13.2.2014 – Rs. C-479/12 (H. Gautzsch Großhandel), EU:C:2014:75 Rn. 50.

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Beim derzeitigen Stand der Rechtsentwicklung wird daher auch die Verwirkung von Verbraucherwiderrufsrechten und anderen unionsrechtlich fundierten Materialisierungsinstrumenten anhand dieses „halbautonomen“, weil durch den Effektivitätsgrundsatz überformten, Instituts der Verwirkung im Rahmen des § 242 BGB zu beurteilen sein. Neben dem Ablauf einer längeren Zeitspanne („Zeitmoment“) 144 müssen dann besondere Umstände dafür sprechen, dass der Verbraucher unbedingt an dem Finanzdienstleistungsvertrag festhalten will und der Unternehmer deshalb auf den Fortbestand des jeweiligen Vertrags vertrauen darf („Umstandsmoment“).145 Zumindest obiter hat sich der EuGH bereits mit dem „Umstandsmoment“ als zentraler Tatbestandsvoraussetzung der Verwirkung auseinandergesetzt: Namentlich verneinte der Gerichtshof ein schutzwürdiges Vertrauen auf den Fortbestand eines Vertrags, wenn der Unternehmer durch fehlerhafte Belehrung über das Vertragslösungsrecht selbst ein zeitlich unbefristetes Widerrufs- oder Widerspruchsrecht geschaffen hat.146 Diese Lösung überzeugt insofern, als der Unternehmer es jederzeit in der Hand hat, die kurze Widerrufsfrist durch Nachbelehrung in Gang zu setzen und auf diesem Wege Rechtssicherheit zu schaffen.147 Insgesamt kann das in § 242 BGB wurzelnde Institut der Verwirkung damit zwar einem unionsrechtlich fundierten Anspruch grundsätzlich entgegengehalten werden.148 In den praktisch besonders bedeutsamen Fällen des Verbraucherdarlehens- und Lebensversicherungsvertragsrechts dürften deutsche Gerichte jedoch in aller Regel daran gehindert sein, dem Unternehmer schutzwürdiges Vertrauen zu attestieren und somit den Rekurs auf „ewige“ Vertragsbeseitigungsrechte auszuschließen. MünchKommBGB / Wendehorst (2016), § 312g BGB Rn. 67 spricht sich hinsichtlich des Zeitmoments für eine Dauer von mehr als zwölf Monaten und 14 Tagen aus, weil der Gesetzgeber dem Unternehmer eine solche Phase der Unsicherheit bereits ausweislich des Art. 10 Verbraucherrechterichtlinie zumuten will. 145 Statt aller Jauernig / Mansel (2015), § 242 BGB Rn. 53 ff. Vgl. speziell zum Verbraucherwiderrufsrecht auch BGH Urt. v. 12.7.2016 – Az. XI ZR 501/15, NZG 2016, 1268, 1270 ff. 146 Siehe zum Verbraucherkreditvertragsrecht schon EuGH Urt. v. 13.12.2001 – Rs. C481/99 (Heininger), Slg. 2001, I-9945 Rn. 47. Siehe zum unionalen Lebensversicherungsvertragsrecht EuGH v. 19.12.2013 – Rs. C-209/12 (Endress), EU:C:2013:864 Rn. 30: „Demnach kann sich der Versicherer […] nicht mit Erfolg auf Gründe der Rechtssicherheit berufen, um einer Situation abzuhelfen, die er dadurch selbst herbeigeführt hat, dass er seiner unionsrechtlichen Obliegenheit zur Mitteilung von in einer Liste festgelegten Informationen, zu denen insbesondere die Informationen über das Recht des Versicherungsnehmers, vom Vertrag zurückzutreten, gehören, nicht nachgekommen ist“. 147 Viele Banken und Versicherer scheuen hiervor jedoch gerade zurück, um ihre Vertragspartner nicht unnötig auf das weiterhin bestehende Vertragslösungsrecht hinzuweisen, siehe auch Rieländer, AcP 216 (2016), 763, 799. 148 Vgl. wiederum EuGH Urt. v. 13.2.2014 – Rs. C-479/12 (H. Gautzsch Großhandel), EU:C:2014:75 Rn. 50. 144

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Von der Warte des Unionsrechts mag Raum für das Institut der Verwirkung bestehen, wenn der Kredit- oder Lebensversicherungsvertrag bereits vollständig durchgeführt worden ist: So hat der EuGH in seiner HamiltonEntscheidung gebilligt, dass einem Verbraucher die Ausübung seines Widerrufsrechts – trotz fehlerhafter Widerrufsbelehrung – verwehrt wird, wenn der Vertrag von beiden Seiten vollständig erfüllt wurde und seither bereits ein Monat verstrichen ist.149 Ohne dass der Gerichtshof dies ausdrücklich präzisiert, kann bei einer solchen „vollständige[n] Durchführung eines Vertrags“150 deshalb kein Raum mehr für die Ausübung des Widerrufsrechts bestehen, weil der Verbraucher durch sein Verhalten die Behauptung, er wolle nicht an dem Vertrag festhalten, bereits selbst widerlegt hat und sich damit widersprüchlich verhält. Zwar bezog sich die Rechtssache Hamilton nur auf einen spezialgesetzlichen Ausschluss des Widerrufsrechts. 151 Es ist jedoch nicht einsichtig, weshalb für das Institut der Verwirkung und damit für die Generalklausel des § 242 BGB etwas grundsätzlich anderes gelten sollte.152 Halten beispielweise die Parteien über die gesamte Laufzeit an einem Lebensversicherungsvertrag fest, bis dieser durch Auszahlung der vereinbarungsgemäßen Versicherungsleistung beendet wird, so kann sich ein Versicherungsnehmer widersprüchlich im Sinne des § 242 BGB verhalten, wenn er erst neun Monate nach vollständiger Durchführung dem Vertrag nach § 5a VVG a. F. widerspricht.153 So mit Blick auf das – nunmehr in Art. 9 Verbraucherrechterichtlinie geregelte – Widerrufsrecht bei Außergeschäftsraumverträgen EuGH Urt. v. 10.4.2008 – Rs. C-412/06 (Hamilton), Slg. 2008, I-2383 Rn. 42 f. Prüfungsgegenstand war in dieser Rechtssache noch § 2 Abs. 1 S. 4 des Gesetzes über den Widerruf von Haustürgeschäften und ähnlichen Geschäften vom 16. Januar 1986, BGBl. I 1986, S. 122, der den Ausschluss des Widerrufsrechts „einen Monat nach beiderseits vollständiger Erbringung der Leistung“ vorsah. 150 Siehe wiederum EuGH Urt. v. 10.4.2008 – Rs. C-412/06 (Hamilton), Slg. 2008, I2383 Rn. 42 f. 151 EuGH Urt. v. 10.4.2008 – Rs. C-412/06 (Hamilton), Slg. 2008, I-2383 Rn. 42 f. 152 In diese Richtung deutet auch BGH, Urt. v. 12.7.2016 – Az. XI ZR 501/15, NZG 2016, 1268, 1272. Indes ließe sich EuGH v. 19.12.2013 – Rs. C-209/12 (Endress), EU:C: 2013:864 Rn. 31 durchaus anderes interpretieren: „Diese Erwägungen können auch nicht durch den u a. von der Allianz geltend gemachten Umstand in Frage gestellt werden, dass das […] Widerrufsrecht nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs auch dann erlöschen kann, wenn der Verbraucher fehlerhaft über die Modalitäten der Ausübung dieses Rechts belehrt wurde […]. Dieses Urteil betrifft nämlich die Frage, ob mit dieser Richtlinie eine nationale Bestimmung vereinbar ist, die ein solches Erlöschen einen Monat nach vollständiger Erfüllung der sich aus einem Vertrag ergebenden Pflichten durch die Vertragspartner vorsieht. Im vorliegenden Fall geht es aber nicht um eine derartige Bestimmung, da der nationale Gesetzgeber für Lebensversicherungsverträge keine solche erlassen hat“. 153 So auch OLG München Urt. v. 21.4.2015 – Az. 25 U 3877/11, VersR 2015, 1237, 1239: In dieser Konstellation hat der Versicherungsnehmer den Vertrag über die gesamte Vertragslaufzeit von 12 Jahren vereinbarungsgemäß durchgeführt und sich zu keiner Zeit vom Vertragsschluss distanziert, sondern er hat, ganz im Gegenteil, den Vertrag auch als Kreditsicherheit gegenüber einer Bank eingesetzt. Schließlich hat der Versicherungsneh149

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Darüber hinaus mag eine Verwirkung des Vertragslösungsrechts in Betracht kommen, wenn der Kredit- oder Versicherungsnehmer bei seinem Vertragspartner aktiv den Eindruck erweckt, unbedingt am Vertrag festhalten zu wollen, so dass sich die Ausübung des Widerrufsrechts als venire contra factum proprium darstellt.154 Die deutsche Rechtsprechung hat dies bei einem Versicherungsnehmer bejaht, der einen Lebensversicherungsvertrag kündigte und sodann ausdrücklich um Fortführung des Vertrags bat, um erst einige Zeit später sein Widerspruchsrecht auszuüben.155 In Zweifelsfällen ist eine Vorlage zum EuGH angezeigt, da nur der Gerichtshof verbindlich bestimmen kann, wann die praktische Wirksamkeit des Widerrufsrechts als Materialisierungsinstrument hinter anderen Erwägungen zurückzustehen hat.156 bb) Vortäuschen gewerblicher Verwendung Einem Verbraucher, der einem Unternehmer vorspiegelt, die gekaufte Ware gewerblich zu nutzen, hat der BGH die Berufung auf das Verbrauchsgüterkaufrecht unter Verweis auf den „im Verbraucherschutzrecht geltenden Grundsatz von Treu und Glauben“ nach § 242 BGB verwehrt, weil „auch im Gemeinschaftsrecht der Grundsatz von Treu und Glauben anerkannt“ sei.157 In der Tat stützt der Giuliano / Lagarde-Bericht diese Lesart insoweit, als zumindest im Rahmen von Art. 5 EVÜ (nunmehr Art. 6 Rom I) jemand, der sich als gewerblich handelnder „Berufsangehöriger“ ausgibt, gegenüber einem redlichen Unternehmer nicht auf den kollisionsrechtlichen Verbraucherschutz berufen könmer am vorgesehenen Vertragsende die volle vertragliche Gegenleistung anstandslos entgegengenommen. Vgl. auch BGH Beschl. v. 11.11.2015 – Az. IV ZR 117/15, BeckRS 2016, 02173 Rn. 15 f. Noch weitergehend wohl OLG Frankfurt a.M. Urt. v. 15.10.2015 – Az. 3 U 111/12, BeckRS 2016, 01853 Rn. 24. 154 MünchKomm-BGB / Wendehorst (2016), § 312g BGB Rn. 67. Vgl. auch BGH, Urt. v. 12.7.2016 – Az. XI ZR 501/15, NZG 2016, 1268, 1272: „Gerade bei beendeten Verbraucherdarlehensverträgen – wie hier – kann das Vertrauen des Unternehmers auf ein Unterbleiben des Widerrufs nach diesen Maßgaben schutzwürdig sein“. 155 OLG Köln Urt. v. 26.2.2016 – Az. 20 U 178/15, BeckRS 2016, 05898 ging hier davon aus, dass der Versicherungsnehmer durch sein Verhalten beim Versicherer schutzwürdiges Vertrauen auf den Fortbestand des Vertrags erweckt hat. Vgl. auch BGH Beschl. v. 17.11.2015 – Az. IV ZR 117/15, BeckRS 2016, 02173; OLG Nürnberg Urt. v. 14.3.2016 – Az. 8 U 1345/15, NJW-RR 2016, 734, 735 f. 156 A. A. wohl OLG Bremen Urt. v. 26.2.2016 – Az. 2 U 92/15, NJW-RR 2016, 875 ff. mit dem – aus Sicht des Unionsrechts freilich unzulänglichen – Verweis, der Verbraucherwiderruf habe gegenüber anderen Gestaltungsrechten keine Sonderstellung. Demgegenüber erkennt BGH Urt. v. 16.7.2014 – Az. IV ZR 73/13, NJW 2014, 2723, 2728; BGH Beschl. v. 13.1.2016 – Az. IV ZR 117/15, BeckRS 2016, 02174 Rn. 2 ff. zutreffend, dass durch § 242 BGB hier potenziell die praktische Wirksamkeit des Widerrufsrechts als Materialisierungsinstrument gefährdet wird. 157 BGH Urt. v. 22.12.2004 – Az. VIII ZR 91/04, NJW 2005, 1045, 1046; Rieländer, AcP 216 (2016), 763, 767 ff.; MünchKommBGB / Basedow (2016), § 310 BGB Rn. 54.

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nen soll.158 Dieser Rechtsgedanke des internationalen Unionsprivatrechts dürfte auch auf das allgemeine EU-Privatrecht übertragbar sein: Hier wie dort geht es um das Verbot des venire contra factum proprium.159 Mangels zureichender Konturierung des Grundsatzes von Treu und Glauben im EU-Recht kann allerdings wiederum nur auf einen semi-autonomen Grundsatz rekurriert werden, der sich aus der unionsrechtlichen Umrahmung nationaler Tatbestände und insbesondere durch die indirekte Harmonisierungswirkung des Effektivitätsgrundsatzes ergibt.160 3. Rechtsmissbrauch als Schranke des Diskriminierungsschutzes Nachdem das Verbot des Rechtsmissbrauchs im Unionsrecht allgemein anerkannt und vergleichsweise weit ausdifferenziert ist, nimmt es kaum Wunder, dass der EuGH dieses Verbot nun ausdrücklich gegenüber den Antidiskriminierungsvorschriften des EU-Privatrechts in Stellung bringt: In der Rechtssache R+V Allgemeine Versicherung bewarb sich ein berufserfahrener Rechtsanwalt auf Traineestellen für Hochschulabsolventen, um im Falle einer Ablehnung Entschädigungsansprüche wegen Alters- und Geschlechterdiskriminierung geltend machen zu können.161 Dabei berief sich der Bewerber auf die Vorschriften des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG), welche der Umsetzung unionsrechtlicher Vorgaben162 dienen. Bemerkenswerterweise wollte das deutsche BAG in dem Vorabentscheidungsverfahren nun unter anderem geklärt wissen, ob eine solche Fallkonstellation „nach Unionsrecht als Rechtsmissbrauch bewertet werden“ kann.163 Obwohl die Vorschriften des AGG Bestandteil des nationalen deutschen Privatrechts sind, legt das vorlegende Gericht hier also von vornherein einen genuin unionsrechtlichen Maßstab bei der Missbrauchskontrolle zugrunde.164 158 Vgl. Giuliano / Lagarde, Bericht über das Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht, ABl. 1980 C 282/1, 23: „Wenn sich also der Empfänger der beweglichen Sache oder der Dienstleistung als Berufsangehöriger ausgibt und z. B. auf Papier mit entsprechendem Briefkopf Gegenstände bestellt, die tatsächlich zur Ausübung seiner beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit dienen können, so ist der gute Glaube der anderen Partei gewahrt, und das Geschäft fällt nicht unter Artikel 5“. 159 Vgl. auch BGH Urt. v. 22.12.2004 – Az. VIII ZR 91/04, NJW 2005, 1045, 1046. 160 Siehe erneut oben 1 c. 161 Vgl. EuGH Urt. v. 28.6.2016 – Rs. C-423/15 (R+V Allgemeine Versicherung), EU: C:2016:604 Rn. 26. 162 Im hier interessierenden Kontext setzt das AGG namentlich die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG sowie ferner die Arbeitnehmergleichbehandlungsrichtlinie 2006/54/EG um. 163 EuGH Urt. v. 28.6.2016 – Rs. C-423/15 (R+V Allgemeine Versicherung), EU:C: 2016:604 Rn. 25 f. (Herv. d. Verf.). 164 Implizit erteilt das BAG damit der Auffassung des BVerfG sowie des BGH eine Absage, wonach die Anwendung des § 242 BGB allein „in das nationale Zivilrecht eingebettet bleibt“, vgl. erneut nur BGH Beschl. v. 13.1.2016 – Az. IV ZR 117/15, BeckRS

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Bei der Beantwortung der Vorlagefrage stellt auch der EuGH klar, dass der Maßstab der Rechtsmissbrauchkontrolle unionsrechtlich-autonom ist.165 Der Gerichtshof betont nun mit Blick auf die privatrechtlichen Entschädigungsansprüche wegen Diskriminierung, dass sich „niemand in betrügerischer oder missbräuchlicher Weise auf die Rechtsvorschriften der Europäischen Union berufen“ kann.166 Sodann wiederholt der EuGH die objektiven und subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen des unionalen Rechtsmissbrauchsverbots.167 Ob diese Voraussetzungen im Einzelfall erfüllt sind, muss freilich das mitgliedstaatliche Gericht auf Basis der konkreten Tatsachengrundlage entscheiden.168 Allerdings lässt es sich der Gerichtshof nicht nehmen, abschließend darauf hinzuweisen, „dass eine Situation, in der eine Person mit ihrer Stellenbewerbung nicht die betreffende Stelle erhalten, sondern nur den formalen Status als Bewerber erlangen möchte, und zwar mit dem alleinigen Ziel, eine Entschädigung geltend zu machen, […] als Rechtsmissbrauch bewertet werden kann“.169

Damit steht fest, dass das unionale Rechtsmissbrauchsverbot gegebenenfalls der Anwendung von Materialisierungsinstrumenten, wie den EU-Antidiskriminierungsvorschriften, entgegengehalten werden muss. III. Unionale Prozessgrundsätze und -rechte als Grenze der Materialisierung durch Zivilverfahrensrecht Das Unionsrecht überformt das nationale Zivilprozessrecht und erzwingt zuweilen eine Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit mit verfahrensrechtlichen Instrumenten.170 Zugleich erkennt die Rechtsordnung der EU auch Prozessgrundsätze an, die den Materialisierungstendenzen Schranken setzen können. Besonders wirkmächtig ist dabei zum einen der Grundsatz der Parteidisposition als „Privatautonomie im Prozess“ (1). Zum anderen gebietet 2016, 02174 Rn. 2 ff.; BVerfG Beschl. v. 2.2.2015 – Az. 2 BvR 2437/14, NJW 2015, 1294, 1295. 165 EuGH Urt. v. 28.6.2016 – Rs. C-423/15 (R+V Allgemeine Versicherung), EU:C: 2016:604 Rn. 26 ff. 166 EuGH Urt. v. 28.6.2016 – Rs. C-423/15 (R+V Allgemeine Versicherung), EU:C: 2016:604 Rn. 37. 167 Vgl. EuGH Urt. v. 28.6.2016 – Rs. C-423/15 (R+V Allgemeine Versicherung), EU: C:2016:604 Rn. 38 ff. und siehe dazu erneut oben 1 b. 168 Vgl. EuGH Urt. v. 28.6.2016 – Rs. C-423/15 (R+V Allgemeine Versicherung), EU: C:2016:604 Rn. 38 ff. und insbesondere Rn. 42: „Es ist Sache des nationalen Gerichts, gemäß den Beweisregeln des nationalen Rechts – soweit dadurch die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigt wird – festzustellen, ob die Tatbestandsvoraussetzungen eines missbräuchlichen Verhaltens im Ausgangsverfahren erfüllt sind“ (Herv. d. Verf.). 169 Vgl. EuGH Urt. v. 28.6.2016 – Rs. C-423/15 (R+V Allgemeine Versicherung), EU:C:2016:604 Rn. 44. 170 Siehe erneut eingehend oben Kapitel 6.

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der Grundsatz des fairen Verfahrens, dass auch bei einer Materialisierung durch Zivilprozessrecht stets die Verteidigungsrechte gewahrt bleiben (2). 1. Parteidisposition als prozessuale Facette der Privatautonomie Die Entscheidung, ob und auf welchem Wege bestimmte Rechte zivilprozessual durchgesetzt werden, überlässt auch das Unionsrecht im Ausgangspunkt den Parteien: So hebt der EuGH hervor, dass im „Grundsatz […] die Initiative in einem Prozess den Parteien zusteht“.171 Generalanwältin Trstenjak qualifiziert den Dispositionsgrundsatz daher treffend als „prozessuales Korrelat zur materiellrechtlichen Privatautonomie“.172 Entsprechend obliegt es auch den Parteien, ihre Rechte durch Angriffs- oder Verteidigungsmittel im Zivilprozess geltend zu machen. Die Gerichte sind sodann an die Anträge der Parteien gebunden und dürfen grundsätzlich nicht ultra petita entscheiden.173 Der Dispositions- und Antragsgrundsatz wird im Unionsrecht als eine Ableitung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz gemäß Art. 47 GRCh begründet: „Das Recht auf effektiven Rechtsschutz beinhaltet auch die Befugnis, seine Rechte eben nicht geltend zu machen“. 174

Dies wirkt sich auch auf den Umgang mit den Vorgaben des EuGH aus, der die mitgliedstaatlichen Zivilgerichte in der Pflicht sieht, gegebenenfalls vom Amts wegen die Tatsachengrundlage zu ergänzen und sodann auf dieser Basis auch ohne entsprechenden Antrag die Materialisierungsinstrumente des EUPrivatrechts anzuwenden.175

So mit Blick auf Außergeschäftsraumverträge z. B. EuGH Urt. v. 17.12.2009 – Rs. C-227/08 (Martín), Slg. 2009, I-11939 Rn. 20. Auch ergibt sich aus „den Vorschriften, die das Verfahren vor den Unionsgerichten regeln […], dass der Rechtsstreit grundsätzlich von den Parteien bestimmt und begrenzt wird“, siehe nur EuGH Urt. v. 10.12.2013 – Rs. C-272/12 P (Kommission / Irland), EU:C:2013:812 Rn. 27 f. und Rn. 20. 172 GA Trstenjak Schlussanträge v. 28.3.2007 – Rs. C-331/05 P (Internationaler Hilfsfonds), Slg. 2007, I-5475 Rn. 93 führt weiter aus: „Dieser auch im Prozessrecht der Europäischen Union anerkannte Grundsatz besagt, dass es allein Sache der Parteien ist, ein Verfahren zu beginnen, zu beenden und den Streitgegenstand zu verändern“. 173 Siehe wiederum nur EuGH Urt. v. 10.12.2013 – Rs. C-272/12 P (Kommission/ Irland), EU:C:2013:812 Rn. 27 f. und Rn. 20, der zum unionalen Verfahrensrecht hervorhebt, dass „der Unionsrichter nicht ultra petita entscheiden darf […]. [E]in Klagegrund […] darf […] vom Unionsrichter nur geprüft werden, wenn sich der Kläger darauf beruft“. 174 GA Kokott Schlussanträge v. 28.2.2013 – Rs. C-32/12 (Duarte Hueros), EU:C: 2013:128 Rn. 53. 175 Siehe wiederum oben Kapitel 6 § 2 B. Vgl. erneut nur EuGH Urt. v. 9.11.2010 – Rs. C137/08 (VB Pénzügyi Lízing), Slg. 2010, I-10847 Rn. 45 und 56; EuGH Urt. v. 3.10.2013 – Rs. C-32/12 (Duarte Hueros), EU:C:2013:637 Rn. 34 ff. und insbesondere Rn. 39 ff. EuGH Urt. v. 1.10.2015 – Rs. C-32/14 (ERSTE Bank Hungary), EU:C:2015:637 Rn. 42 fordert ausdrücklich, dass die Zivilgerichte „alle Konsequenzen […] ziehen […], ohne einen entspre171

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Bezogen auf die Materialisierung durch Prozessrecht bedeutet dies, dass ein Zivilgericht, das unionales Verbraucherschutzrecht anwenden möchte, obwohl der Verbraucher einen dieses Rechtsschutzziel umfassenden Antrag gar nicht gestellt hat, zunächst den „konkrete[n] Wille[n] des Verbrauchers“ ermitteln muss.176 Der im Unionsrecht durch Art. 47 GRCh abgesicherte Dispositionsund Antragsgrundsatz zwingt also dazu, den Parteien insoweit die Hoheit über das Verfahren zu geben: Das Gericht muss die Parteien informieren und kann durch einen Hinweis einen entsprechenden Antrag anregen. 177 2. Grundsatz des fairen kontradiktorischen Verfahrens Die Materialisierung mithilfe des zivilverfahrensrechtlichen Instrumentariums wird darüber hinaus durch einen weiteren bedeutenden Prozessgrundsatz des Unionsrechts beeinflusst: Das Gebot des fairen Verfahrens verlangt die Wahrung der Verteidigungsrechte und wurzelt ebenfalls in Art. 47 GRCh.178 Im Kontext der Materialisierung durch Verfahrensrecht setzt dieser Grundsatz gerichtlichen Interventionen Schranken, die zu einer für die Parteien überraschenden Entscheidung führen könnte: Wann immer ein mitgliedstaatliches Zivilgericht einen Rechtsstreit auf der Grundlage amtswegig ergänzter Tatsachen und gegebenenfalls sogar unter Abweichung vom Antragsgrundsatz entscheiden will, sieht der EuGH das Gericht durch den „Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens“ und im Interesse der Wahrung der Verteidigungsrechte gebunden.179 Namentlich müssten die Beteiligten im Lichte des „Recht[s] auf ein faires Verfahren […] sowohl die tatsächlichen als auch die rechtlichen Umstände kennen, die für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sind“.180

Das Zivilgericht muss die Prozessparteien daher über die gewonnene Tatsachengrundlage ebenso wie über die beabsichtigte amtswegige Anwendung des unionalen Materialisierungsinstrumentariums in Kenntnis setzen. Zudem hat es den Parteien eine erneute Erörterung zu ermöglichen und insbesondere der hierdurch in ihren Rechten nachteilig betroffenen Partei – in Verbrauchersachen also dem Unternehmer – Gelegenheit zu geben, zu den neuen chenden Antrag des Verbrauchers abzuwarten“ (Herv. d. Verf.). Siehe auch schon EuGH Urt. v. 21.2.2013 – Rs. C-472/11 (Banif Plus Bank), EU:C:2013:88 Rn. 36. 176 GA Kokott Schlussanträge v. 28.2.2013 – Rs. C-32/12 (Duarte Hueros), EU:C: 2013:128 Rn. 53. 177 Siehe bereits oben Kapitel 6 § 2 C. 178 Siehe nur EuGH Urt. v. 21.2.2013 – Rs. C-472/11 (Banif Plus Bank), EU:C:2013:88 Rn. 29 sowie statt aller Jarass (2016), Art. 47 GRCh Rn. 31 ff. m. w. N. 179 EuGH Urt. v. 21.2.2013 – Rs. C-472/11 (Banif Plus Bank), EU:C:2013:88 Rn. 29. Siehe hierzu bereits oben Kapitel 6 § 2 C. 180 EuGH Urt. v. 21.2.2013 – Rs. C-472/11 (Banif Plus Bank), EU:C:2013:88 Rn. 30 unter Verweis auf EuGH Urt. v. 2.12.2009 – Rs. C-89/08 P (Kommission / Irland), Slg. 2009, I-11245 Rn. 55 f.

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Umständen Stellung zu beziehen und sich erforderlichenfalls durch entsprechende Anträge zu verteidigen.181 Dies ist nicht zuletzt auch ein Gebot des ebenfalls durch Art. 47 GRCh geschützten Rechts auf Gehör.182 3. Zwischenfazit Ihre untrennbare Bindung an die unionale Vertragsfreiheit verhindert, dass der Unionsgesetzgeber die Materialisierung als Selbstzweck behandeln darf. Vielmehr bleibt sie ein Instrument zur Schaffung und Erhaltung der für die Ausübung der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie im Rahmen des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus unverzichtbaren Voraussetzungen. Der Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus bildet daher zugleich den entscheidenden Maßstab für die Erforderlichkeits- und Verhältnismäßigkeitsprüfung: Nur soweit dieser Mechanismus ohne Intervention – zumindest bei typisierender Betrachtung – zu versagen droht, bedarf es einer Materialisierung. Zudem ist die Auswahl des Materialisierungsinstrumentariums auf jene Elemente zu beschränken, welche die Basis der rechtsgeschäftlichen Selbstbestimmung zu stärken geeignet sind. Unter diesem Gesichtspunkt auszusondern sind daher z. B. Pflichtinformationen des EU-Finanzdienstleistungsvertragsrechts, die unter keinem Gesichtspunkt von den Adressaten verstanden und zur Grundlage ihrer Vertragsentscheidung gemacht werden können. Darüber hinaus ziehen auch die allgemeinen Rechtsgrundsätze des EUPrivatrechts der Materialisierung Grenzen. Insbesondere muss das durch die Judikatur des EuGH zu einem autonomen Institut der Unionsrechtsordnung fortentwickelte Verbot des Rechtsmissbrauchs gegenüber den Materialisierungsinstrumenten in Stellung gebracht werden. Ein Anwendungsbeispiel ist etwa die Ausübung eines Widerrufs- oder Widerspruchsrechts in Schädigungs- bzw. Missbrauchsabsicht. Demgegenüber ist der Grundsatz von Treu und Glauben zwar ebenfalls in der Rechtsordnung der EU verankert, jedoch bislang noch nicht zu einem auf Tatbestands- und Rechtsfolgenseite im Einzelnen ausdifferenzierten und damit selbstständigen Konzept des Unionsrechts erstarkt. Gerade im Bereich der Verwirkung und des Verbots widersprüchlichen Verhaltens existiert jedoch ein semi-autonomer Grundsatz insoweit, als das Unionsrecht der Anwendung nationaler Generalklauseln, wie etwa § 242 BGB, zum einen durch den Effektivitätsgrundsatz Grenzen zieht. Zum anderen hat der EuGH gerade in seiner Rechtsprechung zum Verbraucher- und Versicherungsrecht bereits Laut GA Kokott Schlussanträge v. 28.2.2013 – Rs. C-32/12 (Duarte Hueros), EU:C: 2013:128 Rn. 53 „dürfen die Verteidigungsrechte der Gegenpartei nicht außer Acht gelassen werden. Ihr muss also in jedem Fall mindestens Gelegenheit gegeben werden, sich zu der jeweiligen Frage nochmals zu äußern bzw. gegebenenfalls selbst nochmals einen Antrag zu stellen“. 182 Vgl. wiederum nur Jarass (2016), Art. 47 GRCh Rn. 32 ff. m. w. N. 181

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zentrale Tatbestandselemente der Verwirkung und des widersprüchlichen Verhaltens zumindest obiter von der Warte des Unionsrechts aus gewürdigt. Schließlich setzen die in der Unionsrechtsordnung nicht zuletzt als Ausfluss des Art. 47 GRCh anerkannten Prozessmaximen und vor allem der Dispositionsgrundsatz sowie der Grundsatz des fairen Verfahrens der Materialisierung durch Zivilprozessrecht Grenzen. B. Stufenbau des Materialisierungssystems Weil das unionale Materialisierungssystem die Funktionsfähigkeit des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus umfassend sicherzustellen sucht, zieht es gleich drei Schutzwälle um die unionale Vertragsfreiheit (I). Die jeweiligen Ebenen dieses Gesamtsystems werden dabei durch den unionsgrundrechtlichen Erforderlichkeits- und Verhältnismäßigkeitsmaßstab beherrscht: Dieser gebietet eine Abstufung sowohl der einzelnen privatrechtlichen (II) als auch der zivilprozessualen Materialisierungsinstrumente (III). Zentrale Richtschnur des kaskadenförmigen Systems ist dabei wiederum der Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus. I.

Drei konzentrische Schutzwälle der Vertragsfreiheit

Die Materialisierungsinstrumente gleichen in ihrer Ausrichtung und Funktion drei konzentrischen Schutzwällen:183 Am äußeren Rand – und damit auf erster Ebene – liegen dabei markt- und wettbewerbsbezogene Rechtsakte: Das Kartellrecht schützt den freien Wettbewerb am Markt und schafft so erst die Basis für die ungehinderte Entfaltung der Vertragsfreiheit im Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus.184 Das Lauterkeitsrecht schützt die Willensbildung in einem dem individuellen Vertragsschluss vorgelagerten Frühstadium, indem es zum einen die informationelle Entscheidungsgrundlage unter anderem durch das Verbot irreführender Handlungen verbessert und zugleich den lauteren Wettbewerb als eines der „konstitutiven Elemente der wirtschaftlichen Selbstbestimmung“ sichert.185 Auf zweiter Ebene gewährleisten sodann die privatrechtlichen Materialisierungsinstrumente Selbstbestimmung im anspruchsvollen Sinne bei der 183 Während Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers (1998), S. 450 f. zwar ebenfalls eine Abstufung der Interventionsformen durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip vorgegeben sieht, will er nur zwischen ordnungspolitischen Instrumenten auf der ersten, Informationspflichten auf der zweiten sowie einer „Verlängerung der Überlegungsfrist“ auf der dritten Stufe differenzieren.Vgl. zum Bild der Schutzwälle Busch, Informationspflichten im Wettbewerbs- und Vertragsrecht (2008), S. 167 f. 184 Siehe dazu bereits oben Kapitel 4 § 2 A. 185 Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers (1998), S. 450 differenziert hier deshalb zwischen der in Bezug auf die Selbstbestimmung konstitutiven und kompensatorischen Funktion des Lauterkeitsrechts. Siehe auch oben Kapitel 4 § 2 B.

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Anbahnung und dem Abschluss des Vertrags. Dabei kommt dem Informationsmodell eine besonders herausgehobene Bedeutung zu: Es trägt unmittelbar zur Funktionsfähigkeit des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus bei, indem es die Voraussetzungen für eine informierte Willensbildung sowie für den umfassenden Vergleich unterschiedlicher Angebote am Markt schafft.186 Erforderlichenfalls wird werthaltige rechtsgeschäftliche Selbstbestimmung auch noch über diese Phase hinaus gewährleistet, etwa indem missbräuchliche Nebenbestimmungen im Wege der Inhaltskontrolle kassiert werden187 oder indem Vertragslösungsrechte nachträglich eine „Materialisierung durch Aktualisierung der Vertragsfreiheit“ ermöglichen.188 Unter dem Eindruck des Effektivitätsgrundsatzes sowie unionsgrundrechtlicher Schutzpflichten werden die unionsprivatrechtlichen erforderlichenfalls durch bürgerlich-rechtliche Materialisierungsinstrumente ergänzt und flankiert.189 Die dritte und letzte Bastion bildet schließlich das Zivilprozessrecht: Die Materialisierung mithilfe des mitgliedstaatlichen Verfahrensrechts ist überall dort geboten, wo das materiellrechtliche Instrumentarium entweder versagt hat oder zu seiner Wirksamkeit einer verfahrensrechtlichen Flankierung bedarf. Triebfedern sind hier wiederum der Effektivitätsgrundsatz sowie die Schutzpflichtendimension der unionalen Vertragsfreiheit.190 Dabei zeigt sich die Ergebnisorientierung des Unionsrechts besonders deutlich: Die EU-Rechtsordnung gibt mit der „werthaltigen Selbstbestimmung“ ein Ziel vor, zu dessen Erreichung neben dem unionalen und nationalen Privatrecht erforderlichenfalls auch das mitgliedstaatliche Zivilprozessrecht in Dienst genommen werden muss. Das weitestgehend unharmonisierte nationale Verfahrensrecht wird in die Rolle einer Reserve- und Auffangordnung gedrängt, weshalb die Abstufung der Materialisierungsinstrumente hier besondere Aufmerksamkeit verdient.191 Die drei Ebenen des Materialisierungssystems weisen freilich zahlreiche Berührungspunkte auf: Beispielsweise fördern die mit den Mitteln des Privatrechts auferlegte Transparenz der vertraglichen Hauptleistungsgegenstände wie auch die Erteilung sonstiger vertragsrelevanter Informationen die Wirksamkeit des Wettbewerbsmechanismus. So knüpft etwa das unionale Lauterkeitsrecht seinerseits an Tatbestände des EU-Schuldvertragsrechts an, um transparente (Preis)Vergleiche und unverfälschten Wettbewerb zu ermöglichen.192 Umgekehrt bildet im Kontext der Klauselkontrolle laut EuGH

Siehe oben Kapitel 4 § 3 A. Siehe oben Kapitel 4 § 3 D. 188 Siehe dazu oben Kapitel 4 § 3 F I. 189 Siehe erneut oben Kapitel 5. 190 Siehe erneut oben Kapitel 6. 191 Dazu sogleich unten II 2. 192 So stützt sich z. B. Art. 7 Abs. 1 und Abs. 5 Lauterkeitsrichtlinie bei der Beurteilung der Unlauterkeit unterbliebener Informationen im Vorfeld eines Vertragsschlusses gerade 186 187

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„die Feststellung des unlauteren Charakters einer Geschäftspraxis einen Anhaltspunkt unter mehreren […], auf den der zuständige Richter seine Beurteilung des missbräuchlichen Charakters der Klauseln eines Vertrags gemäß Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 stützen kann“.193

Bei der Kontrolle von Preisanpassungklauseln will der Gerichtshof in der Rechtssache RWE schließlich ausdrücklich berücksichtigt wissen, „ob auf dem betreffenden Markt Wettbewerb herrscht“.194 II. Kaskade der Materialisierungsinstrumente Auf den drei Ebenen des unionalen Materialisierungssystems zwingt jeweils der Erforderlichkeits- und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu einer Abstufung der einzelnen Instrumente entlang ihrer Eingriffsintensität.195 Der Bedarf nach einer Materialisierung der Vertragsfreiheit des einen ist dabei zunächst mit der drohenden Verkürzung der Vertragsfreiheit des anderen Vertragsteils abzuwägen. Die Beachtung des Erforderlichkeits- und Proportionalitätsprinzips darf im unionalen Kartell-, aber auch im Lauterkeitsrecht als Selbstverständlichkeit gelten, weil hier die unternehmerische Entfaltungsfreiheit durch hoheitlichen – behördlichen oder gerichtlichen – Zwang beschnitten wird.196 Weniger offenkundig ist demgegenüber die „Binnendifferenzierung“ zwischen den einzelnen Materialisierungsinstrumenten des Privatrechts der Union und ihrer Mitgliedstaaten (1) sowie des Zivilprozessrechts (2). Auch hier führt der an den Erfordernissen des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus ausgerichtete Erforderlichkeits- und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu einer stufenförmigen Anordnung, wobei schonende Interventionsformen am Anfang, eingriffsinstensivere hingegen am Ende der Kaskade stehen. 1. Abstufung der privatrechtlichen Instrumente Die Materialisierungskaskade im Privatrecht der Union und ihrer Mitgliedstaaten wird durch zwei widerstreitende Faktoren beeinflusst: Auf der einen auf die – nicht erschöpfende – Aufzählung unionsprivatrechtlicher Rechtsakte in Anhang II zur Richtlinie. Siehe hierzu nur UWG-Großkommentar / Heinze (2014), Einl. Rn. 399 f. 193 EuGH Urt. v. 15.3.2012 – Rs. C-453/10 (Pereničová), EU:C:2012:144 Rn. 43. Siehe auch GA Trstenjak Schlussanträge v. 29.11.2011 – Rs. C-453/10 (Pereničová), EU:C: 2011:788 Rn. 125. 194 EuGH Urt. v. 31.3.2013 – Rs. C-92/11 (RWE), EU:C:2013:180 Rn. 54 f. 195 In diesem Sinne – wenn auch zur durch das deutsche Grundgesetz gewährleisteten Privatautonomie – bereits Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers (1998), S. 449 ff. und S. 488, der hier ein „verbraucherschutzrechtliche[s] Verhältnismäßigkeitsprinzip“ formuliert. Gleichsinnig Grundmann, JZ 2000, 1133, 1137 f.; Fornasier, Freier Markt und zwingendes Vertragsrecht (2013), S. 79 f. 196 Statt vieler Mestmäcker / Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht (2014), § 4 Rn. 72.

