Vertragsfreiheit und ihre Materialisierung im Europäischen Binnenmarkt: Die Verbürgung und Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit im Zusammenspiel von EU-Privatrecht, BGB und ZPO 9783161557668, 9783161557651

Die Vertragsfreiheit ist für das Privat- und Wirtschaftsrecht elementar. Doch welchen Platz und welche Gestalt hat die V

215 108 5MB

German Pages 718 [719] Year 2018

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Vertragsfreiheit und ihre Materialisierung im Europäischen Binnenmarkt: Die Verbürgung und Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit im Zusammenspiel von EU-Privatrecht, BGB und ZPO
 9783161557668, 9783161557651

Table of contents :
Cover
Vorwort
Inhaltsübersicht
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Einleitung
A. Ausgangslage und Anlass der Untersuchung
I. Hypotrophie der Vertragsfreiheit im Unionsrecht
II. Orientierungsarmut und interventionistische Tendenzen des Unionsprivatrechts
III. Zurückdrängung mitgliedstaatlicher Garantien der Vertragsfreiheit durch Unionsprivatrecht
1. Unionsgrundrechte überlagern nationale Freiheitsrechte
2. Vorrang unionsprivatrechtlicher Rechtsgrundsätze
IV. Einseitige Konstitutionalisierung des Unionsprivatrechts
V. Zwischenfazit: Vertragsfreiheit als Leitlinie und Selbstbehauptungsinstrument des Privatrechts
B. Forschungslücke, Gegenstand und Ansatz der Untersuchung
I. Forschungsstand: Insulare und diffuse Gewährleistung
II. Ausgangshypothesen zur Verbürgung und Materialisierung der Vertragsfreiheit
1. Doppelköpfigkeit der Vertragsfreiheit im geltenden Unionsrecht
2. Materialisierung durch Unionsprivatrecht, BGB und ZPO
III. Methodik und Bezugsrahmen
1. Unionsrechtsimmanente, rechtsaktsübergreifende und rechtsvergleichende Untersuchung
2. Unionale Vertragsfreiheit in drei Schwerpunktbereichen
3. BGB und bürgerlich-rechtliche Dogmatik als Referenzrahmen
C. Gang der Darstellung entlang sieben Erkenntniszielen
Erster Teil: Grundlegung der Vertragsfreiheit im Unionsrecht
Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit
§ 1 Ideengeschichte der Vertragsfreiheit und Entwicklung des Unionsrechts
A. Triebkräfte vom römischen Recht bis in das 18. Jahrhundert
I. Römisches Recht
II. Römisch-kanonisches Recht
III. Von Naturrechtslehre und Aufklärung bis zur klassischen Ökonomie
B. Verabsolutierung und Kritik im 19. und 20. Jahrhundert
I. Vertragsfreiheit auf dem Scheitelpunkt?
II. Bedrohung der Vertragsfreiheit durch wirtschaftliche Macht
III. „Soziale Aufgabe“ und „Krise“ des Vertragsrechts
C. Ausgangsbasis und Herausforderungen im Unionsrecht
§ 2 Vertragsfreiheit und Wirtschaftsverfassung der Union
A. Begriff und Gestalt der EU-Wirtschaftsverfassung
B. Verhältnis zur Vertragsfreiheit und zu ihren Funktionsvoraussetzungen
C. Fazit
§ 3 Selbstbestimmung und Vertrag als unionsrechtliche Kategorien
A. Prämisse der Selbstbestimmungsfreiheit und Selbstverantwortung
B. Vertragsbegriff des Unionsrechts
I. Unionsrechtsimmanente Begriffsbildung
1. Vertragsbegriff des Sekundärrechts
a) Internationales Unionsprivatrecht
b) Materielles Unionsprivatrecht
2. Vertragsbegriff des Primärrechts
a) Art. 101 AEUV
b) Art. 340 Abs. 1 AEUV
c) Art. 272 AEUV
3. Zwischenfazit
II. Rechtsvergleichendes Spektrum der Vertragsbegriffe
1. Minimalkonsens der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen
2. Ausklammerung von „Seriositätsindizien“
3. Kein Erfordernis der Schadensersatzbewehrung
III. Ertrag
C. Summe des ersten Kapitels
Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen
§ 1 Lückenhafter Schutz und Postulat umfassender Vertragsfreiheit
A. Lückenhafte Gewährleistung im geschriebenen Primärrecht
I. Wirtschaftsverfassung und Grundfreiheiten
1. Keine subjektiv-rechtliche Garantie durch Art. 119 Abs. 1 AEUV
2. Keine umfassende Gewährleistung durch die Grundfreiheiten
a) Begrenzung auf Binnenmarktsachverhalte
b) Beschränkungen sind regelmäßig „zu ungewiss und zu mittelbar“
c) Grundfreiheiten als Schranken der Vertragsfreiheit
II. Insularer Schutz durch kodifizierte Unionsgrundrechte
1. Keine Anbindung an Menschenwürde oder Handlungsfreiheit
2. Nur kontextspezifischer Schutz der Vertragsfreiheit in der GRCh
a) Recht auf Eigentum nach Art. 17 GRCh
b) Unternehmerische Freiheit gemäß Art. 16 GRCh
III. Zwischenfazit und Kritik
B. Fazit
C. Postulat umfassender Vertragsfreiheit im Unionsrecht
I. Sieben anerkannte Facetten unionaler Vertragsfreiheit
1. Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit
2. Inhaltsfreiheit
3. Typenfreiheit
4. Änderungsfreiheit
5. Aufhebungsfreiheit
6. Formfreiheit
7. Parteiautonomie
II. Beschränkung als implizite Anerkennung der Vertragsfreiheit
1. Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit
2. Inhaltsfreiheit
3. Typenfreiheit
4. Änderungsfreiheit
5. Aufhebungsfreiheit
6. Formfreiheit
7. Parteiautonomie
§ 2 Vertragsfreiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts
A. Allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts
I. Arten und Funktionen
1. Allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts
2. Allgemeine Grundsätze i.S.d. Art. 6 Abs. 3 EUV
II. Induktive Gewinnung allgemeiner Rechtsgrundsätze
1. Zweistufiges Begründungsverfahren
2. Unionsrechtsimmanente Betrachtung
3. Rechtsvergleichung und Völkerrecht
III. Zwischenfazit
B. Unionsrechtsimmanente, völkerrechtliche und rechtsvergleichende Bestandsaufnahme
I. Unionsrechtsimmanente Betrachtung
1. Unionsprivatrecht
2. Grundrechtliche Verbürgung
II. Umschau in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen
1. Frankreich
a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts
b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung
2. Deutschland
a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts
b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung
3. Belgien
a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts
b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung
4. Österreich
a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts
b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung
5. Vereinigtes Königreich
a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts
b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung
6. Spanien
a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts
b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung
7. Portugal
a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts
b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung
8. Italien
a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts
b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung
9. Ungarn
a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts
b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung
10. Polen
a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts
b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung
11. Litauen
a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts
b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung
12. Schweden
a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts
b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung
III. Verankerung der Vertragsfreiheit im Völkerrecht
1. Allgemeiner völkervertragsrechtlicher Grundsatz
2. Vertragsfreiheit als Grundprinzip privatrechtsrelevanter völkerrechtlicher Abkommen
3. Grundrechtliche Dimension völkerrechtlicher Abkommen
C. Vertragsfreiheit als Grundsatz des Unionsprivatrechts und Unionsgrundrecht i.S.d. Art. 6 Abs. 3 EUV
I. Unionsprivatrechtlicher Rechtsgrundsatz
II. Vertragsfreiheit als Grundrecht im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV
III. Fazit
§ 3 Gewährleistungsgehalt unionaler Vertragsfreiheit
A. Inhalt
I. Autonomer Schutzbereich
II. Gegenstand, Gehalt und Kernbereich unionaler Vertragsfreiheit
1. Entscheidung über den Vertragsschluss und Vertragspartnerwahl
2. Bestimmung der essentialia negotii
3. Wesensgehalt, Funktionsbestimmung und Menschenwürdekern
III. Abwägung und Beschränkbarkeit
1. Grundrechtliche Schrankensystematik
a) Erfordernis einer Rechtsgrundlage
b) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
c) Wahrung des Wesensgehalts
2. Abwägung unionsprivatrechtlicher Grundsätze
3. Ergebnis
B. Anwendungsbereich
I. Persönlicher Anwendungsbereich: Jedermanns(grund)recht
II. Unionsgrundrechtliche Bindung der EU und ihrer Mitgliedstaaten
1. Durchführung des Unionsrechts
2. Erweiterungen des „Anwendungsbereichs“ des Unionsrechts und der EU-Grundrechte
a) Vertragsfreiheit als Schranke und „Schranken- Schranke“ bei Verkürzungen der Verkehrsfreiheiten
b) Ausdehnung des Anwendungsbereichs durch den Effektivitätsgrundsatz
c) Bindung an die unionale und Überlagerung der nationalen Vertragsfreiheit im Schuldvertragsrecht
aa) Einheitlicher Schutzgegenstand und unteilbare Vertragsfreiheit
bb) Grundsätzlicher Vorrang unionaler Vertragsfreiheit
III. Wirkbereich als privatrechtlicher Rechtsgrundsatz
C. Summe des zweiten Kapitels
Zweiter Teil: Vertragsfreiheit und ihre Materialisierung als Richtschnur des Schuldvertragsrechts der EU und ihrer Mitgliedstaaten
Kapitel 3 – Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell unionaler Vertragsfreiheit
§ 1 Einwirkungsachsen im Privatrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten
A. Privatrechtswirkungen der Vertragsfreiheit als Unionsgrundrecht
I. Autarkie und Grundrechtsbindung des Privatrechts
II. Unionsgrundrechtliche Triebfedern der Privatrechtswirkung
1. Abwehrgrundrecht
2. Schutzpflichtdimensionen unionaler Vertragsfreiheit
3. Grundrechtsnotwendige Institutionen und objektiv-rechtliche Dimension
III. Methodische Einwirkungsebenen
1. Ausgestaltungsvorgaben bei der Rechtsetzung
2. Durch Vorlageverpflichtung flankierte unionsgrundrechtskonforme Auslegung und Rechtsanwendung
3. Mittelbare horizontale Drittwirkung in Privatrechtsbeziehungen
B. Privatrechtswirksamkeit der Vertragsfreiheit als Rechtsgrundsatz
I. Prinzipiengeleitete Auslegung und Rechtsfortbildung
II. Ausgleich mit gegenläufigen Prinzipien und der „prima facie- Vorrang des Prinzips der rechtlichen Freiheit“ im Unionsrecht
C. Multidimensionalität der Privatrechtswirkungen
I. Privatrechtlicher Rechtsgrundsatz und Unionsgrundrecht
II. Interaktion individual-rechtlicher und binnenmarktbezogener Vertragsfreiheit
§ 2 Vertragsfreiheit als Begründung und Begrenzung der Vertragsbindung
A. Pacta sunt servanda im Unionsprivatrecht
I. Vertragsfreiheit als Fundament von Vertragstreue und -bindung
II. Leistungstreue als zentrales Element
1. Verbrauchervertragsrecht und Leistungstreue
2. Leistungs- und Zahlungstreue im Wirtschaftsvertragsrecht
III. Zwischenfazit
B. Personale Relativität vertraglicher Schuldverhältnisse
I. Grundsatz der Relativität im Unionsrecht
II. Verbot von Verträgen zulasten Dritter
III. Verträge zugunsten Dritter und unionale Vertragsfreiheit
C. Ergebnis
§ 3 Vertrags- und Marktmechanismus als prozedurales Funktionsmodell
A. Freiheitsverwirklichung durch den Vertrags- und Marktmechanismus
I. Prozedurale Freiheitsentfaltung durch den Vertragsmechanismus
II. Markt- und wettbewerbsgestütztes Funktionsmodell
B. Richtigkeitsgewähr des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus
I. Vertragsmechanismus und Richtigkeitsvermutung
II. Wettbewerbsmechanismus und Richtigkeitsvermutung
C. Summe des dritten Kapitels
Kapitel 4 – Materialisierung der Vertragsfreiheit durch Unionsrecht
§ 1 Begriff, Gegenstand und Ziel der Materialisierung
A. Evolution des Materialisierungsverständnisses und seiner Bezugspunkte
I. „Sozialmodell“ und „soziale Gerechtigkeit“
II. Rückanbindung an die Vertragsfreiheit im Unionsrecht
B. Werthaltige Selbstbestimmungschancen als Ziel und Schutzpflichten als Antrieb
I. Gewährleistung tatsächlicher Selbstbestimmungschancen
II. Schutzpflichtendimension der Vertragsfreiheit als Triebfeder
III. Materialisierung ex ante und ex post
C. Zwischenfazit
§ 2 Marktkonstitutive und wettbewerbsschützende Materialisierungsinstrumente des Wirtschaftsrechts
A. Kartellrecht
B. Lauterkeitsrecht
C. Zwischenfazit
§ 3 Materialisierung durch Unionsprivatrecht
A. Informationsmodell
I. Elemente und Funktionen
1. Informations-, Transparenz- und Formanforderungen
2. Markt- und vertragsfreiheitsermöglichende Funktion im gesamten EU-Schuldvertragsrecht
II. Ausrichtung und Systematisierung anhand der unionalen Vertragsfreiheit
III. Grenzen der Materialisierung durch das Informationsmodell
B. Restriktionen der Vertragsschlussmodalitäten
C. Diskriminierungsverbote und Kontrahierungszwänge
I. Binnenmarkt- und wettbewerbsbezogene Diskriminierungsverbote
1. Primärrechtliche Verbote
a) Wettbewerbsrecht
b) Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit
2. Dienstleistungsrichtlinie
3. Konvergenz der Diskriminierungsverbote im Bereich der Staatsangehörigkeit?
II. Gesellschaftspolitische Diskriminierungsverbote
III. Binnenmarkt- und wettbewerbsbezogene Kontrahierungszwänge
IV. Gesellschaftspolitische Kontrahierungszwänge
D. Klauselkontrolle
I. Inhaltskontrolle
1. Materialisierung negativer Vertragsfreiheit
2. Erhaltung positiver Vertragsinhaltsfreiheit bezüglich des angestrebten Äquivalenzverhältnisses
3. Unionsrechtlich-autonome und nationale Maßstabbildung
a) Leitbildfunktion dispositiven Rechts
b) Herausbildung unionsrechtliche-autonomer Maßstäbe
aa) Hypothetischer Vertragsmechanismus
bb) Wertungen des Anhangs zur Klauselrichtlinie
c) Zwischenfazit
II. Transparenzkontrolle und „Markttransparenzgebot“
E. Zwingendes Vertragsrecht und Unwirksamkeitstatbestände
F. Materialisierung durch Aktualisierung der Vertragsfreiheit
I. Vertragsbeseitigungsrechte
II. Höchstbindungsdauern im Verbraucher-, Finanzdienstleistungs- und Wirtschaftsvertragsrecht
G. Summe des vierten Kapitels
Kapitel 5 – Indienstnahme des BGB zur Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit
§ 1 Einwirkungsebenen des unionalen Materialisierungsgebots
A. Effektivitätsgrundsatz als Einfallstor
I. Wirksamkeitsorientierte Auslegung und Äquivalenz- sowie Effektivitätsgrundsatz
II. Erweiterungen der unionsgrundrechtskonformen Interpretation durch effet utile und Äquivalenz- sowie Effektivitätsgrundsatz
B. Vertragsfreiheit als unionsgrundrechtliche Triebfeder der Materialisierung
I. Gebot äquivalenter und effektiver Entfaltung unionaler Vertragsfreiheit im nationalen Privat- und Zivilprozessrecht
II. Erfüllung unionsgrundrechtlicher Schutzpflichten durch mitgliedstaatliches Privatrecht
C. Zwischenfazit
§ 2 Interaktion der Materialisierungsinstrumente des BGB und des EU-Privatrechts
A. Anfechtung nach §§ 119, 123 BGB
I. Konflikte mit Materialisierungsinstrumenten des Unionsprivatrechts
1. Anfechtung und Diskriminierungsschutz im Schuldvertragsrecht
2. Unternehmerseitige Anfechtung und Verbraucherwiderruf
a) Lösung im Lichte des effet utile
b) Kipp’sche „Doppelwirkung im Recht“: Widerruf des gemäß § 142 BGB nichtigen Vertrags
c) Einschränkungen bei arglistiger Täuschung durch den Verbraucher
3. Zwischenfazit
II. Koexistenz bei gleicher Zielsetzung unionaler und nationaler Instrumente
1. Grundsatz elektiver Konkurrenz
2. Fortbestand des Vertragsbeseitigungsrechts mangels Belehrung
3. Rechtssicherheit, Vertrauensschutz und Verbot des Rechtsmissbrauchs als Schranken
III. Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit durch §§ 119, 123 BGB
1. Vertragsschlussrelevante Informationspflichten
2. Inhalts- und Erklärungsirrtum im Kontext der E-Commerce-Richtlinie
3. Anwendungsbeispiele aus dem Finanzdienstleistungs- und Verbrauchervertragsrecht
B. Culpa in contrahendo
I. Voraussetzungen der Inanspruchnahme des § 311 Abs. 2 BGB als Materialisierungsinstrument
II. Anordnung vorvertraglicher Informationshaftung bei Versicherungsverträgen und Kapitalanlageprodukten
III. Culpa in contrahendo als Sanktion von Verstößen gegen die Bonitätsprüfungspflicht im Verbraucherkreditvertragsrecht
1. Verletzung der Bonitätsprüfungspflicht und ihre Folgen
2. Unionsrechtliche Vorgaben mit Blick auf § 311 Abs. 2 BGB
IV. Informationshaftung im allgemeinen Verbrauchervertragsrecht
1. Kategorien vertragsentschlussrelevanter Informationspflichten
2. Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz sowie Einwirkung unionaler Vertragsfreiheit
3. Keine Kompensation durch andere privatrechtliche Instrumente
V. Information über Verbraucherwiderrufsrecht als Sonderfall
C. §§ 138, 242 BGB als Generalklauseln des Bürgerlichen Rechts
I. Unionsrechtsoffenheit der Generalklauseln des BGB
1. Berücksichtigung im Geltungsbereich des Unionsrechts
2. Heranziehung als Werteordnung jenseits des Anwendungsbereichs des EU-Rechts
II. Sittenwidriges Rechtsgeschäft und Wucher i.S.d. § 138 BGB
1. Unionale Vertragsfreiheit und „Bürgschaftsfälle“
a) Bürgschaftsverträge im Anwendungsbereich des Unionsrechts
b) Unionale Vertragsfreiheit als Maßstab i.R.d. § 138 Abs. 1 BGB
2. Kein genereller Vorrang der Materialisierungsinstrumente des Unionsprivatrechts vor § 138 BGB
III. § 242 BGB als Ergänzung unionaler Materialisierungsinstrumente
§ 3 Das BGB im hybriden Materialisierungssystem des Unionsprivatrechts
A. Komplementarität der Materialisierungsinstrumente
I. Determinanten des unionsprivatrechtlichen Materialisierungssystems
II. Drei Funktionen des Bürgerlichen Rechts
1. Unionsprivatrechtsakzessorische Ergänzung
2. Teilautonomes Materialisierungsinstrument
3. Unionsgrundrechtsoffene Auffangordnung
B. Summe des fünften Kapitels
Kapitel 6 – Materialisierung durch Zivilprozessrecht
§ 1 Triebkräfte und Ziele der verfahrensrechtlichen Dimension der Materialisierung
A. Zwei zentrale Einfallstore unionsrechtlicher Wertungen
B. Verwirklichung unionaler Vertragsfreiheit durch nationales Prozessrecht
I. Pflicht zur zivilprozessualen Durchsetzung unionsrechtlich determinierter Verträge
II. Kompensation fehlender rechtsgeschäftlicher Selbstbestimmungschancen
§ 2 Materialisierungstendenzen und Prozessmaximen der ZPO
A. Unionsrechtliche Anerkennung von Dispositions-, Verhandlungs-und Beschleunigungsgrundsatz
I. Dispositionsmaxime und Antragsgrundsatz als „Vertragsfreiheit im Prozess“
II. Verhandlungsgrundsatz
III. Konzentrations- und Beschleunigungsgrundsatz
B. Unionsrechtliche Überlagerung der Prozessmaximen in Verfahren mit Verbraucherbeteiligung
I. Durchbrechung des Dispositions- und Antragsgrundsatzes: Anwendung der Materialisierungsinstrumente von Amts wegen
1. Drohende Erosion des Antragsgrundsatzes zugunsten einer Legalitätskontrolle anhand des EU-Verbrauchervertragsrechts
2. Sachgerechte Eingrenzung durch den Streitgegenstand
3. Verwirklichung des Effektivitätsgrundsatzes sowie unionsgrundrechtlicher Schutzpflichten über § 139 ZPO
II. Partielle Abkehr vom Verhandlungs- und Hinwendung zum Untersuchungsgrundsatz
1. Unionsrechtliche determinierte Untersuchungsmaxime
2. Umsetzung im Rahmen der ZPO
a) Materielle Prozessleitung nach §§ 139 ff. ZPO
b) Anordnung der Urkundsvorlage nach § 142 ZPO
c) Inaugenscheinnahme von Amts wegen nach § 144 ZPO
3. Reichweite und Folgefragen der Geltung des Untersuchungsgrundsatzes
III. Einfluss auf den Konzentrations- und Beschleunigungsgrundsatz
1. Präklusion nach § 296 ZPO
2. Tatsachenerfassung und -bewertung im Rechtsmittelverfahren
C. Sicherung der kontradiktorischen Verfahrensgestaltung
I. Unionsrechtlich gebotene Hinweis-, Kenntnisnahme- und Erörterungspflichten
II. Einpassung in das System der deutschen ZPO
§ 3 Zwangsvollstreckungsrecht im Bannkreis unionaler Materialisierungsvorgaben
A. § 767 Abs. 2, § 796 Abs. 2 ZPO und die Ausübung unionsprivatrechtlicher Gestaltungsrechte
B. Keine umfassende Korrektur über das Zwangsvollstreckungsverfahren
I. Vorrang der Materialisierung im Erkenntnisverfahren und Schutz der Rechtskraft
II. Voraussetzungen und Instrumente der subsidiären Materialisierung durch Zwangsvollstreckungsrecht
C. Zwischenergebnis
§ 4 Mahnverfahren und Materialisierung
A. Amtswegige Prüfung des EU-Verbrauchervertragsrechts
B. Kein Untersuchungsgrundsatz im Mahnverfahren
C. Umsetzung der unionsrechtlichen Vorgaben bei Mahnverfahren
I. Lösungsmöglichkeiten vor Titelschaffung
1. Mahnverfahrenssperre für Verbrauchersachen analog § 688 Abs. 2 Nr. 1 ZPO
2. Herausnahme der Verbraucherfälle aus dem automatisierten Mahnverfahren?
II. Nachgelagerte Kontrolle über § 767, § 796 Abs. 2 ZPO und § 826 BGB
III. Zwischenergebnis
§ 5 Zivilprozessrecht als Baustein des unionalen Materialisierungssystems
A. Funktion und Entwicklungstendenzen der Materialisierung durch Zivilverfahrensrecht
I. Ineinandergreifen materiellrechtlicher und prozessualer Materialisierungsinstrumente
1. Durchsetzung privatrechtlicher Materialisierungsinstrumente
2. Zivilprozessrecht als mehrstufige Auffangordnung
II. Materialisierung duch Zivilprozessrecht im Antidiskriminierungs- und Finanzdienstleistungsvertragsrecht
1. Antidiskriminierungsrecht
2. Versicherungsvertragsrecht
B. Summe des sechsten Kapitels
Kapitel 7 – Kompass- und Schrankenfunktion der Vertragsfreiheit
§ 1 Vertragsfreiheit als Leitprinzip und Schranke des unionalen Materialisierungssystems
A. Grenzen der Materialisierungsinstrumente
I. Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus als Erforderlichkeits- und Verhältnismäßigkeitsmaßstab
1. Unionsgrundrechtlicher Rahmen
a) Erforderlichkeit, Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit i.e.S.
b) Typisierende Materialisierungstatbestände und ihre Grenzen
2. Privatrechtliche Anwendungsbeispiele
a) Selbstbestimmungschancen durch den Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus bei „umgekehrten“ Verbraucherverträgen
aa) Fernabsatzverträge
bb) Außergeschäftsraumverträge
b) Keine Stärkung des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus durch bestimmte Informationpflichten des Finanzdienstleistungsvertragsrechts
II. Unionsprivatrechtliche Rechtsgrundsätze als Schranken der Materialisierung
1. Rechtsmissbrauchsverbot und Treu und Glauben
a) Rahmensetzung durch Unionsrecht
b) Autonomes Rechtsmissbrauchsverbot in der EuGH-Judikatur
c) Ausstehende Konturierung des Grundsatzes von Treu und Glauben
2. Begrenzung von Vertragslösungsrechten im Verbraucher-und Finanzdienstleistungsvertragsrecht
a) Ausschluss bei Schädigungs- und Missbrauchsabsicht
b) Instrumentalisierung des Widerrufs zur Erzielung günstigerer Vertragskonditionen
aa) Preisnachlässe bei Fernabsatzverträgen
bb) Nachverhandlung von Kredit- oder Versicherungskonditionen
c) Anwendungsfälle des „halbautonomen“ Grundsatzes von Treu und Glauben
aa) Verwirkung unionaler Materialisierungsinstrumente
bb) Vortäuschen gewerblicher Verwendung
3. Rechtsmissbrauch als Schranke des Diskriminierungsschutzes
III. Unionale Prozessgrundsätze und -rechte als Grenze der Materialisierung durch Zivilverfahrensrecht
1. Parteidisposition als prozessuale Facette der Privatautonomie
2. Grundsatz des fairen kontradiktorischen Verfahrens
3. Zwischenfazit
B. Stufenbau des Materialisierungssystems
I. Drei konzentrische Schutzwälle der Vertragsfreiheit
II. Kaskade der Materialisierungsinstrumente
1. Abstufung der privatrechtlichen Instrumente
2. Materialisierungskaskade im Bereich des Zivilprozessrechts
III. Materialisierung und Vermutung der „Richtigkeit“ des Vertrags
1. Gesteigerte Richtigkeitsgewähr des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus
2. Prozedurale Gerechtigkeit durch materialisierte Vertragsfreiheit
3. Schutz gegen „Extremabweichungen“ zwischen BGB und allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsprivatrechts
C. Partielle Disponibilität der Materialisierung
I. Disposition über Materialisierungsinstrumente im Zivilprozess
II. Erweiterte materiellrechtliche Dispositionsbefugnis als Folge der Materialisierung durch Prozessrecht
1. „Einwilligung“ in missbräuchliche Klauseln
2. Einpassung in die Rechtsgeschäftslehre des BGB
3. Folgen für die Kontrollfähigkeit der Klausel und die Bindung des anderen Vertragsteils
III. Disponibilität materiellrechtlicher Materialisierungsinstrumente jenseits des Zivilverfahrens?
§ 2 Vertragsfreiheit als Grenze der Kontrolle von Vertragsinhalten
A. Inhaltskontrolle jenseits der Klauselrichtlinie
I. Mindestharmonisierung durch die Klauselrichtlinie
II. Art. 8 Klauselrichtlinie und unionale Vertragsfreiheit
B. Schranken der Inhaltskontrolle von Individualvereinbarungen und der essentialia negotii
I. Unionale Vertragsfreiheit als Maßstab angesichts der Bedro-hung der Vertragsfunktion durch die pauschale Inhaltskontrolle
II. Individuell ausgehandelte Vertragsbestimmungen
1. Bedarf es eines pauschalen Kontrollvorbehalts?
2. Vorrang einer anlassbezogenen Individualkontrolle
3. Rückausnahme bei typisierbarem Versagen des Vertrags- und Markmechanismus
III. Inhaltskontrolle der essentialia negotii
C. Folgen für die pauschale Inhaltskontrolle im Schuldvertragsrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten
I. Vertragsfreiheitskonforme Handhabung der mitgliedstaatlichen Inhaltskontrolle
1. Beispiele für die Kontrolle von Individualvereinbarungen und der essentialia negotii
2. Einschränkung der Inhaltskontrolle im Lichte unionaler Vertragsfreiheit
a) Frankreich: Fragwürdigkeit unwiderleglicher Missbräuchlichkeit von Individualvereinbarungen
b) Spanien: Vertragsfreiheitskonforme Begrenzung der Inhaltskontrolle durch das Tribunal Supremo
3. Auswirkungen i.R.d. § 307 Abs. 3 S. 1 BGB: Das Beispiel der Differenzierung zwischen Preisvereinbarungen und Preisnebenabreden
II. Kontrolle von Individualvereinbarungen nach Art. 7 Zahlungsverzugsrichtlinie und § 271a, § 286 Abs. 5 BGB
1. Erforderlichkeit unter institutionellen Gesichtspunkten
2. Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes
III. Zwischenfazit
D. Summe des siebten Kapitels
Zwölf Thesen zur Vertragsfreiheit im Binnenmarkt
I. Vertragsfreiheit als Unionsgrundrecht und als allgemeiner Rechtsgrundsatz des EU-Privatrechts
II. Autonomer Gewährleistungsgehalt und Wirkbereich unionaler Vertragsfreiheit
III. Privatrechtliche Einwirkungsebenen des Unionsgrundrechts
IV. Privatrechtswirksamkeit als allgemeiner Rechtsgrundsatz
V. Freiheitsentfaltung und Richtigkeitsgewähr durch den Vertrags-und Wettbewerbsmechanismus
VI. Materialisierung der Vertragsfreiheit im Binnenmarkt
VII. Interaktion der Materialisierungsinstrumente des BGB und des Unionsprivatrechts
VIII. Indienstnahme des BGB zur Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit
IX. Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit durch Zivilprozessrecht
X. Entwicklung eines Materialisierungssystems um die unionale Vertragsfreiheit
XI. Vertragsfreiheit als Grenze der mitgliedstaatlichen und unionalen Kontrolle von Vertragsinhalten
XII. Vertragsfreiheit und ihre Materialisierung als Richtschnur des Schuldvertragsrechts der EU und ihrer Mitgliedstaaten
Literaturverzeichnis
Verzeichnis wichtiger Entscheidungen
Sachverzeichnis

Citation preview

Beiträge zum ausländischen und internationalen Privatrecht

120 Herausgegeben vom

Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht Direktoren:

Holger Fleischer und Reinhard Zimmermann

Jan D. Lüttringhaus

Vertragsfreiheit und ihre Materialisierung im Europäischen Binnenmarkt Die Verbürgung und Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit im Zusammenspiel von EU-Privatrecht, BGB und ZPO

Mohr Siebeck

Jan D. Lüttringhaus, geboren 1980; Studium der Rechtswissenschaft in Passau, Aix-enProvence, Bonn, New York; 2009 Promotion; 2011 Otto-Hahn-Medaille der Max-PlanckGesellschaft; 2017 Habilitation; 2007–09 Assistent sowie seit 2011 Referent am MaxPlanck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht und Lehrbeauftragter an der Universität Hamburg.

e-ISBN PDF 978-3-16-155766-8 ISBN 978-3-16-155765-1 ISSN 0340-6709 (Beiträge zum ausländischen und internationalen Privatrecht) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http:// dnb.dnb.de abrufbar. © 2018  Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwer­ tung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruck­­ papier gedruckt und von der Großbuchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.

„Die Jungfer Europa ist verlobt Mit dem schönen Geniusse Der Freiheit, sie liegen einander im Arm, Sie schwelgen im ersten Kusse“. Heinrich Heine, Deutschland. Ein Wintermärchen (1844), Vers 60

Vorwort Vorwort

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2017 von der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg als Habilitationsschrift angenommen. Das Manuskript ist auf dem Stand von September 2017. Mein tiefempfundener Dank gilt meinem Habilitationsbetreuer und langjährigen Förderer, Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Jürgen Basedow, der am MaxPlanck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht optimale Rahmenbedingungen für die Entfaltung akademischer Freiheit geschaffen hat. In diesem Umfeld war es ebenso naheliegend wie erfüllend, die Rolle und die Funktionsbedingungen einer anderen Freiheit zu erforschen. Mein herzlicher Dank gilt Herrn Prof. Dr. Peter Mankowski für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Von Herzen danke ich Herrn Prof. Dr. Heinz-Peter Mansel, der mir gerade in Zeiten der Ungewissheit immer mit wertvollem Rat und aufmunternden Worten zur Seite stand. Großer Dank gebührt allen Freunden und Kollegen, mit denen ich das Vergnügen hatte, ein Stück des Weges in die Wissenschaft gemeinsam gehen zu dürfen. Unter den zahlreichen Wegbegleitern möchte ich nur einige wenige nennen, die sich durch ihre Diskussionsfreunde besonders um die Vertragsfreiheit im Binnenmarkt verdient gemacht haben: Dr. Konrad Duden, Prof. Dr. Anatol Dutta, PD Dr. Matteo Fornasier, Dr. Samuel Fulli-Lemaire, Dr. Tobias Gauer, Jakob Gleim, Prof. Dr. Christian Heinze, Eike Hosemann, Dr. Stefan Korch, PD Dr. Rainer Kulms, Brooke Marshall, Dr. Friedrich Rosenfeld, Prof. Dr. Hannes Rösler, Cara Warmuth, Dr. Johannes Weber und Dr. Denise Wiedemann. Dem Max-Planck-Institut und seinen Direktoren schulde ich Dank für die Übernahme der Druckkosten und für die Aufnahme der Arbeit in die „Beiträge zum ausländischen und internationalen Privatrecht“. Für die Unterstützung bei der Fertigstellung des Manuskripts danke ich sehr herzlich Janina Jentz, Dr. Christian Eckl, Theresa Richter und Cara Warmuth. Ohne sie hätte diese Arbeit niemals so zeitnah erscheinen können. Das Werk widme ich meiner Familie, die durch ihre Liebe und bedingungslose Unterstützung das Fundament gelegt hat, auf dem diese Arbeit ruht. Hamburg, im November 2017

Jan D. Lüttringhaus

Inhaltsübersicht Inhaltsübersicht

Inhaltsübersicht

Vorwort ...................................................................................................... VII Inhaltsverzeichnis ........................................................................................ XI Abkürzungsverzeichnis .......................................................................... XXIX

Einleitung................................................................................................... 1 Erster Teil – Grundlegung der Vertragsfreiheit im Unionsrecht ..................................................................... 29 Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit .......................................................... 31 Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen .................93

Zweiter Teil – Vertragsfreiheit und ihre Materialisierung als Richtschnur des Schuldvertragsrechts der EU und ihrer Mitgliedstaaten .......................................... 251 Kapitel 3 – Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell unionaler Vertragsfreiheit ........................................................ 253 Kapitel 4 – Materialisierung der Vertragsfreiheit durch Unionsrecht .......... 323 Kapitel 5 – Indienstnahme des BGB zur Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit ........................................................ 395 Kapitel 6 – Materialisierung durch Zivilprozessrecht ................................. 459 Kapitel 7 – Kompass- und Schrankenfunktion der Vertragsfreiheit ............ 527

Zwölf Thesen zur Vertragsfreiheit im Binnenmarkt .................... 621 Literaturverzeichnis .................................................................................... 635 Verzeichnis wichtiger Entscheidungen ....................................................... 671 Sachverzeichnis .......................................................................................... 675

Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Vorwort ...................................................................................................... VII Inhaltsübersicht ........................................................................................... IX Abkürzungsverzeichnis .......................................................................... XXIX

Einleitung A. Ausgangslage und Anlass der Untersuchung ........................................... 1 I. Hypotrophie der Vertragsfreiheit im Unionsrecht .............................. 2 II. Orientierungsarmut und interventionistische Tendenzen des Unionsprivatrechts ............................................................................ 4 III. Zurückdrängung mitgliedstaatlicher Garantien der Vertragsfreiheit durch Unionsprivatrecht .......................................... 7 1. Unionsgrundrechte überlagern nationale Freiheitsrechte .............. 7 2. Vorrang unionsprivatrechtlicher Rechtsgrundsätze .....................10 IV. Einseitige Konstitutionalisierung des Unionsprivatrechts .................12 V. Zwischenfazit: Vertragsfreiheit als Leitlinie und Selbstbehauptungsinstrument des Privatrechts .................................15 B. Forschungslücke, Gegenstand und Ansatz der Untersuchung .................16 I. Forschungsstand: Insulare und diffuse Gewährleistung ....................16 II. Ausgangshypothesen zur Verbürgung und Materialisierung der Vertragsfreiheit .......................................................................... 18 1. Doppelköpfigkeit der Vertragsfreiheit im geltenden Unionsrecht ................................................................................ 18 2. Materialisierung durch Unionsprivatrecht, BGB und ZPO ..........19 III. Methodik und Bezugsrahmen ........................................................... 20 1. Unionsrechtsimmanente, rechtsaktsübergreifende und rechtsvergleichende Untersuchung ..............................................21 2. Unionale Vertragsfreiheit in drei Schwerpunktbereichen ............22 3. BGB und bürgerlich-rechtliche Dogmatik als Referenzrahmen .......................................................................... 25 C. Gang der Darstellung entlang sieben Erkenntniszielen ...........................26

XII

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil

Grundlegung der Vertragsfreiheit im Unionsrecht 29

Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit ...............................................31 § 1 Ideengeschichte der Vertragsfreiheit und Entwicklung des Unionsrechts ................................................................ 31 A. Triebkräfte vom römischen Recht bis in das 18. Jahrhundert ..................33 I. Römisches Recht .............................................................................. 33 II. Römisch-kanonisches Recht ............................................................. 35 III. Von Naturrechtslehre und Aufklärung bis zur klassischen Ökonomie ........................................................................................ 37 B. Verabsolutierung und Kritik im 19. und 20. Jahrhundert ........................40 I. Vertragsfreiheit auf dem Scheitelpunkt? ..........................................41 II. Bedrohung der Vertragsfreiheit durch wirtschaftliche Macht ...........43 III. „Soziale Aufgabe“ und „Krise“ des Vertragsrechts ..........................45 C. Ausgangsbasis und Herausforderungen im Unionsrecht .........................48 § 2 Vertragsfreiheit und Wirtschaftsverfassung der Union ...........................51 A. Begriff und Gestalt der EU-Wirtschaftsverfassung .................................51 B. Verhältnis zur Vertragsfreiheit und zu ihren Funktionsvoraussetzungen ...................................................................... 53 C. Fazit ....................................................................................................... 55 § 3 Selbstbestimmung und Vertrag als unionsrechtliche Kategorien ............56 A. Prämisse der Selbstbestimmungsfreiheit und Selbstverantwortung .........57 B. Vertragsbegriff des Unionsrechts ............................................................ 63 I. Unionsrechtsimmanente Begriffsbildung .........................................64 1. Vertragsbegriff des Sekundärrechts ............................................65 a) Internationales Unionsprivatrecht ..........................................65 b) Materielles Unionsprivatrecht ................................................70 2. Vertragsbegriff des Primärrechts ................................................76 a) Art. 101 AEUV ...................................................................... 76 b) Art. 340 Abs. 1 AEUV ........................................................... 80 c) Art. 272 AEUV ...................................................................... 82 3. Zwischenfazit ............................................................................. 83

Inhaltsverzeichnis

XIII

II. Rechtsvergleichendes Spektrum der Vertragsbegriffe ......................84 1. Minimalkonsens der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen .........84 2. Ausklammerung von „Seriositätsindizien“ ..................................85 3. Kein Erfordernis der Schadensersatzbewehrung .........................88 III. Ertrag ............................................................................................... 89 C. Summe des ersten Kapitels ..................................................................... 90

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen.....................................................93 § 1 Lückenhafter Schutz und Postulat umfassender Vertragsfreiheit.............93 A. Lückenhafte Gewährleistung im geschriebenen Primärrecht ...................94 I. Wirtschaftsverfassung und Grundfreiheiten .....................................94 1. Keine subjektiv-rechtliche Garantie durch Art. 119 Abs. 1 AEUV ......................................................................................... 94 2. Keine umfassende Gewährleistung durch die Grundfreiheiten .......................................................................... 96 a) Begrenzung auf Binnenmarktsachverhalte .............................96 b) Beschränkungen sind regelmäßig „zu ungewiss und zu mittelbar“ ............................................................................... 98 c) Grundfreiheiten als Schranken der Vertragsfreiheit................99 II. Insularer Schutz durch kodifizierte Unionsgrundrechte .................. 101 1. Keine Anbindung an Menschenwürde oder Handlungsfreiheit ..................................................................... 103 2. Nur kontextspezifischer Schutz der Vertragsfreiheit in der GRCh ....................................................................................... 107 a) Recht auf Eigentum nach Art. 17 GRCh .............................. 107 b) Unternehmerische Freiheit gemäß Art. 16 GRCh ................. 108 III. Zwischenfazit und Kritik ................................................................ 110 B. Fazit ..................................................................................................... 111 C. Postulat umfassender Vertragsfreiheit im Unionsrecht ......................... 113 I. Sieben anerkannte Facetten unionaler Vertragsfreiheit ................... 114 1. Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit ............................. 114 2. Inhaltsfreiheit ........................................................................... 117 3. Typenfreiheit ............................................................................ 121 4. Änderungsfreiheit ..................................................................... 122 5. Aufhebungsfreiheit ................................................................... 124 6. Formfreiheit .............................................................................. 125 7. Parteiautonomie ........................................................................ 126 II. Beschränkung als implizite Anerkennung der Vertragsfreiheit ....... 129 1. Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit ............................. 130

XIV

Inhaltsverzeichnis

2. 3. 4. 5. 6. 7.

Inhaltsfreiheit ........................................................................... 136 Typenfreiheit ............................................................................ 142 Änderungsfreiheit ..................................................................... 143 Aufhebungsfreiheit ................................................................... 145 Formfreiheit .............................................................................. 146 Parteiautonomie ........................................................................ 148

§ 2 Vertragsfreiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts .................................................................................. 150 A. Allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts ................................... 150 I. Arten und Funktionen .................................................................... 151 1. Allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts .............. 152 2. Allgemeine Grundsätze i.S.d. Art. 6 Abs. 3 EUV ..................... 158 II. Induktive Gewinnung allgemeiner Rechtsgrundsätze ..................... 161 1. Zweistufiges Begründungsverfahren ......................................... 161 2. Unionsrechtsimmanente Betrachtung ........................................ 162 3. Rechtsvergleichung und Völkerrecht ........................................ 163 III. Zwischenfazit ................................................................................. 165 B. Unionsrechtsimmanente, völkerrechtliche und rechtsvergleichende Bestandsaufnahme ................................................ 167 I. Unionsrechtsimmanente Betrachtung ............................................. 167 1. Unionsprivatrecht ..................................................................... 167 2. Grundrechtliche Verbürgung .................................................... 168 II. Umschau in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen ................... 171 1. Frankreich ................................................................................ 171 a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts .............................. 171 b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung .................... 172 2. Deutschland .............................................................................. 175 a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts .............................. 175 b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung .................... 175 3. Belgien ..................................................................................... 176 a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts .............................. 176 b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung .................... 177 4. Österreich ................................................................................. 178 a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts .............................. 178 b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung .................... 178 5. Vereinigtes Königreich ............................................................. 180 a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts .............................. 180 b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung .................... 181 6. Spanien ..................................................................................... 183 a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts .............................. 183 b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung .................... 184

Inhaltsverzeichnis

XV

7. Portugal .................................................................................... 185 a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts .............................. 185 b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung .................... 185 8. Italien ....................................................................................... 187 a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts .............................. 187 b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung .................... 187 9. Ungarn ...................................................................................... 188 a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts .............................. 188 b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung .................... 188 10. Polen ........................................................................................ 189 a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts .............................. 189 b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung .................... 190 11. Litauen ..................................................................................... 190 a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts .............................. 190 b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung .................... 191 12. Schweden ................................................................................. 192 a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts .............................. 192 b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung .................... 192 III. Verankerung der Vertragsfreiheit im Völkerrecht .......................... 193 1. Allgemeiner völkervertragsrechtlicher Grundsatz ..................... 193 2. Vertragsfreiheit als Grundprinzip privatrechtsrelevanter völkerrechtlicher Abkommen.................................................... 194 3. Grundrechtliche Dimension völkerrechtlicher Abkommen ....... 196 C. Vertragsfreiheit als Grundsatz des Unionsprivatrechts und Unionsgrundrecht i.S.d. Art. 6 Abs. 3 EUV .......................................... 197 I. Unionsprivatrechtlicher Rechtsgrundsatz ....................................... 197 II. Vertragsfreiheit als Grundrecht im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV.......................................................................... 199 III. Fazit ............................................................................................... 201 § 3 Gewährleistungsgehalt unionaler Vertragsfreiheit ............................... 202 A. Inhalt .................................................................................................... 203 I. Autonomer Schutzbereich .............................................................. 203 II. Gegenstand, Gehalt und Kernbereich unionaler Vertragsfreiheit .............................................................................. 206 1. Entscheidung über den Vertragsschluss und Vertragspartnerwahl ................................................................. 207 2. Bestimmung der essentialia negotii .......................................... 209 3. Wesensgehalt, Funktionsbestimmung und Menschenwürdekern ................................................................. 214 III. Abwägung und Beschränkbarkeit ................................................... 216 1. Grundrechtliche Schrankensystematik ...................................... 216

XVI

Inhaltsverzeichnis

a) Erfordernis einer Rechtsgrundlage ....................................... 217 b) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ............................................ 218 c) Wahrung des Wesensgehalts ................................................ 221 2. Abwägung unionsprivatrechtlicher Grundsätze ......................... 223 3. Ergebnis ................................................................................... 224 B. Anwendungsbereich ............................................................................. 226 I. Persönlicher Anwendungsbereich: Jedermanns(grund)recht ........... 226 II. Unionsgrundrechtliche Bindung der EU und ihrer Mitgliedstaaten .............................................................................. 227 1. Durchführung des Unionsrechts ................................................ 227 2. Erweiterungen des „Anwendungsbereichs“ des Unionsrechts und der EU-Grundrechte ..................................... 229 a) Vertragsfreiheit als Schranke und „SchrankenSchranke“ bei Verkürzungen der Verkehrsfreiheiten ........... 233 b) Ausdehnung des Anwendungsbereichs durch den Effektivitätsgrundsatz .......................................................... 236 c) Bindung an die unionale und Überlagerung der nationalen Vertragsfreiheit im Schuldvertragsrecht .............. 240 aa) Einheitlicher Schutzgegenstand und unteilbare Vertragsfreiheit ............................................................. 240 bb) Grundsätzlicher Vorrang unionaler Vertragsfreiheit ...... 243 III. Wirkbereich als privatrechtlicher Rechtsgrundsatz ......................... 245 C. Summe des zweiten Kapitels ................................................................ 247 Zweiter Teil

Vertragsfreiheit und ihre Materialisierung als Richtschnur des Schuldvertragsrechts der EU und ihrer Mitgliedstaaten 251

Kapitel 3 – Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell unionaler Vertragsfreiheit ............................................. 253 § 1 Einwirkungsachsen im Privatrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten ..................................................................... 253 A. Privatrechtswirkungen der Vertragsfreiheit als Unionsgrundrecht ........ 254 I. Autarkie und Grundrechtsbindung des Privatrechts ........................ 255 II. Unionsgrundrechtliche Triebfedern der Privatrechtswirkung ......... 258 1. Abwehrgrundrecht .................................................................... 258

Inhaltsverzeichnis

XVII

2. Schutzpflichtdimensionen unionaler Vertragsfreiheit................ 259 3. Grundrechtsnotwendige Institutionen und objektivrechtliche Dimension ................................................................ 261 III. Methodische Einwirkungsebenen ................................................... 263 1. Ausgestaltungsvorgaben bei der Rechtsetzung .......................... 264 2. Durch Vorlageverpflichtung flankierte unionsgrundrechtskonforme Auslegung und Rechtsanwendung ..................................................................... 265 3. Mittelbare horizontale Drittwirkung in Privatrechtsbeziehungen ........................................................... 269 B. Privatrechtswirksamkeit der Vertragsfreiheit als Rechtsgrundsatz ........ 272 I. Prinzipiengeleitete Auslegung und Rechtsfortbildung .................... 273 II. Ausgleich mit gegenläufigen Prinzipien und der „prima facieVorrang des Prinzips der rechtlichen Freiheit“ im Unionsrecht ...... 275 C. Multidimensionalität der Privatrechtswirkungen................................... 279 I. Privatrechtlicher Rechtsgrundsatz und Unionsgrundrecht .............. 279 II. Interaktion individual-rechtlicher und binnenmarktbezogener Vertragsfreiheit .............................................................................. 280 § 2 Vertragsfreiheit als Begründung und Begrenzung der Vertragsbindung ................................................................................... 283 A. Pacta sunt servanda im Unionsprivatrecht ........................................... 283 I. Vertragsfreiheit als Fundament von Vertragstreue und -bindung .................................................................................. 285 II. Leistungstreue als zentrales Element .............................................. 287 1. Verbrauchervertragsrecht und Leistungstreue ........................... 287 2. Leistungs- und Zahlungstreue im Wirtschaftsvertragsrecht ....... 289 III. Zwischenfazit ................................................................................. 291 B. Personale Relativität vertraglicher Schuldverhältnisse .......................... 291 I. Grundsatz der Relativität im Unionsrecht ....................................... 291 II. Verbot von Verträgen zulasten Dritter............................................ 294 III. Verträge zugunsten Dritter und unionale Vertragsfreiheit .............. 298 C. Ergebnis ............................................................................................... 301 § 3 Vertrags- und Marktmechanismus als prozedurales Funktionsmodell ................................................................................... 302 A. Freiheitsverwirklichung durch den Vertrags- und Marktmechanismus ............................................................................... 303 I. Prozedurale Freiheitsentfaltung durch den Vertragsmechanismus .................................................................... 305 II. Markt- und wettbewerbsgestütztes Funktionsmodell ...................... 308 B. Richtigkeitsgewähr des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus ........ 311

XVIII

Inhaltsverzeichnis

I. Vertragsmechanismus und Richtigkeitsvermutung ......................... 312 II. Wettbewerbsmechanismus und Richtigkeitsvermutung .................. 316 C. Summe des dritten Kapitels .................................................................. 320

Kapitel 4 – Materialisierung der Vertragsfreiheit durch Unionsrecht........................................................... 323 § 1 Begriff, Gegenstand und Ziel der Materialisierung ............................... 324 A. Evolution des Materialisierungsverständnisses und seiner Bezugspunkte ....................................................................................... 325 I. „Sozialmodell“ und „soziale Gerechtigkeit“ ................................... 328 II. Rückanbindung an die Vertragsfreiheit im Unionsrecht ................. 329 B. Werthaltige Selbstbestimmungschancen als Ziel und Schutzpflichten als Antrieb ................................................................... 331 I. Gewährleistung tatsächlicher Selbstbestimmungschancen .............. 331 II. Schutzpflichtendimension der Vertragsfreiheit als Triebfeder ........ 334 III. Materialisierung ex ante und ex post .............................................. 337 C. Zwischenfazit ....................................................................................... 338 § 2 Marktkonstitutive und wettbewerbsschützende Materialisierungsinstrumente des Wirtschaftsrechts ............................. 338 A. Kartellrecht........................................................................................... 340 B. Lauterkeitsrecht .................................................................................... 341 C. Zwischenfazit ....................................................................................... 344 § 3 Materialisierung durch Unionsprivatrecht ........................................... 346 A. Informationsmodell .............................................................................. 347 I. Elemente und Funktionen ............................................................... 347 1. Informations-, Transparenz- und Formanforderungen ............... 348 2. Markt- und vertragsfreiheitsermöglichende Funktion im gesamten EU-Schuldvertragsrecht ............................................ 351 II. Ausrichtung und Systematisierung anhand der unionalen Vertragsfreiheit .............................................................................. 353 III. Grenzen der Materialisierung durch das Informationsmodell ......... 356 B. Restriktionen der Vertragsschlussmodalitäten ...................................... 358 C. Diskriminierungsverbote und Kontrahierungszwänge ........................... 360 I. Binnenmarkt- und wettbewerbsbezogene Diskriminierungsverbote ................................................................ 361 1. Primärrechtliche Verbote .......................................................... 361 a) Wettbewerbsrecht ................................................................ 361

Inhaltsverzeichnis

D.