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Seite steht das Interesse des durch die Materialisierung belasteten Vertragsteils, in den eigenen Freiheitsrechten nicht über Gebühr beeinträchtigt zu werden. Auf der anderen Seite kann die Schutzpflichtendimension der unionalen Vertragsfreiheit eine Materialisierung der Selbstbestimmung der anderen Partei in unterschiedlichem Umfang gebieten: Zunächst sind umso stärkere Interventionen angezeigt, je weniger Entfaltungsmöglichkeiten für die unionale Vertragsfreiheit im Rahmen des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus bestehen. Unter dem Einfluss unionsgrundrechtlicher Schutzpflichten liegt der Rekurs auf eingriffsintensive Materialisierungsinstrumente darüber hinaus besonders nahe, wenn dem einen Vertragsteil die Ausübung einer dem Kernbereich zuzurechnenden Facette der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie erschwert oder gar gänzlich verwehrt wird. Im Regelfall stellt die Materialisierung der unionalen Vertragsfreiheit mithilfe des Informationsmodells im Vorfeld des Vertragsschlusses das mildeste Mittel dar.197 Wie bereits gezeigt, mögen im Einzelfall aber die „Informationslasten“ – etwa in Gestalt der mit der Informationserteilung verbundenen Kosten oder auch der Preisgabe von Unternehmensinterna – so schwer wiegen, dass andere Regelungen vergleichsweise milder erscheinen.198 Zutreffenderweise geht deshalb auch der EuGH davon aus, dass Informationspflichten nur insoweit auferlegt werden dürfen, als sie die Funktionsfähigkeit des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus tatsächlich stärken und in Ansehung dieses Ziels verhältnismäßig sind.199 Im Übrigen kommen eingriffsintensivere Materialisierungsinstrumente aber grundsätzlich erst zum Tragen, wo das Informationsmodell an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit stößt. Solche ergänzenden Regelungen können z. B. in Einschränkungen der Vertragsschlussmodalitäten dahingehend bestehen, dass bestimmte vertragliche Abreden ausdrücklich und nicht hingegen nur konkludent getroffen werden Mit Blick auf das unionale Verbrauchervertragsrecht postuliert bereits Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers (1998), S. 450 ein „verbraucherschützendes Verhältnismäßigkeitsprinzip“, dass insbesondere Informationspflichten als „Mittel der Transparenzsicherung“ Vorrang vor anderen privatrechtlichen Interventionsformen haben sollten. Ähnlich auch z. B. Grundmann / Kerber / Weatherill, in: dies. (eds.), Party Autonomy and the Role of Information in the Internal Market (2001), S. 3 ff.; Reich, General Principles of EU Civil Law (2014), S. 48 ff. und 155 ff.; Riesenhuber, FS Micklitz (2014), S. 105, 116. Siehe zum Informationsmodell bereits eingehend oben Kapitel 4 § 3 A. 198 So könnte der Fall etwa bei Art. 185 Abs. 2 lit. d i. V. m. Art. 51 Solvency II liegen, weil die Versicherer hierdurch gezwungen werden, neben ihrem unternehmenseigenen Governance-System auch Informationen über ihre internen Modelle zur Berechnung des Solvenzkapitals offenzulegen, vgl. oben A I 2 b. Siehe allgemein auch Schön, FS Canaris I (2007), S. 1191, 1208; Fornasier, Freier Markt und zwingendes Vertragsrecht (2013), S. 81. 199 EuGH Urt. v. 29.4.2015 – Rs. C-51/13 (Van Leeuwen), EU:C:2015:286 Rn. 26 beschränkt die Informationspflichten „auf das, was zur Erreichung dieses Ziels notwendig ist“. Vgl. zuvor EuGH Urt. v. 5.3.2002 – Rs. C-386/00 (Axa Royale Belge), Slg. 2002, I2209 Rn. 24. Vgl. nunmehr auch Art. 185 Abs. 7 Solvency II. 197

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müssen.200 Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch die Inhalts- und Transparenzkontrolle201 und zwingendes Vertragsrecht, das bereichsspezifisch eine Materialisierung der Vertragsfreiheit intendiert, wie dies etwa auf Art. 52 Abs. 3 S. 1 Zahlungsdiensterichtlinie zutrifft.202 Die Klauselkontrolle ist dabei in der Regel ein milderes Mittel im Vergleich zu zwingendem, privatautonome Gestaltungen unterschiedslos annulierendem Vertragsrecht: Diesen Umstand betont auch Generalanwältin Kokott, wenn sie darauf hinweist, dass durch die einzelfallbezogene Missbräuchlichkeitsprüfung nach Art. 3 Klauselrichtlinie „der Grundsatz der Vertragsfreiheit gewahrt und anerkannt [wird], dass Parteien vielfach ein berechtigtes Interesse an einer gegenüber der Gesetzeslage abweichenden Ausgestaltung ihrer Vertragsbeziehungen besitzen“.203

Eine vergleichsweise einschneidendere Intervention bedeutet dagegen die Materialisierung durch Aktualisierung der Vertragsfreiheit: Insbesondere ist bei Vertragsbeseitigungsrechten, wie dem Verbraucherwiderruf oder dem Widerspruch im unionalen Lebensversicherungsvertragsrecht – anders als z. B. bei der Inhaltskontrolle – nicht nur ein Teil des Vertrags, sondern die Vertragsbindung insgesamt betroffen.204 Am anderen Ende des Spektrums stehen schließlich Kontrahierungszwänge und Diskriminierungsverbote, da diese die negative Abschluss- und Kontrahentenwahlfreiheit der zum Vertragsschluss verpflichteten Partei aufheben. Diese Instrumente kommen daher grundsätzlich nur in Betracht, wenn die positive Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit der anderen Partei nicht auf andere Weise entfaltet werden kann. Der Unionsgesetzgeber postuliert gerade in den Antidiskriminierungsrichtlinien eine solche Beeinträchtigung der Vertragsfreiheit bestimmter Merkmalsträger und hält deren prospektive Vertragspartner durch Diskriminierungsverbote zum Vertragsschluss an. 205 Siehe hierzu erneut oben Kapitel 4 § 3 B. Siehe hierzu oben Kapitel 4 § 3 D. 202 Siehe hierzu wiederumt oben Kapitel 4 § 3 E. 203 GA Kokott Schlussanträge v. 8.11.2012 – Rs. C-415/11 (Aziz), EU:C:2012:700 Rn. 73. So auch G. Wagner, in: Blaurock / Hager (Hrsg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), S. 13, 34: „Das Instrument der Inhaltskontrolle ist insofern eine geniale Erfindung, als es die Vertragsinhaltsfreiheit nicht generell einschränkt, sondern nur selektiv“. 204 Vgl. hierzu erneut oben Kapitel 4 § 3 f. Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers (1998), S. 451 verortet in seinem Modell die Vertragsbeseitigungsrechte zwar ebenfalls auf letzter Stufe. Indes behandelt er die Inhaltskontrolle als eingriffsintensiveres Instrument, weil Verbraucherverträge im deutschen Recht vormals bis zum Ablauf der Widerrufsfrist als schwebend unwirksam behandelt wurden, so dass ein Widerruf mangels Vertragsbindung gerade keinen Bruch mit dem Grundsatz pacta sunt servanda bedeutete. Diese Einordnung darf nunmehr sowohl von der Warte des Unionsrechts als auch im System des deutschen BGB als überholt gelten. 205 Vgl. hierzu oben Kapitel 4 § 3 C II. 200 201

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2. Materialisierungskaskade im Bereich des Zivilprozessrechts Auch bei der Heranziehung des mitgliedstaatlichen Zivilprozessrechts zur Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit ist unter den Gesichtspunkten der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit eine Abstufung vorgegeben: So darf beispielsweise im Verbrauchervertragsrecht der „richterliche Eingriff […] allein darauf abzielen, eine gewisse Gleichrangigkeit zwischen den Gewerbetreibenden und den Verbrauchern wiederherzustellen, mit denen sie Verträge schließen“.206

„Gleichrangigkeit“ soll dabei gerade in Bezug auf die rechtsgeschäftlichen Selbstbestimmungschancen im Rahmen des Vertrags- und Marktmechanismus erzielt werden. Bestand diese Parität nicht schon bei Vertragsschluss, so müssen Selbstbestimmungsmöglichkeiten zumindest in einer Phase des Zivilverfahrens eröffnet werden.207 Als Beispiel mag die Ausübung von Vertragslösungsrechten im Prozess – ungeachtet einer etwaigen Präklusion – dienen, soweit die den einzigen Weg darstellt, nachträglich die negative Vertragsfreiheit zu entfalten.208 Nach der Lesart der Generalanwältin Kokott genügt das mitgliedstaatliche Zivilgericht den Vorgaben des Effektivitätsgrundsatztes dabei bereits, „wenn das nationale Prozessrecht so ausgelegt und angewendet werden kann, dass es dem Verbraucher ein Instrument zur Hand gibt, das es ihm erlaubt, seine Rechte selbst geltend zu machen“.209

Schon angesichts des Gebots eines fairen Verfahrens darf sich das Gericht niemals auf die Seite derjenigen Partei schlagen, zu deren Gunsten Materialisierungsinstrumente wirken.210 Vielmehr ist eine Kaskade der Interventionsformen zugrunde zu legen: Auf erster Stufe sollten die Anträge, das Prozessverhalten sowie auch die Normen des nationalen Prozessrechts im Lichte der unionsrechtlichen Vorgaben ausgelegt werden.211 Soweit eine Materialisierung auf diesem Wege nicht möglich ist, sollten auf zweiter Stufe Maßnahmen der materiellen Prozessleitung, wie etwa richterliche Hinweise, durch eine am Effektivitätsgrundsatz orientierte Handhabung der § 139 ff. ZPO in Vgl. GA Wahl Schlussanträge v. 12.2.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:85 Rn. 104 (Herv. d. Verf.). 207 Vgl. erneut oben Kapitel 6 § 5 B. 208 Vgl. erneut oben Kapitel 6 § 3 A. 209 GA Kokott Schlussanträge v. 28.2.2013 – Rs. C-32/12 (Duarte Hueros), EU:C: 2013:128 Rn. 49 (Herv. d. Verf.). 210 Vgl. erneut oben Kapitel 6 § 2 B I 2, Kapitel 6 § 2 B II 3 und Kapitel 6 § 2 C. Siehe zu den in Art. 47 GRCh wurzelnden Prozessgrundsätzen oben A III. 211 Vgl. GA Kokott Schlussanträge v. 28.2.2013 – Rs. C-32/12 (Duarte Hueros), EU:C: 2013:128 Rn. 50: „Auch eine Auslegung des Klageantrags dahin gehend, dass der prozessuale Antrag auf Minderung im Antrag auf Vertragsauflösung mitenthalten war, kommt in Betracht“. 206

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Betracht gezogen werden.212 Als ultima ratio ist dagegen die unionsrechtlich induzierte Aufweichung des Dispositions- und Antragsgrundsatzes zu behandeln, die entsprechend erst auf dritter und letzter Stufe Platz greifen kann.213 III. Materialisierung und Vermutung der „Richtigkeit“ des Vertrags Ebenso wie die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen erkennt auch das EUPrivatrecht den Zusammenhang zwischen Vertrags- und Marktmechanismus einerseits und der Vermutung der „Richtigkeit“ des durch die Parteien erzielten Vertragsergebnisses andererseits.214 Im Folgenden gilt die Aufmerksamkeit nun den Auswirkungen des Materialisierungssystems auf die Richtigkeitsgewähr des Vertrags- und Marktmechanismus: Je umfassender die Vertragsfreiheit auf den einzelnen Stufen dieses Systems materialisiert worden ist, desto mehr Überzeugungskraft entfaltet die Vermutung der „Richtigkeit“ des Vertrags (1). Insgesamt sucht die Unionsrechtsordnung somit durch die Materialisierung der Vertragsfreiheit größtmögliche prozedurale Gerechtigkeit zu erzielen (2). Der Schutz gegen „Extremabweichungen“ bei der Willensbildung und bei der Gestaltung der Vertragsinhalte wird dabei vor allem dem mitgliedstaatlichen Privatrecht sowie künftig womöglich auch den allgemeinen unionalen Rechtsgrundsätzen überantwortet (3). 1. Gesteigerte Richtigkeitsgewähr des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus Das EU-Schuldvertragsrecht bemisst die „Richtigkeit“ eines Vertrags in erster Linie anhand des von den Parteien kraft des Vertragsmechanismus erzielten Gleichgewichts: Prima facie „angemessen“ sind die Inhalte, „auf die sich die Parteien vertraglich verständigt haben“. 215 Sofern die Vertragsbedingungen nicht individuell ausgehandelt werden, sorgt der Wettbewerbsmechanismus in gewissem Umfang dafür, dass durch die Auswahl unter konkurrierenden Angeboten am Markt der sodann geschlossene Vertrag für beide Vertragsparteien Ausdruck von Selbstbestimmung im anspruchsvollen Sinne ist.216 Der VerVgl. GA Kokott Schlussanträge v. 28.2.2013 – Rs. C-32/12 (Duarte Hueros), EU:C: 2013:128 Rn. 49: „In Betracht kommt […] beispielsweise die Möglichkeit einer Klageänderung, gegebenenfalls nach entsprechendem Hinweis des zuständigen Gerichts“. Siehe oben Kapitel 6 § 2 B I 3. 213 Vgl. GA Kokott Schlussanträge v. 28.2.2013 – Rs. C-32/12 (Duarte Hueros), EU:C: 2013:128 Rn. 52: „Kommen all diese Maßnahmen jedoch nicht in Betracht, könnte man als letztes Mittel an eine Minderung von Amts wegen denken“. Vgl. erneut oben Kapitel 6 § 2 B I. 214 Siehe hierzu eingehend oben Kapitel 3 § 3 B. 215 Vgl. GA Kokott Schlussanträge v. 27.2.2014 – Rs. C-531/12 P (SEMEA/Kommission), EU:C:2014:1946 Rn. 87. Vgl. auch EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:282 Rn. 55. Siehe dazu bereits eingehend oben Kapitel 3 § 3 B. 216 Siehe erneut oben Kapitel 3 § 3 B. 212

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trags- und der Wettbewerbsmechanismus sind jedoch darauf angewiesen, dass ihre Funktionsvoraussetzungen geschaffen und ihre jeweiligen Defizite kompensiert werden. Diese Aufgaben übernimmt das unionale Materialisierungssystem mit seinen unterschiedlichen Ebenen. Die Ausübung der auf diese Weise materialisierten Vertragsfreiheit bietet aus Sicht des Unionsrechts dann entsprechend eine gesteigerte Gewähr für die „Richtigkeit“ des Vertrags, weil eine höhere Wahrscheinlichkeit besteht, dass der Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus seine Wirkungen entfalten kann. 217 Anders gewendet liegt die Vermutung näher, dass der Vertrag Ausdruck tatsächlicher Selbstbestimmung ist, wenn die Entscheidungsgrundlagen und Funktionsvoraussetzungen durch das Materialisierungsinstrumentarium geschaffen, erhalten und verbessert worden sind. So liegt der Fall beispielsweise bei einem Verbraucher, der sich Dank transparent gestalteter Pflichtangaben vor dem Vertragsschluss über die am Markt angebotenen Vertragskonditionen umfassend informieren konnte und der in Kenntnis seines Widerrufsrechts am Vertrag festhält. Entsprechend hält das Unionsprivatrecht hier grundsätzlich keine weiteren Korrektive bereit.218 2. Prozedurale Gerechtigkeit durch materialisierte Vertragsfreiheit Ob sich das Unionsprivatrecht „am Ideal einer materialen Vertragsgerechtigkeit“ orientieren sollte, wird unterschiedlich bewertet.219 Die vorstehenden Erkenntnisse belegen indes, dass die Unionsrechtsordnung eine im Ausgangspunkt prozedurale Gerechtigkeitskonzeption zugrunde legt: Vorbehaltlich bereichsspezifischer zwingender Regelungen bewertet die Unionsrechtsordnung Vertragsinhalte nämlich zuvörderst mithilfe des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus und damit anhand des Verfahrens, in dem sie zustande gekommen sind.220 217 Siehe zum Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus erneut oben Kapitel 3 § 3. Siehe allgemein auch Canaris, AcP 200 (2000), 273, 286 f.: „Eine ‚Materialisierung‘ der Vertragsfreiheit im Sinne einer Verbesserung der tatsächlichen Entscheidungsfreiheit dient daher in aller Regel zugleich der formalen, d. h. prozeduralen Vertragsgerechtigkeit und gewinnt dadurch zusätzliche Dignität“. Ebenso z. B. Franck, Europäisches Absatzrecht (2006), S. 222 f. 218 Dies bedeutet freilich weder, dass das Unionsprivatrecht der Anwendung mitgliedstaatlicher Korrektive, wie z. B. §§ 119 ff., § 123 oder § 138 BGB, entgegensteht noch dass es im weiteren Verlauf der Rechtsentwicklung nicht dennoch – z. B. durch allgemeine Rechtsgrundsätze – auf Vertragsinhalte einwirken mag, dazu noch eingehend unten 3. 219 Befürwortend etwa Hesselink, ERCL 11 (2015), 185 ff. Kritisch dagegen Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 383, der aber zugleich meint, dass für diese Annahme bei „der gegenwärtigen Ausrichtung des europäischen Vertragsrechts einiges spricht“. 220 Siehe mit Blick auf das Schuldvertragsrecht allgemein Canaris, AcP 200 (2000), 273, 283 ff. und 294 f. Berücksichtigt man diesen strikt prozeduralen Ansatz, so treffen

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Gerecht ist dieses Verfahren seinerseits, wenn jede der Vertragsparteien eine werthaltige Möglichkeit zur Entfaltung ihrer unionalen Vertragsfreiheit hat oder eine solche Selbstbestimmungschance zumindest durch die Materialisierung der Vertragsfreiheit eröffnet werden kann. Insbesondere die materialisierte Vertragsfreiheit vermag dabei im Regelfall Verfahrensgerechtigkeit zu gewährleisten, weshalb das Unionsprivatrecht hieran eine Vermutung der „Richtigkeit“ des Vertrags knüpft. Anders als bei der materialen wird bei dieser prozeduralen Konzeption der Vertragsgerechtigkeit also keinerlei objektiver Maßstab an die inhaltliche Ausgewogenheit des Vertrags angelegt.221 Das Unionsprivatrecht führt damit keineswegs die – ergebnislose – Suche nach einem iustum pretium fort und enthält sich grundsätzlich einer „Marktergebniskontrolle“.222 Freilich wendet sich das Unionsrecht in einzelnen Regelungsbereichen durchaus gegen bestimmte Vertragsinhalte: Neben den Verbotsnormen in Art. 101, Art. 107, Art. 108 Abs. 3 S. 3 AEUV223 sind beispielsweise auch die privatrechtlichen Diskriminierungsverbote in den EU-Gleichbehandlungsrichtlinien zu nennen.224 Indes stehen hier jeweils nicht die inhaltliche Ausgewogenheit und „Gerechtigkeit“ des individuellen Vertrags als vielmehr auch die Ausführung von GA Trstenjak Schlussanträge v. 29.10.2009 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 39, zu, wonach die Materialisierungsinstrumente des Unionsprivatrechts gerade darauf zielen, „möglichst weitgehende Vertragsgerechtigkeit zu gewährleisten“. 221 Vgl. Canaris, AcP 200 (2000), 273, 283 ff. und 294 f. Zumindest de lege ferrenda plädiert aber Hesselink, ERCL 11 (2015), 185 ff. für einen objektiven Gerechtigkeitsmaßstab im Sinne einer „fair price rule“ im Unionsprivatrecht. Zu Recht ablehnend Eidenmüller, ERCL 11 (2015), 220 ff. G. Wagner, in: Blaurock / Hager (Hrsg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), S. 13, 17 attestiert dem Unionsgesetzgeber angesichts der zahlreichen zwingenden Regelungen zumindest mangelndes Vertrauen darauf, „dass die Gewährleistungen von Vertragsfreiheit und freier, vom Wettbewerb geprägter Märkte dazu in der Lage sind, die inhaltliche „Richtigkeit“ vertraglicher Vereinbarungen zu gewährleisten“. 222 Vgl. zum Konzept der auf objektive Äquivalenz der vertraglichen Leistungen ausgerichteten Marktergebniskontrolle Fornasier, Freier Markt und zwingendes Vertragsrecht (2013), S. 126 ff. Vgl. aus der ständigen Rechtsprechung zur Frage des „richtigen“ Preises im Kontext des unionalen Beihilferechts nur EuGH Urt. v. 24.10.2013 – verb. Rs. C-214/ 12 P u. a. (Land Burgenland u. a./Kommission), EU:C:2013:682 Rn. 94; EuGH Urt. v. 16.7.2015 – Rs. C-39/14 (BVVG), EU:C:2015:470 Rn. 32, wonach vermutet wird, dass „der Marktpreis dem höchsten Angebot entspricht“ und somit wiederum in einem marktund wettbewerbsbasierten Verfahren zu ermitteln ist. 223 Siehe zur Einwirkung des Art. 107, Art. 108 Abs. 3 S. 3 AEUV auf das deutsche Schuldvertragsrecht zuletzt EuGH Urt. v. 11.11.2015 – Rs. C-505/14 (Klausner), EU:C: 2015:742 Rn. 24 ff. Siehe ferner nur Verse / Wurmnest, AcP 204 (2004), 855 ff. m. w. N. 224 Siehe pars pro toto etwa Art. 2 Gleichbehandlungsrichtlinie 2000/43/EG und Art. 4 Unisexrichtlinie 2004/113/EG. Alle vorgenannten Instrumente nehmen gerade auch einen festen Platz im unionalen Materialisierungssystem ein, siehe erneut oben Kapitel 4 § 2 und oben Kapitel 4 § 3 C.

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wettbewerbs- oder gesellschaftspolitische Motive im Vordergrund.225 Im Übrigen dienen auch Beschneidungen der Inhalts- und Preisfreiheit, wie etwa die Abschaffung von Roaminggebühren in Kommunikationsdienstleistungsverträgen sowie die Begrenzung bestimmter Entgelte für Finanzdienstleistungen in der EU, gerade dem Binnenmarktziel – nicht hingegen der Ausgewogenheit des Vertrags.226 Nur punktuell existiert zwingendes Unionsprivatrecht, das konkrete Vertragsinhalte als unabänderlichen227 „materialen Gerechtigkeitsmaßstab“ vorgibt und damit bei „der Beurteilung des Gerechtigkeitsgehalts […] inhaltliche Dies gilt z. B. auch für die Überbürdung der Kosten von „Schwangerschaft und Mutterschaft“ nach Art. 5 Abs. 3 Unisexrichtlinie 2004/113/EG auf die Versicherer sowie das Verbot geschlechtsspezifischer Tarife im Versicherungsvertragsrecht, vgl. EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 (Test-Achats), Slg. 2011, I-773 Rn. 16 ff. und 30 ff. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch, dass das Unionsrecht selbst im Fall des Konditionenmissbrauchs nach Art. 102 Abs. 2 lit. a AEUV gerade nicht explizit die Anpassung der in einem Vertrag enthaltenen „unangemessenen“ Preise und Bedingungen verlangt, sondern lediglich den Missbrauch sanktioniert, vgl. statt aller Grabitz / Hilf / Nettesheim / Jung (2016), Art. 102 AEUV Rn. 373 ff. m. w. N. Freilich nähert sich EuGH Urt. v. 14.2.1978 (United Brands), Slg. 1978, 207 Rn. 251 ff. mit dem „Konzept der Gewinnbegrenzung“ zumindest auf Ebene des Missbrauchstatbestands der Idee des iustum pretium an; ebensowenig wie die „Vergleichsmarktkonzepte“ kann dieser wettbewerbsrechtliche Bemessungsansatz aber auf das Zivilrecht übertragen werden, insgesamt kritisch zu diesen Konzepten Immenga / Mestmäcker / Fuchs / Möschel (2012), Art. 102 AEUV Rn. 176 ff. 226 Vgl. nur Erwägungsgründe Nr. 3 ff. und Art. 6a Verordnung (EU) Nr. 531/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juni 2012 über das Roaming in öffentlichen Mobilfunknetzen in der Union, ABl. 2012 L 172/10. Vgl. ferner nur Erwägungsgründe Nr. 3 ff. und Art. 12 Zahlungskontenrichtlinie; Erwägungsgrund Nr. 5 und Art. 52 Zahlungsdiensterichtlinie; Erwägungsgründe Nr. 1 und 4 sowie Art. 8 Verordnung (EU) Nr. 260/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. März 2012 zur Festlegung der technischen Vorschriften und der Geschäftsanforderungen für Überweisungen und Lastschriften in Euro und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 924/2009, ABl. 2012 L 94/22. 227 In den meisten Rechtsakten des Unionsprivatrechts sind die – ihrem Umfang nach ohnehin begrenzten und nicht auf das Äquivalenzverhältnis bezogenen – Angaben zu den Vertragsinhalten einer abweichenden Parteivereinbarung zugänglich, vgl. in diesem Kontext beispielsweise Art. 6 Abs. 5 Verbraucherrechterichtlinie; Art. 6 Abs. 1 PRIIPVerordnung; Art. 6 Abs. 1 Pauschalreiserichtlinie; Art. 5 Abs. 2 Time-Sharing-Richtlinie. Vgl. auch Art. 3 Abs. 4 und Abs. 5; Art. 4 Abs. 5 und Abs. 6 Zahlungsverzugsrichtlinie, wobei individualvertragliche Abweichungen hier unter dem Vorbehalt stehen, dass sie keinen „Missbrauch der Vertragsfreiheit zum Nachteil des Gläubigers“ darstellen und nicht ohne „objektiven Grund“ von den sekundärrechtlichen Vorgaben zu den Verzugszinsen bzw. zur Entschädigung für Beitreibungskosten abweichen dürfen, vgl. Art. 7 i. V. m. Erwägungsgrund Nr. 28 Zahlungsverzugsrichtlinie. Diese Regelung verdient Zustimmung, da sie nur Leitlinien definiert und lediglich eine Umgehung des Regelungsziels der Richtlinie, Zahlungstreue im Geschäftsverkehr sicherzustellen, verhindern soll, siehe zum Motiv der Verzugszinsregelung bereits oben Kapitel 3 § 2 II 2 sowie allgemein Basedow, ZHR 143 (1979), 317, 322 f. 225

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Kriterien zugrundelegt“.228 Als Beispiel lässt sich wiederum das durch die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie festgelegte Gewährleistungsregime anführen, welches den Parteien eine unabdingbare und damit aus der Warte des Unionsrechts einzig „ausgewogene“ Regelung aufzwingt.229 Verallgemeinerungsfähige objektive Maßstäbe der „Vertragsgerechtigkeit“ sind dem Unionsprivatrecht hingegen fremd:230 Entsprechend verbietet sich nach der Lesart des EuGH eine umfassende Überprüfung von Vertragsergebnissen gerade deshalb, weil die Unionsrechtsordnung keine, „als Rahmen und Leitlinie einer solchen Kontrolle in Betracht kommenden Standards oder juristischen Kriterien“ enthält.231 Vielmehr begnügt sich das EU-Privatrecht Vgl. Auer, Materialisierung, Flexibilierung, Richterfreiheit (2005), S. 26. Vgl. Art. 7 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie. Siehe dazu bereits oben Kapitel 4 § 3 E. Kritisch zu dieser Form der „Materialisierung der Vertragsgerechtigkeit“ vor allem Canaris, AcP 200 (2000), 273, 286 f. und 362 ff.; G. Wagner, in: Blaurock / Hager (Hrsg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), S. 13, 40 ff. Diese Kritik ist nach der hier vertretenen Auffassung berechtigt, weil zwingende Korrekturen des Vertragsinhalts allenfalls dann in Betracht kommen, wenn der Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus selbst nach einer Materialisierung der Vertragsfreiheit tatsächlich – oder zumindest bei typisierender Betrachtung – versagt: Nur in dieser Situation bietet dieser Mechanismus keine Gewähr für die „Richtigkeit“ des Vertragsergebnisses. Weshalb dies nun z. B. bei einem individuell ausgehandelten Gewährleistungsausschluss zwischen einem Gebrauchtwagenhändler als Verkäufer und einem sachkundigen Kfz-Mechaniker auf Käuferseite der Fall sein soll, ist nicht ersichtlich. Ebenso statt vieler Canaris, AcP 200 (2000), 273, 362 ff. m. w. N. 230 Selbst wo das Unionsprivatrecht ein bereichsspezifisches autonomes Konzept eines „gerechten Ausgleichs“ für das Immaterialgüterrecht in Art. 5 Abs. 2 und Erwägungsgrund Nr. 10 Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft, ABl. 2001 L 167/10 vorgibt, geht es gerade nicht um ein Kriterium zur Bestimmung gerechter Vertragsinhalte, sondern vielmehr um einen gesetzlichen, an die „Schadenshaftung“ angelehnten Anspruch von Urhebern und ausübenden Künstlern gegen Ersteller sogenannter Privatkopien, vgl. EuGH Urt. v. 21.4.2016 – Rs. C-572/14 (Austro-Mechana), EU:C:2016:286 Rn. 17 ff. Entsprechend lässt Art. 9 der Richtlinie das Vertragsrecht gerade ausdrücklich „unberührt“, vgl. auch EuGH Urt. v. 21.10.2010 – Rs. C-467/08 (Padawan), Slg. 2010, I-10055 Rn. 31 ff. und 37; EuGH Urt. v. 27.6.2013 – verb. Rs. C-457/11 u. a. (VG Wort), EU:C:2013:426 Rn. 75; EuGH Urt. v. 10.4.2014 – Rs. C-435/12 (ACI Adam), EU:C:2014:254 Rn. 47 ff.; GA Mengozzi Schlussanträge v. 7.3.2013 – Rs. C-521/11 (Amazon), EU:C:2013:145 Rn. 26 ff. 231 So mit Blick auf Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C26/13 (Kásler), EU:C:2014:282 Rn. 55; GA Wahl Schlussanträge v. 12.2.2014 – Rs. C26/13 (Kásler), EU:C:2014:85 Rn. 69. Mehr als fraglich erscheint daher, ob die Klauselrichtlinie und insbesondere der Beispielkatalog in ihrem Anhang einen „gesicherten Bestand gemeineuropäischer Vertragsgerechtigkeit“ enthält, vgl. Koch, EuZW 2015, 520. Schließlich indizieren die im Anhang aufgeführten Klauseln gemäß Art. 3 Abs. 3 Klauselrichtlinie zum einen lediglich Bedarf nach einer Materialisierung der – positiven wie negativen – Vertragsfreiheit des Verbrauchers. Anders gewendet geht es also bei Art. 3 Abs. 1, Abs. 3 Klauselrichtlinie allein um die Kompensation der einer klauselförmigen Vertragsge228 229

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grundsätzlich mit der Vermutung, dass die im Vertrags- sowie Wettbewerbsmechanismus entfaltete und erforderlichenfalls materialisierte Vertragsfreiheit einen „richtigen“ Vertrag hervorbringt.232 3. Schutz gegen „Extremabweichungen“ zwischen BGB und allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsprivatrechts Damit wird der Schutz gegen Extremabweichungen bei der Willensbildung – etwa im Fall arglistiger Täuschung – ebenso wie gegen besonders unausgewogene Vertragsinhalte im Grundsatz dem mitgliedstaatlichen Privatrecht überantwortet. Dies geht besonders deutlich aus der Verbraucherrechterichtlinie hervor, die ausweislich ihres Art. 3 Abs. 5 das allgemeine innerstaatliche Vertragsrecht gerade insoweit unberührt lässt, als die Einigung der Parteien und die Wirksamkeit des Vertrags in Frage stehen. Anwendbar sind damit Regelungen des mitgliedstaatlichen Privatrechts betreffend „den Abschluss oder die Gültigkeit von Verträgen“ ebenso wie Vorschriften „über überhöhte Preise oder Wucherpreise […] und die Vorschriften über sittenwidrige Rechtsgeschäfte“.233 In Deutschland greifen damit in erster Linie §§ 119 ff. sowie § 134 und § 138 BGB ein. Ist es damit per se ausgeschlossen, dass das Unionsrecht selbst auf eine Korrektur von Vertragsinhalten aus Gerechtigkeitsgründen hinwirkt? Ein erstes Einfallstor bieten die soeben erwähnten §§ 119 ff., § 138 sowie § 242 BGB, da diese Normen des nationalen Privatrechts – wie bereits ausführlich staltung inhärenten Selbstbestimmungsdefizite auf Seiten des Verbrauchers, siehe dazu oben Kapitel 4 § 3 D I 3 b bb. Zum anderen nimmt die Unionsrechtsordnung an individuell ausgehandelten Vertragsbestimmungen selbst dann keinerlei Anstoß, wenn sie die im Anhang zur Klauselrichtlinie aufgeführten Inhalte umfassen, vgl. Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie. Ein objektiver und allgemeingültiger Gerechtigkeitsmaßstab des EU-Privatrechts lässt sich hieraus daher kaum ableiten. Im Übrigen baut der EuGH gerade auf eine prozedurale Maßstabbildung bei der Inhaltskontrolle nach der Klauselrichtlinie: Dies gilt zum einen für die hypothetische Betätigung des Vertragsmechanismus, siehe hierzu EuGH Urt. v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 (Aziz), EU:C:2013:164 Rn. 69; EuGH Beschl. v. 14.11.2013 – verb. Rs. C-537/12 u. a. (Banco Popular u. a.), EU:C:2013:759 Rn. 66 sowie eingehend oben Kapitel 4 § 3 D I 3 b aa. Zum anderen trifft dies auch auf die Leitbildfunktion des dispositiven Rechts zu: Denn das laut EuGH Urt. v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 (Aziz), EU: C:2013:164 Rn. 68 als Leitbild fungierende dispositive Vertragsrecht ist „bekanntlich in weitem Umfang nichts anderes […] als die gesetzliche Typisierung des mutmaßlichen Willens redlicher und vernünftiger Parteien“, vgl. Canaris, AcP 200 (2000), 273, 285. Daher sucht das Unionsrecht auch insoweit den adäquaten Maßstab der Klauselkontrolle in einem – wenn auch wiederum hypothetischen – Verfahren, so allgemein schon Canaris, AcP 200 (2000), 273, 285. 232 Siehe zur begrenzten Richtigkeitsgewähr des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus im Unionsprivatrecht erneut oben Kapitel 3 § 3 B. 233 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 14 und Art. 3 Abs. 5 Verbraucherrechterichtlinie (Herv. d. Verf.).