E. F.

G.

XIX

b) Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit ......... 362 2. Dienstleistungsrichtlinie ........................................................... 363 3. Konvergenz der Diskriminierungsverbote im Bereich der Staatsangehörigkeit? ................................................................. 364 II. Gesellschaftspolitische Diskriminierungsverbote ........................... 365 III. Binnenmarkt- und wettbewerbsbezogene Kontrahierungszwänge ................................................................... 367 IV. Gesellschaftspolitische Kontrahierungszwänge .............................. 369 Klauselkontrolle ................................................................................... 370 I. Inhaltskontrolle .............................................................................. 371 1. Materialisierung negativer Vertragsfreiheit ............................... 372 2. Erhaltung positiver Vertragsinhaltsfreiheit bezüglich des angestrebten Äquivalenzverhältnisses ....................................... 373 3. Unionsrechtlich-autonome und nationale Maßstabbildung ........ 374 a) Leitbildfunktion dispositiven Rechts .................................... 375 b) Herausbildung unionsrechtliche-autonomer Maßstäbe ......... 377 aa) Hypothetischer Vertragsmechanismus ........................... 377 bb) Wertungen des Anhangs zur Klauselrichtlinie ............... 378 c) Zwischenfazit ...................................................................... 380 II. Transparenzkontrolle und „Markttransparenzgebot“ ...................... 380 Zwingendes Vertragsrecht und Unwirksamkeitstatbestände.................. 383 Materialisierung durch Aktualisierung der Vertragsfreiheit .................. 384 I. Vertragsbeseitigungsrechte ............................................................ 385 II. Höchstbindungsdauern im Verbraucher-, Finanzdienstleistungs- und Wirtschaftsvertragsrecht ...................... 388 Summe des vierten Kapitels ................................................................. 392

Kapitel 5 – Indienstnahme des BGB zur Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit ............................................. 395 § 1 Einwirkungsebenen des unionalen Materialisierungsgebots ................. 395 A. Effektivitätsgrundsatz als Einfallstor .................................................... 396 I. Wirksamkeitsorientierte Auslegung und Äquivalenz- sowie Effektivitätsgrundsatz .................................................................... 397 II. Erweiterungen der unionsgrundrechtskonformen Interpretation durch effet utile und Äquivalenz- sowie Effektivitätsgrundsatz .................................................................... 399 B. Vertragsfreiheit als unionsgrundrechtliche Triebfeder der Materialisierung ................................................................................... 400 I. Gebot äquivalenter und effektiver Entfaltung unionaler Vertragsfreiheit im nationalen Privat- und Zivilprozessrecht.......... 400

XX

Inhaltsverzeichnis

II. Erfüllung unionsgrundrechtlicher Schutzpflichten durch mitgliedstaatliches Privatrecht ....................................................... 402 C. Zwischenfazit ....................................................................................... 403 § 2 Interaktion der Materialisierungsinstrumente des BGB und des EU-Privatrechts ................................................................................... 404 A. Anfechtung nach §§ 119, 123 BGB ...................................................... 404 I. Konflikte mit Materialisierungsinstrumenten des Unionsprivatrechts ......................................................................... 406 1. Anfechtung und Diskriminierungsschutz im Schuldvertragsrecht .................................................................. 406 2. Unternehmerseitige Anfechtung und Verbraucherwiderruf ....... 408 a) Lösung im Lichte des effet utile ........................................... 408 b) Kipp’sche „Doppelwirkung im Recht“: Widerruf des gemäß § 142 BGB nichtigen Vertrags .................................. 409 c) Einschränkungen bei arglistiger Täuschung durch den Verbraucher ......................................................................... 411 3. Zwischenfazit ........................................................................... 413 II. Koexistenz bei gleicher Zielsetzung unionaler und nationaler Instrumente .................................................................................... 413 1. Grundsatz elektiver Konkurrenz ............................................... 414 2. Fortbestand des Vertragsbeseitigungsrechts mangels Belehrung ................................................................................. 415 3. Rechtssicherheit, Vertrauensschutz und Verbot des Rechtsmissbrauchs als Schranken ............................................. 416 III. Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit durch §§ 119, 123 BGB ........................................................................... 418 1. Vertragsschlussrelevante Informationspflichten ........................ 418 2. Inhalts- und Erklärungsirrtum im Kontext der E-Commerce-Richtlinie ............................................................ 421 3. Anwendungsbeispiele aus dem Finanzdienstleistungs- und Verbrauchervertragsrecht .......................................................... 422 B. Culpa in contrahendo ........................................................................... 424 I. Voraussetzungen der Inanspruchnahme des § 311 Abs. 2 BGB als Materialisierungsinstrument ...................................................... 425 II. Anordnung vorvertraglicher Informationshaftung bei Versicherungsverträgen und Kapitalanlageprodukten ..................... 426 III. Culpa in contrahendo als Sanktion von Verstößen gegen die Bonitätsprüfungspflicht im Verbraucherkreditvertragsrecht ........... 428 1. Verletzung der Bonitätsprüfungspflicht und ihre Folgen ........... 429 2. Unionsrechtliche Vorgaben mit Blick auf § 311 Abs. 2 BGB..................................................................... 430

Inhaltsverzeichnis

XXI

IV. Informationshaftung im allgemeinen Verbrauchervertragsrecht ............................................................... 433 1. Kategorien vertragsentschlussrelevanter Informationspflichten ............................................................... 433 2. Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz sowie Einwirkung unionaler Vertragsfreiheit ......................................................... 434 3. Keine Kompensation durch andere privatrechtliche Instrumente ............................................................................... 435 V. Information über Verbraucherwiderrufsrecht als Sonderfall ........... 436 C. §§ 138, 242 BGB als Generalklauseln des Bürgerlichen Rechts ........... 438 I. Unionsrechtsoffenheit der Generalklauseln des BGB ..................... 438 1. Berücksichtigung im Geltungsbereich des Unionsrechts ........... 439 2. Heranziehung als Werteordnung jenseits des Anwendungsbereichs des EU-Rechts ........................................ 441 II. Sittenwidriges Rechtsgeschäft und Wucher i.S.d. § 138 BGB ........ 443 1. Unionale Vertragsfreiheit und „Bürgschaftsfälle“ ..................... 443 a) Bürgschaftsverträge im Anwendungsbereich des Unionsrechts ........................................................................ 443 b) Unionale Vertragsfreiheit als Maßstab i.R.d. § 138 Abs. 1 BGB ................................................................ 446 2. Kein genereller Vorrang der Materialisierungsinstrumente des Unionsprivatrechts vor § 138 BGB ..................................... 447 III. § 242 BGB als Ergänzung unionaler Materialisierungsinstrumente ......................................................... 449 § 3 Das BGB im hybriden Materialisierungssystem des Unionsprivatrechts ......................................................................... 452 A. Komplementarität der Materialisierungsinstrumente............................. 452 I. Determinanten des unionsprivatrechtlichen Materialisierungssystems ............................................................... 452 II. Drei Funktionen des Bürgerlichen Rechts ...................................... 454 1. Unionsprivatrechtsakzessorische Ergänzung ............................. 454 2. Teilautonomes Materialisierungsinstrument.............................. 454 3. Unionsgrundrechtsoffene Auffangordnung ............................... 455 B. Summe des fünften Kapitels ................................................................. 456

Kapitel 6 – Materialisierung durch Zivilprozessrecht ................. 459 § 1 Triebkräfte und Ziele der verfahrensrechtlichen Dimension der Materialisierung ................................................................................... 461 A. Zwei zentrale Einfallstore unionsrechtlicher Wertungen ....................... 462

XXII

Inhaltsverzeichnis

B. Verwirklichung unionaler Vertragsfreiheit durch nationales Prozessrecht ......................................................................................... 463 I. Pflicht zur zivilprozessualen Durchsetzung unionsrechtlich determinierter Verträge .................................................................. 463 II. Kompensation fehlender rechtsgeschäftlicher Selbstbestimmungschancen ............................................................ 465 § 2 Materialisierungstendenzen und Prozessmaximen der ZPO .................. 467 A. Unionsrechtliche Anerkennung von Dispositions-, Verhandlungsund Beschleunigungsgrundsatz ............................................................. 467 I. Dispositionsmaxime und Antragsgrundsatz als „Vertragsfreiheit im Prozess“ ......................................................... 468 II. Verhandlungsgrundsatz .................................................................. 469 III. Konzentrations- und Beschleunigungsgrundsatz ............................ 470 B. Unionsrechtliche Überlagerung der Prozessmaximen in Verfahren mit Verbraucherbeteiligung ................................................. 470 I. Durchbrechung des Dispositions- und Antragsgrundsatzes: Anwendung der Materialisierungsinstrumente von Amts wegen ......... 471 1. Drohende Erosion des Antragsgrundsatzes zugunsten einer Legalitätskontrolle anhand des EUVerbrauchervertragsrechts ........................................................ 472 2. Sachgerechte Eingrenzung durch den Streitgegenstand ............. 475 3. Verwirklichung des Effektivitätsgrundsatzes sowie unionsgrundrechtlicher Schutzpflichten über § 139 ZPO .......... 476 II. Partielle Abkehr vom Verhandlungs- und Hinwendung zum Untersuchungsgrundsatz ................................................................ 479 1. Unionsrechtliche determinierte Untersuchungsmaxime ............ 479 2. Umsetzung im Rahmen der ZPO............................................... 481 a) Materielle Prozessleitung nach §§ 139 ff. ZPO .................... 481 b) Anordnung der Urkundsvorlage nach § 142 ZPO ................. 482 c) Inaugenscheinnahme von Amts wegen nach § 144 ZPO ...... 484 3. Reichweite und Folgefragen der Geltung des Untersuchungsgrundsatzes ........................................................ 485 III. Einfluss auf den Konzentrations- und Beschleunigungsgrundsatz ............................................................. 487 1. Präklusion nach § 296 ZPO ...................................................... 487 2. Tatsachenerfassung und -bewertung im Rechtsmittelverfahren ............................................................... 488 C. Sicherung der kontradiktorischen Verfahrensgestaltung ....................... 490 I. Unionsrechtlich gebotene Hinweis-, Kenntnisnahme- und Erörterungspflichten....................................................................... 490 II. Einpassung in das System der deutschen ZPO................................ 491

Inhaltsverzeichnis

XXIII

§ 3 Zwangsvollstreckungsrecht im Bannkreis unionaler Materialisierungsvorgaben ................................................................... 493 A. § 767 Abs. 2, § 796 Abs. 2 ZPO und die Ausübung unionsprivatrechtlicher Gestaltungsrechte ............................................ 494 B. Keine umfassende Korrektur über das Zwangsvollstreckungsverfahren ........................................................... 498 I. Vorrang der Materialisierung im Erkenntnisverfahren und Schutz der Rechtskraft ................................................................... 498 II. Voraussetzungen und Instrumente der subsidiären Materialisierung durch Zwangsvollstreckungsrecht ........................ 500 C. Zwischenergebnis ................................................................................. 501 § 4 Mahnverfahren und Materialisierung ................................................... 503 A. Amtswegige Prüfung des EU-Verbrauchervertragsrechts ..................... 504 B. Kein Untersuchungsgrundsatz im Mahnverfahren ................................ 505 C. Umsetzung der unionsrechtlichen Vorgaben bei Mahnverfahren .......... 508 I. Lösungsmöglichkeiten vor Titelschaffung...................................... 509 1. Mahnverfahrenssperre für Verbrauchersachen analog § 688 Abs. 2 Nr. 1 ZPO ............................................................ 509 2. Herausnahme der Verbraucherfälle aus dem automatisierten Mahnverfahren? ............................................... 510 II. Nachgelagerte Kontrolle über § 767, § 796 Abs. 2 ZPO und § 826 BGB ..................................................................................... 511 III. Zwischenergebnis .......................................................................... 514 § 5 Zivilprozessrecht als Baustein des unionalen Materialisierungssystems ..................................................... 515 A. Funktion und Entwicklungstendenzen der Materialisierung durch Zivilverfahrensrecht ............................................................................. 516 I. Ineinandergreifen materiellrechtlicher und prozessualer Materialisierungsinstrumente ......................................................... 516 1. Durchsetzung privatrechtlicher Materialisierungsinstrumente .................................................... 516 2. Zivilprozessrecht als mehrstufige Auffangordnung ................... 517 II. Materialisierung duch Zivilprozessrecht im Antidiskriminierungs- und Finanzdienstleistungsvertragsrecht....... 519 1. Antidiskriminierungsrecht ........................................................ 519 2. Versicherungsvertragsrecht ....................................................... 521 B. Summe des sechsten Kapitels ............................................................... 523

XXIV

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 7 – Kompass- und Schrankenfunktion der Vertragsfreiheit ................................................................ 527 § 1 Vertragsfreiheit als Leitprinzip und Schranke des unionalen Materialisierungssystems ..................................................... 528 A. Grenzen der Materialisierungsinstrumente ............................................ 528 I. Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus als Erforderlichkeits- und Verhältnismäßigkeitsmaßstab ..................... 528 1. Unionsgrundrechtlicher Rahmen ............................................... 529 a) Erforderlichkeit, Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit i.e.S. .................................................... 529 b) Typisierende Materialisierungstatbestände und ihre Grenzen ............................................................................... 531 2. Privatrechtliche Anwendungsbeispiele ..................................... 532 a) Selbstbestimmungschancen durch den Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus bei „umgekehrten“ Verbraucherverträgen .......................................................... 533 aa) Fernabsatzverträge ........................................................ 535 bb) Außergeschäftsraumverträge ......................................... 536 b) Keine Stärkung des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus durch bestimmte Informationpflichten des Finanzdienstleistungsvertragsrechts ............................... 539 II. Unionsprivatrechtliche Rechtsgrundsätze als Schranken der Materialisierung ............................................................................. 541 1. Rechtsmissbrauchsverbot und Treu und Glauben ...................... 542 a) Rahmensetzung durch Unionsrecht ...................................... 542 b) Autonomes Rechtsmissbrauchsverbot in der EuGH-Judikatur ................................................................... 545 c) Ausstehende Konturierung des Grundsatzes von Treu und Glauben......................................................................... 548 2. Begrenzung von Vertragslösungsrechten im Verbraucherund Finanzdienstleistungsvertragsrecht..................................... 551 a) Ausschluss bei Schädigungs- und Missbrauchsabsicht ......... 551 b) Instrumentalisierung des Widerrufs zur Erzielung günstigerer Vertragskonditionen .......................................... 554 aa) Preisnachlässe bei Fernabsatzverträgen ......................... 555 bb) Nachverhandlung von Kredit- oder Versicherungskonditionen ............................................. 557 c) Anwendungsfälle des „halbautonomen“ Grundsatzes von Treu und Glauben ......................................................... 559 aa) Verwirkung unionaler Materialisierungsinstrumente......................................... 560

Inhaltsverzeichnis

XXV

bb) Vortäuschen gewerblicher Verwendung ........................ 563 3. Rechtsmissbrauch als Schranke des Diskriminierungsschutzes ......................................................... 564 III. Unionale Prozessgrundsätze und -rechte als Grenze der Materialisierung durch Zivilverfahrensrecht................................... 565 1. Parteidisposition als prozessuale Facette der Privatautonomie ........................................................................ 566 2. Grundsatz des fairen kontradiktorischen Verfahrens ................. 567 3. Zwischenfazit ........................................................................... 568 B. Stufenbau des Materialisierungssystems ............................................... 569 I. Drei konzentrische Schutzwälle der Vertragsfreiheit ...................... 569 II. Kaskade der Materialisierungsinstrumente ..................................... 571 1. Abstufung der privatrechtlichen Instrumente ............................ 571 2. Materialisierungskaskade im Bereich des Zivilprozessrechts ..................................................................... 574 III. Materialisierung und Vermutung der „Richtigkeit“ des Vertrags ......................................................................................... 575 1. Gesteigerte Richtigkeitsgewähr des Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus ........................................................ 575 2. Prozedurale Gerechtigkeit durch materialisierte Vertragsfreiheit ......................................................................... 576 3. Schutz gegen „Extremabweichungen“ zwischen BGB und allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsprivatrechts ........... 580 C. Partielle Disponibilität der Materialisierung ......................................... 583 I. Disposition über Materialisierungsinstrumente im Zivilprozess ................................................................................... 583 II. Erweiterte materiellrechtliche Dispositionsbefugnis als Folge der Materialisierung durch Prozessrecht ......................................... 584 1. „Einwilligung“ in missbräuchliche Klauseln ............................. 585 2. Einpassung in die Rechtsgeschäftslehre des BGB ..................... 585 3. Folgen für die Kontrollfähigkeit der Klausel und die Bindung des anderen Vertragsteils ............................................ 586 III. Disponibilität materiellrechtlicher Materialisierungsinstrumente jenseits des Zivilverfahrens? ............ 587 § 2 Vertragsfreiheit als Grenze der Kontrolle von Vertragsinhalten ........... 589 A. Inhaltskontrolle jenseits der Klauselrichtlinie ....................................... 591 I. Mindestharmonisierung durch die Klauselrichtlinie ....................... 592 II. Art. 8 Klauselrichtlinie und unionale Vertragsfreiheit .................... 593 B. Schranken der Inhaltskontrolle von Individualvereinbarungen und der essentialia negotii ........................................................................... 595

XXVI

Inhaltsverzeichnis

I.

Unionale Vertragsfreiheit als Maßstab angesichts der Bedrohung der Vertragsfunktion durch die pauschale Inhaltskontrolle .... 595 II. Individuell ausgehandelte Vertragsbestimmungen .......................... 598 1. Bedarf es eines pauschalen Kontrollvorbehalts? ....................... 598 2. Vorrang einer anlassbezogenen Individualkontrolle .................. 599 3. Rückausnahme bei typisierbarem Versagen des Vertragsund Markmechanismus ............................................................. 600 III. Inhaltskontrolle der essentialia negotii ........................................... 600 C. Folgen für die pauschale Inhaltskontrolle im Schuldvertragsrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten .......................................................... 603 I. Vertragsfreiheitskonforme Handhabung der mitgliedstaatlichen Inhaltskontrolle................................................ 603 1. Beispiele für die Kontrolle von Individualvereinbarungen und der essentialia negotii ........................................................ 603 2. Einschränkung der Inhaltskontrolle im Lichte unionaler Vertragsfreiheit ......................................................................... 605 a) Frankreich: Fragwürdigkeit unwiderleglicher Missbräuchlichkeit von Individualvereinbarungen ............... 607 b) Spanien: Vertragsfreiheitskonforme Begrenzung der Inhaltskontrolle durch das Tribunal Supremo ....................... 609 3. Auswirkungen i.R.d. § 307 Abs. 3 S. 1 BGB: Das Beispiel der Differenzierung zwischen Preisvereinbarungen und Preisnebenabreden .................................................................... 610 II. Kontrolle von Individualvereinbarungen nach Art. 7 Zahlungsverzugsrichtlinie und § 271a, § 286 Abs. 5 BGB ............. 613 1. Erforderlichkeit unter institutionellen Gesichtspunkten ............ 614 2. Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ........................ 615 III. Zwischenfazit ................................................................................. 616 D. Summe des siebten Kapitels ................................................................. 617

Zwölf Thesen zur Vertragsfreiheit im Binnenmarkt I.

Vertragsfreiheit als Unionsgrundrecht und als allgemeiner Rechtsgrundsatz des EU-Privatrechts ................................................. 621 II. Autonomer Gewährleistungsgehalt und Wirkbereich unionaler Vertragsfreiheit .................................................................................. 622 III. Privatrechtliche Einwirkungsebenen des Unionsgrundrechts .............. 623 IV. Privatrechtswirksamkeit als allgemeiner Rechtsgrundsatz .................. 623 V. Freiheitsentfaltung und Richtigkeitsgewähr durch den Vertragsund Wettbewerbsmechanismus ........................................................... 624 VI. Materialisierung der Vertragsfreiheit im Binnenmarkt........................ 625

Inhaltsverzeichnis

XXVII

VII. Interaktion der Materialisierungsinstrumente des BGB und des Unionsprivatrechts ............................................................................. 626 VIII. Indienstnahme des BGB zur Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit .................................................................................. 627 IX. Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit durch Zivilprozessrecht ................................................................................ 628 X. Entwicklung eines Materialisierungssystems um die unionale Vertragsfreiheit .................................................................................. 630 XI. Vertragsfreiheit als Grenze der mitgliedstaatlichen und unionalen Kontrolle von Vertragsinhalten .......................................... 631 XII. Vertragsfreiheit und ihre Materialisierung als Richtschnur des Schuldvertragsrechts der EU und ihrer Mitgliedstaaten ...................... 632 Literaturverzeichnis .................................................................................... 635 Verzeichnis wichtiger Entscheidungen ....................................................... 671 Sachverzeichnis .......................................................................................... 675

Abkürzungsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis a. A. anderer Ansicht AJDA L’actualité juridique, droit administratif a. F. alte Fassung ABl. Amtsblatt der Europäischen Union/Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Abs. Absatz AC Law Reports, Appeal Cases AcP Archiv für die civilistische Praxis AGB Allgemeine Geschäftsbedingungen AGBG Gesetz zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen AGG Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz al. alinéa Alt. Alternative ABA J. American Bar Association Journal Abt. Abteilung AEUV Vertrag über die Arbeitsweise der europäischen Union Am. Econ. Rev. The American Economic Review Am. J. of Legal Hist. American Journal of Legal History Anm. Anmerkung An. Der. Civ. Anuario de Derecho Civil AöR Archiv des öffentlichen Rechts ArbG Arbeitsgericht Archives Phil. dr. Archives de Philosophie du Droit Art. Artikel AT Allgemeiner Teil Aufl. Auflage Az. Aktenzeichen BOE BAG BeckOGK BeckOK Begr. Beschl. BGB BGBl. BGH BGHZ

Boletín Oficial del Estado Bundesarbeitsgericht beck-online Großkommentar Beck’scher Online-Kommentar Begründer Beschluss Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen

XXX

Abkürzungsverzeichnis

BISD BKR BT-Drucks. BVerfG BVerfGE bzw.

Basic Instruments and Selected Documents Zeitschrift für Bank- und Kapitalmarktrecht Bundestagsdrucksache Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts beziehungsweise

c. CA Cass. Cass. ass. plén. Cass. civ. Cass. crim. Cass. soc. Ch. CISG CMLR Colum. L. Rev. Cons. const. Current Leg. Probl.

chapter Cour d’Appel Cour de Cassation/Corte di cassazione Cour de Cassation, Assemblée Plénière Cour de Cassation, Chambre civile Cour de Cassation, Chambre criminelle Cour de Cassation, Chambre sociale Chapter/Chambre (United Nations) Convention on Contracts for the International Sale of Goods Common Market Law Review Columbia Law Review Conseil constitutionnel Current Legal Problems

D. D. chron. DB DC DCFR ders. dies. DJT DNotZ DVBl.

Recueil Dalloz Receuil Dalloz Chronique Der Betrieb Contrôle de constitutionnalité des lois Draft Common Frame of Reference derselbe dieselbe, dieselben Deutscher Juristentag Deutsche Notar-Zeitschrift Deutsches Verwaltungsblatt

éd. ed. eds. EG EGBGB EGMR EGV Einl. EJIL ELJ EMRK

édition/éditeur/éditeurs edition/editor editors Europäische Gemeinschaft Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuche Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Einleitung European Journal of International Law European Law Journal Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten European Review of Contract Law European Review of Private Law Europäische Union European Constitutional Law Review

ERCL ERPL EU EuConst

Abkürzungsverzeichnis EuGH EuErbVO

XXXI

EWCA Civ EWHC (QB) EWR EWS

Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Verordnung (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses (Europäisches) Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Europäische) Verordnung über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen Europarecht Vertrag über die Europäische Union Zeitschrift für Europäisches Unternehmens- und Verbraucherrecht Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (Europäisches) Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht England and Wales Court of Appeal (Civil Division) England and Wales High Court (Queen’s Bench Division) Europäischer Wirtschaftsraum Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht

f., ff. Foro it. FS

folgende Il foro italiano Festschrift

GA GLJ GG Giust. civ. Giur. cost. GPR GRCh GrdstVG GRUR GS G.U. GWB GWR

Generalanwalt German Law Journal Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Giustizia civile Giurisprudenza costituzionale Zeitschrift für Gemeinschaftsprivatrecht Charta der Grundrechte der Europäischen Union Grundstückverkehrsgesetz Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht Gedächtnisschrift Gazzetta Ufficiale Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht

Harv. Int. L.J. Herv. d. Verf. HK-BGB HKK Hrsg. Hs.

Harvard International Law Journal Hervorhebung des Verfassers Handkommentar Bürgerliches Gesetzbuch Historisch kritischer Kommentar zum BGB Herausgeber Halbsatz

i.V.m.

in Verbindung mit

EuGVÜ EuGVVO EuR EUV EUVR EuZW EVÜ

XXXII

Abkürzungsverzeichnis

IPR IPRax

Internationales Privatrecht Praxis des internationalen Privat- und Verfahrensrechts

JA JbJZWiss JBl JCP JherJb. JORF JuS JZ

Juristische Arbeitsblätter Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler Juristische Blätter La semaine juridique (juris classeur périodique) Jherings Jahrbücher für die Dogmatik des bürgerlichen Rechts Journal Officiel de la République Française Juristische Schulung Juristenzeitung

KritV

Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft

L. LAG LG lit. LMK LR Eq

Loi Landesarbeitsgericht Landgericht litera Lindenmaier-Möhring – Kommentierte BGH-Rechtsprechung Law Reports, Equity Cases

M.B. Mercer L. Rev. Mich. J. Int. L. Mod. L. Rev. MünchKomm m. w. N.

Moniteur Belge Mercer Law Review Michigan Journal of International Law Modern Law Review Münchener Kommentar mit weiteren Nachweisen

n. n° NJA NJW NJW-RR No. NomosKomm Nr. NZA NZG

numero numéro/número Nytt Juridiskt Arkiv Neue Juristische Wochenschrift Neue Juristische Wochenschrift Rechtsprechungs-Report Number Nomos Kommentar Nummer Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht

OGH OLG

Oberster Gerichtshof Oberlandesgericht

Pasic. PWW

Pasicrisie belge Prütting, Hanns/Wegen, Gerhard/Weinreich, Gerd (Hrsg.): BGB Kommentar

QPC

Question prioritaire de constitutionnalité

Abkürzungsverzeichnis R. RabelsZ RC RdA Rec. red. Rép. dr. civ. RG RGZ RIDC RIS RIW RL Rn. Rom I Rom II Rs. RTD Civ. s. S. S.I. SchwarzArbG

XXXIII

Règlement Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Recurso Recht der Arbeit Recueil des décisions du Conseil constitutionnel redigerad av Répertoire de droit civil Reichsgericht Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Revue internationale de droit comparé Rechtsinformationssystem des Bundes Recht der Internationalen Wirtschaft Richtlinie Randnummer Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht Rechtssache Revue trimestrielle de droit civil

SCAN Slg. StGG SASTJ

section Satz Statutory Instrument Gesetz zur Bekämpfung der Schwarzarbeit und illegalen Beschäftigung Social Cognitive and Affective Neuroscience Sammlung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Österreichisches Staatsgrundgesetz Sumários de Acórdãos do Supremo Tribunal de Justiça

u. a. UKHL UKPC UKSC Urt. UWG

unter anderem/und andere United Kingdom House of Lords United Kingdom Privy Council United Kingdom Supreme Court Urteil Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb

v. verb. Rs. VersR VfGH VfSlg.

von/vom verbundene Rechtssachen Versicherungsrecht Verfassungsgerichtshof Österreich Sammlung der Erkenntnisse und wichtigsten Beschlüsse des Verfassungsgerichtshofes/Ausgewählte Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes (seit 2012) vergleiche Volume

vgl. Vol.

XXXIV

Abkürzungsverzeichnis

VUR VVG

Verbraucher und Recht Versicherungsvertragsgesetz

WiRO WM WRP

Wirtschaft und Recht in Osteuropa Wertpapier-Mitteilungen Wettbewerb in Recht und Praxis

Yale L. J. Y.B. ILC

Yale Law Journal Yearbook of the International Law Commission

z. B. ZaöRV ZEuP ZEuS ZfPW ZHR ZIP ZKG ZPO ZRG GA

zum Beispiel Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für Europäisches Privatrecht Zeitschrift für Europarechtliche Studien Zeitschrift für die gesamte Privatrechtswissenschaft Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht Zeitschrift für Wirtschaftsrecht und Insolvenzpraxis Zahlungskontengesetz Zivilprozessordnung Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte Germanistische Abteilung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft Zeitschrift für Zivilprozess

ZRP ZVglRWiss ZZP

Einleitung Einleitung

Nur wenige Erfindungen dominieren und erleichtern den menschlichen Alltag in gleicher Weise wie der Vertrag: „Comme la roue, le contrat est l’une des créations les plus utiles et les plus simples de l’Humanité“.1 Statt auf das Recht des Stärkeren oder eine prästabilierte Gesellschaftsordnung baut der Vertrag bei der Organisation privatrechtlicher Rechtsverhältnisse zuvörderst auf den Konsens seiner Parteien.2 Konsens kann indes regelmäßig nur über Inhalte erzielt werden, die den Interessen beider Seiten Rechnung tragen. Das Instrument des Vertrags entfaltet somit besondere Überzeugungskraft, weil es eine autonome und bedürfnisgerechte Ordnung der Rechtsbeziehungen ermöglicht. Vor diesem Hintergrund gilt auch die Freiheit, Verträge zu schließen und zu gestalten, vielen als „principe qui va de soi“.3 Warum also ist die Vertragsfreiheit in der Europäischen Union ebenso wie im deutschen Bürgerlichen Recht überhaupt ein Thema? A. Ausgangslage und Anlass der Untersuchung A. Ausgangslage und Anlass der Untersuchung

Zunächst ist das „Problem der Freiheit“ die zentrale Frage jedes Privatrechtssystems: Wie viel Autonomie ist den Akteuren insbesondere im Vertragsrecht zuzuerkennen und wo sind die Grenzen zu ziehen?4 Im Schuldvertragsrecht der EU wird die Beantwortung dadurch erschwert, dass die Vertragsfreiheit als Dreh- und Angelpunkt dieses Freiheitsproblems beim derzeitigen Stand in der Unionsrechtsordnung kaum fassbar ist (I). Dies wirkt sich unmittelbar auf die Gestaltung, Auslegung und auf die Handhabung dieser Materie aus: Solange die Vertragsfreiheit als Kompass fehlt, sind Rechtszersplitterung, Inkohärenz und freiheitsbegrenzende Tendenzen ebenso naheliegende wie unerwünschte Folgen (II). Mousseron, Technique contractuelle (2010), S. 18. Bereits Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797, 1907), AA VI, S. 271 zeigt auf, dass nur durch den Vertrag der Zugang zu fremden Gütern ohne Eigenmacht und ohne äußeren Zwang möglich ist. Dem Gütererwerb durch „eigenmächtig[es]“ Handeln und „rechtswidrige That“ stellt Kant pointiert den konsensualen Erwerb gegenüber: „Der Act der vereinigten Willkür zweier Personen, wodurch überhaupt das Seine des Einen auf den Anderen übergeht, ist der Vertrag“. 3 Vgl. Jamin, in: ders. / Mazeaud (éd.), La nouvelle crise du contrat (2003), S. 7, 18. 4 Vgl. Hallstein, Wiederherstellung des Privatrechts (1946), S. 6 f. 1 2

2

Einleitung

Diese Entwicklungen betreffen auch das deutsche Bürgerliche Recht, weil das EU-Schuldvertragsrecht tief in das BGB hineinwirkt: Beispielsweise sind weite Teile der Klauselkontrolle, des Kaufrechts, der Verzugszinsregelungen und des Finanzdienstleistungsvertragsrechts unionsrechtlich determiniert. Zudem erfassen die zahlreichen Diskriminierungsverbote des EU-Privatrechts nahezu das gesamte deutsche Vertragsrecht von Arbeits-, Versicherungs- und Bankverträgen über Mietverträge bis hin zu Werk- und Kaufverträgen. Ein Rückgriff auf mitgliedstaatliche Verbürgungen der Vertragsfreiheit hilft hier kaum weiter, da diese weder den Unionsgesetzgeber noch den zur letztverbindlichen Auslegung des EU-Schuldvertragsrechts berufenen EuGH binden. Vor allem werden solche nationalen Garantien im Anwendungsbereich des Unionsrechts zunehmend überlagert und zurückgedrängt: Je mehr das EU-Privatrecht also seinen Einfluss auf das deutsche Schuldvertragsrecht ausbaut, desto kleiner werden die Bereiche, in denen die mitgliedstaatliche Vertragsfreiheit den Ton angeben kann (III). Zugleich forciert der EuGH eine einseitige Konstitutionalisierung des Unionsprivatrechts (IV) und trägt Gleichheitsgrundrechte in das Vertragsrecht hinein. Ohne eine sichtbare und umfassende unionsrechtliche Verbürgung der Vertragsfreiheit fehlt dem Schuldvertragsrecht der EU daher nicht nur eine klare Leitlinie, sondern auch ein Gegengewicht zu solchen autonomiebegrenzenden Entwicklungen. Vor diesem Hintergrund ist die Verortung und Konturierung der Vertragsfreiheit im geltenden Recht der Europäischen Union nicht weniger als die Lebensfrage der – mitgliedstaatlichen und unionalen – Privatrechtsordnungen (V). Von ihrer Beantwortung hängt ab, „ob es gelingt, die rechtsgeschäftliche Privatautonomie als Mittel individueller Gestaltung zu bewahren und zugleich ihre Funktionen und ihre Grenzen innerhalb der Rechtsordnung zu bestimmen“.5

I.

Hypotrophie der Vertragsfreiheit im Unionsrecht

Die Vertragsfreiheit ist in der einer „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ verpflichteten Europäischen Union unverzichtbar: Die Preisbildung entsprechend Angebot und Nachfrage ebenso wie der Wettbewerb setzen voraus, dass die Marktakteure nach ihren individuellen Präferenzen über den Vertragsschluss, die Auswahl ihres Vertragspartners und den Vertragsinhalt frei entscheiden können.6 Neben der Eigentumsgarantie und den Grund-

5 Mestmäcker, JZ 1964, 441, 443. Prägnant formuliert auch Jamin, in: ders. / Mazeaud (éd.), La nouvelle crise du contrat (2003), S. 7, 18: „[L]a liberté contractuelle […] et sa portée sont au cœur de la problématique du droit des contrats“. 6 Vgl. GA Kokott Schlussanträge v. 17.9.2009 – Rs. C-441/07 P (Kommission / Alrosa), Slg. 2010, I-5949 Rn. 225. So zuvor allgemein schon Mestmäcker, JZ 1964, 411, 443;

A. Ausgangslage und Anlass der Untersuchung

3

freiheiten zählt die rechtsgeschäftliche Privatautonomie7 zu den Angeln, in denen die Tür zum Binnenmarkt schwingt: Erst diese Gewährleistungen ermöglichen private Initiative und ungehinderten Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen in der EU. Obschon das Unionsrecht so offenkundig auf „das Zusammenspiel von Markt und Vertragsfreiheit“ setzt8 und die Grundfreiheiten sowie der Schutz des freien Wettbewerbs an prominenter Stelle in den Verträgen verankert sind, enthalten weder das primäre noch das sekundäre Unionsrecht explizite Garantien der Vertragsfreiheit.9 Die Bezugnahmen des EuGH wirken bislang eher zufällig, und das geschriebene Unionsrecht bietet allenfalls insularen und reflexhaften Schutz.10 Insbesondere greift der überkommene Verweis auf Canaris, FS Lerche (1993), S. 873, 890; Basedow, AcP 200 (2000), 445, 485 ff.; G. Wagner, in: Blaurock / Hager (Hrsg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), S. 13, 16 f. 7 Wenn der an das deutsche Bürgerliche Recht angelehnte Begriff der „rechtsgeschäftlichen Privatautonomie“ im Folgenden zur Vermeidung von Wiederholungen synonym zur Vertragsfreiheit gesetzt wird, findet diese Terminologie durchaus eine Stütze im Unionsrecht, da das Rechtsgeschäft dort regelmäßig eine vertragliche Transaktion bezeichnet, vgl. nur Erwägungsgrund Nr. 6, Art. 7 Abs. 4 lit. e Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken), ABl. 2005 L 149/22; Erwägungsgründe Nr. 20, 34 und Art. 7 Abs. 2 und Abs. 3 Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20. Januar 2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (EG-Fusionskontrollverordnung), ABl. 2004 L 24/1. Ebenso etwa EuG Urt. v. 11.12.2013 – Rs. T-79/12 (Cisco Systems / Kommission), EU:T:2013:635 Rn. 93. Dies gilt freilich nicht ausnahmslos, und teilweise variieren die Wortbedeutungen sogar in ein und demselben Rechtsakt, vgl. z. B. einerseits die jeweiligen Sprachfassungen der Erwägungsgründe Nr. 19, 44 und andererseits des Art. 59 Verordnung (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses, ABl. 2012 L 201/107; Art. 18 Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I), ABl. 2008 L 177/6 („Rechtsgeschäft“, „contract or an act intended to have legal effect“, „actes juridiques“). 8 Vgl. bereits EuGH Urt. v. 13.5.1981 – Rs. 66/80 (International Chemical Corporation), Slg. 1981, 1191 Rn. 23. 9 Diesen Befund teilt bereits mit Blick auf den EWG-Vertrag Basedow, Von der deutschen zur europäischen Wirtschaftsverfassung (1992), S. 52. 10 Ebenso Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85, 89 ff.; Herresthal, in: Ziegler / Huber (eds.), Current Problems in the Protection of Human Rights (2013), S. 89, 99 und 101. Siehe zur lückenhaften Verbürgung der Vertragsfreiheit im kodifizierten Unionsrecht noch eingehend unten Kapitel 2 § 1.

4

Einleitung

die europäischen Grundfreiheiten als Hort der Vertragsfreiheit zu kurz: Die Verkehrsfreiheiten vermögen die rechtsgeschäftliche Privatautonomie – wenn überhaupt – nur in binnenmarktrelevanten Konstellationen zu gewährleisten, während das Unionsprivatrecht längst auch „rein“ innerstaatliche Sachverhalte umfassend regelt.11 Wenn bereits im Ausgangspunkt ungewiss ist, welche Freiheit durch das EU-Privatrecht überhaupt verwirklicht, beschränkt oder in sonstiger Weise ausgestaltet werden soll, drohen nicht nur inkohärente, sondern auch überbordende Beschränkungen. II. Orientierungsarmut und interventionistische Tendenzen des Unionsprivatrechts Der privatrechtliche Teil des acquis communautaire hat sich zu einer eigenständigen, wenn auch heterogenen Rechtsmaterie, dem Unionsprivatrecht,12 entwickelt: Es umfasst alle material-privatrechtsrelevanten Regelungen, die ihren Geltungsgrund im Recht der EU haben.13 Insbesondere das unionale Schuldvertragsrecht überformt das mitgliedstaatliche Privatrecht in mannigfaltiger Weise: Das Spektrum sekundärrechtlicher Regelungen reicht beispielsweise vom Verbraucher-, Arbeits- und Antidiskriminierungsrecht über das Finanzdienstleistungsvertragsrecht bis hin zu Vorschriften, die, wie etwa diejenigen der Zahlungsverzugsrichtlinie,14 ausschließlich gewerbliche Akteure betreffen. Darüber hinaus wirkt auch das unionale Primärrecht auf das Vertragsrecht ein.15 Die unterschiedlichen Regelungen verbindet häufig allein 11 Dazu noch eingehend unten Kapitel 2 § 1 A I 2. Wie hier Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85, 90. Für die Herleitung der Vertragsfreiheit aus den Grundfreiheiten plädieren dagegen z. B. Schmidt-Leithoff, FS Rittner (1991), S. 597, 606; v. Wilmowsky, JZ 1996, 590, 591; Szczekalla, DVBl. 2005, 286, 287; Busseuil, Contribution à l’étude de la notion de contrat en droit privé européen (2009), S. 202; Mohr, Sicherung der Vertragsfreiheit durch Wettbewerbs- und Regulierungsrecht (2015), S. 113 f. 12 Statt vieler Müller-Graff, in: ders. / Zuleeg (Hrsg.), Staat und Wirtschaft in der EG (1987), S. 17, 37 ff.; Basedow, in: ders. / Hopt / Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009), S. 680; Herresthal, ZEuP 2014, 238, 258 f. 13 Siehe zur Definition des Unionsprivatrechts und zur Abgrenzung gegenüber dem Konventionsprivatrecht sowie dem gemeineuropäischen Privatrecht statt aller Basedow, in: ders. / Hopt / Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009), S. 680 ff., der zudem darauf verweist, dass die einheitliche Geltung in allen Mitgliedstaaten schon deshalb kein Wesensmerkmal des Unionsprivatrechts ist, weil den Mitgliedstaaten zum einen oftmals Gestaltungsspielräume verbleiben und Divergenzen zum anderen auch im System der verstärkten Zusammenarbeit gemäß Art. 20 EUV und Art. 326, 327 sowie 329 AEUV angelegt sind. 14 Richtlinie 2011/7/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr, ABl. 2011 L 48/1. 15 Vgl. etwa Art. 101 AEUV und Art. 157 AEUV. Wie GA Dutheillet de Lamothe Schlussanträge v. 29.4.1971 – Rs. 80/70 (Defrenne I), Slg. 1971, 445, 455 f. zu Recht

A. Ausgangslage und Anlass der Untersuchung

5

das Binnenmarktziel als kleinster gemeinsamer Nenner.16 Dieses Ziel bietet für sich genommen freilich wenig Orientierung für eine umfassende und kohärente Ausdifferenzierung des EU-Schuldvertragsrechts.17 Die fragmentarische Natur des Unionsprivatrechts gründet nicht zuletzt darin, dass die EU nur über insulare Rechtsetzungskompetenzen im Privatrecht verfügt, die eng mit bestimmten Politiken verzahnt sind.18 Entsprechend sucht man im Unionsprivatrecht eine explizite, auf das gesamte Schuldvertragsrecht bezogene Verbürgung der Vertragsfreiheit – wie etwa § 311 Abs. 1 BGB oder Art. 1102 französischer Code civil19 – vergebens. Und eine auf den jeweiligen Anwendungsbereich des Unionsprivatrechts beschränkte Normierung liegt betont, war das nunmehr in Art. 157 AEUV enthaltene Verbot der Entgeltdiskriminierung ursprünglich wettbewerbspolitisch motiviert. In den 1970er-Jahren trug der EuGH es jedoch unmittelbar in privatrechtliche Beziehungen hinein, vgl. insbesondere die – freilich einen staatlichen Arbeitgeber betreffende – Entscheidung EuGH Urt. v. 8.4.1976 – Rs. 43/ 75 (Defrenne II), Slg. 1976, 455 Rn. 4 ff. Vgl. sodann zur Erstreckung auf private Arbeitgeber nur EuGH Urt. v. 31.3.1981 – Rs. 96/80 (Jenkins), Slg. 1981, 911 Rn. 18 ff.; EuGH Urt. v. 17.5.1990 – Rs. C-262/88 (Barber), Slg. 1990, I-1889 Rn. 19 f.; EuGH Urt. v. 6.10.1993 – Rs. C-109/91 (Ten Över), Slg. 1993, I-4879 Rn. 11 ff.; EuGH Urt. v. 28.9.1994 – Rs. C-200/91 (Coloroll), Slg. 1994, I-4389 Rn. 18 ff. Zum Ganzen statt vieler Calliess / Ruffert / Krebber (2016), Art. 157 AEUV Rn. 1 und 5 ff.; Riesenhuber, in: ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre (2015), § 10 Rn. 1. 16 Vgl. zum Binnenmarktbezug als Wesensmerkmal des Unionsprivatrechts statt aller Jansen, in: Basedow / Hopt / Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009), S. 548, 550. 17 Basedow, AcP 200 (2000), 449, 485 f. bemerkt daher treffend, dass es dieser Materie „an einer zentralen Idee bzw. einer grundlegenden Wertung“ fehle. Mit Blick auf die Rechtsetzungspraxis im Unionsprivatrecht räumt auch die Europäische Kommission, Grünbuch zur Überprüfung des gemeinschaftlichen Besitzstandes im Verbraucherschutz vom 8.2.2007, KOM(2006) 744 endg., S. 9 f. ein, dass die bisherige „Vorgehensweise […] zu einer Rechtszersplitterung geführt“ hat. 18 Vgl. neben den binnenmarktfokussierten Kompetenznormen in Art. 114 und 115 AEUV nur Art. 19 und 153 (Antidiskriminierungsrecht), Art. 50 Abs. 2 lit. g (Gesellschaftsrecht), Art. 81 (Kollisions- und Zuständigkeitsrecht); Art. 91 und 100 (Transportrecht), Art. 103 (Wettbewerbsrecht) und Art. 118 (einheitliche Schutzrechte des geistigen Eigentums) sowie schließlich auch die Kompetenzergänzungsklausel in Art. 352 AEUV. Siehe hierzu sowie zum grundsätzlichen Marktbezug dieser Kompetenztitel statt aller Basedow, in: ders. / Hopt / Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009), S. 680, 682; ders., AcP 210 (2010), 158, 164 ff. Kompetenzgrundlagen, die das gesamte Privatrecht umfassen, finden sich nämlich weder in den Gründungsverträgen noch im Vertrag von Lissabon, vgl. statt vieler Schwartz, ZEuP 1994, 559, 570; Basedow, AcP 210 (2010), 158, 164 ff. 19 Diese im Zuge der französischen Schuldrechtsreform im Jahr 2016 eingefügte Vorschrift lautet: „Chacun est libre de contracter ou de ne pas contracter, de choisir son cocontractant et de déterminer le contenu et la forme du contrat dans les limites fixées par la loi. La liberté contractuelle ne permet pas de déroger aux règles qui intéressent l’ordre public“.

6

Einleitung

dem Unionsgesetzgeber wohl nicht zuletzt deshalb fern, weil die Einzelrechtsakte häufig Regelungen enthalten, die in erster Linie auf die Verkürzung der Vertragsfreiheit zumindest einer Partei zielen. So besehen, ist im Unionsrecht die „Geschichte der Vertragsfreiheit […] die ihrer Beschränkung“.20 Nicht selten hebt das EU-Privatrecht dabei die Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit sogar vollständig auf: Z.B. dürfen Kreditinstitute nach Art. 15 und Art. 16 Zahlungskontenrichtlinie21 Verbrauchern den Abschluss bestimmter Kontoverträge grundsätzlich nicht verweigern. Damit wird die Freiheit der Kreditinstitute, ihren Vertragspartner nach kaufmännischen Kriterien – insbesondere nach Bonität – auszuwählen, negiert. Mag es dafür auch gute Gründe geben,22 so ist es doch frappierend, dass weder im Gesetzgebungsverfahren noch in der Richtlinie die Vertragsfreiheit der Kreditinstitute Erwähnung findet. Hier offenbart sich ein grundlegender Webfehler im Netz des Unionsprivatrechts, der zum „Problem der Freiheit“23 zurückführt: Wie kann die Unionsrechtsordnung die rechtsgeschäftlichen Freiheitssphären der jeweiligen Akteure im Vertragsrecht wahren und gestalten, wenn die Vertragsfreiheit als unverzichtbarer Bezugspunkt des EU-Schuldvertragsrechts weder hinreichend konturiert noch überhaupt sichtbar ist? Wo immer das Unionsrecht auf das Vertragsrecht einwirken soll, muss in einem ersten Schritt nach der Gewährleistung und dem Schutzbereich der Vertragsfreiheit und erst in einem zweiten Schritt nach der vor diesem Hintergrund sachgerechten Ausgestaltung und etwaigen Begrenzung der Vertragsfreiheit gefragt werden. Mangels eindeutiger Anbindung der unionalen Vertragsfreiheit ist es wenig überraschend, dass sowohl der Unionsgesetzgeber als auch der EuGH diesen ersten Schritt in aller Regel überspringen und direkt auf die Ausgestaltung und insbesondere die Beschränkung der Vertragsfreiheit, etwa im Namen bestimmter „Schutzanliegen“, abstellen. Um zu stimmigen Ergebnissen und einem geschlossenen System des unionalen Schuldvertragsrechts zu gelangen, müsste indes zunächst logisch vorrangig geklärt werden, was überhaupt ausgestaltet und eingehegt werden soll. Solange Standort und Gewährleistungsgehalt der Vertragsfreiheit im Unionsrecht unklar sind, drängt sich daher die Frage auf, ob die Freiheitsverbürgungen des mitgliedstaatlichen Rechts in die Bresche springen können.