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dargelegt –234 unionsrechtlich überformt werden können. Auch im Übrigen verkennt die Unionsrechtsordnung keineswegs, dass Verträge in Einzelfällen „unausgewogen“ und korrekturbedürftig sind. Allerdings zieht sich das Unionsprivatrecht wiederum in der Regel auf die Materialisierungsinstrumente zurück: So hat der EuGH in der Rechtssache Barclays zwar einerseits angedeutet, dass die Unionsrechtsordnung allgemeinen, „ausgewogene Vertragsverhältnisse betreffenden Grundsätzen“ verpflichtet sein mag.235 Andererseits hat der Gerichtshof ausdrücklich betont, dass den Erfordernissen solcher „Grundsätze“ bereits durch die Instrumente zur Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit – und in der konkreten Rechtssache durch die Klauselrichtlinie – Genüge getan wird: Einen hierüber hinausgehenden, eigenständigen Anwendungsbereich sollen diese „Grundsätze“ nicht haben.236 Dies spricht dafür, dass es sich eher um bloße Desiderate und rechtlich unverbindliche Leitlinien denn um allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts handelt.237 Allerdings hat der EuGH wiederholt betont, dass die durch die Rechtsprechung anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze des EU-Privatrechts in Vertragsbeziehungen gerade für „eine gerechte Risikoverteilung zwischen den einzelnen Beteiligten sorgen“ sollen.238 Bislang hat der Gerichtshof diese Rechtsgrundsätze indes noch nicht in Stellung gebracht, um eine bestimmte Modifikation von „unangemessenen“ Vertragsinhalten zu erreichen.239 Ein etwaiger allgemeiner Grundsatz von Treu und Glauben mag zwar schon deshalb als Prüfungsmaßstab für Vertragsinhalte nahe liegen, weil auch die Klauselrichtlinie hierauf rekurriert. Ganz in diesem Sinne hat auch die Europäische Kommission in einem Grünbuch argumentiert: „Solang[e] spezifische Vorschriften fehlen, könnte die Missbräuchlichkeit […] nach dem Grundsatz von Treu und Glauben bewertet werden“.240

Vgl. erneut oben Kapitel 5 § 2 A und oben Kapitel 5 § 2 C. EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-280/13 (Barclays), EU:C:2014:279 Rn. 43 f. 236 EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-280/13 (Barclays), EU:C:2014:279 Rn. 43 f. 237 Eine Stütze findet diese Lesart auch darin, dass EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C280/13 (Barclays), EU:C:2014:279 Rn. 43 f. und 26 die konkrete Formulierung schlicht aus der dritten Vorlagefrage des mitgliedstaatlichen Gerichts übernommen hat („die den Verbraucherschutz und ausgewogene Vertragsverhältnisse betreffenden Grundsätze des Unionsrechts“). Vgl. zur Gewinnung allgemeiner Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts erneut oben Kapitel 2 § 2 A. 238 Vgl. EuGH Urt. v. 15.4.2010 – Rs. C-215/08 (E. Fritz), Slg. 2010, I-2947 Rn. 48; EuGH Urt. v. 19.12.2013 – Rs. C-174/12 (Hirmann), EU:C:2013:856 Rn. 61 (Herv. d. Verf.). 239 Insbesondere richtet sich das Verbot des Rechtsmissbrauchs primär gegen die Ausübung subjektiver Rechte und bildet damit nicht zuletzt eine Schranke der Materialisierungsinstrumente, etwa der Verbraucherwiderrufsrechte, siehe erneut oben A II. Vgl. zu dieser Dimension auch Vogenauer, in: de la Feria / Vogenauer (eds.), Prohibition of Abuse of Law (2011), S. 521, 554 ff. 234 235

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Jedoch hat der EuGH den Grundsatz von Treu und Glauben – welcher Provenienz er auch immer sein mag – nur zur Einschränkung von Verbraucherrechten bei der Vertragsrückabwicklung, nicht aber als Instrument zur Veränderung eines als „ungerecht“ bewerteten Vertragsinhalts herangezogen.241 Nach der hier vertretenen Auffassung existiert derzeit ohnehin nur ein „halbautonomer“ unionaler Grundsatz von Treu und Glauben insoweit, als das Unionsrecht § 242 BGB durch den Effektivitätsgrundsatz Schranken zieht.242 Beim gegenwärtigen Stand der Rechtsentwicklung enthält das Unionsrecht keinen allgemeinen objektiven Maßstab, ja noch nicht einmal ein hinreichend konkretisiertes „Ideal einer materialen Vertragsgerechtigkeit“.243 Die Unionsrechtsordnung bleibt somit einer prozeduralen Konzeption der Vertragsgerechtigkeit verpflichtet, deren Herzstück die Verwirklichung der – erforderlichenfalls materialisierten – Vertragsfreiheit im Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus ist. Gleichviel, ob die Korrektur von Extremabweichungen in diesem System allein durch das mitgliedstaatliche Zivilrecht oder künftig auch durch allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts sichergestellt wird, müssen solche Interventionen strikt einzelfallbezogen bleiben. Wo nämlich alle Vertragsergebnisse unter einem pauschalen „Korrekturvorbehalt“ stehen, werden die Vertragsfreiheit und der Vertrag als Instrumente zur Regelung und Planung privater Rechtsbeziehungen bedroht.244 Hierauf wird noch im Kontext der Bestrebungen zur Ausweitung der Inhaltskontrolle nach nationalem und unionalem Privatrecht zurückzukommen sein.245 Zuvor ist der Frage nachzugehen, inwieweit die rechtsgeschäftliche Privatautonomie eine Disposition über Materialisierungsinstrumente gebietet. Grünbuch der Kommission v. 8.2.2007 zur Überprüfung des gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz, KOM(2006) 744 endg., S. 20. 241 Vgl. EuGH Urt. v. 3.9.2009 – Rs. C-489/07 (Messner), Slg. 2009, I-7315 Rn. 26 zur restriktiven Auslegung des Art. 6 Fernabsatzrichtlinie im Einklang mit den „Grundsätzen des bürgerlichen Rechts wie denen von Treu und Glauben“, für den Fall, dass ein Verbraucher die im Fernabsatz gekaufte Ware über Gebühr nutzt und den Vertrag sodann widerruft. Aus Sicht des deutschen Bürgerlichen Rechts mag man freilich einwenden, dass hierdurch dennoch der Vertragsinhalt beeinflusst wird, weil sich der Vertrag nach § 355 BGB lediglich in ein Rückgewährschuldverhältnis wandelt, vgl. nur MünchKommBGB /  Fritsche (2016), § 355 BGB Rn. 50 m. w. N. Diese dogmatische Konstruktion ist jedoch keineswegs unionsrechtlich vorgezeichnet. 242 Vgl. zu den „materiellen Ausschlussgründen nach nationalem Recht – wie dem Grundsatz von Treu und Glauben –“ erneut EuGH Urt. v. 12.5.1998 – Rs. C-367/96 (Kefalas), Slg. 1998, I-2843 Rn. 22 f. Siehe zudem nur Stempel, Treu und Glauben im Unionsprivatrecht (2016), S. 312 und 310 f. sowie eingehend oben A II 1 c. 243 Kritisch mit Blick auf die Orientierung des Unionsprivatrechts an „materialer Vertragsgerechtigkeit“ auch Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 383. 244 Vgl. Canaris, FS Lerche (1993), S. 873, 887. Siehe eingehend unten § 2 B I. 245 Siehe dazu sogleich unten § 2. 240

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C. Partielle Disponibilität der Materialisierung Die zwingende Ausgestaltung ist nachgerade charakteristisch für die Materialisierungsinstrumente des Unionsprivatrechts: Als Beispiele seien nur die Inhaltskontrolle nach der Klauselrichtlinie sowie die mannigfaltigen Widerrufsrechte im Verbraucher- und Finanzdienstleistungsrecht genannt.246 Dennoch erkennt der EuGH mittlerweile die Disponibilität der Materialisierungsinstrumente zumindest im Stadium des Zivilprozesses an (I). Voraussetzung dafür ist, dass das Zusammenspiel der privat- und prozessrechtlichen Materialisierungsinstrumente echte Selbstbestimmungschancen eröffnet. Diese Lösung weist über den verfahrensrechtlichen Dispositionsgrundsatz hinaus, da der EuGH ausdrücklich die Anwendung zwingenden (Verbraucher)Vertragsrechts dem Parteiwillen überlässt (II). Diese Lösung muss in das materiellrechtliche System des BGB eingepasst werden. Darüber hinaus steht die weitergehende Frage im Raum, ob eine Partei nicht auch auf Ebene des materiellen Rechts sehenden Auges auf jene Instrumente verzichten können soll, die – wie z. B. Widerrufsrechte – der Materialisierung ihrer Vertragsfreiheit dienen (III). I.

Disposition über Materialisierungsinstrumente im Zivilprozess

Der auch im Unionsrecht anerkannte Grundsatz der Parteidisposition besagt, dass die Parteien als „Herren des Zivilprozesses“ den Verfahrensgegenstand begrenzen und insbesondere entscheiden können, ob und in welchem Umfang sie ihre Rechte geltend machen.247 Damit sind die mitgliedstaatlichen Gerichte zwar einerseits verpflichtet, sich zur Materialisierung der Vertragsfreiheit gegebenenfalls zivilverfahrensrechtlicher Instrumente zu bedienen und z. B. durch Maßnahmen der Prozessleitung sowie notfalls durch eine amtswegige Tatsachenerforschung und eine Aufweichung des Antragserfordernisses248 die Effektivität unionsprivatrechtlicher Vorgaben sicherzustellen.249 Andererseits betont 246 Vgl. zur Inhaltskontrolle nur Art. 6 Klauselrichtlinie. Vgl. zur Unabdingbarkeit der Vertragsbeseitigungsrechte z. B. Art. 25 Verbraucherrechterichtlinie sowie Art. 22 Abs. 2 und Abs. 3 Verbraucherkreditrichtlinie. 247 Vgl. erneut oben Kapitel 6 § 2 A I sowie z. B. EuGH Urt. v. 17.12.2009 – Rs. C227/08 (Martín), Slg. 2009, I-11939 Rn. 20, der betont, dass im „Grundsatz […] die Initiative in einem Prozess den Parteien zusteht“. Deutlich auch EuGH Urt. v. 10.12.2013 – Rs. C-272/12 P (Kommission / Irland), EU:C:2013:812 Rn. 27 f. und Rn. 20: „[D]er Rechtsstreit [wird] grundsätzlich von den Parteien bestimmt und begrenzt“. 248 Vgl. erneut nur EuGH Urt. v. 1.10.2015 – Rs. C-32/14 (ERSTE Bank Hungary), EU: C:2015:637 Rn. 42, wonach die Zivilgerichte unter bestimmten Voraussetzungen die aus dem Unionsprivatrecht folgenden „Konsequenzen“ ziehen müssen, „ohne einen entsprechenden Antrag des Verbrauchers abzuwarten“. Ähnlich auch EuGH Urt. v. 21.2.2013 – Rs. C-472/11 (Banif Plus Bank), EU:C:2013:88 Rn. 36. 249 Siehe wiederum oben Kapitel 6 § 2 B. Vgl. erneut z. B. EuGH Urt. v. 9.11.2010 – Rs. C-137/08 (VB Pénzügyi Lízing), Slg. 2010, I-10847 Rn. 45 und 56; EuGH Urt. v.

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der EuGH in seiner ständigen Rechtsprechung zur Klauselrichtlinie, dass der Dispositionsgrundsatz als „prozessuale Privatautonomie“ hierdurch nicht gänzlich außer Kraft gesetzt werden darf: Selbst wenn das Zivilgericht nach amtswegiger Prüfung zu dem Ergebnis gelangt, dass eine Vertragsklausel missbräuchlich und somit wegen Verstoßes gegen die der Umsetzung des Art. 3 Klauselrichtlinie dienenden mitgliedstaatlichen Norm unwirksam ist, darf „das nationale Gericht […] die fragliche Klausel jedoch dann nicht unangewendet lassen, wenn der Verbraucher […] die Missbräuchlichkeit und Unverbindlichkeit nicht geltend machen möchte“.250

Anders ausgedrückt, garantiert der EuGH dem Konsumenten zunächst die zivilprozessuale Befugnis, seinen Antrag (konkludent) entsprechend einzuschränken.251 Dass es dem Gerichtshof dabei tatsächlich um die Wahrung der Dispositionsbefugnis als subjektivem Recht des Verbrauchers geht, verdeutlicht nicht zuletzt der Umstand, dass der EuGH eine Beschneidung dieses Rechts durch nationales Verfahrensrecht für unionsrechtswidrig hält.252 Diese Lesart ist gerade vor dem Hintergrund stimmig, als der Dispositionsgrundsatz zugleich Ausfluss des Art. 47 GRCh ist: Dieses „Recht auf effektiven Rechtsschutz beeinhaltet auch die Befugnis, […] Rechte […] nicht geltend zu machen“. 253 II. Erweiterte materiellrechtliche Dispositionsbefugnis als Folge der Materialisierung durch Prozessrecht Nach Auffassung des EuGH bleibt die zivilprozessuale nicht ohne Folgen für die materiellrechtliche Dispositionsbefugnis: Soweit die Vertragsfreiheit sowohl auf Ebene des Privat- als auch auf Ebene des Verfahrensrechts materialisiert wird, sollen auch zwingende Normen des EU-Schuldvertragsrechts, etwa der Klauselrichtlinie, durch die Parteien abbedungen werden können (1). 3.10.2013 – Rs. C-32/12 (Duarte Hueros), EU:C:2013:637 Rn. 34 ff. und insbesondere Rn. 39 ff. 250 EuGH Urt. 4.6.2009 – Rs. C-243/08 (Pannon), Slg. 2009, I-4713 Rn. 33 und 35 (Herv. d. Verf.). Gleichsinnig sodann EuGH Urt. v. 21.2.2013 – Rs. C-472/11 (Banif Plus Bank), EU:C:2013:88 Rn. 27 und 35; EuGH Urt. v. 24.4.2016 – verb. Rs. C-381/14 u. a. (Sinués u. a.), EU:C:2016:252 Rn. 25. 251 Hierauf zielt auch GA Kokott Schlussanträge v. 28.2.2013 – Rs. C-32/12 (Duarte Hueros), EU:C:2013:128 Rn. 53, wenn sie ausführt, dass das Zivilgericht immer den „konkrete[n] Wille[n] des Verbrauchers“ ermitteln muss, weil „eine Maßnahme nicht gegen den Willen der Klagepartei getroffen werden“ darf. 252 Laut EuGH Urt. v. 24.4.2016 – verb. Rs. C-381/14 u. a. (Sinués u. a.), EU:C:2016: 252 Rn. 40 und 43 ist es mit dem Unionsrecht nicht zu vereinbaren, wenn der Konsument durch eine vorrangige Verbandsklage „die ihm im Rahmen einer Individualklage zustehenden Rechte, nämlich […] die Möglichkeit, auf die Nichtanwendung einer missbräuchlichen Klausel zu verzichten“, verliert. 253 GA Kokott Schlussanträge v. 28.2.2013 – Rs. C-32/12 (Duarte Hueros), EU:C: 2013:128 Rn. 53.

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Die zivilrechtsdogmatische Konstruktion (2) ebenso wie die privatrechtlichen Auswirkungen (3) dieser Gestaltungsmacht bleiben dabei jedoch im Dunklen. 1. „Einwilligung“ in missbräuchliche Klauseln Durch das Zusammenwirken privat- und zivilprozessrechtlicher Materialisierungsinstrumente sieht der Gerichtshof die Entscheidungsgrundlagen des Verbrauchers in bestimmten Konstellationen derart gestärkt, dass der Konsument sogar über eigentlich zwingende Schutzregimes des Verbrauchervertragsrechts disponieren können soll. In seiner bisherigen Judikatur bejaht der EuGH dies mit Blick auf die gemäß Art. 6 Abs. 2 eigentlich unabdingbaren Vorgaben der Klauselrichtlinie.254 Soweit das mitgliedstaatliche Zivilgericht seiner Verpflichtung zur amtswegigen Prüfung missbräuchlicher Klauseln in Verbraucherverträgen anhand der nationalen Umsetzungsvorschriften nachkommt und den Konsumenten darüber informiert, dass die Klausel für ihn im Sinne des Art. 6 Abs. 1 Klauselrichtlinie „unverbindlich“ ist, hält der Gerichtshof den Verbraucher für befähigt, seine Vertragsfreiheit im anspruchsvollen Sinne frei auszuüben: Obwohl die missbräuchliche Vertragsbestimmung eigentlich ipso iure unwirksam ist, soll der Verbraucher im Zivilprozess nun in Kenntnis aller Umstände seine „Einwilligung“ in die betreffende Klausel erklären und so die Klausel dennoch als Vertragsbestandteil erhalten können.255 Das nationale Zivilgericht habe dann „den vom Verbraucher geäußerten Willen zu berücksichtigen, wenn dieser im Wissen um die Unverbindlichkeit einer missbräuchlichen Klausel gleichwohl angibt, dass er gegen deren Nichtanwendung sei, und so nach vorheriger Aufklärung seine freie Einwilligung in die fragliche Klausel erteilt“.256

2. Einpassung in die Rechtsgeschäftslehre des BGB Dies führt zu der Frage, wie sich diese „freie Einwilligung“ in die Rechtsgeschäftslehre des deutschen BGB einfügt. Hierbei ist zunächst zu beachten, dass es sich bei der inkriminierten Vertragsbestimmung nach wie vor um eine für eine Vielzahl von Verträgen vorformulierte, einseitig durch den Unternehmer gestellte AGB-Klausel handelt. Eine solche wird nach § 305 Abs. 2 BGB nur Vertragsbestandteil, wenn der Verwender auf die AGB hinweist und die andere Partei sodann nicht nur die Möglichkeit zur Kenntnisnahme erhält, sondern gerade auch mit ihrer Geltung einverstanden ist. 254 Z. B. EuGH Urt. 4.6.2009 – Rs. C-243/08 (Pannon), Slg. 2009, I-4713 Rn. 33 und 35; EuGH Urt. v. 21.2.2013 – Rs. C-472/11 (Banif Plus Bank), EU:C:2013:88 Rn. 27 und 35; EuGH Urt. v. 24.4.2016 – verb. Rs. C-381/14 u. a. (Sinués u. a.), EU:C:2016:252 Rn. 25. 255 EuGH Urt. v. 21.2.2013 – Rs. C-472/11 (Banif Plus Bank), EU:C:2013:88 Rn. 31 ff. 256 EuGH Urt. v. 21.2.2013 – Rs. C-472/11 (Banif Plus Bank), EU:C:2013:88 Rn. 35; EuGH Urt. v. 24.4.2016 – verb. Rs. C-381/14 u. a. (Sinués u. a.), EU:C:2016:252 Rn. 25 (Herv. d. Verf.).

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Dem Erfordernis des Hinweises auf die Klausel sowie der Kenntnisnahmemöglichkeit wird dabei in jedem Fall genügt: Schließlich ist ein nationales Zivilgericht, das nach amtwegiger Prüfung zum Ergebnis gelangt, dass eine Vertragsklausel missbräuchlich ist, „verpflichtet, die Parteien darüber zu informieren und sie aufzufordern, dies in der von den nationalen Verfahrensvorschriften dafür vorgesehenen Form kontradiktorisch zu erörtern“.257 In dieser Phase wird daher auch der Gewerbetreibende dem Verbraucher den Inhalt der Klausel erneut in der nach § 305 Abs. 2 BGB erforderlichen Weise vor Augen führen. Die „Einwilligung“ des Verbrauchers besteht sodann darin, dass er sich im Sinne des § 305 Abs. 2 BGB mit der Geltung der AGBKlausel einverstanden erklärt. 3. Folgen für die Kontrollfähigkeit der Klausel und die Bindung des anderen Vertragsteils Selbst wenn der Verbraucher der Fortgeltung der Klausel zustimmt, bleibt die betreffende Vertragsbestimmung womöglich nach wie vor der Inhaltskontrolle unterworfen: Schließlich wird der gesetzesfremde Gehalt der belastenden Vertragsbestimmung nicht zwangsläufig zur Disposition gestellt.258 Darüber hinaus nimmt ein Verbaucher selbst durch seine explizite Zustimmung eine Klausel nicht automatisch „in seinen rechtsgeschäftlichen Gestaltungswillen“ auf.259 Dies führt zu der Frage, ob die Klausel dann nicht weiterhin als missbräuchlich und damit als unwirksam behandelt werden muss. Drei Faktoren streiten jedoch gegen ein solches Verdikt. Erstens bezieht der Verbraucher die konkrete Vertragsbestimmung nun unmittelbar in seinen Willen ein und kann theoretisch auch ihren Inhalt beeinflussen: Während die Klausel zwar weiterhin einseitig gestellt wird, ignoriert sie der Konsument hier nämlich nicht, sondern nimmt die Vertragsbestimmung dank der richterlichen Intervention genau zur Kenntnis. Vor allem kann er die Klausel auch ohne Weiteres unter Verweis auf ihre Missbräuchlichkeit zu Fall bringen. Unter Androhung dieses Vorgehens vermag er daher gegebenenfalls eine ihm genehme inhaltliche Modifikation der Vertragsbestimmung durchzusetzen. Damit liegt eine Situation vor, welche dem individuellen Aushandeln im Sinne von Art. 3 Klauselrichtlinie zumindest nahekommt, weil der Verbraucher hier ebenfalls volle Gestaltungsmacht hat.

EuGH Urt. v. 21.2.2013 – Rs. C-472/11 (Banif Plus Bank), EU:C:2013:88 Rn. 31. Siehe zu den Anforderungen an das Aushandeln im Rahmen des § 305 BGB sowie des Art. 3 Klauselrichtlinie statt aller MünchKommBGB / Basedow (2016), § 305 BGB Rn. 35 f. 259 Vgl. nur BGH Urt. v. 19.5.2005 – Az. III ZR 437/04, NJW 2005, 2543 f.; OLG Schleswig Urt. v. 14.9.2000 – Az. 7 U 83/99, MDR 2001, 262, 263. Siehe auch Fornasier, Freier Markt und zwingendes Vertragsrecht (2013), S. 191 f. 257 258

§ 1 Leitprinzip und Schranke des unionalen Materialisierungssystems

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Zweitens befindet sich der Verbraucher in einem Zivilverfahren, in dessen Rahmen das Schutzziel der Klauselrichtlinie bereits erreicht worden ist: Durch das „positiv[e] und von den Vertragsparteien unabhängig[e] Eingreifen des nationalen Gerichts“ ist die – auf die Entfaltung der rechtsgeschäftlichen Selbstbestimmung bezogene – „Ungleichheit zwischen Verbraucher und Gewerbetreibendem […] ausgeglichen“. 260 Schließlich spricht, drittens, nicht nur die materiellrechtliche, sondern gerade auch die zivilprozessuale Dimension der Vertragsfreiheit für die Aufrechterhaltung der Klausel: Wie gezeigt, steht es dem Verbraucher nach dem Dispositionsgrundsatz als verfahrensrechtlichem Pendant zur materiellrechtlichen Privatautonomie frei, sein Prozessbegehren einzuengen und von der Durchsetzung bestimmter Rechte abzusehen.261 Nimmt man indes die Perspektive des anderen Vertragsteils ein, so bleibt zu fragen, ob sich dieser nicht seinerseits auf die Missbräuchlichkeit der Klausel berufen kann, selbst wenn der Verbraucher an der Vertragsbestimmung festhalten will. Schließlich sind durchaus Situationen denkbar, in denen einem Unternehmer die Anwendung des Materialisierungsinstruments zupassekommt. Insoweit ist dem Unternehmer indes der auch im Unionsrecht durch den EuGH als Ausfluss des Rechtsmissbrauchsverbots anerkannte Grundsatz entgegenzuhalten, dass eine Berufung auf eigenes rechtswidriges Verhalten ausgeschlossen ist (nemo propriam turpitudinem allegans auditur).262 III. Disponibilität materiellrechtlicher Materialisierungsinstrumente jenseits des Zivilverfahrens? Nach der Lesart des EuGH erweitern die zivilprozessualen zugleich die materiellrechtlichen Dispositionsmöglichkeiten der Parteien. Damit drängt sich die Frage auf, ob z. B. die Materialisierungsinstrumente des EU-Verbrauchervertragsrechts nicht auch jenseits von Zivilverfahren abbedungen werden können.263 Der EuGH hat dies bislang nur dort bejaht, wo das Unionsprivatrecht die Disponibilität solcher Normen ausnahmsweise vorsieht.264 Dagegen müsSiehe zu dieser Zielsetzung der Klauselrichtlinie erneut nur EuGH Urt. v. 21.4.2016 – Rs. C-377/14 (Radlinger), EU:C:2016:283 Rn. 53. 261 Siehe oben I. Vgl. zur Dispositionsmaxime als „Vertragsfreiheit im Prozess“ erneut oben Kapitel 6 § 2 A I. 262 Vgl. zur Herleitung und Verortung dieses Grundsatzes in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten sowie in der Unionsrechtsordnung EuGH Urt. v. 20.9.2001 – Rs. C-453/99 (Courage), Slg. 2001, I-6297 Rn. 17, 31 und 36. Siehe dazu Basedow, FS Stathopoulos I (2010), S. 159, 178 und 187. 263 Grundsätzlich befürwortend etwa Fuchs, AcP 196 (1996), 313, 354 ff. 264 Vgl. im Kontext des internationalen Unionsprivatrechts etwa EuGH Urt. v. 12.5.2005 – Rs. C-112/03 (Société financière), Slg. 2005, I-3707 Rn. 33, wo der Gerichtshof mit Blick auf die Zulässigkeit einer Gerichtsstandsvereinbarung nach Art. 12 Nr. 3 EuGVÜ ausführt: „Somit erlaubt es der Grundsatz der Parteiautonomie dem Versicherungsnehmer als der schwächeren Vertragspartei, auf eine der beiden vom Brüsseler Über260

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Kapitel 7 – Kompass- und Schrankenfunktion der Vertragsfreiheit

sen Parteivereinbarungen, in denen ein Verbraucher außerhalb eines Zivilprozesses pauschal seine „Zustimmung“ zu missbräuchlichen Klauseln gibt, unbeachtlich bleiben: Ein Verbraucher, der dem Unternehmer einen solchen Freibrief ausstellt, wird die fraglichen Klauseln dennoch rationalerweise nicht zur Kenntnis nehmen, geschweige denn deren Gestaltung beeinflussen können.265 Die daraus resultierende „Ungleichheit zwischen Verbraucher und Gewerbetreibendem“ wird mangels richterlicher Intervention auch nicht kompensiert.266 Vor allem könnte ein Unternehmer die Inhaltskontrolle aushebeln, indem er den Verbraucher zur Abgabe einer „Einwilligung“ in missbräuchliche Klauseln drängt.267 Auf Ebene des materiellen Rechts bleibt daher die Inhaltskontrolle unabdingbar. Dies hindert den Verbraucher in einem anschließenden Prozess freilich nicht daran, seine Klagebegehren einzuschränken und den durch den EuGH aufgezeigten Weg zu gehen, indem er nach ausdrücklichem richterlichen Hinweis „seine freie Einwilligung in die fragliche Klausel erteilt“.268 Die Bewertung dürfte auch bei anderen zwingend ausgestalteten Materialisierungsinstrumenten kaum anders ausfallen. Zwar ist insbesondere die Debatte um die Disponibilität von Verbraucherwiderrufsrechten bei Fernabsatzverträgen mit besonderer Intensitiät geführt worden: In der Tat streitet die unionale Vertragsfreiheit dafür, dass Verbraucher selbst entscheiden, ob sie für einen höheren Preis ein Widerrufsrecht eingeräumt bekommen oder ob sie für einen geringeren Preis auf dieses Recht verzichten.269 Indes ist zu fragen, inwieweit der mit der zwingenden Ausgestaltung des Widerrufsrechts bei einkommen gewährten Schutzformen zu verzichten“ (Herv. d. Verf.). Ausdrücklich vorgesehen ist die Disponibilität im Wirtschaftsvertragsrecht z. B. in Erwägungsgrund Nr. 16 Zahlungsverzugsrichtlinie: „Durch diese Richtlinie sollte kein Gläubiger verpflichtet werden, Verzugszinsen zu fordern“. 265 Gleichsinnig wiederum BGH Urt. v. 19.5.2005 – Az. III ZR 437/04, NJW 2005, 2543 f.; OLG Schleswig Urt. v. 14.9.2000 – Az. 7 U 83/99, MDR 2001, 262, 263. Siehe zur rationalen Ignoranz des Verbrauchers gegenüber klauselförmiger Nebenbestimmungen erneut oben Kapitel 4 § 3 D I. 266 Vgl zu diesem Erfordernis erneut z. B. EuGH Urt. v. 21.4.2016 – Rs. C-377/14 (Radlinger), EU:C:2016:283 Rn. 53. 267 Mit Blick auf eine ähnliche Konstellation betont BGH Urt. v. 20.3.2014 – Az. VII ZR 248/13, NJW 2014, 1725, 1727 f. „die Gefahr der Manipulation und der Umgehung des Schutzes der §§ 305 ff. BGB“ und führt allgemein aus, dass es mit dem Schutzzweck dieser Normen „nicht zu vereinbaren [ist], wenn die Vertragsparteien […] die Geltung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen individualrechtlich ausschließen“. 268 Vgl. EuGH Urt. v. 21.2.2013 – Rs. C-472/11 (Banif Plus Bank), EU:C:2013:88 Rn. 35; EuGH Urt. v. 24.4.2016 – verb. Rs. C-381/14 u. a. (Sinués u. a.), EU:C:2016:252 Rn. 25. 269 Für ein solches Optionsmodell plädieren z. B. Eidenmüller, AcP 210 (2010), 67, 74 ff.; G. Wagner, in: Eidenmüller / Faust / Grigoleit u. a. (Hrsg.), Revision des Verbraucher-acquis (2011), S. 1, 29 f.

§ 2 Vertragsfreiheit als Grenze der Kontrolle von Vertragsinhalten

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Fernabsatzverträgen verbundene Eingriff in die unionale Vertragsfreiheit gerechtfertigt und insbesondere im Hinblick auf die Funktionsfähigkeit des Vertrags- und Marktmechanismus erforderlich und verhältnismäßig ist. Der Unionsgesetzgeber mag hier nämlich das legitime Ziel verfolgen, opportunistisches Verhalten des Konsumenten zu verhindern: Können Verbraucher vertraglich über ihr Widerrufsrecht disponieren, setzt dies ihnen einen starken Anreiz, zunächst einen Vertrag mit Widerrufsrecht zu wählen, den Leistungsgegenstand dann aber selbst bei Gefallen wieder zu retournieren, um sodann einen neuen Vertrag ohne Widerrufsrecht zu einem günstigeren Preis zu schließen.270 Die Tendenz, Widerrufsrechte strategisch zu nutzen, um von – vergleichsweise geringfügigen – Preisunterschieden zu profitieren, ist mittlerweile durch die Gerichtspraxis hinreichend dokumentiert.271 Diese Anreizstruktur führt dazu, dass Verträge mit Widerrufsrecht angesichts der hohen Rücklaufquoten deutlich verteuert werden,272 zumal bestimmte Waren schon nach der zulässigen Prüfung durch den Verbraucher nicht mehr ohne weiteres verkäuflich sind. Verträge mit Widerrufsrecht wären entsprechend unattraktiv, was die praktische Wirksamkeit dieses Materialisierungsinstruments in Frage zu stellen droht. Vor diesem Hintergrund lässt sich der mit der zwingenden Ausgestaltung des Fernabsatzwiderrufsrechts verbundene Beschränkung der unionalen Vertragsfreiheit durchaus rechtfertigen.273

§ 2 Vertragsfreiheit als Grenze der Kontrolle von Vertragsinhalten § 2 Vertragsfreiheit als Grenze der Kontrolle von Vertragsinhalten

Bislang hat die Aufmerksamkeit dem Materialisierungssystem und damit Vorschriften gegolten, welche die Funktionsfähigkeit des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus fördern sollen. Im Folgenden stehen nun Instrumente des unionalen wie des nationalen Privatrechts im Mittelpunkt, die trotz eines grundsätzlich funktionierenden Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus in die Vertragsfreiheit der Parteien eingreifen. Auszusondern sind in diesem Zusammenhang zunächst alle Verbotsnormen, die sich – wie etwa die Embargo270 Zöchling-Jud, AcP 212 (2012), 550, 565 f.; Kötz, Europäisches Vertragsrecht (2015), S. 284. Dieses Verhalten ist auch nicht ohne weiteres missbräuchlich, da der Verbraucher gerade weder einen im Rahmen unionalen Rechtsmissbrauchsverbots relevanten „ungerechtfertigten Vorteil“ anstrebt noch eine gezielte Schädigung des Unternehmers bezweckt, siehe dazu erneut oben A II 2 a. Siehe auch Mankowski, JZ 2016, 787, 790 ff. 271 Siehe nur BGH Urt. v. 16.3.2016 – Az. VIII ZR 146/15, NJW 2016, 1951. Siehe zur Ausweitung des BGH-Ansatzes über den Fernabsatzwiderruf hinaus Mankowski, JZ 2016, 787, 791 ff. 272 Eidenmüller, AcP 210 (2010), 67, 79 geht hingegen nur von moderaten Preisunterschieden aus, ohne jedoch die besonders kostenträchtige hohe Rückläuferquote zu erwähnen. 273 Wie hier im Ergebnis auch Kötz, Europäisches Vertragsrecht (2015), S. 284.

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vorschriften der EU –274 aus außen- und sicherheitspolitischen oder aber binnenmarkt- und gesellschaftspolitischen Motiven per se gegen bestimmte Vertragsinhalte richten. Gegenstand der folgenden Betrachtungen sind vielmehr schuldvertragliche Vorschriften der EU und ihrer Mitgliedstaaten, die Verträge einer ebenso allgemeinen wie pauschalen Inhaltskontrolle unterziehen. Besonders relevante Fallgruppen bilden „überschießende“ Umsetzungen der Klauselrichtlinie dergestalt, dass die Inhaltskontrolle auf alle individuell ausgehandelten Bedingungen oder bei klauselförmigen Vertragsbestimmungen auf die Hauptleistungspflichten sowie auf das vertragliche Äquivalenzverhältnis ausgeweitet wird. Hier stehen die von den Parteien gewählten Vertragsinhalte jeweils unter einem umfassenden und einschneidenden „Korrekturvorbehalt“.275 Daher ist diese von Art. 3 und Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie abweichende, pauschale richterliche „Inhaltskontrolle aller Verträge […] mit der Gewährleistung von Vertragsfreiheit schwer zu vereinbaren“.276 Im Anwendungsbereich des Unionsrechts sind die vorgenannten Formen der Inhaltskontrolle daher an der unionalen Vertragsfreiheit zu messen (A). Die Frage nach den durch die Vertragsfreiheit definierten Grenzen der Inhaltskontrolle (B) ist zum einen deshalb besonders relevant, weil die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen sich in diesem Punkt nach wie vor stark unterscheiden.277 Zum anderen haben der Unionsgesetzgeber ebenso wie der EuGH wiederholt Schritte in Richtung einer umfassenden Kontrolle individuell ausgehandelter, den essentialia negotii zugehöriger Vertragsbestimmungen angedeutet.278 Schließlich existiert mit Art. 7 Abs. 1 ZahlungsverzugsrichtliSiehe dazu jüngst z. B. EuG Urt. v. 28.1.2016 – Rs. T-341/14 (Klyuyev / Rat). EU:T: 2016:47; EuGH Urt. v. 18.2.2016 – Rs. C-176/13 P (Rat / Bank Mellat), EU:C:2016:96. 275 Vgl. Canaris, FS Lerche (1993), S. 873, 887; ders., AcP 200 (2000), 273, 324. So mit Blick auf Art. 16 GRCh nun auch Riesenhuber, GS Wolf (2011), S. 123, 132 ff. 276 So allgemein mit Blick auf eine undifferenzierte Inhaltskontrolle Jauernig / Mansel (2015), § 138 BGB Rn. 12. 277 Siehe zur Rechtslage in Frankreich und Spanien sogleich noch eingehend unten C. Einen weitergehenden rechtsvergleichenden Überblick bieten z. B. Ranieri, Europäisches Obligationenrecht (2009), S. 423 ff.; Blendel, Die Ausnahme des Hauptvertragsgegenstands und der Angemessenheit von Preis und Leistung von der Inhaltskontrolle (2014), S. 41 ff. 278 Vgl. Art. 2 des Vorschlags der Kommission v. 24.7.1990 für eine Richtlinie des Rates über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, KOM(90) 322 endg., ABl. 1990 C 243/2; Geänderter Vorschlag der Kommission v. 5.3.1992 für eine Richtlinie des Rates über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, KOM(92) 66 endg., ABl. 1992 C 73/7; Bericht der Kommission über die Anwendung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über Mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, KOM (2000) 248, S. 16 f.; Grünbuch der Kommission v. 8.2.2007 zur Überprüfung des gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz, KOM(2006) 744 endg., S. 20 f. Vgl. jüngst auch den durch Art. 32 Verbraucherrechterichtlinie ergänzten Art. 8a Abs. 1 Klauselrichtlinie. Vgl. ferner nur EuGH Urt. v. 3.6.2010 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 24 ff. Eine umfassende Inhaltskontrolle befürworten wohl auch z. B. 274

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nie bereits eine bereichsspezifische Vorschrift zur Kontrolle von Individualvereinbarungen. Diese unionalen und mitgliedstaatlichen Regelungen sind daher auf ihre Vereinbarkeit mit der Vertragsfreiheit hin zu überprüfen (C). A. Inhaltskontrolle jenseits der Klauselrichtlinie Die Kontrolle individuell ausgehandelter Vertragsinhalte muss schon deshalb eine Ausnahme bleiben, weil das Unionsrecht dem Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus eine grundsätzliche Richtigkeitsgewähr zuerkennt: Art. 3 Klauselrichtlinie nimmt solche Vertragsbestimmungen konsequenterweise von der Inhaltskontrolle aus. Die unionale Vertragsfreiheit schützt darüber hinaus die Autonomie der Parteien, die vertragliche Haupt- und Gegenleistung, um derentwillen sie das Schuldverhältnis eingehen, nach ihrem Gutdünken festzulegen. Dies umfasst auch die Bestimmung des „angemessenen“ Verhältnisses zwischen der Haupt- und Gegenleistung. Vor diesem Hintergrund ist die Regelung in Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie zu sehen,279 die Klauseln, welche ebendieses Herzstück des Vertrags betreffen, kontrollfrei stellt und sie lediglich Transparenzanforderungen unterwirft.280 Schließlich richten beide Parteien ihre volle Aufmerksamkeit auf diese Elemente des Vertrags – gleichviel, ob die Hauptbestandteile individuell ausgehandelt oder aber in Gestalt von AGB-Klauseln einseitig vorgegeben werden. In diese Richtung deutet auch Generalanwalt Saugmandsgaard Øe, der jüngst klargestellt hat, dass neben individuell ausgehandelten Vertragsbestimmungen auch AGB, wie etwa „die allgemeinen Verkaufsbedingungen […], unter die Vertragsfreiheit fallen“.281 Beale, FS Alpa (2007), S. 186, 194 f. und Kötz, Europäisches Vertragsrecht (2015), S. 205 f. Zu Recht ablehnend G. Wagner, in: Eidenmüller / Faust / Grigoleit u. a. (Hrsg.), Revision des Verbraucher-acquis (2011), S. 1, 32 ff. 279 Der „Hauptgegenstand“ bzw. „objet principal“ in der französischen, „ogetto principale“ in der italienischen und „objeto principal“ in der spanischen Sprachfassung beschreibt die beiderseitigen Hauptleistungspflichten der Parteien und lehnt sich an das Verständnis der romanischen Rechtsordnungen an, statt vieler Herresthal, in: Langenbucher (Hrsg.), Europäisches Privat- und Wirtschaftsrecht (2013), § 2 Rn. 130; MünchKommBGB / Wurmnest (2016), Vor § 307 BGB Rn. 5. 280 Freilich kann nach Erwägungsgrund Nr. 19 Klauselrichtlinie der Hauptleistungsgegenstand sowie das Preis-Leistungs-Verhältnis bei der Kontrolle anderer, nicht zu den essentialia negotii zählenden, Klauseln berücksichtigt werden. Siehe zur bislang nicht abschließend geklärten Rechtslage bei Versicherungsverträgen erneut nur MünchKommBGB / Kieninger (2007), § 307 BGB Rn. 154. 281 GA Saugmandsgaard Øe Schlussanträge v. 21.4.2016 – Rs. C-15/15 (New Valmar), EU:C:2016:291 Rn. 87. Auch Stempel, Treu und Glauben im Unionsprivatrecht (2016), S. 81 weist zu Recht darauf hin, dass sich die „Klauselrichtlinie und ihre Auslegung“ durch den EuGH sowie durch nationale Gerichte stets am Unionsgrundrecht der Vertragsfreiheit messen lassen müssen.

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Kapitel 7 – Kompass- und Schrankenfunktion der Vertragsfreiheit

Damit wirkt die unionale Vertragsfreiheit grundsätzlich auf die Kontrollfreiheit von Vertragsbestimmungen hin, welche die Hauptleistungen und das Äquivalenzverhältnis individualvertraglich oder auch klauselförmig festlegen. Obschon Art. 8 ein im Vergleich zu Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie höheres Verbraucherschutzniveau durch „strengere“ mitgliedstaatliche Bestimmungen grundsätzlich zulässt (I), kann die unionale Vertragsfreiheit einer undifferenzierten Inhaltskontrolle durch das nationale Privatrecht Grenzen setzen (II). Dies gilt freilich immer nur so weit, wie der sachliche Anwendungsbereich der Klauselrichtlinie – und damit der Unionsgrundrechte – reicht: Nicht erfasst wird entsprechend beispielsweise die Ausdehnung der Klauselkontrolle auf den unternehmerischen Verkehr.282 I.

Mindestharmonisierung durch die Klauselrichtlinie

Auf den ersten Blick kann der durch Art. 3 und Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie abgesteckte kontrollfreie Bereich kaum Bestand haben: Schließlich bewirkt die Klauselrichtlinie ausweislich ihres Art. 8 nur eine Mindestharmonisierung, so dass die Mitgliedstaaten ungeachtet des Art. 3 und Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie selbst individuell ausgehandelte Klauseln einer allgemeinen Inhaltskontrolle unterziehen können, die das Äquivalenzverhältnis sowie die Hauptleistungen regeln und zudem klar und verständlich abgefasst sind. Ebenso wie der EuGH283 scheint daher auch der Unionsgesetzgeber davon auszugehen, dass eine allgemeine Inhaltskontrolle von Individualvereinbarungen und der essentialia negotii im Prinzip unbegrenzt möglich ist: Der durch Art. 32 Verbraucherrechterichtlinie eingefügte Art. 8a Abs. 1 Klauselrichtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten nämlich, der Europäischen Kommission zu berichten, inwieweit mithilfe des Art. 8 Klauselrichtlinie über das unionsrechtlich gebotene Niveau hinausgehende Regelungen erlassen werden. Das soll insbesondere dann erfolgen, wenn nationale Vorschriften „die Missbräuchlichkeitsprüfung auf individuell ausgehandelte Vertragsklauseln oder die Angemessenheit des Preises oder des Entgelts ausdehnen“.284

Dies bedeutet freilich noch lange nicht, dass aus der Warte des Unionsrechts eine pauschale und anlasslose Inhaltskontrolle von Individualvereinbarungen sowie von Klauseln, die den Hauptgegenstand des Vertrags festlegen, schrankenlos zulässig ist.

282 Vgl. statt aller Wolf / Lindacher /  Pfeiffer, AGB-Recht (2013), Art. 8 Klauselrichtlinie Rn. 6. 283 Vgl. EuGH Urt. v. 3.6.2010 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 24 ff. 284 Vgl. wiederum den neuen Art. 8a Abs. 1 Klauselrichtlinie (Herv. d. Verf.).

§ 2 Vertragsfreiheit als Grenze der Kontrolle von Vertragsinhalten

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II. Art. 8 Klauselrichtlinie und unionale Vertragsfreiheit In der Rechtssache Matei hat der EuGH ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Art. 8 Klauselrichtlinie den Mitgliedstaaten eine Ausdehnung der Inhaltskontrolle auf den Hauptgegenstand des Vertrags ebenso wie auf Individualvereinbarungen immer nur „unter Beachtung des Unionsrechts“ gestattet.285 Art. 8 lässt eine weitergehende Inhaltskontrolle durch mitgliedstaatliche Rechtsnormen nämlich nur zu, soweit es sich um „mit dem Vertrag vereinbare strengere Bestimmungen“ handelt.286 Die Bezugnahme auf den „Vertrag“ zielt dabei auf das gesamte Primärrecht der Union.287 Insbesondere müssen auch die Unionsgrundrechte gewahrt werden, da sie gemäß Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 EUV mit den Verträgen „rechtlich gleichrangig“ sind.288 Daher ist es konsequent, dass der EuGH von Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie abweichende Vorschriften des mitgliedstaatlichen Privatrechts grundsätzlich am unionalen Primärrecht messen will. 289 Mit Blick auf die Unionsgrundrechte von besonderer Relevanz ist dabei, dass laut EuGH auch die im Sinne des Art. 8 Klauselrichtlinie „strengeren“ mitgliedstaatlichen Normen in den „von der Richtlinie geregelten Bereich“ und damit in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen.290 Dies erfasst sowohl mitgliedstaatliche Vorschriften, die über Art. 4 Abs. 2 als auch solche, die über Art. 3 Klauselrichtlinie EuGH Urt. v. 26.2.2015 – Rs. C-143/13 (Matei), EU:C:2015:127 Rn. 61. In diesem Sinne bereits zuvor EuGH Urt. v. 3.6.2010 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I4785 Rn. 43; GA Wahl Schlussanträge v. 12.2.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:85 Rn. 38. 286 Dies stellt auch EuGH Urt. v. 3.6.2010 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 29 heraus. 287 GA Trstenjak Schlussanträge v. 29.10.2009 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 88. 288 Siehe auch Riesenhuber, GS Wolf (2011), S. 123, 136 und 130 ff. Vgl. auch T. Möllers, EuR 1998, 20, 33 ff.; Wolf / Lindacher /  Pfeiffer, AGB-Recht (2013), Art. 8 Klauselrichtlinie Rn. 22. 289 EuGH Urt. v. 3.6.2010 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 45 ff. ging allerdings in dem konkreten Vorabentscheidungsverfahren zu Recht davon aus, dass die in der Vorlagefrage erwähnten primärrechtlichen Normen in Gestalt der Art. 2, Art. 3 Abs. 1 lit. g und Art. 4 Abs. 1 EGV keine Implikationen für die Anwendung der Klauselrichtlinie haben. 290 Vgl. EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:282 Rn. 41: „Allerdings erlaubt Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 in Verbindung mit ihrem Art. 8 es den Mitgliedstaaten, in ihren Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Richtlinie vorzusehen, dass die „Beurteilung der Missbräuchlichkeit“ nicht die in dieser Bestimmung genannten Klauseln betrifft, sofern sie klar und verständlich abgefasst sind. Aus der genannten Bestimmung folgt, dass die von ihr erfassten Klauseln nicht Gegenstand einer Beurteilung ihrer etwaigen Missbräuchlichkeit sind, aber – wie der Gerichtshof klargestellt hat – in den von der Richtlinie geregelten Bereich fallen“ (Herv. d. Verf.). Vgl. auch zuvor EuGH Urt. v. 3.6.2010 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 32 ff. 285

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hinausgehen.291 Dies liegt auf einer Linie mit der Rechtsprechung des EuGH zu anderen Regelungsmaterien, wonach auch bei „Öffnungsklauseln zu Gunsten der Regelungskompetenz der Mitgliedstaaten in Richtlinien“ eine unionale Grundrechtskontrolle in Betracht kommt.292 Die EU ist selbst unmittelbar an die Unionsgrundrechte – einschließlich der Vertragsfreiheit – gebunden, weshalb sie nicht hinnehmen darf, dass die Mitgliedstaaten mithilfe einer Öffnungsklausel auf einem in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallenden Gebiet EU-Grundrechte verletzen. Der EuGH stellt daher heraus, „dass eine [unionsrechtliche] Bestimmung […] als solche die Grundrechte missachtet, wenn sie den Mitgliedstaaten […] gestattet, nationale Gesetze zu erlassen oder beizubehalten, die die Grundrechte missachten“.293

291 Den Anwendungsbereich der Klauselrichtlinie und damit das im Sinne des Art. 8 „durch diese Richtlinie geregelten Gebiet“ erstreckt ihr Art. 1 auf „mißbräuchliche Klauseln in Verträgen zwischen Gewerbetreibenden und Verbrauchern“, wohingegen die durch Art. 3 und Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie gezogenen Schranken der „Beurteilung der Missbräuchlichkeit“ ihrerseits nicht die Grenzen des Anwendungsbereich abstecken, wie hier z. B. Wolf / Lindacher /  Pfeiffer, AGB-Recht (2013), Art. 8 Klauselrichtlinie Rn. 5 und siehe wiederum nur EuGH Urt. v. 3.6.2010 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 29 ff.; EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:282 Rn. 41. Darüber hinaus versteht GA Trstenjak Schlussanträge v. 29.10.2009 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 88 Art. 8 Klauselrichtlinie nur als allgemeinen Hinweis darauf, dass die Mitgliedstaaten auch jenseits des Anwendungsbereichs der Klauselrichtlinie das Unionsrecht beachten müssen: „Allerdings setzt das [Unions]recht einer Öffnung für einen höheren nationalen Schutzstandard Grenzen. Unabhängig davon, ob die nationalen Regelungen Fallgestaltungen betreffen, die im Anwendungsbereich der Richtlinie liegen, müssen die Mitgliedstaaten die allgemeinen Grenzen des Gemeinschaftsrechts beachten. Ihre nationalen Regelungen dürfen nicht gegen den EG-Vertrag und die Grundfreiheiten oder gegen sekundäres Gemeinschaftsrecht verstoßen. Darauf weist Art. 8 der Richtlinie 93/13 ausdrücklich hin, wenn er das Erfordernis aufstellt, dass die erlassenen mitgliedstaatlichen Bestimmungen „mit dem Vertrag vereinbar“ sein müssen“ (Herv. d. Verf.). 292 Streinz / Michl, EuZW 2011, 385, 386 sehen hier gegebenenfalls eine „Doppelbindung an unionale und nationale Grundrechte“. Deutlich etwa EuGH Urt. v. 27.6.2006 – Rs. C-540/03 (Parlament / Rat), Slg. 2006, I-5809 Rn. 22 f.: „Dazu ist zu sagen, dass der Umstand, dass die […] Bestimmungen der Richtlinie den Mitgliedstaaten […] erlauben, unter bestimmten Umständen nationale Rechtsvorschriften anzuwenden, die von den mit der Richtlinie vorgegebenen Grundsatzregelungen abweichen, nicht dazu führen kann, dass diese Bestimmungen der Überprüfung ihrer Rechtmäßigkeit durch den Gerichtshof […] entzogen werden“. Vgl. ferner etwa EuGH Urt. v. 10.4.2008 – Rs. C-309/06 (Marks & Spencer), Slg. 2008, I-2283 Rn. 33; EuGH Urt. v. 6.7.2006 – Rs. C-251/05 (Talacre Beach Caravan Sales), Slg. 2006, I-6269 Rn. 18. Siehe auch Jarass (2016), Art. 51 GRCh Rn. 21: „Der Grundrechtsverpflichtung steht nicht entgegen, dass die Mitgliedstaaten bei der Richtlinienumsetzung […] vorgesehene Ausnahmetatbestände nutzen“. 293 EuGH Urt. v. 27.6.2006 – Rs. C-540/03 (Parlament / Rat), Slg. 2006, I-5809 Rn. 23.

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Vor diesem Hintergrund ist in jedem Fall eine unionsgrundrechtskonforme Auslegung und Anwendung mitgliedstaatlicher Vorschriften geboten, die auch über Art. 3 und Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie hinaus eine allgemeine Inhaltskontrolle von Verträgen vorsehen.294 Dies lässt sich damit begründen, dass Art. 8 Klauselrichtlinie auch für solche „überschießenden“ Vorschriften den Anwendungsbereich des Unionsrechts und damit denjenigen des Unionsgrundrechts der Vertragsfreiheit eröffnet.295 Zum gleichen Ergebnis gelangt man, wenn zunächst nur Art. 8 Klauselrichtlinie unionsgrundrechtskonform und sodann das nationale Privatrecht seinerseits sekundärrechtskonform ausgelegt und angewendet wird: Hier gelangen unionsgrundrechtliche Vorgaben über einen „Umweg“ in das mitgliedstaatliche Recht.296 B. Schranken der Inhaltskontrolle von Individualvereinbarungen und der essentialia negotii In ihrer Abwehrdimension bildet die Vertragsfreiheit eine im Rahmen des Art. 8 Klauselrichtlinie zu beachtende primärrechtliche Grenze (I).297 Dies führt zu der Frage, unter welchen Voraussetzungen eine allgemeine anlasslose Inhaltskontrolle frei ausgehandelter Verträge sowie der essentialia negotii einen unverhältnismäßigen Eingriff in die rechtsgeschäftliche Privatautonomie bedeuten kann (II).298 Anhand der auf diesem Wege gewonnenen Kriterien müssen sodann neben den mitgliedstaatlichen auch die Regelungen des EU-Privatrechts, wie etwa Art. 7 Abs. 1 Zahlungsverzugsrichtlinie, auf den Prüfstand der unionalen Vertragsfreiheit gestellt werden (III). I. Unionale Vertragsfreiheit als Maßstab angesichts der Bedrohung der Vertragsfunktion durch die pauschale Inhaltskontrolle Bei einer anlasslosen und unbegrenzten Inhaltskontrolle bricht sich ein allgemeines Misstrauen gegenüber der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie der Parteien Bahn. Auch liegt die Schwelle für Eingriffe in den Vertrag prima Gleichsinnig GA Trstenjak Schlussanträge v. 29.10.2009 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 88. 295 Vgl. erneut EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:282 Rn. 41. 296 In diese Richtung weisen etwa Leible / Domröse, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre (2015), § 8 Rn. 41, da sie eine unmittelbare Prüfung des nationalen Rechts auf seine Unionsgrundrechtskonformität – entgegen der oben in Kapitel 3 § 1 A III 2 vertretenen Ansicht – ablehnen. Jarass (2016), Art. 51 GRCh Rn. 34 und Einl. GRCh Rn. 53 sowie 58 bemerkt dazu treffend: „Mittelbar ist aber in jedem Fall das einschlägige [Unionsg]rundrecht entscheidend“. 297 Ebenso – wenn auch mit einer primär an den Grundfreiheiten orientierten Begründung – bereits T. Möllers, EuR 1998, 20, 33 ff.; Wolf / Lindacher /  Pfeiffer, AGB-Recht (2013), Vor Art. 1 Klauselrichtlinie Rn. 11 und Art. 8 Klauselrichtlinie Rn. 22. Wie hier Riesenhuber, GS Wolf (2011), S. 123, 136 und 130 ff. 298 Vgl. bereits Canaris, FS Lerche (1993), S. 873, 887. 294

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facie schon deshalb vergleichsweise niedrig, weil die vollständige richterliche Überprüfung die Regel – und nicht etwa eine besonders begründungsbedürftige Ausnahmeerscheinung – ist. Hierdurch werden neben der Selbstbestimmungsfunktion des privatrechtlichen Vertrags299 weitere zentrale Vertragsfunktionen infrage gestellt: Die von den Parteien in Bezug auf die vertraglich geregelten Punkte intendierte Rechts- und Planungssicherheit kann schließlich selbst bei individuell ausgehandelten Klauseln und den essentialia negotii jederzeit einer allgemeinen Missbräuchlichkeits- oder Angemessenheitsprüfung zum Opfer fallen.300 Wenn aber stets zu besorgen ist, dass das angestrebte „vertragliche Gleichgewicht durch einen nach Vertragsschluss erfolgenden Eingriff des Staates aus den Fugen“ gerät,301 können sich die Parteien nicht mehr vollständig auf den Vertrag als Instrument zur Regelung ihrer Rechtsbeziehungen verlassen. Just mit Blick auf diese Erschütterung der Planungsfunktion des Vertrags betont Generalanwältin Trstenjak daher zu Recht die Gefahr, dass durch eine umfassende und undifferenzierte Inhaltskontrolle auch die Gesetze „des Marktes und des Wettbewerbs […] partiell außer Kraft gesetzt [werden], so dass ein an ihnen ausgerichtetes planmäßiges Marktverhalten der Anbieter ausgeschlossen wäre“.302

Die Generalanwältin gibt daher im Kontext der Klauselrichtlinie insbesondere „zu bedenken, dass eine auf Art. 8 der Richtlinie 93/13 gestützte uneingeschränkte Ausweitung des Kontrollbereichs im Ergebnis auf eine Aushöhlung der in Art. 4 Abs. 2 geschützten Privatautonomie hinauslaufen könnte“.303

Dem ist zuzustimmen: Zwar führt das Damoklesschwert der allgemeinen und lückenlosen Inhaltskontrolle nicht in jedem Fall zu einem unmittelbaren und Vgl. hierzu erneut oben Kapitel 1 § 3 sowie oben Kapitel 2 § 3. Vgl. nur Bork, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches (2016), Rn. 659: „Durch den Vertrags schaffen sich die Parteien selbst das Recht, das ihr Verhältnis regeln soll“. Gleichsinnig bereits Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts II (1979), S. 602 sowie 7 f. 301 GA Wahl Schlussanträge v. 12.2.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:85 Rn. 105. 302 GA Trstenjak Schlussanträge v. 29.10.2009 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 63. Vor diesem Hintergrund ist auch die Aussage von GA Wahl Schlussanträge v. 12.2.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:85 Rn. 105, zu verstehen, dass ein Eingriff in Gestalt der richterlichen Inhaltskontrolle „geeignet ist, die Vertragsfreiheit und, als deren Korollar, den freien Wettbewerb zu beeinträchtigen“. Prägnant bemerkt auch Chénedé, D. 2015, 1226 ff., ein solches „instrument de police contractuelle“ bedeute unweigerlich „l’insécurité du contrat, et donc des échanges, que l’on organise“. Ebenso z. B. Boffa, D. 2015, 335 ff. („risque d'atteinte à la sécurité des transactions et à la force obligatoire des contrats“). 303 GA Trstenjak Schlussanträge v. 29.10.2009 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 85 (Herv. d. Verf.). 299 300

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gegenwärtigen Eingriff in die Vertragsfreiheit, wohl aber zu einer verletzungsgleichen Grundrechtsgefährdung.304 Als Abwehrrecht gebietet die unionale Vertragsfreiheit allen grundrechtsverpflichteten Hoheitsträgern daher, sich solcher Freiheitsverkürzungen zu enthalten, soweit diese Eingriffe nicht ausnahmsweise gerechtfertigt werden können.305 Das Privatrecht der Union und ihrer Mitgliedstaaten darf Vertragsinhalte entsprechend nur dann pauschal überprüfen und infrage stellen, wenn dies zum Ausgleich der Vertragsfreiheiten der Vertragspartner oder aber in Ansehung anderer Ziele erforderlich ist, also insbesondere kein anderes, milderes und zugleich ebenso effektives Mittel zur Verfügung steht.306 Zudem darf die konkrete Intervention nicht außer Verhältnis zum angestrebten Zweck stehen.307 Wie bereits dargelegt,308 definiert nicht zuletzt der Vertragsund Wettbewerbsmechanismus den Rahmen sowie den Maßstab der Erforderlichkeits- und Verhältnismäßigkeitsprüfung: Grundsätzlich gilt, dass es einer Inhaltskontrolle umso weniger bedarf, je leistungsfähiger dieser Mechanismus ist.309 Auch muss im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsbetrachtungen stets die Vertragsfreiheit beider Parteien betrachtet werden, weil die „Inhaltskontrolle […] gerade […] der Herstellung praktischer Konkordanz zwischen der jeweils grundrechtlich geschützten Privatautonomie […] dient“.310 Be304 Vgl. zu diesem Ansatz mit Blick auf die Grundrechte des deutschen Grundgesetzes BVerfG Beschl. v. 8.8.1978 – Az. 2 BvL 8/77, BVerfGE 49, 89, 14: Das Verfassungsgericht führt aus, dass auch staatliche „Regelungen, die im Laufe ihrer Vollziehung zu einer nicht unerheblichen Grundrechtsgefährdung führen“ können, einem Grundrechtseingriff gleichzusetzen sind. Ebenso hebt BVerfG Beschl. v. 3.10.1979 – Az. 1 BvR 614/79, BVerfGE 52, 214, 220 im Kontext des Art. 2 GG heraus, „daß auch eine Gefährdung von Grundrechten, deren erhebliche Beeinträchtigung durch einen staatlichen Eingriff ernsthaft zu besorgen ist, in besonderen Fällen einer Grundrechtsverletzung gleichzuachten sein kann“. 305 Vgl. zu Art. 16 GRCh nur Cremer, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 1 Rn. 70. Siehe erneut oben Kapitel 3 § 1 A II 1. 306 Siehe erneut oben Kapitel 2 § 3 A III. 307 Siehe wiederum oben Kapitel 2 § 3 A III 1. 308 Siehe oben § 1 A I. 309 Siehe erneut oben § 1 A I. 310 Vgl. BVerfG Beschl. v. 7.9.2010 – Az. 1 BvR 2160/09 u. a., NJW 2011, 1339, 1340 f. sowie jüngst etwa BGH Urt. v. 20.3.2014 – Az. VII ZR 248/13, NJW 2014, 1725, 1728 und ferner Leuschner, AcP 207 (2007), 491, 509 ff. sowie 525 ff.; Oetker, AcP 212 (2012), 202, 215; Fornasier, Freier Markt und zwingendes Vertragsrecht (2013), S. 77 ff.; Wolf / Lindacher /  Pfeiffer, AGB-Recht (2013), Einl. Rn. 18a. Zu berücksichtigen ist also insbesondere auch, ob die Verwirklichung der Vertragsfreiheit einer Partei womöglich eine Materialisierung dieser Freiheit erfordert: Insoweit kann hier also die Vertragsfreiheit des einen Teils in ihrer Abwehr- und die Vertragsfreiheit des anderen Teils in ihrer Schutzpflichtendimension zu berücksichtigen sein. Ganz in diesem Sinne fordert GA Wahl Schlussanträge v. 12.2.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:85 Rn. 3 mit Blick auf die Inhaltskontrolle, dass „ein Gleichgewicht gefunden werden muss zwischen dem […] Ziel

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sonders strenge Anforderungen sind im Rahmen der Erforderlichkeits- und Verhältnismäßigkeitsprüfung sodann bei Eingriffen in den Kernbereich der unionalen Vertragsfreiheit anzulegen: Zum Wesensgehalt der Inhaltsfreiheit zählt jedenfalls die Autonomie der Parteien, die essentialia negotii des Vertrags zu definieren.311 II. Individuell ausgehandelte Vertragsbestimmungen Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, welchen Rahmen die rechtsgeschäftliche Privatautonomie der Inhaltskontrolle individuell ausgehandelter Vertragsbestimmungen steckt. Bedarf nach einem solchen generellen und undifferenzierten Korrekturmechanismus (1) besteht indes nur, wenn kein vergleichsweise milderes und ebenso wirksames Instrument verfügbar ist (2). Entsprechend kommt eine Inhaltskontrolle von Individualvereinbarungen regelmäßig nur bei typisierbarem Versagen des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus in Betracht (3). 1. Bedarf es eines pauschalen Kontrollvorbehalts? Eine pauschale Inhaltskontrolle unterliegt Bedenken, weil bei individuell ausgehandelten Verträgen im Regelfall gerade der Vertrags- und auch der Wettbewerbsmechanismus auf einen aus Sicht der Unionsrechtsordnung „richtigen“ Vertrag hinwirkt.312 Mit Blick auf das Unionsgrundrecht der Vertragsfreiheit verlangt der EuGH in der Rechtssache Alemo-Herron entsprechend nur, dass jeder Vertragsteil bei der Verhandlung und Gestaltung der Vertragsinhalte „im Rahmen eines zum Vertragsabschluss führenden Verfahrens […] seine Interessen wirksam geltend zu machen“ imstande ist.313 Dies führt zu der Frage, ob die Unionsrechtsordnung den Vertragsparteien und insbesondere Verbrauchern diese Fähigkeit zur Interessenwahrnehmung und Selbstbestimmung im Vertragsschlussverfahren per se abspricht. Eine allgemeine, auch individuell ausgehandelte Vertragsklauseln betreffende Vermutung einer kompensationsbedürftigen „Ungleichgewichtslage“ enthält indes weder das Sekundär- noch das Primärrecht der Union. Ganz im Gegenteil setzt selbst das unionale Verbraucherrecht auf mündige Konsumenten und verlangt von ihnen „Eigenverantwortung, wo es darum geht, ihre Interessen geltend zu des Verbraucherschutzes einerseits und der in Art. 4 Abs. 2 dieser Richtlinie zum Ausdruck gelangten Möglichkeit andererseits, […] die Grundsätze der Willensautonomie und der Vertragsfreiheit zu wahren“ (Herv. d. Verf.). 311 Siehe dazu bereits oben Kapitel 2 § 3 A II 2. 312 Siehe erneut oben Kapitel 3 § 3 B. 313 EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 33 (Herv. d. Verf.). Siehe ferner nur EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 68; EuGH Urt. v. 27.4.2017 – Rs. C-680/15 u.a. (Asklepios Kliniken u.a.), EU:C:2017:317 Rn. 23.

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machen“.314 Selbst das Leitbild des EU-Konsumentenvertragsrechts ist nach gefestigter Rechtsprechung des EuGH gerade der „normal informierte, angemessen aufmerksame und verständige Durchschnittsverbraucher“. 315 Ebendiese Prämisse wird man auch auf Ebene der Unionsgrundrechte zugrunde legen können, soweit es um Verkürzungen der Vertragsfreiheit – sei es nun zugunsten oder zulasten – von Konsumenten und deren Vertragspartnern geht. Dann ist aber auch ein Verbaucher kaum generell außer Stande, die Selbstbestimmungsfreiheit im Rahmen von Individualvereinbarungen seinen Interessen gemäß zu betätigen – zumal er gerade am Markt unter den Angeboten unterschiedlicher Wettbewerber wählen kann. Von der Warte des Unionsrechts aus ist daher kein Grund ersichtlich, weshalb alle auf diesem Wege privatautonom geschaffenen Vertragsbestimmungen unterschiedslos, umfassend und ohne konkreten Anlass durch den Richter inhaltlich überprüft und kassiert werden müssten. 2. Vorrang einer anlassbezogenen Individualkontrolle Übersetzt in unionsgrundrechtliche Kategorien bedeutet dies, dass eine derart lückenlose Prüfungskompetenz durch die mitgliedstaatliche Ausweitung der Inhaltskontrolle auf alle Individualvereinbarungen nicht erforderlich erscheint: Ein in Bezug auf die Vertragsfreiheit beider Parteien weniger eingriffsintensives Mittel ist nämlich die – allen Privatrechtsordnungen der EUMitgliedstaaten bekannte – anlassbezogene, konkret-individuelle Überprüfung der im Einzelnen ausgehandelten Vertragsbestimmungen. Zu denken ist hier beispielsweise an Generalklauseln, wie §§ 138, 242 BGB. Diese Normen sind als Ausnahmevorschriften zur Korrektur von „Extremabweichungen“ konzipiert und auf den konkreten Bedarfsfall ausgerichtet. Das macht einen besonderen Begründungsaufwand erforderlich, was die Schwelle für richterliche Eingriffe erhöht. Anders als bei einer undifferenzierten und unbeschränkten Inhaltskontrolle bleibt hier die von den Parteien mit dem Vertrag angestrebte Rechts- und Planungssicherheit grundsätzlich erhalten.316 Diese Interventionsform ist auch ebenso wirksam: Schließlich kann bei entsprechenden Anhaltspunkten im Einzelfall ein richterlicher Eingriff in den Vertrag erfolgen, der die Belange der betroffenen Vertragspartei wahrt. Hierdurch lassen sich insbesondere auch Fallgestaltungen sachgerecht erfassen, in denen die Funktionsfähigkeit des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus 314 Vgl. nur Europäische Kommission, Verbraucherpolitischer Aktionsplan 1999–2001, KOM(1998) 696 endg., S. 10. Auch Europäische Kommission, Verbraucherpolitische Strategie 2002-2006, KOM(2002) 208 endg., S. 6 sucht die Verbraucher lediglich in die Lage zu versetzen „ihre Interessen selbst wahrzunehmen“. 315 Z. B. EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:282 Rn. 74; EuGH Urt. v. 23.4.2015 – Rs. C-96/14 (Van Hove), EU:C:2015:262 Rn. 47. 316 Vgl. hierzu oben I.

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ausnahmsweise gestört war, etwa, weil der Betroffene geschäftlich besonders unerfahren oder in einer Notlage war und sein Vertragspartner dies gezielt ausgebeutet hat. 3. Rückausnahme bei typisierbarem Versagen des Vertrags- und Markmechanismus Der EuGH rechtfertigt den Ausschluss der Inhaltskontrolle von Individualvereinbarungen nach Art. 3 Klauselrichtlinie damit, dass eine solche „Klausel von den Vertragsparteien im Rahmen ihrer Vertragsautonomie und der Marktbedingungen ausgehandelt wurde“.317 Im Umkehrschluss verliert der Ansatz des Art. 3 Klauselrichtlinie an Überzeugungskraft, wo ausnahmsweise sowohl der Vertrags- als auch der Markt- und Wettbewerbsmechanismus in typisierbarer Weise versagen: Hier lässt sich womöglich begründen, dass eine anlassbezogene Individualkontrolle nicht ebenso effektiv ist wie eine bereichsspezifische Inhaltskontrolle, weil nicht nur vereinzelt, sondern in einer ganzen Gruppe gleichgelagerter Fälle Zweifel bestehen, ob der Vertragsinhalt Ausdruck beiderseitiger Selbstbestimmung ist. Dies gilt insbesondere dann, wenn der unionale oder der nationale Gesetzgeber mit der Inhaltskontrolle nicht nur auf der Ebene des individuellen Vertragsverhältnisses die Belange (einer) der Parteien wahren will, sondern zugleich weitergehende Ziele auf der institutionellen Ebene verfolgt, wie etwa den Ausschluss einer als gesamtwirtschaftlich oder -gesellschaftlich nachteilig bewerteten Vertragspraxis. 318 Hierbei muss die Inhaltskontrolle von Individualvereinbarungen sachlich jedoch auf die konkrete Fallgruppe beschränkt werden, in der bei typisierender Betrachtung der Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus zu versagen droht. Anders ausgedrückt, werden immer nur bereichs- oder auch fallgruppenspezifische Ausprägungen dieser Form der Inhaltskontrolle erforderlich sein. Vor allem muss der Eingriff stets den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wahren. Die Anforderungen an den Korrekturvorbehalt sind dabei umso höher, je stärker die Inhaltskontrolle in den Kernbereich der unionalen Vertragsfreiheit eingreift und damit insbesondere die essentialia negotii betrifft. Diese Zusammenhänge werden an späterer Stelle anhand des Art. 7 Zahlungsverzugsrichtlinie sowie am Beispiel der Inhaltskontrolle nach deutschem, französischem und spanischem Recht noch eingehend untersucht.319 III. Inhaltskontrolle der essentialia negotii Vertragsbestimmungen, welche die Hauptleistungspflichten, einschließlich des Verhältnisses von Preis- und Leistung festlegen, nimmt jeder Verbraucher 317 318 319

EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:282 Rn. 47 f. Siehe zu einem Beispielsfall sogleich unten III. Dazu sogleich unten C I und C II.

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auch dann genau zur Kenntnis und macht sie zur Grundlage seiner Vertragsentscheidung, wenn sie in AGB-Klauseln enthalten sind.320 Wie bereits ausführlich dargelegt,321 vermag der Konsument in Bezug auf dieses Herzstück des Vertrags „im Rahmen eines zum Vertragsabschluss führenden Verfahrens […] seine Interessen wirksam geltend zu machen“:322 Ein solches Verfahren hält hier der Markt- und Wettbewerbsmechanismus bereit, da der Verbraucher seine Abschluss- und Kontrahentenwahlfreiheit so lange betätigen kann, bis er einen Vertragspartner am Markt gefunden hat, der für ihn akzeptable Vertragsbedingungen betreffend Preis und Leistung anbietet.323 Ist die Transparenz dieser Klauseln gewährleistet, wird durch die Auswahl des Vertragspartners unter Wettbewerbsbedingungen zugleich die Vertragsinhaltsfreiheit betätigt. Insgesamt ist es daher auch und gerade dem vom EuGH zum Leitbild gewählten mündigen und selbstverantwortlichen „Durchschnittsverbraucher“324 regelmäßig möglich, alle zum Kernbereich zählenden Facetten seiner unionalen Vertragsfreiheit zu entfalten.325 Dank des Markt- und Wettbewerbsmechanismus ist die „Richtigkeit“ des Vertragsergebnisses der Regelfall, die Kontrollbedürftigkeit hingegen eine Ausnahme. Vor diesem Hintergrund besteht aus Sicht des Unionsrechts in dieser Konstellation ebenfalls kein Bedarf nach einer generellen Kontrolle aller auf diesem Wege zum Vertragsinhalt erhobenen Klauseln, welche die Hauptleistungspflichten transparent festlegen.326 Die lückenlose Inhaltskontrolle solcher Klauseln ist also wiederum nicht erforderlich, weil die anlassbezogene, konkret-individuelle Überprüfung solcher Vertragsinhalte einerseits ebenso wirksam und andererseits weitaus schonender für die Vertragsfreiheit der ParAnders ausgedrückt, ist also davon auszugehen, dass jeder „Durchschnittskunde der Vereinbarung über die Hauptleistung mehr Aufmerksamkeit widmet als den Nebenpunkten“, vgl. nur BGH Urt. v. 19.9.1985 – Az. III ZR 213/83, NJW 1986, 46, 48; BGH Urt. v. 24.11.1988 – Az. III ZR 188/87, NJW 1989, 222, 223. Dazu statt vieler Stoffels, JZ 2001, 843, 847 ff. 321 Siehe dazu oben Kapitel 3 § 3 A I und oben Kapitel 3 § 3 B I. 322 Siehe zu dieser aus der unionalen Vertragsfreiheit folgenden Anforderung erneut EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 33. Siehe auch EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 68; EuGH Urt. v. 27.4.2017 – Rs. C-680/15 u.a. (Asklepios Kliniken u.a.), EU:C:2017:317 Rn. 23. 323 Siehe oben Kapitel 3 § 3 B II. 324 Z. B. EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:282 Rn. 74; EuGH Urt. v. 23.4.2015 – Rs. C-96/14 (Van Hove), EU:C:2015:262 Rn. 47. 325 Entsprechend sieht GA Trstenjak Schlussanträge v. 29.10.2009 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 65 die Funktion des Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie gerade in der „Wahrung eines Kernbereichs der Privatautonomie“. 326 Anders liegt der Fall freilich bei Klauseln, welche die Berechnung des Preises betreffen, oder aber bei Nebenbestimmungen, die den Wert der vertraglichen Hauptleistung herabzusetzen oder sogar vollständig auszuhöhlen geeignet sind, siehe erneut oben Kapitel 4 § 3 D I 2. 320

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teien ist. Besondere Zurückhaltung ist hier auch schon deshalb geboten, weil mit den Hauptleistungspflichten der Kernbereich der unionalen Vertragsfreiheit betroffen ist: Schließlich gebietet die unionale Vertragsfreiheit, „dass der Kern des Vertragsverhältnisses (die essentialia negotii), sobald er einmal in klaren und verständlichen Worten festgelegt worden ist, nicht mehr beeinträchtigt [wird]“.327

Eine von Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie abweichende Inhaltskontrolle ist daher mit der unionalen Vertragsfreiheit nicht vereinbar, wenn durch einen allgemeinen „Korrekturvorbehalt“ pauschal und undifferenziert alle vom Parteiwillen erfassten Hauptleistungsgegenstände infrage gestellt werden.328 Unter Erforderlichkeitsgesichtspunkten ist hier die Beschränkung auf eine anlassbezogene, konkret-individuelle Korrektur mithilfe von Generalklauseln angezeigt. Eine Rückausnahme von diesem unionsgrundrechtlich fundierten Verbot eines umfassenden inhaltlichen Kontrollvorbehalts der essentialia negotii ist gerade aufgrund der Kernbereichsrelevanz dieser Vertragselemente mit Bedacht zu erwägen. Dies gilt umso mehr, als insbesondere eine allgemeine Kontrolle des Preis-Leistungs-Verhältnisses in einer dem freien Wettbewerb auf offenen Märkten verpflichteten Rechtsordnung kaum mit dem Argument zu begründen ist, dass der Vertrags- und Marktmechanismus generell oder auch nur in einer Vielzahl von Fällen in typisierbarer Weise versagt. Eine solche Kontrolle der Hauptleistung, des Preises sowie des Äquivalenzverhältnisses kommt daher allenfalls bereichsspezifisch in eng umgrenzten Fallgruppen in Betracht. Da der Wesensgehalt unionaler Vertragsfreiheit betroffen ist, bedarf es zudem besonders zwingender Rechtfertigungsgründe sowie einer strikten Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Vor diesem Hintergrund ist der Leitsatz des EuGH in der Rechtssache Caja de Ahorros zumindest missverständlich, da er diese Erfordernisse der unionalen Vertragsfreiheit gänzlich ignoriert und – in dieser Allgemeinheit nicht zutreffend – suggeriert, dass Art. 4 Abs. 2 und Art. 8 Klauselrichtline „einer nationalen Regelung […] nicht entgegenstehen, die eine richterliche Missbrauchskontrolle von Vertragsklauseln, die den Hauptgegenstand des Vertrags bzw. das angemessene Verhältnis zwischen dem Preis bzw. dem Entgelt und den die Gegenleistung darstellenden Dienstleistungen bzw. Gütern regeln, zulässt, auch wenn diese Klauseln klar und verständlich abgefasst sind“.329

327 GA Wahl Schlussanträge v. 12.2.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:85 Rn. 33. Ähnlich GA Trstenjak Schlussanträge v. 29.10.2009 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 65. 328 Siehe zur Gewährleistung der Vertragsfreiheit im Rahmen des deutschen Grundgesetzes schon Canaris, NJW 1987, 609, 613; ders., FS Lerche (1993), S. 873, 887. Ebenso mit Blick auf das Unionsrecht Riesenhuber, GS Wolf (2011), S. 123, 132 ff. und 136. 329 EuGH Urt. v. 3.6.2010 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 50.