Leisner, Grundrechte und Privatrecht (1960), S. 323 f. Richtlinie 2014/92/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Juli 2014 über die Vergleichbarkeit von Zahlungskontoentgelten, den Wechsel von Zahlungskonten und den Zugang zu Zahlungskonten mit grundlegenden Funktionen, ABl. 2014 L 257/214. 22 Dazu statt vieler Hopt, Handelsblatt v. 16.7.2013, S. 11. 23 Vgl. Hallstein, Wiederherstellung des Privatrechts (1946), S. 6 f. und siehe erneut oben A. 20 21

A. Ausgangslage und Anlass der Untersuchung

7

III. Zurückdrängung mitgliedstaatlicher Garantien der Vertragsfreiheit durch Unionsprivatrecht Da das Unionsprivatrecht zumeist nur punktuelle Regelungen für bestimmte Sachmaterien trifft, beherrscht das nationale Recht grundsätzlich die verbleibenden Fragen. Damit ist es auf den ersten Blick Sache der Mitgliedstaaten, die rechtsgeschäftliche Privatautonomie auch im Anwendungsbereich des EU-Privatrechts zu gewährleisten, soweit die Unionsrechtsakte zur Vertragsfreiheit schweigen. Doch baut das EU-Privatrecht ebenso wie das durch dieses harmonisierte mitgliedstaatliche Schuldvertragsrecht tatsächlich auf die „Vertragsfreiheit der Parteien, so wie sie im Rahmen des […] nationalen Rechts besteht“?24 Bei näherer Betrachtung ist mit dem Verweis auf nationale Freiheitsverbürgungen wenig gewonnen, gleichviel, ob es sich um nationale Grundrechte oder aber um die Vertragsfreiheit als Rechtsgrundsatz des mitgliedstaatlichen Privatrechts handelt. 1. Unionsgrundrechte überlagern nationale Freiheitsrechte In der deutschen Rechtsordnung ist die Vertragsfreiheit als Facette der allgemeinen Handlungsfreiheit durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützt, sofern nicht speziellere Grundrechte eingreifen.25 Wo unionsrechtliche Vorgaben bestehen, kann die im deutschen Grundgesetz angelegte Garantie der Vertragsfreiheit jedoch nicht gegen einen Unionsrechtsakt in Stellung gebracht werden: Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH sind Unionsrechtsakte nicht am Maßstab mitgliedstaatlicher Grundrechte zu prüfen.26 Dies folgt aus den EiVgl. zu einer solchen Annäherung an die Vertragsfreiheit EuGH Urt. v. 7.9.2006 – Rs. C-125/05 (Vulcan Silkeborg), Slg. 2006, I-1451 Rn. 47; EuGH Urt. v. 18.1.2007 – Rs. C-421/05 (City Motors Groep), Slg. 2007, I-653 Rn. 24. In diesem Sinne meinte bereits Rittner, JZ 1990, 838, 841, die EU baue „auf dem Privatrecht der Mitgliedstaaten, genauer: auf der privatautonomen Rechtsgestaltung durch den Einzelnen auf “ (Herv. im Original). In diese Richtung deuten auch Streinz / Leible, EuZW 2000, 459, 465, wenn sie einerseits meinen, das Unionsprivatrecht beruhe „auf der Privatautonomie als dem gemeinsamen Fundament der mitgliedstaatlichen Privatrechtsordnungen“, und andererseits ausführen, dass sich der Eigenbeitrag des Unionsrechts zum Schutz der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie darin erschöpfe, die Vertragsfreiheit mithilfe der Grundfreiheiten auch über Grenzen hinweg zu erstrecken. 25 Z. B. BVerfG Beschl. v. 19.10.1993 – Az. 1 BvR 567/89 u. a., BVerfGE 89, 214, 229 ff.; BVerfG Urt. v. 6.2.2001 – Az. 1 BvR 12/92, BVerfGE 103, 89, 100; BVerfG Beschl. v. 13.5.2015 – Az. 1 BvQ 9/15, NJW 2015, 1815, 1817. Siehe zu spezielleren Verbürgungen der Vertragsfreiheit – z. B. in Art. 12 GG – nur BVerfG Beschl. v. 12.12.2006 – Az. 1 BvR 2576/04, BVerfGE 117, 163, 181; BVerfG Beschl. v. 6.7.2010 – Az. 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286, 300 und 313 ff. 26 Vgl. nur EuGH Urt. v. 17.12.1970 – Rs. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft), Slg. 1970, 1125 Rn. 3. Siehe aus jüngerer Zeit nur EuGH Urt. v. 8.9.2010 – Rs. C-409/06 (Winner Wetten), Slg. 2010, I-8015 Rn. 61. Dazu statt aller Jarass (2016), Art. 53 GRCh 24

8

Einleitung

gengesetzlichkeiten des „ordre juridique propre“27 der Europäischen Union, die im Interesse ihrer Kohärenz nur ihre autonomen Rechtsinstitute als Leitlinie heranzieht. Würden nämlich Unionsrechtsakte an den nationalen Grundrechten gemessen und gegebenenfalls für unwirksam erklärt, drohte die Einheitlichkeit des Unionsrechts zerstört zu werden.28 Vorrangiger und oftmals auch alleiniger Kontrollmaßstab ist hier die Unionsrechtsordnung einschließlich der darin verbürgten Grundrechte.29 Nunmehr sind die Europäische Union und unter bestimmten Voraussetzungen auch ihre Mitgliedstaaten an die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh)30 gebunden. Hinzu treten die ungeschriebenen Unionsgrundrechte im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EVU.31 Laut EuGH sind „keine FallRn. 9. Laut EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-399/11 (Melloni), EU:C:2013:107 Rn. 58 f. würde die Kontrolle am Maßstab nationaler Grundrechte „gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verstoßen, da sie es einem Mitgliedstaat erlauben würde, die Anwendung von mit der Charta vollständig im Einklang stehenden Unionsrechtsakten zu verhindern, wenn sie den in der Verfassung dieses Staats garantierten Grundrechten nicht entsprächen“. 27 Diese bekannte Wendung geht auf die französischsprachige Fassung der Entscheidung des EuGH Urt. v. 15.7.1964 – Rs. 6/64 (Costa / E.N.E.L.), Slg. 1964, 1149, 1158, zurück. 28 Laut EuGH Urt. v. 13.12.1979 – Rs. 44/79 (Hauer), Slg. 1979, 3727 Rn. 14 kann „die Frage einer etwaigen Verletzung der Grundrechte durch eine Handlung der Gemeinschaftsorgane nicht anders als im Rahmen des Gemeinschaftsrechts beurteilt werden. Die Aufstellung besonderer, von der Gesetzgebung oder der Verfassungsordnung eines bestimmten Mitgliedstaates abhängiger Beurteilungskriterien würde die materielle Einheit und die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts beeinträchtigen und hätte daher unausweichlich die Zerstörung der Einheit des gemeinsamen Marktes und eine Gefährdung des Zusammenhalts der Gemeinschaft zur Folge“. Deutlich jüngst auch EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 29; EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-399/11 (Melloni), EU:C:2013:107 Rn. 60: Durch nationale Grundrechte dürfe „weder das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden“. 29 Vgl. wiederum EuGH Urt. v. 17.12.1970 – Rs. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft), Slg. 1970, 1125 Rn. 3. Siehe aus jüngerer Zeit nur EuGH Urt. v. 8.9.2010 – Rs. C409/06 (Winner Wetten), Slg. 2010, I-8015 Rn. 61; EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-399/11 (Melloni), EU:C:2013:107 Rn. 59 ff. Siehe mit Blick auf den Schutz der Vertragsfreiheit auch Herresthal, in: Ziegler / Huber (eds.), Current Problems in the Protection of Human Rights (2013), S. 89, 94. 30 ABl. 2007 C 303/1. 31 Der EuGH zieht in seiner ständigen Rechtsprechung überdies die Grundrechte der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) heran und ist hierzu unter Geltung der Charta auch fortan durch Art. 52 GRCh gehalten: Nach dieser Norm sollen zumindest inhaltsgleiche Grundrechte der GRCh und der EMRK in der Regel übereinstimmend ausgelegt werden. Darüber hinaus sieht Art. 6 Abs. 2 EUV den Beitritt der EU zur EMRK vor, jedoch erscheint dieser Beitritt beim derzeitigen Stand unwahrscheinlich, vgl. EuGH Gutachten v. 18.12.2014 – Gutachtenverfahren 2/13 (EMRK-Beitritt II), EU:C:2014:2454. Vgl. schon zuvor EuGH Gutachten v. 28.3.1996 – Gutachtenverfahren C-2/94 (EMRK-Beitritt I), Slg. 1996, I-1759.

A. Ausgangslage und Anlass der Untersuchung

9

gestaltungen denkbar, die vom Unionsrecht erfasst würden, ohne dass diese Grundrechte anwendbar wären“.32 Soweit eine unionsprivatrechtliche Regelung existiert, wirft sie also einen unionsgrundrechtlichen Schatten. Entsprechend werden mitgliedstaatliche Freiheitsverbürgungen zurückgedrängt33 und können daher beispielsweise auch keinem der in Art. 21 GRCh normierten zahlreichen Diskriminierungsverbote entgegengehalten werden.34 Dies hat nun auch das deutsche Bundesverfassungsgericht in seinem HoneywellBeschluss mit Blick auf die Gewährleistung der Vertragsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 bzw. Art. 12 Abs. 1 GG bestätigt.35 32 EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-390/12 (Pfleger), EU:C:2014:281 Rn. 34 (Herv. d. Verf.). EuGH Urt. v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 (Association de médiation sociale), EU:C: 2014:2 Rn. 42 verallgemeinert dies dahingehend, „dass nach ständiger Rechtsprechung die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen Anwendung finden“. Dieser lückenlose Schutz durch die Unionsgrundrechte ist nicht zuletzt durch die „Solange“-Rechtsprechungslinie verschiedener mitgliedstaatlicher Verfassungsgerichte motiviert, siehe zu diesem Zusammenhang nur P.M. Huber, in: v. Bogdandy / Cruz Villalón / P. M. Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum II (2008), § 26 Rn. 65 ff. m. w. N. 33 Insoweit haben auch und gerade die Unionsgrundrechte am Vorrang des Unionsrechts teil, siehe nur EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-399/11 (Melloni), EU:C:2013:107 Rn. 58 f. Deutlich auch Lenaerts, EuR 2015, 3, 24: „Unter der Voraussetzung, dass der Unionsrechtsakt […] mit primärem Unionsrecht, insbesondere der Charta, im Einklang steht, müssen nationale Gerichte entgegenstehende nationale Vorschriften, einschließlich solcher von Verfassungsrang, unbeachtet lassen“. Nationale Grundrechte können nur dort neben den Unionsgrundrechten herangezogen werden, wo das „Handeln eines Mitgliedstaats nicht vollständig durch das Unionsrecht bestimmt wird“, EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-399/11 (Melloni), EU:C:2013:107 Rn. 60. In jedem Fall darf durch den Rückgriff auf nationale Grundrechte „weder das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden“, siehe nur EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 29. Dazu statt vieler Wollenschläger, in: Hatje / Müller-Graff (Hrsg.), EnzEuR I: Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht (2014), § 8 Rn. 24; Kingreen, JZ 2013, 801, 803 f.; Jarass (2016), Art. 53 GRCh Rn. 10. 34 Dies übersehen mitgliedstaatliche Gerichte indes häufig, vgl. z. B. BAG Urt. v. 28.5.2009 – Az. 8 AZR 536/08, NJW 2009, 3672, 3677 (Prüfung anhand von Art. 2 Abs. 1 GG). Gleiches gilt für das Schrifttum, vgl. nur Regenfuß, JZ 2016, 1140, 1146 (Prüfung unionsrechtlich fundierter Verbraucherwiderrufsrechte am Maßstab des Art. 2 Abs. 1 GG). Demgegenüber ging im versicherungsvertragsrechtlichen Kontext jüngst BGH Urt. v. 12.3.2014 – Az. IV ZR 295/13, VersR 2014, 567, 570 „europarechtlichen Bedenken unter dem Gesichtspunkt der Vertragsfreiheit“ nach (Herv. d. Verf.). 35 Mit Blick auf die Mangold-Entscheidung des EuGH verneint BVerfG Beschl. v. 6.7.2010 – Az. 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286, 300 ff. ein ultra-vires-Handeln der Union und prüft deshalb eine etwaige unverhältnismäßige Verkürzung der durch das Grundgesetz garantierten Vertragsfreiheit nicht. Vgl. aber auch das abweichende Votum des Richters Landau in besagtem Honywell-Beschluss in BVerfGE 126, 286, 319 ff., wonach die Vertragsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 bzw. Art. 2 Abs. 1 GG als Schranke des im

10

Einleitung

Wenn die nationalen Verbürgungen der Vertragsfreiheit im unionsrechtlichen Kontext derart zahnlos bleiben, greift eine Konzeption der Vertragsfreiheit im Binnenmarkt notwendig zu kurz, die allein auf die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zurückfällt. Vor allem lässt sich ein wirksamer und lückenloser Schutz der Vertragsfreiheit in der Unionsrechtsordnung schon deshalb nicht durch mitgliedstaatliche Garantien sicherstellen, weil weder der EUGesetzgeber beim Erlass noch der EuGH bei der verbindlichen Auslegung und Anwendung des EU-Schuldvertragsrechts an nationale Freiheitsverbürgungen gebunden sind. 2. Vorrang unionsprivatrechtlicher Rechtsgrundsätze Soweit selbst nationale Grundrechte nicht gegenüber unionsrechtlichen Regelungen in Stellung gebracht werden können, muss dies erst recht auch für einfachgesetzliche mitgliedstaatliche Regelungen und Grundsätze gelten, wie z. B. die in § 311 Abs. 1 BGB und Art. 1102 französischer Code civil explizierte Vertragsfreiheit. Schließlich darf laut EuGH „die Geltung des Unionsrechts in einem Mitgliedstaat nicht dadurch beeinträchtigt werden, dass dieser Staat Vorschriften des nationalen Rechts, und haben sie auch Verfassungsrang, geltend macht“.36

Entsprechend können mitgliedstaatliche Gerichte unionsprivatrechtlich determinierte Regelungen selbst bei etwaigen Unklarheiten oder Lücken nicht einfach unter Verweis auf einen das nationale Schuldvertragsrecht beherrschenden Grundsatz der Vertragsfreiheit restriktiv – und damit freiheitsfreundlich – auslegen und anwenden.37 Vielmehr ist auch hier die „Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts […] dem System des AEU-Vertrags immanent, da es den nationalen Gerichten dadurch ermöglicht wird, […] die volle Wirksamkeit des Unionsrechts sicherzustellen“.38

unionsrechtlichen Primärrecht angesiedelten – und nunmehr auch in Art. 21 GRCh positivierten – Grundsatzes der Nichtdiskriminierung aufgrund des Alters durchgreifen soll. 36 EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-399/11 (Melloni), EU:C:2013:107 Rn. 59 (Herv. d. Verf.). 37 Deutlich bereits EuGH Urt. v. 12.5.1998 – Rs. C-367/96 (Kefalas), Slg. 1998, I-2843 Rn. 22 f.: „[J]edoch ist daran zu erinnen, daß die Anwendung einer solchen nationalen Rechtsvorschrift nicht die volle Wirksamkeit und die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten beeinträchtigen darf […]. Insbesondere können die nationalen Gerichte bei der Beurteilung der Ausübung eines sich aus einer Gemeinschaftsbestimmung ergebenden Rechtes nicht die Tragweite dieser Bestimmung verändern oder die mit ihr verfolgten Zwecke vereiteln“. 38 Siehe aus der ständigen Rechtsprechung z. B. EuGH Urt. v. 24.1.2012 – Rs. C-282/ 10 (Dominguez), EU:C:2012:33 Rn. 24; EuGH Urt. v. 10.10.2013 – Rs. C-306/12 (Spedition Welter), EU:C:2013:650 Rn. 29. Dieses Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung ist dabei richtigerweise umfassend zu verstehen: Referenzpunkt kann sowohl ein

A. Ausgangslage und Anlass der Untersuchung

11

Jedenfalls soweit die Einheitlichkeit und praktische Wirksamkeit des Unionsrechts in Gefahr sind, verwehrt die Unionsrechtsordnung den Rückgriff auf einfachgesetzliche nationale Freiheitsverbürgungen. In der Rechtspraxis bemühen Gerichte indes häufig die Vertragsfreiheit als argumentative Stütze und Leitlinie. Ein solcher Bedarf besteht in besonderem Maße bei der Auslegung des nicht selten lückenhaften EU-Schuldvertragsrechts. Statt der Anwendung eines von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat potenziell unterschiedlichen nationalen Grundsatzes liegt es hier nahe, einen autonomen unionsprivatrechtlichen Rechtsgrundsatz der Vertragsfreiheit heranzuziehen.39 Alternativ käme eine unionsrechtskonforme Anwendung der natiRechtssatz des Primär- oder Sekundärrechts als auch beispielsweise ein allgemeiner Grundsatz des Unions(privat)rechts sein. In diese Richtung deuten z. B. auch W.-H. Roth /  Jopen, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre (2015), § 13 Rn. 9 f. Diese Lesart der unionsrechtskonformen Auslegung als Oberbegriff, unter den die primär-, sekundär- und potenziell auch unionsgrundrechtskonforme Auslegung fallen kann, hat bereits EuGH Urt. v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-403/01 u. a. (Pfeiffer u. a.), Slg. 2004, I-8835 Rn. 114 (richtlinienkonforme als Unterfall der unionsrechtskonformen Auslegung) angedeutet und sodann in seiner weiteren Entscheidungspraxis bestätigt: Beispielsweise zieht der Gerichtshof in der Rechtssache Kücükdeveci unter dem Banner der unionsrechtskonformen Auslegung nacheinander Sekundärrechtsakte, allgemeine Grundsätze des Unionsrechts bzw. Unionsgrundrechte als Maßstab heran, vgl. EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 48, 49 und 50. Deutlich auch EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 (Test-Achats), Slg. 2011, I-773 Rn. 28 und 32: „Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangt der Gleichbehandlungsgrundsatz, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleichbehandelt werden […]. Eine solche Bestimmung […] läuft der Verwirklichung des mit der Richtlinie 2004/113 verfolgten Ziels der Gleichbehandlung von Frauen und Männern zuwider und ist mit den Art. 21 und 23 der Charta unvereinbar“ (Herv. d. Verf.). Siehe zur unionsgrundrechtskonformen Auslegung des Privatrechts noch eingehend unten Kapitel 3 § 1 A III 2. 39 Dazu noch eingehend unten Kapitel 2 § 2 C I sowie Kapitel 3 § 1 B. Freilich hat der Gerichtshof bei der Herausbildung privatrechtlicher Rechtsgrundsätze bislang Zurückhaltung geübt, siehe nur Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 352 ff. In jüngerer Zeit rückt er solche Grundsätze nun allmählich stärker in den Fokus: Wo Regelungslücken oder Auslegungszweifel bestehen, können unionsprivatrechtliche Rechtsakte von den mitgliedstaatlichen Gerichten im Einklang mit den privatrechtlichen Rechtsgrundsätzen angewendet werden, vgl. nur EuGH Urt. v. 10.4.2008 – Rs. C-412/06 (Hamilton), Slg. 2008, I-2383 Rn. 42 (Vertragsdurchführung durch vollständige Erfüllung). Vgl. auch EuGH Urt. v. 3.9.2009 – Rs. C-489/07 (Messner), Slg. 2009, I-7315 Rn. 29, der mit Blick auf die „Grundsätz[e] des bürgerlichen Rechts wie […] Treu und Glauben oder […] ungerechtfertigt[e] Bereicherung“ zugleich betont, dass der Rückgriff auf solche Grundsätze nur insoweit möglich ist, als die „Zielsetzung […] und insbesondere die Wirksamkeit und die Effektivität“ des jeweiligen Unionsrechtsakts nicht beeinträchtigt wird. Vgl. ferner nur EuGH Urt. v. 18.7.2007 – Rs. C-277/ 05 (Société thermale), Slg. 2007, I-6415 Rn. 24 f. (Vertragstreue zählt zu den „allgemeinen Grundsätzen des Zivilrechts“); EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-280/13 (Barclays), EU:C:

12

Einleitung

onalen Rechtsgrundsätze in Betracht, wobei dies kaum zu einem unterschiedlichen Ergebnis führen dürfte, da ebenfalls nach einem der EU-Rechtsordnung eigenen Freiheitsmaß zu fragen wäre. Dessen Gehalt kann in jedem Fall nur der EuGH letztverbindlich bestimmen. Festzuhalten bleibt, dass nationale Garantien der Vertragsfreiheit das Unionsprivatrecht nicht leiten können. Doch statt die damit umso dringendere Frage nach unionsrechtlichen Freiheitsverbürgungen zu stellen, treibt der EuGH eine ihrer Stoßrichtung nach eher einseitige Konstitutionalisierung des EU-Schuldvertragsrechts voran. IV. Einseitige Konstitutionalisierung des Unionsprivatrechts Die grundrechtliche Durchdringung und Überformung des Privatrechts wird mit dem den Staatswissenschaften40 entlehnten Begriff der Konstitutionalisierung belegt.41 Das dahinterstehende Phänomen ist in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen seit längerem bekannt, obschon der Einwirkungsgrad grundrechtlicher Wertungen unterschiedlich ausfällt.42 Eine unionsrechtliche Dimension gewinnt die Konstitutionalisierung des Privatrechts durch die gemäß Art. 6 Abs. 1 EUV auf Ebene des Primärrechts angesiedelten Unionsgrundrechte der GRCh sowie durch die Grundrechte gemäß Art. 6 Abs. 3 EVU.43 Diese Unionsgrundrechte verlangen auch im gesamten EU-Privatrecht Beachtung, da die „in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen Anwendung finden“.44 In der 2014:279 Rn. 43 f. (Verbraucherschutz und ausgewogene Vertragsverhältnisse betreffende Grundsätze des Unionsrechts). 40 Vgl. zur Bedeutung des Begriffs der Konstitutionalisierung nur Loughlin, in: Dobner /  Loughlin (eds.), The Twilight of Constitutionalism? (2010), S. 47 ff. 41 Siehe zur „constitutionalisation of private law“ bereits Markesinis, Mod. L. Rev. 53 (1990), 1, 10. Siehe ferner nur Kumm, GLJ 7 (2006), 341 ff. Siehe zum Unionsprivatrecht statt vieler Hess, JZ 2005, 540 f.; Colombi Ciacchi, ERCL 2 (2006), 167 ff.; Busseuil, Contribution à l’étude de la notion de contrat en droit privé européen (2009), S. 637 f.; C. Möllers, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht (2009), S. 227, 265 ff. Siehe schließlich zum deutschen Privatrecht nur Jauernig / Mansel (2015), Vor §§ 241 ff. BGB Rn. 2. 42 Siehe nur den umfassenden rechtsvergleichenden Überblick in Brüggemeier / Colombi Ciacchi / Comandé (eds.), Fundamental Rights and Private Law in the European Union I (2010). 43 Obschon ein Beitritt der EU zur EMRK derzeit angesichts EuGH Gutachten v. 18.12.2014 – Gutachtenverfahren 2/13 (EMRK-Beitritt II), EU:C:2014:2454 unwahrscheinlich ist, stützt der EuGH seine Grundrechtsrechtsprechung nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Vorgaben in Art. 52 GRCh auch auf die EMRK. 44 Vgl. aus der ständigen Rechtsprechung nur EuGH Urt. v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 (Association de médiation sociale), EU:C:2014:2 Rn. 42; EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C390/12 (Pfleger), EU:C:2014:281 Rn. 34. Von der „participation des droits fondamentaux à la construction d’un droit européen des contrats“ spricht daher Pelissier, in: Cabrillac / 

A. Ausgangslage und Anlass der Untersuchung

13

Tat fordert der Unionsgesetzgeber in jüngeren privatrechtlichen Rechtsakten ausdrücklich, dass diese den Unionsgrundrechten und insbesondere der GRCh genügen müssen.45 Zu den Gewährleistungen der Charta zählen dabei unter anderem der Verbraucherschutz gemäß Art. 38, die Arbeitnehmerrechte nach Art. 27 ff. sowie der Diskriminierungsschutz gemäß Art. 21, 23 GRCh. Auch der EuGH stellt das EU-Schuldvertragsrecht zunehmend unter den Einfluss der Unionsgrundrechte und betont in diesem Zusammenhang vor allem die Gleichheitsgrundrechte.46 So ist beispielsweise das Verbot der Altersdiskriminierung durch die Mangold-Entscheidung zu einem allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts erhoben worden.47 In Anbetracht des unionsgrundrechtlichen Diskriminierungsverbots gemäß Art. 21 GRCh ging der Mazeaud / Prüm (éd.), Le contrat en Europe aujourd‘hui et demain (2008), S. 29. Siehe zu den Privatrechtswirkungen der Unionsgrundrechte und insbesondere der unionalen Vertragsfreiheit noch eingehend unten Kapitel 3 § 1. 45 Vgl z. B. Erwägungsgrund Nr. 5 Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl. 2000 L 303/16 (Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG); Erwägungsgrund Nr. 3 Richtlinie 2002/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. September 2002 zur Änderung der Richtlinie 76/207/ EWG des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen, ABl. 2002 L 269/15; Erwägungsgrund Nr. 46 Richtlinie 2009/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 über die Einsetzung eines Europäischen Betriebsrats oder die Schaffung eines Verfahrens zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in gemeinschaftsweit operierenden Unternehmen und Unternehmensgruppen, ABl. 2009 L 122/28. Vgl. schließlich auch Erwägungsgrund Nr. 37 des – mittlerweile zurückgenommenen – Vorschlags für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht, KOM(2011) 635 endg. Vgl. jüngst auch Erwägungsgrund Nr. 44 Verordnung (EU) 2015/751 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2015 über Interbankenentgelte für kartengebundene Zahlungsvorgänge, ABl. 2015 L 123/1: „Diese Verordnung steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden, vor allem mit […] der unternehmerischen Freiheit sowie dem Verbraucherschutz, und ist im Einklang mit diesen Rechten und Grundsätzen anzuwenden“. 46 Vgl. zum umfassenden Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte im Kontext des EU-Privatrechts nur EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I365 Rn. 22 ff. (diskriminierende Kündigungschutzregelung); EuGH Urt. v. 14.10.2010 – Rs. C-243/09 (Fuß), Slg. 2010 I-9849 Rn. 66 (Arbeitsrecht); EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 (Test-Achats), Slg. 2011, I-773 Rn. 16 ff. (Versicherungsvertragsrecht); EuGH Urt. v. 19.4.2016 – Rs. C-441/14 (Dansk Industri), EU:C:2016:278 Rn. 21 ff. (Arbeitsvertrag und Ausschluss der Abfindung nach dem 60. Lebensjahr). Vgl. vor Inkrafttreten der GRCh bereits EuGH Urt. v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I9981 Rn. 75 ff. (arbeitsvertragliche Befristung). Siehe zu dieser Entwicklung bereits Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85, 102 und 104. 47 EuGH Urt. v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981 Rn. 75 ff.

14

Einleitung

EuGH in der Rechtssache Kücükdeveci von der Unanwendbarkeit des § 622 Abs. 2 BGB a. F. aus48 und verbannte durch sein Test-Achats-Judikat sodann bestimmte Vertragsgestaltungen und -inhalte gleich ganz aus dem Privatrecht der Union und ihrer Mitgliedstaaten.49 In den vorgenannten Entscheidungen fokussiert der Gerichtshof allein auf unionsrechtliche Gleichheitsverbürgungen, ohne die Vertragsfreiheit anzusprechen, geschweige denn in eine Abwägung einzutreten.50 Diese einseitige Konstitutionalisierung droht nicht zuletzt deshalb die Grundfesten des überkommenen Vertragsverständnisses zu erschüttern, weil Art. 21 GRCh Ungleichbehandlungen aufgrund 16 Kriterien, einschließlich der „sozialen Herkunft“ und des „Vermögens“, untersagt. Doch welcher Händler möchte schon seine Ware einem Käufer überlassen, der den Kaufpreis aufgrund seiner Vermögensverhältnisse nicht begleichen kann? Welche Bank wird freiwillig einen Kredit- oder auch nur einen Kontovertrag mit einer Partei schließen, die nahezu zahlungsunfähig ist? Vor diesem Hintergrund erkennt das Unionsprivatrecht die Bonität des Vertragspartners als Voraussetzung für einen Vertragsschluss beispielsweise in Art. 8 Verbraucherkreditrichtlinie51 ausdrücklich an. Doch diese Gewissheit gerät zunehmend ins Wanken. So trägt der bereits erwähnte Art. 15 Zahlungskontenrichtlinie das unionsgrundrechtliche Diskriminierungsverbot unmittelbar in das unionale Schuldvertragsrecht hinein: Kreditinstitute dürfen künftig den Abschluss eines Zahlungskontovertrags mit Verbrauchern nicht „aus einem in Artikel 21 der Charta genannten Grund“ ablehnen. Das in Bezug genommene Unionsgrundrecht erfasst auch das „Vermögen“, weshalb nun selbst eine schlechte Bonität keine Verweigerung des Vertragsschlusses mehr rechtfertigt. Obschon hier das Grundrecht des Art. 21 GRCh formal nicht unmittelbar auf die Vertragsbeziehungen Anwendung findet, kommt diese Regelung einer horizontalen (Direkt)Wirkung zwischen Privaten doch sehr nahe: Durch die Verweisungstechnik des Art. 15 Zahlungskontenrichtlinie findet Art. 21 GRCh Eingang in privatrechtliche VerEuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 18 ff. Zuletzt mit Blick auf das dänische Arbeitsrecht bestätigt durch EuGH Urt. v. 19.4.2016 – Rs. C-441/14 (Dansk Industri), EU:C:2016:278 Rn. 21 ff. und insbesondere Rn. 35. 49 EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 (Test-Achats), Slg. 2011, I-773 Rn. 16 ff. 50 Dabei greift EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 (Test-Achats), Slg. 2011, I-773 Rn. 16 ff. besonders tief in die Vertragsfreiheit ein: Sollte der Gerichtshof das Verbot der Benachteiligung aufgrund des Geschlechts künftig auch auf die Risikoprüfung im Versicherungsvertragsrecht beziehen, so dürfte unter anderem „nicht mehr auf Grund geschlechtsspezifischer Vorerkrankungen wie Prostata- oder Brustkrebs differenziert werden. Faktisch könnte dies auf einen Kontrahierungszwang hinauslaufen, wenn der Versicherer das Risiko freiwillig nicht übernehmen würde“, so treffend Armbrüster, LMK 2011, 315339. 51 Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates, ABl. 2008 L 133/66. 48

A. Ausgangslage und Anlass der Untersuchung

15

träge über Bankkonten.52 Dies könnte indes nur der Anfang sein, da der EuGH jüngst erstmalig explizit betont hat, dass zumindest das in Art. 21 GRCh wurzelnde „Verbot der Diskriminierung wegen des Alters dem Einzelnen ein subjektives Recht verleiht, das er als solches geltend machen kann und das die nationalen Gerichte auch in Rechtsstreitigkeiten zwischen Privatpersonen verpflichtet“.53

Keine diese Entwicklungen bedeutet für sich genommen, dass das Unionsprivatrecht straff am hoheitlichen Gängelband geführt wird und gesetzgeberische Steuerungsinteressen an die Stelle individueller Willensentfaltung treten. Zu beobachten ist jedoch eine bereichsspezifische und schrittweise Erosion privatautonomer Gestaltungsspielräume. Diese Konstitutionalisierung des Unionsprivatrechts dürfte künftig weiter an Bedeutung gewinnen, so dass sich die Frage aufdrängt, wie ihr die Einseitigkeit genommen werden kann. V. Zwischenfazit: Vertragsfreiheit als Leitlinie und Selbstbehauptungsinstrument des Privatrechts Die Hypotrophie der Vertragsfreiheit im Unionsrecht und ihre Folgen für das Privatrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten bilden den Ausgangsbefund der vorliegenden Abhandlung. Anlass für eine umfassende Untersuchung besteht, weil nur eine unionale Verbürgung der Vertragsfreiheit als einendes Leitbild des fragmentierten EU-Schuldvertragsrechts und als sichtbare Schranke für freiheitsverkürzende Regelungen dienen kann. Die Frage nach dem Standort und dem Gewährleistungsgehalt der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie in der Unionsrechtsordnung stellt sich dabei umso dringender, als angesichts der fortschreitenden Konstitutionalisierung des EU-Schuldvertragsrechts ein schleichender „Autonomieverlust des Privatrechts“ droht.54 Darüber hinaus steht zu erwarten, dass die sekundärrechtliche Vorgabe in Art. 15 Zahlungskontenrichtlinie im Falle eines Vorabentscheidungsersuchens zum EuGH explizit um eine unionsgrundrechtliche Dimension erweitert wird. Für diese Lesart spricht, dass der EuGH auch ohne derart eindeutige Bezugnahmen auf die GRCh im Sekundärrecht bereits zuvor die Grenze zwischen unionsprivatrechtlichen Regelungen einerseits und unionsgrundrechtlichen Gewährleistungen des Art. 21 GRCh andererseits verwischt hat: Beispielsweise geht der EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I365 Rn. 18 ff.; EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 (Test-Achats), Slg. 2011, I-773 Rn. 16 ff. davon aus, dass bestimmte Regelungen des Unionsprivatrechts ein unionsgrundrechtliches Fundament haben und auf diese Weise an der primärrechtlichen Dignität der Unionsgrundrechte teilhaben können. 53 EuGH Urt. v. 19.4.2016 – Rs. C-441/14 (Dansk Industri), EU:C:2016:278 Rn. 36 (Herv. d. Verf.). Allenfalls andeutungsweise zuvor EuGH Urt. v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 (Association de médiation sociale), EU:C:2014:2 Rn. 47. 54 Vgl. G. Wagner, in: Blaurock / Hager (Hrsg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), S. 13, 77 ff. Mehr „Respekt vor der Eigenständigkeit des Privatrechts und der Privatautonomie“ fordert z. B. auch Meyer / Borowsky (2014), Art. 51 GRCh Rn. 31. 52

16

Einleitung

Je nachdem, auf welcher normhierarchischen Ebene und in welchem Umfang die Vertragsfreiheit im Unionsrecht gewährleistet wird, könnten die interventionistischen Tendenzen ebenso wie die grundrechtliche Überformung des Unionsprivatrechts entweder rasch ihren Schrecken verlieren55 – oder aber zu einer realen Bedrohung individueller Freiheit erstarken. B. Forschungslücke, Gegenstand und Ansatz der Untersuchung B. Forschungslücke, Gegenstand und Ansatz der Untersuchung

So bestechend und offenkundig der Verweis auf die Vertragsfreiheit als Leitprinzip des unionalen Schuldvertragsrechts erscheint, so schwer gestaltet sich beim gegenwärtigen Stand die Verortung dieser Freiheit im Recht der Europäischen Union (I). Um auf Basis des geltenden Rechtsrahmens ein kohärentes System zur Konzeptualisierung der Vertragsfreiheit zu entwerfen (II), verfolgt diese Abhandlung einen unionsrechtsimmanenten und rechtsvergleichenden Untersuchungsansatz und zieht insbesondere das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch als Referenzrahmen heran (III). Im Fokus der Untersuchung steht dabei die unionale Vertragsfreiheit in drei Schwerpunktbereichen. I.

Forschungsstand: Insulare und diffuse Gewährleistung

Glaubt man den bisherigen Stellungnahmen, so teilt die Vertragsfreiheit das Schicksal ihres wohl wichtigsten Anwendungsfeldes: Ebenso wie das EUSchuldvertragsrecht scheint auch die Vertragsfreiheit in unterschiedliche Rechtsakte und -quellen zersplittert zu sein. Teilweise wird die rechtsgeschäftliche Privatautonomie als Ausfluss der durch Art. 119 AEUV im Binnenmarkt verbürgten freien Marktwirtschaft und Wettbewerbsordnung begriffen.56 Ferner werden die Grundfreiheiten als Standort einer „grenzüberschreitenden Vertragsfreiheit“ benannt.57 Im weiteren Verlauf dieser Abhandlung zeigt sich, dass keiner dieser überkommenen Ansätze zu überzeugen und die rechtsgeschäftliche Privatautonomie umfassend zu gewährleisten vermag.58 Gleiches gilt, soweit in jüngerer Zeit die kodifizierten Unionsgrundrechte der GRCh herangezogen werden. Denn obschon die Charta partielle Garantien der Vertragsfreiheit enthält, bleibt sowohl der sachliche als auch der persönliche Anwendungsbereich stets eng umgrenzt.59 So nennt etwa der Gleichsinnig Herresthal, in: Ziegler / Huber (eds.), Current Problems in the Protection of Human Rights (2013), S. 89, 96. 55 In diesem Sinne schon W.-H. Roth, FS Medicus (2009), S. 393, 419: „Wird der Privatautonomie auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts das ihr zukommende Gewicht beigemessen […], verlieren die Argumente […] an Gewicht“. 56 Hierzu unten Kapitel 2, § 1 A I 1. 57 Vgl. insbesondere Rittner, JZ 1990, 838, 841; Müller-Graff, NJW 1993, 13 f. Siehe zum Ganzen eingehend unten Kapitel 2, § 1 A I 2. 58 Dazu näher unten Kapitel 2, § 1 A III. 59 Ausführlich hierzu unten Kapitel 2, § 1 A II.

B. Forschungslücke, Gegenstand und Ansatz der Untersuchung

17

Grundrechtskonvent allein die unternehmerische Freiheit gemäß Art. 16 GRCh als Standort der Vertragsfreiheit.60 Indes kann Art. 16 GRCh die rechtsgeschäftliche Privatautonomie nur für einen bestimmten wirtschaftlich tätigen Personenkreis gewährleisten. Würde dies tatsächlich die einzige oder auch nur die vorrangige Anbindung darstellen, wäre Vertragsfreiheit keineswegs eine „Jedermannsfreiheit“, sondern das Privileg einer bestimmten Gruppe. Wenn demgegenüber von den Generalanwälten des EuGH sowie im rechtswissenschaftlichen Schrifttum eine umfassende Garantie der Vertragsfreiheit im Unionsrecht postuliert wird, bleibt dabei zumeist die normative Qualität dieser Freiheit im Dunkeln. So findet sich teilweise die Bezeichnung als „allgemeiner Rechtsgrundsatz“, ohne dass die Herleitung, Natur und Reichweite dieses Grundsatzes spezifiziert werden.61 Für die Rechtspraxis und die Fortentwicklung des Unionsrechts unbefriedigend sind schließlich Ansätze, die eine rechtsförmige Garantie der Vertragsfreiheit mit dem Argument für verzichtbar halten, dass es sich bei dieser Freiheit um ein apriorisches Prinzip handle.62 Nur eine als verbindlicher Rechtssatz verbürgte Vertragsfreiheit kann als Maßstab und damit als Korrektiv zu den zahlreichen im Unionsrecht positivierten Einschränkungen dieser Freiheit fungieren.63 Das Erkenntnisinteresse dieser Untersuchung ist entspre60 Erläuterungen zur Charta, ABl. 2007 C 303/17, 23. Vgl. sodann z. B. EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C:2013:28 Rn. 42 ff.; EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 30; EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 67 f. 61 GA Kokott Schlussanträge v. 17.9.2009 – Rs. C-441/07 P (Kommission / Alrosa), Slg. 2010, I-5949 Rn. 225: „Die Vertragsfreiheit gehört zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts“. In diese Richtung bereits GA Trstenjak Schlussanträge v. 28.3.2007 – Rs. C-331/05 P (Internationaler Hilfsfonds / Kommission), Slg. 2007, I-5475 Rn. 93. Siehe auch Canaris, FS Lerche (1993), S. 873, 890; Bruns, JZ 2007, 385, 392; Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85, 94 f.; Safjan / Miklaszewicz, ERPL 18 (2010), 475, 484 f. Nachdrücklich gegen die Einordnung der Vertragsfreiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz plädiert indes Prassl, ILJ 42 (2013), 434, 442. 62 In diesem Sinne – wenn auch mit dem Fokus auf der Vertragsbindung – zuletzt z. B. Stöhr, AcP 214 (2014), 425, 441 ff. und 444 m. w. N. („Vertragsfreiheit und Vertragsbindung [sind] der Rechtsordnung […] apriorisch vorgegeben“). Vgl. zur Gewährleistung der „Privatautonomie […] kraft eines vorgesellschaftlichen, jedenfalls vorstaatlichen Anspruchs“ auch Böhm, ORDO 22 (1971), 11, 20 f. 63 Zwar sind Verträge in der Tat schon geschlossen worden, lange bevor rechtsgeschäftliche Selbstbestimmung im (supra-)nationalen Recht gewährleistet werden konnte. In der Europäischen Union bedarf die Freiheit, Verträge zu schließen, indes notwendig der Anerkennung durch die Unionsrechtsordnung, damit der Ausgangs- sowie der Endpunkt dieser Freiheitsausübung überhaupt als „Vertragserklärungen“ und „Vertrag“ im rechtlichen Sinne gelten können, siehe hierzu allgemein nur Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 215 f.; Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang (1999), S. 16 ff.; Repgen, Kein Abschied von der Privatautonomie (2001), S. 76 f.; M.-P. Weller, Die Vertragstreue (2009), S. 171. Mit Blick auf die Unionsrechtsordnung führt Herresthal, in:

18

Einleitung

chend juristisch-dogmatischer und nicht nur ethisch-philosophischer Natur, da es auf die in der supranationalen Unionsrechtsordnung geltende Vertragsfreiheit zielt.64 Beim derzeitigen Stand ist weitgehend ungewiss, wo die Vertragsfreiheit verbürgt ist, welche Rechtsnatur sie hat und was sie konkret gewährleistet.65 Diese Forschungslücke sucht die vorliegende Abhandlung zu schließen. II. Ausgangshypothesen zur Verbürgung und Materialisierung der Vertragsfreiheit Die beiden zentralen Ausgangshypothesen orientieren sich an den eingangs konstatierten Defiziten der aktuellen Rechtsentwicklung: Während die Vertragsfreiheit in der Unionsrechtsordnung zum einen weder als privat- noch als grundrechtliche Verbürgung sichtbar ist, werden im Anwendungsbereich des EU-Rechts sowohl sämtliche mitgliedstaatliche Freiheitsgarantien zurückgedrängt als auch EU-Gleichheitsgrundrechte überbetont. Zum anderen erscheint das Schuldvertragsrecht der EU nicht zuletzt auch deshalb zersplittert und inkohärent, weil es der Vertragsfreiheit als zentraler privatrechtlicher Leitidee gebricht, die eine Systematisierung erlaubt. 1. Doppelköpfigkeit der Vertragsfreiheit im geltenden Unionsrecht Vor diesem Hintergrund lautet die erste Hypothese, dass die Vertragsfreiheit in der Unionsrechtsordnung von doppelköpfiger Gestalt ist: Diese Freiheit wird als allgemeiner privatrechtlicher Rechtsgrundsatz und zugleich als Unionsgrundrecht garantiert. In beiden Erscheinungsformen kann die unionale Vertragsfreiheit zunächst als verbindendes Element und Orientierungspunkt des Schuldvertragsrechts der EU dienen. Eine zentrale Funktion kommt dem

Ziegler / Huber (eds.), Current Problems in the Protection of Human Rights (2013), S. 89, 99 treffend aus: „[P]rivately arranged relationships require recognition by a legal system“. Eine apriorische Sicht auf die Vertragsfreiheit kann heutzutage daher bezeichnenderweise nur einnehmen, wer die Vertragsparteien in einen – vermeintlich – rechtsfreien Raum verweist: Beispielsweise schickt Husserl, Rechtskraft und Rechtsgeltung (1925), S. 39 die Adressaten der Vertragsfreiheit in eine Wüste, und nach dem Ansatz von Stöhr, AcP 214 (2014), 425, 445 mischen sich die Vertragsparteien unter indigene Völker Westafrikas. 64 Vgl. zu dieser Unterscheidung zwischen ethisch-philosophischer und juristisch-dogmatischer Fragestellung nur Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 160; M.-P. Weller, Die Vertragstreue (2009), S. 163. Auch unverbindliche akademische Modellregeln zur Vertragsfreiheit, wie beispielsweise Art. 1:102 Principles of European Contract Law (PECL) und Art. II.-1:102 Draft Common Frame of Reference (DCFR), zählen nicht zum geltenden Recht der Union. Solche Modellregeln werden im Folgenden zwar berücksichtigt, ohne jedoch im Fokus der Untersuchung zu stehen. 65 So auch Herresthal, in: Ziegler / Huber (eds.), Current Problems in the Protection of Human Rights (2013), S. 89, 97 f.

B. Forschungslücke, Gegenstand und Ansatz der Untersuchung

19

privatrechtlichen Rechtsgrundsatz bei der Auslegung und Lückenfüllung der Rechtsakte des EU-Schuldvertragsrechts zu.66 Durch die unionsrechtliche Verbürgung der Vertragsfreiheit verschiebt sich der Ankerpunkt vieler schuldvertraglicher Regelungen: Sowohl im Unionsrecht als auch in den mannigfaltigen durch das EU-Privatrecht beeinflussten Feldern des mitgliedstaatlichen Rechts wird längst nicht mehr die nationale, sondern vielmehr eine unionale Vertragsfreiheit verwirklicht, beschränkt oder auf sonstige Weise ausgestaltet. Daraus folgt, dass beispielsweise im Geltungsbereich der Klauselrichtlinie die Grenzen der Inhaltskontrolle von Verträgen nunmehr durch die unionale Vertragsfreiheit gezogen werden.67 Selbst die Handhabung des § 138 Abs. 1 BGB mag im Einzelfall unionsrechtliche Vorzeichen erhalten.68 Als unionsgrundrechtliche Gewährleistung stellt die Vertragsfreiheit sodann den wohl bedeutendsten „Vorposten des Privatrechts“ im Primärrecht der Union dar: So kann sie gegen überbordende Freiheitsverkürzungen in Stellung gebracht werden und insbesondere ein Gegengewicht zu den Privatrechtswirkungen der Gleichheitsgrundrechte bilden.69 Damit lässt sich der „Autonomieverlust des Privatrechts“70 paradoxerweise nur verhindern, indem die Konstitutionalisierung des Unionsprivatrechts einerseits als gegeben akzeptiert, diesem Phänomen aber andererseits durch die Betonung der grundrechtlichen Dimension der Vertragsfreiheit die Einseitigkeit genommen wird. 2. Materialisierung durch Unionsprivatrecht, BGB und ZPO Die grundrechtliche Dimension der Vertragsfreiheit gebietet zudem, dass die Vertragspartner ihre jeweilige Freiheit möglichst umfassend verwirklichen können. Damit bedarf es eines angemessenen Ausgleichs dieser FreiheitsSiehe dazu noch eingehend unten Kapitel 3 § 1 B. Siehe hierzu näher unten Kapitel 7 § 2. 68 So ist z. B. zu erwägen, ob das unter bestimmten Voraussetzungen auch auf Bürgschaftsverträge anwendbare EU-Verbrauchervertragsrecht nicht den Anwendungsbereich des Unionsrechts eröffnet, so dass z. B. bei der Prüfung von Angehörigenbürgschaften im Rahmen des § 138 BGB womöglich – zumindest auch – die unionale Vertragsfreiheit zu berücksichtigen wäre, vgl. zum „doppelten“ Verbrauchererfordernis nur EuGH Urt. v. 17.3.1998 – Rs. C-45/96 (Dietzinger), Slg. 1998, I-1199 Rn. 18 ff.; EuGH Urt. v. 23.3.2000 – Rs. C-208/98 (Berliner Kindl), Slg. 2000, I-1741 Rn. 17 ff. und vgl. zur Berücksichtigung der „grundrechtlichen Gewährleistung der Privatautonomie“ im Rahmen des § 138 BGB nur BVerfG Beschl. v. 19.10.1993 – Az. 1 BvR 567/89 u. a., BVerfGE 89, 214, 229 ff. Siehe hierzu eingehend unten Kapitel 5 und dort insbesondere § 2 C II. 69 Vgl. bereits F. Bydlinski, Das Privatrecht im Rechtssystem einer „Privatrechtsgesellschaft“ (1994), S. 75 f. Ebenso zur Rolle der Unionsgrundrechte im Allgemeinen – allerdings ohne die Vertragsfreiheit zu erwähnen – Perner, Grundfreiheiten, GrundrechteCharta und Privatrecht (2013), S. 173. 70 Vgl. wiederum G. Wagner, in: Blaurock / Hager (Hrsg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), S. 13, 77 ff. 66 67

20

Einleitung

sphären, wodurch die „Aufgabe der Herstellung praktischer Konkordanz zu einem Thema des Zivilrechts“ wird.71 Die zweite Ausgangshypothese lautet, dass sich unter dem Einfluss der unionalen Vertragsfreiheit ein Normkomplex herausbildet, der auf unterschiedlichen Ebenen und mit einer großen Variationsbreite von Instrumenten den Vertragsparteien werthaltige rechtsgeschäftliche Selbstbestimmung – und damit Vertragsfreiheit „im anspruchsvollen Sinne“72 – zu ermöglichen sucht. Die unionsprivatrechtlichen Regelungen betreffend den Abschluss, die Durchführung sowie die Durchsetzung von Verträgen sind jedoch lückenhaft, so dass dieses System zwangsläufig auch auf mitgliedstaatliche Normen zurückgreifen muss. Insbesondere unter der Einwirkung des Effektivitätsgrundsatzes werden das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch73 sowie die Zivilprozessordnung74 in den Dienst der Verwirklichung unionaler Vertragsfreiheit gestellt. Dieses Phänomen sowie das daraus im weiteren Verlauf der Untersuchung schrittweise zu entwickelnde System werden im Folgenden unter den changeanten Begriff der Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit gefasst.75 III. Methodik und Bezugsrahmen Da die Unionsrechtsordnung einer umfassenden Verbürgung der Vertragsfreiheit bedarf, drängt sich die Folgefrage auf, mithilfe welcher Methoden diese nicht ausdrücklich normierte Freiheit im Recht der EU verortet werden kann. Während bei der Begründung der Vertragsfreiheit im Binnenmarkt notwendigerweise auch ökonomische Argumente einfließen,76 fokussiert diese Untersuchung auf die rechtliche Verbürgung der unionale Vertragsfreiheit.77 Dabei legt die Vielfalt der Rechtsquellen sowie die „Multidimensiona71 So mit Blick auf die Entfaltung der Vertragsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG in der deutschen Rechtsordnung auch Maunz / Dürig / Di Fabio (2016), Art. 2 GG Rn. 112. 72 G. Wagner, in: Blaurock / Hager (Hrsg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), S. 13, 19 f. 73 Siehe unten Kapitel 5. 74 Siehe unten Kapitel 6. 75 Siehe zum Begriff und zum Phänomen der Materialisierung eingehend Kapitel 4, Kapitel 5 und Kapitel 6. Siehe mit Blick auf das deutsche Bürgerliche Recht nur Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers (1998), S. 208 f., 293 ff.; Canaris, AcP 200 (2000), 273, 277 ff. Siehe im Kontext des Unionsprivatrechts – allerdings ohne Bezugnahme auf die unionale Vertragsfreiheit – Riesenhuber, System und Prinzipien des europäischen Vertragsrechts (2003), S. 553 f.; Hess, JZ 2005, 540, 548; G. Wagner, ZEuP 2007, 180, 191 ff.; Fornasier, Freier Markt und zwingendes Vertragsrecht (2013), S. 77 ff. 76 Namentlich baut die EU-Wirtschaftsverfassung auf die Vertragsfreiheit und auch ideengeschichtlich bilden ökonomische Bedürfnisse eine entscheidenden Triebfeder des Siegeszuges der Vertragsfreiheit, siehe eingehend unten Kapitel 1 § 1 und § 2. 77 Siehe zur ökonomischen Begründung der Vertragsfreiheit statt aller G. Wagner, in: Blaurock / Hager (Hrsg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), S. 13, 16 f. m. w. N., der darauf hinweist, dass die Verbindung zwischen der rechtsgeschäftlichen Privatautono-

B. Forschungslücke, Gegenstand und Ansatz der Untersuchung

21

lität der Systemzusammenhänge“ im Unionsrecht eine Verschränkung unterschiedlicher Methoden nahe.78 Diese Abhandlung nimmt dabei vor allem drei Sachmaterien in den Blick und stellt die gewonnenen Erkenntnisse in den Kontext der bürgerlich-rechtlichen Dogmatik. 1. Unionsrechtsimmanente, rechtsaktsübergreifende und rechtsvergleichende Untersuchung Den Ausgangspunkt bildet ein unionsrechtsimmanenter, rechtsaktsübergreifender und rechtsvergleichender Untersuchungsansatz. Die unionsrechtsimmanente Betrachtung ist durch die Autonomie des „ordre juridique propre“ der EU vorgegeben: In erster Linie soll das Unionsrecht aus sich selbst heraus ausgelegt und gegebenenfalls fortentwickelt werden.79 Bei der Überprüfung der zentralen Hypothesen dieser Abhandlung reicht ein nach innen gewandten Ansatz indes nicht aus, um zu ermitteln, ob die unionale Vertragsfreiheit ein Unionsgrundrecht und zugleich ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsprivatrechts ist. Vielmehr setzen die Identifikation allgemeiner privatrechtlicher Grundsätze ebenso wie die Herausarbeitung ungeschriebener Unionsgrundrechte im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV voraus, dass in einem ersten Schritt unterschiedliche Referenzmaterien sowohl unionsrechtsimmanent, rechtsakts- übergreifend als auch rechtsvergleichend untersucht werden.80 Da Bezugspunkte somie und dem ökonomischem Maßstab der Wohlfahrtsmaximierung gerade darin liegt, dass „der Effizienz-Begriff an den Nutzenfunktionen der Individuen orientiert ist“. Die unionale Vertragsfreiheit gestattet den Akteuren im Binnenmarkt nun, durch das Instrument des Vertrags entsprechend ebendieser subjektiven Präferenzen zu handeln. Vgl. zur ökonomischen Legitimation der Vertragsfreiheit auch Schäfer / Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts (2012), S. 449 f. sowie mit Blick auf die Parteiautonomie Rühl, Statut und Effizienz (2011), S. 343 ff. 78 Vgl. bereits Basedow, in: Zimmermann / Knütel / Meincke (Hrsg.), Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik (1999), S. 79, 92. Mit Blick auf das Unionsprivatrecht spricht Gsell, AcP 214 (2014), 99, 107 treffend von einer „Methodenpluralität parallel zur Pluralität der Regelsetzer, Rechtsquellen und Rechtsanwender“. 79 Vgl. zur Autonomie des Unionsrechts wiederum grundlegend EuGH Urt. v. 15.7.1964 – Rs. 6/64 (Costa / E.N.E.L.), Slg. 1964, 1149, 1158. Siehe auch Jansen, ZEuP 2004, 441, 443; Heinze, Schadensersatz im Unionsprivatrecht (2017), S. 93 ff. m. w. N. 80 Siehe zum Ganzen noch eingehend unten Kapitel 2 § 2 A II. Siehe mit Blick auf allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechtsrechts Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 37 ff. und 545 f.; Basedow, FS Hopt I (2010), S. 27, 37 ff. und 41; ders., ERPL 24 (2016), 331, 340 ff. und insbesondere 346. Auch nach Art. 6 Abs. 3 EUV sind ungeschriebene Unionsgrundrechte als allgemeine, den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen gemeine, verfassungsrechtliche Gewährleistungen rechtsvergleichend zu ermitteln: „Die Grundrechte, […] wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, sind als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts“. Im Schrifttum wird die Möglichkeit einer

22

Einleitung

mit das Unionsrecht und das Recht der Mitgliedstaaten sind, werden bei der Gewinnung allgemeiner Rechtsgrundsätze der acquis commun und der acquis communautaire zusammengeführt.81 Ausweislich des Art. 6 Abs. 3 EUV ist darüber hinaus auch das Völkerrecht in die Betrachtungen einzubeziehen.82 Wenn und soweit sich hieraus eine hinreichende Basis ergibt, kann die Zusammenschau der speziellen Regelungen in einem zweiten Schritt gegebenenfalls einen Induktionsschluss auf einen allgemeinen, hinter all diesen Einzelregelungen stehenden Grundsatz tragen.83 2. Unionale Vertragsfreiheit in drei Schwerpunktbereichen Um Grund und Grenzen der unionalen Vertragsfreiheit bestimmen zu können, müssen somit unterschiedliche Regelungsbereiche durchmessen und auf die Verbürgung und Ausgestaltung dieser Freiheit hin untersucht werden. Der induktive Ansatz setzt eine möglichst breite und heterogene Basis von Referechtsgebietsübergreifenden Systematisierung des Unionsrechts zwar teilweise mit dem Argument verneint, dass insbesondere die zahlreichen Einzelrechtsakte des EU-Privatrechts auf divergierenden Ermächtigungsgrundlagen fußten: Einheitliche Strukturprinzipien, geschweige denn allgemeine Rechtsgrundsätze könnten auf dieser heterogenen Grundlage nicht gedeien, vgl. Schmid, Die Instrumentalisierung des Privatrechts durch die Europäische Union (2010), S. 716. Ähnlich wohl W.-H. Roth, CMLR 40 (2003), 937, 946. Diese Annahme ist bereits mit dem Autonomiepostulat des Unionsrechts schwerlich übereinzubringen, weshalb es kaum Wunder nimmt, dass der EuGH in seiner ständigen Rechtsprechung sehr wohl Elemente aus unterschiedlichen Regelungsbereichen des Unionsrechts ohne Ansehung des jeweils zugrunde liegenden Kompetenztitels betrachtet und zur Fortentwicklung des Unions(privat)rechts fruchtbar macht, vgl. etwa zum Begriff des Versicherungsvertrags im Steuerrecht einerseits und in der Klauselrichtlinie andererseits nur EuGH, Urt. v. 17.1.2013 – Rs. C-224/11 (BGŻ Leasing), EU:C:2013:15 Rn. 58; EuGH Urt. v. 23.4.2015 – Rs. C-96/14 (Van Hove), EU:C:2015:262 Rn. 33 ff. Innerhalb einzelner Regelungsbereiche wird ein rechtsaktsübergreifender Ansatz sogar explizit durch das Unionsrecht vorgegeben, wie neben Art. 6 Abs. 3 EUV z. B. auch Erwägungsgrund Nr. 7 Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I), ABl. 2008 L 177/6 im internationalen Unionsprivatrecht belegt. Wie hier Heinze, Schadensersatz im Unionsprivatrecht (2017), S. 99 ff. m. w. N. aus anderen Sachmaterien. 81 Vgl. zur Abgrenzung statt vieler Jansen / Zimmermann, JZ 2007, 1113, 1115 ff., die insoweit zu Recht hinterfragen, ob das Unionsprivatrecht als privatrechtlicher acquis communautaire überhaupt ohne Bezug auf das gemeineuropäische Privatrecht, also den acquis commun, vollumfänglich verstanden werden kann. 82 Art. 6 Abs. 3 EUV verweist ausdrücklich auch auf das Völkervertragsrecht und namentlich die „Grundrechte, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind“. Siehe hierzu noch eingehend unten Kapitel 2 § 2 A II 3. 83 Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 37 ff. und 545 f.; Basedow, FS Hopt I (2010), S. 27, 37 ff. und 41; ders., ERPL 24 (2016), 331, 346. Siehe dazu umfassend unten Kapitel 2 § 2 A II.

B. Forschungslücke, Gegenstand und Ansatz der Untersuchung

23

renzmaterien voraus, zumal der EuGH in der Rechtssache Audiolux explizit betont hat, dass isolierte, bereichsspezifische Vorschriften „für sich genommen noch nicht für den Nachweis der Existenz eines allgemeinen Grundsatzes des [Unions]rechts genüg[en], insbesondere wenn ihr Anwendungsbereich auf sehr genau festgelegte und bestimmte Rechte beschränkt ist“.84

Während solchen speziellen Einzelregelungen damit allenfalls Indizwirkung zukommt, liegt die Annahme eines allgemeinen unionalen Rechtsgrundsatzes näher, wenn ein bestimmter Grundsatz in unterschiedlichen Materien flächendeckend nachweisbar ist.85 Vor diesem Hintergrund ist das gesamte Unionsrecht in den Blick zu nehmen, wobei der Fokus angesichts der unionsprivatrechtlichen Ausrichtung dieser Abhandlung auf drei Schwerpunktbereichen liegt. Erstens wird das weit verästelte Gebiet des Verbrauchervertragsrechts betrachtet. Diese Materie ist zwar einerseits auf die Interessen der Konsumenten ausgerichtet. Andererseits betreffen die Regelungen durchaus sehr unterschiedliche Bereiche, von der Klauselkontrolle über den Verbrauchsgüterkauf bis hin zum Pauschalreiserecht. Auch bewegt sich das Unionsprivatrecht gerade mit der Klauselrichtlinie 86 in Richtung eines allgemeinen unionalen Verbrauchervertragsrechts, das als Querschnittsmaterie einheitliche Regelungen für unterschiedliche Sachbereiche bereithält und diese so miteinander verklammert. Zweitens wird das unionale Finanzdienstleistungsvertragsrecht und damit insbesondere das Bank- und Versicherungsvertragsrecht untersucht. Freilich umfasst diese Materie ebenfalls verbraucherschützende Vorschriften, wie etwa die Wohnimmobilien-87 und die Verbraucherkreditrichtlinie. Hierher gehören z. B. auch die Entgeltregelungen für die Nutzung von Zahlungsdiensten in Art. 19 Verbraucherrechterichtlinie.88 Zugleich finden sich vielfältige Regelungen, die, wie z. B. die Zahlungsdiensterichtline89 und die InterbankenEuGH Urt. v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 34. EuGH Urt. v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 34 und 42 spricht hier insoweit von dem „allgemeine[n] übergreifende[n] Charakter, der […] allgemeinen Rechtsgrundsätzen naturgemäß innewohnt“. Siehe auch Basedow, ERPL 24 (2016), 331, 336 ff. 86 Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. 1993 L 95/29. 87 Richtlinie 2014/17/ЕU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Februar 2014 über Wohnimmobilienkreditverträge für Verbraucher und zur Änderung der Richtlinien 2008/48/EG und 2013/36/EU und der Verordnung (EU) Nr. 1093/2010, ABl. 2014 L 60/34. 88 Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011 über die Rechte der Verbraucher, ABl. 2011 L 304/64. 89 Vgl. insbesondere Art. 30 ff., Art. 40 ff. Richtlinie 2007/64/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2007 über Zahlungsdienste im Binnenmarkt, 84 85

24

Einleitung

entgelteverordnung,90 ausschließlich Vertragsverhältnisse professioneller Akteure erfassen. Damit ist das unionale Finanzdienstleistungsvertragsrecht eine Mischmaterie, die sowohl konsumentenschützende Elemente als auch Züge eines allgemeinen Verkehrsrechts für Finanzdienstleister aufweist. Schließlich richtet diese Abhandlung ihr Augenmerk, drittens, auf die vertragsrechtlichen Implikationen des unionalen Wirtschaftsrechts: Das heterogene Rechtsgebiet des Wirtschaftsvertragsrechts umfasst den Bestand unionsrechtlicher Normen, die den Rahmen für die Vertragsbeziehungen im unternehmerischen Verkehr ziehen.91 Diese Materie enthält damit ausschließlich vertragsrechtliche Regelungen für professionelle Wirtschaftsakteure, wobei viele Bestimmungen auch marktordnende Funktionen erfüllen. Insofern hat das unionale Wirtschaftsvertragsrecht eine andere Stoßrichtung als das Verbrauchervertragsrecht sowie das verbraucherschützende Finanzdienstleistungsvertragsrecht.92 Diese Abhandlung untersucht insbesondere auch die vertragsrechtlichen Implikationen des unionalen Kartell- und Wettbewerbssowie des Vergabe- und Infrastrukturrechts, da auch hier die unionale Vertragsfreiheit in vielfältiger Weise betroffen sein kann: So ziehen etwa Art. 101 und 102 AEUV der unternehmerischen Vertragspraxis unmittelbar Schranken.93 Insgesamt garantiert das unionale Wettbewerbsrecht dank seiner „machtbeugenden Wirkung“ tatsächliche Wahlmöglichkeiten am Markt und schafft damit erst die Grundlage für die Ausübung der Vertragsfreiheit.94 Zugleich statuiert das unionale Kartell- ebenso wie das Infrastrukturrecht, zur Änderung der Richtlinien 97/7/EG, 2002/65/EG, 2005/60/EG und 2006/48/EG sowie zur Aufhebung der Richtlinie 97/5/EG, ABl. 2007 L/1. 90 Verordnung (EU) 2015/751 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. April 2015 über Interbankenentgelte für kartengebundene Zahlungsvorgänge, ABl. 2015 L 123/1. 91 Siehe zum Begriff des unionalen Wirtschaftsrechts statt vieler Plate, in: Stober/ Paschke (Hrsg.), Deutsches und internationales Wirtschaftsrecht (2012), S. 12 ff. sowie zum Begriff des Wirtschaftsvertragsrechts nur Paschke, in: Stober / Paschke (Hrsg.), Deutsches und internationales Wirtschaftsrecht (2012), S. 74 ff. 92 Dies darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch das zwischen professionellen Akteuren geltende Sonderprivatrecht zuweilen „Schutzmechanismen“ enthält, wie etwa die Handelsvertreterrichtlinie und die Zahlungsverzugsrichtlinie belegen, vgl. nur Art. 17 und Art. 19 Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter, ABl. 1986 L 382/17; Erwägungsgrund Nr. 28 und Art. 7 Richtlinie 2011/ 7/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr, ABl. 2011 L 48/1. 93 Statt vieler MünchKomm/Busche (2012), Vor § 145 BGB Rn. 4. 94 Siehe zu dieser Wirkung des Wettbewerbs Böhm, in: Institut für ausländisches und internationales Wirtschaftsrecht (Hrsg.), Kartelle und Monopole im modernen Recht I (1961), S. 1, 22; Mestmäcker, JZ 1964, 441, 445. Basedow, LM § 8 AGB-Gesetz Nr. 30 stellt daher mit Blick auf die Vertragsfreiheit heraus, dass diese Freiheit zur Willkür zu werden droht, wo das „Korrelat der machtbeugenden Wirkung des Wettbewerbs fehlt“.

B. Forschungslücke, Gegenstand und Ansatz der Untersuchung

25

etwa im Kontext des Zugangs zu Telekommunikations- und Energieleitungsund Transportnetzen, zuweilen Kontrahierungszwänge, die eine empfindliche Beschränkung der unionalen Vertragsfreiheit bedeuten.95 Sollte sich die Vertragsfreiheit durchgängig in allen drei heterogenen Materien nachweisen lassen, mag dies eine besonders breite und belastbare empirische Basis für die induktive Herleitung eines allgemeinen unionalen Rechtsgrundsatzes der Vertragsfreiheit bieten. 3. BGB und bürgerlich-rechtliche Dogmatik als Referenzrahmen Was sodann die Einwirkungsebenen und die Privatrechtsrelevanz der unionalen Vertragsfreiheit anbelangt, bildet das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch einen besonders vielversprechenden Referenzrahmen für die vorliegende Untersuchung: Zahlreiche Elemente des Unionsprivatrechts sind unmittelbar in das BGB inkorporiert worden, so dass die betreffenden Regelungen des BGB potenziell in den Wirkbereich unionaler Vertragsfreiheit gelangen.96 Auch das bereits angesprochene Phänomen der Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit mithilfe des nationalen Privatrechts wird anhand der Instrumente des BGB eingehend untersucht.97 In methodischer Hinsicht bedarf dabei stets die bürgerlich-rechtliche Dogmatik und ihr Verhältnis zu den unionsrechtlichen Vorgaben besonderer Aufmerksamkeit.98

Ferner hat z. B. auch das europäische Vergaberecht insoweit unionsprivatrechtlichen Gehalt, als es das Zustandekommen von Verträgen regelt und die Vertragspartnerwahlsowie die Inhaltsfreiheit der Parteien beschränken kann, dazu statt aller Bittrich, Vergabeverfahren und Bürgerliches Recht (2013), S. 120 und 125 ff. In diesem Sinne auch Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament zum europäischen Vertragsrecht, KOM(2001) 398 endg., S. 48 f.; Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat, Ein kohärentes Europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan, KOM(2003), 68 endg., S. 46 und 51. 96 Dabei haben Vorgaben aus allen drei untersuchten Sachmaterien Eingang in das BGB gefunden: Neben dem EU-Verbrauchervertragsrecht, das unter anderem in §§ 312 ff. und §§ 305 ff. BGB umgesetzt worden ist, sind auch Teilbereiche des Finanzdienstleistungsvertragsrechts, etwa in Gestalt der §§ 491 ff., § 511 BGB, unionsrechtlich determiniert. Schließlich betreffen z. B. die in § 271a, § 286 BGB umgesetzten unionsrechtlichen Vorgaben der Zahlungsverzugsrichtlinie allein Verträge zwischen gewerblich handelnden Akteuren und sind damit dem unionalen Wirtschaftsvertragsrecht zuzuschlagen, vgl. Art. 1 und Art. 2 Nr. 1 Zahlungsverzugsrichtlinie und siehe zur Abgrenzung erneut oben 2. 97 Siehe dazu erneut oben B II 2 sowie umfassend unten Kapitel 5. 98 Vgl. Kapitel 5 und dort beispielsweise § 2 A I 2 b sowie § 2 C II 2 zur „Kipp’schen Doppelwirkung im Recht“ beim Aufeinandertreffen von §§ 119 ff. bzw. § 138 BGB einerseits und unionsprivatrechtlich fundierten Widerrufsrechten andererseits. 95

26

Einleitung

C. Gang der Darstellung entlang sieben Erkenntniszielen C. Gang der Darstellung entlang sieben Erkenntniszielen

Die vorliegende Abhandlung untersucht erstmals monographisch, welchen Platz und welche Gestalt die für das Privatrecht elementare Vertragsfreiheit im Gefüge des Unionsrechts einnimmt. Damit die Vertragsfreiheit tatsächlich als „Fixster[n] des Privatrechtssystems“99 der Europäischen Union dienen kann, müssen insbesondere Standort, Inhalt und Konzeption dieser Freiheit bestimmt werden. Die Darstellung gliedert sich in drei Teile und verläuft entlang sieben Erkenntniszielen. Erster Teil: Grundlegung der Vertragsfreiheit im Unionsrecht Das erste Kapitel legt die Grundsteine der weiteren Untersuchung: So erschließen sich die Triebfedern ebenso wie die Grenzen der Vertragsfreiheit im Unionsrecht vollumfänglich erst vor dem Hintergrund der Ideengeschichte der Vertragsfreiheit einerseits und der Rolle dieser Freiheit in der Wirtschaftsverfassung der Union andererseits. Zudem bedarf der Vertragsbegriff des Unionsrechts der Konkretisierung, da dieser nicht zuletzt den Gewährleistungsgehalt unionaler Vertragsfreiheit mitbestimmt. Das zweite Kapitel spürt der Verbürgung der Vertragsfreiheit im geltenden Unionsrecht nach. Ziel ist es, die Vertragsfreiheit normhierarchisch zu verorten und ihren Inhalt zu bestimmten. Der lückenhaften Gewährleistung der Vertragsfreiheit im geschriebenen Primärrecht wird zunächst der Befund gegenübergestellt, dass die Unionsrechtsordnung sieben Facetten der Vertragsfreiheit anerkennt und schützt. Darauf aufbauend ist nach der Rechtsnatur der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie im Unionsrecht zu fragen. Mithilfe der induktiven Methode wird die zentrale These der Arbeit überprüft, derzufolge die Vertragsfreiheit schon beim gegenwärtigen Entwicklungsstand der Unionsrechtsordnung sowohl ein allgemeiner Grundsatz des EU-Privatrechts als auch ein Unionsgrundrecht ist. Erste Konturen gewinnen der Gewährleistungs- und der Wesensgehalt sowie die Schranken der unionalen Vertragsfreiheit im Rahmen einer detaillierten Analyse der Rechtsprechung des EuGH. Zweiter Teil: Vertragsfreiheit und ihre Materialisierung als Richtschnur des Schuldvertragsrechts der EU und ihrer Mitgliedstaaten Im dritten Kapitel werden die privatrechtlichen Einwirkungsachsen sowie das Funktionsmodell der unionalen Vertragsfreiheit in den Blick genommen. Als zivilrechtlicher Rechtsgrundsatz und als Unionsgrundrecht entfaltet die Vertragsfreiheit zahlreiche Privatrechtswirkungen. Insbesondere dient die rechtsgeschäftliche Privatautonomie im EU-Schuldvertragsrecht zugleich als Begründung und als Begrenzung der Vertragsbindung. Hier deutet sich bereits 99

Mestmäcker, AcP 168 (1968), 235, 238.

C. Gang der Darstellung entlang sieben Erkenntniszielen

27

an, dass diese Freiheit ein potenziell wirkmächtiges Bindeglied zwischen den auf unterschiedliche Rechtsakte und -materien verstreuten Normen des EUSchuldvertragsrechts ist. Verwirklicht wird die Vertragsfreiheit sodann in erster Linie durch den Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus, wobei die Unionsrechtsordnung eine Richtigkeitsvermutung an diesen prozeduralen Modus der Freiheitsentfaltung knüpft. Dieses Funktionsmodell unionaler Vertragsfreiheit kommt indes nicht ohne Flankierungen aus: Wo der Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus zu versagen droht, muss er punktuell komplementiert und gestärkt werden, damit alle Akteure werthaltige Selbstbestimmungschancen erhalten. Diese Aufgabe übernimmt das Instrumentarium zur Materialisierung unionaler Vertragsfreiheit, dem sich das vierte Kapitel widmet. Zuvörderst ist der schillernde Begriff der Materialisierung konkretisierungsbedürftig. Auch muss das hiermit beschriebene Phänomen rechtsakts- und rechtsgebietsübergreifend systematisiert werden. In der Unionsrechtsordnung deutet sich dabei eine Zweiteilung in marktkonstitutive sowie wettbewerbsschützende Materialisierungsinstrumente einerseits und unionsprivatrechtliche Instrumente andererseits an. Das fünfte Kapitel zeigt auf, dass das deutsche Bürgerliche Recht nicht nur vielfach in den Wirkbereich unionaler Vertragsfreiheit gerät, sondern auch in den Dienst ihrer Materialisierung gestellt werden kann. Die Interaktion bürgerlich-rechtlicher und unionsprivatrechtlicher Instrumente wird an den Beispielen der Anfechtung, §§ 119 ff. BGB, der culpa in contrahendo, § 311 Abs. 2 BGB, sowie der Generalklauseln der §§ 138, 242 BGB, untersucht. Hierbei zeigt sich, dass das BGB einen festen Platz im hybriden, weil zwischen unionalem und nationalem Privatrecht aufgeteilten, Materialisierungssystem einnimmt. Das sechste Kapitel zeigt auf, wie insbesondere der EuGH zunehmend auch das nationale Zivilprozessrecht als Materialisierungsinstrument in Anspruch nimmt. Im Lichte der Triebkräfte und Ziele dieser verfahrensrechtlichen Dimension der Materialisierung erschließen sich auch die Einwirkungen auf die Prozessstadien im Rahmen der deutschen ZPO: Vom Erkenntnis- über das Mahnverfahren ziehen sich Materialisierungstendenzen bis in das Zwangsvollstreckungsrecht. Soweit das heterogene und zuweilen inkohärente Unionsprivatrecht materiell in Einklang gebracht werden muss, um mit dem Privatrecht der Mitgliedstaaten das Fundament eines „gesamteuropäischen Privatrechts“ bilden zu können, 100 drängt sich die Frage nach dem verbindenden Element auf. Im Schuldvertragsrecht liegt die Vertragsfreiheit als Antwort nahe. Vor diesem Hintergrund führt das siebte Kapitel die bisherigen Erkenntnisse zusammen und untersucht, inwieweit die unionale Vertragsfreiheit als Kompass und 100 Vgl. Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 271 und 464 f.

28

Einleitung

Schranke des Privatrechts der EU und ihrer Mitgliedstaaten dienen kann. Dabei wirkt die rechtsgeschäftliche Privatautonomie zwar auf ihre Materialisierung hin. Zugleich gebietet und gestattet sie Interventionen aber nur, soweit diese Freiheit nicht schon durch den Vertrags- und Wettbewerbsmechanismus entfaltet werden kann. Hieraus ergeben sich zum einen Konturen und Grenzen eines abgestuften Materialisierungssystems in der Unionsrechtsordnung. Zum anderen zieht die unionale Vertragsfreiheit in ihrem Wirkbereich allen freiheitsverkürzenden Privatrechtsnormen, etwa im Kontext der Inhaltskontrolle, Grenzen. Dadurch steckt die unionale Vertragsfreiheit dem Privatrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten insgesamt einen äußeren Rahmen. Zwölf Thesen zur Vertragsfreiheit im Binnenmarkt Im Anschluss an die Zusammenfassung der zentralen Ergebnisse in Thesenform gibt diese Abhandlung einen kurzen Ausblick auf die künftige Bedeutung der Vertragsfreiheit und ihrer Materialisierung im Binnenmarkt.

Erster Teil

Grundlegung der Vertragsfreiheit im Unionsrecht Die Existenz einer unionsrechtlichen Verbürgung der Vertragsfreiheit wird oft stillschweigend vorausgesetzt.1 Die Frage nach der Anbindung, Konzeption und Ausgestaltung dieser Freiheit im Unionsrecht ist dagegen nur vereinzelt gestellt worden.2 Im ersten Teil der Abhandlung werden zunächst die Ausgangsbedingungen und die Legitimation der Vertragsfreiheit im Binnenmarkt untersucht. Auf dieser Grundlage kann die rechtsgeschäftliche Privatautonomie sodann in der Rechtsordnung der Union verortet werden.

1 Deutlich stellt etwa W.-H. Roth, FS Medicus (2009), S. 393, 422 heraus: „Privatautonomie ist auf Ebene des Gemeinschaftsrechts angesiedelt“. Siehe mit Blick auf die Vertragsfreiheit bereits Rösler, Europäisches Konsumentenvertragsrecht (2004), S. 2: „[D]ie europäische Rechtsordnung […] setz[t] sie implizit voraus“ (Herv. im Original). 2 So insbesondere von Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85 ff.

Kapitel 1

Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

Das Recht der Europäischen Union schöpft in vielerlei Hinsicht aus den gemeinsamen Rechtstraditionen ihrer Mitgliedstaaten: Gerade bei der Herausbildung von Unionsgrundrechten und allgemeinen Rechtsgrundsätzen baut die EU jeweils entscheidend auf die verbindenden Elemente der nationalen Rechte.1 So nimmt es kaum Wunder, dass sich auch die Entwicklung, Verbürgung und Ausgestaltung der Vertragsfreiheit in der Rechtsordnung der Europäischen Union nur vor dem Hintergrund der Ideengeschichte dieser Freiheit erschließt (§ 1). Diese erste Annäherung zeigt, dass zugunsten der umfassenden Gewährleistung der Vertragsfreiheit sowohl eine ökonomische als auch eine individualrechtliche Triebfeder wirkt. Diese Antriebskräfte durchziehen auch das Unionsrecht: So steht zum einen die Wirtschaftsverfassung der EU in einer intensiven Wechselbeziehung mit der Vertragsfreiheit (§ 2). Eine entscheidende Determinante ist zum anderen die dem Unionsrechtsordnung zugrunde liegende Konzeption der individuellen Selbstbestimmung durch das Instrument des Vertrags (§ 3).

§ 1 Ideengeschichte der Vertragsfreiheit und Entwicklung des Unionsrechts § 1 Ideengeschichte der Vertragsfreiheit und Entwicklung des Unionsrechts

Die Vertragsfreiheit zählt zum „gemeinsamen rechtskulturellen Erbe der westlichen Welt“ und zum Kern der Vertragsrechtsordnungen aller Mitgliedstaaten der Europäischen Union.2 Doch wie ist der Siegeszug der Vertragsfreiheit zu erklären und wie tief reichen ihre ideengeschichtlichen Wurzeln? Der hier angestrebten abrissartigen Untersuchung der Ideengeschichte ist ein Verweis auf einige Diskontinuitäten vorauszuschicken. Vgl. nur die ausdrückliche Anlehnung an die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in Art. 6 Abs. 3 EUV sowie in Art. 340 Abs. 2 AEUV. Siehe hierzu noch auführlich unten Kapitel 2 § 2. 2 Bruns, JZ 2007, 385, 386. Gleichsinnig z. B. Kleinschmidt, Delegation von Privatautonomie auf Dritte (2014), S. 20. Siehe aus rechtsvergleichender Perspektive eingehend unten Kapitel 2 § 2 B II. 1

32

Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

So ist bereits der Terminus „Vertragsfreiheit“ eine relativ neue Erscheinung in der Rechtssprache: Bezugnahmen auf die „liberté contractuelle“ finden sich in Frankreich etwa dreißig Jahre vor Inkrafttreten des Code civil,3 während der Begriff „Vertragsfreiheit“ erst im 19. Jahrhundert in der deutsche Fachsprache nachweisbar ist.4 Vor allem aber kann die Vertragsfreiheit über viele Jahrhunderte hinweg kaum als umfassende Gewährleistung im Sinne eines allgegenwärtigen Rechtsprinzips charakterisiert werden: Zum einen verharrte das Vertragsrecht lange im Korsett der Form- und Typenzwänge römisch-rechtlicher Prägung.5 Zum anderen konnten die Facetten der Vertragsfreiheit gerade in den feudalistisch organisierten Gesellschaften des Mittelalters allenfalls im nicht-agrarischen Bereich aufscheinen, wo der Leistungsaustausch nicht vollständig durch Statusverhältnisse geregelt war.6 Hinzu kommt schließlich, dass selbst der Bezugspunkt der Vertragsfreiheit im Laufe der historischen Entwicklung keineswegs einheitlich war.7 Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden zunächst von einem weiten Verständnis der Vertragsfreiheit ausgegangen, um in einem prinzipiellen Zusammenhang aufzeigen zu können, dass zugunsten dieser Freiheit zwei Antriebe bis in die heutige Zeit hinein wirken: Erstens verlangten die praktischen Bedürfnisse des Güteraustauschs und des Wirtschaftsverkehrs frühzeitig nach 3 Vgl. insbesondere zum Décret d’Allarde sowie der loi Le Chapelier nur Schmoeckel, Rechtsgeschichte der Wirtschaft (2008), S. 245 sowie 125 f. und 151; Kaiser, Zum Verhältnis von Vertragsfreiheit und Gesellschaftsordnung während des 19. Jahrhunderts (1972), S. 93 ff. Vgl. auch Ranouil, L’autonomie de la volonté (1980), S. 41 ff. und 84 ff. 4 Köbler, Werden, Wandel und Wesen des deutschen Privatrechtswortschatzes (2010), S. 197 m. w. N. 5 HKK / Rückert (2003), Vor § 1 BGB Rn. 69 f. verweist zudem darauf, dass bis etwa zum Jahr 1800 mit durchgehenden Rechtsprinzipien, wie der Vertragsfreiheit, nicht gerechnet werden könne, weil es bereits an der Konstituierung des Privatrechts als einheitlichem Rechtsgebiet fehle. Ähnlich Decock, Theologians and Contract Law (2013), 108 (no „universal principle of ‘freedom of contract’“). Weitergehend indes Di Fabio, Die Kultur der Freiheit (2005), S. 85: „[A]ls Rechtsinstitution ist die Vertragsfreiheit keine Erfindung des bürgerlichen Zeitalters, aber seine zur Vollendung getriebene Errungenschaft“. Vgl. auch die Analyse von Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), S. 413 ff.: „Der heute normale Zustand weitgehender ‚Vertragsfreiheit‘ hat keineswegs immer bestanden. Und soweit Vertragsfreiheit bestand, hat sie sich keineswegs immer auf dem Gebiet entwickelt, welches sie heute vornehmlich beherrscht“. 6 Z. B. Kaiser, Zum Verhältnis von Vertragsfreiheit und Gesellschaftsordnung während des 19. Jahrhunderts (1972), S. 27; Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang (1999), S. 47; Kötz, Europäisches Vertragsrecht (2015), S. 7 ff. 7 Beispielsweise führten die Kanonisten die vertragliche Bindung auf einseitige Versprechen zurück, so dass diese Freiheit wohl präziser als „Versprechensfreiheit“ zu fassen wäre, vgl. zur Entwicklung des Konsensualvertrags Gordley, The Philosophical Origins of Modern Contract Doctrine (1991), S. 71 ff. und 79 ff.; Simpson, A History of the Common Law of Contract (1975), S. 465 ff.; Decock, Theologians and Contract Law (2013), S. 107 ff.

§ 1 Ideengeschichte der Vertragsfreiheit und Entwicklung des Unionsrechts

33

möglichst weitreichender Vertragsfreiheit. Zweitens wurde die Autonomie des Individuums, einschließlich dessen Freiheit zur rechtsgeschäftlichen Selbstbestimmung und -bindung, zunehmend anerkannt.8 Die vorliegende Abhandlung skizziert zunächst das Aufkommen und das Zusammenspiel dieser beiden Kräfte vom römischen Recht bis in das 18. Jahrhundert (A). Während die Vertragsfreiheit Mitte des 19. Jahrhunderts noch als Motor der Bewegung „from status to contract“ begrüßt wurde,9 mehrten sich wenig später Stimmen, die eine Verabsolutierung der Vertragsfreiheit beklagten (B). Auf dieser Grundlage entstanden Gegenströmungen, deren Kritik an ungezügelter Vertragsfreiheit bis heute nachhallt. Erst in der Zusammenschau dieser Trieb- und Gegenkräfte der Vertragsfreiheit wird das Fundament erkennbar, welches das Unionsrecht in seiner Geburtsstunde vorfand und auf dem es sich – unter dem Einfluss der unterschiedlichen Strömungen – beständig fortentwickelt (C). A. Triebkräfte vom römischen Recht bis in das 18. Jahrhundert Unter dem Eindruck praktischer und insbesondere wirtschaftlicher Bedürfnisse gewinnt die Vertragsfreiheit bereits im römischen Recht zunehmend an Bedeutung (I). Dies manifestiert sich namentlich in der graduellen Lockerung der Typenzwänge sowie der partiellen Abkehr von vertragskonstitutiven Formanforderungen. Entscheidend vorangetrieben wird diese Entwicklung indes erst im kanonischen Recht (II). Zentrale Facetten dessen, was heute als Vertragsfreiheit bezeichnet wird – und insbesondere die Inhalts-, Form-, Typenfreiheit –10 konnten sich erst voll entfalten, nachdem im Gefolge der Naturrechtslehre sowie der Aufklärung und der klassischen Ökonomie (III) der übereinstimmende Parteiwille als Begründungsquelle des konsensualen Vertrags identifiziert wurde. I.

Römisches Recht

Der Weg zur primär willensgetragenen und sodann konsensualen Konzeption des Vertrags war lang und nahm seinen Anfang bereits im römischen Recht. 11 Das klassische römische Recht engte die rechtsgeschäftliche Gestaltungsfreiheit freilich noch durch konstitutive Formalia und Typenzwänge ein: Zumeist bildete nicht der Parteiwille allein, sondern zuvörderst die Vornahme rechtsFreilich ist eine primär individualistische Konzeption, welche den menschlichen Willen zum Maß aller Dinge und damit auch zur Legitimation der Vertragsfreiheit erklärt, ein vergleichsweise junges Phänomen, siehe dazu unten A III. 9 Maine, Ancient Law (1861), S. 170: „[T]he movement of the progressive societies has hitherto been a movement from Status to Contract“ (Herv. im Original). 10 Siehe zu den einzelnen Facetten der unionalen Vertragsfreiheit noch eingehend unten Kapitel 2 § 1 B I. 11 Zimmermann, The Law of Obligations (1996), S. 537 ff.; Decock, Theologians and Contract Law (2013), S. 107 ff. 8

34

Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

begründender Formalakte – wie etwa der stipulatio – das Fundament, auf dem die vertragliche Obligation entstand.12 Hier bricht sich noch ein archaischer Glaube an die magische Bindungswirkung von feierlichen Formeln und Formzwängen Bahn.13 Eine formlose Übereinkunft der Parteien genügte hingegen nur bei bestimmten, abschließend vorgegebenen Vertragstypen.14 Entsprechend blieben Obligationen, welche diese Abschlussform- und Typenanforderungen nicht wahrten, undurchsetzbar: ex nudo pacto non oritur actio.15 In dem so gesteckten Rahmen genossen freigeborene, nicht in ihrer Geschäftsfähigkeit beschränkte Personen zwar durchaus die Freiheit, über den Abschluss eines Vertrags sowie die Wahl des Vertragspartners zu entscheiden.16 Die inhaltliche Gestaltungsfreiheit wurde hingegen dadurch relativiert, dass nur aus Vereinbarungen geklagt werden konnte, welche den erwähnten Form- und Typenzwängen genügten.17 Die entscheidende Frage lautete insofern, ob von den Parteien nach ihren individuellen Bedürfnissen gestaltete, jedoch von den überkommenen Typen auch nur minimal abweichende Vereinbarungen in die vorgegebenen Kategorien gezwängt werden konnten.18 In der weiteren Entwicklung des römischen Rechts lassen sich jedoch Tendenzen zur Lockerung der Formstrenge und zur umfassenderen Anerkennung privatautonomer Vertragsgestaltungen beobachten. Auf der einen Seite stand dabei die Tendenz zur „Subjektivierung“, im Zuge derer der individuelle Wille der Vertragsschließenden stärker in den Fokus rückte.19 Zudem bildete sich unter dem Eindruck der alltäglichen Erfordernisse des Rechtsverkehrs 12 Zum Ganzen statt vieler Kaser, Das römische Privatrecht I (1971), S. 477 und 484; HKK / Thier (2007), § 311 I BGB Rn. 4 ff.; M.-P. Weller, Die Vertragstreue (2009), S. 70 f. 13 Zimmermann, The Law of Obligations (1996), S. 82; Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit (2000), S. 16; v. Mehren, Formal Requirements, Int. Enc. Comp. L. VII/1 (2008), Ch. 10, S. 6. 14 Statt aller Zimmermann, The Law of Obligations (1996), S. 508. 15 Vgl. D. 2.14.7.4. Zum Ganzen statt vieler Zimmermann, Law of Obligations (1996), S. 508; HKK / Thier (2007), § 311 I BGB Rn. 10. 16 Eingehend Scherrer, Die geschichtliche Entwicklung des Prinzips der Vertragsfreiheit (1948), S. 9 f.; Kaser, Das römische Privatrecht I (1971), S. 477; Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit (2000), S. 16 ff. Dagegen meint Meyer-Cording, Die Rechtsnormen (1971), S. 12 f. pauschal, es „fehlte die erwünschte Vertragsfreiheit hinsichtlich Inhalt, Abschluß, Partnerwahl“. 17 Kaser, Das römische Privatrecht I (1971), S. 477: „Eine Vertragsfreiheit kennt das klassische Schuldrecht zwar als Freiheit sowohl des Abschlusses wie der Inhaltsbestimmung der Verträge (im Rahmen der einzelnen Typen), aber nicht als Freiheit der Parteien in der Schöpfung neuer Vertragstypen“. 18 Zimmermann, Law of Obligations (1996), S. 530. 19 Statt vieler Zimmermann, The Law of Obligations (1996), S. 564; Kegel, GS Lüderitz (2000), S. 347, 351; M.-P. Weller, Die Vertragstreue (2009), S. 72. Beispielsweise konnte der Parteiwille über den formelhaft vorgegebenen Inhalt einer stipulatio hinaus Beachtung finden, indem eigentlich undurchsetzbare, weil formunwirksame pacta herangezogen wurden, Zimmermann, The Law of Obligations (1996), S. 510 f.

§ 1 Ideengeschichte der Vertragsfreiheit und Entwicklung des Unionsrechts

35

allmählich eine immer größere Variationsbreite formloser Vereinbarungen heraus, die rechtliche Anerkennung fanden.20 Auf der anderen Seite waren die Bedürfnisse eines intensivierten Handelsverkehrs und die Herausbildung des ius gentium ein weiterer bedeutender Antrieb des „Zug[s] zur Formfreiheit“ und somit zu mehr rechtsgeschäftlicher Autonomie.21 Da das ius gentium auch bestimmte vertragliche Vereinbarungen erfasste,22 konnte das attraktive Konzept des formfreien Vertrags von hier aus auf andere Bereiche einstrahlen.23 Wo praktische und insbesondere wirtschaftliche Erfordernisse drängten, wurden die Formzwänge und das Typenkorsett somit zumindest partiell aufgelockert. Freilich lebten die einer umfassenden Anerkennung privater rechtsgeschäftlicher Autonomie hinderlichen Formalismen wie auch die Vertragstypenlehre und das Aktionensystem des römischen Rechts über das Corpus Iuris Civilis noch bis in die frühe Neuzeit fort.24 Dessen ungeachtet deutet sich aber schon in der Entwicklung des römischen Rechts an, dass gerade ein solch „hochentwickeltes Verkehrsrecht“ der vertraglichen Selbstbestimmungsfreiheit der Parteien nicht auf Dauer allzu enge Fesseln anlegen kann.25 II. Römisch-kanonisches Recht Die Entwicklung weg vom römisch-rechtlichen Typenzwang hin zur grundsätzlichen Klagbarkeit und Verbindlichkeit aller Verträge ging vom kanonischen Recht aus.26 Zur Begründung wurde nicht zuletzt auf das biblische 20 Dazu im Einzelnen Zimmermann, The Law of Obligations (1996), S. 508 ff. und insbesondere 537; HKK / Thier (2007), § 311 I BGB Rn. 8 ff. 21 Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit (2000), S. 15 f. Vgl. zu einer – freilich späteren – Lesart des römischen Rechts auch Gordley, Contract in Pre-Commercial Societies and in Western History, Int. Enc. Comp. L. VII/1 (2008), Ch. 2, S. 15: „[C]onsent to any contract creates an obligation under the ius gentium although not one the civil law would enforce“. 22 Vgl. nur D. 1.1.5: „Ex hoc iure gentium introducta […] commercium, emptiones venditiones, locationes conductiones, obligationes institutae: exceptis quibusdam quae iure civili introductae sunt“. 23 Nach Baldus, in: Andrés Santos / Baldus / Dedek (Hrsg.), Vertragstypen in Europa (2011), S. 39 gründet auch das heutige Vertragsverständnis nicht zuletzt darin, dass „schon die römische Klassik den formfreien konsensualen Vertrag aus dem ius gentium der Republik übernommen und ausgebaut hat“. Siehe zur Förderung der Vertragsfreiheit „in Rom durch die allmähliche Internationalisierung des Rechts“ bereits Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), S. 423. 24 Nanz, Die Entstehung des Vertragsbegriffs im 16. bis 18. Jahrhundert (1985), S. 12 und 41; M.-P. Weller, Die Vertragstreue (2009), S. 72. 25 In diesem Sinne auch Scherrer, Die geschichtliche Entwicklung des Prinzips der Vertragsfreiheit (1948), S. 16; Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit (2000), S. 16. 26 Scherrer, Die geschichtliche Entwicklung des Prinzips der Vertragsfreiheit (1948), S. 26 ff. Siehe auch Zimmermann, The Law of Obligations (1996), S. 580 f.: „at the bottom

36

Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

Gebot verwiesen, dass man zu seinem Wort und damit auch seiner Vertragserklärung zu stehen habe: „Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein“.27 Unter Verweis auf das Verbot der Lüge forderte bereits Thomas von Aquin, dass Versprochenes grundsätzlich zu halten sei.28 Das kanonische Recht legte hierdurch das Fundament für die umfassende Anerkennung der Vertragsfreiheit.29 Da kanonische Gerichte ihre Zuständigkeit auf weltliche Geschäfte ausdehnten, konnte die weitreichende Gewährleistung der Vertragsinhaltsfreiheit auch für Vereinbarungen im Handelsverkehr in Anspruch genommen werden.30 In der Folgezeit sickerte die von der kanonischen Lehre geprägte Idee der grundsätzlichen Verbindlichkeit aller Verträge in das weltliche Recht ein.31 Neben den praktischen Bedürfnissen des kaufmännischen Verkehrs wird teilweise auch der Herausbildung einer „international lex Mercatoria […] considerable importance in this respect“ zugeschrieben.32 Bereits die Postglossatoren betonten, dass die fehlende Beachtung von Formalitäten im Handelsverkehr nicht die Durchsetzbarkeit eines nudum pactum hindere.33 of […] the principle that all pacts are actionable […] there lies the specific significance attributed by canon lawyers and moral theologians alike to the human will“. Siehe darüber hinaus zur besonderen Bedeutung der Spätscholastiker jüngst Decock, Theologians and Contract Law (2013). 27 Matthäus 5:37 (Lutherbibel 1912). Vgl. zudem Jakobus 5:12 (Lutherbibel 1912): „Es sei aber euer Wort: Ja, das Ja ist; und: Nein, das Nein ist“. Diese Passage aus der Bergpredigt bezieht sich auf das Eidesverbot. Aus Letzterem wurde geschlussfolgert, dass bereits das nicht-eidlich bekräftigte Wort verbindlich und damit einzuhalten sei, siehe nur Zimmermann, The Law of Obligations (1996), S. 542. 28 Vgl. z. B. v. Aquin, Summa Theologica, IIª–IIae q. 110 a. 3 arg. 5: „Praeterea, mendacium est si quis non impleat quod promisit“. Siehe auch Decock, Theologians and Contract Law (2013), S. 123 f. 29 Der Ausgangspunkt der Kanonisten war freilich nicht die konsensuale Vertragsbegründung, sondern vielmehr der Austausch einseitiger Versprechen (promissio), welche die jeweils versprechende Vertragspartei gegenüber der anderen bindet, siehe nur Kegel, GS Lüderitz (2000), S. 347, 354 f.; Landau, FS Nörr (2003), S. 457, 460; Zimmermann, FS Heldrich (2005), S. 467, 468. 30 Scherrer, Die geschichtliche Entwicklung des Prinzips der Vertragsfreiheit (1948), S. 21; Zimmermann, The Law of Obligations (1996), S. 542. 31 Scherrer, Die geschichtliche Entwicklung des Prinzips der Vertragsfreiheit (1948), S. 21; Gordley, Contract in Pre-Commercial Societies and in Western History, Int. Enc. Comp. L. VII/1 (2008), Ch. 2, S. 12. Vgl. auch das Resümee von Zimmermann, The Law of Obligations (1996), S. 540: „Already by the end of the Middle Ages, every informal agreement had, for practical purposes, become legally binding“ (Herv. im Original). 32 Zimmermann, The Law of Obligations (1996), S. 540. Auch Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), S. 423 nennt in diesem Kontext die „Internationalisierung“ und die „Handelsbedürfnisse“ als Antriebskräfte. Zurückhaltender mit Blick auf das „Geschichtsbild“ einer einheitlichen lex mercatoria hingegen z. B. Scherner, ZRG GA 118 (2001), 148 ff.; Cordes, ZRG GA 118 (2001), 168 ff. 33 Dazu eingehend statt vieler Zimmermann, The Law of Obligations (1996), S. 540; Landau, FS Nörr (2003), S. 457, 471 f.

§ 1 Ideengeschichte der Vertragsfreiheit und Entwicklung des Unionsrechts

37

Und im Jahr 1607 stellt Antoine Loysel mit Blick auf die zu dieser Zeit in Frankreich vorherrschenden coutumes prägnant heraus: „On lie les bœufs par les cornes, et les hommes par les paroles; et autant vaut une simple promesse ou convenance, que les stipulations du droit romain.“34

Diese Entwicklung war keineswegs auf die kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen beschränkt: Auch das common law erkannte formlosen Verträgen grundsätzlich Bindungswirkung zu.35 III. Von Naturrechtslehre und Aufklärung bis zur klassischen Ökonomie Den Siegeszug der Vertragsfreiheit trieben die Naturrechtslehre und die Ideen der Aufklärung entscheidend voran, weil sie die Grundlagen für eine individualistische, vom Menschen her gedachte Rechtfertigung dieser Freiheit lieferten. Weitreichende Privatautonomie im Vertragsrecht postulierte bereits Hugo Grotius, der den individuellen Willen des Versprechenden in den Mittelpunkt rückte und sich damit gegen den Formalismus des römischen Rechts stellte.36 Als Ausdruck der naturgegebenen Autonomie des Menschen erscheint die Freiheit, Verträge zu schließen, auch in den Werken Samuel Pufendorfs,37 Christian Thomasius’ 38 und Christian Wolffs.39 Hier werden erstmals die einzelnen zentralen Facetten der Vertragsfreiheit deutlich: So postuliert Pufendorf weitreichende Abschluss- sowie Inhaltsfreiheit und auch das Wolff’sche Vertragsverständnis baut auf die Autonomie der Parteien, in freier Selbstbestimmung Verträge auszugestalten.40 Die Naturrechtslehre ebnet damit den Weg für eine umfassende Anerkennung der Vertragsfreiheit und des Vertrags als Instrumente menschlicher Selbstbestimmung.