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C. Folgen für die pauschale Inhaltskontrolle im Schuldvertragsrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten Die unionale Vertragsfreiheit erfordert zunächst eine unionsgrundrechtskonforme Auslegung und Anwendung jener mitgliedstaatlichen Vorschriften, die entgegen Art. 3 und Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie auch individuell ausgehandelte Vertragsinhalte sowie die essentialia negotii unter einen allgemeinen Kontrollvorbehalt stellen (I). Darüber hinaus ist selbstverständlich auch die unionsrechtlich fundierte Inhaltskontrolle von Individualvereinbarungen nach Art. 7 Zahlungsverzugsrichtlinie bzw. § 271a, § 286 Abs. 5 BGB an der Vertragsfreiheit zu messen (II). I. Vertragsfreiheitskonforme Handhabung der mitgliedstaatlichen Inhaltskontrolle Vor dem Hintergrund des unionsrechtlichen Rahmens sind nun Rechtsordnungen in den Blick zu nehmen, die über das Regelungsniveau der Klauselrichtlinie hinausgehen. So gestattet beispielsweise das französische Schuldrecht eine Inhaltskontrolle individuell ausgehandelter Vertragsbestimmungen, und nach dem Wortlaut der spanischen Regelungen können sogar die essentialia negotii umfassend überprüft werden (1).330 Eine solche im Vergleich zu Art. 3 und Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie „überschießende“ Inhaltskontrolle ist indes nur mit den „Verträgen“ im Sinne des Art. 8 Klauselrichtlinie vereinbar, wenn sie vertragsfreiheitskonform gehandhabt wird (2). Daraus ergeben sich nicht zuletzt auch Schlussfolgerungen für die Klauselkontrolle nach deutschem Recht und insbesondere die – oftmals verkannte – unionsrechtliche Überformung des § 307 Abs. 3 BGB (3). 1. Beispiele für die Kontrolle von Individualvereinbarungen und der essentialia negotii In Frankreich findet sich die maßgebliche Regelung der Inhaltskontrolle von Verträgen in Art. L 212-1 Code de la consommation. Art. L 212-1 al. 3 Code de la consommation nimmt die essentialia negotii des Vertrags von einer Inhaltskontrolle aus: Eine Inhaltskontrolle der essentialia negotii erlaubt abweichend von Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie z. B. auch das luxemburgische Recht nach Art. L. 211-2 ff. Code de la consommation. Ebenso verhält es sich im dänischen, schwedischen und finnischen Recht, siehe nur Bericht der Kommission über die Anwendung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über Mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, KOM(2000) 248, S. 16 f. Siehe ferner Ranieri, Europäisches Obligationenrecht (2009), S. 423 f. m. w. N. Siehe zur Frage der Kontrolle von Individualvereinbarungen Grünbuch der Kommission v. 8.2.2007 zur Überprüfung des gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz, KOM(2006) 744 endg., S. 20 f. 330

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„L’appréciation du caractère abusif des clauses au sens du premier alinéa ne porte ni sur la définition de l‘objet principal du contrat ni sur l‘adéquation du prix ou de la rémunération au bien vendu ou au service offert“.331

Dieser Ansatz ist auch bei der Verankerung der Klauselkontrolle im Code civil und der Ausweitung auf Nicht-Verbraucherverträge im Zuge der Reform des französischen Schuldrechts gewählt worden.332 Sodann unterscheidet Art. L 212-1 al. 6 Code de la consommation nicht zwischen einseitig gestellten Klauseln auf der einen und individuell durch die Parteien ausgehandelten Vertragsbestimmungen auf der anderen Seite: „Ces dispositions sont applicables quels que soient la forme ou le support du contrat. Il en est ainsi notamment des bons de commande, factures, bons de garantie, bordereaux ou bons de livraison, billets ou tickets, contenant des stipulations négociées librement ou non ou des références à des conditions générales préétablies“.333

Indem sie die Inhaltskontrolle auch auf Individualvereinbarungen erstreckt, geht diese Vorschrift über die sekundärrechtlichen Vorgaben in Art. 3 Abs. 1, Abs. 2 Klauselrichtlinie hinaus und hat daher vielstimmige Kritik erfahren.334 Weder die Vorschrift selbst noch ihre Handhabung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung sind indes bislang auf den Prüfstand des Unionsrechts gestellt worden.335 Dabei wirft gerade die pauschale und vor allem unwiderlegliche Vermutung der Missbräuchlichkeit nach Art. R 212-1 die dringende 331 Siehe hierzu nur Cass. 1re civ. v. 13.12.2012 – n° 11-27.631, D. 2013, 6; Cass. 1re civ. v. 3.6.2015 – n° 14-13.193, D. 2015, 1269. Siehe auch Sauphanor-Brouillaud, in: Rép. dr. civ. (2016), Clauses abusives Rn. 45: „L’exclusion de la définition de l‘objet du contrat respecte quant à elle la liberté contractuelle“. 332 Art. 1171 Code civil lautet: „Dans un contrat d’adhésion, toute clause qui crée un déséquilibre significatif entre les droits et obligations des parties au contrat est réputée non écrite. L’appréciation du déséquilibre significatif ne porte ni sur l’objet principal du contrat ni sur l’adéquation du prix à la prestation“. Vormals sind missbräuchliche Vertragsklauseln im unternehmerischen Verkehr durch eine extensive Lesart des Art. 1162 Code civil a. F. im Einzelfall kassiert worden, dazu statt aller Chénedé, D. 2015, 1226 ff. m. w. N. 333 Demgegenüber erstreckt sich die Klauselkontrolle nach Art. 1171 nur auf den „contrat d’adhésion“ im Sinne des Art. 1110 al. 2, nicht hingegen auf den „contrat de gré à gré […] dont les stipulations sont librement négociées entre les parties“, vgl. Art. 1110 al. 1 Code civil Allerdings eröffnet Art. 1170 Code civil bei Nicht-Verbraucherverträgen eine Inhaltskontrolle auch für individuell ausgehandelte Klauseln, welche die – ihrerseits kontrollfreie – Hauptleistungspflicht aushöhlt: „Toute clause qui prive de sa substance l‘obligation essentielle du débiteur est réputée non écrite“. Kritisch zu dieser Überschneidung der Regelungsbereiche von Art. 1170 und Art. 1171 Code civil Chénedé, D. 2015, 1226 ff. 334 Dazu statt vieler Terré / Simler / Lequette, Droit civil – Les obligations (2013), Rn. 321 und 324; Fages, Droit des Obligations (2013), Rn. 185; Sauphanor-Brouillaud, in: Rép. dr. civ. (2016), Clauses abusives Rn. 34. 335 Zumindest andeutungsweise kritisch auch Wolf / Lindacher /  Pfeiffer, AGB-Recht (2013), Art. 8 Klauselrichtlinie Rn. 22.

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Frage nach der Vereinbarkeit des Art. L 212-1 al. 1 Code de la consommation mit der unionalen Vertragsfreiheit auf. 336 Im spanischen Schuldvertragsrecht nehmen weder die zur Umsetzung der Klauselrichtlinie ergangene Ley 7/1998 v. 13.4.1998 Sobre Condiciones Generales de la Contratación337 noch andere Regelungen die essentialia negotii von der Inhaltskontrolle aus.338 Nachdem die spanische Rechtsprecheung ebenso wie das Schrifttum Zweifel an der Vereinbarkeit dieser Regelung mit dem Unionsrecht und insbesondere Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie geäußert hatte,339 ist diese Frage in dem Vorabentscheidungsverfahren Caja de Ahorros an den EuGH herangetragen worden.340 Der Gerichtshof hat eine solche von Art. 4 Abs. 2 abweichende nationale Regelung indes unter Verweis auf Art. 8 Klauselrichtlinie gebilligt, ohne auf die unionsgrundrechtlich gewährleistete Vertragsfreiheit einzugehen.341 Diese Bewertung der pauschalen und undifferenzierten Inhaltskontrolle nach spanischem Recht bedarf indes ebenso wie die Rechtslage in Frankreich einer kritischen Überprüfung. 2. Einschränkung der Inhaltskontrolle im Lichte unionaler Vertragsfreiheit Mitgliedstaatliche Regelungen, die abweichend von Art. 3 und Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie auch Individualvereinbarungen und die Hauptleistungspflichten eines Vertrags einer pauschalen richterlichen Kontrolle unterwerfen, fallen deshalb in den Anwendungsbereich des Unionsrechts, weil Art. 8 Klauselrichtlinie eine solche „überschießende“ Inhaltskontrolle nur zulässt, soweit diese mit den „Verträgen“ vereinbar ist.342 Den Kontrollmaßstab bilden damit Dazu sogleich näher unten 2. BOE n° 89 v. 14.4.1998, S. 12304. 338 In Spanien sind die Regelungen zur Inhaltskontrolle auf drei Gesetzte verstreut: Neben die Ley sobre Condiciones Generales de la Contratación tritt die Ley General para la Defensa de los Consumidores y Usuarios sowie im Versicherungsvertragsrecht die Ley de Contrato de Seguro, siehe hierzu nur Trillmich, Klauselkontrolle nach spanischem Recht (2009), S. 88 ff. und 105 ff.; Blendel, Die Ausnahme des Hauptvertragsgegenstands und der Angemessenheit von Preis und Leistung von der Inhaltskontrolle (2014), S. 130 ff. 339 Siehe die fundierte Kritik bei Trillmich, Klauselkontrolle nach spanischem Recht (2009), S. 411 ff. sowie Blendel, Die Ausnahme des Hauptvertragsgegenstands und der Angemessenheit von Preis und Leistung von der Inhaltskontrolle (2014), S. 132 ff., dort jeweils m. w. N. 340 Vgl. EuGH Urt. v. 3.6.2010 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 10 ff. 341 Siehe EuGH Urt. v. 3.6.2010 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 50 und insbesondere auch Rn. 45 ff., wo der Gerichtshof lediglich anmerkt, dass die – vom vorlegenden Gericht wohl als Standort der Privatautonomie im Unionsrecht angeführten – Art. 2 und Art. 4 Abs. 1 EGV nur „Ziele und allgemeine Grundsätze enthalten […] und […] daher für sich genommen keine klaren und unbedingten rechtlichen Pflichten der Mitgliedstaaten begründen“. 342 Siehe erneut oben A II. 336 337

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die Unionsgrundrechte einschließlich der Vertragsfreiheit. Wie gezeigt, steht die unionale Vertragsfreiheit einer undifferenzierten und anlasslosen Inhaltskontrolle im Sinne eines totalen „Kontrollvorbehalts“ entgegen.343 Damit ist sowohl mit Blick auf die Bestimmungen des Code de la consommation als auch auf diejenigen der Ley Sobre Condiciones Generales de la Contratación eine unionsgrundrechtskonforme restriktive Auslegung und Anwendung der jeweiligen nationalen Vorschriften angezeigt: Die Inhaltskontrolle von Individualvereinbarungen nach französischem Recht sowie die Kontrolle der essentialia negotii nach spanischem Recht darf im Lichte der unionalen Vertragsfreiheit grundsätzlich nur konkret-anlassbezogen erfolgen, sofern hinreichende Anhaltspunkte für „Extremabweichungen“ vom vertraglichen Normalfall vorliegen.344 Dies schließt eine Erstreckung der Inhaltskontrolle auf bestimmte Regelungsbereichs- und Fallgruppen nicht aus, soweit diese Kontrollform ausnahmsweise aufgrund eines typisierbaren Versagens des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus oder zur Erreichung besonders gewichtiger ordnungspolitischer Ziele erforderlich ist.345 Angesichts der hiermit verbundenen Verkürzung der Vertragsfreiheit beider Parteien muss diese Form der Inhaltskontrolle stets den Verhältnismäßigkeitsanforderungen genügen. Dies gilt in besonderem Maße, wenn in bestimmten Sachmaterien der Hauptgegenstand, der Preis sowie das Äquivalenzverhältnis einer umfassenden richterlichen Inhaltskontrolle unterzogen werden, da hier der Kernbereich der Vertragsfreheit berührt ist.346 Hieran schließt sich die Frage an, ob sowohl die französische als auch die spanische Rechtsordnung diesen Anforderungen genügen. Siehe erneut oben B II und B III. Siehe erneut oben B II 3. 345 Siehe erneut oben B II 3. 346 Dies trifft z. B. auf die sogenannte „Mietpreisbremse“ zu: Weil die Klauselrichtlinie – und damit ihr Art. 8 – in sachlicher Hinsicht auch Wohnraummietverträge zwischen dem gewerblich handelnden Vermieter und einem Verbraucher als Mieter erfasst, können pauschale Inhaltskontrollen betreffend die Miethöhe grundsätzlich in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen. Damit wären solche Bestimmungen nicht nur an der nationalen, sondern gerade auch an der unionalen Verbürgung der Vertragsfreiheit zu messen. Eine derartige, von Art. 3 bzw. Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie abgehende Inhaltskontrolle der individualvertraglich oder in AGB festgelegten Miethöhe sieht neben dem deutschen auch das französische Recht vor, vgl. einerseits nur § 556d ff. BGB und andererseits Art. 17 al. 2 Loi n° 89-462 du 6 juillet 1989 tendant à améliorer les rapports locatifs. Siehe zur grundrechtlichen und insbesondere vertragsfreiheitsrechtlichen Dimension solcher Preiskontrollen wiederum EGMR Urt. v. 28.1.2014 – Nr. 30255/09 (Bittó / Slovakia), Rn. 97 f. und 101 („the conditions for reducing the rent received by individual landlords and the extent of the State’s interference with freedom of contract and contractual relations in the rental market“); Cons. const. DC v. 20.3.2014 – n° 2014-691, JORF 2014, 5925 Rn. 25 f. („[L]e législateur a […] ainsi porté à […] la liberté contractuelle une atteinte disproportionnée à l’objectif poursuivi“). 343 344

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a) Frankreich: Fragwürdigkeit unwiderleglicher Missbräuchlichkeit von Individualvereinbarungen Individuell durch einen Verbraucher und einen Unternehmer ausgehandelte Vertragsbestimmungen unterliegen nach französischem Recht einer vollumfänglichen Inhaltskontrolle gemäß Art. L 212-1 al. 1 Code de la consommation. In der Vergangenheit ist dabei durchaus zwischen der Kontrolle von Individualvereinbarungen einerseits und einseitig gestellten AGB andererseits differenziert worden: So sollte nur im Fall von nicht im Einzelnen ausgehandelten Klauseln ein Missbrauch der „puissance économique“ des Klauselverwenders vermutet werden können. 347 In Frankreich ist jedoch im Jahre 2009 durch Art. R 212-1 Code de la consommation eine – an den Anhang zur Klauselrichtlinie angelehnte – Liste eingeführt worden, welche die Missbräuchlichkeit von zwölf näher beschriebenen Klauselgestaltungen unwiderlegbar festlegt. Dies hat zur Folge, dass auch individuell ausgehandelte Vertragsbestimmungen schon deshalb per se durch die Gerichte zu kassieren sind, weil sie einer der Kategorien des Art. R 212-1 Code de la consommation unterfallen.348 Die Liste der verbotenen „clauses noires“ umfasst dabei Klauseln, die im Einzelfall aus Sicht beider Parteien durchaus sinnvoll sein können: So mag ein Verbraucher gerade bewusst und gezielt bestimmte Entscheidungen, etwa über die Dauer der erforderlichen Tätigkeit, die Eigenschaften der zu liefernden Sache oder die Natur der zu erbringenden Dienstleistung, allein dem Unternehmer überlassen und diesem deshalb nachträgliche Änderungen des Vertrags ermöglichen wollen.349 Hier wäre dem Unternehmer entsprechend individualvertraglich das Recht einzuräumen, den Vertrag einseitig anzupassen, etwa, was die Laufzeit und den Leistungsgegenstand anbelangt. Selbst wenn ein Verbraucher sich ein solches „Rundum-Sorglospaket“ individuell aushandelt, sind die betreffenden Vertragsklauseln gemäß Art. L 212-1 al. 1 i.V.m. Art. R 212-1 n° 3, 4 und 8 Code de la consommation pauschal als missbräuchlich und damit als unwirksam zu behandeln. Dieser undifferenzierte Automatismus läuft auf eine ebenso anlasslose wie umfassende Vgl. Terré / Simler / Lequette, Droit civil – Les obligations (2013), Rn. 324. Vgl. dazu z. B. Cass. 1er civ. v. 6.1.1994 – n° 91-19.424, JCP 1994 II, 22237. Siehe auch Witz /  Wolter, ZEuP 1995, 885, 888. 348 Vgl. zur Vorläuferregelung des Art. R 212-1 Code de la consommation z.Β. CA Grenoble 1er civ. v. 13.1.2014 – n° 08/04572 (Dalloz): „Il importe peu […] que le contrat attaqué soit un contrat d‘adhésion ou un contrat négocié puisque selon les termes de l‘article R 132-1 § 4 du code de la consommation, les juridictions ont la possibilité d‘apprécier les clauses des contrats proposés aux consommateurs ‚quelle que soit la forme du support de contrat‘ et celui-ci ‚contenant des stipulations négociées librement ou non‘“. 349 Zu denken ist etwa an komplexe Sanierungsarbeiten oder an die Einrichtung einer Wohnung durch den Unternehmer, sofern der Verbraucher ein „Rundum-Sorglospaket“ dergestalt wünscht, dass er alle Entscheidungen gezielt an den Unternehmer delegiert. 347

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Inhaltskontrolle hinaus, die kaum mit den Anforderungen der unionalen Vertragsfreiheit übereinzubringen ist. Wie gezeigt, ist grundsätzlich eine individuell-konkrete Betrachtung angezeigt und nur in Ausnahmefällen eine bereichs- und fallgruppenspezifische Inhaltskontrolle überhaupt erforderlich.350 In den von Art. R 212-1 Code de la consommation erfassten Konstellationen liegt indes weder ein typisierbares Versagen des Markt- und Wettbewerbsmechanismus noch eine Vertragspraxis vor, die per se als gesamtwirtschaftlich oder -gesellschaftlich nachteilig zu werten wäre.351 Mit der Europäischen Kommission mag man sich nun auf den Standpunkt zurückziehen, dass in der Praxis (bislang) keine überbordende Inhaltskontrolle von Individualvereinbarungen zu beobachten ist.352 Diese Lesart lässt indes außer Acht, dass die Möglichkeit und – in Anbetracht der Ausgestaltung des Art. R 212-1 Code de la consommation – sogar die Pflicht zur Kontrolle und Kassation bestimmter individuell ausgehandelter Klauseln das Unionsgrundrecht der Vertragsfreiheit konkret und in eingriffsgleicher Weise gefährdet.353 Vor diesem Hintergrund scheint eine gesetzgeberische Eingrenzung des Art. R. 212-1 Code de la consommation auf einseitig gestellte AGB-Klauseln angezeigt.354 Bis dahin sind die französischen Gerichte verpflichtet, die betreffenden Normen im Lichte der unionalen Vertragsfreiheit restriktiv dahingehend auszulegen, dass individuell vereinbarte Bestimmungen nicht pauschal als missbräuchlich kassiert, sondern vielmehr einer anlassbezogenen Einzelfallkontrolle unterzogen werden.355 Siehe oben B II. Von der Warte des Unionsrechts lässt sich in diesem Zusammenhang auch Art. 3 Abs. 3 sowie der Anhang zur Klauselrichtlinie ins Feld führen, wonach die in der Liste der „clauses noires“ des Art. R 212-1 Code de la consommation aufgeführten Klauseln nur als „Hinweise“ dienen und daher lediglich „für mißbräuchlich erklärt werden können“ – nicht aber müssen. 352 Vgl. bereits Bericht der Kommission über die Anwendung der Richtlinie 93/13/ EWG des Rates vom 5. April 1993 über Mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, KOM(2000) 248, S. 16 f.; Grünbuch der Kommission v. 8.2.2007 zur Überprüfung des gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz, KOM(2006) 744 endg., S. 20 f. 353 Vgl. erneut oben B I. Ähnliche Überlegungen sind darüber hinaus wohl auch mit Blick auf das luxemburgische Recht und namentlich Art. L 211-2 f. Code de la consommation anzustellen, soweit Art. L 211-3 Code de la consommation seinem Wortlaut nach eine „schwarze Liste“ von 24 Klauseln enthält („Sont notamment à considérer comme abusives“). 354 Terré / Simler / Lequette, Droit civil – Les obligations (2013), Rn. 326 erwägen auch darüber hinaus, „[d‘]annuler les listes des clauses établissant des proscriptions abstraites indifférents à l’équilibre du contrat“. 355 Eine restriktive Auslegung nimmt z. B. auch die CA Grenoble 1er civ. v. 22.11.2010 – n° 09/02931 (Dalloz), vor, indem sie eine vom Wortlaut des Art. R. 212-1 Code de la consommation grundsätzlich erfasste Klausel dennoch unter Berücksichtigung anderer Wertungen beurteilt (hier: Art. L 131-71 Code monétaire et financier). Vgl. dagegen aber z. B. auch CA Grenoble 1er civ. v. 13.1.2014 – n° 08/04572 (Dalloz). 350 351

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b) Spanien: Vertragsfreiheitskonforme Begrenzung der Inhaltskontrolle durch das Tribunal Supremo Nicht zuletzt im Gefolge der EuGH-Entscheidung in der Rechtssache Caja de Ahorros356 barg die Entwicklung des spanischen Schuldvertragsrechts besondere Sprengkraft: Zunächst hatte das Tribunal Supremo unter dem Eindruck der Judikatur des EuGH angedeutet, eine anlasslose, unbegrenzte und undifferenzierte Inhaltskontrolle der vertraglichen Hauptleistungspflichten, einschließlich des Preises, in Betracht zu ziehen.357 Unterinstanzliche spanische Gerichte haben daher wiederholt die essentialia negotii zum Gegenstand der Inhaltskontrolle gemacht.358 Mittlerweile trägt das Tribunal Supremo dem Kernbereich unionaler Vertragsfreiheit durch seine Lesart der spanischen Vorschriften zur Inhaltskontrolle Rechnung: Namentlich stellt das Gericht heraus, dass weder eine allgemeine Preiskontrolle noch eine generelle Äquivalenzkontrolle stattfinden darf.359 Das Tribunal Supremo bringt das spanische System der Inhaltskontrolle auch im Übrigen mit den Anforderungen der unionalen Vertragsfreiheit überein, indem es die vertraglichen Hauptleistungspflichten prinzipiell kontrollfrei stellt: So entspricht es nunmehr der gefestigten Rechtsprechung, „que una condición general defina el objeto principal de un contrato y que, como regla, no pueda examinarse la abusividad de su contenido“.360

EuGH Urt. v. 3.6.2010 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 10 ff. Unmittelbar im Anschluss an das Urteil des EuGH verweist z. B. Tribunal Supremo Urt. v. 1.7.2010 n° 401/2010 – RC 1762/2006 Rn. 72 ff. und insbesondere Rn. 74 ohne weitere Einschränkungen darauf, dass die Umsetzung des Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie in Spanien unterblieben ist und eine Inhaltskontrolle daher auch insofern gangbar sei: „La norma nacional no ha traspuesto el artículo 4.2 de la Directiva, y al tratar de las cláusulas abusivas la legislación de consumo no diferencia entre las cláusulas referidas a la definición del objeto principal del contrato y a la adecuación entre precio y contrapartida por un lado, y la cláusulas con otro contenido por otro“. 358 Einen kritischen Überblick bieten z. B. Camara Lapuente, FS Stuyck (2013), S. 581, 596 ff.; Blendel, Die Ausnahme des Hauptvertragsgegenstands und der Angemessenheit von Preis und Leistung von der Inhaltskontrolle (2014), S. 142 ff. und 152 ff., dort jeweils m. w. N. 359 Z. B. Tribunal Supremo Urt. v. 18.6.2012, n° 406/2012 – RC 46/2010 Rn. II 2 („que no se da un control de precios, ni del equilibrio de las prestaciones propiamente dicho“); Tribunal Supremo Urt. v. 9.5.2013, n° 241/2013 – RC 485/2012 Rn. 195 („no cabe un control de precio […] como regla no cabe el control de su equilibrio“); Tribunal Supremo Urt. v. 24.3.2015, n° 138/2015 – RC 1765/2013 Rn. III 3; Tribunal Supremo Urt. v. 23.12.2015, n° 705/2015 – RC 2658/2013 Rn. IV 2. 360 Grundlegend Tribunal Supremo Urt. v. 9.5.2013, n° 241/2013 – RC 485/2012 Rn. 197, das hier – wie durch Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie vorgegeben – nur in eine Transparenzkontrolle einsteigt. Siehe in der Folge nur Tribunal Supremo Urt. v. 24.3.2015, n° 138/2015 – RC 1765/2013 Rn. III 3; Tribunal Supremo Urt. v. 23.12.2015, n° 705/2015 356 357

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Dieser Linie folgen nunmehr auch die unterinstanzlichen Gerichte.361 Obwohl der EuGH in der Rechtssache Caja de Ahorros gerade mit Blick auf das spanische Zivilrecht eine zumindest missverständliche Interpretation der Art. 4 Abs. 2 und Art. 8 Klauselrichtlinie zugrunde gelegt hatte,362 trägt die spanische Rechtsordnung der unionalen Vertragsfreiheit nun bei der Inhaltskontrolle vollauf Rechnung. 3. Auswirkungen i.R.d. § 307 Abs. 3 S. 1 BGB: Das Beispiel der Differenzierung zwischen Preisvereinbarungen und Preisnebenabreden Der deutsche Gesetzgeber hat bekanntlich weder in § 8 AGBG noch in § 307 Abs. 3 S. 1 BGB den Hauptleistungsgegenstand sowie das Preis-LeistungsVerhältnis explizit von der Inhaltskontrolle ausgenommen: Eine am Wortlaut des Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie orientierte Gestaltung des § 307 Abs. 3 BGB ist im Zuge der Schuldrechtsmodernisierung verworfen worden.363 Freilich erstreckt sich die Inhaltskontrolle nach der ständigen Rechtsprechung des BGH nicht auf den

– RC 2658/2013 Rn. IV 2. Dafür plädierte bereits zuvor mit überzeugenden Argumenten z. B. Camara Lapuente, FS Stuyck (2013), S. 581, 613. 361 Neben den Entscheidungen Audiencia provincial de Madrid 9ª v. 17.9.2013 – 381/ 2013, JUR\2013\313628; Audiencia provincial de Barcelona 13ª v. 14.2.2013 – 69/2013, JUR\2013\130897; Audiencia provincial de Barcelona 13ª v. 26.3.2013 – 180/2013, JUR\ 2013\188059, finden sich umfangreiche weitere Nachweise in Resolución de 22 de julio de 2015, de la Dirección General de los Registros y del Notariado, en el recurso interpuesto contra la nota de calificación del registrador de la propiedad de Logroño n.º 2, por la que se suspende la inscripción de una escritura de préstamo hipotecario concedido por los recurrentes, por razón de existir cláusulas abusivas, en concreto un tipo de interés ordinario excesivo y una desproporcionada retención de cantidades del capital concedido, BOE n° 229 v. 24.9.2015, 85946, 85949. 362 Siehe erneut EuGH Urt. v. 3.6.2010 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I4785 Rn. 50: „Art. 4 Abs. 2 und Art. 8 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegenstehen, die eine richterliche Missbrauchskontrolle von Vertragsklauseln, die den Hauptgegenstand des Vertrags bzw. das angemessene Verhältnis zwischen dem Preis bzw. dem Entgelt und den die Gegenleistung darstellenden Dienstleistungen bzw. Gütern regeln, zulässt, auch wenn diese Klauseln klar und verständlich abgefasst sind“. 363 Die Entwurfsfassung des § 307 Abs. 3 BGB lautet auszugsweise: „Die Absätze 1 und 2 dieser Vorschrift gelten nicht für Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, die […] den Gegenstand der Hauptleistungen unmittelbar festlegen (Leistungsbeschreibungen) oder […] Art und Umfang der geschuldeten Vergütung unmittelbar regeln (Preisvereinbarungen)“. Zu Recht kritisch z. B. Stoffels, JZ 2001, 843, 849; Kötz, ZEuP 2012, 339, 342 f.

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„Bereich der Leistungsbezeichnungen, ohne deren Vorliegen mangels Bestimmtheit oder Bestimmbarkeit des wesentlichen Vertragsinhalts ein wirksamer Vertrag nicht mehr angenommen werden kann“.364

Ebenso soll ausweislich der Erwägungen des deutschen Gesetzgebers keinerlei „Preiskontrolle“ stattfinden.365 Diese Einschränkungen des Kontrollumfangs, sowohl in Bezug auf den unmittelbaren Hauptleistungsinhalt als auch im Hinblick auf den Preis bzw. das Äquivalenzverhältnis, werden mit der Vertragsfreiheit gerechtfertigt.366 Dem ist nach den bislang gewonnenen Erkenntnissen insoweit zuzustimmen, als hier gerade die unionale Vertragsfreiheit einer allgemeinen Inhaltskontrolle der essentialia negotii Grenzen setzt: Jede von Art. 4 Abs. 2 abgehende mitgliedstaatliche Form der Inhaltskontrolle ist angesichts der Einschränkung in Art. 8 Klauselrichtlinie auf primärrechts- und damit vertragsfreiheitskonforme Ausgestaltungen beschränkt. Hieraus folgt, dass die Handhabung des § 307 Abs. 3 S. 1 BGB durch deutsche Gerichte sehr wohl am Maßstab des Unionsrechts zu messen und in Zweifelsfällen ein Vorabentscheidungsverfahren zum EuGH anzustrengen ist. 367 Dies gilt umso mehr, als der Gerichtshof zum einen in seiner Caja de Ahorros-Entscheidung gerade kein Wort über die vertragsfreiheitskonforme Auslegung von Art. 4 Abs. 2 und Art. 8 Klauselrichtlinie verliert.368 Zum anderen fordert der EuGH nun explizit, dass „die Ausdrücke „Hauptgegenstand des Vertrags“ und „Angemessenheit zwischen dem Preis bzw. dem Entgelt und den Dienstleistungen bzw. den Gütern, die die Gegenleistung darstellen“ in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 grundsätzlich in der gesamten Europäischen Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten“.369 So zuletzt z. B. BGH Urt. v. 25.9.2013 – Az. VIII ZR 206/12, NJW 2014, 209, 210; BGH Urt. v. 12.3.2014 – Az. IV ZR 295/13, NJW 2014, 1658, 1660. 365 So bereits zu § 8 AGBG BT-Drucks. 7/3919, S. 22. 366 So bleiben z. B. laut BGH Urt. v. 8.5.1999 – Az. XI ZR 219/98, NJW 1999, 2276, 2777 „die den Gegenstand des Vertrags betreffenden Klauseln und das Preis-LeistungsVerhältnis grundsätzlich kontrollfrei. Dies ist die Konsequenz aus dem im Bürgerlichen Recht geltenden Grundsatz der Vertragsfreiheit. Dieser umfaßt auch das Recht der Parteien, den Preis für eine Ware oder eine Dienstleistung frei bestimmen zu können“. „[V]erfassungsrechtlich[e] Gründ[e]“ führt darüber hinaus Palandt / Grüneberg (2017), § 307 BGB Rn. 41 unter Verweis auf BAG Urt. v. 8.5.2008 – Az. 6 AZR 517/07, NJW 2008, 3372, 3373; LAG Rheinland-Pfalz Urt. v. 3.8.2012 – Az. 9 SaGa 6/12, NZA-RR 2013, 15, 16 an. 367 Dagegen meint Piekenbrock, GPR 2014, 26, 27 angesichts der jüngeren Entscheidungspraxis des EuGH sei es „müßig zu fragen, ob Art. 4 Abs. 2 der Klauselrichtlinie durch § 8 AGBG 1977 bzw. § 307 Abs. 3 BGB hinreichend ins deutsche Recht übernommen worden ist“. 368 Vgl. erneut EuGH Urt. v. 3.6.2010 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I4785. 369 EuGH Urt. v. 26.2.2015 – Rs. C-143/13 (Matei), EU:C:2015:127 Rn. 50 (Herv. d. Verf.). 364

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Kapitel 7 – Kompass- und Schrankenfunktion der Vertragsfreiheit

Wie gezeigt, ist Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie eine einfachgesetzliche Ausprägung des unionsgrundrechtlich fundierten Schutzes des Wesensgehalts unionaler Vertragsfreiheit.370 Soweit Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie mit den essentialia negotii just diesen Kernbereich erfasst, müssen die Begrifflichkeiten daher unionsgrundrechtskonform ausgelegt werden. Vermittelt über Art. 4 Abs. 2, Art. 8 Klauselrichtlinie ist entsprechend auch § 307 Abs. 3 S. 1 BGB gerade in Zweifelsfällen im Einklang mit der unionalen Vertragsfreiheit auszulegen und anzuwenden. Dies betrifft beispielsweise die durch den BGH etablierte und alles andere als trennscharfe Differenzierung zwischen kontrollfreien unmittelbaren Vereinbarungen des Preises einerseits und selbst im Fall ihrer Transparenz kontrollfähigen „Preisnebenabreden“ andererseits: Letztere Abreden zeichnen sich dadurch aus, dass sie nur indirekt auf den Preis einwirken und durch dispositives Recht ersetzt werden können, weshalb sie im Sinne des § 307 Abs. 3 S. 1 BGB der Inhaltskontrolle zugängliche „von Rechtsvorschriften abweichende oder diese ergänzende Regelungen“ darstellen.371 Darüber hinaus sollen auch Preisnebenabreden kontrollfähig sein, die „kein Entgelt betreffen, das „für eine Leistung, die dem Kunden auf rechtsgeschäftlicher Grundlage erbracht wird“, sondern durch die der Verwender vielmehr „allgemeine Betriebskosten, Aufwand zur Erfüllung eigener Pflichten oder für Tätigkeiten, die im eigenen Interesse liegen“ auf den Kunden“ abwälzt.372 Dies führt zu der Frage, ob diese Ausweitung des kontrollfähigen Bereichs hin zu einer lückenlosen Überprüfung transparenter „Preisnebenabreden“ aus Sicht des Unionsrechts zulässig ist. Erforderlich ist in diesem Zusammenhang eine unions(grund)rechtskonforme Auslegung des § 307 Abs. 3 S. 1 BGB i.V.m. Art. 4 Abs. 2, Art. 8 Klauselrichtlinie, wobei insbesondere das Verständnis des „Preises“ sowie des „Preis-Leistungs-Verhältnisses“ von Bedeutung sind. Obgleich gerade die jüngere Judikatur des EuGH die Linie des BGH tendenziell zu bestätigen scheint,373 kann nur in VorabentscheidungsSiehe erneut eingehend oben Kapitel 2 § 3 A II 2. Siehe aus der ständigen Rechtsprechung nur BGH Urt. v. 17.9.2009 – Az. Xa ZR 40/08, NJW 2009, 3570, 3571; BGH Urt. v. 14.5.2014 – Az. VIII ZR 114/13, NJW 2014, 2708, 2709 f. Kritisch zu dieser Differenzierung statt vieler Canaris, AcP 200 (2000), 273, 329 ff. 372 Z. B. BGH Urt. v. 7.6.2011 – Az. XI ZR 388/10, NJW 2011, 2640. Kritisch zu diesem Ansatz z. B. Kötz, ZEuP 2012, 339, 342 f. 373 Vgl. EuGH Urt. v. 26.2.2015 – Rs. C-143/13 (Matei), EU:C:2015:127 Rn. 55 f.: „Der Gerichtshof hat außerdem festgestellt, dass sich aus dem Wortlaut von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 ergibt, dass die zweite Kategorie von Klauseln, bei denen eine Beurteilung ihrer eventuellen Missbräuchlichkeit ausgeschlossen ist, […] nur die Angemessenheit zwischen dem Preis bzw. dem Entgelt und den Dienstleistungen bzw. den Gütern, die die Gegenleistung darstellen, betrifft […]. Die Klauseln, die […] den tatsächlichen Preis beeinflussen, den der Verbraucher […] zu zahlen hat, gehören somit grundsätzlich nicht zu dieser zweiten Kategorie von Klauseln; dies gilt nicht für die Frage, ob die Höhe der Ge370 371

§ 2 Vertragsfreiheit als Grenze der Kontrolle von Vertragsinhalten

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verfahren für die einzelnen Sachbereiche verbindlich geklärt werden, ob die jeweiligen Klauseltypen der Inhaltskontrolle unterworfen oder aber – im Lichte der unionalen Vertragsfreiheit – kontrollfrei sind.374 II. Kontrolle von Individualvereinbarungen nach Art. 7 Zahlungsverzugsrichtlinie und § 271a, § 286 Abs. 5 BGB Beim derzeitigen Stand der Rechtsentwicklung sieht das EU-Privatrecht eine Inhaltskontrolle von Individualvereinbarungen nur unter den Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 Zahlungsverzugsrichtlinie vor: Nach dieser in Deutschland durch § 271a sowie § 286 Abs. 5 BGB375 umgesetzten Vorschrift darf eine Vertragsklausel dem Gläubiger „nicht grob nachteilig“ sein, soweit sie den Zahlungstermin, die Zahlungsfrist, den Zinssatz oder die Beitreibungskosten betrifft.376 Gemäß Art. 7 Abs. 2 wird bei einem Ausschluss der Verzugszinsen unwiderleglich und nach Art. 7 Abs. 3 Zahlungsverzugsrichtlinie genleistung oder des Preises, wie sie vertraglich vereinbart wurden, der […] als Gegenleistung erbrachten Dienstleistung angemessen ist“ (Herv. d. Verf.). Vgl. zu Fremdwährungskrediten auch EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:282 Rn. 58: „Überdies kann dieser Ausschluss keine Anwendung auf Klauseln finden, die sich […] darauf beschränken, im Hinblick auf die Berechnung der Rückzahlungen den Umrechnungskurs der ausländischen Währung, auf die der Darlehensvertrag lautet, festzulegen, ohne dass der Darlehensgeber jedoch bei dieser Berechnung eine Umtauschleistung erbrächte, und die daher kein „Entgelt“ umfassen, dessen Angemessenheit als Gegenleistung für eine vom Darlehensgeber erbrachte Leistung nicht Gegenstand einer Beurteilung der Missbräuchlichkeit aufgrund von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 sein kann“ (Herv. d. Verf.). 374 Vgl. zur unionsrechtlich-autonomen Konzeption des „Hauptgegenstand des Vertrags“ und der „Angemessenheit zwischen dem Preis […] und den Dienstleistungen bzw. den Gütern, die die Gegenleistung darstellen“ erneut nur EuGH Urt. v. 26.2.2015 – Rs. C143/13 (Matei), EU:C:2015:127 Rn. 50. Siehe zur Vorlageverpflichtung im Kontext der Klauselrichtlinie statt vieler MünchKommBGB / Basedow (2016), Vor § 305 BGB Rn. 32 ff. 375 Für Abweichungen durch AGB ist § 308 Nr. 1a und 1b BGB neu eingefügt worden. 376 Erwägungsgrund Nr. 28 Zahlungsverzugsrichtlinie verweist im Zusammenhang mit missbräuchlichen „Vertragsklauseln“ ausdrücklich auf den DCFR, wo der Begriff der Vertragsklausel in Art. II.-9:101 DCFR wie folgt definiert wird: „Vertragsklauseln können sich aus der ausdrücklichen oder stillschweigenden Vereinbarung der Parteien […] herleiten“. In diesem Sinne auch GA Sharpston Schlussanträge v. 12.5.2016 – Rs. C-555/14 (IOS Finance), EU:C:2016:341 Rn. 58. Einer Inhaltskontrolle unterliegen gemäß Art. 3 Abs. 4 und Abs. 5 Zahlungsverzugsrichtlinie dabei auch Klauseln, welche die in der Richtlinie festgelegten Höchstfristen für die Warenprüfung und den Zahlungstermin überschreiten. Als Sanktion sieht Art. 7 Abs. 1 Zahlungsverzugsrichtlinie jeweils vor, dass eine individuell vereinbarte, grob nachteilige Klausel nach mitgliedstaatlichem Recht „nicht durchsetzbar ist oder einen Schadensersatzanspruch begründet“. Nach Art. 7 Abs. 4 und 5 Zahlungsverzugsrichtlinie soll der „Missbrauch der Vertragsfreiheit“ daneben auch durch Verbandsklagen bekämpft werden können.

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Kapitel 7 – Kompass- und Schrankenfunktion der Vertragsfreiheit

bei einem Ausschlusses der Entschädigung für Beitreibungskosten widerleglich vermutet, dass eine grobe Benachteiligung vorliegt.377 Als Rechtfertigung für die Überprüfung auch individualvertraglicher Vereinbarungen und für die damit verbundene tiefgreifende „Einschränkung der Vertragsfreiheit der Parteien“378 führt die Zahlungsverzugsrichtline an, dass hier ein „Missbrauch der Vertragsfreiheit zum Nachteil des Gläubigers“ drohe.379 Dies wirkt auf den ersten Blick befremdlich, da bei individuell ausgehandelten Klauseln einerseits der Vertragsmechanismus seine Wirkungen entfalten sollte. Andererseits behält das Unionsrecht eine Inhaltskontrolle zumindest im Rahmen der Klauselrichtlinie Verbraucherverträgen vor, wohingegen die Zahlungsverzugsrichtlinie ausschließlich auf den unternehmerischen Geschäftsverkehr anwendbar ist.380 Damit drängt sich die Frage auf, ob die Inhaltskontrolle nach Art. 7 Zahlungsverzugsrichtlinie mit der unionalen Vertragsfreiheit vereinbar und insbesondere erforderlich (1) sowie verhältnismäßig (2) ist. 1. Erforderlichkeit unter institutionellen Gesichtspunkten Mit Blick auf die Erforderlichkeit des Eingriffs in die Vertragsinhaltsfreiheit der Parteien geht der Unionsgesetzgeber von einem typisierbaren Versagen des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus aus: Vor allem kleinere und mittlere Unternehmen seien selbst bei individuellen Vertragsverhandlungen regelmäßig außer Stande, ihre Interessen zu wahren.381 Demgegenüber sei der Anreiz insbesondere für marktmächtige Schuldner groß, sich „zusätzliche Liquidität auf Kosten des Gläubigers zu verschaffen“, indem sie in ferner Zukunft liegende Zahlungsfristen vertraglich definieren und zugleich Verzugszinsen ausschließen oder auf ein Minimum reduzieren.382 Daher soll unter institutionellen Gesichtspunkten ein „durchgreifender Wandel hin zu einer Kultur der unverzüglichen Zahlung“ im Binnenmarkt erzwungen wer377 Vgl. nur EuGH Urt. v. 16.2.2017 – Rs. C-555/14 (IOS Finance), EU:C:2017:121 Rn. 28 ff.; GA Sharpston Schlussanträge v. 12.5.2016 – Rs. C-555/14 (IOS Finance), EU:C:2016:341 Rn. 39 ff. und 56 ff. 378 Vgl. GA Sharpston Schlussanträge v. 12.5.2016 – Rs. C-555/14 (IOS Finance), EU:C:2016:341 Rn. 43. 379 Erwägungsgrund Nr. 28 Zahlungsverzugsrichtlinie. Siehe auch EuGH Urt. v. 16.2.2017 – Rs. C-555/14 (IOS Finance), EU:C:2017:121 Rn. 29 ff. 380 Vgl. Art. 1 Zahlungsverzugsrichtlinie. 381 So zu Art. 7 Zahlungsverzugsrichtlinie nun GA Sharpston Schlussanträge v. 12.5.2016 – Rs. C-555/14 (IOS Finance), EU:C:2016:341 Rn. 57 („Verträgen zwischen Parteien mit in der Regel unterschiedlich starker Verhandlungsposition“). Vgl. auch Erwägungsgründe Nr. 5 ff., Nr. 28 und Art. 1 Abs. 1 Zahlungsverzugsrichtlinie. Wie hier Schulte-Braucks, NJW 2001, 103, 106. 382 Erwägungsgründe Nr. 28 sowie 3 und 12 Zahlungsverzugsrichtlinie. Statt aller Schulte-Braucks, NJW 2001, 103, 106.

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den, zumal Zahlungsverzögerungen und -ausfälle eine erhebliche Anzahl von Unternehmen in den EU-Mitgliedstaaten in existenzielle Schwierigkeiten bringen.383 Vor diesem Hintergrund verfolgt Art. 7 Zahlungsverzugsrichtlinie über das individuelle Vertragsverhältnis hinausweisende ordnungspolitische Motive, denen weder durch den Vertrags- und Marktmechanismus noch durch eine auf „Extremabweichungen“ beschränkte Prüfung in gleicher Weise wie bei einer umfassenden Inhaltskontrolle genügt werden kann. 2. Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in die Vertragsinhaltsfreiheit der Parteien ist sodann einerseits zu berücksichtigen, dass nicht der Kernbereich dieser Freiheit in Gestalt der essentialia negotii, sondern nur die Zahlungsmodalitäten sowie die Regelung der Folgen des Zahlungsverzugs von Art. 7 Zahlungsverzugsrichtlinie betroffen sind. Hinzu kommt, dass die Vorschrift es nicht dem unbeschränkten Ermessen des Richters überlässt, die Vertragsinhalte im Fall ihrer „Missbräuchlichkeit“ zu kassieren: Vielmehr sind gemäß Art. 7 Abs. 1 UAbs. 2 Zahlungsverzugsrichtlinie bei einer Inhaltskontrolle immer „alle Umstände des Falles“ zu berücksichtigen, wobei insbesondere auch geprüft werden muss, ob die abweichende individualvertragliche Vereinbarung „einen objektiven Grund“ hat, etwa, weil sie durch anderweitige, „dem Schuldner gewährt[e] Bedingungen [zu] rechtfertigen“ ist. 384 Schließlich schreibt zumindest Art. 7 Zahlungsverzugsrichtlinie – anders als nun § 271a BGB – die Unwirksamkeit der Individualabrede keineswegs zwingend vor.385 Damit lässt die Zahlungsverzugsrichtlinie einer 383 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 3 Zahlungsverzugsrichtlinie und siehe jüngst auch EOS, Studie Europäische Zahlungsgewohnheiten 2015 (abrufbar unter: , zuletzt besucht am 6.12.2016): „Gut jedes achte Unternehmen in Westeuropa (13 Prozent) und nahezu jedes siebte in Osteuropa (15 Prozent) gerät aufgrund des jährlichen Zahlungsausfalls in existenzielle Schwierigkeiten“. Dieser Liquiditätsentzug beeinträchtigt wiederum die „Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen und insbesondere von KMU“, vgl. Art. 1 Abs. 1 und Erwägungsgründe Nr. 3 und 12 Zahlungsverzugsrichtlinie. 384 Erwägungsgrund Nr. 28 Zahlungsverzugsrichtlinie. So auch GA Sharpston Schlussanträge v. 12.5.2016 – Rs. C-555/14 (IOS Finance), EU:C:2016:341 Rn. 58. Vgl. ferner EuGH Urt. v. 16.2.2017 – Rs. C-555/14 (IOS Finance), EU:C:2017:121 Rn. 28 ff. Daneben ist im Rahmen des Art. 7 Abs. 1 UAbs. 2 Zahlungsverzugsrichtlinie „jede grobe Abweichung von der guten Handelspraxis, die gegen den Grundsatz des guten Glaubens und der Redlichkeit verstößt“, sowie „die Art der Ware oder der Dienstleistung“ zu berücksichtigen. 385 Vgl. Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 Zahlungsverzugsrichtlinie („nicht durchsetzbar ist oder einen Schadensersatzanspruch begründet“). Einem nachträglichen Verzicht auf die Zinsansprüche steht die Richtlinie nicht entgegen, sondern es muss dem Gläubiger laut EuGH Urt. v. 16.2.2017 – Rs. C-555/14 (IOS Finance), EU:C:2017:121 Rn. 31 gerade „aufgrund seiner Vertragsfreiheit freistehen, auf die Zahlung dieser Zinsen und dieser Entschädigung zu verzichten, insbesondere im Gegenzug für die sofortige Zahlung der Hauptschuld.“ (IOS Fi-

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gebührenden Würdigung der Vertragsinhaltsfreiheit der Parteien Raum: Hierdurch kann prinzipiell „der Grundsatz der Vertragsfreiheit gewahrt und anerkannt [werden], dass Parteien vielfach ein berechtigtes Interesse an einer gegenüber der Gesetzeslage abweichenden Ausgestaltung ihrer Vertragsbeziehungen besitzen“.386

Obwohl Art. 7 Zahlungsverzugsrichtlinie auch individuell ausgehandelte Klauseln einer Inhaltskontrolle unterwirft, steht der damit verbundene Eingriff in die unionale Vertragsfreiheit nicht per se außer Verhältnis zu den mit dieser Vorschrift verfolgten ordnungspolitischen wie individualvertraglichen Zielen. III. Zwischenfazit Entgegen den Aussagen des EuGH in der Rechtssache Caja de Ahorros387 gestattet die unionale Vertragsfreiheit eine grenzenlose Inhaltskontrolle weder mit Blick auf die essentialia negotii noch in Bezug auf individualvertragliche Abreden. Vielmehr ist hier aus Erforderlichkeits- und Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten grundsätzlich eine anlassbezogene, konkret-individuelle Prüfung anhand zivilrechtlicher Generalklauseln geboten. Zulässig sind jedoch bereichsspezifische Formen der pauschalierenden Kontrolle, wie sie z. B. Art. 7 Abs. 1 Zahlungsverzugsrichtlinie bzw. § 271a sowie § 286 Abs. 5 BGB nicht zuletzt aus ordnungspolitischen Motiven vorgeben. Voraussetzung ist indes, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt und somit insbesondere keine einzelfallunabhängige automatische Kassation aller Klauseln vorgeschrieben wird. Vor diesem Hintergrund begegnen gerade die französischen Regelungen in Art. L 212-1 i.V.m. Art. R 212-1 Code de la consommation gravierenden Bedenken, da alle auf einer „schwarzen Liste“ enthaltenen Klauseln selbst dann unwirksam sind, wenn diese Bestimmungen individuell ausgehandelt worden sind und den wohlverstandenen Interessen beider Parteien entsprechen. Im Lichte des Unionsgrundrechts der Vertragsfreiheit ist daher eine restriktive Auslegung und Anwendung dieser Vorschriften geboten. Ebenso verhält es sich mit Blick auf das spanische Recht der Inhaltskontrolle, das seinem Wortlaut nach auch die essentialia negotii erfasst. Hier legt das spanische Tribunal Supremo – trotz der missverständlichen Vorgaben des EuGH – mittlerweile eine Interpretation zugrunde, die mit den Anforderungen der unionalen Vertragsfreiheit in Einklang steht. nance),In diese Richtung deutet auch Erwägungsgrund Nr. 16 Zahlungsverzugsrichtlinie: „Durch diese Richtlinie sollte kein Gläubiger verpflichtet werden, Verzugszinsen zu fordern.“ 386 Vgl. mit Blick auf die Inhaltskontrolle nach der Klauselrichtlinie GA Kokott Schlussanträge v. 8.11.2012 – Rs. C-415/11 (Aziz), EU:C:2012:700 Rn. 73. 387 Vgl. wiederum EuGH Urt. v. 3.6.2010 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 50.

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D. Summe des siebten Kapitels Die unionale Vertragsfreiheit zieht dem Schuldvertragsrecht der Union und ihrer Mitgliedstaaten Grenzen und leitet dessen Ausrichtung. Vor allem sind Verkürzungen dieser Freiheit nur soweit zulässig, als sie erforderlich und verhältnismäßig sind. Der Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus bestimmt dabei häufig den Maßstab: Wo dieser Mechanismus die – gegebenenfalls bereits in gewissem Umfang materialisierte – Vertragsfreiheit wieder aus eigener Kraft in dem unionsrechtlich gebotenen Umfang verwirklichen kann, finden insbesondere auch die Materialisierungsinstrumente regelmäßig ihre Grenze. Das Materialisierungssystem bildet drei „konzentrische Schutzwälle“ um die Vertragsfreiheit, wobei die einzelnen Instrumente auf jeder dieser Ebenen entsprechend ihrer Eingriffsintensität abgestuft sind: Am äußeren Rand liegen, erstens, markt- und wettbewerbsbezogene Rechtsakte, welche die Funktionsvoraussetzung für die Entfaltung der Vertragsfreiheit gewährleisten. Dieser Rahmen schafft eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung für den Genuss der unionalen Vertragsfreiheit im anspruchsvollen Sinne. Vielmehr muss diese Freiheit bei Bedarf auch auf individualvertraglicher Ebene materialisiert werden: Diese Aufgabe übernehmen, zweitens, die Materialisierungsinstrumente des EU-Privatrechts und – unter dem Einfluss des Effektivitätsgrundsatzes sowie unionsgrundrechtlicher Schutzpflichten – auch des deutschen Bürgerlichen Rechts. Schließlich wird auf letzter Stufe, drittens, das mitgliedstaatliche Zivilprozessrecht in den Dienst der Materialisierung gestellt. Durch das kaskadenförmige Materialisierungssystem sucht die Unionsrechtsordnung die Funktionsfähigkeit des Vertrags- und Marktmechanismus zu verbessern und größtmögliche prozedurale Gerechtigkeit bei der Ausübung der Vertragsfreiheit zu gewährleisten. Hierdurch wird zugleich die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass der Vertrags- und Marktmechanismus in Bezug auf den Vertragsinhalt eine „Richtigkeitsgewähr“ bieten kann. Vor diesem Hintergrund kann die unionale Vertragsfreiheit einer lückenlosen und pauschalen richterliche Inhaltskontrolle aller Verträge entgegenstehen. Ein solcher allgemeiner „Korrekturvorbehalt“ führt zwar nicht in jedem Fall zu einem unmittelbaren und gegenwärtigen Eingriff in die Vertragsfreiheit, wohl aber zu einer verletzungsgleichen Grundrechtsgefährdung: Da nicht nur die selbstbestimmte Festlegung der Vertragsinhalte, sondern auch die Rechts- und Planungssicherheit permanent gefährdert sind, stellt diese Form der Inhaltskontrolle zentrale Funktionen des privatrechtlichen Vertrags insgesamt infrage. Entgegen den Andeutungen des EuGH in der Rechtssache Caja de Ahorros ist daher insbesondere eine anlasslose und unbegrenzte Kontrolle sowohl der essentialia negotii als auch individuell ausgehandelter Vertragsinhalte an der unionalen Vertragsfreiheit zu messen. Unter Erforderlichkeits- und Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten ist dabei zu beachten, dass es einer derartigen

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Kapitel 7 – Kompass- und Schrankenfunktion der Vertragsfreiheit

Inhaltskontrolle umso weniger bedarf, je leistungsfähiger der Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus ist. Wo dieser Mechanismus nicht in typisierbarer Weise zu versagen droht oder aber besonders gewichtige ordnungspolitische Ziele eine sachlich eng umgrenzte, fallgruppenspezifische Inhaltskontrolle ausnahmsweise erfordern, bleibt der Schutz gegen „Extremabweichungen“ einer konkret-anlassbezogenen Einzelfallprüfung überlassen. In erster Linie kommen damit die mitgliedstaatlichen Generalklauseln und im deutschen Bürgerlichen Recht vor allem §§ 138, 242 BGB zum Einsatz. Die unionale Vertragsfreiheit muss auch gewahrt werden, soweit Art. 8 Klauselrichtlinie es prima facie den Mitgliedstaaten überlässt, die Inhaltskontrolle abweichend von Art. 3, Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie auf die essentialia negotii bzw. auf Individualvereinbarungen auszuweiten. Art. 8 Klauselrichtlinie gestattet nämlich nur eine primärrechts- und und damit insbesondere auch unionsgrundrechtskonforme „überschießende“ Inhaltskontrolle durch mitgliedstaatliches Privatrecht.388 Dies folgt nicht zuletzt auch aus der Grundrechtsbindung der EU: Die Union darf nicht hinnehmen, dass die Mitgliedstaaten mithilfe einer Öffnungsklausel auf dem durch die Klauselrichtlinie geregelten Gebiet Unionsgrundrechte verletzen.389 Normen des mitgliedstaatlichen Schuldvertragsrechts, die über Art. 3 und Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie hinaus eine pauschale und anlasslose Inhaltskontrolle vorsehen, sind entsprechend vertragsfreiheitskonform auszulegen und anzuwenden. Diese Maßgaben sind auch im Rahmen des § 307 Abs. 3 S. 1 BGB zu beachten. So kann beispielsweise nur der EuGH letztverbindlich klären, ob die umfassende Inhaltskontrolle transparenter „Preisnebenabreden“ unionsgrundrechtlich zulässig und damit im Sinne des Art. 8 Klauselrichtlinie „mit dem Vertrag vereinbar“ ist. Besonders dringlich stellt sich die Frage der Vertragsfreiheitskonformität im französischen Schuldrecht: Gemäß Art. L 212-1 Code de la consommation sind selbst Individualvereinbarungen einer allgemeinen Inhaltskontrolle unterworfen. Hinzu kommt, dass Art. R 212-1 Code de la consommation eine Liste mit zwölf Klauseln enthält, die ohne jeglichen richterlichen Beurteilungsspielraum als missbräuchlich und damit unwirksam behandelt werden müssen. Im Lichte der unionalen Vertragsfreiheit sind diese Vorschriften nun restriktiv dahingehend auszulegen und anzuwenden, dass die in Art. R 212-1 Code de la consommation genannten individuell vereinbarten Vertragsklau388 Vgl. erneut Art. 8 Klauselrichtlinie: „Die Mitgliedstaaten können auf dem durch diese Richtlinie geregelten Gebiet mit dem Vertrag vereinbare strengere Bestimmungen erlassen“ (Herv. d. Verf.). 389 Siehe erneut nur EuGH Urt. v. 27.6.2006 – Rs. C-540/03 (Parlament / Rat), Slg. 2006, I-5809 Rn. 23, wonach „eine [unionsrechtliche] Bestimmung […] als solche die [EU-]Grundrechte missachtet, wenn sie den Mitgliedstaaten […] gestattet, nationale Gesetze zu erlassen oder beizubehalten, die die Grundrechte missachten“.

§ 2 Vertragsfreiheit als Grenze der Kontrolle von Vertragsinhalten

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seln nur im Wege einer konkret-anlassbezogenen Einzelfallkontrolle auf ihre Missbräuchlichkeit hin geprüft werden dürfen. Im spanischem Recht gestattet der Wortlaut der Ley sobre Condiciones Generales de la Contratación eine pauschale, nicht an konkrete „Extremabweichungen“ gekoppelte Inhaltskontrolle der Hauptleistungspflichten sowie des Äquivalenzverhältnisses. Mit den essentialia negotii ist indes der Kernbereich der unionalen Vertragsfreiheit betroffen. Ein solcher lückenloser und undifferenzierter richterlicher Kontrollvorbehalt erscheint daher mit der unionalen Vertragsfreiheit unvereinbar. Nachdem der EuGH in der Rechtssache Caja de Ahorros den soeben genannten Zusammenhang übergangen und damit einer uferlosen Überprüfung des Vertragskerns durch spanische Gerichte Tür und Tor geöffnet hatte, hat das Tribunal Supremo die Inhaltskontrolle mittlerweile auf das unionsgrundrechtlich vorgezeichnete Niveau zurückgeführt und die essentialia negotii grundsätzlich ausgenommen. Indem die unionale Vertragsfreiheit eine weitgehende Kontrollfreiheit des Vertragskerns erzwingt, hindert das Unionsgrundrecht sowohl die EU als auch ihre Mitgliedstaaten insgesamt an einem „Selbstwiderspruch der Rechtsordnung, einerseits eine Grundsatzentscheidung für die Vertragsfreiheit zu treffen und dann andererseits deren Ergebnisse nicht als solche anzuerkennen, sondern unter einen allgemeinen Korrekturvorbehalt zu stellen“.390

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Canaris, FS Lerche (1993), S. 873, 887.

Zwölf Thesen zur Vertragsfreiheit im Binnenmarkt

Zwölf Thesen zur Vertragsfreiheit im Binnenmarkt Zwölf Thesen zur Vertragsfreiheit im Binnenmarkt

Diese Abhandlung hat die Unionsrechtsordnung mit der Gretchenfrage des Schuldvertragsrechts konfrontiert: Wie hältst Du es mit der Vertragsfreiheit? Fragende sind hierbei sowohl das unionale als auch das mitgliedstaatliche Privatrecht. Die Antwort wird im Folgenden unter zwölf Thesen zusammengefasst. Diese gewähren zugleich einen Ausblick auf die künftige Bedeutung der Vertragsfreiheit im Binnenmarkt und ihre Einwirkung auf das Privatrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten. I. Vertragsfreiheit als Unionsgrundrecht und als allgemeiner Rechtsgrundsatz des EU-Privatrechts Die Vertragsfreiheit zählt zu den Strukturprinzipien der Wirtschaftsverfassung der EU und ist für den Binnenmarkt unverzichtbar.1 Auch baut die Unionsrechtsordnung auf der Prämisse der Selbstbestimmungsfreiheit und der Selbstverantwortung auf.2 Dennoch wird die Vertragsfreiheit durch das kodifizierte Unionsrecht bislang nur insular und lückenhaft gewährleistet. Zunächst bieten die Verkehrsfreiheiten kaum Schutz gegen vertragsfreiheitsverkürzendes Privatrecht.3 Darüber hinaus vermögen Art. 16 und Art. 17 GRCh die rechtsgeschäftliche Privatautonomie nur in sachlich und personell eng umgrenzten Fallgestaltungen zu garantieren.4 Schließlich wird diese Freiheit im Sekundärrecht der EU ebenfalls eher zufällig erwähnt. Eine umfasssende Analyse des unionalen, mitgliedstaatlichen und völkerrechtlichen Regelungsbestandes sowie der Rechtsprechungspraxis des EuGH verdeutlicht, dass die Vertragsfreiheit ein ungeschriebener allgemeiner Rechtsgrundsatz der Unionsrechtsordnung ist. Als solcher hat die unionale Vertragsfreiheit eine Doppelnatur: Zum einen ist sie als Unionsgrundrecht im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV auf Ebene des Primärrechts verbürgt.5 Zum anderen ist die rechtsgeschäftliche Privatautonomie ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des EU-Privatrechts.6 1 2 3 4 5

Siehe oben Kapitel 1 § 2. Siehe oben Kapitel 1 § 3 A. Siehe oben Kapitel 2 § 1 A I. Siehe oben Kapitel 2 § 1 A II. Siehe oben Kapitel 2 § 2 C II sowie zur induktiven Herleitung Kapitel 2 § 2 B.

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II. Autonomer Gewährleistungsgehalt und Wirkbereich unionaler Vertragsfreiheit Weder der Schutzbereich noch die Schranken der unionalen Vertragsfreiheit decken sich zwangsläufig mit ihrem jeweiligen mitgliedstaatlichen Pendant. Vor diesem Hintergrund ist die Frage von zentraler Bedeutung, welche Vertragsfreiheit – die nationale oder die unionale – maßstabbildend ist.7 Inhalt und Umfang unionaler Vertragsfreiheit hängen zunächst vom autonomen Begriff des Vertrags ab: Der Vertragsbegriff des Unionsrechts setzt voraus, dass (i) mindestens zwei Parteien (ii) Konsens durch übereinstimmende und (iii) auf Herbeiführung eines rechtlichen Erfolges gerichtete Willenserklärungen erzielen.8 Die unionale Vertragsfreiheit hat einen autonomen Gewährleistungsgehalt,9 der sieben Facetten umfasst: Hierzu zählen die positive wie negative Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit, die Inhalts-, Typen-, Änderungs-, Aufhebungs- und Formfreiheit sowie schließlich die Parteiautonomie als international-privatrechtliche Erscheinungsform der Vertragsfreiheit.10 Den Wesensgehalt der Vertragsfreiheit machen dabei neben der Abschlussund Kontrahentenwahlfreiheit die autonome Bestimmung der essentialia negotii aus.11 Als allgemeiner privatrechtlicher Rechtsgrundsatz und als Grundrecht bindet die unionale Vertragsfreiheit die Union und all ihre Organe. Die EUMitgliedstaaten sind hingegen nur im Anwendungsbereich des Unionsrechts verpflichtet, die rechtsgeschäftliche Privatautonomie unionaler Provenienz zu achten.12 Der Anwendungsbereich des Unionsrechts ist weit gesteckt: So sind die Mitgliedstaaten auch an die unionale Vertragsfreiheit gebunden, wenn sie die Verkehrsfreiheiten des Binnenmarktes beschränken oder wenn der Effektivitätsgrundsatz die Einflusssphäre des EU-Rechts in die nicht-harmoSiehe oben Kapitel 2 § 2 C I sowie zur induktiven Herleitung Kapitel 2 § 2 B. Siehe oben Kapitel 2 § 3 B II 2 c bb sowie oben Kapitel 2 § 3 A III. Vgl. zur unterschiedlichen Gewichtung der Vertragsfreiheit erneut nur Parkwood Leisure Ltd v AlemoHerron and others [2011] UKSC 26 (Lord Hope) einerseits und EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 30 ff. andererseits. Vgl. zudem BVerfG Urt. v. 17.2.1998 – Az. 1 BvF 1/91, BVerfGE 97, 228, 252 ff. auf der einen und EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C:2013:28 Rn. 44 ff. und Rn. 54 ff. auf der anderen Seite. 8 Siehe oben Kapitel 1 § 3 B. Darüber hinaus mag die Freiheit zur einseitigen Verpflichtung gegenüber einer anderen Partei – etwa im Rahmen einer Auslobung nach § 657 BGB – ebenfalls in den Schutzbereich der unionalen Vertragsfreiheit einzubeziehen sein, vgl. oben Kapitel 2 § 3 A II. 9 Siehe oben Kapitel 2 § 3 A I. 10 Siehe oben Kapitel 2 § 1 B und § 3 A. 11 Siehe oben Kapitel 2 § 3 A II. 12 Siehe oben Kapitel 2 § 3 B II. 6 7

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nisierten Areale des nationalen (Privat)Rechts ausdehnt.13 Hinzu kommt, dass der EuGH den privatrechtlichen Vertrag als einheitlichen, unteilbaren Selbstbestimmungsakt behandelt. Selbst wenn der Anwendungsbereich des Unionsrechts nur für einzelne Aspekte dieses Schuldverhältnisses eröffnet ist, untersteht der Vertrag demnach in seiner Gesamtheit – zumindest auch – dem Schutz der unionalen Vertragsfreiheit.14 Vor diesem Hintergrund gelangen weite Teile des mitgliedstaatlichen Schuldvertragsrechts in den Wirkbereich der unionalen Vertragsfreiheit. III. Privatrechtliche Einwirkungsebenen des Unionsgrundrechts Als Unionsgrundrecht hat die Vertragsfreiheit zuvörderst eine Abwehrdimension: Alle Normen der EU sind an dieser Freiheit zu messen.15 Im Anwendungsbereich des Unionsrechts setzt die Vertragsfreiheit auch den autonomiebeschränkenden Regelungen der Mitgliedstaaten Grenzen.16 Darüber hinaus hat die unionale Vertragsfreiheit eine Leistungs- und Schutzpflichtdimension. Diese zwingt die EU und ihre Mitgliedstaaten zur Bereitstellung aller zur Freiheitsausübung notwendigen Institutionen und kann zudem eine legislative oder judikative Intervention gebieten, wann immer die Freiheitsentfaltung gestört wird.17 Entlang dieser Grundrechtsfunktionen verlaufen die Einwirkungsachsen der unionalen Vertragsfreiheit im Privatrecht: Das gesamte Zivilrecht der EU ist unionsgrundrechtskonform im Lichte der Vertragsfreiheit auszulegen und anzuwenden.18 Dies gilt auch für das nationale Privatrecht, so weit die Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte reicht.19 Dabei kann die unionale Vertragsfreiheit gerade aufgrund ihrer Schutzpflichtendimension mittelbare Wirkungen zwischen Privaten entfalten.20 IV. Privatrechtswirksamkeit als allgemeiner Rechtsgrundsatz Als allgemeiner unionsprivatrechtlicher Rechtsgrundsatz ist Vertragsfreiheit ein Rechtsprinzip, das nach Abwägung mit konfligierenden Prinzipien bei der Interpretation und Ergänzung des EU-Schuldvertragsrechts heranzuziehen Siehe oben Kapitel 2 § 3 B II 2 und oben Kapitel 2 § 3 B III. Siehe oben Kapitel 2 § 3 B II 2 c. 15 Siehe oben Kapitel 3 § 1 A II 1. 16 Siehe oben Kapitel 3 § 1 A II und oben Kapitel 3 § 1 A III sowie zur Bindung der EU-Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich des Unionsrechts eingehend oben Kapitel 2 § 3 B II. 17 Siehe oben Kapitel 3 § 1 A II und oben Kapitel 3 § 1 A III. 18 Siehe oben Kapitel 3 § 1 A III. 19 Siehe oben Kapitel 3 § 1 A III und siehe zur Grundrechtsbindung der EUMitgliedstaaten erneut oben Kapitel 2 § 3 B II. 20 Siehe oben Kapitel 3 § 1 A III 3. 13 14

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ist.21 Entsprechend wirkt die Vertragsfreiheit tief in das EU-Schuldvertragsrechts hinein und bietet Orientierung und Abhilfe bei Auslegungsfragen und Regelungslücken im Gefüge des unionsrechtlich determinierten Privatrechts. Im System des Unionsprivatrechts dient die Vertragsfreiheit darüber hinaus als Begründung und als Begrenzung der Vertragsbindung: In der Unionsrechtsordnung findet der Grundsatz pacta sunt servanda seine Rechtfertigung ebenso in der Vertragsfreiheit wie die Relativität vertraglicher Schuldverhältnisse.22 Hieraus folgt die besondere Bedeutung der unionalen Vertragsfreiheit als Baustein und Kompass des EU-Schuldvertragsrechts. V. Freiheitsentfaltung und Richtigkeitsgewähr durch den Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus Die Unionsrechtsordnung legt ein prozedurales Funktionsmodell der Vertragsfreiheit zugrunde. Rechtsgeschäftliche Privatautonomie soll durch den Vertragsmechanismus und in erster Linie durch das individuelle Aushandeln des Vertrags verwirklicht werden.23 Dieser Ansatz ist im Ausgangspunkt formal, da die Vertragsparteien rechtlich die gleiche Chance haben müssen, „im Rahmen eines zum Vertragsabschluss führenden Verfahrens“ alle zum Kernbereich zählenden Facetten ihrer Vertragsfreiheit auszuüben.24 Bei standardisierten Massenverträgen bliebe ein so verstandener Mechanismus jedoch schon deshalb wirkungslos, weil der Vertragsinhalt einseitig durch AGB festgelegt und nicht zur Disposition gestellt wird. Insoweit bedarf das Funktionsmodell der Ergänzung um eine Markt- und Wettbewerbsdimension: Wo einer Partei die Einflussnahme auf die Vertragsgestalt verwehrt bleibt, kann der freie Wettbewerb in gewissem Rahmen sicherstellen, dass dennoch alle wesentlichen Facetten der unionalen Vertragsfreiheit entfaltet werden.25 Mit diesem am Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus ausgerichteten Funktionsmodell korrespondiert ein prozedurales Verständnis der inhaltlichen „Richtigkeit“ von Verträgen: Von der Warte des Unionsrechts ist vorrangig das Verfahren maßgeblich, in dem der Vertrag zustande gekommen ist. Liegen die Voraussetzungen zur Verwirklichung der Vertragsfreiheit durch den

Siehe oben Kapitel 3 § 1 B. Siehe oben Kapitel 3 § 2. 23 Siehe oben Kapitel 3 § 3 A I. 24 Siehe oben Kapitel 3 § 3 A I. 24 In diesem Sinne mit Blick auf die Gestaltung der wesentlichen Inhalte von Arbeitsverträgen auch EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 34; EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 87; EuGH Urt. v. 27.4.2017 – Rs. C-680/15 u.a. (Asklepios Kliniken u.a.), EU:C:2017:317 Rn. 23. 25 Siehe oben Kapitel 3 § 3 A II. 21 22

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wettbewerbsgestützten Vertragsmechanismus vor, knüpft das Unionsrecht hieran eine Richtigkeitsvermutung.26 VI. Materialisierung der Vertragsfreiheit im Binnenmarkt Die unionale Vertragsfreiheit garantiert allen Vertragsparteien werthaltige Selbstbestimmungschancen durch das Instrument des Vertrags. Vor diesem Hintergrund kommt das prozedurale Funktionsmodell der Vertragsfreiheit nicht ohne Flankierungen aus. Das Privat- und Wirtschaftsrecht der EU hält eine Reihe unterschiedlicher Instrumente bereit, welche der Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit dienen: Indem die Funktionsfähigkeit des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus aufrechterhalten und verbessert wird, soll allen Akteuren im Binnenmarkt Vertragsfreiheit „im anspruchsvollen Sinne“ eröffnet werden.27 Die so verstandene Materialisierung ist ein Gebot der Schutzpflichtendimension unionaler Vertragsfreiheit.28 Zunächst stellen marktkonstitutive und wettbewerbsschützende Materialisierungsinstrumente den freien Wettbewerb als äußeren Funktionsrahmen und als notwendige Ergänzung des Vertragsmechanismus sicher.29 Auf Ebene individueller Vertragsverhältnisse sucht sodann das Unionsprivatrecht den Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus punktuell zu komplementieren oder, sofern der Mechanismus partiell versagt, die Defizite (nachträglich) zu kompensieren.30 Ansatz- und Bezugspunkt sind dabei jeweils die konkreten Facetten der unionalen Vertragsfreiheit, die ohne die Materialisierungsinstrumente nicht hinreichend zur Geltung kämen: Beispielsweise wird durch das Informationsmodell die Abschluss-, Vertragspartnerwahl- und Inhaltsfreiheit durch Informations-, Transparenz- sowie Formanforderungen materialisiert und die Funktionsfähigkeit des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus gewährleistet.31 Hinzu tritt ein bereichsspezifischer Präventivschutz vor unbeabsichtigten Verträgen, der insbesondere auf restriktive Vertragsschlussmodalitäten baut.32 Demgegenüber kompensiert die Klauselkontrolle das Versagen des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus in Bezug auf klauselförmige Nebenbestimmungen und materialisiert auf diese Weise die positive wie negative Siehe oben Kapitel 3 § 3 B. Siehe oben Kapitel 4. In diesem Sinne bereits Basedow, AcP 200 (2000), 445, 486; G. Wagner, in: Blaurock / Hager (Hrsg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), S. 13, 19 f. 28 Siehe oben Kapitel 4 § 1 B. 29 Siehe oben Kapitel 4 § 2. 30 Siehe oben Kapitel 4 § 3. 31 Siehe oben Kapitel 4 § 3 A und siehe zu den Grenzen dieses Modells auch oben Kapitel 4 § 3 A III. 32 Siehe oben Kapitel 4 § 3 B. 26 27

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Vertragsinhaltsfreiheit des Verbrauchers.33 In diesem Sinne kompensatorischer Natur sind auch unionsrechtliche Diskriminierungsverbote und Kontrahierungszwänge, welche die positive Vertragsabschlussfreiheit einer Partei um den Preis der Verkürzung der Privatautonomie des anderen Vertragsteils gewährleisten.34 Ähnlich verhält es sich mit Vertragsbeseitigungsrechten: So ermöglichen etwa Verbraucherwiderrufsrechte die neuerliche Ausübung der Abschluss-, Kontrahentenwahl- und Inhaltsfreiheit und bezwecken eine Materialisierung durch Aktualisierung der Vertragsfreiheit.35 Damit steht das Phänomen der Materialisierung nicht etwa außerhalb, sondern – ganz im Gegenteil – innerhalb des prozeduralen Funktionsmodells der Vertragsfreiheit: Die kraft Materialisierung in ihren Funktionsvoraussetzungen gestärkte Vertragsfreiheit wird wiederum im Rahmen des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus betätigt. Wie alle modernen Vertragsrechtsordnungen baut auch das EU-Schuldvertragsrecht auf eine Mischung aus einer formal-prozeduralen und einer materialen Konzeption der Vertragsfreiheit.36 VII. Interaktion der Materialisierungsinstrumente des BGB und des Unionsprivatrechts Das Privatrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten teilen sich vielfach die Aufgabe der Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit. Wo die faktischen Grundlagen rechtsgeschäftlicher Selbstbestimmung – etwa durch Willensmängel – bedroht werden, sind unionsprivatrechtliche und bürgerlichrechtliche Vorschriften regelmäßig parallel anwendbar. Beispielsweise kann ein Verbraucher frei entscheiden, ob er einen Vertrag auf Basis eines unionsrechtlich fundierten Widerrufsrechts oder aber mithilfe bürgerlich-rechtlicher Instrumente, etwa einer Anfechtung nach §§ 119 ff. BGB, oder im Wege der Naturalrestitution über § 311 Abs. 2, § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2, § 249 BGB zu Fall bringt. 37 Obschon das unionale Widerrufsrecht an einer typisierten, die bürgerlich-rechtlichen Anfechtungstatbestände hingegen an einer konkreten Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit ansetzen, wird im Anwendungsbereich des Unionsrechts hier wie dort die unionale Vertragsfreiheit materialisiert.