34 Loysel, Institutes coutumières I (1607, 1846), S. 359. Siehe zu den im Beweisrecht wurzelnden Einschränkungen der Formfreiheit Scherrer, Die geschichtliche Entwicklung des Prinzips der Vertragsfreiheit (1948), S. 23 f. 35 Vgl. nur Winter v. Foweracres (1618) 2 Rolle Rep. 19, 39: „A contract by parole on good consideration is as binding [fort] as a covenant by deed“ (zitiert nach Simpson, A History of the Common Law of Contract (1975), S. 468). Siehe auch Ibbetson, A Historical Introduction to the Law of Obligations (1999), S. 74 ff. 36 Vgl. etwa Grotius, De iure belli ac pacis (1625, 1919), Lib. II Cap. XI § 4, 3 (S. 255): „Possunt autem naturaliter deliberati animi alia esse signa praeter stipulationem, aut si quid ei simile ad actionem pariendam lex civilis postulat“. Eingehend zur Autonomieprämisse Grotius’ z. B. Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit (2000), S. 27 ff. Siehe ferner nur Pound, Yale L. J. 18 (1909), 454, 455. 37 Zu nennen ist insbesondere De Iure Naturae et Gentium Libri Octo (1672). 38 Siehe vor allem Institutiones Iurisprudentiae Divinae (1688). 39 Siehe insbesondere Institutiones juris naturae et gentium (1750). 40 Siehe nur Nanz, Die Entstehung des Vertragsbegriffs im 16. bis 18. Jahrhundert (1985), S. 151 f. und 169; Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit (2000), S. 30 f.; Stoffels, Gesetzlich nicht geregelte Schuldverträge (2001), S. 59 und 61, jeweils m. w. N.

38

Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

Im siècle des lumières erhielt die Vertragsfreiheit dabei weiteren Auftrieb durch die auf Grotius und Jean-Jacques Rousseau41 zurückgehende Vorstellung, dass der Staat und seine Rechtsordnung ihrerseits auf einem „Gesellschaftsvertrag“ beruhen. Damit gewann damit die Idee an Überzeugungskraft, dass sich der vernunftbegabte Mensch auch auf anderen Ebenen nach seinem Belieben durch Verträge binden können muss. Die Vertragsfreiheit geriet damit zum universellen „Hebel dieser Welt“, der sowohl die Ordnung von Staat und Gesellschaft als auch die individuelle Persönlichkeitsentfaltung ermöglicht.42 Weil ein Vertrag – der kantischen Terminologie folgend – seinem Wesen nach ein „Act der vereinigten Willkür“ ist, muss allerdings immer „die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit“ in Ausgleich gebracht werden.43 Die individualistische Sicht auf die Freiheit, Verträge einzugehen, bereitete zugleich den Boden für die Willenstheorie, derzufolge der Vertragsschluss die Übereinstimmung des tatsächlichen subjektiven Willens im Sinne eines consensus ad idem oder „meeting of the minds“ erfordert.44 Damit war der Grundstein für das moderne Verständnis des konsensualen Vertrags gelegt,45 und fortan konnte ebendiese Willensübereinkunft der Parteien den Bezugspunkt der Vertragsfreiheit bilden. Schließlich stellte die klassische Ökonomie dieser individualistischen Legitimation alsbald eine (gesamt)wirtschaftliche Rechtfertigung der Vertragsfreiheit zur Seite. In „Wealth of Nations“ begründete Adam Smith, dass die allgemeine Wohlfahrt gesteigert wird, wenn die Marktakteure ihre jeweiligen wirtschaftlichen Eigeninteressen frei verfolgen.46 Das Wirken dieser „unsichtbaren Hand“ setzt die Freiheit zum konsensualen, rechtsgeschäftlichen Rousseau, Du Contrat Social (1762, 1963). Vgl. Meyer-Cording, Die Rechtsnormen (1971), S. 13 f.: Der Vertrag wurde „zum juristischen Universalwerkzeug“. 43 Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797, 1907), AA VI, S. 230 und 271. 44 Statt vieler Ranouil, L’autonomie de la volonté (1980), S. 10 und 84 ff.; Whittaker, ERCL 7 (2011), 371, 373 f.; M.-P. Weller, GS Hübner (2012), S. 435 ff. Obschon heute im Interesse des Verkehrsschutzes auch objektive Elemente – in Deutschland etwa im Rahmen der „Erklärungstheorie“ – berücksichtigt werden, bedeutet dies in der Sache keine Abkehr von der Konstruktion des Geltungsgrundes des Vertrags: Der übereinstimmende Wille der Vertragsparteien bildet nach wie vor das Fundament des vertraglichen Bandes, statt aller Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung (1996), S. 316. 45 Der Weg hin zu einer konsensualen Vertragskonzeption wurde freilich schon früher gebnet: So findet sich das Erfordernis einer Annahmeerklärung z. B. bereits bei Wolff, dazu eingehend Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit (2000), S. 29 ff. und insbesondere 33. 46 Smith, Wealth of Nations I (1976, 2004), S. 456: „[E]very individual necessarily labours to render the annual revenue of the society as great as he can. He generally, indeed, neither intends to promote the public interest, nor knows how much he is promoting it. By […] directing that industry in such a manner as its produce may be of the greatest value, he 41 42

§ 1 Ideengeschichte der Vertragsfreiheit und Entwicklung des Unionsrechts

39

Austausch von Gütern und Dienstleistungen notwendig voraus. Vor diesem Hintergrund verteidigte Smith diese Freiheit gegenüber hoheitlicher Einflussnahme.47 Hinzu trat alsbald eine utilitaristische Begründung der Vertragsfreiheit: Beispielsweise sah Jeremy Bentham die umfassende rechtsgeschäftliche Autonomie als Instrument zur Maximierung individuellen Glücks in einer Welt knapper Ressourcen: „[N]o man of ripe years and of sound mind, acting freely, and with his eyes open, ought to be hindered, with a view to his advantage, from making such bargain, in the way of obtaining money, as he thinks fit: nor, (what is a necessary consequence) any body hindered from supplying him, upon any terms he thinks proper to accede to.“48

Diese Sichtweise prägte im 19. Jahrhundert ganz entscheidend die Haltung des common law zur Vertragsfreiheit,49 wie auch die berühmte – und nahezu wortlautgleiche – Stellungnahme von Lord Jessel, in Printing and Numerical Registering Co. v Sampson verdeutlicht.50 Kontinentaleuropäische Juristen rückten die ökonomischen Vorteile der Vertragsfreiheit ebenfalls frühzeitig in den Mittelpunkt: So betonte v. Tevenar bereits im Jahr 1801 die gesamtwirtschaftliche Notwendigkeit dieser Freiheit und plädierte dafür, Beschränkungen nur nach einer Abwägung der Vor- und Nachteile für die gesamte „gemein[e] Wohlfahrth“ zuzulassen.51 Ökonomische Argumentationsmuster klingen selbst in Dernburgs Pandektenlehrbuch an, intends only his own gain; and he is in this, as in many other cases, led by an invisible hand to promote an end which was no part of his intention“ (Herv. d. Verf.). 47 Smith, Wealth of Nations I (1976, 2004), S. 687 sowie S. 435: Nicht zuletzt mit Blick auf das „obvious and simple system of natural liberty“ besteht „perfect security that the freedom of trade, without any attention of government, will always supply us“ (Herv. d. Verf.). 48 Bentham, Defence of Usury: Letter I, January, 1787 (1816), S. 3 (Herv. im Original) führt dort ferner aus: „Among the various species or modifications of liberty, of which on different occasions we have heard so much in England, I do not recollect ever seeing any thing yet offered in behalf of the liberty of making one’s own terms in money-bargains. From so general and universal a neglect, it is an old notion of mine, as you well know, that this meek and unassuming species of liberty has been suffering much injustice“. Siehe zur utilitaristischen Legitimation der Vertragsfreiheit statt vieler Kötz, Europäisches Vertragsrecht (2015), S. 10. 49 Vgl. nur Pound, Yale L. J. 18 (1909), 454, 456; Atiyah, The Rise and Fall of Freedom of Contract (1985), S. 221 und 299; Trebilcock, The Limits of Freedom of Contract (1993), S. 21 sowie 241; Cheshire, Fifoot & Furmston’s Law of Contract (2012), S. 22 f.; Halsbury’s Laws (2012) Vol. 22 Rn. 202. 50 Vgl. Printing and Numerical Registering Co. v Sampson (1875) LR 19 Eq 462, 465 (Lord Jessel): „[M]en of full age and competent understanding shall have the utmost liberty in contracting, and […] their contracts, when entered freely and voluntarily, shall be held sacred and shall be enforced by the Courts of justice“. 51 v. Tevenar, Versuch über die Rechtsgelahrheit (1801), S. 20 und 46: „Das wahre Interesse des Staates wird mehr durch Industrie, und Freyheit in Geschäften, als durch viele Einschränkungen der Privatangelegenheiten befördert […]. Die Freyheit der Handlung,

40

Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

wenn dort die Wirkmacht der Vertragsfreiheit im Wirtschaftsverkehr beschrieben wird: „Indem sie jedem gestattet, das eigene Interesse rücksichtslos zu wahren, spornt sie die Kräfte und fördert sie die Entwicklung des Verkehrs“.52

B. Verabsolutierung und Kritik im 19. und 20. Jahrhundert Im 19. Jahrhundert erkannte Sir Henry Maine in der Vertragsfreiheit nicht nur die Vorbedingung individueller und wirtschaftlicher Entfaltung, sondern zugleich den Antrieb des gesamtgesellschaftlichen Fortschritts „from status to contract“.53 Vor diesem Hintergrund nimmt es kaum Wunder, dass das Motiv der Verabsolutierung dieser „modernen“ Freiheit sowohl in den kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen54 als auch im common law55 gängig wurde. Grenzenlose rechtsgeschäftliche Privatautonomie gab es freilich auch im 19. Jahrhundert weder in Deutschland noch in Frankreich oder im Vereinigten Königreich.56 Wenn diese Zeit zuweilen zu einem Hort der – je nach Standpunkt entweder unverfälschten oder aber ungezügelten – Vertragsfreiund die Befugniß dadurch Rechte und Verbindlichkeiten zuwege zu bringen, muß durch Gesetze nur in dem Fall eingeschränkt werden, wenn solche der gemeinen Wohlfahrth, oder, nach einem Durchschnitt genommen, der handelnden Person schädlich ist; solchemnach der Nachtheil, welcher daher entsteht, daß aus diesen Handlungen Gerechtsame und Verbindlichkeiten verstattet werden, den Vortheil überwiegt, wenn es bey der natürlichen Form und Freyheit der Handlung gelassen wird “ (Herv. d. Verf.). 52 Dernburg, Pandekten (1903), S. 48. 53 Maine, Ancient Law (1861), S. 170. Gleichsinnig sodann z. B. Sidgwick, The Elements of Politics (1891), S. 82: „Suppose contracts freely made and effectively sanctioned, and the most elaborate social organisation becomes possible“. Aufgrund ihres engen Bezuges zur allgemeinen Selbstbestimmungsfreiheit forderten liberale Vordenker, wie Mill, On Liberty (1859), S. 183 f. darüber hinaus, dass die Vertragsfreiheit schon um ihrer selbst willen gewährleistet werden müsse: „[T]he liberty of the individual, in things wherein the individual is alone concerned, implies a corresponding liberty in any number of individuals to regulate by mutual agreement such things as regard them jointly“ (Herv. d. Verf.). Prägnant formuliert Pound, Yale L. J. 18 (1909), 454, 457 hinsichtlich der Grundhaltung Mills und seiner Mitstreiter zur Vertragsfreiheit: „They adopted it as a means, and made it an end“. 54 So meint mit Blick auf das deutsche Privatrecht etwa Dernburg, Pandekten (1903), S. 49: „In der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts suchte man die Vertragsfreiheit absolut durchzuführen“. Ähnliche Stellungnahmen finden sich auch mit Blick auf das französische Privatrecht, siehe statt aller Flour / Aubert / Savaux, Les Obligations 1: L’acte juridique (2010), Rn. 69 und 98. 55 Halsbury’s Laws (2012) Vol. 22 Rn. 202: „In the nineteenth century, […] two ideas led the common law to the view that there should be almost complete freedom and sanctity of contract“. Gleichsinnig etwa Wilson, RabelsZ 28 (1964), 644. Auch Lord Mance spricht in PST Energy 7 Shipping LLC & Anor v OW Bunker Malta Ltd & Anor [2016] UKSC 23 in diesem Zusammenhang von einer „era when freedom of contract and trade were axiomatically accepted as beneficial“.

§ 1 Ideengeschichte der Vertragsfreiheit und Entwicklung des Unionsrechts

41

heit stilisiert wird, so spiegelt dies eher eine verbreitete Wahrnehmung denn die Rechtswirklichkeit wider. Dennoch genoss die rechtsgeschäftliche Privatautonomie vergleichsweise große Freiräume (I). In der Folge mehrten sich indes Stimmen, die auf die Gefahren ungehemmter Vertragsfreiheit hinwiesen: Zum einen drohten ausgerechnet privatautonom geschaffene Kartelle die Grundlagen dieser Freiheit selbst zu zerstören (II). Zum anderen wurde eine Einhegung der Vertragsfreiheit frühzeitig unter Verweis auf die oftmals sehr unterschiedlichen Ausgangsbedingungen der Vertragsparteien gefordert. Hier kündigte sich eine Gegenbewegung an, die insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an Momentum gewinnen sollte (III). Diese plakativ als Aufstieg und Fall der Vertragsfreiheit57 umschriebene Entwicklung lässt sich dabei sowohl im common-law- als auch im civil-law-Rechtskreis nachvollziehen und führt zur Ausgangslage, die das Unionsprivatrecht zur Stunde seiner Geburt vorfand. I.

Vertragsfreiheit auf dem Scheitelpunkt?

Detaillierte und umfassende Begrenzungen der Vertragsfreiheit sucht man in den ursprünglichen Fassungen der „großen“ Zivilgesetzbücher vergebens. Sowohl das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch als auch der französische Code Prägnant bemerkte schon Byles, Observations on Usury Laws (1845), S. 73: „[T]he laws of all nations frequently recognise the claims of the weaker party to extraordinary legislative protection“. Gleichsinnig Epstein, in: Buckley (ed.), The Fall and Rise of Freedom of Contract (1999), S. 25, 58 f., der unter anderem darauf verweist, dass selbst in der oft als Beispiel – vermeintlich – uferloser Vertragsfreiheit angeführten Leitentscheidung Printing and Numerical Registering Co. v Sampson (1875) LR 19 Eq 462, 465 (Lord Jessel) sehr wohl auf die Grenzen dieser Freiheit hingewiesen wird. Die bereits von Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), S. 413, eingenommene Sichtweise, dass die Vertragsfreiheit „in keiner Rechtsordnung eine schrankenlose“ sei, bestätigen mit Blick auf die Privatrechtsentwicklung im 19. Jahrhundert insbesondere die Abhandlungen von Repgen, Die soziale Aufgabe des Privatrechts (2001), S. 24 ff. sowie 519 ff.; Hofer, Freiheit ohne Grenzen? (2001), S. 1 ff.; Zimmermann, Current Leg. Prob. 58 (2005), 415, 419 ff.; Auer, Der privatrechtliche Diskurs der Moderne (2014), S. 4. Auch nachdem die Vertragsfreiheit in Deutschland im Jahr 1919 in Art. 152 Abs. 1 WRV verankert wurde, stellte das Reichsgericht heraus: „Danach hat also der Grundsatz der Vertragsfreiheit keine unantastbare Geltung; er wird vielmehr nur ‚nach Maßgabe der Gesetze‘ geschützt, so daß Einschränkungen, sofern sie durch ‚Gesetz‘ erfolgen zulässig sind“, RG Urt. v. 14.7.1924 – Az. III 634/24, RGSt 58, 269 f. Vgl. auch RG Urt. v. 14.7.1924 – Az. III 634/24, RGSt 58, 269, 270; RG Urt. v. 23.10.1923 – Az. IV 567/23, RGSt 57, 384. Siehe zum französischen Privatrecht schließlich nur Rouhette, in: Rabello / Sarcevic (eds.), Freedom of Contract and Constitutional Law (1998), S. 23, 31; Leveneur, AJDA 1998, 676 ff.; Bürge, Das französische Privatrecht im 19. Jahrhundert (1991), S. 413 ff. 57 So der Titel des Werkes von Atiyah, The Rise and Fall of Freedom of Contract (1979), der freilich den Aufstieg ebenso wie den vermeintlichen Fall der Vertragsfreiheit jeweils weiter zurückdatiert. 56

42

Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

civil nehmen das Ideal rechtlicher Gleichheit und Freiheit zum Ausgangspunkt und erheben die Vertragsfreiheit zum Leitmotiv des Schuldvertragsrechts. Zugleich existieren durchaus Instrumente zur Reaktion auf eine fehlerhafte Willensbildung, und es werden darüber hinaus, insbesondere im Fall von Gesetzesverstößen, keineswegs alle Vertragsergebnisse hingenommen. Sozialpolitisch motivierte Korrekturen blieben dagegen ursprünglich vor allem „helfendem und schützenden Spezialrecht […] und dem entsprechenden öffentlichen Recht“ überlassen.58 Dieser Privatrechtskonzeption liegt das Idealbild freier und im Wesentlichen gleicher Vertragsparteien zugrunde, die ihre jeweiligen Interessen im Zuge der Vertragsverhandlungen zu wahren vermögen und deren selbstbestimmte Entscheidung für den Vertragsschluss daher regelmäßig zu respektieren ist.59 Auch das englische common law des 19. Jahrhundert baute auf dieser Annahme auf, wie Lord Jessel in Printing and Numerical Registering Co. v Sampson prägnant herausstellte: „[M]en of full age and competent understanding shall have the utmost liberty in contracting, and […] their contracts, when entered freely and voluntarily, shall be held sacred and shall be enforced by the Courts of justice“.60

Insbesondere sah das englische common law die Vertragsfreiheit ebenfalls sowohl individualrechtlich als auch gerade ökonomisch legitimiert.61 Diese marktbezogene und an der individuellen Freiheit zur Selbstbindung orientierte Rechtfertigung62 wurde in den USA durch den Supreme Court um eine weitere Dimension ergänzt: Im ausgehenden 19. Jahrhundert begann der Supreme Court, die Vertragsfreiheit erstmals als verfassungsrechtliche Gewährleistung gegenüber Freiheitsbeschränkungen in gliedstaatlichen Gesetzen in Stellung zu bringen.63 Während dieser rund vierzig Jahre währenden Loch58 Rückert, JZ 2003, 749, 751 nennt in diesem Zusammenhang etwa das Abzahlungsgesetz v. 16. Mai 1894, RGBl. 1894, 450. Eingehend mit weiteren Beispielen Zimmermann, Current Leg. Prob. 58 (2005), 415, 422 ff. Vgl. auch schon v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts I (1840), S. 371, der Schutz gegen soziale Härten „nicht auf dem Boden des Privatrechts, sondern auf dem des öffentlichen Rechts“ gewährleisten wollte. 59 Eingehend statt aller HKK / Rückert (2003), Vor § 1 BGB Rn. 38 ff. m. w. N. 60 Printing and Numerical Registering Co. v Sampson (1875) LR 19 Eq 462, 465 (Herv. d. Verf.). Wie bereits angemerkt, befindet sich Lord Jessel damit auf einer gedanklichen Linie mit Bentham, Defence of Usury: Letter I, January, 1787 (1816), S. 3: „[N]o man of ripe years and of sound mind, acting freely, and with his eyes open, ought to be hindered, with a view to his advantage, from making such bargain, in the way of obtaining money, as he thinks fit: nor, (what is a necessary consequence) any body hindered from supplying him, upon any terms he thinks proper to accede to.“ (Herv. im Original). Vgl. auch zuvor schon Byles, Observations on Usury Laws (1845), S. 54 ff. 61 Siehe nur Halsbury’s Laws (2012) Vol. 22 Rn. 202. 62 Vgl. zur individual-rechtlichen Begründung der Vertragsfreiheit nur die Ausführungen von Supreme Court Justice Thompson in Ogden v Saunders, 25 U.S. 213, 222 (1827). 63 Den Ausgangspunkt bildete die Entscheidung Allgeyer v. Louisiana, 165 U.S. 578, 593 (1897), in der erstmals der verfassungsrechtliche Schutz der Vertragsfreiheit durch die

§ 1 Ideengeschichte der Vertragsfreiheit und Entwicklung des Unionsrechts

43

ner-Ära64 erklärte der Supreme Court wiederholt Rechtsakte der US-Bundesstaaten mit dem Argument für verfassungswidrig, es bestehe „no reasonable ground for interfering with […] the right of free contract“.65 Die Lochner-Ära markierte den Scheitelpunkt einer Welle – vermeintlich – absoluter rechtsgeschäftlicher Privatautonomie.66 Angesichts dieser Tendenzen wurden auf beiden Seiten des Atlantiks vermehrt Stimmen laut, die unter verschiedenen Gesichtspunkten eine Einhegung der Vertragsfreiheit forderten. II. Bedrohung der Vertragsfreiheit durch wirtschaftliche Macht Die Ruf nach einer Begrenzung der Vertragsfreiheit war nicht zuletzt von der Einsicht getragen, dass es „das ewige Dilemma der Privatautonomie [ist], daß diese immer wieder durch ungleiche Machtverteilung in Frage gestellt wird“.67 Dass ungezügelte Vertragsfreiheit ihre eigenen Funktionsvoraussetzungen beeinträchtigen kann, wurde bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts offenbar, als im Zuge der Industrialisierung Kartelle entstanden.68 Die beteiligten Unternehmen beseitigten den Wettbewerb durch privatautonome Vereinbarung und konzentrierten auf diese Weise wirtschaftliche „due process clause“ des XIV. Amendments zur US-Verfassung bejaht wurde. Dazu statt aller Mayer, Mercer L. Rev. 60 (2009) 563. 64 Namensgeberin war die Leitentscheidung Lochner v New York, 198 U.S. 45 (1905). Dazu statt vieler Farnsworth, in: Rabello / Sarcevic (eds.), Freedom of Contract and Constitutional Law (1998), S. 261, 262 ff. 65 Geprägt wurde diese Formel in Lochner v New York, 198 U.S. 45, 57 (1905), wo der Supreme Court mit Blick auf Höchstarbeitszeiten für Bäcker in New York weiter ausführte, es gebe „no contention that bakers as a class are not equal in intelligence and capacity to men in other trades […] or that they are not able to assert their rights and care for themselves without the protecting arm of the state, interfering with their independence of judgment and of action“. Wegen Verstoßes gegen die verfassungsrechtlich garantierte Vertragsfreiheit wurden in der Folgezeit z. B. Gesetze betreffend Mindestlöhne, Gewerkschaftszugehörigkeit und Kinderarbeit für unwirksam erklärt, vgl. nur Adkins v Children‘s Hospital, 261 U.S. 525 (1923); Adair v United States, 208 U.S. 161 (1908); Hammer v Dagenhart, 247 U.S. 251 (1918). Diese Rechtsprechungslinie endete erst im Jahr 1937 mit der Entscheidung West Coast Hotel Co. v Parrish, 300 U.S. 379 (1937). Anlass dieser Rechtsprechungsänderung war eine Verschiebung der politischen Mehrheitsverhältnisse im Supreme Court und der Einfluss der „New Deal Revolution“, eingehend hierzu Mayer, Liberty of Contract (2011), S. 97 ff. und 105 ff. 66 Zu der auch im US-amerikanischen Diskurs verbreiteten These der „Verabsolutierung“ der Vertragsfreiheit während der Lochner-Ära will indes nicht recht passen, dass der Supreme Court durchaus eine Differenzierung und Abwägung vornahm, siehe z. B. Adkins v Children’s Hospital, 261 U.S. 525, 546 (1923): „There is, of course no such things as absolute freedom of contract. It is subject to a great variety of restraints. Freedom of contract is, nevertheless, the general rule and restraint the exeption“. 67 Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts II (1979), S. 10. 68 Siehe zur Entwicklung dies- und jenseits des Atlantiks nur Schmoeckel, Rechtsgeschichte der Wirtschaft (2008), S. 245 ff. m. w. N.

44

Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

Macht – insbesondere zur einseitigen Preisfestsetzung. Gerade von der Warte der Vertragsfreiheit aus besehen, stellt sich daher das „Problem der privaten Macht“:69 Die Ausübung der Vertragsfreiheit setzt schließlich voraus, „daß die einzelnen sich mit der Macht zur Selbstbestimmung gegenüberstehen und nicht durch die Macht des einen statt der beiderseitigen Selbstbestimmung eine einseitige Fremdbestimmung eintritt“.70

Wer als Vertragsprätendent auf Kartellanten in einem Markt ohne Wettbewerb trifft, kann nicht auf alternative Angebote ausweichen und muss entweder die Vertragskonditionen der Kartellbeteiligten akzeptieren oder vom Vertragsschluss absehen. Die Antwort auf dieses Machtungleichgewicht hält das Kartellrecht bereit: Weil nur der freie Wettbewerb „willensbeugende und entmachtende Wirkung“ entfaltet, gilt es ihn wiederherzustellen.71 In den USA nahm diese Entwicklung mit dem Sherman Antitrust Act 72 bereits im Jahr 1890 ihren Anfang und wurde alsbald im Vereinigten Königreich73 und – deutlich später – auch in kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen rezipiert.74 Indem das Kartellrecht den Wettbewerb aufrechterhält, schafft es echte Wahlmöglichkeiten und damit die äußeren Voraussetzungen für die Ausübung der Vertragsfreiheit. Allerdings adressiert das Kartellrecht seinem Wesen nach grundsätzlich nur Machtungleichgewichte auf Ebene bestimmter Märkte. Im ausgehenden 19. Jahrhundert wurde zunehmend erkannt, dass auch auf individualvertraglicher Ebene eine Imparität bestehen kann, die einem Vertragsteil echte Selbstbestimmung erschwert oder gar unmöglich macht. Hierin

Böhm, Die Justiz 1928, 324. Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts II (1979), S. 10. Bereits Böhm, Die Justiz 1928, 324, 334 bemerkte, dass die „freie Willensbetätigung einem machtüberlegenen Partner gegenüber in der Regel zur bedeutungslosen, leeren Fiktion wird“. 71 Statt vieler Mestmäcker, JZ 1964, 441, 445. Siehe zuvor schon Böhm, in: Institut für ausländisches und internationales Wirtschaftsrecht (Hrsg.), Kartelle und Monopole im modernen Recht I (1961), S. 1, 22. 72 15 U.S.C. 73 Vgl. bereits Mogul Steamship Co Ltd v McGregor, Gow & Co [1892] AC 25. 74 Besonders hervorzuheben ist, dass gerade deutsche Nationalökonomen Kartelle anfangs noch als willkommene Instrumente sahen, um durch Überproduktion geschaffene Wirtschaftskrisen abzumildern, vgl. nur Kleinwächter, Die Kartelle (1883), S. 143 sowie 157 („Kinder der Noth“). In Deutschland legalisierte das RG Urt. v. 4.2.1897 – Az. VI 307/96, RGZ 38, 155, 158 zudem im Ergebnis Kartelle, wenngleich es sich zivilrechtliche Nichtigkeitssanktionen in Konstellationen vorbehielt, in denen das Kartell „ersichtlich auf die Herbeiführung eines thatsächlichen Monopols und die wucherische Ausbeutung der Konsumenten abgesehen ist, oder diese Folgen doch durch die getroffenen Vereinbarungen und Einrichtungen thatsächlich herbeigeführt werden“. Erst mit der Verordnung gegen Missbrauch wirtschaftlicher Machtstellungen v. 2.11.1923 gewann das Kartellrecht auch in Deutschland schärfere Konturen, siehe hierzu sowie zur weiteren Entwicklung statt vieler Schmoeckel, Rechtsgeschichte der Wirtschaft (2008), S. 255 ff. m. w. N. 69 70

§ 1 Ideengeschichte der Vertragsfreiheit und Entwicklung des Unionsrechts

45

gründet die Forderung, dass das Vertragsrecht fortan selbst eine „soziale Aufgabe“ übernehmen soll.75 III. „Soziale Aufgabe“ und „Krise“ des Vertragsrechts Der Ruf nach einer Einschränkung der Vertragsfreiheit im Interesse des Schutzes bestimmter Parteien war wesentlich durch die Entdeckung unterschiedlicher „millieu[s] contractuel[s]“ motiviert: Jede dieser Gruppen fände bei der Ausübung der Vertragsfreiheit andere Ausgangsbedingungen vor.76 Insbesondere angesichts wirtschaftlicher, aber auch informationeller und intellektueller Unterschiede sei zu hinterfragen, ob die in dem jeweiligen Punkt unterlegene Partei überhaupt eine selbstbestimmte Vertragsentscheidung treffen kann.77 Die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen und die daraus potenziell resultierende Imparität der Vertragspartner sind freilich keine neuen Entdeckungen, sondern wurden beispielsweise schon von Adam Smith diskutiert.78 Weite Verbreitung fand die Forderung nach dem Schutz sogenannter schwächerer Vertragsparteien allerdings erst Mitte des 19. Jahrhunderts unter dem Eindruck des durch die industrielle Revolution angestoßenen gesellschaftlichen Wandels. In Deutschland bezweifelte Eugen Dühring bereits im Jahr 1865, „ob zwischen dem wirthschaftlich Ohnmächtigen und der ökonomischen Uebermacht ein in materieller Hinsicht freier Vertrag denkbar sei“.79 Die daran anknüpfende Forderung nach einer Intervention zugunsten des „schwächeren“ Vertragsteils wurde zunächst auf Arbeitsverhältnisse bezogen und alsbald auch auf andere Bereiche des Vertragsrechts ausgedehnt. So gab Otto v. Gierke im Zuge der Beratungen des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches bereits allgemein zu bedenken, dass Vertragsfreiheit eine „fürchterliche Waffe in der Hand des Starken, ein stumpfes Werkzeug in der Siehe vor allem v. Gierke, Die soziale Aufgabe des Privatrechts (1889). Eingehend zu dieser Entwicklung Repgen, Die soziale Aufgabe des Privatrechts (2001), S. 3 ff. 76 Vgl. Lévy, La vision socialiste du droit (1926), S. 99. 77 Deutlich etwa Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), S. 454: „Das Resultat der Vertragsfreiheit ist […] in erster Linie: die Eröffnung der Chance, durch kluge Verwendung von Güterbesitz auf dem Markt diesen unbehindert durch Rechtsschranken als Mittel der Erlangung von Macht über andere zu nutzen“. 78 Smith, Wealth of Nations I (1976, 2004), S. 83 f. führt mit Blick auf die vertragliche Vereinbarung der Lohnhöhe aus: „What are the common wages of labour, depends everywhere upon the contract usually made between those two parties, whose interests are by no means the same. The workmen desire to get as much, the masters to give as little, as possible […]. It is not, however, difficult to foresee which of the two parties must, upon all ordinary occasions, have the advantage in the dispute, and force the other into a compliance with their terms“. 79 Dühring, Capital und Arbeit (1865), S. 157 f. vertrat freilich zudem rassistische sowie antisemitische Lehren und propagierte in späteren Schriften einen „Sozialismus des arischen Volkes“. 75

46

Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

Hand des Schwachen“ sein könne und betont die „soziale Aufgabe des Privatrechts“.80 Das Vertragsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches nahm sich jedoch dieser Aufgabe zunächst nicht an und genügte insoweit der Savigny’schen Forderung, dass Abhilfe gegen soziale Härten „nicht auf dem Boden des Privatrechts, sondern auf dem des öffentlichen Rechts“ entspringen müsse.81 Daher klang der Ruf nach einer stärkeren „sozialen“ Einfärbung des Zivilrechts auch Jahrzehnte später beispielsweise in den Werken Max Webers,82 Gustav Radbruchs 83 und Franz Wieackers 84 fort. Ähnliche Forderungen wurden Anfang des 20. Jahrhunderts auch in Frankreich85 sowie im common-lawRechtskreis formuliert.86 In den USA gewann die Kritik dabei insbesondere nach dem Ende der verfassungsrechtlich begründeten Dominanz der Ver80 v. Gierke, Die soziale Aufgabe des Privatrechts (1889), S. 28 f. Auch Dernburg, Pandekten (1903), S. 48 stellt heraus: „Die Vertragsfreiheit ist die Grundlage des Obligationenrechts […]. Aber sie birgt Gefahren, wenn die Lage der Vertragsschließenden eine sehr ungleiche ist“. 81 Vgl. v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts I (1840), S. 371: „Daher kann der Reiche den Armen untergehen lassen durch […] harte Ausübung des Schuldrechts, und die Hülfe, die dagegen Statt findet, entspringt nicht auf dem Boden des Privatrechts, sondern auf dem des öffentlichen Rechts“. Siehe zu „sozialem Recht“ im Schuldrecht des BGB aber auch Repgen, Die soziale Aufgabe des Privatrechts (2001), S. 213 ff. 82 Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), S. 454: „Die Entwicklung der rechtlich geordneten Beziehungen zur Kontraktgesellschaft und des Rechts selber zur Vertragsfreiheit […] pflegt man als […] Zunahme individualistischer Freiheit zu charakterisieren […]. [D]ie formal noch so große Mannigfaltigkeit der zulässigen Kontraktschemata und auch die formale Ermächtigung, nach eigenem Belieben […] Kontraktinhalte zu schaffen, gewährleistet an sich in keiner Art, daß diese formalen Möglichkeiten auch tatsächlich Jedermann zugänglich sind […]. Die relative Zurückdrängung des durch Gebots- und Verbotsnormen angedrohten Zwanges durch steigende Bedeutung der ‚Vertragsfreiheit‘ […] ist formell gewiß eine Verminderung des Zwangs […]. Inwieweit dadurch materiell das Gesamtquantum von ‚Freiheit‘ innerhalb einer gegebenen Rechtsgemeinschaft vermehrt wird, ist aber durchaus eine Frage der konkreten Wirtschaftsordnung“ (Herv. d. Verf.). 83 Radbruch, Rechtsphilosophie (1932), S. 144: „Ferner aber konnte nur in einer Gesellschaft gleich Mächtiger […] die Vertragsfreiheit eine Vertragsfreiheit für alle sein. Wenn sich die Kontrahenten als Besitzende und Besitzlose gegenüberstehen, wird die Vertragsfreiheit zur Diktatfreiheit des sozial Mächtigen, zur Diktathörigkeit des sozial Ohnmächtigen […]. Wird so die juristische Vertragsfreiheit zu sozialer Vertragsknechtung, so entsteht für das Gesetz die Aufgabe, durch Einschränkungen der Vertragsfreiheit die soziale Vertragsfreiheit wiederherzustellen“. 84 Vgl. Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher und die Entwicklung der modernen Gesellschaft (1953), S. 8 und 18, der die Vertragsfreiheit „im Früh- und Hochkapitalismus“ zunächst als „Freiheit zur Unterwerfung unter die größere wirtschaftliche Macht“ begreift und sodann in der Mitte des 20. Jahrhunderts aber „die formale Freiheitsethik, die der deutschen Privatrechtsordnung zugrundelag, in eine materiale Ethik sozialer Verantwortung zurückverwandelt“ sieht. 85 Siehe nur Ripert, FS Gény II (1934), S. 347, 348 f. m. w. N., der allerdings bereits die damaligen gesetzgeberischen Interventionen im Vertragsrecht als zu weitgehend kritisiert.

§ 1 Ideengeschichte der Vertragsfreiheit und Entwicklung des Unionsrechts

47

tragsfreiheit während der Lochner-Ära an Fahrt. In den Fokus gerieten dabei zunächst einseitig gestellte Standardklauseln in Verträgen,87 die freilich bereits seit dem 19. Jahrhundert gebräuchlich und zuweilen gerade im Hinblick auf die Vertragsfreiheit als problematisch empfunden worden waren.88 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde auch das deutsche Bürgerliche Recht um Sonderregelungen, beispielsweise im Bereich des Wohnraummietrechts, ergänzt.89 Zugleich entwickelten Rechtsprechung und Gesetzgebung auf beiden Seiten des Atlantiks schrittweise Spezialregelungen zugunsten bestimmter Vertragsparteien, wie insbesondere Verbraucher.90 Die damit verbundene zunehmende Einhegung der Vertragsfreiheit ist zuweilen als Umkehrung der von Maine beschriebenen Entwicklung „from status to contract“ gedeutet worden: Nicht das vertraglich Vereinbarte, sondern vielmehr der Status der Vertragspartner, etwa als Verbraucher oder Ar-

86 Deutlich etwa Byles, Sophisms of Free-trade and Popular Political Economy Examined (1872), S. 79: „It is a sound principle of universal law established by the wisdom of more than two thousand years, that where in the necessary imperfection of human affairs, the parties to a contract or dealing do not stand on an equal footing […] the law should step in to succor the weaker party“. Vgl. ferner nur Crozier, The Wheel of Wealth (1906), S. 377: „There must always be an inequality of bargaining power between masters and men in every contract“. 87 Unter Verweis auf Ungleichgewichtslagen begründete vor allem Kessler, Colum. L. Rev. 43 (1943), 629, 632 f., die Schutzbedüftigkeit „schwächerer Vertragsparteien“ vor einseitig gestellten, vorformulierten Vertragsklauseln: „Standard contracts are typically used by enterprises with strong bargaining power. The weaker party, in need of the goods or services, is frequently not in a position to shop around for better terms […]. His contractual intention is but a subjection more or less voluntary to terms dictated by the stronger party, terms whose consequences are often understood only in a vague way, if at all“ (Herv d. Verf.). Auch behandelt z. B. Schroeder Music Publishing Co Ltd v Macaulay [1974] 1 WLR 1308, 1316 (Lord Diplock) das einseitige Stellen der Vertragsbedingungen als „a classic instance of superior bargaining power“. 88 Vgl. zur Entstehung sowie zur Inhaltskontrolle allgemeiner Geschäftsbedingungen im 19. Jahrhundert Hellwege, Allgemeine Geschäftsbedingungen (2010), S. 19 ff. sowie 138 ff. m. w. N. 89 Zu dieser Entwicklung statt vieler Basedow, FS Lazar (2014), S. 109, 118 f.; Hosemann, in: Jansen/Zimmermann (eds.), Commentaries on European Contract Laws (2018), Art. 1:102 Rn. 11 ff. 90 Siehe zu den Anfängen dieser Entwicklung, insbesondere im Vereinigten Königreich, etwa Wilson, RabelsZ 28 (1964), 644, 646 ff. sowie aus der Rechtsprechung nur Lowe v Lombank [1960] 1 All ER 611 (Lord Diplock); Schroeder Music Publishing Co Ltd v Macaulay [1974] 1 WLR 1308, 1316 (Lord Diplock). Vgl. auch George Mitchell (Chesterhall) Ltd v Finney Lock Seeds Ltd [1983] QB 284, 296 f. (Lord Denning). In den USA setzte John f. Kennedy dieses Thema im Jahr 1962 unter dem programmatischen Titel „Protecting the Consumer Interest“ auf die politische Agenda, vgl. Kennedy, Special Message to the Congress on Protecting the Consumer Interest, March 15, 1962, Public Papers of the President, S. 235 ff.

48

Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

beitnehmer, sei fortan ausschlaggebend.91 Während die autonome Gestaltung des Vertrags den Parteien zunehmend entzogen werde, träten gesetzlich – und damit heteronom – bestimmte Vertragsinhalte in den Vordergrund.92 Mit Blick auf diese Tendenz ist im 20. Jahrhundert wiederholt eine „Krise“ des Vertrags und der Vertragsfreiheit diagnostiziert worden: Über die Grenzen ihrer nationalen Rechtsordnungen hinweg beklagten beispielsweise Henri Battifol,93 Ernst Kramer 94 und Patrick Atiyah95 einstimmig die Zurückdrängung des Vertrags als wichtigster Ausdrucksform privater rechtsgeschäftlicher Autonomie und damit einen graduellen Bedeutungsverlust der Vertragsfreiheit.96 Das Unionsprivatrecht entstand just zu einer Zeit, als die Privatrechtsordnungen der Mitgliedstaaten begannen, – je nach Standpunkt – ihrer „sozialen Aufgabe“ nachzukommen bzw. eine „Krise“ der Vertragsfreiheit einzuläuten. C. Ausgangsbasis und Herausforderungen im Unionsrecht In der Zusammenschau der ideengeschichtlichen Trieb- und Gegenkräfte der Vertragsfreiheit wird zugleich das Fundament sichtbar, welches das Unionsprivatrecht in seiner Geburtsstunde vorfand und auf dem es sich fortan weiterentwickelt hat. Das europäische Integrationsprojekt war zwar frühzeitig von der Einsicht getragen, dass der freie Wettbewerb als Grundlage und Funktionsvoraussetzung der Vertragsfreiheit erhalten werden muss. Das zuvörderst der Marktordnung verpflichtete Recht der EWG schützte aber die Vertragsfreiheit selbst zunächst nur reflexhaft dort, wo diese Freiheit dem Binnen91 Vgl. frühzeitig etwa Pound, ABA J. 16 (1930), 553 ff. („The New Feudalism“); Ripert, FS Gény II (1934), S. 347, 348 f. Auch bemerkt bereits Kahn-Freund, Mod. Law Rev. 30 (1967), 635: „Contemporary writers are fond of reiterating that, under the impact of modern developments, Western society is moving from ‚contract‘ to ‚status‘“. Siehe zu diesem „movement from contract to status“ auch Atiyah, The Rise and Fall of Freedom of Contract (1979), S. 716; Bruns, JZ 2007, 385. 92 Eine solche Tendenz beklagte bereits Ripert, FS Gény II (1934), S. 347, 348 f.: „Nous connaissons aujourd’hui des contrats qui naissent comme autrefois sous le signe de la liberté mais ne peuvent y vivre. La volonté n’a d’autre force que la soumission au régime légal […]. Ainsi le contrat perd sa force en tant que créateur d’obligations […]. [P]rennant prétexte de la faiblesse présumée de l’un des combattants, le législateur a réglé minutieusement les conditions du contrat“ (Herv. d. Verf.). 93 Vgl. zur „crise du contrat et sa portée“ Battifol, Archives Phil. dr. 13 (1968), S. 13 ff. 94 Kramer, Die „Krise“ des liberalen Vertragsdenkens (1974). 95 Atiyah, The Rise and Fall of Freedom of Contract (1979), S. 716 konstatiert „that freedom of contract, or even contract itself, has declined in importance“ und führt dies unter anderem auf „the declining importance attached to the value of free choice“ (Herv. d. Verf.) zurück. Vgl. mit Blick auf das US-amerikanische Recht auch schon Gilmore, The Death of Contract (1974). 96 Siehe zum wiederkehrenden Motiv der „Krise“ des Vertragsrechts zudem bereits Reinhardt, FS Schmidt-Rimpler (1957), S. 115 ff. m. w. N.

§ 1 Ideengeschichte der Vertragsfreiheit und Entwicklung des Unionsrechts

49

marktziel förderlich war.97 Bis heute sucht man eine explizite Garantie der Vertragsfreiheit im Unionsrecht und sogar im Unionsprivatrecht vergebens.98 Eine Begründung dafür liefert – neben der Kompetenzverteilung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten – gerade der Entstehungszeitpunkt dieser Materie: Das Privatrecht der Union kam zu einer Zeit auf, in der Restriktionen der Vertragsfreiheit im Namen sozialpolitischer Ziele, wie etwa des Verbraucherschutzes, in den mitgliedstaatlichen Privatrechtsordnungen im Vordringen waren. So nimmt es kaum Wunder, dass diese Bestrebungen auch ihren Weg auf die Agenda der EWG fanden: Das erste Programm „für eine Politik zum Schutz und zur Unterrichtung der Verbraucher“ wurde bereits im Jahr 1972 angestoßen und im Jahr 1975 verabschiedet.99 Auf Grundlage des zweiten Programms100 gediehen sodann zentrale Rechtsakte des Unionsprivatrechts, die sich dem rollenspezifischen Schutz bestimmter Vertragsparteien, wie z. B. Verbrauchern, widmen.101 Paradigmatisch dafür sind die Haustürgeschäfterichtlinie aus dem Jahr 1985102 und die Verbraucherkreditrichtlinie aus dem Jahr 1987, die ausweislich ihrer Erwägungsgründe zugleich das „Funktionieren des Gemeinsamen Marktes“ und den „Schutz […] der Verbraucher“ sicherstellen sollen. Auch in anderen Bereichen gehen binnenmarktzentrierte Regelungsziele, wie die Wahrung gleicher Wettbewerbsbedingungen einerseits, und Schutzanliegen andererseits nahtlos ineinander über, wie etwa das unionale Handelsvertreterrecht verdeutlicht.103 Vor allem erstarkte das zunächst allein wettbewerbspolitisch motivierte primärrechtliche Verbot der Entgeltdiskrimimierung in Art. 119 EWG (nun Art. 157 AEUV) just in den Anfangsjahren Insoweit zutreffend Comparato / Micklitz, in: Bernitz / Groussot / Schulyko (eds.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), S. 121, 128: „It cannot be disconnected from the internal market, from the freedom to do business across borders“. Siehe auch Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85, 102. 98 Dazu sogleich noch eingehend unten Kapitel 2 § 1. 99 Entschließung des Rates vom 14. April 1975 betreffend ein Erstes Programm der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft für eine Politik zum Schutz und zur Unterrichtung der Verbraucher, ABl. 1975 C 92/1. 100 Entschließung des Rates vom 19. Mai 1981 betreffend ein zweites Programm der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft für eine Politik zum Schutz und zur Unterrichtung der Verbraucher, ABl. 1981 C 133/1. 101 Siehe zur „Verbraucherrolle“ als Unterscheidungskriterium nur Medicus, FS Kramer (2004), S. 211 ff.; Zimmermann, Current Leg. Prob. 58 (2005), 415, 418. 102 Richtlinie 85/577/EWG des Rates vom 20. Dezember 1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, ABl. 1985 L 372/31. 103 Vgl. nur Erwägungsgrund Nr. 2 Handelsvertreterrichtlinie: „Die Unterschiede zwischen den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Handelsvertretungen beeinflussen die Wettbewerbsbedingungen und die Berufsausübung innerhalb der Gemeinschaft spürbar und beeinträchtigen den Umfang des Schutzes der Handelsvertreter“. 97

50

Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

des Unionsprivatrechts zu einer unmittelbar in Arbeitsvertragsbeziehungen wirksamen und damit dem individuellen Schutz vor Benachteiligung dienenden Norm.104 Hier zeigt sich bereits eine deutliche Tendenz, worauf das Hauptaugenmerk des Unionsgesetzgebers beim Erlass privatrechtsrelevanter Rechtsakte gerichtet war. Anders als vergleichbare Vorschriften des nationalen Privatrechts dienen die vorgenannten bereichsspezifischen unionalen Regelungen jedoch nicht nur der Ergänzung eines seit langem bestehenden, kohärenten und dem Leitprinzip der Vertragsfreiheit verpflichteten Zivilrechtssystems. Stattdessen setzt sich das Mosaik des Unionsprivatrechts überhaupt erst aus diesen punktuellen Regelungsfeldern gewidmeten Einzelrechtsakten zusammen. Das unionale Schuldvertragsrecht steht deshalb bis heute vor der Herausforderung, dass diese Materie von Anbeginn auf die Ausgestaltung – und häufig auf die Beschränkung – einer Vertragsfreiheit gerichtet ist, deren Standort und Gewährleistungsgehalt im Unionsrecht im Dunklen bleibt. Im Interesse eines kohärenten, freiheitlichen Unionsprivatrechtssystems ist es indes unerlässlich, dass die Vertragsfreiheit als Fundament und Richtschnur des unionalen Schuldvertragsrechts zunächst klar umrissen wird, bevor hierauf ein immer dichterer Wildwuchs an Rechtsakten entsteht. Erste Ansatzpunkte für die Verortung der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie in der Unionsrechtsordnung liefert dabei die historische Umschau: Zugunsten der umfassenden Anerkennung der Vertragsfreiheit wirken mit der ökonomischen und der individualrechtlichen Triebfeder gleich zwei ideengeschichtlich tief verwurzelte Kräfte.105 Ausgehend von der Erkenntnis, dass alle hochentwickelten Verkehrsgesellschaften der umfassenden Gewährleistung der Vertragsfreiheit bedürfen, liegt es nahe, dass die Vertragsfreiheit auch in der Rechtsordnung der Europäischen Union eine wirtschaftliche und eine individualfreiheitsrechtliche Legitimation erfährt. Besonderes Augenmerk verdient dabei zunächst die enge Verbindung zwischen der Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union und der Gewährleistung der Vertragsfreiheit.

104 Siehe zur ursprünglichen Funktion des Verbots der Entgeltdiskriminierung nur GA Dutheillet de Lamothe Schlussanträge v. 29.4.1971 – Rs. 80/70 (Defrenne I), Slg. 1971, 445, 455 f. Vgl. sodann die einen Arbeitsvertrag mit einer staatlichen Gesellschaft betreffende Entscheidung EuGH Urt. v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 (Defrenne II), Slg. 1976, 455 Rn. 4 ff. Siehe sodann zur Erstreckung auf private Arbeitgeber nur EuGH Urt. v. 31.3.1981 – Rs. 96/80 (Jenkins), Slg. 1981, 911 Rn. 18 ff.; EuGH Urt. v. 17.5.1990 – Rs. C-262/88 (Barber), Slg. 1990, I-1889 Rn. 19 f.; EuGH Urt. v. 6.10.1993 – Rs. C-109/91 (Ten Över), Slg. 1993, I-4879 Rn. 11 ff.; EuGH Urt. v. 28.9.1994 – Rs. C-200/91 (Coloroll), Slg. 1994, I-4389 Rn. 18 ff. 105 Siehe erneut oben A und B.

§ 2 Vertragsfreiheit und Wirtschaftsverfassung der Union

51

§ 2 Vertragsfreiheit und Wirtschaftsverfassung der Union § 2 Vertragsfreiheit und Wirtschaftsverfassung der Union

Wie der Rückblick auf die Ideengeschichte gezeigt hat, zwangen die Erfordernisse des Wirtschaftsverkehrs frühzeitig zu einer immer umfassenderen Gewährleistung der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie. Da das europäische Integrationsprojekt angetreten ist, einen gemeinsamen Markt ohne Binnengrenzen zu schaffen, ist die ökonomische Triebfeder der Vertragsfreiheit in der Europäischen Union besonders ausgeprägt. Namentlich steht bereits die Wirtschaftsverfassung der EU (A) in einer engen Wechselbeziehung zu dieser Freiheit (B): Einerseits ermöglicht erst die Vertragsfreiheit überhaupt die in Art. 119 Abs. 1 AEUV verankerte „offen[e] Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“. Andererseits schafft und erhält die unionale Wirtschaftsverfassung die faktischen Grundlagen für die umfassende Ausübung aller Facetten der Vertragsfreiheit.106 A. Begriff und Gestalt der EU-Wirtschaftsverfassung Der Begriff der Wirtschaftsverfassung ist zuerst in den Wirtschaftswissenschaften verwendet worden.107 Nach der insbesondere durch Walter Eucken geprägten Lesart ist unter der Wirtschaftsverfassung „die Gesamtentscheidung über die Ordnung des Wirtschaftslebens eines Gemeinwesens“ zu verstehen.108 Als rechtswissenschaftliche Kategorie bezeichnet die Wirtschaftsverfassung die Summe aller grundlegenden Normen, welche die Wirtschaftsordnung bestimmen.109 Die Frage nach der Existenz und konkreten Gestalt der Wirtschaftsverfassung hat dabei rasch eine europäische Dimension erreicht.110 Ein ausdrückliches Bekenntnis der Europäischen Union und ihrer 106 G. Wagner, in: Blaurock / Hager (Hrsg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), S. 13, 19 f. spricht in diesem Zusammenhang plastisch von „Vertragsfreiheit im anspruchsvollen Sinne“. 107 Der Begriff wird z. B. frühzeitig von Sombart, Der moderne Kapitalismus I (1902), S. 68 und 336 bemüht. 108 Eucken, Die Grundlagen der Nationalökonomie (1965), S. 52. Siehe zu den unterschiedlichen Definitionen und Konzeptionen der Wirtschaftsverfassung statt vieler Nörr, Die Republik der Wirtschaft I (1999), S. 81 ff. m. w. N. 109 Statt aller Rittner / Dreher, Europäisches und deutsches Wirtschaftsrecht (2008), § 2 Rn. 20 ff. In der deutschen Debatte wird der Normenbestand der Wirtschaftsverfassung teilweise auf das Verfassungsrecht im engeren Sinne beschränkt. Mit Blick auf die Wirtschaftsverfassung des Unionsrechts wird hingegen – zu Recht – ein weiteres Verständnis zugrunde gelegt, siehe zum Ganzen nur Hatje, in: v. Bogdandy / Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht (2009), S. 801, 804 ff. m. w. N. 110 Siehe zur Diskussion um eine europäische Wirtschaftsverfassung z. B. bereits Ophüls, ZHR 124 (1962), 136 ff. Siehe aus jüngerer Zeit nur Basedow, Von der deutschen zur europäischen Wirtschaftsverfassung (1992), S. 9 f. und 26 ff.; Poiares Maduro, We the Court: The European Court of Justice and the European Economic Constitution (1998); Paganetto, in: ders. (ed.), The Political Economy of the European Constitution (2007),

52

Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

Mitgliedstaaten zur „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ brachte indes erst der Vertrag von Maastricht.111 Wenngleich der Vertrag von Lissabon auch soziale Ziele herausstellt, hat sich an der nunmehr in Art. 119 Abs. 1 AEUV enthaltenen fundamentalen Systementscheidung112 zugunsten einer marktwirtschaftlichen Wettbewerbsordnung nichts geändert.113 Insbesondere wird das Konzept der europäischen Wirtschaftsverfassung auch von den Generalanwälten und Richtern des EuGH zugrunde gelegt.114 Allerdings sind weder Art. 119 Abs. 1 AEUV noch die Vorgängerregelung des EG-Vertrags „Bestimmungen, die den Mitgliedstaaten klare und unbedingte Verpflichtungen auferlegen“ oder gar individuelle Rechte der Marktbürger begründen: Vielmehr wird nur eine allgemeine wirtschaftsverfassungsrechtliche Leitlinie aufgestellt.115. Unmittelbare normative Wirkmacht entfalten dagegen die Instrumente, welche die „offen[e] Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ herstellen und aufrechterhalten sollen. Doch welche Elemente bilden die Strukturprinzipien der Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union? Mangels einer Verfassung im engeren Sinne sind die Determinanten zuvörderst im unionalen Primärrecht zu suchen: Zu den Ecksteinen der EU-Wirtschaftsverfassung zählen neben den Grundfreiheiten des Binnenmarktes nach Art. 28 ff. AEUV vor allem die unionalen Wettbewerbsregeln der Art. 101 ff. AEUV. Sie bilden laut Generalanwalt Jääskinen „ein Schlüsselelement der Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union“116 und stellen nach Auffassung des EuGH somit „grundlegende Bestimmung[en] dar, die für die Erfüllung der Aufgaben der Gemeinschaft und insbesondere für das Funktionieren des Binnenmarktes unerlässlich“ sind.117

S. 3 ff.; Debarge / Georgopoulos / Rabaey, La Constitution économique de l’Union européenne (2008); Dreher, JZ 2014, 185, 186. 111 Vgl. Art. 3a Abs 1, Art. 102a EGV. 112 So schon zum EWG-Vertrag Basedow, Von der deutschen zur europäischen Wirtschaftsverfassung (1992), S. 26 ff. 113 Ohnehin strebte bereits Art. 2 EGV ein „hohes Maß an sozialem Schutz“ an. Siehe auch Basedow, EuZW 2008, 225; Riesenhuber, GS Wolf (2011), S. 123, 129. 114 Siehe nur GA Jääskinen Schlussanträge v. 11.12.2014 – Rs. C-352/13 (CDC), EU: C:2014:2443 Rn. 27. Vgl. auch EuGH Urt. v. 9.9.2003 – Rs. C-198/01 (CIF), Slg. 2003 I-8055 Rn. 47. Besonders herausgestellt wird die Bedeutung der EU-Wirtschaftsverfassung ferner z. B. durch Poiares Maduro, We the Court: The European Court of Justice and the European Economic Constitution (1998) sowie Lenaerts, DVBl. 2014, 1417. 115 Vgl. nur EuGH Urt. v. 3.10.2000 – Rs. C-9/99 (Echirolles Distribution), Slg 2000, I-8207 Rn. 25 („allgemeine[r] Grundsatz“). Dessen ungeachtet sind die in Art. 119 Abs. 1 AEUV verwendeten Rechtsbegriffe durchaus justiziabel, Hatje, in: v. Bogdandy / Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht (2009), S. 801, 810. 116 GA Jääskinen Schlussanträge v. 11.12.2014 – Rs. C-352/13 (CDC), EU:C:2014: 2443 Rn. 27. 117 Z. B. EuGH Urt. v. 1.6.1999 – Rs. C-126/97 (Eco Swiss), 1999 I-3055 Rn. 36.

§ 2 Vertragsfreiheit und Wirtschaftsverfassung der Union

53

Zudem hat die Wirtschaftsverfassung der EU nicht zuletzt durch die GRCh eine bislang wenig beachtete, freiheitsgrundrechtliche Dimension gewonnen: Die GRCh kodifiziert insbesondere mit der unternehmerischen Freiheit nach Art. 16 sowie dem Eigentum gemäß Art. 17 wirtschaftlich bedeutende Grundrechte.118 Mithilfe dieser Instrumente steckt das Unionsrecht den Rahmen der EU-Wirschaftsverfassung sowohl für die Union selbst als auch für ihre Mitgliedstaaten ab. Angesichts ihrer primärrechtlichen Natur können die zentralen Bausteine der EU-Wirtschaftsverfassung tief in die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen hineinwirken und kraft des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts nationale Wirtschaftsverfassungen partiell überformen.119 In der Summe ergibt sich daraus eine unionsweit bindende liberale Wirtschaftsverfassung.120 Vor diesem Hintergrund ist die – in Deutschland allein auf das Grundgesetz bezogene –121 These völliger wirtschaftspolitischer Neutralität der Mitgliedstaaten angesichts des Einflusses der unionalen Wirtschaftsverfassung kaum haltbar: Allen mitgliedstaatlichen Gestaltungsspielräumen zum Trotz hat das Unionsrecht eine Systementscheidung zugunsten einer dem Wettbewerb verpflichteten – sozialen – Marktwirtschaft getroffen und sichert diese Wirtschaftsverfassung primärrechtlich ab.122 B. Verhältnis zur Vertragsfreiheit und zu ihren Funktionsvoraussetzungen Die Vertragsfreiheit entfaltet in der Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union – zusammen mit der Gewährleistung des Eigentums und anderer subjektiver Rechte –123 zuvörderst eine Ermöglichungsfunktion: Der Markt als „Ort […], an dem sich durch Zusammentreffen von Angebot und Nachfrage die Preisbildung vollzieht“,124 setzt voraus, dass sowohl auf Anbieter- als auch auf Nachfragerseite die individuelle Entscheidung über den Abschluss Siehe zur Bedeutung der Unionsgrundrechte der GRCh in der EU-Wirtschaftsverfassung Lenaerts, DVBl. 2014, 1417, 1418. 119 Statt vieler Ruffert, AöR 134 (2009), 197, 201 m. w. N. Ablehnend indes Jungbluth, EuR 2010, 471 ff., der allerdings allein auf Art. 119 Abs. 1 AEUV abhebt und die diversen Konkretisierungen und Flankierungen der unionalen Wirtschaftsverfassung – etwa durch die Unionsgrundrechte – übergeht. 120 Im Ergebnis ebenso schon Sodan, JZ 1998, 421, 425. Calliess, JbJZWiss. 2000 (2001), S. 85, 108 spricht treffend von „Normen, die den vom Grundgesetz gewährten Spielraum im Hinblick auf die Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung in Richtung auf ein marktwirtschaftliches Modell hin einschränken“. 121 Vgl. nur BVerfG Urt. v. 1.3.1979 – Az. 1 BvR 532/77 u. a., BVerfGE 50, 290, 336 ff. 122 Statt vieler Hatje, in: v. Bogdandy / Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht (2009), S. 801, 809 ff. A. A. Jungbluth, EuR 2010, 471 ff. und insbesondere 489, der die „These des BVerfG von der wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes“ sogar für „aktueller denn je“ hält. 123 Siehe nur Mestmäcker / Schweizer, Europäisches Wettbewerbsrecht (2014), § 3 Rn. 4. 124 Gabler Wirtschafts-Lexikon (1983), Markt, S. 222. 118

54

Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

von Verträgen und die Auswahl des Vertragspartners autonom gebildet und sodann auch rechtlich anerkannt wird.125 Die als Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union in Art. 119 Abs. 1 AEUV verankerte „offen[e] Marktwirtschaft“ ist damit von der Gewährleistung der Vertragsfreiheit abhängig und kann nur durch diese Freiheit überhaupt praktisch wirksam werden.126 Eine ähnliche Verbindungslinie besteht zwischen der Vertragsfreiheit und dem freien Wettbewerb als weiteres zentrales Element der unionalen Wirtschaftsverfassung. Freier Wettbewerb entsteht erst, wo die Marktakteure ihre Handlungsfreiheiten im Wirtschaftsverkehr gebrauchen und Verträge entsprechend ihrer individuellen Präferenzen schließen.127 Dieser Interaktionsprozess kann sich nur entfalten, wenn die Rechtsordnung allen Beteiligten gestattet, autonome Entscheidungen über die Wahl ihres Vertragspartners sowie über das „Ob“ und das „Wie“ des Vertragsschlusses zu treffen: Erst diese umfassende „Ausübung der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie führt zum Wettbewerb“.128 Mit Blick auf die Unionsrechtsordnung bezeichnet Generalanwalt Wahl den freien Wettbewerb daher als „Korollar“ der Vertragsfreiheit.129 Ebenso wie für den Markt ist die Vertragsfreiheit demnach für den freien Wettbewerb schlechthin konstitutiv. Zugleich besteht hier eine bedeutsame Wechselbeziehung: Während der freie Wettbewerb einerseits der Vertragsfreiheit als Grundlage bedarf, so schafft, erhält und erweitert er andererseits die Auswahlmöglichkeiten der Marktakteure.130 Hierdurch legt der Wettbewerb die Basis für eine Vertragsfreiheit im anspruchsvollen Sinne, die auf die Bereitstellung von Alternativen – sowohl hinsichtlich der Auswahl des Vertragspartners als auch des Vertragsinhalts – angewiesen ist.131 Ein Mehr an Vgl. zur Funktion der „Wirtschaftsermöglichung“ bereits Fleischer, Informationsasymmetrie im Vertragsrecht (2001), S. 186 f. 126 Basedow, AcP 200 (2000), 445, 486; Hatje, in: v. Bogdandy / Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht (2009), S. 801, 811 („Grundbedingung eines marktwirtschaftlichen Systems“); G. Wagner, in: Blaurock / Hager (Hrsg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), S. 13, 17. Vgl. aus ökonomischer Perspektive etwa Fleischer, Informationsasymmetrie im Vertragsrecht (2001), S. 178 ff. sowie z. B. Hermalin / Katz / Craswell, Contract Law, in: Polinsky / Shavell (eds.), Handbook of Law and Economics I (2007), S. 7: „The Essence of a free-market economy is the ability of private parties to enter into voluntary agreements that govern the economic exchange between them“. 127 Z. B. Mestmäcker, JZ 1964, 441, 443; Mestmäcker / Schweizer, Europäisches Wettbewerbsrecht (2014), § 3 Rn. 4; Möschel, FS Mestmäcker (2006), S. 355, 366. Vgl. zur europäischen Wirtschaftsverfassung bereits Basedow, Von der deutschen zur europäischen Wirtschaftsverfassung (1992), S. 6 ff.; Rittner / Dreher, Europäisches und deutsches Wirtschaftsrecht (2008), § 2 Rn. 6 ff. 128 Mestmäcker, AcP 168 (1968), 235. 129 GA Wahl Schlussanträge v. 12.2.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:85 Rn. 105. 130 So bereits L. Raiser, Das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (1935), S. 277; Mestmäcker, JZ 1964, 441, 445 f. Siehe auch MünchKommBGB / Busche (2015), §§ 145 BGB Rn. 11. 125

§ 2 Vertragsfreiheit und Wirtschaftsverfassung der Union

55

Wettbewerb bedeutet ein Mehr an Wahlmöglichkeiten und bietet den Marktakteuren damit größere tatsächliche Spielräume für die Ausübung aller Facetten ihrer Vertragsfreiheit. Hinzu kommt, dass rechtsgeschäftliche Privatautonomie die Konzentration von Macht in den Händen bestimmter Akteure ermöglicht, was den Wettbewerb und damit den Gebrauch der Vertragsfreiheit durch andere Akteure beeinträchtigen kann.132 Indem es die „entmachtende“ Wirkung des Wettbewerbs erhält,133 schützt das Kartellrecht der Europäischen Union zugleich die Grundlagen der Vertragsfreiheit.134 So besehen setzt die in Art. 119 Abs. 1 AEUV verbürgte unionale Wirtschaftsverfassung die Vertragsfreiheit als gegeben voraus und dient zugleich der Schaffung, Erhaltung und Stärkung ihrer Funktionsvoraussetzungen. Im Lichte dieser Interaktion von Vertragsfreiheit und Wettbewerb lässt sich die Wettbewerbsordnung der Europäischen Union treffend als die „Zusammenführung von Autonomie, Eigennutz und Machtbegrenzung durch das Recht“ beschreiben.135 C. Fazit Die Vertragsfreiheit ist ein zentraler Pfeiler der Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union, da ohne sie weder freier Wettbewerb noch überhaupt eine offene Marktwirtschaft möglich ist. Die Ausschaltung der Vertragsfreiheit in den Rechtsordnungen der EU und ihrer Mitgliedstaaten wäre demnach mit der Systementscheidung in Art. 119 Abs. 1 AEUV unvereinbar. Die Vertragsfreiheit ist aus Sicht der unionalen Wirtschaftsverfassung konstitutiv für das Funktionieren des Binnenmarktes sowie für die Wirkmacht des freien Wettbewerbs und der Verkehrsfreiheiten. Insoweit erfährt diese Freiheit in der EU-Rechtsordnung eine institutionelle, binnenmarktbezogene Legitimation. Die ideengeschichtliche Annäherung an die Vertragsfreiheit hat gezeigt, dass neben die wirtschaftliche im Laufe der Zeit auch eine individualrechtli131 In diesem Sinne bereits Basedow, AcP 200 (2000), 445, 486; G. Wagner, in: Blaurock / Hager (Hrsg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), S. 13, 19 f. 132 Statt aller Mestmäcker / Schweizer, Europäisches Wettbewerbsrecht (2014), § 3 Rn. 12. 133 Mestmäcker, JZ 1964, 441, 445. Siehe zum Wettbewerb als „Entmachtungsinstrument“ bereits Böhm, in: Institut für ausländisches und internationales Wirtschaftsrecht (Hrsg.), Kartelle und Monopole im modernen Recht I (1961), S. 1, 22. 134 Zu den Nachteilen, die das unionale Wettbewerbsrecht zu verhindern sucht, zählt EuGH Urt. v. 21.5.2015 – Rs. C-352/13 (CDC), EU:C:2015:335 Rn. 43 entsprechend die „Beschränkung der Vertragsfreiheit durch [ein] Kartell, die dazu führt, dass es für die Käufer unmöglich wird, ihren Bedarf zu einem nach den Gesetzen des Marktes gebildeten Preis zu decken“ (Herv. d. Verf.). Vgl. wiederum auch Basedow, LM § 8 AGB-Gesetz Nr. 30, der im Kontext der Klausekontrolle herausstellt, dass ungehemmte Vertragsfreiheit dort „zur Willkür“ zu werden droht, wo das „Korrelat der machtbeugenden Wirkung des Wettbewerbs fehlt“. 135 Vgl. Basedow, Von der deutschen zur europäischen Wirtschaftsverfassung (1992), S. 13.

56

Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

che, aus der Autonomie des Menschen fließende Rechtfertigung getreten ist: Die Freiheit, Verträge zu schließen, wird demnach anerkannt, weil sie Ausdruck der Selbstbestimmung und Persönlichkeitsentfaltung des vernunftbegabten Individuums in der rechtsgeschäftlichen Sphäre ist. Hierin besteht die individualistische Legitimation der Vertragsfreiheit: Soweit sie Ausdruck des freien Willens und der Selbstbestimmung der Person ist, muss diese Freiheit bereits um ihrer selbst willen gewährleistet werden. Doch erkennt das Unionsrecht auch diese individualrechtliche Dimension der Vertragsfreiheit an? Dies führt zunächst zur Frage, inwieweit die Rechtsordnung der Europäischen Union von der Prämisse der natürlichen Selbstbestimmungs- und Willensfreiheit des Menschen ausgeht und die Handlungsform des „Vertrages“ als Instrument zur Verwirklichung rechtsgeschäftlicher Selbstbestimmung anerkennt.

§ 3 Selbstbestimmung und Vertrag als unionsrechtliche Kategorien § 3 Selbstbestimmung und Vertrag als unionsrechtliche Kategorien

Vertragsfreiheit baut notwendig auf der Willensfreiheit und der Selbstbestimmung des Menschen auf.136 Diese Konzepte haben indes in unterschiedlichen Disziplinen einen schweren Stand: Beispielsweise hinterfragt die Neurobiologie wie auch die Verhaltensökonomie die menschliche Fähigkeit zur rechtsgeschäftlichen Selbstbestimmung in einzelnen Bereichen oder gleich insgesamt.137 Da eine detaillierte Aufgliederung der zahlreichen Diskussionsstränge den Rahmen dieser Untersuchung sprengen würde, begnügt sich die vorliegende Darstellung mit der ökonomisch fundierten Erkenntnis, dass Gradmesser der Selbstbestimmung nur beschränkte, nicht aber vollkommene Rationalität sein kann: Weil typischerweise Entscheidungen unter Unsicherheit getroffen werden und die Ressourcen des Entscheidenden zudem begrenzt sind, kann es nur um die jeweils menschenmögliche autonome Nutzung von Handlungsspielräumen gehen.138 136 Statt vieler Mestmäcker, JZ 1964, 441; Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts II (1979), S. 1; Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers (1998), S. 208; Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang (1999), S. 52; auch Auer, Materialisierung, Flexibilierung, Richterfreiheit (2005), S. 12 ff.; M.-P. Weller, Die Vertragstreue (2009), S. 156. 137 Vgl. zur neurobiologischen Sicht auf die Fähigkeit, Finanzdienstleistungsverträge in bestimmten Altersstufen abzuschließen nur Weierich/Kensinger / Munnell et al., SCAN 6 (2011), 195. Siehe statt vieler auch Mankowski, AcP 211 (2011), 153 („Verändert die Neurobiologie die rechtliche Sicht auf Willenserklärungen?“); Cording / Roth, NJW 2015, 26 („Zivilrechtliche Verantwortlichkeit und Neurobiologie – ein Widerspruch?“). Vgl. zu den Implikationen der Verhaltensökonomie statt vieler Fleischer / Schmolke / Zimmer, in: Fleischer / Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht (2011) S. 9, 12 ff.

§ 3 Selbstbestimmung und Vertrag als unionsrechtliche Kategorien

57

Von hier ausgehend ist der Frage nachzuspüren, inwieweit das Unionsrecht die so verstandene Selbstbestimmungfähigkeit der Marktbürger postuliert (A). Für die Untersuchung der Vertragsfreiheit im Binnenmarkt ist darüber hinaus die unionale Konzeption des Vertrags (B) von fundamentaler Bedeutung. Das Vertragsverständnis bestimmt die Reichweite sowie den Gewährleistungsgehalt der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie, da es darüber entscheidet, welche Erscheinungen des unionalen und mitgliedstaatlichen Privatrechts auf Ebene des Unionsrechts als Vertrag anerkannt und geschützt werden. Dabei ist der unionsrechtliche Vertragsbegriff zwar einerseits notwendig autonom zu verstehen und insofern von den Kategorien des mitgliedstaatlichen Privatrechts entkoppelt. Andererseits muss der unionale Vertragsbegriff grundsätzlich das gesamte Spektrum der nationalen Vertragskonzepte in sich aufnehmen können. Damit schließt sich hier zugleich der Kreis zur ideengeschichtlichen Entwicklung der Vertragsfreiheit und des Vertrags in den EUMitgliedstaaten (C). A. Prämisse der Selbstbestimmungsfreiheit und Selbstverantwortung Eine der menschlichen Freiheit verpflichtete Rechtsordnung kommt ohne die Anerkennung der natürlichen Freiheit zur Selbstbestimmung und Selbstverantwortung nicht aus.139 Dies gilt auch und gerade für die Europäische Union, die ausweislich der Grundrechtecharta „die Person in den Mittelpunkt ihres Handelns“ stellt und gemäß Art. 2 EUV sowohl die Menschenwürde als auch die Freiheit zu ihren Grundwerten zählt. Vor diesem Hintergrund betont Generalanwältin Stix-Hackl in ihren Schlussanträgen zur Rechtssache Omega prägnant die „Bezogenheit des Würdebegriffs zur Selbstbestimmung und 138 In diesem Sinne auch G. Wagner, in: Blaurock / Hager (Hrsg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), S. 13, 20. Siehe zur heutigen Sicht auf diese „bounded rationality“ nur den Überblick bei Selten, in: Gigerenzer / Selten (eds.), Bounded Rationality (2002), S. 13 ff. Als „frei“ wird man den Willen und als „selbstbestimmt“ die darauf beruhenden Handlungen in Anlehnung an den z. B. schon bei Kant, v. Savigny und v. Hayek anzutreffenden negativen Freiheitsbegriff grundsätzlich bezeichnen können, wenn die Willensbildung und -äußerung autonom durch das Individuum in Abwesenheit externen und insbesondere hoheitlichen Zwangs erfolgt: So definiert Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797, 1907), AA VI, S. 237 Freiheit als „Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür“. Auch v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts I (1840), S. 333 betont, dass „dem individuellen Willen ein Gebiet angewiesen ist, in welchem er unabhängig von jedem fremden Willen zu herrschen hat“. Siehe auch v. Hayek, The Constitution of Liberty (1960, 2011), S. 63 und 65 („‚freedom‘ in the sense of absence of coercion“). 139 Prägnant M.-P. Weller, Die Vertragstreue (2009), S. 165. Zumindest mit Blick auf das Verbrauchervertragsrecht skeptisch indes Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbrauchervertragsrechts (2004), S. 326: „Offenbar sieht das europäische Verbrauchervertragsrecht die individuelle Selbstbestimmung nicht als eigenständigen Wert an“.

58

Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

Freiheit des Menschen“.140 Auch hat der EGMR die „personal autonomy“ des Menschen bereits zuvor als allgemeines Prinzip identifiziert, welches insbesondere die Auslegung und Anwendung des Konventionsgrundrechts auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 EMRK leiten soll.141 Da gemäß Art. 52 Abs. 3 dem wortlautgleichen Art. 7 Abs. 1 GRCh grundsätzlich dieselbe Bedeutung und Tragweite wie Art. 8 EMRK zukommt,142 findet das Prinzip der Selbstbestimmung und -verantwortung insoweit Eingang in das Unionsrecht. Die Ausrichtung des Unionsrechts an der Autonomie des Einzelnen geht auch aus Art. 3 Abs. 2 lit. a GRCh besonders klar hervor, wenn dort im Kontext des Unionsgrundrechts auf Unversehrtheit z. B. medizinische Eingriffe stets an „die freie Einwilligung des Betroffenen“ gekoppelt werden.143 Auch darüber hinaus enthält das Primärrecht Anhaltspunkte dafür, dass die gesamte Unionsrechtsordnung auf der Prämisse der Selbstbestimmungsfreiheit und der Selbstverantwortung ruht: Beispielsweise hat der EuGH im kartellrechtlichen Kontext wiederholt ein „Selbstständigkeitspostulat“ bemüht und zusammen mit der „Entscheidungsautonomie“ der Marktakteure als „Grundgedanke[n] der Wettbewerbsvorschriften des Vertrags“ identifiziert.144 Nach der Lesart der Generalanwälte des EuGH untersagt das Unionsrecht 140 Vgl. zur mittlerweile in Art. 1 GRCh ausdrücklich geschützten Menschenwürde GA Stix-Hackl Schlussanträge v. 18.3.2004 – Rs. C-36/02 (Omega), Slg. 2004, I-9609 Rn. 78 f.: „Die Menschenwürde wurzelt insgesamt tief in der Entstehung eines Menschenbildes im europäischen Kulturkreis, der den Menschen als zur Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung begabtes Wesen begreift. Aufgrund seiner Fähigkeit zur eigenen, freien Willensbildung ist er Subjekt und darf nicht zur Sache, zum Objekt, herabgewürdigt werden“. 141 Mit Blick auf Art. 8 Abs. 1 EMRK führt der EGMR Urt. v. 29.4.2002 – Nr. 2346/02 (Petty / United Kingdom), Rn. 61 aus: „Although no previous case has established as such any right to self-determination as being contained in Article 8 of the Convention, the Court considers that the notion of personal autonomy is an important principle underlying the interpretation of its guarantees“ (Herv. d. Verf.). Gleichsinnig z. B. EGMR Urt. v. 12.6.2014 – Nr. 56030/07 (Fernández Martínez / Spain), Rn. 126. 142 Art. 52 Abs. 3 GRCh lautet auszugsweise: „Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird“. 143 EuGH Urt. v. 9.10.2001 – Rs. C-377/98 (Niederlande / Europäisches Parlament und Rat), Slg. 2001, I-7079 Rn. 78 und 69 fordert für eine solche Einwilligung „die unbeeinflusste Zustimmung […] in voller Kenntnis der Sachlage“ und postuliert im medizinischen Kontext zudem ein „Recht des Menschen […], durch Zustimmung in voller Kenntnis der Sachlage über sich selbst zu verfügen“. 144 Z. B. EuGH Urt. v. 28.5.1998 – Rs. C-7/95 P (John Deere / Kommission), Slg. 1998, I-3111 Rn. 87 f.; EuGH Urt. v. 2.10.2003 – Rs. C-194/99 P (Thyssen / Kommission), Slg. 2003, I-10821 Rn. 82 f. Vgl. auch schon EuGH Urt. v. 16.12.1975 – verb. Rs. 40/73 u. a. (Suiker Unie u. a./Kommission), Slg. 1975, 1663 Rn. 173; EuGH Urt. v. 14.7.1981 – Rs. 172/80 (Züchner), Slg. 1981, 2021 Rn. 13; GA Lenz Schlussanträge v. 19.4.1989 – Rs. C-62/86 (AKZO/Kommission), Slg. 1991, I-3396 Rn. 147.

§ 3 Selbstbestimmung und Vertrag als unionsrechtliche Kategorien

59

zudem Diskriminierungen gemäß Art. 21, 23 GRCh sowie kraft der auf Basis des Art. 19 AEUV ergangenen Rechtsakte deshalb, weil hierdurch die natürliche Freiheit zur Selbstbestimmung – auch und gerade im rechtsgeschäftlichen Bereich – beeinträchtigt werde.145 Im Sekundärrecht scheint das Postulat umfassender Selbstbestimmungsund Willensfreiheit in nahezu allen unionsrechtlichen Materien und Regelungszusammenhängen auf: Zunächst achtet das Recht der Europäischen Union auch hier den naturgegebenen „freie[n] Wille[n] und die freie Wahl“ in allen Fragen, welche die körperliche Sphäre und grundlegende menschliche Bedürfnisse, wie etwa die Ernährung, betreffen.146 Zudem nennt das Unionsrecht die „Entscheidungsfreiheit“ als zentrales Charakteristikum der europäischen Marktbürger.147 Entsprechend wird das unionale Lauterkeitsrecht ebenfalls vom Selbstverantwortungs- und Selbstbestimmungsprinzip beherrscht, zumal die Lauterkeitsrichtlinie148 explizit den „Durchschnittsverbraucher, der angemessen gut unterrichtet und angemessen aufmerksam und kritisch ist,“ zum Leitbild wählt.149 Siehe im Kontext der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG nur GA Poiares Maduro Schlussanträge v. 31.8.2008 – Rs. C-303/06 (Coleman), Slg. 2008, I-5603 Rn. 10 f.: „Das Ziel des Art. 13 EG und der Richtlinie ist es, die Würde und das Selbstbestimmungsrecht von Menschen zu schützen […]. Entsprechend bedeutet ein Bekenntnis zum Selbstbestimmungsrecht, dass Menschen in Bereichen, die für ihr Leben von grundlegender Bedeutung sind, nicht dadurch wertvolle Wahlmöglichkeiten genommen werden dürfen, dass auf fragwürdige Kategorien abgestellt wird“. Gleichsinnig GA Sharpston Schlussanträge v. 22.5.2008 – Rs. C-427/06 (Bartsch), Slg. 2008, I-7425 Rn. 98, die zudem explizit auf die „Bedeutung der Entscheidungsfreiheit für die Selbstbestimmung“ verweist (dort in Fn. 90). 146 Vgl. im Kontext der Richtlinie 98/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juli 1998 über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen, ABl. 1998 L 213/13 etwa EuGH Urt. v. 9.10.2001 – Rs. C-377/98 (Niederlande / Europäisches Parlament und Rat), Slg. 2001, I-7079 Rn. 69. Deutlich tritt die apriorische Konzeption hervor, wenn der „freie Wille und die freie Wahl“ in Ernährungsfragen betont werden, siehe dazu nur die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 25. September 2008 zu dem Weißbuch zu Ernährung, Übergewicht, Adipositas: eine Strategie für Europa, ABl. 2010 C 8E/97, 102. 147 So wird mithilfe dieses Merkmals der „wirtschaftliche Entscheidungsträger“ im Binnenmarkt für die Zwecke der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung in der Europäischen Union definiert, siehe Anhang A Kapitel 2 Nr. 2.12 Verordnung (EG) Nr. 2223/96 des Rates vom 25. Juni 1996 zum Europäischen System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen auf nationaler und regionaler Ebene in der Europäischen Gemeinschaft, ABl. 1996 L 310/1: Vermöge seiner „Entscheidungsfreiheit“ kann der Marktbürger demnach unter anderem „Verträge abschließen“. 148 Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken von Unternehmen gegenüber Verbrauchern im Binnenmarkt und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. 2005 L 149/22. 145

60

Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

Die Prämisse der natürlichen Willens- und Selbstbestimmungsfreiheit beherrscht darüber hinaus gerade das gesamte Privatrecht der Union, wobei das Verbrauchervertragsrecht keine Ausnahme bildet, sondern von den Konsumenten gerade „Eigenverantwortung [verlangt], wo es darum geht, ihre Interessen geltend zu machen“.150 Insbesondere überträgt der EuGH nun das autonomiezentrierte Konsumentenbild der Grundfreiheiten und des unionalen Lauterkeitsrechts ausdrücklich auf das EU-Verbrauchervertragsrecht: Hier wie dort bildet also der „normal informierte, angemessen aufmerksame und verständige Durchschnittsverbraucher“ den Maßstab.151 Der Grundsatz der Selbstbestimmung scheint überdies beispielsweise im Recht der Klauselkontrolle,152 in der Verbraucherrechte-153 und Verbraucherkreditrichtlinie,154 im internationalen Unionsprivatrecht,155 im Finanzdienstleistungsvertrags- und 149 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 18 Lauterkeitsrichtlinie. Vgl. aber zur gruppenspezifischen Maßstabbildung auch Erwägungsgrund Nr. 19 sowie z. B. EuGH Urt. v. 18.10.2012 – Rs. C-428/11 (Purely Creative), EU:C:2012:651 Rn. 53. Mit Blick auf die Lauterkeitsrichtlinie führt GA Trstenjak Schlussanträge v. 24.3.2010 – Rs. C-540/08 (Mediaprint), Slg. 2010, I-10909 Rn. 96 zudem aus: „Schutzgut dieser Regelung ist die Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers“. Vgl. zur „Entscheidungs- oder Verhaltensfreiheit“ zudem nur Art. 8 sowie zur „Wahlfreiheit der Verbraucher“ nur Erwägungsgründe Nr. 7 und 16 Lauterkeitsrichtlinie. 150 Vgl. nur Europäische Kommission, Verbraucherpolitischer Aktionsplan 1999–2001, KOM(1998) 696 endg., S. 10. Auch die Europäische Kommission, Verbraucherpolitische Strategie 2002–2006, KOM(2002) 208 endg., S. 6 sucht die Verbraucher lediglich in die Lage zu versetzen „ihre Interessen selbst wahrzunehmen“. 151 Beispielsweise bewertet EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C: 2014:282 Rn. 74 die Transparenz einer Klausel in einem Darlehensvertrag gerade aus der Perspektive ebendieses „Durchschnittsverbraucher[s]“. Siehe zuletzt auch EuGH Urt. v. 23.4.2015 – Rs. C-96/14 (Van Hove), EU:C:2015:262 Rn. 47. Die Brücke zwischen Lauterkeits- und Verbrauchervertragsrecht hat bereits frühzeitig GA Trstenjak Schlussanträge v. 29.11.2011 – Rs. C-453/10 (Pereničová), EU:C:2011:788 Rn. 99 f. und 121 ff. geschlagen. Siehe zum Wandel des Verbraucherleitbildes statt vieler auch Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers (1998), S. 414 ff.; BeckOGK / Alexander (2016) § 13 BGB Rn. 354 ff. 152 Deutlich z. B. GA Wahl Schlussanträge v. 12.2.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C: 2014:85 Rn. 3 („Grundsätze der Willensautonomie und der Vertragsfreiheit“). 153 So betont etwa EuGH Urt. v. 17.12.2009 – Rs. C-227/08 (Martín Martín), Slg. 2009, I-11939 Rn. 34 im Hinblick auf Art. 4 Haustürgeschäfterichtlinie (nunmehr: Art. 6 Verbaucherrechterichtlinie), dass hierdurch die freie Willensbildung des Verbrauchers gewährleistet werden solle. 154 Vgl. zur freien Willensbildung sowie zur „Beeinflussung der Willensbildung des Verbrauchers“ im Kontext der Verbraucherkreditrichtlinie nur GA Trstenjak Schlussanträge v. 29.11.2011 – Rs. C-453/10 (Pereničová), EU:C:2011:788 Rn. 99, 124 f. und 127. 155 Siehe zur Willensfreiheit als Voraussetzung der Rechts- bzw. Gerichtsstandswahl im internationalen Unionsprivatrecht nur GA Bot Schlussanträge v. 19.5.2009 – Rs. C133/08 (ICF), Slg. 2009, I-9687 Rn. 10 und 36; GA Trstenjak Schlussanträge v. 16.12.2010 – Rs. C-29/10 (Koelzsch), Slg. 2011, I-1595 Rn. 47; GA Jääskinen Schlussan-

§ 3 Selbstbestimmung und Vertrag als unionsrechtliche Kategorien

61

Antidiskriminierungsrecht156 sowie im Kontext von Arbeitsverhältnissen157 auf. Gleiches gilt in den Teildisziplinen des unionalen Wirtschaftsvertragsrechts, wie etwa im Marken- und Sortenschutzrecht,158 im Vergaberecht159 und in den Regelungen zu Betriebsübergängen160 sowie im Treibhausgasemissionshandel.161 Dabei erkennt das Unionsrecht grundsätzlich auch juristischen Personen und sonstigen Verbänden die – von der Rechtsfähigkeit nach mitgliedstaatlichem Recht unabhängige – Selbstbestimmungsfreiheit zu162 und sichert sie durch Art. 12 GRCh in gewissem Rahmen nunmehr auch unionsgrundrechtlich ab.163 Wenn die natürliche Selbstbestimmungsfreiheit allerdings zum Zweck des Vertragsschlusses eingesetzt wird, bedarf diese Freiheitsbetätigung der Aner-

träge v. 18.10.2012 – Rs. C-543 (Refcomp), EU:C:2012:637 Rn. 41; GA Wahl Schlussanträge v. 16.4.2013 – Rs. C-64/12 (Schlecker), EU:C:2013:241 Rn. 21. Vgl. bereits zuvor GA Darmon Schlussanträge v. 19.2.1991 – Rs. C-190/89 (Rich), Slg. 1991, I-3865 Rn. 13. 156 Mit Blick auf die Anwendung des Art. 119 EGV (nun: Art. 157 AEUV) im versicherungsrechtlichen Kontext fordert z. B. GA van Gerven Schlussanträge v. 4.5.1994 – Rs. C-408/92 (Avdel Systems), Slg. 1994, I-4437 Rn. 23 den „Respekt vor der Willensfreiheit der Parteien“. 157 Vgl. zur „Willenautonomie“ beim Abschluss von Arbeitsverträgen nur GA Léger Schlussanträge v. 8.7.2004 – Rs. C-409/02 P (Pflugradt / EZB), Slg. 2004, I-9873 Rn. 28. 158 Vgl. zum „Grundsatz der Willensfreiheit“ im Kontext des unionalen Markenrechts etwa GA Colomer Schlussanträge v. 19.1.2006 – Rs. C-259/04 (Emanuel), Slg. 2006, I3092 Rn. 35 sowie zum unionalen Sortenschutz z. B. GA Colomer Schlussanträge v. 9.2.2006 – verb. Rs. C-7/05 u. a. (Saatgut-Treuhandverwaltung), Slg. 2006, I-5048 Rn. 51. 159 Deutlich etwa GA Colomer Schlussanträge v. 8.11.2006 – Rs. C-412/04 (Kommission/Italien), Slg. 2007, I-619 Rn. 29 („Willensfreiheit“); GA Mengozzi v. 27.2.2014 – Rs. C-574/12 (SUCH u. a.), EU:C:2014:120 Rn. 49 („Willensautonomie“). 160 Vgl. GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 19.2.2013 – Rs. C-426/11 (AlemoHerron), EU:C:2013:82 Rn. 56 („Willensautonomie“). 161 Vgl. nur EuG Urt. v. 7.11.2007 – Rs. T-374/04 (Deutschland / Kommission), Slg. 2007, II-4431 Rn. 95 („Willensfreiheit“). 162 Vgl. z. B. EuGH Urt. v. 28.5.1998 – Rs. C-7/95 P (John Deere / Kommission), Slg. 1998, I-3111 Rn. 87 f. Vgl. zur Selbstbestimmungsfreiheit von Verbänden zudem nur GA Fennelly Schlussanträge v. 6.6.1996 – verb. Rs. C-267/95 u. a. (Merck u. a.), Slg. 1996, I6289 Rn. 113. 163 Der Schutzbereich der unionalen Vereinigungsfreiheit nach Art. 12 GRCh erfasst auch wirtschaftliche Vereinigungen und schließt jedenfalls solche Aktivitäten ein, die – wie etwa die organisatorische Willensbildung und Selbstbestimmung – wesentlich sowohl für die Wahrnehmung der Freiheit durch die dahinterstehenden natürlichen Personen als auch für die Betätigung der Vereinigung sind, statt vieler Meyer / Bernsdorff (2014), Art. 12 GRCh Rn. 15; Jarass (2016), Art. 12 GRCh Rn. 21 ff. Vgl. zum Schutz der Vereinigungsfreiheit gemäß Art. 11 EMRK sowie dem hieraus abgeleiteten allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts schon zuvor EuGH Urt. v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4921 Rn. 79; EuGH Urt. v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 (Werhof), Slg. 2006, I-2397 Rn. 33.

62

Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

kennung durch die Unionsrechtsordnung.164 So hängen beispielsweise die rechtlichen Wirkungen der Willensbetätigung unter anderem davon ab, ob der Erklärende rechts-165 und geschäftsfähig166 ist und die Erklärung zudem etwaige formale167 und materiale168 Voraussetzungen erfüllt. Dabei baut das Unionsrecht häufig auf den Anforderungen des mitgliedstaatlichen Privatrechts, insbesondere betreffend die Geschäftsfähigkeit sowie das Recht der Willenserklärungen, auf.169 Einzelne Aspekte regelt das Unionsrecht aber schon beim derzeitigen Stand selbst.170 Dies gilt insbesondere für die Konzeption des Vgl. erneut oben Einleitung B I. Einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts, demzufolge „die Rechtsfähigkeit mit der Geburt erworben wird“ postuliert GA Tizzano Schlussanträge v. 18.5.2004 – Rs. C200/02 (Zhu und Chen), Slg. 2004, I-9925 Rn. 45. Vgl. zu Art. 18 und Art. 49 EG (Art. 21 und Art. 56 AEUV) auch EuGH Urt. v. 19.10.2004 – Rs. C-200/02 (Zhu und Chen), Slg. 2004, I-9925 Rn. 20. Siehe bereits zuvor Basedow, Von der deutschen zur europäischen Wirtschaftsverfassung (1992), S. 33. 166 Vgl. zur Rechts- und Geschäftsfähigkeit nur EuGH Urt. v. 17.11.1993 – Rs. C-71/92 (Kommission / Spanien), Slg. 1993, I-5978 Rn. 39 ff. Vgl. ferner zum „Grundsatz des Schutzes der Personen, die nach dem Recht der Mitgliedstaaten nicht geschäftsfähig sind, wie zum Beispiel Minderjährige“ z. B. Art. 3 Abs. 2 Richtlinie 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. September 2002 über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher und zur Änderung der Richtlinie 90/619/EWG des Rates und der Richtlinien 97/7/EG und 98/27/EG, ABl. 2002 L 271/16. 167 Vgl. z. B. zur Form von Gerichtsstandsvereinbarungen nur Art. 25 Abs. 1 Brüssel Ia. 168 Im Kontext des Art. 17 Brüssel Ia bedarf es laut EuGH Urt. v. 20.1.2005 – Rs. C27/02 (Engler), Slg. 2005, I-481 Rn. 53 in materialer Hinsicht stets einer Vertragsofferte, die „allein dem Willen ihres Urhebers entspringt“ und EuGH Urt. v. 14.5.2009 – Rs. C180/06 (Ilsinger), Slg. 2009, I-3961 Rn. 54 f. fordert darüber hinaus konkret, dass der Antragende ein „verbindliches Angebot macht, das hinsichtlich seines Gegenstands und seines Umfangs so klar und präzise ist, dass eine Vertragsbeziehung […] entstehen kann“, weil er darin seinen „Willen zum Ausdruck gebracht [hat], im Fall einer Annahme durch die andere Partei […] gebunden zu sein“. 169 Dies gilt nicht zuletzt dann, wenn sich die Union selbst – vermittelt durch ihre Organe – vertraglicher Handlungsformen bedient, vgl. nur Art. 335 AEUV, wonach die EU zu diesem Zwecke „in jedem Mitgliedstaat die weitestgehende Rechts- und Geschäftsfähigkeit [genießt], die juristischen Personen nach dessen Rechtsvorschriften zuerkannt ist“. 170 Siehe nur Art. 42 Nr. 6 lit. a i. V. m. Art. 44 Abs. 1 Zahlungsdiensterichtlinie (Erklärungswirkung des Schweigens auf ein Angebot); Art. 6 Abs. 5 und Art. 22 Verbraucherrechterichtlinie („ausdrückliche Zustimmung“ als Voraussetzung einer wirksamen Einigung über Zusatzentgelte). Vgl. zudem Art. 8 Abs. 1 Verordnung (EU) Nr. 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung), ABl. 2016 L 119/1, der die Erklärung Minderjähiger in Bezug auf die Verarbeitung personenbezogener Daten im geschäftlichen Verkehr regelt. Obschon diese Vorschrift ausweislich ihres Abs. 3 das „allgemeine Vertragsrecht der Mitgliedstaaten, wie etwa die Vorschriften zur Gültigkeit, zum Zustandekommen oder zu den Rechtsfolgen eines Vertrags in Bezug auf ein Kind, unberührt“ lassen soll, dürften hier durchaus Wechselwirkungen bestehen: Schließlich ist die Preisgabe der Daten regelmäßig das „Entgelt“ für die Nutzung von Internetdiensten. 164 165

§ 3 Selbstbestimmung und Vertrag als unionsrechtliche Kategorien

63

Vertrags als Endpunkt der rechtsgeschäftlichen Willensbetätigung: Was von der Warte der EU-Rechtsordnung als „Vertrag“ zu behandeln ist, muss notwendig unionsrechtlich-autonom bestimmt werden. B. Vertragsbegriff des Unionsrechts „Omnis definitio in iure civile periculosa est“ – diese Warnung vor den Gefahren starrer Definitionen im Zivilrecht formulierten bereits die Digesten.171 Allein: Die unionale Vertragsfreiheit zu erforschen, ohne zuvor den Begriff des Vertrags und damit den Gewährleistungsgegenstand dieser Freiheit mit Inhalt gefüllt zu haben, „hieße einen Kirchthurm in die leere Luft stellen“.172 Die Umrisse des unionsrechtlichen Vertragsbegriffs lassen sich dabei nur vor dem Hintergrund der Konzeption sowie der Funktionen des Vertrags in der Unionsrechtsordnung bestimmen. Der Begriff muss zum einen alle Spielarten des Vertrags im Unionsprivatrecht und in anderen Sekundärrechtsakten sowie insbesondere im Primärrecht erfassen. Damit ist der Vertrag als Gewährleistungsgegenstand unionaler Vertragsfreiheit notwendig eine von dem jeweiligen mitgliedstaatlichen Begriffsverständnis entkoppelte, unionsrechtlichautonome Kategorie, was methodisch eine primär unionsrechtsimmanente Betrachtung nahelegt (I). Bei der Konturierung des unionalen Vertragsbegriffs ist jedoch zum anderen auch zu beachten, dass das Unionsrecht in mannigfaltiger Weise mit dem mitgliedstaatlichen Recht verzahnt ist: So regelt das Unionsprivatrecht gerade im Verbraucher-, Finanzdienstleistungs- und Wirtschaftsvertragsrecht häufig nur bestimmte schuldrechtliche Aspekte, wohingegen andere Fragen, wie etwa das Zustandekommen des Vertrags, dem mitgliedstaatlichen Privatrecht unterliegen. 173 Gerade weil das Unionsrecht in grundlegenden Fragen auf dem nationalen Recht aufbaut, muss jeder in Übereinstimmung mit dem nationalen Zivilrecht geschlossene Vertrag auch auf Ebene des Unionsrechts als solcher anerkannt und in den Gewährleistungsbereich der unionalen Vertragsfreiheit einbezogen werden. Folglich muss der unionale Vertragsbegriff so konzipiert sein, dass er grundsätzlich sämtliche in den Mitgliedstaaten bekannten Erscheinungen des Vertrags in sich aufzunehmen vermag. Dies streitet methodisch für eine auch rechtsvergleichende Annäherung an die unionale Vertragskonzeption (II). Erst in der Zusammenschau der unionsrechtsimmanent sowie rechtsvergleichend gewonnenen Erkenntnisse – und mithin als Synthese des acquis communautaire und des acquis commun – nimmt das unionale Vertragsverständnis Gestalt an (III). 171 D. 50.17.202. Freilich wandte sich Lucius Iavolenus Priscus mit diesem Ausspruch zuvörderst gegen verallgemeinernde, das heißt also vom individuellen Fall gelöste, Ansätze. 172 Vgl. zu dieser Wendung nur Kahn, JherJb. 40 (1899), 1, 54. 173 Vgl. nur Erwägungsgründe Nr. 14 und Nr. 42 sowie Art. 3 Abs. 5 Verbraucherrechterichtline.

64 I.

Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

Unionsrechtsimmanente Begriffsbildung

Hinsichtlich des unionalen Vertragsbegriffs wird häufig ausschließlich auf die Definitionen in akademischen Vorarbeiten für ein europäisches Vertragsrecht, wie etwa die Principles of European Contract Law (PECL) und den Draft Common Frame of Reference (DCFR), sowie auf rechtsvergleichende Betrachtung verwiesen.174 Wenngleich der europäische acquis commun unbedingt berücksichtigt werden muss, übergehen solche Ansätze die aus Sicht des Unionsrechts vorrangige Frage, ob sich im acquis communautaire bereits ein eigenständiger Vertragsbegriff herausgebildet hat. Dass weder der Unionsgesetzgeber noch der EuGH bislang eine allgemeine, für sämtliche Einzelrechtsakte maßgebliche Vertragsdefinition entwickelt haben, dürfte zunächst vorrangig der Heterogenität und Zersplitterung des geschriebenen Privatrechts der Union geschuldet sein. Dies bedeutet indes keineswegs, dass das Unionsprivatrecht nicht schon beim derzeitigen Entwicklungsstand auf einer autonomen Vertragskonzeption aufbaut. Womöglich lassen sich die Bausteine des Vertragsbegriffs durch die Gegenüberstellung unterschiedlicher Rechtsakte und Regelungsbereiche des Unionsprivatrechts identifizieren. Dabei gilt es zunächst, die oftmals nur oberflächlichen terminologischen Unterschiede Schicht für Schicht abzutragen, um sodann die Gemeinsamkeiten herausarbeiten zu können. Einen vielversprechenden Ausgangspunkt für diese unionsrechtsimmanente Betrachtung bildet das Sekundärrecht der Union einschließlich der hierzu ergangenen Rechtsprechung des EuGH (1). So hat der Gerichtshof insbesondere im internationalen Unionsprivatrecht frühzeitig erste Konturen eines autonomen Vertragsverständnisses aufgezeigt.175 Der Ansatz des EuGH ist deshalb von besonderem Interesse, weil der in dieser Materie gewonnene Vertragsbegriff Ähnliches leisten muss wie der für die hiesige Abhandlung zu entwickelnde: Namentlich ist der Begriff einerseits vom Verständnis in den nationalen Privatrechtsordnungen entkoppelt und muss andererseits doch alle in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen als Verträge anerkannten Instrumente erfassen. Darüber hinaus lässt sich auch das Primärrecht der Union zur Konturierung des unionalen Vertragsbegriffs fruchtbar machen (2). Schließlich sind die unionsrechtsimmanent gewonnenen Erkenntnisse zu einem verallgemeinerungsfähigen Konzept zusammenzuführen (3).