Siehe oben Kapitel 4 § 3 D. Siehe oben Kapitel 4 § 3 C. 35 Siehe oben Kapitel 4 § 3 F. 36 Vgl. bereits G. Wagner, ZEuP 2007, 180, 193. Anders wohl Starke, EU-Grundrechte und Vertragsrecht (2016), S. 256 und 274 f., der insbesondere aus der Alemo-HerronEntscheidung des EuGH ein formales Verständnis der Vertragsfreiheit ableitet, sodann aber die „Förderung materialer Vertragsfreiheit“ durch die Unionsrechtsordnung konzediert (S. 403). 37 Siehe oben Kapitel 5 § 2 A II und oben Kapitel 5 § 2 B. 33 34

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Die elektive Konkurrenz dieser Instrumente reicht indes nur so weit, wie sie die gleiche Stoßrichtung verfolgen. Wenn die Tatbestände des Bürgerlichen Rechts einerseits und die Materialisierungsinstrumente des EUPrivatrechts andererseits die Vertragsfreiheit unterschiedlicher Parteien zu materialisieren suchen, müssen die dadurch entstehenden Konflikte in unionsrechtskonformer Weise aufgelöst werden.38 Ist ein Vertrag nach deutschem Privatrecht, z. B. infolge einer Anfechtung des Unternehmers gemäß § 142 BGB oder aber aufgrund von Sittenwidrigkeit nach § 138 BGB, nichtig, kann der effet utile des Unionsrechts gebieten, dass gegebenenfalls mithilfe der Figur der Kipp’schen Doppelwirkung im Recht einem Verbraucher dennoch der unionsrechtlich vorgesehene Widerruf seiner Vertragserklärung ermöglicht wird.39 VIII. Indienstnahme des BGB zur Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit Das deutsche Bürgerliche Recht wird teilweise unmittelbar in den Dienst der Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit gestellt. So sind zahlreiche Materialisierungsinstrumente des EU-Privatrechts in Richtlinien enthalten, die durch Vorschriften des BGB umgesetzt werden. Hier verwirklicht und materialisiert das deutsche Bürgerliche Recht die unionale Vertragsfreiheit. Dies trifft zuweilen selbst auf nicht-harmonisierte Areale des BGB zu: Der Effektivitätsgrundsatz und die Schutzpflichtendimension der unionalen Vertragsfreiheit können die Instrumente des Bürgerlichen Rechts überformen und zur Materialisierung der Vertragsfreiheit unionaler Provenienz heranziehen.40 Dies wird insbesondere in Fallgestaltungen relevant, in denen rechtsgeschäftliche Selbstbestimmung im anspruchsvollen Sinne nur durch eine Ergänzung des unionsprivatrechtlichen Instrumentariums erreicht werden kann. Das BGB übernimmt dabei im Wesentlichen drei Funktionen: Erstens dient es als akzessorische Flankierung der Materialisierungsinstrumente des EU-Privatrechts und sichert im Interesse des effet utile die dort vorgesehenen Rechtsfolgen ab.41 Zweitens kann das deutsche Bürgerliche Recht gerade bei der Verletzung unionaler Informationspflichten eine weitgehend autonome Rechtsfolgenanordnung treffen, die lediglich der unionsrechtlichen Zielvorgabe unterliegt, dass die jeweilige Rechtsfolge werthaltige Selbstbestimmungsmöglichkeiten eröffnen muss.42 Eine solche Komplementärfunktion übernehmen z. B. die Anfechtungstatbestände der §§ 119 ff. BGB bei der Verletzung vertragsschlussrelevanter Informationspflichten im Finanzdienstleistungs- und Ver38 39 40 41 42

Siehe oben Kapitel 5 § 2 A I. Siehe oben Kapitel 5 § 2 A I. Siehe oben Kapitel 5 § 1. Siehe oben Kapitel 5 § 3 A II 1 sowie oben Kapitel 5 § 2 C III. Siehe oben Kapitel 5 § 3 A II 2.

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brauchervertragsrecht wie auch bei einem durch Verstöße gegen die Vorgaben der E-Commerce-Richtlinie hervorgerufenen Inhalts- oder Erklärungsirrtum.43 Darüber hinaus kann auch die culpa in contrahendo unionsrechtlich aufgeladen werden, beispielsweise soweit die PRIIP-Verordnung eine vorvertragliche Informationshaftung bei Versicherungsverträgen und Kapitalanlageprodukten gebieten.44 Des Weiteren muss § 311 Abs. 2 BGB gegebenenfalls bei Verstößen gegen die Bonitätsprüfungspflicht im Verbraucherkreditvertragsrecht in Stellung gebracht werden.45 Schließlich kommt den Generalklauseln des BGB, drittens, die Rolle einer Auffangordnung zu: Als Bestandteil der objektiven Werteordnung des EURechts kann die unionale Vertragsfreiheit über §§ 138, 242 BGB in das deutsche Privatrecht hineinwirken.46 Beispielsweise mag die unionale Vertragsfreiheit daher – zumindest auch – den Maßstab im Rahmen des § 138 Abs. 1 BGB bilden, soweit die in Deutschland bislang allein anhand des Art. 2 Abs. 1 GG beurteilten Angehörigenbürgschaften durch die Verbraucherkredit- und Klauselrichtlinien in den Anwendungsbereich des Unionsrechts gelangen.47 Insgesamt baut das EU-Privatrecht auch bei der Materialisierung der Vertragsfreiheit auf einen „hybriden Kodex“, der genuin unionsrechtliche Elemente mit dem mitgliedstaatlichen Zivilrecht kombiniert.48 IX. Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit durch Zivilprozessrecht Auf die Ebene des Zivilprozessrechts verlagert sich die Materialisierung, sobald weder das materielle Privatrecht der EU noch das deutsche Bürgerliche Recht in der Lage sind, tatsächliche Selbstbestimmungschancen und somit Vertragsfreiheit im anspruchsvollen Sinne zu ermöglichen. Als Antriebskräfte der Materialisierung durch Zivilprozessrecht wirken in erster Linie der Effektivitätsgrundsatz sowie die Schutzpflichtendimension der unionalen Vertragsfreiheit.49 Diese Instrumente erzwingen eine Einschränkung der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie. Besonders ausgeprägt ist dieses Phänomen im Verbrauchervertragsrecht. Hier sieht der EuGH die Mitgliedstaaten in der Pflicht, das unionsrechtlich gebotene Niveau rechtsgeschäftlicher Selbstbestimmungsfreiheit verfahrensrechtlich in allen Stadien des Zivilprozesses abzusichern.50 Obschon die Unionsrechtsordnung die Prozessmaximen der deutschen ZPO ebenfalls aner43 44 45 46 47 48 49 50

Siehe oben Kapitel 5 § 2 A III. Siehe oben Kapitel 5 § 2 B II. Siehe oben Kapitel 5 § 2 B III und oben Kapitel 5 § 2 B IV. Siehe oben Kapitel 5 § 2 C I. Siehe oben Kapitel 5 § 2 C II. Vgl. zum Begriff des „hybriden Kodex“ bereits Basedow, AcP 200 (2000), 445. Siehe oben Kapitel 6 § 1. Siehe oben Kapitel 6 § 2.

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kennt,51 durchbricht der Gerichtshof insbesondere den Dispositions- und teilweise sogar den Antragsgrundsatz dahingehend, dass bestimmte Materialisierungsinstrumente von Amts wegen angewendet werden müssen.52 Hinzu kommt, dass der EuGH auch die Beibringung des Prozessstoffs nicht allein den Parteien überlässt, soweit die Sachverhaltselemente Voraussetzung für die Anwendung der unionaler Materialisierungsinstrumente sind. Damit erzwingt der Gerichtshof einen bereichsspezifischen Schwenk des mitgliedstaatlichen Zivilprozesrechts hin zum Untersuchungsgrundsatz.53 Schließlich kann das Unionsrecht Einfluss auf die Handhabung zivilprozessualer Vorschriften nehmen, die Ausdruck des Konzentrations- und Beschleunigungsgrundsatzes sind: Hervorzuheben ist hierbei die Präklusion nach § 296 ZPO sowie das Novenrecht gemäß §§ 529 ff. ZPO.54 Die unionsrechtlich determinierten Prüfungs- und Untersuchungskompetenzen des Gerichts sind dabei durch den Streitgegenstand sowie durch den in Art. 47 GRCh verankerten Grundsatz des fairen Verfahrens und der Waffengleichheit der Parteien zu begrenzen.55 Insbesondere müssen die Parteien über eine etwaige amtswegige Erforschung des Tatsachenstoffs gemäß § 139 Abs. 2 ZPO in Kenntnis gesetzt werden, um sie vor Überraschungsentscheidungen zu bewahren und ihnen die Möglichkeit zur Äußerung sowie zur streitigen Verhandlung unter Einbeziehung aller relevanten Informationen zu geben.56 Soweit die unionale Vertragsfreiheit nicht bereits im Rahmen des Erkenntnisverfahrens materialisiert werden kann, mögen der Effektivitätsgrundsatz und die unionsgrundrechtlichen Schutzpflichten gebieten, dass die Materialisierung im Einzelfall auch auf die Phase der Zwangsvollstreckung ausgedehnt wird.57 Zu denken ist z. B. an Konstellationen, in denen ein Konsument mangels Belehrung keine Kenntnis von seinem Verbraucherwiderrufsrecht hatte. Hier muss dem Verbraucher die Geltendmachung dieses Rechts notfalls noch im Stadium der Zwangsvollstreckung mithilfe einer Vollstreckungsabwehrklage möglich sein, wobei die nationalen Präklusionsvorschriften der § 767 Abs. 2, § 796 Abs. 2 ZPO dann durch das Unionsrecht überlagert werden können.58 Siehe oben Kapitel 6 § 2 A. Siehe oben Kapitel 6 § 2 B I. Laut EuGH Urt. v. 1.10.2015 – Rs. C-32/14 (ERSTE Bank Hungary), EU:C:2015:637 Rn. 42 soll ein mitgliedstaatliches Gericht bei der Anwendung des unionalen Verbrauchervertragsrechts „vorbehaltlich der Einhaltung des Grundsatzes des kontradiktorischen Verfahrens alle Konsequenzen […] ziehen […], ohne einen entsprechenden Antrag des Verbrauchers abzuwarten“ (Herv. d. Verf.). Siehe auch EuGH Urt. v. 21.2.2013 – Rs. C-472/11 (Banif Plus Bank), EU:C:2013:88 Rn. 36. 53 Siehe oben Kapitel 6 § 2 B II. 54 Siehe oben Kapitel 6 § 2 B III. 55 Siehe oben Kapitel 6 § 2 B I 2 und oben Kapitel 6 § 2 B II 3. 56 Siehe oben Kapitel 6 § 2 C. 57 Siehe oben Kapitel 6 § 3. 58 Siehe oben Kapitel 6 § 3 A und oben Kapitel 6 § 3 B II. 51 52

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Schließlich stellt der EuGH auch das Mahnverfahrensrecht nach §§ 688 ff. ZPO in den Dienst der Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit.59 Allerdings wird das Mahngericht weder auf die Untersuchungsmaxime verpflichtet noch eine Mahnverfahrenssperre für Forderungen aus Verbraucherverträgen statuiert.60 Angesichts der kursorischen Tatsachenangaben im Mahnverfahren drohen die Materialisierungsinstrumente des Konsumentenvertragsrechts in der Praxis oftmals unangewendet zu bleiben.61 Beim derzeitigen Stand rückt daher die nachgelagerte Korrektur mithilfe der § 767, § 796 Abs. 2 ZPO sowie gegebenenfalls des § 826 BGB in den Fokus, wenn ein Vollstreckungsbescheid unionalen Materialisierungsinstrumenten zuwiderläuft. 62 Ob diese von einem Rechtsbehelf des Verbrauchers abhängige nachträgliche Korrektur über § 767, § 796 Abs. 2 ZPO, § 826 BGB den Anforderungen des Unionsrechts genügt, kann letztverbindlich nur der EuGH entscheiden.63 Insgesamt wird das Zivilprozessrecht als entlang der Prozessphasen gegliederte mehrstufige Auffangordnung umfassend zur Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit herangezogen.64 Während der EuGH sich dabei bislang vor allem auf das Verbrauchervertragsrecht konzentriert hat, liegt eine Materialisierung durch das Zivilprozessrecht beispielsweise im unionalen Antidiskriminierungsrecht sowie im Finanzdienstleistungsvertragsrecht gleichermaßen nahe.65 X. Entwicklung eines Materialisierungssystems um die unionale Vertragsfreiheit In der Unionsrechtsordnung bildet sich ein System zur Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit heraus, dessen Elemente zum einen sowohl unionaler als auch mitgliedstaatlicher Provenienz sind und sich zum anderen in materiell- und prozessrechtliche Instrumente untergliedern. In diesem System ist die unionale Vertragsfreiheit Leitprinzip und Schranke zugleich. Die Materialisierung der Vertragsfreiheit der einen Partei bedeutet regelmäßig eine Verkürzung der Privatautonomie der anderen Partei. Entsprechend dürfen solche Interventionen immer nur so weit gehen, wie sie erforderlich und verhältnismäßig sind. Dabei dient zuvörderst der Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus als Maßstab. Wo dieser Mechanismus die – gegebenenfalls bereits in gewissem Umfang materialisierte – Vertragsfreiheit Siehe oben Kapitel 6 § 4 A. Siehe oben Kapitel 6 § 4 B und oben Kapitel 6 § 4 C I. 61 Siehe oben Kapitel 6 § 4 C III. 62 Siehe oben Kapitel 6 § 4 C II. 63 Vgl. zu den unionsrechtlichen Anforderungen wiederum nur EuGH Urt. v. 18.2.2016 – Rs. C-49/14 (Finanmadrid), EU:C:2016:98 Rn. 46 und Rn. 50 ff. 64 Siehe oben Kapitel 6 § 5 A I. 65 Siehe oben Kapitel 6 § 5 A II. 59 60

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wieder aus eigener Kraft in dem unionsrechtlich gebotenen Umfang zu verwirklichen vermag, finden die Materialisierungsinstrumente regelmäßig ihre Grenze.66 Eine weitere Schranke bilden allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts. Insbesondere kann das Verbot des Rechtsmissbrauchs z. B. sowohl Vertragslösungsrechten im Verbraucher- und Finanzdienstleistungsrecht als auch der Berufung auf das EU-Antidiskriminierungsrecht entgegengehalten werden.67 Das Materialisierungssystem bildet drei „konzentrische Schutzwälle“68 um die Vertragsfreiheit, wobei die einzelnen Instrumente auf jeder dieser Ebenen entsprechend ihrer Eingriffsintensität abgestuft sind: Am äußeren Rand liegen, erstens, markt- und wettbewerbsbezogene Rechtsakte, welche die Funktionsvoraussetzung für die Entfaltung der Vertragsfreiheit gewährleisten.69 Dieser Rahmen schafft eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung für den Genuss der unionalen Vertragsfreiheit im anspruchsvollen Sinne. Vielmehr muss diese Freiheit bei Bedarf auch auf individualvertraglicher Ebene materialisiert werden: Diese Aufgabe übernehmen, zweitens, die Materialisierungsinstrumente des EU-Privatrechts und – unter dem Einfluss des Effektivitätsgrundsatzes sowie unionsgrundrechtlicher Schutzpflichten – auch des deutschen Bürgerlichen Rechts.70 Schließlich wird auf letzter Stufe, drittens, das Zivilprozessrecht in den Dienst der Materialisierung gestellt. 71 Durch das kaskadenförmige Materialisierungssystem wird zugleich die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass der Vertrags- und Marktmechanismus in Bezug auf den Vertragsinhalt eine „Richtigkeitsgewähr“ bieten kann.72 XI. Vertragsfreiheit als Grenze der mitgliedstaatlichen und unionalen Kontrolle von Vertragsinhalten Eine lückenlose und pauschale richterliche Inhaltskontrolle sowohl der essentialia negotii als auch individuell ausgehandelter Vertragsinhalte stellt den privatrechtlichen Vertrag als Instrument der Selbstbestimmung infrage. Vor allem werden auch die von den Parteien intendierte Rechts- und Planungssicherheit und somit zentrale Vertragsfunktionen gefährdet. Ein allgemeiner „Korrekturvorbehalt“ führt daher zwar nicht in jedem Einzelfall zu einem Siehe oben Kapitel 7 § 1 A I. Siehe oben Kapitel 7 § 1 A II. So nun mit Blick auf das Antidiskriminierungsrecht ausdrücklich auch EuGH Urt. v. 28.6.2016 – Rs. C-423/15 (R+V Allgemeine Versicherung), EU:C:2016:604 Rn. 44. 68 Vgl. zum Bild der Schutzwälle bereits Busch, Informationspflichten im Wettbewerbs- und Vertragsrecht (2008), S. 167 f. 69 Siehe oben Kapitel 7 § 1 B I und oben Kapirel 7 § 1 B II sowie eingehend oben Kapitel 4 § 2. 70 Siehe oben Kapitel 7 § 1 B I und oben Kapitel 4 § 3 sowie oben Kapitel 5. 71 Siehe oben Kapitel 7 § 1 B I sowie eingehend oben Kapitel 6. 72 Siehe oben Kapitel 7 § 1 B III. 66 67

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unmittelbaren und gegenwärtigen Eingriff in den Kernbereich der Vertragsfreiheit, wohl aber zu einer verletzungsgleichen Grundrechtsgefährdung.73 Vor diesem Hintergrund verbietet die unionale Vertragsfreiheit – entgegen den Andeutungen des EuGH in der Rechtssache Caja de Ahorros – eine anlasslose und unbegrenzte Kontrolle der essentialia negotii sowie individuell ausgehandelter Vertragsinhalte. Unter Erforderlichkeits- und Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten bleibt der Schutz gegen vertragliche „Extremabweichungen“ in der Regel einer konkret-anlassbezogenen Einzelfallprüfung überlassen.74 In erster Linie kommen damit die mitgliedstaatlichen Generalklauseln und im deutschen Bürgerlichen Recht vor allem §§ 138, 242 BGB zum Einsatz. Der Wesensgehalt unionaler Vertragsfreiheit muss auch gewahrt werden, soweit Art. 8 Klauselrichtlinie es prima facie allein den Mitgliedstaaten überlässt, die Inhaltskontrolle abweichend von Art. 3, Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie auf die essentialia negotii und auf Individualvereinbarungen auszuweiten. Art. 8 Klauselrichtlinie gestattet nur eine primärrechts- und und damit insbesondere auch unionsgrundrechtskonforme „überschießende“ Inhaltskontrolle durch mitgliedstaatliches Privatrecht.75 Die entsprechenden Normen des mitgliedstaatlichen Schuldvertragsrechts sind daher vertragsfreiheitskonform auszulegen und anzuwenden. Daher ist z. B. mit Blick auf § 307 Abs. 3 S. 1 BGB zu fragen, ob die in Deutschland praktizierte umfassende Inhaltskontrolle transparenter „Preisnebenabreden“ stets den unionsrechtlichen Anforderungen genügt.76 Einer unionsrechtskonformen Handhabung bedarf insbesondere auch Art. L 212-1 i.V.m. Art. R 212-1 Code de la consommation, der im französischen Schuldrecht eine automatische Kassation bestimmter Klauseln in Individualvereinbarungen vorschreibt.77 Ebenso sind im spanischen Recht entgegen des Wortlauts der Ley Sobre Condiciones Generales de la Contratación die essentialia negotii grundsätzlich von der allgemeinen Inhaltskontrolle auszunehmen.78 XII. Vertragsfreiheit und ihre Materialisierung als Richtschnur des Schuldvertragsrechts der EU und ihrer Mitgliedstaaten Ohne weithin sichtbare Anerkennung der Vertragsfreiheit wäre das Schuldvertragsrecht eine Materie ohne klaren Kompass. Gerade das auf unterschiedliche Rechtsakte verstreute Privatrecht der Europäischen Union bedarf eines Siehe oben Kapitel 7 § 2 B. Siehe erneut oben Kapitel 7 § 2 B II. 75 Siehe oben Kapitel 7 § 2 A und oben Kapitel 7 § 2 B. Vgl. erneut Art. 8 Klauselrichtlinie: „Die Mitgliedstaaten können auf dem durch diese Richtlinie geregelten Gebiet mit dem Vertrag vereinbare strengere Bestimmungen erlassen“ (Herv. d. Verf.). 76 Siehe oben Kapitel 7 § 2 C I 3. 77 Siehe oben Kapitel 7 § 2 C I. 78 Siehe oben Kapitel 7 § 2 C I. 73 74

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Fixpunkts, der die Ausrichtung und Systematisierung dieser oftmals wenig kohärenten Materie erleichtert. Als allgemeiner Rechtsgrundsatz des EUPrivatrechts und als Unionsgrundrecht kann die unionale Vertragsfreiheit das Schuldvertragsrecht im Binnenmarkt umrahmen und formen. Der privatrechtliche Grundsatz fungiert als Auslegungsleitlinie und hilft, Regelungslücken zu überbrücken.79 Dabei ist der „prima facie-Vorrang des Prinzips der rechtlichen Freiheit“ von besonderer Bedeutung, wo das EU-Privatrecht primär auf die Einhegung rechtsgeschäftlicher Privatautonomie bedacht ist.80 Weitaus mehr als das Binnenmarktziel eignet sich die Vertragsfreiheit zudem als Fundament und Bindeglied des Schuldvertragsrechts der Union. Als EU-Grundrecht bildet die Vertragsfreiheit das wohl wichtigste „Gelenk“ zwischen den Unionsgrundrechten und dem Schuldvertragsrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten.81 Auf der einen Seite hält sie die Union und ihre Organe an, bei der Rechtsetzung ebenso wie bei der Rechtsanwendung stets die Freiheitssphären der Akteure im Binnenmarkt zu beachten und zu wahren. Im Anwendungsbereich des EU-Rechts wirkt die unionale Vertragsfreiheit auch auf eine autonomiefreundliche Gestaltung und Handhabung mitgliedstaatlichen Schuldvertragsrechts hin. Auf der anderen Seite fordert die Schutzpflichtendimension der unionalen Vertragsfreiheit eine Materialisierung dieser Freiheit und beeinflusst damit wiederum sowohl das Privatrecht der EU als auch das ihrer Mitgliedstaaten.82 Die unionale Vertragsfreiheit bildet darüber hinaus ein wirkmächtiges Gegengewicht zur bislang einseitig auf Gleichheits- und Solidaritätsgrundrechte fokussierten Konstitutionalisierung des Unionsprivatrechts.83 Tatsächlich bringt der EuGH in seiner AGET-Entscheidung die rechtsgeschäftliche Privatautonomie erstmals als Antipode zu den Art. 30 ff. GRCh in Stellung und belässt der Vertragsfreiheit im privatrechtlichen Kontext die Oberhand.84 Der Siehe erneut oben Kapitel 3 § 1 B I. Siehe erneut oben Kapitel 3 § 1 B II. 81 Vgl. mit Blick auf die Vertragsfreiheit des Grundgesetzes und das deutsche Bürgerliche Recht bereits Huber, Die verfassungsrechtliche Bedeutung der Vertragsfreiheit (1966), S. 1. 82 Vgl. erneut oben Kapitel 4 § 1 B und oben Kapitel 4 § 3 sowie oben Kapitel 5. 83 Siehe erneut oben Einleitung A IV zur einseitigen Konstitutionalisierung des Unionsprivatrechts im Gefolge der Entscheidungen EuGH Urt. v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981 Rn. 75 ff.; EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 18 ff.; EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 (Test-Achats), Slg. 2011, I-773 Rn. 16 ff.; EuGH Urt. v. 19.4.2016 – Rs. C-441/14 (Dansk Industri), EU:C:2016:278 Rn. 21 ff. 84 Vgl. wiederum EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C: 2016:972 Rn. 67 ff. und 85 ff., wobei der Gerichtshof hier zusätzlich auf die Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49 AEUV rekurriert. Vgl. zur Wirkmacht der unionalen Vertragsfreiheit bereits EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 31 ff. 79 80

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„Autonomieverlust des Privatrechts“85 lässt sich damit paradoxerweise nur verhindern, indem die Konstitutionalisierung des Unionsprivatrechts einerseits als gegeben akzeptiert, diesem Phänomen aber andererseits durch die Betonung der grundrechtlichen Dimension der Vertragsfreiheit die Einseitigkeit genommen wird. Angesichts der umfassenden Freiheitverbürgung ist die Annahme überholt, dass die Vertragsfreiheit in der Europäischen Union „nur deshalb und nur soweit aufrechterhalten [wird], wie sie dem Markt unmittelbar förderlich ist“.86 Vielmehr wird die Vertragsfreiheit als allgemeiner privatrechticher Rechtsgrundsatz und als EU-Grundrecht um ihrer selbst willen geschützt. In allen unionsrechtlich determinierten Bereichen genießt der Einzelne diese Freiheit damit nicht nur als „Rädchen in der wirtschaftlichen Gesamtmaschinerie“,87 sondern vielmehr als umfassende rechtliche Garantie seiner Selbstbestimmungsfreiheit in vertraglichen Angelegenheiten.88 Dies hat weitreichende Folgen für das Grundverständnis des Unionsprivatrechts: Das Privatrecht der EU ebenso wie das unionsrechtlich überformte Zivilrecht der Mitgliedstaaten sind nicht bloße Diener des Binnenmarktziels, sondern Instrumente zur Verwirklichung der Freiheit des Einzelnen.

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Zacher, Hans F.: Was können wir über das Sozialstaatsprinzip wissen?, in: Stödter, Rolf / Thieme, Werner (Hrsg.), Festschrift für Hans Peter Ipsen zum 70. Geburtstag, Tübingen 1977, S. 207–267 (zit.: Zacher, FS Ipsen (1977)). Zeno-Zencovich, Vincenzo / Paglietti, Maria Cecilia: Le Droit Processuel des Consommateurs, RIDC 91 (2014), 321–355. Zimmermann, Reinhard: The Law of Obligations, Oxford 1996 (zit.: Zimmermann, Law of Obligations (1996)). –: Consumer Contract Law and General Contract Law: The German Experience, Current Leg. Probl. 58 (2005), 415–489. –: Vertrag und Versprechen – Deutsches Recht und Principles of European Contract Law im Vergleich, in: Lorenz, Stephan / Trunk, Alexander / Eidenmüller, Horst u.a. (Hrsg.), Festschrift für Andreas Heldrich zum 70. Geburtstag, München 2005, S. 467–484 (zit.: Zimmermann, FS Heldrich (2005)). Zöchling-Jud, Brigitta: Acquis-Revision, Common European Sales Law und Verbraucherrechterichtlinie, AcP 212 (2012), 550–574. Zöller, Richard (Begr.): Zivilprozessordnung, 31. Aufl. Köln 2016 (zit.: Zöller / Bearbeiter (2016)). Zöllner, Wolfgang: Regelungsspielräume im Schuldvertragsrecht: Bemerkungen zur Grundrechtsanwendung im Privatrecht und zu den sogenannten Ungleichgewichtslagen, AcP 196 (1996), 1–36. Zukas, Tadas: Einfluss der „Unidroit Principles of International Commercial Contracts" und der „Principles of European Contract Law“ auf die Transformation des Vertragsrechts in Litauen, Bern 2011 (zit.: Zukas, Transformation des Vertragsrechts in Litauen (2011)). Zweigert, Konrad: Der Einfluss des Europäischen Gemeinschaftsrechts auf die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, RabelsZ 28 (1964), 601–643. –: „Rechtsgeschäft“ und „Vertrag“ heute, in: von Caemmerer, Ernst / Mentschikoff, Soia / Zweigert, Konrad (Hrsg.), Festschrift für Max Rheinstein zum 70. Geburtstag, Band II, Tübingen 1969, S. 493–504 (zit.: Zweigert, FS Rheinstein II (1969)). Zweigert, Konrad / Kötz, Hein: Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl. Tübingen 1996 (zit.: Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung (1996)).

Verzeichnis wichtiger Entscheidungen

Verzeichnis wichtiger Entscheidungen Verzeichnis wichtiger Entscheidungen EuGH Urt. v. 15.7.1964 – Rs. 6/64 – Costa/E.N.E.L. ........................................... 8, 21, 160 EuGH Urt. v. 17.12.1970 – Rs. 11/70 – Internationale Handelsgesellschaft ....................7 f. EuGH Urt. v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 – Defrenne II .................................................. 50, 137 f. EuGH Urt. v. 16.12.1976 – Rs. 33/76 – Rewe ................................. 237, 396, 398, 461, 495 EuGH Urt. v. 16.12.1976 – Rs. 45/76 – Comet ....................................................... 237, 398 EuGH Urt. v. 16.1.1979 – Rs. 151/78 – Sukkerfabriken Nykøbing .......................... 110, 275 EuGH Urt. v. 17.6.1992 – Rs. C-26/91 – Handte ..............................................65, 206, 293 EuGH Urt. v. 13.10.1993 – Rs. C-93/92 – CMC............................................................... 98 EuGH Urt. v. 5.5.1994 – Rs. C-421/92 – Habermann-Beltermann .................. 145, 407, 449 EuGH Urt. v. 9.12.1997 – Rs. C-265/95 – Kommission/Frankreich ................. 259, 261, 272 EuGH Urt. v. 5.10.1999 – Rs. C-240/97 – Spanien/Kommission................................ 110, 122, 169, 216 f., 223, 240, 242, 246, 275 EuGH Urt. v. 27.1.2000 – Rs. C-190/98 – Graf................................................................ 98 EuGH Urt. v. 23.3.2000 – Rs. C-373/97 – Diamantis ...................................... 412, 542, 546 EuGH Urt. v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 – Angonese ........................................................ 100, 131, 137, 234, 270, 272, 282, 362 f. EuGH Urt. v. 13.12.2001 – Rs. C-481/99 – Heininger ............................ 437, 496, 521, 545 EuGH Urt. v. 17.9.2002 – Rs. C-334/00 – Tacconi ........................................ 65, 81, 206 f. EuGH Urt. v. 27.2.2003 – Rs. C-320/01 – Busch ........................................................ 407 f. EuGH Urt. v. 12.6.2003 – Rs. C-112/00 – Schmidberger ..................219 f., 233 f., 259, 272 EuGH Urt. v. 20.1.2005 – Rs. C-27/02 – Engler ........................................... 62, 65, 67, 206 EuGH Urt. v. 25.10.2005 – Rs. C-229/04 – Crailsheimer Volksbank ....... 405, 414, 437, 496 EuGH Urt. v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 – Schulte ......................... 427, 429 f., 435 ff., 496 EuGH Urt. v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 – Mangold ............................. 13, 150, 155, 160, 166, 219, 229, 232, 256, 267 f., 270, 633 EuGH Urt. v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 – Werhof ............ 61, 107, 115, 118, 207, 223, 294 f. EuGH Urt. v. 26.10.2006 – Rs. C-168/05 – Mostaza Claro ............................................................ 304, 321, 325, 332, 335, 374, 471 EuGH Urt. v. 18.7.2007 – Rs. C-277/05 – Société thermale .................................................. 115, 118, 152 f., 273, 280, 284 f., 287 EuGH Urt. v. 10.4.2008 – Rs. C-412/06 – Hamilton ................................................ 11, 152 f., 287, 416, 425, 541, 551, 557 f., 562 EuGH Urt. v. 17.7.2008 – Rs. C-94/07 – Raccanelli ................... 99 f., 131, 137, 234, 362 f. EuGH Urt. v. 16.10.2008 – Rs. C-298/07 – DIV........................... 360, 385, 421, 426, 434 f. EuGH Urt. v. 14.5.2009 – Rs. C-180/06 – Ilsinger ..................................................... 62, 67 EuGH Urt. v. 4.6.2009 – Rs. C-243/08 – Pannon ............ 304, 335, 374, 378, 459, 467, 469, 471, 473 f., 479, 491 f., 505 f., 584 f. EuGH Urt. v. 3.9.2009 – Rs. C-489/07 – Messner ...... 11, 152 ff., 280, 412, 541 f., 549, 582

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Verzeichnis wichtiger Entscheidungen

EuGH Urt. v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 – Audiolux ......................................................... 23, 131, 151, 154 f., 160, 162 f., 277, 361 EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 – Kücükdeveci ............... 13 ff., 102, 150, 155, 157, 159 f., 228, 236, 239, 255 ff., 261, 267, 269 f., 274, 277, 633 EuGH Urt. v. 20.5.2010 – Rs. C-434/08 – Harms ........................................... 121, 217, 223 EuGH Urt. v. 3.6.2010 – Rs. C-484/08 – Caja de Ahorros .................................................. 95, 590, 592 ff., 602, 605, 609 ff., 616 EuGH Urt. v. 9.11.2010 – Rs. C-137/08 – VB Pénzügyi Lízing....... 305, 335, 374, 378, 459, 467, 469, 471, 475, 479 f., 482, 484, 505 f., 520, 583 EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 – Test-Achats .....................11, 13 ff., 102, 112, 157, 159 ff., 256, 264 ff., 269 f., 275, 367, 578, 633 EuGH Urt. v. 14.6.2012 – Rs. C-618/10 – Banco Español de Crédito ..................... 335, 371, 459, 471, 480, 499 f., 504 ff., 508, 511, 513 EuGH Urt. v. 12.7.2012 – Rs. C-602/10 – Volksbank România ............................. 98 f., 282 EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 – Sky Österreich .........17, 109, 111, 119, 136, 142, 205, 207 f., 217, 219 ff., 225, 228, 244, 249, 530, 622 EuGH Urt. v. 7.2.2013 – Rs. C-543/10 – Refcomp ............. 68 f., 127 ff., 168, 293, 295, 300 EuGH Urt. v. 21.2.2013 – Rs. C-472/11 – Banif Plus Bank ........................ 335, 467, 473 f., 480, 490 ff., 505, 518, 567, 583 ff., 588, 629 EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 – Fransson .................................... 8 f., 102 f., 159, 230, 232, 237 f., 243 f., 247, 268, 446 EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-399/11 – Melloni .............................. 8 ff., 103, 238, 243 f. EuGH Urt. v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 – Aziz ........................ 290, 314, 335, 374 f., 379 f., 459, 471, 493, 498, 580 EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 – Alemo-Herron .........17, 109, 111, 118, 161, 170, 201, 204 f., 208 ff., 214, 221, 223, 228, 241 f., 244, 249, 255, 265 f., 269, 292, 295, 305 f., 308 f., 321, 331, 348, 366, 598, 601, 622, 624, 633 EuGH Beschl. v. 14.11.2013 – verb. Rs. C-537/12 u. a. – Banco Popular........................................................................ 314, 335, 377, 379 f., 580 EuGH Urt. v. 19.12.2013 – Rs. C-209/12 – Endress......... 349, 353, 382, 387 f., 405, 416 f., 437, 521 f., 545, 558 f., 561 f. EuGH Urt. v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 – Association de médiation sociale ........................................ 9, 12, 15, 102, 204, 230, 257, 261, 263, 267, 274, 337 EuGH Urt. v. 27.3.2014 – Rs. C-565/12 – Crédit Lyonnais .......................................................239, 369, 397 f., 401 f., 429 ff., 464 EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-280/13 – Barclays ........... 11, 154, 156, 158, 245 f., 272 f., 275 f., 375 f., 459, 493, 581 EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 – Kásler .......................60, 115, 128, 210, 212, 214, 273, 304, 313, 317 f., 354, 357, 382, 538, 540, 575, 593 ff., 599 ff., 613 EuGH Urt. v. 17.7.2014 – Rs. C-169/14 – Sánchez Morcillo ....... 459, 478, 487, 493, 499 ff. EuGH Urt. v. 26.2.2015 – Rs. C-143/13 – Matei ......................210, 212 ff., 379, 593, 611 f. EuGH Urt. v. 23.4.2015 – Rs. C-96/14 – Van Hove ........................................................ 22, 60, 304, 357, 382, 538, 540, 599, 601 EuGH Urt. v. 21.5.2015 – Rs. C-352/13 – CDC ........................................ 55, 154, 334, 340 EuGH Urt. v. 4.6.2015 – Rs. C-497/13 – Faber................................................459, 467, 472 f., 480 f., 484 ff., 488, 497, 513, 520 EuGH Urt. v. 16. 7. 2015 – Rs. C-170/13 – Huawei Technologies........................................................ 80, 134 f., 212, 223, 306, 368