174 So z. B. Busseuil, Contribution à l’étude de la notion de contrat en droit privé européen (2009), S. 275 ff.; Urlaub, Einseitig verpflichtende Rechtsgeschäfte im internationalen Privatrecht (2010), S. 7 ff., 79 ff. und 107 ff. Ähnlich Ghestin / Loiseau / Serinet, La formation du contrat I (2013), Rn. 58 ff. 175 Siehe zum EuGVÜ schon EuGH Urt. v. 22.3.1983 – Rs. 34/82 (Peters), Slg. 1983, 987 Rn. 9 f. Siehe mit Blick auf die Brüssel Ia zuletzt z. B. EuGH Urt. v. 13.3.2014 – Rs. C-548/12 (Brogsitter), EU:C:2014:148 Rn. 18.

§ 3 Selbstbestimmung und Vertrag als unionsrechtliche Kategorien

65

1. Vertragsbegriff des Sekundärrechts a) Internationales Unionsprivatrecht In seiner Rechtsprechung zum internationalen Unionsprivatrecht stand der EuGH vor der Herausforderung, Grundzüge eines eigenständigen Vertragsbegriffs zu entwickeln: Namentlich galt es für die Zwecke des Vertrags- und Verbrauchergerichtsstandes nach Art. 7 Nr. 1 bzw. Art. 17 Abs. 1 Brüssel Ia176 stets zunächst zu klären, ob die geltend gemachten Ansprüche „unabhängig von ihrer Qualifizierung nach nationalem Recht vertraglicher Natur sind“.177 Entsprechend ist die Bezugnahme auf einen „Vertrag“ sowohl in Art. 7 Nr. 1 als auch in Art. 17 Abs. 1 Brüssel Ia „als autonomer Begriff anzusehen“.178 Die Konturen dieses Begriffs bleiben allerdings im Rahmen des Art. 7 Nr. 1 Brüssel Ia eher vage: Laut EuGH setzt der unionale Vertragsbegriff hier zumindest eine „von einer Partei gegenüber einer anderen freiwillig eingegangene Verpflichtung“ voraus.179 Bereits aus dieser rudimentären Definition geht hervor, dass der Gerichtshof den Vertrag als ein – mindestens – bipolares Phänomen begreift,180 dessen Entstehung und Bindungswirkung jeweils auf dem Parteiwillen beruht.181 Soweit der EuGH überdies auf eine „Verpflichtung“ abhebt,182 deutet dies darauf hin, dass gerade eine rechtserhebli176 Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Neufassung), ABl. 2012 L 351/1. 177 Mit Blick auf die Vorgängerregelung zuletzt etwa EuGH Urt. v. 13.3.2014 – Rs. C548/12 (Brogsitter), EU:C:2014:148 Rn. 31. Vgl. bereits zuvor nur EuGH Urt. v. 1.10.2002 – Rs. C-167/00 (Henkel), Slg. 2002, I-8111 Rn. 37. 178 So zum EuGVÜ grundlegend EuGH Urt. v. 22.3.1983 – Rs. 34/82 (Peters), Slg. 1983, 987 Rn. 9 f. Siehe mit Blick auf die Brüssel Ia zuletzt z. B. EuGH Urt. v. 25.10.2011 – Rs. C-509/09 u. a. (eDate Advertising u. a.), Slg. 2011, I-10269 Rn. 38; EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-147/12 (ÖFAB), EU:C:2013:490 Rn. 27; EuGH Urt. v. 13.3.2014 – Rs. C-548/12 (Brogsitter), EU:C:2014:148 Rn. 18. Siehe zu Art. 17 Brüssel Ia nur GA Szpunar Schlussanträge v. 3.9.2014 – Rs. C-375/13 (Kolassa), EU:C:2014:2135 Rn. 33. 179 Vgl. nur EuGH Urt. v. 17.6.1992 – Rs. C-26/91 (Handte), Slg. 1992, I-3967 Rn. 15; EuGH Urt. v. 27.10.1998 – Rs. C-51/97 (Réunion européenne), Slg. 1998, I-6511 Rn. 17; EuGH Urt. v. 17.9.2002 – Rs. C-334/00 (Tacconi), Slg. 2002, I-7357 Rn. 23; EuGH Urt. v. 5.2.2004 – Rs. C-265/02 (Frahuil), Slg. 2004, I-1543 Rn. 24; EuGH Urt. v. 20.1.2005 – Rs. C-27/02 (Engler), Slg. 2005, I-481 Rn. 50 ff.; EuGH Urt. v. 11.10.2007 – Rs. C-98/06 (Freeport), Slg. 2007, I-8319 Rn. 23; EuGH Urt. v. 14.3.2013 – Rs. C-419/11 (Feichter), EU:C:2013:165 Rn. 45 ff.; EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-147/12 (ÖFAB), EU:C:2013: 490 Rn. 33. 180 Vgl. statt vieler EuGH Urt. v. 17.6.1992 – Rs. C-26/91 (Handte), Slg. 1992, I-3967 Rn. 15: „gegenüber einer anderen [Partei]“. 181 Vgl. nur EuGH Urt. v. 17.6.1992 – Rs. C-26/91 (Handte), Slg. 1992, I-3967 Rn. 15: „freiwillig[e] eingegangenen Verpflichtung“. 182 Vgl. nur EuGH Urt. v. 17.6.1992 – Rs. C-26/91 (Handte), Slg. 1992, I-3967 Rn. 15: „freiwillig […] eingegang[en]“ (Herv. d. Verf.).

66

Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

che Willenserklärung erforderlich ist, da nur so eine über die bloße moralische Bindung hinausgehende rechtliche Verpflichtung eintreten kann. Dennoch sind Zweifel angebracht, ob diese Kriterien Grundlage eines allgemeinen unionalen Vertragsbegriffs sein können: Da der EuGH nur auf die freiwillige Verpflichtung einer Partei abstellt, ließe sich daraus schlussfolgern, dass potenziell auch die einseitige Erklärung des Verpflichteten bereits als Vertrag im Unionsrecht aufzufassen ist. Generalanwalt Jacobs versteht den Gerichtshof in ebendiesem Sinne und schlägt „die Frage, ob ein freiwillig gegebenes Versprechen eine vertragliche Verpflichtung entstehen lässt“, dem Vertragsrecht zu.183 Dieser Ansatz verwischt indes die Grenzen zwischen Vertrag und Versprechen184 und erinnert an das kanonistische Konzept nicht annahmebedürftiger, einseitig bindender Versprechen.185 Mag die Lehre vom einseitig bindenden Versprechen auch partiell in akademischen Projekten zum europäischen Vertragsrecht fortwirken,186 so gründet die weite Definition des EuGH bei näherem Hinsehen allein darin, dass Art. 7 Nr. 1 Brüssel Ia keineswegs den Abschluss und damit das Zustandekommen eines Vertrags voraussetzt: Vielmehr soll die Vorschrift als Generalklausel für vertragliche Streitigkeiten auch auf unwirksame Verträge und in Konstellationen anwendbar sein, in denen das Zustandekommen des Vertrags gerade umstritten ist. 187 Während das Erfordernis einer „freiwillig eingegangenen Verpflichtung“ als Minimalanforderung durchaus auf andere Bereiche des Unionsprivatrecht übertragbar sein dürfte, ist der zu Art. 7 Brüssel Ia entwickelte Vertragsbegriff den besonderen Funktionen des unionalen internationalen Zuständigkeitsrechts geschuldet, welches mit weit gesteckten Systembegriffen operiert. Bei der Suche nach einem verallgemeinerungsfähigen unionalen Vertragsbegriff gilt es mithin zusätzliche Kriterien zu identifizieren, denen ein Vertrag im unionsrechtlich-autonomen Sinne genügen muss. Im Bereich des internationalen Unionsprivatrechts ist unter diesem Gesichtspunkt zunächst die Rechtsprechung des EuGH zu Art. 17 Abs. 1 von 183 GA Jacobs Schlussanträge v. 8.7.2004 – Rs. C-27/02 (Engler), Slg. 2005, I-484 Rn. 45 (Herv. d. Verf.). 184 Dazu rechtsvergleichend Hogg, Promises and Contract Law (2014), S. 50 ff. 185 Siehe zur kanonistischen Vertragskonzeption sowie zur Pollizitationstheorie nur Zimmermann, Law of Obligations (1996), S. 495 (dort in Fn. 115), 572 ff.; ders., FS Heldrich (2005), S. 467 ff.; Kleinschmidt, Der Verzicht im Schuldvertragsrecht (2004), S. 70 ff.; M.-P. Weller, GS Hübner (2012), S. 435, 440 f. 186 Siehe mit Blick auf Art. 2:107 PECL sowie Art. II.-1:103 und Art. II-4:301 ff. DCFR nur Zimmermann, FS Heldrich (2005), S. 467 ff.; M.-P. Weller, GS Hübner (2012), S. 435, 440. 187 Z. B. EuGH Urt. v. 4.3.1982 – Rs. 38/81 (Effer), Slg. 1982, 825 Rn. 7; EuGH Urt. v. 28.1.2015 – Rs. C-375/13 (Kolassa), EU:C:2015:37 Rn. 38; EuGH Urt. v. 21.4.2016 – Rs. C-572/14 (Austro-Mechana), EU:C:2016:286 Rn. 34. Im unionalen Kollisionsrecht geht dies ausdrücklich aus Art. 10 Abs. 1 („Einigung und materielle Wirksamkeit“) sowie aus Art. 12 Abs. 1 lit. e Rom I („Folgen der Nichtigkeit des Vertrags“) hervor.

§ 3 Selbstbestimmung und Vertrag als unionsrechtliche Kategorien

67

besonderem Interesse, da diese Vorschrift den Abschluss eines Vertrags voraussetzt.188 Hier geht der EuGH ohne weiteres von der Geltung des Konsensprinzips aus, wie die Entscheidungen in den Rechtssachen Gabriel,189 Engler190 und Ilsinger191 verdeutlichen: Ausgangspunkt ist eine Vertragsofferte, die „allein dem Willen ihres Urhebers entspringt“.192 Der Antragende muss ein „verbindliches Angebot mach[en], das hinsichtlich seines Gegenstands und seines Umfangs so klar und präzise ist, dass eine Vertragsbeziehung […] entstehen kann“.193 Vor allem muss der Antragende klar seinen „Willen zum Ausdruck gebracht haben, im Fall einer Annahme durch die andere Partei […] gebunden zu sein“.194 Der EuGH fordert hier also zum einen gerade den Willen der Parteien, sich rechtlich durch den Vertrag zu binden. Der Wille zielt entsprechend auf die Herbeiführung eines rechtlichen Erfolgs. Zum anderen stellt der Gerichtshof klar, dass ein einseitiger Verpflichtungswille für sich genommen keinesfalls ausreicht, um einen von Art. 17 Abs. 1 Brüssel Ia erfassten Vertrag zur Entstehung zu bringen. Erforderlich ist vielmehr, dass der andere Teil auch „die Annahme des Angebots […] erklärt hat“.195 Erst „durch diese Willenseinigung der beiden Parteien [entstehen] gegenseitige, voneinander abhängige Pflichten im Rahmen eines Vertrags“ im Sinne des Art. 17 Abs. 1 Brüssel Ia.196 Erforderlich ist also eine freiwillige, wechselbezügliche Selbstbindung und mithin der Konsens durch übereinstimmende, auf Herbeiführung eines rechtlichen Erfolges gerichtete Willenserklärungen mindestens zweier Parteien. In dieselbe Richtung weist die Rechtsprechung des EuGH zu Gerichtsstandsvereinbarungen, zumal solche Vereinbarungen im internationalen Unionsprivatrecht ausweislich des Art. 25 Abs. 5 Brüssel Ia eigenständige Ver-

188 Vgl. Art. 17 Abs. 1 Brüssel Ia („geschlossen hat“). Laut EuGH Urt. v. 14.3.2013 – Rs. C-419/11 (Česká spořitelna), EU:C:2013:165 Rn. 30; EuGH Urt. v. 28.1.2015 – Rs. C375/13 (Kolassa), EU:C:2015:37 Rn. 23 muss entsprechend „ein Vertrag […] tatsächlich geschlossen worden sein“. 189 EuGH Urt. v. 11.7.2002 – Rs. C-96/00 (Gabriel), Slg. 2002, I-6367. 190 EuGH Urt. v. 20.1.2005 – Rs. C-27/02 (Engler), Slg. 2005, I-481. 191 EuGH Urt. v. 14.5.2009 – Rs. C-180/06 (Ilsinger), Slg. 2009, I-3961. 192 EuGH Urt. v. 20.1.2005 – Rs. C-27/02 (Engler), Slg. 2005, I-481 Rn. 53. 193 EuGH Urt. v. 14.5.2009 – Rs. C-180/06 (Ilsinger), Slg. 2009, I-3961 Rn. 54. 194 EuGH Urt. v. 14.5.2009 – Rs. C-180/06 (Ilsinger), Slg. 2009, I-3961 Rn. 55. 195 EuGH Urt. v. 11.7.2002 – Rs. C-96/00 (Gabriel), Slg. 2002, I-6367 Rn. 48. Dabei kann die Annahme gerade auch konkludent erfolgen, EuGH Urt. v. 14.5.2009 – Rs. C180/06 (Ilsinger), Slg. 2009, I-3961 Rn. 53 ff. Vgl. zudem EuGH Urt. v. 20.1.2005 – Rs. C-27/02 (Engler), Slg. 2005, I-481 Rn. 52 ff. 196 EuGH Urt. v. 11.7.2002 – Rs. C-96/00 (Gabriel), Slg. 2002, I-6367 Rn. 49. In diesem Sinne stellt auch GA Jacobs Schlussanträge v. 8.7.2004 – Rs. C-27/02 (Engler), Slg. 2005, I-484 Rn. 45 heraus, dass „ein zweiseitiges Verhältnis“ der Rechte und Pflichten der Vertragsparteien „weithin als zentrales Charakteristikum eines Vertrags angesehen wird“.

68

Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

träge – wenngleich mit prozessualer Zielrichtung –197 darstellen.198 Der Gerichtshof fordert, dass die Wahl des Gerichtsstandes „tatsächlich Gegenstand einer Willenseinigung zwischen den Parteien“ ist.199 Die Art. 25 Brüssel Ia zugrunde liegende Vertragskonzeption ist damit ebenfalls konsensbasiert und setzt die Beteiligung mindestens zweier Parteien voraus, die ihre Willenserklärungen auf einen rechtlichen Erfolg in Gestalt der Gerichtsstandswahl richten. Das Konsenserfordernis ist dabei laut EuGH unmittelbar in Art. 25 Brüssel Ia angelegt und bildet daher – ebenso wie der Begriff der Gerichtsstandsvereinbarung selbst – ein unionsrechtlich-autonomes Konzept, das unabhängig vom jeweiligen nationalen Verständnis beurteilt werden muss.200 Der Konsens ist von der Warte des Unionsrechts das tragende Element der 197 Gebauer, IPRax 2001, 471, 472; Rauscher / Mankowski (2015), Art. 25 Brüssel Ia Rn. 136. 198 Art. 25 Abs. 5 Brüssel Ia hebt hervor, dass eine „Gerichtsstandsvereinbarung, die Teil eines Vertrags ist, […] als eine von den übrigen Vertragsbestimmungen unabhängige Vereinbarung“ behandelt werden muss. Entsprechend kann eine Gerichtsstandsvereinbarung als Rahmenvereinbarung für hinreichend bestimmte künftige Rechtsverhältnisse getroffen und von einem konkreten Einzelvertrag entkoppelt werden, vgl. nur EuGH Urt. v. 10.3.1992 – Rs. C-214/89 (Powell Duffryn), Slg. 1992, I-1745 Rn. 30 ff.; EuGH Urt. v. 7.3.2013 – Rs. C-543/10 (Refcomp), EU:C:2013:62 Rn. 29 ff. Dazu statt aller Kropholler /  v. Hein (2011), Art. 23 EuGVVO Rn. 25 und 69 f. Siehe zu Art. 17 EuGVÜ auch EuGH Urt. v. 24.6.1986 – Rs. 22/85 (Anterist), Slg. 1986, 1951 Rn. 14: „Da Artikel 17 des Übereinkommens eine Bestätigung des Grundsatzes der Parteiautonomie darstellt, ist sein Absatz 3 so auszulegen, dass der gemeinsame Wille der Parteien bei Abschluss des Vertrags respektiert wird“ (Herv. d. Verf.). 199 So im Kontext des Art. 17 EuGVÜ bereits EuGH Urt. v. 14.12.1976 – Rs. 24/76 (Estasis Salotti), Slg. 1976, 1831 Rn. 7; EuGH Urt. v. 14.12.1976 – Rs. 25/76 (Segoura), Slg. 1976, 1851 Rn. 6. Siehe zuletzt nur EuGH Urt. v. 21.5.2015 – Rs. C-322/14 (El Majdoub), EU:C:2015:334 Rn. 26 ff.; EuGH Urt. v. 7.7.2016 – Rs. C-222/15 (Hőszig), EU:C:2016:525 Rn. 36; EuGH Urt. v. 28.6.2017 – Rs. C-436/16 (Leventis und Vafias), EU:C:2017:497 Rn. 33. Vgl. zum Erfordernis der „Willensübereinstimmung“ z. B. GA Capotorti Schlussanträge v. 17.11.1976 – Rs. 24/76 (Estasis Salotti), Slg. 1976, 1844 Rn. 3 ff.; GA Capotorti Schlussanträge v. 17.11.1976 – Rs. 25/76 (Segoura), Slg. 1976, 1863 Rn. 2 und 5. Siehe zur Ausnahmeregelung in Art. 25 Abs. 1 lit. c Brüssel Ia, derzufolge „die Willenseinigung der Vertragsparteien über eine Gerichtsstandsvereinbarung vermutet [wird], wenn in dem betreffenden Geschäftszweig des internationalen Handelsverkehrs entsprechende Handelsbräuche bestehen“ nur EuGH Urt. v. 20.2.1997 – Rs. C106/95 (MSG), Slg. 1997, I-911 Rn. 19 f. Siehe hierzu statt aller Rauscher / Mankowski (2015), Art. 25 Brüssel Ia Rn. 134 ff., dort auch m. w. N. zur AGB-rechtlichen Dimension. 200 Namentlich betont EuGH Urt. v. 9.12.2003 – Rs. C-116/02 (Gasser), Slg. 2003, I14721 Rn. 51, dass „das Vorliegen einer Willenseinigung der Parteien, […] in Artikel 17 EuGVÜ ausgedrückt ist“ und, dass dies ebenso wie auch die „Gerichtsstandsvereinbarung […] als autonomer Begriff anzusehen ist, der allein anhand des Tatbestands des Artikels 17 zu beurteilen ist“. Gleichsinnig schon EuGH Urt. v. 10.3.1992 – Rs. C-214/89 (Powell Duffryn), Slg. 1992, I-1745 Rn. 14. Siehe zuletzt auch EuGH Urt. v. 7.7.2016 – Rs. C222/15 (Hőszig), EU:C:2016:525 Rn. 29 ff.

§ 3 Selbstbestimmung und Vertrag als unionsrechtliche Kategorien

69

Gerichtsstandsvereinbarung und Ausdruck „des Grundsatzes der Vertragsautonomie“201 respektive der „Privatautonomie im Hinblick auf die Bestimmung des zuständigen Gerichts”.202 Auf ebendiesen „Grundsatz der Vertragsautonomie“ führt der EuGH in seiner Unamar-Entscheidung die in Art. 3 Rom I ebenso wie auch in Art. 14 Abs. 1 Rom II203 verankerte Rechtswahlfreiheit zurück.204 Womöglich lässt sich dieses Leitprinzip des unionalen Kollisionsrechts auch für den unionsrechtlich-autonomen Vertragsbegriff fruchtbar machen: Schließlich handelt es sich bei der Rechtswahlvereinbarung gemäß Art. 14 Abs. 1 Rom II und Art. 3 Rom I um einen von dem Hauptvertrag entkoppelten Verweisungsvertrag. 205 Diesen Vertrag behandelt Art. 3 Abs. 5 Rom I auf Ebene des unionalen Kollisionsrechts als eigenständiges Rechtsgeschäft, für dessen Zustandekommen Art. 10, 11 und 13 Rom I Anwendung finden. Mithin liegt ein Vertrag im unionsrechtlich-autonomen Sinne vor. Für das Zustandekommen fordert Art. 3 Abs. 5 Rom I explizit eine „Einigung der Parteien“, wobei hier wiederum das 201 EuGH Urt. v. 7.2.2013 – Rs. C-543/10 (Refcomp), EU:C:2013:62 Rn. 27 f.; EuGH Urt. v. 21.5.2015 – Rs. C-322/14 (El Majdoub), EU:C:2015:334 Rn. 26; EuGH Urt. v. 28.6.2017 – Rs. C-436/16 (Leventis und Vafias), EU:C:2017:497 Rn. 33. 202 Vgl. schon zum EuGVÜ GA Capotorti Schlussanträge v. 24.10.1979 – Rs. 25/79 (Sanicentral), Slg. 1979, 3431, 3433. Auch Erwägungsgründe Nr. 15 und 19 Brüssel Ia stützen die Gerichtsstandswahl nach Art. 25 Brüssel Ia nun ausdrücklich auf die „Vertragsfreiheit der Parteien“. Siehe nun auch EuGH Urt. v. 7.7.2016 – Rs. C-222/15 (Hőszig), EU:C:2016:525 Rn. 44: „Parteiautonomie im Bereich von Vereinbarungen über die gerichtliche Zuständigkeit“. 203 Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom II), ABl. 2007 L 199/40. 204 Siehe zum internationalen Zivilprozessrecht nur EuGH Urt. v. 21.5.2015 – Rs. C322/14 (El Majdoub), EU:C:2015:334 Rn. 26. Siehe zum Kollisionsrecht nur EuGH Urt. v. 17.10.2013 – Rs. C-184/12 (Unamar), EU:C:2013:663 Rn. 49: „Um dem Grundsatz der Vertragsautonomie der Parteien, dem Eckstein des Übereinkommens von Rom, der in der Rom-I-Verordnung übernommen wurde, volle Wirksamkeit zu verleihen, muss somit nach Art. 3 Abs. 1 des Übereinkommens von Rom dafür gesorgt werden, dass die freie Entscheidung der Vertragsparteien hinsichtlich des im Rahmen ihrer Vertragsbeziehung anwendbaren Rechts respektiert wird“. Ebenso sieht z. B. GA Kokott Schlussanträge v. 6.11.2014 – Rs. C-564/13 P (Planet AE/Kommission), EU:C:2014:2352 Rn. 32 f. in der Rechtswahl eine Form des „privatautonomen Zugriff[s]“. Schließlich begreift auch die EUKommission die Rechtswahl als Ausübung von Vertragsfreiheit, wenn sie meint, ein optionales Instrument auf dem Gebiet des Vertragsrechts könne „die Vertragsfreiheit auf zweierlei Art sicher stellen: erstens, weil die Parteien dieses Instrument als das anwendbare Recht wählen können, und zweitens, weil die Parteien die betreffenden Bestimmungen grundsätzlich abändern können“ (Herv. d. Verf.), siehe Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat – Ein kohärenteres europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan, ABl. 2003 C 61/1, 16. 205 Siehe statt vieler MünchKommBGB / Martiny (2015), Art. 3 Rom I Rn. 104; Staudinger / Magnus (2016), Art. 3 Rom I Rn. 166.

70

Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

Erfordernis der Mehrpoligkeit der vertraglichen Beziehung aufscheint.206 Zudem sind die Willenserklärungen auch im Rahmen des Art. 3 Rom I auf die Herbeiführung eines rechtlichen Erfolgs in Form der Rechtswahl gerichtet. Dass im internationalen Unionsprivatrecht insgesamt ein einheitliches Vertragsverständnis zugrundezulegen ist, betont der EuGH nun auch in seiner ERGO-Entscheidung: Hier überträgt der Gerichtshof den im Rahmen der Brüssel Ia entwickelten Vertragsbegriff explizit auf Rom I und Rom II.207 Fasst man den Befund zum internationalen Unionsprivatrecht zusammen, so erfordert der unionsrechtlich-autonome Vertragsbegriff grundsätzlich, dass mindestens zwei Parteien Konsens durch übereinstimmende und auf Herbeiführung eines rechtlichen Erfolges gerichtete Willenserklärungen erzielen. Diese Vertragskonzeption gilt es im Folgenden anhand weiterer unionaler Rechtsakte zunächst auf ihre Verallgemeinerungsfähigkeit im Bereich des Sekundärrechts hin zu überprüfen. b) Materielles Unionsprivatrecht Paradigmatisch für die terminologische Inkonsistenz des Unionsprivatrechts ist die Verwendung der Begriffe „Vertrag“ und „Vereinbarung“: So definierte etwa Art. 2 Nr. 5 Pauschalreiserichtlinie a. F.208 einen Vertrag für die Zwecke dieses Sekundärrechtsakts als „die Vereinbarung, die den Verbraucher an den Veranstalter und/oder Vermittler bindet“.209 In der Sache hält hieran auch Art. 7 Abs. 2 Pauschalreiserichtlinie210 weiter fest. Die Vereinbarung („agreeVgl. wiederum Art. 3 Abs. 5 Rom I. Darüber hinaus verdeutlicht beispielsweise auch Art. 3 Abs. 1 lit. b Verordnung (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses, ABl. 2012 L 201/107 (im Folgenden: EuErbVO), dass das internationale Unionsprivatrecht von der Beteiligung mindestens zweier Parteien ausgeht und sodann sowohl zwei- als auch einseitig verpflichtende Verträge anerkennt: Diese Vorschrift definiert den Erbvertrag für die Zwecke des internationalen Unionsprivatrechts nämlich als „eine Vereinbarung […], die mit oder ohne Gegenleistung Rechte am künftigen Nachlass oder künftigen Nachlässen einer oder mehrerer an dieser Vereinbarung beteiligter Personen begründet, ändert oder entzieht“. 207 EuGH Urt. v. 21.1.2016 – verb. Rs. C-359/14 u. a. (ERGO u. a.), EU:C:2016:40 Rn. 43 ff. 208 Richtlinie 90/314/EWG des Rates vom 13. Juni 1990 über Pauschalreisen, ABl. 1990 Nr. L 158/59. 209 Vgl. dazu auch EuGH Urt. v. 30.4.2002 – Rs. C-400/00 (Club-Tour), Slg. 2002, I4051 Rn. 19 f. 210 Richtlinie (EU) 2015/2302 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen, zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 90/314/EWG des Rates, ABl. 2015 L 326/1. 206

§ 3 Selbstbestimmung und Vertrag als unionsrechtliche Kategorien

71

ment“) soll auch ausweislich Art. 2:101 PECL211 und Art. II.-4:101 DCFR.212 ein entscheidendes Element des Vertrags sein. Diesen Ansatz wählt nun auch Art. 2 lit. h des Kommissionsvorschlags für eine Richtlinie über vertragsrechtliche Aspekte des Online-Warenhandels213 sowie Art. 2 Nr. 7 des Vorschlags für eine Richtlinie über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte:214 Vertrag im Sinne dieser Vorschläge ist „eine Vereinbarung, die darauf abzielt, Pflichten zu begründen oder andere rechtliche Wirkungen herbeizuführen“.215 Allerdings setzt das Sekundärrecht die Begriffe Vertrag und Vereinbarung an anderer Stelle teilweise gleich216 oder bezieht den Terminus Vereinbarung nur auf eine einzelne Vertragsklausel.217 Hier bewahrheitet sich auch im Unionsrecht die These von der „Relativität der Rechtsbegriffe“, derzufolge gleichlautende Begriffe in verschiedenen Zusammenhängen einen unterArt. 2.101(1) PECL (Conditions for the Conclusion of a Contract) lautet: „A contract is concluded if: (a) the parties intend to be legally bound, and (b) they reach a sufficient agreement without any further requirement“. 212 Art. II.-4:101 DCFR (Requirements for the conclusion of a contract) lautet: „A contract is concluded, without any further requirement, if the parties: (a) intend to enter into a binding legal relationship or bring about some other legal effect; and (b) reach a sufficient agreement“. 213 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte des Online-Warenhandels und anderer Formen des Fernabsatzes von Waren, KOM(2015) 635 endg. 214 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte, KOM(2015) 634 endg. 215 Vgl. auch schon Art. 2 lit. a des Vorschlags für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht, KOM(2011) 635 endg. (nachfolgend: GEK-E). In die gleiche Richtung weist – allerdings im internationalen Unionsprivatrecht – Art. 3 Abs. 1 lit. b EuErbVO, welcher den Erbvertrag ebenfalls als eine „Vereinbarung“ definiert. 216 Vgl. z. B. Art. 2 Nr. 15 Verbraucherrechterichtlinie. Vgl. im Kontext von Altersvorsorgeinstrumenten nur Art. 6 lit. b Richtlinie 2003/41/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. Juni 2003 über die Tätigkeiten und die Beaufsichtigung von Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung, ABl. 2003 L 235/10. Vgl. zur Austauschbarkeit der Begriffe „agreement“ und „contract“ beispielsweise die englische Fassung der Verbraucherkreditrichtlinie („credit agreements“). Zudem führen die Erwägungsgründe Nr. 15 und 19 die Wahl des Gerichtsstandes nach Art. 25 Brüssel Ia ausdrücklich auf die „Vertragsfreiheit der Parteien“ zurück, was – insbesondere in der Zusammenschau mit Art. 25 Abs. 5 Brüssel Ia – nahelegt, dass es sich bei dieser „Vereinbarung“ ebenfalls um einen Vertrag im Sinne des Unionsrechts handelt. 217 Vgl. nur Art. 15 Abs. 2 Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt. ABl. 2000 L 178/1 (nachfolgend: E-Commerce-Richtlinie). Kritisch hierzu Kähler, in: Arnold (Hrsg.), Grundlagen eines europäischen Vertragsrechts (2014), S. 79, 80 ff. 211

72

Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

schiedlichen Bedeutungsgehalt haben können.218 Sowohl in den deutschen als auch in den anderen Sprachfassungen unionaler Sekundärrechtsakte besteht indes eine starke Tendenz, die „Vereinbarung“ als Synonym der Einigung und damit als Kernelement eines jeden Vertrags im unionsrechtlichen Sinne zu behandeln.219 Eine Stütze findet diese Lesart, wenn man den acquis communautaire bereits an dieser Stelle mit dem acquis commun in Beziehung setzt und das Phänomen im breiteren Kontext der europäischen Privatrechtsentwicklung betrachtet. So war die Definition des Vertrags anhand der conventio bereits dem römischen Recht bekannt.220 Dieses Verständnis wirkt bis heute z. B. im italienischen Codice civile fort, wo der Vertrag bis heute mithilfe der Vereinbarung („accordo“) definiert wird.221 Dieser Ansatz hat auch die common-law-Jurisdiktionen beeinflusst, und das „agreement“ zählt dort ebenfalls zu den zentralen Bestandteilen der Vertragsdefinition.222 Allen vor-

218 Grundlegend Müller-Erzbach, JherJb. 61 (1912), 343 ff. Siehe zum Unionsprivatrecht nur Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht (2006), S. 325; Lüttringhaus, RabelsZ 77 (2013), 31, 32. 219 Vgl. neben den bereits genannten Beispielen etwa Art. 3 Nr. 16 Richtlinie 2012/34/ EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. November 2012 zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraums (Neufassung), ABl. 2012 L 343/32 („einen Vertrag oder eine entsprechende Vereinbarung“). Vgl. zur Definition des Vertrags als „agreement“, „arrangement“ und „accord“ z. B. die englische und französische Sprachfassung von Art. 2 Nr. 5 Pauschalreiserichtline a. F. sowie des Erwägungsgrundes Nr. 8 und Art. 2 Nr. 15 Verbraucherrechterichtlinie. 220 Vgl. mit Blick auf das Konsenserfordernis nur Zimmermann, Law of Obligations (1996), S. 563 ff.; Paricio, in: Andrés Santos / Baldus / Dedek (Hrsg.), Vertragstypen in Europa (2011), S. 12 ff. 221 Art. 1321 italienischer Codice civile lautet: „Il contratto è l‘accordo di due o più parti per costituire, regolare o estinguere tra loro un rapporto giuridico patrimoniale“ (Herv. d. Verf.). Ähnlich formuliert auch Art. 1254 spanischer Código civil: „El contrato existe desde que una o varias personas consienten en obligarse, respecto de otra u otras, a dar alguna cosa o prestar algún servicio“ (Herv. d. Verf.). Vgl. auch Zimmermann, Law of Obligations (1996), S. 566 f. Gleiches galt bis zur Schuldrechtsreform auch für den französischen Code civil, dessen Art. 1131 in der alten Fassung lautete: „Le contrat est une convention par laquelle une ou plusieurs personnes s‘obligent, envers une ou plusieurs autres, à donner, à faire ou à ne pas faire quelque chose“ (Herv. d. Verf.). 222 Vgl. insbesondere zum Einfluss der Arbeiten Pothiers in diesem Zusammenhang nur Foster v Wheeler (1887) 36 Ch D 695, 698 (Lord Kekewich): „Definitions of ‚contract‘ are to be found in the text-books, and I have consulted several of them, including an American one […]. They are all founded on, and many of them simply adopt, the definition given by Pothier […]: ‚An agreement by which two parties reciprocally promise and engage, or one of them singly promises and engages to the other to give some particular thing, or to do or abstain from doing some particular act‘“. Siehe auch Cheshire, Fifoot & Furmston's Law of Contract (2012), S. 22 sowie zur Bedeutung des agreement im common law zudem Hogg, Promises and Contract Law (2014), S. 50 f.

§ 3 Selbstbestimmung und Vertrag als unionsrechtliche Kategorien

73

genannten Rechtsordnungen ist gemein, dass die Bezugnahme auf eine Vereinbarung Sinnbild des Konsenserfordernisses ist.223 Diese Übereinstimmung legt bereits nahe, dass der Vereinbarung im Unionsrecht eine ähnliche Bedeutung zukommt. In der Tat findet diese Lesart im Unionsprivatrecht eine breite Stütze: So behandelt der EuGH die Vereinbarung beispielsweise im Kontext von Pauschalreiseverträgen als Synonym des Konsenses: Abgestellt wird auf den „Zeitpunkt, in dem die Parteien zu einer Vereinbarung gelangen und den Vertrag schließen“.224 Auch kommt aus Sicht des Unionsrechts ein Vertrag nicht zustande, sofern „kein Angebot und keine Annahme vorliegen, die zu einer Vereinbarung der Parteien […] führen“.225 Das Konsenserfordernis als Grundelement des unionalen Vertragsbegriffs wird auch in der Zusammenschau anderer Regelungsbereiche des Unionsprivatrechts bestätigt: So setzt ein Vertrag nach der Verbraucherrechterichtlinie eine „Einigung“ durch Angebot und Annahme voraus.226 Gleiches gilt nach Art. 14 Abs. 6 Wohnimmobilienkreditrichtlinie beim Abschluss des Kreditvertrages.227 Zudem hat der Gerichtshof im Kontext der Betriebsübergangsrichtlinie228 betont, dass ein Arbeitsvertrag prinzipiell nur durch eine „Wil-

223 Deutlich wird dies auch in Art. 1254 spanischer Código civil („consienten“), dazu Paricio, in: Andrés Santos / Baldus / Dedek (Hrsg.), Vertragstypen in Europa (2011), S. 12. Vgl. in diesem Kontext auch Cheshire, Fifoot & Furmston's Law of Contract (2012), S. 22 („agreement“ as „result of consenting minds“). Siehe zur Bedeutung der conventio auch Zimmermann, Law of Obligations (1996), S. 563 („appears more or less to be a synonym for consensus“). Siehe zum französischen Vertragsrecht vor der Schuldrechtsreform im Jahr 2016 nur Ghestin / Loiseau / Serinet, La formation du contrat I (2013), Rn. 40 und vgl. auch bereits Domat, Les lois civiles dans leur ordre naturel I (1703), S. 20: „La convention est le consentement de deux, ou plusieurs personnes pour former entr‘eux quelque engagement“ (Herv. d. Verf.). 224 EuGH Urt. v. 30.4.2002 – Rs. C-400/00 (Club-Tour), Slg. 2002, I-4051 Rn. 19. 225 So im Kontext des Versicherungsvertragsrechts GA Sharpston Schlussanträge v. 11.7.2013 – Rs. C-209/12 (Endress), EU:C:2013:472 Rn. 60 (Herv. d. Verf.). Vgl. auch EuGH Urt. v. 7.7.2016 – Rs. C-476/14 (Citroën Commerce), EU:C:2016:527 Rn. 30. 226 Vgl. zum Einigungserfordernis und dem (Vertrags)Angebot nur Erwägungsgründe Nr. 14 und 34; Art. 2 Nr. 8 lit. b; Art. 5 Nr. 1; Art. 6 Nr. 1;Art. 8 Nr. 6; Art. 12 lit. b. Vgl. zum Annahmeerfordernis in Gestalt einer „Zustimmung“ zu dem Angebot nur Art. 22, Art. 27 Verbraucherrechterichtlinie. 227 Vgl. Art. 14 Abs. 6 Unterabs. 3 Wohnimmobilienkreditvertragsrichtlinie: „Legt ein Mitgliedstaat eine Bedenkzeit vor dem Abschluss eines Kreditvertrags fest, a) so bleibt das Angebot während dieses Zeitraums für den Kreditgeber verbindlich und b) kann der Verbraucher das Angebot während dieses Zeitraums jederzeit annehmen“. 228 Richtlinie 2001/23/EG des Rates vom 12. März 2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen, ABl. 2001 L 82/16.

74

Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

lenseinigung zustande kommen“ könne.229 Schließlich scheint das unionale Verständnis des Vertrags als freiwillig eingegangene Verpflichtung auch im europäischen Vergaberecht und namentlich in der Vergaberichtinie 2004/18/ EG230 betreffend Bau-, Liefer- und Dienstleistungsaufträge auf.231 In diesem Zusammenhang definiert die unionale Rechtsprechung einen Vertrag zum einen über das Zusammentreffen „zweier übereinstimmender selbständiger Willenserklärungen“ im Sinne eines Konsenses232 und zum anderen über die mindestens zweipolige Rechtsbeziehung.233 Auch soweit die Anstellungsver229 Weil dieser Grundsatz das Unionsrecht beherrsche, könne laut EuGH Beschl. v. 15.9.2010 – Rs. C-386/09 (Briot), Slg. 2010, I-8471 Rn. 34 entsprechend „die Nichterneuerung eines befristeten Leiharbeitsvertrags wegen des Fehlens einer neuen Willenseinigung zwischen dem Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer nicht einer Kündigung im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23 gleichgestellt werden“. Gleichsinnig schon EuGH Urt. v. 4.10.2001 – Rs. C-438/99 (Jiménez Melgar), Slg. 2001, I-6915 Rn. 45. Im Übrigen legt der Gerichtshof das Konzept „vertragliche Übertragung“ gemäß Art. 1 Abs. 1 Betriebsübergangsrichtlinie grundsätzlich dahingehend aus, dass ein Vertrag im Sinne dieser Vorschrift eine „Willensübereinstimmung“ und mithin den Konsens der Parteien voraussetzt, vgl. nur EuGH Urt. v. 14.9.2000 – Rs. C-343/98 (Collino und Chiappero), Slg. 2000, I6659 Rn. 34; EuGH Urt. v. 29.7.2010. – Rs. C-151/09 (UGT-FSP), Slg. 2010 I-7591 Rn. 25; EuGH Urt. v. 6.9.2011 – Rs. C-108/10 (Scattolon), Slg. 2011, I-7491 Rn. 63. Vgl. auch EuGH Urt. v. 15.6.1988 – Rs. 101/87 (Bork International), Slg. 1988, 3057, Rn. 13; EuGH Urt. v. 19.5.1992 – Rs. C-29/91 (Redmond Stichting), Slg. 1992, I-3189 Rn. 11. Freilich legt der Gerichtshof den Begriff „vertragliche Übertragung“ entlang des Schutzzwecks der Betriebsübergangsrichtlinie sehr weit aus, wobei unter anderem genügen soll, dass „die für den Betrieb des Unternehmens verantwortliche natürliche oder juristische Person, die die Arbeitgeberverpflichtungen gegenüber den Beschäftigten des Unternehmens eingeht, im Rahmen vertraglicher Beziehungen wechselt“ (Herv. d. Verf.), EuGH Urt. v. 7.3.1996 – verb. Rs. C-171/94 u. a. (Merckx u. a.), Slg. 1996, I-1253 Rn. 28; EuGH Urt. v. 10.12.1998 – verb. Rs. C-127/96 (Hernández Vidal u. a.), Slg. 1998, I-8179 Rn. 28; EuGH Urt. v. 20.1.2011 – Rs. C-463/09 (CLECE), Slg. 2011, I-95 Rn. 30. Vgl. ferner EuGH Urt. v. 10.12.1998 – verb. Rs. C-127/96 u. a. (Hernández Vidal u. a.), Slg. 1998, I8179 Rn. 25. 230 Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge, ABl. 2004 L 134/114. 231 Vgl. z. B. EuGH 5.10.2000 – Rs. C-337/98 (Kommission / Frankreich), Slg. 2000, I8377 Rn. 44 und 46; EuGH Urt. v. 19.6.2008 – Rs. C-454/06 (pressetext), Slg. 2008, I4401 Rn. 34 ff., wo der Gerichtshof in Bezug auf Neuverhandlungen wesentlicher Vertragsbestimmungen gerade den „Willen der Parteien“ zum Ausgangspunkt nimmt. Siehe dazu auch Bittrich, Vergabeverfahren und Bürgerliches Recht (2013), S. 265. 232 Siehe z. B. mit Blick auf die Abgrenzung der sogenannten In-House-Vergabe anhand des Vorliegens eines Vertrags nur GA Cosmas Schlussanträge v. 1.7.1999 – Rs. C107/98 (Teckal), Slg. 1999 I-8123 Rn. 64; GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 19.7.2012 – verb. Rs. C-182/11 u. a. (Econord u. a.), EU:C:2012:494 Rn. 43; GA Mengozzi Schlussanträge v. 23.1.2014 – Rs. C-15/13 (Datenlotsen), EU:C:2014:23 Rn. 41, jeweils m. w. N. 233 Z. B. EuGH Urt. v. 18.11.1999 – Rs. C-107/98 (Teckal), Slg. 1999 I-8121 Rn. 49: „Zur Beantwortung der Frage, ob ein Vertrag vorliegt, muß das vorlegende Gericht prüfen,

§ 3 Selbstbestimmung und Vertrag als unionsrechtliche Kategorien

75

hältnisse von Mitarbeitern der EU-Institutionen „vertraglicher Natur“ sind, entspricht es der ständigen Rechtsprechung des EuGH, dass solche Verträge „aus übereinstimmenden Willenserklärungen“ und namentlich einem Angebot und einer deckungsgleichen Annahmeerklärung hervorgehen.234 Dabei bezeichnet der EuGH das Konsenserfordernis in diesem Zusammenhang gerade als allgemeinen und somit potenziell im gesamten Unionsrecht geltenden Grundsatz.235 Als weiteres im Privatrecht der Union anzutreffendes Erfordernis ist schließlich hervorzuheben, dass der Konsens auch darauf abzielen muss, „rechtliche Wirkungen herbeizuführen“.236 Entsprechend fallen von der Warte des Unionsrechts rechtlich unverbindliche Vereinbarungen, wie etwa gesellschaftliche Verabredungen oder reine Gefälligkeiten, nicht unter den Vertragsbegriff. ob eine Vereinbarung zwischen zwei verschiedenen Personen getroffen wurde“. Gemäß Art. 1 Abs. 2 lit. a und b Vergaberichtinie 2004/18/EG bilden zudem nur synallagmatische Verträge den Gegenstand „öffentlicher Aufträge“ bzw. „Bauaufträge“: Laut EuGH Urt. v. 25.3.2010 – Rs. C-451/08 (Müller), Slg. 2010, I-2673 Rn. 60 „wird der öffentliche Bauauftrag in Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2004/18 als ein entgeltlicher Vertrag definiert. Diesem Begriff liegt der Gedanke zugrunde, dass sich der Auftragnehmer verpflichtet, die Leistung, die Gegenstand des Vertrags ist, gegen eine Gegenleistung zu erbringen“. 234 So mit Blick auf die Rechtsverhältnisse zwischen der EIB sowie der EZB und ihren Bediensteten EuGH Urt. v. 17.11.1976 – Rs. 110/75 (Mills / EIB), Slg. 1976, 955 Rn. 22; EuGH Urt. v. 14.10.2004 – Rs. C-409/02 P (Pflugradt / EZB), Slg. 2004, I-9889 Rn. 32; EuG Urt. v. 18.10.2001 – Rs. T-333/99 (X/EZB), Slg. 2001, II-3021 Rn. 60. Vgl. auch EuGH Urt. v. 2.10.2001 – Rs. C-449/99 P (EIB/Hautem), Slg. 2001, I-6733 Rn. 93. Siehe zum Erfordernis von Angebot und Annahme bereits EuGH Urt. v. 12.12.1955 – Rs. 10/55 (Mirossevich / Hohe Behörde), Slg. 1955, 385, 401: „Die Hohe Behörde hat der Klägerin daher ein mündliches Angebot gemacht, […] das die Klägerin […] angenommen hat, so dass ein mündlicher Einstellungsvertrag […] zustande gekommen ist“. Laut EuGH Urt. v. 16.12.1960 – Rs. 44/59 (Fiddelaar / Kommission), Slg. 1960, 1121, 1133 „ergibt sich der zwischen den Parteien abgeschlossene Anstellungsvertrag aus der stillschweigenden Einigung der Parteien“. 235 EuGH Urt. v. 17.11.1976 – Rs. 110/75 (Mills / EIB), Slg. 1976, 955 Rn. 22; EuGH Urt. v. 14.10.2004 – Rs. C-409/02 P (Pflugradt / EZB), Slg. 2004, I-9889 Rn. 32; EuG Urt. v. 18.10.2001 – Rs. T-333/99 (X/EZB), Slg. 2001, II-3021 Rn. 60: „Sonach ist das Rechtsverhältnis zwischen der Bank und ihren Bediensteten vertraglicher Natur und beruht auf dem Grundsatz, dass sich die Einzelverträge zwischen der Bank und ihren Bediensteten aus übereinstimmenden Willenserklärungen ergeben“ (Herv. d. Verf.). Freilich sind Rechtsverhältnisse ihrem Wesen nach nicht allein privatrechtlich ausgestaltet, vgl. zu den dienstrechtlichen Komponenten nur EuGH Urt. v. 16.12.1960 – Rs. 44/59 (Fiddelaar/ Kommission), Slg. 1960, 1121, 1133; EuGH Urt. v. 14.10.2004 – Rs. C-409/02 P (Pflugradt/EZB), Slg. 2004, I-9889 Rn. 32 ff. 236 Siehe nur Art. 2 lit. h des Kommissionsvorschlags für eine Richtlinie über vertragsrechtliche Aspekte des Online-Warenhandels; Art. 2 Nr. 7 des Vorschlags für eine Richtlinie über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte. Vgl. auch schon Art. 2 lit. a GEK-E, KOM(2011) 635 endg. Darüber hinaus stellt z. B. auch Art. II.-4:101 DCFR explizit auf den Willen der Parteien ab, rechtlich gebunden zu sein.

76

Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

Festzuhalten bleibt, dass ein Vertrag demnach auch im materiellen Unionsprivatrecht voraussetzt, dass mindestens zwei Parteien Konsens durch übereinstimmende und auf Herbeiführung eines rechtlichen Erfolges gerichtete Willenserklärungen erzielen.237 2. Vertragsbegriff des Primärrechts Obschon das unionale Primärrecht die privatrechtliche Handlungsform des Vertrags an unterschiedlichen Stellen voraussetzt, wird dieses Instrument ausdrücklich nur in Art. 101, 272 und 340 Abs. 1 AEUV erwähnt. Sollte sich hier eine mit dem sekundärrechtlichen Befund konvergierende Terminologie feststellen lassen, mag gerade die inhaltliche und normhierarchische Diversität der Regelungen für die Verallgemeinerungsfähigkeit des Begriffsverständnisses sprechen. a) Art. 101 AEUV Die überkommene Frage, ob eine Wettbewerbsbeschränkung eine vertragliche Abrede der Kartellanten voraussetzt,238 ist sowohl für das nationale als auch für das unionale Kartellrecht längst dahingehend entschieden worden, dass dieses Konzept nicht auf vertragliche Handlungsformen verengt werden darf.239 Dennoch mag gerade die Rechtsprechung des EuGH in diesem Bereich zur Erhellung der unionalen Vertragskonzeption beitragen, da der Gerichtshof im Kontext des Art. 101 Abs. 1 AEUV ein originär unionales, von den nationalen Anforderungen entkoppeltes Begriffsverständnis zugrunde legt.240 Voraussetzung einer „Vereinbarung“ ist zunächst das Vorliegen

237 Ähnlich bereits z. B. Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts (2003), S. 315 ff. 238 Vgl. zum deutschen Recht nur einerseits BGH Beschl. v. 17.12.1970 – Az. KRB 1/70, NJW 1971, 521, 524 f. sowie andererseits BKartA Beschl. v. 28.11.1967 – B3 442100 A 232/67, WuW/E BKartA 1179, 1183. Vgl. mit Blick auf das unionale Wettbewerbsrecht auch noch EuGH Urt. v. 14.7.1972 – Rs. 49/69 (BASF/Kommission), Slg. 1972, 713 Rn. 22: „Artikel 85 stellt den Begriff „aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen“ neben die Begriffe „Vereinbarungen zwischen Unternehmen“ und „Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen“, um durch seine Verbotsvorschrift eine Form der Koordinierung zwischen Unternehmen zu erfassen, die […] noch nicht bis zum Abschluß eines Vertrags im eigentlichen Sinne gediehen ist“. 239 Statt aller Immenga / Mestmäcker / Zimmer (2014), § 1 GWB Rn. 81 ff. m. w. N. Ohnehin fokussiert das unionale Wettbewerbsrecht eher auf die ökonomischen Folgen denn auf die konkrete rechtliche Gestalt der Abrede, was etwa EuGH Urt. v. 30.5.2013 – Rs. C70/12 P (Quinn Barlo / Kommission), EU:C:2013:351 Rn. 40 besonders deutlich herausstellt: „[T]he system of competition established by Articles 101 TFEU and 102 TFEU is concerned with the economic consequences of agreements, or of any comparable form of concertation or coordination, rather than with their legal form“.