Verzeichnis wichtiger Entscheidungen

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EuGH Urt. v. 18.2.2016 – Rs. C-49/14 – Finanmadrid ........................................................ 459, 497 f., 505 f., 511, 515, 525, 630 EuGH Urt. v. 19.4.2016 – Rs. C-441/14 – Dansk Industri ................... 3 ff., 261, 277 f., 633 EuGH Urt. v. 28.6.2016 – Rs. C-423/15 – R+V Allgemeine Versicherung ......................... 417 f., 543 f., 546 ff., 553 ff., 564 f., 631 EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 – AGET Iraklis ....................... 17, 101, 109, 111, 124, 146, 201, 208, 210, 214, 218 f., 233, 235 f., 256, 269, 281, 292, 305 f., 308 f., 321, 331, 366, 598, 601, 624, 633 EuGH Urt. v. 16.2.2017 – Rs. C-555/14 – IOS Finance .............................................. 614 f. EuG Urt. v. 19.9.2012 – verb. Rs. T-168/10 – Kommission/SEMEA ................................................................. 83, 292, 298, 300 f., 358

Sachverzeichnis

Sachverzeichnis Sachverzeichnis Abschlussfreiheit 6, 37, 95, 112, 114 ff., 130 ff., 170, 172, 176, 178, 181, 191, 193, 195, 206 ff., 213, 218, 221 f., 224 f., 248, 273, 308 ff., 321, 336, 353 f., 361, 369, 371, 382, 385, 393, 453, 522 f., 573, 601, 622, 625 f. – siehe auch Vertragsfreiheit Abwehrgrundrecht siehe Grundrechte AGB siehe Klauselkontrolle AGET Iraklis (EuGH) 17, 101, 109, 111, 124, 146, 201, 208, 210, 214, 218 f., 233, 235 f., 256, 269, 281, 292, 305 f., 308 f., 321, 331, 366, 598, 601, 624, 633 Alemo-Herron (EuGH) 17, 109, 111, 118, 161, 170, 201, 204 f., 208 ff., 214, 221, 223, 228, 241 f., 244, 249, 255, 265 f., 269, 292, 295, 305 f., 308 f., 321, 331, 348, 366, 598, 601, 622, 624, 633 Allgemeine Geschäftsbedingungen siehe Klauselkontrolle allgemeine Handlungsfreiheit 7, 103 ff., 176 allgemeine Rechtsgrundsätze 150 ff., 167 ff. – Herleitung 161 ff., 167 ff., 171 ff., 193 ff. – Einwirkung auf das Privatrecht 272 ff. – Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts 152 ff., 197 ff. – Unionsgrundrechte nach Art. 6 Abs. 3 EUV 158 ff., 199 ff. – siehe auch Rechtsmissbrauchsverbot – siehe auch Treu und Glauben – siehe auch Vertragsfreiheit Allgemeine Versicherungsbedingungen 131, 139 f., 317 f., 333, 348, 352 f., 363, 382, 390 f., 573, 605

Änderungsfreiheit 112, 114, 122 ff., 143 ff., 178, 206, 224, 248, 300, 622 – siehe auch Vertragsfreiheit Anfechtung 27, 385, 395, 404 ff., 418 ff., 455 ff., 485, 536, 626 f. – arglistige Täuschung 411 ff., 580 – Eigenschaftsirrtum 413 – Inhaltsirrtum 421 – siehe auch Materialisierung durch Indienstnahme des BGB Angonese (EuGH) 100, 131, 137, 234, 270, 272, 282, 362 f. Antidiskriminierungsrecht siehe Diskriminierungsverbote Antragsgrundsatz siehe Prozessmaximen Aquin, Thomas v. 36 Äquivalenzgrundsatz 237, 396 ff., 418, 420, 423, 427 f., 430 f., 434 f., 440 f., 446, 449 f., 462 f., 508, 518 ff. Äquivalenzverhältnis 372 ff., 590, 592, 602, 606, 611, 619 Association de médiation sociale (EuGH) 9, 12, 15, 102, 204, 230, 257, 261, 263, 267, 274, 337 Atiyah, Patrick 48 Audiolux (EuGH) 23, 131, 151, 154 f., 160, 162 f., 277, 361 Aufhebungsfreiheit 112, 114, 124, 145 f., 192, 206, 224, 248, 300, 622 – siehe auch Vertragsfreiheit Auslegung 1 f., 10 f., 19, 58, 104, 110, 156 ff., 161, 166, 172, 210, 223, 226 f., 229, 239, 245 ff., 258, 265 ff., 273 ff., 320, 381, 396 ff., 402, 407, 410, 415 f., 420, 424, 439, 489, 496, 502, 512, 544, 595, 603, 606, 611 f., 616, 624, 633 – autonome 65, 68 ff., 164, 210, 213 f., 258, 611

676

Sachverzeichnis

– unionsrechtskonforme 10, 157 f., 239, 266, 273, 320, 416, 489 – unionsgrundrechtskonforme 161, 265 ff., 397, 399, 402, 407, 420, 424, 595, 603 autonome Auslegung siehe Auslegung AVB siehe Allgemeine Versicherungsbedingungen Aziz (EuGH) 290, 314, 335, 374 f., 379 f., 459, 471, 493, 498, 580 Banco Español de Crédito (EuGH) 335, 371, 459, 471, 480, 499 f., 504 ff., 508, 511, 513 Banco Popular (EuGH) 314, 335, 377, 379 f., 580 Banif Plus Bank (EuGH) 335, 467, 473 f., 480, 490 ff., 505, 518, 567, 583 ff., 588, 629 Barclays (EuGH) 11, 154, 156, 158, 245 f., 272 f., 275 f., 375 f., 459, 493, 581 Battifol, Henri 48 Belgien 171, 176 ff. Bentham, Jeremy 39, 216 Böhm, Franz 297, 338, 341 Bonitätsprüfungspflicht bei Verbraucherkreditverträgen 428 ff.,457, 628 Bürgschaftsvertrag 446, 458 Busch (EuGH) 407 f. Caja de Ahorros (EuGH) 95, 590, 592 ff., 602, 605, 609 ff., 616 CDC (EuGH) 55, 154, 334, 340 CMC (EuGH) 98 Comet (EuGH) 237, 398 Costa/E.N.E.L. (EuGH) 8, 21, 160 Crailsheimer Volksbank (EuGH) 405, 414, 437, 496 Crédit Lyonnais (EuGH) 239, 369, 397 f., 401 f., 429 ff., 464 culpa in contrahendo 27, 395, 404, 407, 421, 424 f., 427 f., 430 f., 433 f., 436 f., 455, 457, 628 – siehe auch Materialisierung durch Indienstnahme des BGB Dansk Industri (EuGH) 13 ff., 261, 277 f., 633

DIV (EuGH) 360, 385, 421, 426, 434 f. Defrenne II (EuGH) 50, 137 f. Deutschland 40, 45, 53, 103, 171, 174, 175 f., 200, 240, 246, 536, 550, 580, 613, 628, 632 Diamantis (EuGH) 412, 542, 546 Diskriminierung siehe Diskriminierungsverbote Diskriminierungsverbote 2, 9, 112, 130, 150, 255, 277, 336 f., 347, 360 ff., 407, 452 f., 519 f., 533, 573, 577, 626 – allgemeiner Rechtsgrundsatz 150, 277 ff. – Antidiskriminierungsrecht 4, 61, 143, 145, 150, 168, 406, 519 ff, 630 f. – Binnenmarkt- und wettbewerbsbezogene Diskriminierungsverbote 361 ff. – gesellschaftspolitische Diskriminierungsverbote 150, 336, 365 ff., 370 – Staatsangehörigkeit 131, 137, 234, 270, 314, 361 ff. – unionsgrundrechtliche Dimension 277, 345 Dispositionsmaxime siehe Prozessmaximen Dühring, Eugen 45, 326 Drittwirkung siehe Grundrechte E-Commerce-Richtlinie 147, 354, 419, 421 f., 433, 450, 457, 485, 628 – siehe auch Inhalts- und Erklärungsirrtum Effektivitätsgrundsatz 20, 232, 236 ff., 246, 248, 379, 396 ff., 418, 420, 422 ff., 427 f., 430, 432, 434 ff., 440, 446, 449 ff., 453 f., 457, 462 f., 465, 467, 476 ff., 480 f., 483, 487 f., 493, 495, 497, 499 ff., 505, 512, 514, 518 ff., 523 f., 543 ff., 550, 554, 560 f., 564, 568, 570, 574, 582, 617, 622, 627 ff., 631 effet utile 11, 368, 379 f., 397 f., 399, 403, 407 ff., 413, 415 ff., 434, 440, 443, 449 f., 454, 457 f., 479, 487, 516 f., 563, 589, 627 Eigentum siehe Recht auf Eigentum elektive Konkurrenz 406, 414 ff., 456, 627

Sachverzeichnis EMRK 58, 101 f., 104, 107 f., 158, 161, 163, 182, 193, 196, 199, 201, 259 f. Endress (EuGH) 349, 353, 382, 387 f., 405, 416 f., 437, 521 f., 545, 558 f., 561 f. Engler (EuGH) 62, 65, 67, 206 Erforderlichkeit 219, 356, 528 ff., 539, 568 f., 571, 574, 598, 602, 614 ff., 617, 632 Erkenntnisverfahren 461, 487, 493 ff., 497 f., 501, 514, 524, 629 – siehe auch Materialisierung durch Zivilprozessrecht EU-Grundrechte siehe Grundrechte Eucken, Walter 51 Faber (EuGH) 459, 467, 472 f., 480 f., 484 ff., 488, 497, 513, 520 fair trial siehe Verfahrensgrundrechte Finanmadrid (EuGH) 459, 497 f., 505 f., 511, 515, 525, 630 Formfreiheit 35, 112, 114, 125 f., 146 ff., 192, 195, 206, 224, 248, 622 – siehe auch Vertragsfreiheit Fouillée, Alfred 311 Frankreich 32, 37, 40, 46, 171 ff., 246, 259, 272, 286, 603, 605, 607 f., Fransson (EuGH) 8 f., 102 f., 159, 230, 232, 237 f., 243 f., 247, 268, 446 Generalklauseln des Bürgerlichen Rechts 438 ff., 628, 632 – Unionsrechtsoffenheit der Generalklauseln 438 f., 628 – siehe auch sittenwidriges Rechtsgeschäft und Wucher – siehe auch Treu und Glauben Ghestin, Jaques 291 Gierke, Otto v. 45 Graf (EuGH) 98 Grotius, Hugo 37 f. Grundfreiheiten 3 f., 16, 52, 60, 94 ff., 109 f., 137, 164, 170, 233, 235 f., 247, 253, 257, 265, 272, 279 ff., 319 – Interaktion mit der Vertragsfreiheit 280 ff. – als Schranken der Vertragsfreiheit 99 ff.

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– Vertragsfreiheit als Rechtfertigung von Grundfreiheitsbeschränkungen 282 Grundrechte 7 ff., 16, 18 f., 21, 31, 53, 101 ff., 110, 150 f., 158 ff., 174, 176, 188, 200, 202 f., 208 f., 216 f., 219 f., 225 ff., 241, 243 ff., 247, 254 ff., 282, 292, 306, 320, 356, 397, 399 f., 438 ff., 458, 462 f., 470, 529, 592 ff., 599, 606, 618, 623, 633 – Abwehrgrundrecht 258, 264, 282, 320, 529 – Allgemeine Rechtsgrundsätze nach Art. 6 Abs. 3 EUV 21 f., 101, 106, 150 ff., 158 ff., 163 ff., 169, 182, 197, 199 ff., 205, 217, 220, 226 f., 229 f., 233, 247, 261, 268, 270, 280, 621 – Bindung der Mitgliedstaaten an Unionsgrundrechte 242, 320, 623, – Drittwirkung 100, 264, 269 ff. – EMRK 58, 101 ff., 104 f., 107 f., 158, 161, 163, 182, 193, 196, 199, 201, 259 f., – GRCh 8 ff., 14 ff., 57 ff., 101 ff., 103 ff., 107 ff., 113, 159 f., 168 f., 203 ff., 207 ff., 216 ff., 226 ff., 229 ff., 233 ff., 238, 243, 255, 259 ff., 265 f., 268 ff., 336 f., 439 ff., 501, 524, 546, 566 ff., 584, 621, 629, 633 – Institutsgarantie 263 – objektiv-rechtliche Dimension 258, 261 ff. – Privatrechtswirkungen 12 ff., 19, 25 f., 254 ff., 266 ff., 269 ff., 320, 623 – Schrankensystematik 216 ff., 225, 338 – Schutzpflichten 258 ff., 264, 270 ff., 295, 320 f., 331, 334 ff., 364 f., 387 f., 400, 402 f., 418 ff., 430, 435, 438, 440, 454, 457, 464 f., 467, 476 ff., 481, 483, 487 f., 492, 495, 497, 499 f. 502, 508, 512, 514, 518 ff., 529 ff., 570, 572, 617, 623, 625, 627 f., 631, 633 – siehe auch allgemeine Handlungsfreiheit – siehe auch Auslegung – siehe auch Menschenwürde – siehe auch Recht auf Eigentum – siehe auch Unternehmerische Freiheit – siehe auch Vertragsfreiheit

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Habermann-Beltermann (EuGH) 145, 407, 449 Habermas, Jürgen 328 f. Hamilton (EuGH) 11, 152 f., 287, 416, 425, 541, 551, 557 f., 562 Handte (EuGH) 65, 206, 293 Harms (EuGH) 121, 217, 223 Heininger (EuGH) 437, 496, 521, 545 Höchstbindungsdauer siehe Materialisierung durch Unionsprivatrecht Huawei Technologies (EuGH) 80, 134 f., 212, 223, 306, 368 Ilsinger (EuGH) 62, 67 Informationshaftung 426 ff., 433 ff., 457 – siehe auch culpa in contrahendo Informationsmodell 346 ff., 386, 393, 452 f., 539, 570, 572, 625 – Elemente 347 ff. – Funktionen 351 ff., 353 ff. – Grenzen 356 ff. Inhaltsfreiheit 36 f., 99, 117 ff., 135 ff., 170, 172, 191 f., 195, 209, 213, 218, 222, 235, 281, 291, 309 f., 321, 355, 359 f., 371 ff., 382, 385, 393, 598, 601, 614 ff., 625 f. – siehe auch Vertragsfreiheit Inhaltskontrolle siehe Klauselkontrolle Institutsgarantie siehe Grundrechte Internationale Handelsgesellschaft (EuGH) 7 f. IOS Finance (EuGH) 614 f. Italien 72, 84, 171, 187 f., 200, 235, 492 Jellinek, Georg 258 kanonisches Recht 33, 35 ff., 66, 90 Kant, Immanuel 459 Kapitalanlageprodukte 426 ff., 431, 457, 628 Kartellrecht 44, 55, 58, 76 ff., 116, 134 f., 140, 146, 209, 217, 296 f., 334, 339 ff., 344, 367 ff., 569 – siehe auch Materialisierung durch marktkonstitutive und wettbewerbsschützende Instrumente Kásler (EuGH) 60, 115, 128, 210, 212, 214, 273, 304, 313, 317 f., 354, 357, 382, 538, 540, 575, 593 ff., 599 ff., 613

Kernbereich und Wesensgehalt 26, 201, 203, 205, 206 ff., 217, 221 ff., 224 ff., 235, 241 f., 244, 248, 292, 317 f., 321, 331, 336, 338, 361, 366, 419, 453, 533, 572, 598, 600 ff., 606, 609, 612, 615, 619, 622, 624, 632 Kipp’sche Doppelwirkung im Recht Klauselkontrolle 2, 23, 211, 218, 310, 313 f., 335, 337, 347, 370 ff., 389, 436, 452, 492, 536, 570, 573, 592, 603 f., 625 – Inhaltskontrolle 19, 210, 309, 319, 360, 371 f., 374 f., 393, 517, 570, 573, 582, 588, 590 ff., 631 f. – Kontrollfähigkeit der essentialia negotii 210 ff., 527, 590, 592, 595 ff., 600 ff., 609, 611 f., 616 f., 619, 632 – Kontrollfähigkeit von Individualvereinbarungen 527, 592, 595 ff., 603 ff., 608, 613 ff., 618, 632 – Kontrollfähigkeit von Preisnebenabreden 612 f., 618, 632 – Vertragsfreiheit als Grenze 589 ff., 631 – Leitbildfunktion des dispositiven Rechts 375 f., 380 – Markttransparenzgebot 380 ff. – Transparenzkontrolle 318, 371, 380 ff., 393, 573 – Wertungen des Anhangs zur Klauselrichtlinie 289, 378 ff., 389 f. – siehe auch Materialisierung durch Unionsprivatrecht Kommission/Frankreich (EuGH) 259, 261, 272 Kommission/SEMEA (EuG) 83, 292, 298, 300 f., 358 Konstitutionalisierung des Unionsprivatrechts 2, 12 ff., 19, 633 f. kontradiktorisches Verfahren 490 ff., 503, 505, 567 f. Kontrahierungszwang 25, 80, 115, 129, 132 ff., 145, 203 f., 208 f., 212 f., 216, 218, 222, 225, 235, 337, 347, 360 ff., 452 f., 533, 573 – Binnenmarkt- und wettbewerbsbezogener Kontrahierungszwang 361, 367 f.

Sachverzeichnis – gesellschaftspolitischer Kontrahierungszwang 361, 369 f. Konzentrations- und Beschleunigungsgrundsatz siehe Prozessmaximen Kücükdeveci (EuGH) 13 ff., 102, 150, 155, 157, 159 f., 228, 236, 239, 255 ff., 261, 267, 269 f., 274, 277, 633 Lauterkeitsrecht 59 f., 333, 337, 339, 341 ff., 381, 393, 420, 435, 527, 569, 571 – siehe auch Materialisierung durch marktkonstitutive und wettbewerbsschützende Instrumente Leitbildfunktion des dispositiven Rechts siehe Klauselkontrolle Litauen 171, 190 ff., 200 Loysel, Antoine 37 Mahnbescheid siehe Mahnverfahren Mahnverfahren 27, 461, 496, 498 f., 501, 503 ff., 517 f., 525, 630 – automatisiertes Mahnverfahren 510 f., 525 – Einspruch 503, 511, 513 – Mahnbescheid 503 ff., 513, 515, – Mahnverfahrenssperre 509 f., 514, 525, 630 – Vollstreckungsbescheid 503 f., 508, 510 ff., 518 – Widerspruch 504, 506, 513 – siehe auch Materialisierung durch Zivilprozessrecht – siehe auch Vollstreckungsabwehrklage Maine, Sir Henry 40, 47 Mangold (EuGH) 13, 150, 155, 160, 166, 219, 229, 232, 256, 267 f., 270, 633 Matei (EuGH) 210, 212 ff., 379, 593, 611 f. Materialisierung 19 f., 26 ff., 251 ff., 323 ff., 395 ff., 495 ff., 527 ff. – Begriffsverständnis und Bezugspunkte 324 ff., 331 ff. – Ansatz des Unionsrechts 329 ff., 331 ff. – Entwicklung des Begriffs 325 ff. – Rückanbindung an die Vertragsfreiheit 329 ff. – soziale Gerechtigkeit 328 f.

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– Sozialmodell 328 f. – Disponibilität 583 ff. – im Zivilprozess 583 ff. – materiellrechtliche Dispositionsbefugnis 584 ff., 587 ff. – unionale Vertragsfreiheit 331 ff., 400 ff., 463 ff. – Gewährleistung werthaltiger Selbstbestimmungschancen 331 ff. – Grenzziehung durch Vertragsfreiheit 528 ff. – unionsgrundrechtliche Schutzpflichten 334 ff., 402 f., 463 ff. Materialisierung durch Indienstnahme des BGB 395 ff., 404 ff., – Anfechtung nach §§ 119, 123 BGB 404 ff., 418 ff. – culpa in contrahendo 424 ff.,433 ff. – Einwirkungsebenen des unionalen Materialisierungsgebots 395 ff. – effet utile 397 ff. – Effektivitäts- und Äquivalenzgrundsatz 396 ff., 434 f. – Schutzpflichten 402 f. – unionsgrundrechtliche Triebfeder 400 ff. – Generalklauseln des Bürgerlichen Rechts 438 ff. – sittenwidriges Rechtsgeschäft und Wucher 443 ff. – Treu und Glauben 449 ff. – Unionsrechtsoffenheit der Generalklauseln 438 ff. – Interaktion der Instrumente des BGB und des EU-Privatrechts 404 ff., 452 ff. – Ergänzung unionaler Materialisierungsinstrumente 454 – Kipp’sche Doppelwirkung im Recht 409 ff., 448, 457, 627 – Koexistenz bei gleicher Zielsetzung 413 ff. – Konflikte 406 ff. – Vorrangverhältnis 408 ff., 447 f. – siehe auch Materialisierungssystem des Unionsrechts Materialisierung durch marktkonstitutive und wettbewerbsschützende Instrumente 338 ff. – siehe auch Kartellrecht

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– siehe auch Lauterkeitsrecht Materialisierung durch Unionsprivatrecht 346 ff. – Aktualisierung der Vertragsfreiheit 384 ff. – Höchstbindungsdauer 388 ff. – Rücktrittsrecht 385 ff. – Vertragsbeseitigungsrechte 385 ff. – Widerrufsrecht 385 ff. – Diskriminierungsverbote 360 ff. – Informationsmodell 347 ff. – Klauselkontrolle 370 ff. – Kontrahierungszwänge 360 ff. – Unwirksamkeitstatbestände 383 f. – Vertragsschlussmodalitäten 358 ff. – zwingendes Vertragsrecht 383 f. Materialisierung durch Zivilprozessrecht 459 ff. – Erkenntnisverfahren 467 ff. – Mahnverfahren 503 ff. – Rechtsmittelverfahren 488 ff. – Überlagerung der Prozessmaximen 470 ff. – Anwendung der Materialisierungsinstrumente von Amts wegen 471 ff. – Beeinflussung des Konzentrationsund Beschleunigungsgrundsatzes 487 ff. – partieller Untersuchungsgrundsatz 479 ff. – Umsetzung in der ZPO 475 ff., 481 ff., 485 f., 487 ff., 491 ff. – Zwangsvollstreckungsrecht 493 ff. – siehe auch Prozessmaximen Materialisierungsinstrumente – siehe Materialisierung durch Indienstnahme des BGB – siehe Materialisierung durch marktkonstitutive und wettbewerbsschützende Instrumente – siehe Materialisierung durch Unionsprivatrecht – siehe Materialisierung durch Zivilprozessrecht Materialisierungssystem des Unionsrechts 452 ff., 515 ff. – Komplementarität der Instrumente 452 ff. – Rolle des BGB 452 ff.

– Schranken 528 ff., 541 ff., 595 ff. – Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit 528 ff., 598 ff., 615 f. – Prozessgrundsätze und -rechte 565 ff. – Rechtsmissbrauchsverbot 542 ff., 551 ff. – Treu und Glauben 548 ff., 559 ff. – Unionsgrundrechte 529 ff., 595 ff. – unionsprivatrechtliche Rechtsgrundsätze 541 ff., – Stufenbau 569 ff. – Vertragsfreiheit als Leitprinzip 528 ff. – Zivilprozessrecht als Auffangordnung 515 ff., 574 f. materielle Prozessleitung 477, 481 f., 487 ff., 492, 499 f., 502, 509, 520, 523, 574 Menschenwürde 57, 103 ff., 189, 207, 214 ff., 222, 248 Melloni (EuGH) 8 ff., 103, 238, 243 f. Messner (EuGH) 11, 152 ff., 280, 412, 541 f., 549, 582 Montesquieu, Charles de Secondat Baron de 283 Mostaza Claro (EuGH) 304, 321, 325, 332, 335, 374, 471 Naturalrestitution 407, 427, 430, 433, 437, 455 f., 626 Naturrecht 37 ff. Ökonomie 33, 37 ff., 56, 356 – klassische Ökonomie 33, 37 ff. – Verhaltensökonomie 56, 356 Österreich 85, 171, 178 ff., 200 pacta sunt servanda siehe Vertragstreue Pannon (EuGH) 304, 335, 374, 378, 459, 467, 469, 471, 473 f., 479, 491 f., 505 f., 584 f. Parteiautonomie 112, 114, 124, 126 ff., 148 f., 168, 194, 197, 206, 224, 248, 622 – Facette unionaler Vertagsfreiheit 112, 114, 126 ff., 168, 206 f., 224, 248, 622 – Gerichtsstandswahl 68, 127 f., 148 f., 168 – Rechtswahlfreiheit 69, 127 f., 149

Sachverzeichnis Polen 169, 171, 189 f., 200, 251 Portugal 171, 185 f., 200 positive obligations 259 f., 520 – siehe auch Grundrechte Präklusion 471, 487 ff., 494 ff., 500, 512, 523 f., 574, 629 praktische Wirksamkeit des Unionsrechts siehe effet utile PRIIP 350, 352, 355, 422 ff., 426 f., 457, 628 Prozessmaximen 467 ff., 528, 569, 628 – Anerkennung im Unionsrecht 467 ff., 523, 528, 569, 628 – Antragsgrundsatz 467 ff., 470 ff., 478 f., 486, 491, 523 f., 566 f., 575, 629 – Dispositionsmaxime 467 ff., 470 ff., 479, 523 f., 566 f., 575, 583 f., 587, 629 – Konzentrations- und Beschleunigungsgrundsatz 467 ff., 470 ff., 487 ff., 524, 629 – Untersuchungsgrundsatz 467, 479 ff., 485 ff., 490 – Verhandlungsgrundsatz 467 ff., 469 f., 479 ff. – siehe auch Materialisierung durch Zivilprozessrecht Pufendorf, Samuel 37 R+V Allgemeine Versicherung (EuGH) 417 f., 543 f., 546 ff., 553 ff., 564 f., 631 Raccanelli (EuGH) 99 f., 131, 137, 234, 362 f. Radbruch, Gustav 46 Recht auf Eigentum 53, 107 f., 110, 178, 187, 189, 191, 196 Recht auf ein faires Verfahren siehe Verfahrensgrundrechte Rechtsfortbildung 158 f., 273 ff., 320 Rechtsgrundsätze – siehe allgemeine Rechtsgrundsätze Rechtskraft 494, 496, 498 ff., 501, 511, 513 f., 518 Rechtsmissbrauchsverbot 418, 541 ff., 553 f., 556, 558 f., 565, 587 Rechtsmittelverfahren 471, 487 ff., 517 Rechtsprinzipien 156 ff., 166, 223, 226, 247, 272 ff., 623 f. Rechtswahlfreiheit

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– siehe Parteiautonomie relative Wirkung vertraglicher Schuldverhältnisse 283, 291 ff., 298, 301, 321, 624 – Grundsatz der Relativität im Unionsrecht 291 ff., 301, 321, 624 – siehe auch Verträge zulasten Dritter Refcomp (EuGH) 68 f., 127 ff., 168, 293, 295, 300 Rewe (EuGH) 237, 396, 398, 461, 495 Richtigkeitsgewähr siehe Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus Römisches Recht 33 ff., 72, 90 Rücktrittsrecht siehe Materialisierung durch Unionsprivatrecht Sánchez Morcillo (EuGH) 459, 478, 487, 493, 499 ff. Savigny, Friedrich Carl v. 46 Schmidberger (EuGH) 219 f., 233 f., 259, 272 Schmidt-Rimpler, Walter 311 Schulte (EuGH) 427, 429 f., 435 ff., 496 Schutzpflichten siehe Grundrechte Schweden 171, 192 f., 200 Selbstbestimmungsfreiheit 35, 57 ff., 90, 202, 225, 330, 335, 337, 342, 344, 360, 392, 455, 457 ff., 521 f., 524, 531 f., 552, 599, 621, 628, 634 Selbstverantwortung 57 ff., 342, 433, 621 Seriositätsindizien 84 ff. sittenwidriges Rechtsgeschäft und Wucher 443 ff., 457, 580, 627 Sky Österreich (EuGH) 17, 109, 111, 119, 136, 142, 205, 207 f., 217, 219 ff., 225, 228, 244, 249, 530, 622 Smith, Adam 38 f., 45, 325 Société thermale (EuGH) 115, 118, 152 f., 273, 280, 284 f., 287 Solvency II 117, 294, 318 f., 333, 387, 523, 539 f., Spanien 110 f., 171, 183 ff., 200, 609 f. Spanien/Kommission (EuGH) 110, 122, 169, 216 f., 223, 240, 242, 246, 275 Streitgegenstand 468, 475 f., 478, 507, 524, 629 Sukkerfabriken Nykøbing (EuGH) 110, 275

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Sachverzeichnis

Tacconi (EuGH) 65, 81, 206 f. Test-Achats (EuGH) 11, 13 ff., 102, 112, 157, 159 ff., 256, 264 ff., 269 f., 275, 367, 578, 633 Thomasius, Christian 37 Transparenzkontrolle siehe Klauselkontrolle Treu und Glauben 314, 377, 449, 457, 542 ff., 548 ff., 559, 563, 568, 581 f. – Ergänzung unionaler Materialisierungsinstrumente 449 ff. – im Unionsrecht Typenfreiheit 33, 121 f., 142 f., 176, 181, 192 – siehe auch Vertragsfreiheit Übermaßverbot 258, 264, 528, 531 Ungarn 171, 188 f. Unionsgrundrechte siehe Grundrechte unionsgrundrechtskonforme Auslegung siehe Auslegung unionsrechtskonforme Auslegung siehe Auslegung Untermaßverbot 264, 531 unternehmerische Freiheit 17, 53, 108 ff., 205, 227, 235, 255 Untersuchungsgrundsatz – siehe Prozessmaximen Urkundsvorlage 482 ff., 524 Van Hove (EuGH) 22, 60, 304, 357, 382, 538, 540, 599, 601 VB Pénzügyi Lízing (EuGH) 305, 335, 374, 378, 459, 467, 469, 471, 475, 479 f., 482, 484, 505 f., 520, 583 Verbrauchervertragsrecht 23, 60, 115, 125, 138, 147, 247, 276, 287 ff., 291, 304, 316, 332, 336 f., 360, 367, 386, 408, 422 ff., 425, 433 ff., 447, 457, 467, 470 ff., 478 f., 482 f., 486 f., 489 f., 491 ff., 498, 500 ff., 509, 511 ff., 520 ff., 541 f., 557, 574, 628, 630 – Außergeschäftsraumverträge 405, 445, 533, 536 ff. – Fernabsatzverträge 147, 386 f., 448, 535 f., 555 ff., 559, 589 – „umgekehrte“ Verbraucherverträge 533 ff., 538 f.

– Verbraucherkreditvertrag 428 ff., 443, 509, 514, 558, 560 Vereinigtes Königreich 40, 44, 169, 171, 180 ff., 200, 286 Verfahrensgrundrechte 237, 565 ff. – Recht auf ein faires Verfahren (fair trial) 303, 490 f., 566 ff., 574, 629 – rechtliches Gehör 491, 568 – Wahrung der Verteidigungsrechte 490, 492, 521, 566 ff., Verfahrensgrundsätze – siehe Prozessmaximen Vergaberecht 24 f., 61, 74 f., 115 ff., 121, 141, 144 f., 148, 262, 286 f., 315 f., 389, 391 f., 464, 494, Verhandlungsgrundsatz – siehe Prozessmaximen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 205, 218 ff., 225, 235, 336, 356, 453, 528, 530, 571, 600, 602, 615 ff., Verschulden bei Vertragsverhandlungen siehe culpa in contrahendo Versicherungsaufsichtsrecht 117, 131, 133, 294, 318 f., 539 f. – Bestandsübertragung 133, 294 – siehe auch Solvency II Versicherungsvertragsrecht 9, 13 f., 23, 73, 98, 117, 118, 120, 131, 133, 139 f., 255, 286, 293 f., 299, 318, 333, 348, 352 f., 357, 363, 366, 382, 387, 391, 405, 413, 415 ff., 426 ff., 457, 494, 521 ff., 539, 557 f., 561 ff., 573, 628 Verträge zugunsten Dritter 291, 296, 298 ff. Verträge zulasten Dritter 291, 294 ff., 301 – siehe auch relative Wirkung vertraglicher Schuldverhältnisse Vertragsbegriff des Unionsrechts 63 ff., 84 ff., 90 ff. – internationales Privatrecht 65 ff. – Kartellrecht 76 ff. – Unionsprivatrecht 70 ff. Vertragsbeseitigungsrechte – siehe Materialisierung durch Unionsprivatrecht Vertragsfreiheit – allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsprivatrechts 17, 18 f., 150 ff., 197 ff.

Sachverzeichnis – Ausprägungen und Schutzbereich im Unionsrecht – Abschlussfreiheit 114 ff., 130 ff. – Änderungsfreiheit 122 ff., 143 ff. – Aufhebungsfreiheit 124, 145 f. – Formfreiheit 125 f., 146 ff – Inhaltsfreiheit 117 ff., 136 ff – Typenfreiheit 121 f., 142 f – Vertragspartnerwahlfreiheit 114 ff., 130 ff. – EU-Grundrecht – Grundrecht i. S. d. Art. 6 Abs. 3 EUV 17, 18 f., 150 ff., 197 ff. – Schutzpflichtendimension 258 ff., 264, 270 ff., 295, 320 f., 331, 334 ff., 364 f., 387 f., 400, 402 f., 418 ff., 430, 435, 438, 440, 454, 457, 464 f., 467, 476 ff., 481, 483, 487 f., 492, 495, 497, 499 f. 502, 508, 512, 514, 518 ff., 529 ff., 570, 572, 617, 623, 625, 627 f., 631, 633 – Verbürgung in kodifizierten EUGrundrechten 101 ff., 107 ff., 110 ff. – Wesensgehalt und Kernbereich 26, 201, 203, 205, 206 ff., 217, 221 ff., 224 ff., 235, 241 f., 244, 248, 292, 317 f., 321, 331, 336, 338, 361, 366, 419, 453, 533, 572, 598, 600 ff., 606, 609, 612, 615, 619, 622, 624, 632 – nationales Grundrecht – Belgien 177 ff. – Deutschland 175 f. – Frankreich 172 ff. – Italien 187 f. – Litauen 191 f. – Österreich 178 ff. – Polen 190 – Portugal 185 f. – Schweden 192 f. – Spanien 184 f. – Ungarn 188 f. – Vereinigtes Königreich 181 ff. – Privatrechtswirkungen – als privatrechtlicher Rechtsgrundsatz 245 ff., 272 ff. – als Unionsgrundrecht 12 ff., 19, 25 f., 254 ff., 266 ff., 269 ff., 320, 623

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– Rechtsgrundsatz des mitgliedstaatlichen Privatrechts – Belgien 176 – Deutschland 175 – Frankreich 171 f. – Italien 187 – Litauen 190 f. – Österreich 178 – Polen 189 – Portugal 185 – Schweden 192 – Spanien 183 f. – Ungarn 188 – Vereinigtes Königreich 180 f. – Völkerrecht 193 ff. – siehe auch allgemeine Rechtsgrundsätze – siehe auch Grundrechte – siehe auch Parteiautonomie – siehe auch Schutzpflichten Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus 302 ff., 320 ff., 614, 624 f. – Ergänzung durch Materialisierungsinstrumente 336, 338, 350, 366, 393, 419, 528, 537, 614, 625 – Funktionsmodell 308 ff. – hypothetischer Vertragsmechanismus 377 ff. – prozedurale Freiheitsentfaltung durch den Vertragsmechanismus 305 ff., 624 f. – Richtigkeitsgewähr 311 ff., 316 ff., 575 – Rolle von Markt und Wettbewerb 308 ff., 311 ff. Vertragspartnerwahlfreiheit 6, 114 ff., 130 ff., 170, 172, 178, 181, 192, 206 ff., 213, 218, 224 f. 292, 308 ff., 321, 336, 339, 369, 453, 573, 622 – siehe auch Vertragsfreiheit Vertragstreue 98, 151, 153, 283 ff., 301, 321, 554, 624 – Leistungstreue 289 ff. – Vertragsfreiheit als Fundament 285 ff., 301, 321 Verwirkung 430, 550 f., 559 ff. Völkerrecht 22, 162 ff., 167, 193 ff., 197, 201, 621, 568 f. Volksbank România (EuGH) 98 f., 282

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Sachverzeichnis

Vollstreckungsabwehrklage 496 f., 500, 502, 511, 514, 524, 629 Vollstreckungsbescheid – siehe Mahnverfahren Weber, Max 46, 326 f. Werhof (EuGH) 61, 107, 115, 118, 207, 223, 294 f. Wesensgehalt – siehe Kernbereich und Wesensgehalt Widerrufsrecht – siehe Materialisierung durch Unionsprivatrecht Wieacker, Franz 46, 327 Willensbildung 42, 332 f., 337, 347, 384, 387 f., 405, 413, 418, 420 ff., 425 ff., 431 ff., 535, 538, 569 f., 575, 580,

Wirtschaftsverfassung 51 ff., 94 ff., 339, 621 – Begriff 51 f. – EU-Wirtschaftsverfassung 26, 31, 50, 51 ff., 53 ff., 90, 94 ff., 110, 339, 621, Wolff, Christian 37 Wucher – siehe sittenwidriges Rechtsgeschäft und Wucher Zwangsvollstreckung 27, 459, 461, 466, 493 ff., 512, 517 f., 524, 629, – siehe auch Materialisierung durch Zivilprozessrecht zwingendes Vertragsrecht 138, 141, 225, 383 ff., 573