§ 3 Selbstbestimmung und Vertrag als unionsrechtliche Kategorien

77

„übereinstimmend[er] Willenserklärung[en]“241 der Parteien.242 Art. 101 Abs. 1 AEUV geht somit vom Konsensualprinzip aus, was den bereits für das Sekundärrecht herausgearbeiteten Befund stützt,243 dass der Begriff der „Vereinbarung“ im Unionsrecht als Synonym für den Konsens der Parteien verwendet wird. Freilich muss eine Vereinbarung im Sinne des Art. 101 Abs. 1 AEUV nicht zwingend die Gestalt eines nach nationalem Privatrecht verbindlichen Vertrags angenommen haben.244 Wohl aber erfasst die Norm zumindest auch Wettbewerbsbeschränkungen durch privatrechtliche Verträge: Dies folgt bereits daraus, dass Art. 101 Abs. 2 AEUV eine Nichtigkeitssanktion anordnet, die bei unverbindlichen Abreden ins Leere liefe.245 Statt vieler W.-H. Roth / Ackermann, in: Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht (2011), Art. 1 GWB Rn. 72; v. d. Groeben / Schwarze / Hatje / Schröter / Voet van Vormizeele (2015), Art. 101 AEUV Rn. 39. 241 Vgl. GA Slynn Schlussanträge v. 16.10.1984 – Rs. 35/83 (BAT/Kommission), Slg. 1984, 363, 367. 242 Deutlich etwa EuGH Urt. v. 11.1.1990 – Rs. C-277/87 (Sandoz / Kommission), Slg. 1990, I-45 Rn. 2: „Um eine Vereinbarung im Sinne des Artikels 85 Absatz 1 EWG-Vertrag darzustellen, genügt es, daß eine Klausel Ausdruck des Willens der Vertragsparteien ist“. Ebenso EuGH Urt. v. 6.1.2004 – verb. Rs. C-2/01 P u. a. (Bundesverband der ArzneimittelImporteure), Slg. 2004, I-23 Rn. 97. Siehe ferner nur EuG Urt. v. 7.7.1994 – Rs. T-43/92 (Dunlop Slazenger), Slg. 1994, II-441 Rn. 60 und 127; EuG Urt. v. 24.10.1991 – Rs. T1/89 (Rhône-Poulenc / Kommission), Slg. 1991, II-867 Rn. 120; EuG Urt. v. 17.12.1991 – Rs. T-7/89 (Hercules Chemicals / Kommission), Slg. 1991, II-1711 Rn. 256; EuG Urt. v. 14.5.1998 – Rs. T-347/94 (Mayr-Melnhof / Kommission), Slg. 1998, II-1751 Rn. 65; EuG Urt. v. 20.3.2002 – Rs. T-9/99 (HFB Holding u. a./Kommission), Slg. 2002, II-1487 Rn. 199; EuG Urt. v. 16.6.2011 – Rs. T-240/07 (Heineken / Kommission), Slg. 2011, II3355 Rn. 44 („Willensübereinstimmung“). Vgl. auch EuGH Urt. v. 29.10.1980 – verb. Rs. 209 u. a. (van Landewyck u. a./Kommission), Slg. 1980, 3125 Rn. 85 f.; EuGH Urt. v. 15.7.1970 – Rs. 41/69 (ACF Chemiefarma / Kommission), Slg. 1970, 661 Rn. 112 („gemeinsamer Wille“). 243 In diesem Sinne auch v. d. Groeben / Schwarze / Hatje / Schröter / Voet van Vormizeele (2015), Art. 101 AEUV Rn. 39. Siehe zum Sekundärrecht erneut oben 1. 244 EuGH Urt. v. 11.1.1990 – Rs. C-277/87 (Sandoz / Kommission), Slg. 1990, I-45 Rn. 2 betont, dass die Vereinbarung nicht unbedingt ein „nach dem nationalen Recht verbindlicher und wirksamer Vertrag sein“ muss. Ebenso z. B. EuGH Urt. v. 30.5.2013 – Rs. C-70/12 P (Quinn Barlo / Kommission), EU:C:2013:351 Rn. 40. Vgl. mit Blick auf eine als gentleman’s agreement bezeichnete Vereinbarung auch EuGH Urt. v. 15.7.1970 – Rs. 41/69 (ACF Chemiefarma / Kommission), Slg. 1970, 661 Rn. 106 ff.; EuG Urt. v. 20.3.2002 – Rs. T-9/99 (HFB Holding u. a./Kommission), Slg. 2002, II-1487 Rn. 200. 245 Darüber hinaus legt auch die Regelungssystematik des Art. 101 Abs. 1 AEUV nahe, dass die Norm auf regelmäßig bindende Vereinbarungen ausgerichtet ist: So unterscheidet Art. 101 Abs. 1 AEUV deutlich zwischen kraft Willensübereinkunft erzielten „Vereinbarungen“ einerseits und tatsächlich „abgestimmten Verhaltensweisen“ andererseits. Im Unterschied zur „Vereinbarung“ handelt es sich bei „abgestimmten Verhaltensweisen“ nach ständiger Rechtsprechung des EuGH gerade um „eine Form der Koordinierung zwischen Unternehmen, die […] noch nicht bis zum Abschluss eines Vertrags im eigentlichen 240

78

Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

Für diese Abhandlung von besonderem Interesse ist nun die Frage, wie das Unionsrecht im Rahmen des Art. 101 Abs. 2 AEUV zwischen „Vereinbarungen“ mit sowie ohne Vertragscharakter differenziert und welche Anforderungen damit an einen Vertrag im Rahmen des Art. 101 Abs. 1 AEUV zu stellen sind. Neben dem Konsens der Parteien über ein bestimmtes Marktverhalten246 nennt die unionale Rechtsprechung in diesem Zusammenhang gerade den Willen zur Herbeiführung rechtlicher Wirkungen. Aus Sicht des Unionsrechts Sinne gediehen ist (Herv. d. Verf.)“, siehe nur EuGH Urt. 14.7.1972 – Rs. 48/69 (Imperial Chemical Industries / Kommission), Slg. 1972, 619 Rn. 64; EuGH Urt. v. 16.12.1975 – verb. Rs. 40/73 u. a. (Suiker Unie u. a./Kommission), Slg. 1975, 1663 Rn. 26; EuGH Urt. v. 31.3.1993 – Rs. C-89/85, C-104/85 u. a. (Ahlström u. a./Kommission), Slg. 1993, I-1307 Rn. 63; EuGH Urt. v. 8.7.1999 – Rs. C-49/92 P (Kommission / Anic Partecipazioni), Slg. 1999, I-4125 Rn. 115; EuGH Urt. v. 8.7.1999 – Rs. C-199/92 P (Hüls / Kommission), Slg. 1999, I-4287 Rn. 158. Siehe zuletzt etwa EuG Urt. v. 16.6.2011 – Rs. T-240/07 (Heineken /  Kommission), Slg. 2011, II-3355 Rn. 46. Auch die Generalanwälte des EuGH gehen explizit vom Vertragscharakter der „Vereinbarung“ aus, vgl. z. B. GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 25.10.2012 – Rs. C-32/11 (Allianz Hungária), EU:C:2012:663 Rn. 67 sowie sodann EuGH Urt. v. 14.3.2013 – Rs. C-32/11 (Allianz Hungária), EU:C:2013:160 Rn. 42. Ein ähnliches Bild findet sich in diversen Gruppenfreistellungsverordnungen: So ist etwa von den „Vertragsparteien“ der Vereinbarung die Rede in Art. 1 Abs. 1 lit. b, p Verordnung (EU) Nr. 1218/2010 der Kommission vom 14. Dezember 2010 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf bestimmte Gruppen von Spezialisierungsvereinbarungen, ABl. 2010 L 335/43; Art. 3 f. Verordnung (EU) Nr. 330/2010 der Kommission vom 20. April 2010 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen, ABl. 2010 L 102/1; Art. 3 ff. Verordnung (EU) Nr. 316/2014 der Kommission vom 21. März 2014 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Gruppen von Technologietransfer-Vereinbarungen, ABl. 2014 L 93/17. 246 So bedarf es im Rahmen des Art. 101 Abs. 1 AEUV der „Feststellung des subjektiven Elements […], das den Begriff der Vereinbarung kennzeichnet, d. h. einer Willensübereinstimmung zwischen Wirtschaftsteilnehmern in Bezug auf […] ein bestimmtes Marktverhalten“, EuG Urt. v. 26.10.2000 – Rs. T-41/96 (Bayer / Kommission), Slg. 2000, II-3383 Rn. 173 f. sowie ferner Rn. 77 ff. Siehe auch EuG Urt. v. 16.6.2011 – Rs. T-240/07 (Heineken / Kommission), Slg. 2011, II-3355 Rn. 45: „Vom Abschluss einer Vereinbarung im Sinne von Art. 81 Abs. 1 EG kann ausgegangen werden, wenn hinsichtlich der Wettbewerbsbeschränkung als solcher ein übereinstimmender Wille vorliegt“. Gleichsinnig EuG Urt. v. 20.3.2002 – Rs. T-9/99 (HFB Holding u. a./Kommission), Slg. 2002, II-1487 Rn. 155, 157 und 206. Vgl. ferner EuGH 18.9.2003 – Rs. C-338/00 P (Volkswagen / Kommission), Slg. 2003, I-9189 Rn. 66 f.; EuGH Urt. v. 6.1.2004 – verb. Rs. C-2/01 P u. a. (Bundesverband der Arzneimittel-Importeure), Slg. 2004, I-23. GA Mengozzi Schlussanträge v. 30.1.2014 – Rs. C-382/12 P (MasterCard u. a./Kommission), EU:C:2014:42 Rn. 42 fasst dies plastisch dahingehend, dass die Übereinkunft nach der Intention der Beteiligten „Beschränkungen ihrer wirtschaftlichen Autonomie mit sich bring[en] und Leitlinien für ihr wechselseitiges Handeln bestimm[en]“ muss. In diesem Sinne auch z. B. EuG Urt. v. 16.12.2003 – verb. Rs. T-5/00 u. a. (FEG/Kommission), Slg. 2003, II-5761 Rn. 324; EuGH Urt. v. 21.9.2006 – Rs. C-105/04 P (FEG/Kommission), Slg. 2006, I-8725 Rn. 124.

§ 3 Selbstbestimmung und Vertrag als unionsrechtliche Kategorien

79

steht und fällt der Vertragscharakter mit ebendiesem Rechtsbindungswillen: Für eine rechtlich unverbindliche „Vereinbarung“ genügt es daher, wenn sich die Parteien nur „tatsächlich oder moralisch […] verpflichtet hielten, sich absprachegemäß zu verhalten“.247 Als Beispiel hierfür mag ein „Gentlemen’s Agreement“ der Beteiligten dienen.248 Ein privatrechtlicher Vertrag liegt von der Warte des Unionsrechts dagegen vor, wenn die Kartellanten mit dem Willen handelten, privatrechtliche Rechtsfolgen zu setzen und „sich die Unternehmen für […] rechtlich […] verpflichtet hielten“, die wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung zu erfüllen.249 Wenngleich es für die Anwendbarkeit des Art. 101 Abs. 1 AEUV in der Tat „auf den Rechtsfolgewillen nicht ankommt“,250 so liegt doch im unionsrechtlich-autonomen Sinne eine Vereinbarung in Gestalt eines privatrechtlichen Vertrags vor, wenn die Kartellanten mit dem entsprechenden Rechtsbindungswillen gehandelt haben.251 Für ebendiese Fälle ist die Nichtigkeitssanktion des Art. 101 Abs. 2 AEUV konzipiert. Damit enthält auch Art. 101 Abs. 1 AEUV erste Eckpunkte eines unionalen Vertragsbegriffs: In seiner ständigen Rechtsprechung knüpft der EuGH eine „Vereinbarung“ zunächst an das Vorliegen „übereinstimmend[er] Willenserklärung[en]“252 und mithin den Konsens mindestens zweier Parteien.253 Für 247 EuG Urt. v. 14.5.1998 – Rs. T-347/94 (Mayr-Melnhof / Kommission), Slg. 1998, II1751 Rn. 65; EuG Urt. v. 20.3.2002 – Rs. T-9/99 (HFB Holding u. a./Kommission), Slg. 2002, II-1487 Rn. 200; EuG Urt. v. 8.7.2008 – Rs. T-53/03 (BPB/Kommission), Slg. 2008, II-1333 Rn. 82. In diese Richtung deuten auch v. d. Groeben / Schwarze / Hatje / Schröter /  Voet van Vormizeele (2015), Art. 101 AEUV Rn. 39. 248 Vgl. nur EuGH Urt. v. 15.7.1970 – Rs. 41/69 (ACF Chemiefarma / Kommission), Slg. 1970, 661 Rn. 106 ff.; EuG Urt. v. 8.7.2008 – Rs. T-53/03 (BPB/Kommission), Slg. 2008, II-1333 Rn. 82. 249 Vgl. wiederum EuG Urt. v. 14.5.1998 – Rs. T-347/94 (Mayr-Melnhof / Kommission), Slg. 1998, II-1751 Rn. 65; EuG Urt. v. 20.3.2002 – Rs. T-9/99 (HFB Holding u. a./Kommission), Slg. 2002, II-1487 Rn. 200; EuG Urt. v. 8.7.2008 – Rs. T-53/03 (BPB/ Kommission), Slg. 2008, II-1333 Rn. 82. Vgl. auch EuGH Urt. v. 14.7.1972 – Rs. 49/69 (BASF/Kommission), Slg. 1972, 713 Rn. 22. In diesem Sinne auch v. d. Groeben /  Schwarze / Hatje / Schröter / Voet van Vormizeele (2015), Art. 101 AEUV Rn. 39. 250 Mestmäcker / Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht (2014), § 10 Rn. 1. 251 In diese Richtung deuteten auch Mestmäcker / Schweizer, Europäisches Wettbewerbsrecht (2014), § 11 Rn. 24, wenn sie mit Blick auf die Kategorien des Art. 101 AEUV betonen, dass „[w]ettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen […] rechtswirksame Verträge“ sein können. 252 Vgl. GA Slynn Schlussanträge v. 16.10.1984 – Rs. 35/83 (BAT/Kommission), Slg. 1984, 363, 367. 253 Deutlich etwa EuGH Urt. v. 11.1.1990 – Rs. C-277/87 (Sandoz / Kommission), Slg. 1990, I-45 Rn. 2: „Um eine Vereinbarung im Sinne des Artikels 85 Absatz 1 EWG-Vertrag darzustellen, genügt es, daß eine Klausel Ausdruck des Willens der Vertragsparteien ist“. Ebenso EuGH Urt. v. 6.1.2004 – verb. Rs. C-2/01 P u. a. (Bundesverband der ArzneimittelImporteure), Slg. 2004, I-23 Rn. 97. Siehe ferner nur EuG Urt. v. 7.7.1994 – Rs. T-43/92 (Dunlop Slazenger), Slg. 1994, II-441 Rn. 60 und 127; EuG Urt. v. 24.10.1991 – Rs. T-

80

Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

eine Vereinbarung mit Vertragscharakter ist im Rahmen des Art. 101 AEUV zusätzlich der Wille der Parteien zur Setzung privatrechtlicher Rechtsfolgen erforderlich. Als weitere Vorschrift des unionalen Wettbewerbsrechts vermag womöglich auch Art. 102 AEUV Aufschluss über das Konzept des Vertrags im Unionsrecht zu geben. Diese Norm statuiert unter bestimmten Voraussetzungen einen kartellrechtlichen Kontrahierungszwang, etwa im Fall sogenannter standardessenzieller Patente.254 Ein „Vertrag“ als Gegenstand und Ziel dieses unionalen Kontrahierungszwangs kommt nach der Lesart des EuGH nur zustande, wenn die Parteien eine Einigung erzielen.255 Auch im Rahmen des Art. 102 AEUV postuliert der EuGH damit ein auf Angebot und Annahme fußendes, konsensuales Vertragsmodell.256 Ein Vertrag als Bezugspunkt des Kontrahierungszwangs nach Art. 102 AEUV erfordert mithin auf die Setzung privatrechtlicher Rechtsfolgen zielende übereinstimmende Willenserklärungen mindestens zweier Parteien.257 b) Art. 340 Abs. 1 AEUV Ein unionsrechtsautonomes Vertragsverständnis ist auch im Kontext der vertraglichen Haftung der Union nach Art. 340 Abs. 1 AEUV zugrunde zu legen, um die vertragliche gegenüber der außervertraglichen Sphäre abzugrenzen. Eine klare Trennung ist schon deshalb notwendig, weil die jeweiligen Haf-

1/89 (Rhône-Poulenc / Kommission), Slg. 1991, II-867 Rn. 120; EuG Urt. v. 17.12.1991 – Rs. T-7/89 (Hercules Chemicals / Kommission), Slg. 1991, II-1711 Rn. 256; EuG Urt. v. 14.5.1998 – Rs. T-347/94 (Mayr-Melnhof / Kommission), Slg. 1998, II-1751 Rn. 65; EuG Urt. v. 20.3.2002 – Rs. T-9/99 (HFB Holding u. a./Kommission), Slg. 2002, II-1487 Rn. 199; EuG Urt. v. 16.6.2011 – Rs. T-240/07 (Heineken / Kommission), Slg. 2011, II3355 Rn. 44 („Willensübereinstimmung“). Vgl. auch EuGH Urt. v. 29.10.1980 – verb. Rs. 209 u. a. (van Landewyck u. a./Kommission), Slg. 1980, 3125 Rn. 85 f.; EuGH Urt. v. 15.7.1970 – Rs. 41/69 (ACF Chemiefarma / Kommission), Slg. 1970, 661 Rn. 112 („gemeinsamer Wille“). 254 Siehe nur EuGH Urt. v. 16.7.2015 – Rs. C-170/13 (Huawei Technologies), EU:C: 2015:477 Rn. 2 ff. 255 Vgl. EuGH Urt. v. 16.7.2015 – Rs. C-170/13 (Huawei Technologies), EU:C:2015: 477 Rn. 63 ff. und 68. 256 Namentlich hat der Patentinhaber dem interessierten Wettbewerber ein annahmefähiges Angebot auf Abschluss eines Lizenzvertrags zu unterbreiten. Der Vertrag ist geschlossen, sobald der Wettbewerber die Annahme dieses Angebots erklärt. Sollte das Angebot dem interessierten Wettbewerber nicht zusagen, kann er dem Patentinhaber ein Gegenangebot machen, welches dann der Annahme durch den Patentinhaber bedarf, siehe wiederum nur EuGH Urt. v. 16.7.2015 – Rs. C-170/13 (Huawei Technologies), EU:C: 2015:477 Rn. 63 und 66 ff. 257 Vgl. erneut EuGH Urt. v. 16.7.2015 – Rs. C-170/13 (Huawei Technologies), EU:C: 2015:477 Rn. 66 und 68.

§ 3 Selbstbestimmung und Vertrag als unionsrechtliche Kategorien

81

tungsregimes regelmäßig unterschiedlichen Gerichtsbarkeiten unterliegen.258 Art. 340 Abs. 1 AEUV unterstellt die vertragliche Haftung zwar „dem Recht, das auf den betreffenden Vertrag anzuwenden ist“ und mithin dem jeweils durch das Kollisionsrecht zum Vertragsstatut bestimmten nationalen Privatrecht.259 Bevor jedoch auf das internationale Privatrecht zurückgegriffen werden kann, muss zunächst auf Ebene und anhand der Kategorien des primären Unionsrechts geklärt werden, ob überhaupt ein Vertrag im Sinne des Art. 340 Abs. 1 AEUV vorliegt. Dabei ist in jedem Fall ein von den nationalen Kategorien entkoppeltes Vertragsverständnis maßgeblich.260 Weil Art. 340 Abs. 1 AEUV sachrechtliche Ziele verfolgt, ist eine unbesehene Übertragung des Vertragsbegriffs aus dem internationalen Unionsprivatrecht keineswegs zwingend. Allerdings sprechen diverse inhaltliche Verschränkungen dieser Materien für eine einheitliche Begriffsbildung: Zunächst baut Art. 340 Abs. 1 AEUV teilweise auf den Normen des unionalen IPR auf. Darüber hinaus weist dieser Regelungsbereich weitere Gemeinsamkeiten mit dem internationalen Unionsprivatrecht auf: Ebenso wie im unionalen IPR der Schuldverhältnisse soll nach der Rechtsprechung der EuGH auch im Rahmen des Art. 340 AEUV neben vertraglichen und außervertraglichen Schuldverhältnissen keine dritte Kategorie existieren – tertium non datur.261 Auch wird hier wie dort die vorvertragliche Haftung dem außervertraglichen Bereich zugeschlagen.262 Ähnlich verhält es sich bei Bereicherungsansprüchen. 263 258 Siehe mit Blick auf die Zuständigkeit der Gerichte der Union nach Art. 268 AEUV einerseits und der Gerichte der Mitgliedstaaten gemäß Art. 274 AEUV andererseits Gundel, EWS 2013, 65; v. d. Groeben / Schwarze / Hatje / Augsberg (2015), Art. 340 AEUV Rn. 3 und Art. 268 AEUV Rn. 2. 259 Vgl. Art. 340 Abs. 1 AEUV. 260 So zu Recht auch v. d. Groeben / Schwarze / Hatje / Augsberg (2015), Art. 340 AEUV Rn. 3. 261 Vgl. zu Art. 340 AEUV nur EuGH Urt. v. 29.7.2010 – Rs. C-377/09 (HanssensEnsch), Slg. 2010, I-7751 Rn. 25: „Folglich findet sich für die Ansicht der Klägerin, dass es neben der vertraglichen Haftung und der außervertraglichen Haftung […] eine dritte Haftungskategorie gebe, […] keine Stütze“. Kritisch zum internationalen Unionsprivatrecht Freitag, FS Spellenberg (2010), S. 169 ff. 262 Vgl. z. B. EuG Urt. v. 17.12.1998 – Rs. T-203/96 (Embassy / Rat), Slg. 1998, II-4239 Rn. 40 ff. sowie 74 ff.; EuG Urt. v. 8.5.2007 – Rs. T-271/04 (Citymo / Kommission), Slg. 2007, II-1375 Rn. 86 ff.; EuG Urt. v. 28.1.2009 – Rs. T-125/06 (Manieri / Parlament), Slg. 2009, II-69 Rn. 95 ff.; EuG Beschl. v. 11.3.2013 – Rs. T-4/13 R (Communicaid/Kommission), EU:T:2013:121 Rn. 28 f. Siehe nur Grabitz / Hilf / Nettesheim/v. Bogdandy/Jacob (2014), Art. 340 AEUV Rn. 20. Vgl. zum internationalen Unionsprivatrecht nur Art. 12 Rom II sowie EuGH Urt. v. 17.9.2002 – Rs. C-334/00 (Tacconi), Slg. 2002, I-7357 Rn. 23 ff. 263 So hat EuGH Urt. v. 16.12.2008 – Rs. C-47/07 P (Masdar / Kommission), Slg. 2008, I-9761 Rn. 48 ff. im Kontext des Art. 288 EGV (nunmehr Art. 340 AEUV) entschieden, dass „jede sich aus ungerechtfertigter Bereicherung ergebende Verpflichtung zwangsläufig außervertraglicher Natur ist“. Ebenso schon EuGH Urt. v. 5.3.1991 – Rs. C-330/88 (Grifo-

82

Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

Angesichts der Verwobenheit des Art. 340 Abs. 1 AEUV mit dem internationalen Unionsprivatrecht und vor dem Hintergrund der gleichlaufenden Rechtsprechungslinien sollte der Vertragsbegriff im Rahmen des Art. 340 Abs. 1 AEUV parallel zu demjenigen des internationalen Unionsprivatrechts gebildet werden.264 c) Art. 272 AEUV Die unionale Rechtsprechung hat auch im Kontext der Einbeziehung einer Schiedsklausel in einen von der Union geschlossenen Vertrag nach Art. 272 AEUV erste Konturen eines autonomen Vertragsverständnisses entwickelt. Obschon auf den in Art. 272 AEUV erwähnten „privatrechtlichen Vertrag“ das vermöge der kollisionsrechtlichen Verweisung bestimmte nationale Recht Anwendung findet,265 ist der Vertragsbegriff notwendig unionsrechtsimmanent mit Inhalt zu füllen: Art. 272 AEUV greift nur bei einer Schiedsklausel Platz, die in einem „Vertrag“ enthalten ist, so dass diese Anwendungsvoraussetzung ebenso wie die zuständigkeitsbegründende Wirkung der Schiedsklausel allein dem Unionsrecht unterliegt.266 Da der Vertrag im Sinne des Art. 272 AEUV somit notwendig autonom zu verstehen ist,267 bleibt zu fragen, welche Elemente diesen Begriff prägen. Wie schon im Kontext des Art. 340 Abs. 1 ni / Kommission), Slg. 1991, I-1045 Rn. 20. Im internationalen Unionsprivatrecht sieht Art. 10 Rom II eine Kollisionsnorm für Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung vor und schlägt solche Fragen damit prima facie ebenfalls dem außervertraglichen Bereich zu. Allerdings erfasst das Vertragsstatut gemäß Art. 12 Abs. 1 lit. e Rom I durchaus die „Folgen der Nichtigkeit des Vertrags“, eingehend hierzu statt aller Staudinger / Magnus (2016), Art. 12 Rom I Rn. 76 ff. 264 Siehe zum Vertragsbegriff im internationalen Unionsprivatrecht erneut oben 1 a. Wie hier im Ergebnis auch Streinz / Gellermann (2012), Art. 340 AEUV Rn. 4; Grabitz /  Hilf / Nettesheim / v. Bogdandy / Jacob (2014), Art. 340 AEUV Rn. 20. 265 Vgl. nur EuG Urt. v. 8.7.2007 – Rs. T-271/04 (Citymo / Kommission), Slg. 2007, II1375 Rn. 61 ff.; EuG Urt. v. 17.6.2010 – verb. Rs. T-428/07 u. a. (CEVA/Kommission), Slg. 2010, II-2431 Rn. 60; EuG Urt. v. 17.12.2010 – Rs. T-460/08 (Kommission / Acentro Turismo), Slg. 2010, II-6351 Rn. 37; Grabitz / Hilf / Nettesheim / Karpenstein (2014), Art. 272 AEUV Rn. 25 f. 266 EuGH Urt. v. 26.2.2015 – Rs. C-564/13 P (Planet AE/Kommission), EU:C:2015:124 Rn. 21: „Insoweit hat der Gerichtshof bereits ausgeführt, dass es zwar vorkommen kann, dass er im Rahmen einer gemäß Art. 272 AEUV vereinbarten Schiedsklausel den Rechtsstreit auf der Grundlage des für den betreffenden Vertrag maßgeblichen nationalen Rechts zu entscheiden hat; seine Zuständigkeit für die Entscheidung eines Rechtsstreits über diesen Vertrag bestimmt sich jedoch allein nach diesem Artikel und den Bestimmungen der Schiedsklausel, ohne dass […] Vorschriften des nationalen Rechts entgegengehalten werden können“ (Herv. d. Verf.). Ebenso bereits EuGH Urt. v. 8.4.1992 – Rs. C-209/90 (Kommission / Feilhauer), Slg. 1992, I-2613 Rn. 13; EuG Urt. v. 8.7.2007 – Rs. T-271/04 (Citymo / Kommission), Slg. 2007, II-1375 Rn. 55; EuG Urt. v. 17.12.2010 – Rs. T-460/08 (Kommission / Acentro Turismo), Slg. 2010, II-6351 Rn. 37.

§ 3 Selbstbestimmung und Vertrag als unionsrechtliche Kategorien

83

AEUV sind primäres Unionsrecht und – im Regelfall gleichsam unionsrechtliches – IPR miteinander verzahnt. Diese Verbindung mag wiederum dafür sprechen, ein gleichlaufendes unionales Begriffsverständnis in diesen Materien zugrunde zu legen.268 In der Tat zieht die unionale Rechtsprechung bei Art. 272 AEUV im Wesentlichen die gleichen Kriterien zur Definition des Vertrags heran wie auch im Kontext des internationalen Unionsprivatrechts und des Art. 340 AEUV: So wird zunächst das Konsenserfordernis als zentrales Element herausgestellt. 269 Das Konsensualprinzip umschreibt das EuG beispielsweise damit, dass die Schiedsklausel gemäß Art. 272 AEUV Ausdruck des „Willens der Parteien“ sei und daher vereinbart werden müsse.270 Darüber wird im Rahmen des Art. 272 AEUV auch ein auf Setzung privatrechtlicher Rechtsfolgen gerichteter Wille271 mindestens zweier Parteien272 gefordert. Demnach scheint in den primärrechtlichen Regelungen der Art. 101 Abs. 1, Art. 102, Art. 340 Abs. 1 und Art. 272 AEUV eine übergreifende unionsrechtliche Vertragskonzeption auf. 3. Zwischenfazit Führt man die Befunde zum Sekundärrecht und zum Primärrecht zusammen, wird ein übergreifendes unionsrechtliches Vertragsverständnis erkennbar: Ein Vertrag setzt demnach voraus, dass mindestens zwei Parteien Konsens durch übereinstimmende und auf Herbeiführung eines rechtlichen Erfolges gerichte267 Eingehend zur unionsrechtlich-autonomen Lesart des Art. 272 AEUV GA Kokott Schlussanträge v. 6.11.2014 – Rs. C-564/13 P (Planet AE/Kommission), EU:C:2014:2352 Rn. 28 ff. 268 Siehe zu Art. 340 Abs. 1 AEUV erneut oben b. 269 EuG Urt. v. 8.7.2007 – Rs. T-271/04 (Citymo / Kommission), Slg. 2007, II-1375 Rn. 53; EuG Urt. v. 19.9.2012 – Rs. T-168/10 und T-572/10 (Kommission / SEMEA u. a.), EU:T:2012:435 Rn. 137; EuGH Urt. v. 19.6.2014 – Rs. C-531/12 P (SEMEA/Kommission), EU:C:2014:2008 Rn. 50 ff. Die Zielsetzung der primärrechtlichen Vorschrift beschreibt auch GA Kokott Schlussanträge v. 6.11.2014 – Rs. C-564/13 P (Planet AE/Kommission), EU:C:2014:2352 Rn. 22 treffend: „Art. 272 AEUV ist […] ein offener Tatbestand, der den Zugang zu den Unionsgerichten kraft privatautonom vereinbarter Schiedsklausel […] eröffnet“ (Herv. d. Verf.). 270 EuG Urt. v. 8.7.2007 – Rs. T-271/04 (Citymo / Kommission), Slg. 2007, II-1375 Rn. 53 ff.; EuG Urt. v. 19.9.2012 – Rs. T-168/10 u. a. (Kommission / SEMEA u. a.), EU:T:2012:435 Rn. 137. Vgl. ferner EuGH Urt. v. 19.6.2014 – Rs. C-531/12 P (SEMEA/ Kommission), EU:C:2014:2008 Rn. 50 ff. Deutlich zuletzt GA Kokott Schlussanträge v. 6.11.2014 – Rs. C-564/13 P (Planet AE/Kommission), EU:C:2014:2352 Rn. 22 und 28 ff. 271 Vgl. zur angestrebten rechtlichen Bindung der Vertragsparteien etwa EuG Urt. v. 19.9.2012 – Rs. T-168/10 u. a. (Kommission / SEMEA u. a.), EU:T:2012:435 Rn. 134 und 137 f. 272 So stellt beispielsweise EuG Beschl. v. 9.9.2013 – Rs. T-489/12 (Planet AE/ Kommission), EU:T:2013:496 Rn. 53 „les actes adoptés par les institutions qui s’inscrivent dans un cadre purement contractuel“ ausdrücklich den „actes unilatéraux“ gegenüber.

84

Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

te Willenserklärungen erzielen. Diese unionale Konzeption ist im Folgenden mit dem Spektrum der Vertragsverständnisse in den EU-Mitgliedstaaten abzugleichen. II. Rechtsvergleichendes Spektrum der Vertragsbegriffe Während der Vertragsbegriff in der Rechtsordnung der EU einerseits eine autonome Kategorie bildet, steht die unionale den nationalen Vertragskonzeptionen jedoch andererseits nicht völlig unverbunden gegenüber. Namentlich muss das Vertragsverständnis des Unionsrechts den Minimalkonsens der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen abbilden, um die dort anzutreffenden Verträge in sich aufnehmen zu können (1). Inwieweit das unionsrechtsimmanent entwickelte Verständnis dies zu leisten imstande ist, kann daher nur beantwortet werden, nachdem die Gemeinsamkeiten der nationalen Definitionen identifiziert sind. Dabei zeigt sich, dass weder „Seriositätsindizien“273 (2) noch die Schadensersatzbewehrung274 (3) zu den Wesensmerkmalen eines Vertrags zählen. 1. Minimalkonsens der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen Die Mitgliedstaaten der EU legen indes keinen uniformen Vertragsbegriff zugrunde, und überdies sind kodifizierte Definitionen selten. Eine prominente Ausnahme bildet der französische Code civil, der in Art. 1101 folgende Umschreibung voranstellt: „Le contrat est un accord de volontés entre deux ou plusieurs personnes destiné à créer, modifier, transmettre ou éteindre des obligations“.

Als zentrales Kriterium findet sich das Konsenserfordernis in der Vertragsdefinition aller mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen:275 Dies trifft z. B. auf das deutsche bürgerliche Recht ebenso wie auf das schwedische276 sowie das finnische Privatrecht zu.277 Als Grundanforderung an einen Vertrag stellt auch Art. 1108 des belgischen und des luxemburgischen Code civil „[l]e consentement“, Art. 1325 italienischer Codice civile „l‘accordo delle parti“ und Art. 1261 spanischer Código civil das „[c]onsentimiento“ voran. In der „overeenkomst“ nach niederländischem Recht ist der Konsens bereits begriffZum Begriff Kötz, in: Basedow / Hopt / Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009), S. 1397 ff. 274 Für die Berücksichtigung dises Kriteriums plädiert Schmidt-Kessel, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre (2015), § 17 Rn. 5. 275 Vgl. nur die Übersicht bei Schlesinger (ed.), Formation of Contract I (1968), S. 75 ff., 119 ff. sowie 615 ff. 276 Vgl. §§ 1 ff. Lag om avtal och andra rättshandlingar på förmögenhetsrättens område, SFS 1915:218. 277 Vgl. § 1 Laki varallisuusoikeudellisista oikeustoimista 13.6.1929/228. 273

§ 3 Selbstbestimmung und Vertrag als unionsrechtliche Kategorien

85

lich angelegt und wird durch Art. VI:217 und VI:213 Burgerlijk Wetboek in die Vertragsdefinition einbezogen.278 Auch im österreichischen Vertragsrecht kommt nach § 861 AGBGB nur „durch den übereinstimmenden Willen beyder Theile ein Vertrag zu Stande“. Neben das Konsenserfordernis treten sodann zwei weitere Voraussetzungen: Zum einen muss die Einigung zwischen mindestens zwei Parteien erzielt werden, und zum anderen müssen die übereinstimmenden Willenserklärungen gerade auf die Herbeiführung eines rechtlichen Erfolges gerichtet sein.279 Ein Vertrag setzt schließlich auch im englischen common law voraus, dass die „parties […] intend to create legal relations as a consequence of their agreement“.280 Bereits an dieser Stelle ist damit festzuhalten, dass im Spektrum der mitgliedstaatlichen Vertragsdefinitionen der auf Setzung von Rechtsfolgen zielende Konsens mindestens zweier Parteien den kleinsten gemeinsamen Nenner bildet. 2. Ausklammerung von „Seriositätsindizien“ Aus rechtsvergleichender Perspektive werden darüber hinaus vereinzelt noch weitere Kriterien zum Bestandteil eines unionalen Vertragsbegriffs gerechnet.281 Um die Belastbarkeit dieser Annahme überprüfen zu können, ist eine funktionale Dreiteilung der nationalen Vertragskonzeptionen hilfreich:282 Eine erste Gruppe bilden Rechtsordnungen, die – wie etwa das deutsche, österreichische, schottische und niederländische Recht – grundsätzlich den auf die Setzung von Rechtsfolgen gerichteten Konsens der Parteien genügen lassen. Eine zweite Kategorie von Rechtssystemen, namentlich das common law, fordert über diesen Konsens hinaus das Vorliegen der consideration.283 Dieses Element wird zuweilen als integraler Bestandteil des Vertragsverständnisses aufgefasst.284 Gewissermaßen zwischen den beiden vorgenannten 278 Art. VI:213 l Burgerlijk Wetboek autet: „Een overeenkomst in de zin van deze titel is een meerzijdige rechtshandeling, waarbij een of meer partijen jegens een of meer andere een verbintenis aangaan“ und Art. VI:217(1) Burgerlijk Wetboek präzisiert sodann: „Een overeenkomst komt tot stand door een aanbod en de aanvaarding daarvan“. 279 Vgl. nur die rechtsvergleichende Übersicht bei Schlesinger (ed.), Formation of Contract I (1968), S. 75 ff., 119 ff. sowie 615 ff. Besonders deutlich wird dies etwa in der im Zuge der Reform des französischen Schuldrechts neugefassten Vertragsdefinition in Art. 1101 Code civil: „Le contrat est un accord de volontés entre deux ou plusieurs personnes destiné à créer, modifier, transmettre ou éteindre des obligations“. 280 Statt aller Halsbury’s Laws (2012) Vol. 22 Rn. 203 und 300 ff. m. w. N. 281 In diesem Sinne z. B. GA Tizzano Schlussanträge v. 23.1.2001 – verb. Rs. C-108/99 u. a. (Cantor u. a.), Slg. 2001 I-7177 Rn. 27. 282 Graziadei, in: Schulze (ed.), New Features in Contract Law (2007), S. 311, 314 ff. In diesem Sinne schon Alpa, RIDC 1988, 327, 333 ff. 283 Siehe nur Halsbury’s Laws (2012) Vol. 22 Rn. 203. 284 Dazu z. B. Halsbury’s Laws (2012) Vol. 22 Rn. 203.

86

Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

Konzepten angesiedelt sind als dritte Gruppe diejenigen romanischen Rechtsordnungen, welche nach einer verbreiteten Lesart die causa285 – und bis zur Reform des französischen Schuldrechts 2016 die cause286 – zur Vertragsdefinition rechnen.287 Gegen die Einbeziehung der consideration oder causa in eine unionale Vertragsdefinition spricht bereits, dass diese Kriterien selbst in den mitgliedstaatlichen Privatrechtsordnungen, denen solche Anforderungen bekannt sind, nicht Voraussetzung eines Vertrags sind: Bei den fraglichen Elementen handelt es sich vielmehr um „Seriositätsindizien“,288 welche zwar die Wirksamkeit- oder Durchsetzbarkeit eines Vertrags betreffen, nicht aber zu dessen Wesensmerkmalen zählen.289 Anders gewendet liegt also im common law und lag auch z. B. im französischen Schuldrecht bis zu dessen Reform durchaus ein Vertrag vor, obwohl consideration oder cause fehlen – nur handelt es sich in solchen Fällen dann entsprechend um einen undurchsetzbaren bzw. unwirksamen Vertrag.290 Die Einbeziehung solcher Kriterien in die Vertragsdefinition würde zudem in eine petitio principii münden: Bevor ein Rechtsanwender zur Frage der Wirksamkeit oder Durchsetzbarkeit eines Vertrags gelangen kann, muss schließlich zunächst geklärt werden, ob der fragliche Vor-

285 Vgl. nur Art. 1325, Art. 1343 und Art. 1418 italienischer Codice civile sowie z. B. Art. 1261, 1274 ff. spanischer Código civil. 286 Vgl. Art. 1108, Art. 1131 und Art. 1133 französischer Code civil a. F. 287 Für die Einbeziehung in die Vertragsdefinition plädiert mit Nachdruck etwa Monateri, RIDC 1984, 7, 21 ff. Ähnlich GA Tizzano Schlussanträge v. 23.1.2001 – verb. Rs. C108/99 u. a. (Cantor u. a.), Slg. 2001 I-7177 Rn. 27. Vgl. ferner Graziadei, in: Schulze (ed.), New Features in Contract Law (2007), S. 311, 317 sowie 314 ff. Vgl. zudem nur Art. 1325 italienischer Codice civile: „I requisiti del contratto sono: […] la causa“; Art. 1261 spanischer Código civil: „No hay contrato sino cuando concurren los requisitos siguientes: […] Causa de la obligación que se establezca“; Art. 1108 französischer Code civil a. F.: „Quatre conditions sont essentielles pour la validité d’une convention: […] Une cause licite dans l’obligation“. 288 Kötz, in: Basedow / Hopt / Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009), S. 1397 ff. 289 Vor diesem Hintergrund spitzt Kennedy, Colum. L. Rev. 100 (2000), 94, 108 das Verhältnis von consideration und Konsenserfodernis allgemein wie folgt zu: „Within ‚true‘ contract law, consideration doctrine is opposed to offer and acceptance, because the consideration requirement is imposed by the will of the sovereign on the parties, regardless of their wishes, say, to make an offer gratuitously irrevocable, whereas offer and acceptance is about finding the ‚meeting of the minds‘ of the parties“. 290 Mit Blick auf das common law sehen z. B. Cheshire, Fifoot & Furmston's Law of Contract (2012), S. 98 in der consideration entsprechend „the oldest of the requirements for a binding contract“ (Herv. d. Verf.), und auch unter Geltung der alten Fassung des französischen Code civil war die cause gerade eine „condition de validité du contrat“, statt aller Ghestin / Loiseau/ Serinet, La formation du contrat II (2013), Rn. 526 ff. Dies übergehen etwa Monateri, RIDC 1984, 7, 21 ff.; Alpa, RIDC 1988, 327, 333 ff.

§ 3 Selbstbestimmung und Vertrag als unionsrechtliche Kategorien

87

gang überhaupt in die Kategorie des Vertrags einzuordnen und damit den jeweiligen Anforderungen an die causa bzw. consideration zu unterwerfen ist. Dass diese Elemente nicht Bestandteil eines unionsrechtlich-autonomen Vertragsbegriffs sind, findet schließlich auch eine Stütze in der Rechtsprechung des EuGH: Obschon sich die Generalanwälte ebenso wie nationale Gerichte in Vorabentscheidungsverfahren gelegentlich auf die Konzepte der causa291 oder der consideration292 stützten, hat der Gerichtshof diese Kriterien bislang in keiner seiner Entscheidungen als Elemente eines unionalen Vertragsbegriffs rezipiert. Paradigmatisch ist hierfür die Rechtssache Cantor, in welcher der Generalanwalt Tizzano das Konzept der „[c]ausa des Rechtsgeschäfts im Sinne der Rechtstradition mehrerer europäischer Länder“ gerade zu den „vorherrschenden Merkmale[n] eines […] Vertrags“ rechnet.293 Der EuGH hat diesen Ansatz – zu Recht – nicht aufgegriffen.294 Auch soweit der Begriff der consideration vereinzelt in der englischen Fassung von Unionsrechtsakten – wie z. B. Art. 157 Abs. 2 AEUV295 sowie der Lauterkeits-296 und der Mehrwertsteuerrichtline297 – aufscheint, wird damit keineswegs ein Element des unionsrechtlichen Vertragsverständnisses, sondern nur die Gegenseitigkeit oder Entgeltlichkeit der Verträge angesprochen. Diese Lesart wird 291 Vgl. nur GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 28.6.2012 – verb. Rs. C-124/11 u. a. (Dittrich u. a.), EU:C:2012:398 Rn. 45 (dort in Fn. 11). 292 Vgl. etwa GA Slynn Schlussanträge v. 28.10.1987 – Rs. 102/86 (Apple and Pear Development Council), Slg. 1988, 1455, 1458 ff. mit Blick auf die Wendung „supply of goods for consideration“ in der englischsprachigen Fassung der Mehrwertsteuerrichtlinie, vgl. z. B. Art. 2 Abs. 1 lit. a Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, ABl. 2006 L 347/1 (nachfolgend: Mehrwertsteuerrichtlinie). 293 GA Tizzano Schlussanträge v. 23.1.2001 – verb. Rs. C-108/99 u. a. (Cantor u. a.), Slg. 2001 I-7177 Rn. 27 will mithilfe der causa namentlich bestimmen, ob ein Vertrag über die „Vermietung und Verpachtung“ im Sinne des Art. 13 Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage, ABl. 1977 L 145/1, vorliegt. 294 Vgl. EuGH Urt. v. 9.10.2001 – Rs. C-108/99 (Cantor), Slg. 2001 I-7257. 295 Art. 157 Abs. 2 AEUV lautet in der englischen Fassung: „For the purpose of this article, ‘pay’ means the […] salary and any other consideration […] which the worker receives […] in respect of his employment“. 296 Vgl. Anhang I Nr. 14 Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken), ABl. 2005 L 149/22 („gives consideration for“). 297 Vgl. zum „supply of goods for consideration“ Art. 2 Abs. 1 lit. a Mehrwertsteuerrichtlinie.

88

Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

sowohl durch den Abgleich der fraglichen Wendung mit anderen Sprachfassungen als auch insbesondere durch die EuGH-Judikatur bestätigt.298 3. Kein Erfordernis der Schadensersatzbewehrung Vereinzelt wird darüber hinaus die Durchsetzbarkeit der vertraglichen Bindung im Wege des Schadensersatzes zur Definition des Vertrags gerechnet.299 Wenngleich dies von der Warte des Unionsrechts eine gewisse Stütze in der primärrechtlichen Regelung des Art. 340 Abs. 1 AEUV finden mag, so ist Schadensersatz jedoch weder eine notwendige Folge der Verletzung von Vertragspflichten noch kommt diesem Instrument überhaupt die Funktion der lückenlosen Durchsetzung der eingegangenen Vertragsbindung zu. Besonders augenfällig wird dies zum einen in Konstellationen, in denen die Parteien Schadensersatzansprüche individualvertraglich so weit wie nach der jeweiligen Rechtsordnung möglich ausschließen: Liegt hier allein deshalb kein Vertrag im unionsrechtlich-autonomen Sinne vor, weil in der Regel keine Ersatzansprüche bei vertragswidrigem Verhalten Platz greifen? Dagegen spricht schon, dass weder in den nationalen Rechtsordnungen noch im Unionsprivatrecht jede Vertragsverletzung mit Schadensersatzansprüchen sanktioniert wird: Sowohl im mitgliedstaatlichen Vertragsrecht als auch beispielsweise nach der europäischen Verbrauchsgüterkaufrichtlinie können Ersatzansprüche in bestimmten Konstellationen sogar von vornherein ausge298 Beispielsweise wird die Wendung „any other consideration“ in der englischen Sprachfassung des Art. 157 Abs. 2 AEUV in der deutschen Fassung mit „alle sonstigen Vergütungen“, in der französischen mit „tous autres avantages“ sowie in der italienischen mit „tutti gli altri vantaggi“ übersetzt, siehe zu dieser – zuerst in der Tat umstrittenen – Lesart der englischen Sprachfassung GA Warner Schlussanträge v. 11.12.1980 – Rs. 69/80 (Lloyd’s Bank), Slg. 1981, 796, 804 f.; EuGH Urt. v. 16.2.1982 – Rs. 19/81 (Burton), Slg. 1982, 556, 560. Soweit Art. 2 Abs. 1 lit. a Mehrwertsteuerrichtlinie auf den „supply of goods for consideration“ Bezug nimmt, ist hierunter bei der gebotenen Zusammenschau der Sprachfassung die Entgeltlichkeit des Vertrags zu verstehen: So ist z. B. in der deutschen Fassung von „gegen Entgelt“, in der französischen von „à titre onéreux“, in der italienischen von „a titolo oneroso“ und in der spanischen schließlich von „a título oneroso“ die Rede, siehe auch GA Slynn Schlussanträge v. 28.10.1987 – Rs. 102/86 (Apple and Pear Development Council), Slg. 1988, 1455, 1458 ff.; EuGH Urt. v. 8.3.1988 – Rs. 102/86 (Apple and Pear Development Council), Slg. 1988, 1443 Rn. 11 ff. Ähnlich verhält es sich mit der Wendung „gives consideration for“ in Anhang I Nr. 14 Lauterkeitsrichtlinie: Beispielsweise lautet die spanische Sprachfassung „realice una contraprestación a cambio“, die italienische „fornisce un contributo in cambio“, die französische „verse une participation en échange“ und die portugiesische „dá a sua própria contribuição em troca“, vgl. mit Blick auf Verträge innerhalb eines „Schneeballsystems“ auch GA Sharpston Schlussanträge v. 19.12.2013 – Rs. C-515/12 (4finance), EU:C:2013:868 Rn. 23 ff.; EuGH Urt. v. 3.4.2014 – Rs. C-515/12 (4finance), EU:C:2014:211 Rn. 13 f. und 23 ff. 299 Schmidt-Kessel, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre (2015), § 17 Rn. 5.

§ 3 Selbstbestimmung und Vertrag als unionsrechtliche Kategorien

89

schlossen sein,300 ohne dass dies etwas an der vertraglichen Natur des Schuldverhältnisses zu ändern vermag. Zu erwähnen sind zum anderen auch Vertragsarten, bei denen die vertragsbrüchige Partei keine – oder zumindest keine nennenswerten – schadensersatzrechtlichen Folgen zu gewärtigen hat: So zieht z. B. im Dienstvertragsrecht eine Schlechtleistung des Dienstverpflichteten angesichts der persönlichen Prägung der Leistung regelmäßig keine schadensersatzrechtliche Sanktion nach sich.301 Überdies bestehen gerade im Arbeitsvertragsrecht eine Reihe von Haftungsprivilegierungen, welche zu einem weitreichenden Ausschluss der vertraglichen Haftung führen.302 Wollte man die Durchsetzbarkeit der Vertragsbindung durch Schadensersatzansprüche zum Gegenstand des Vertragsbegriffs erheben, müssten alle vorgenannten Verträge aus der Definition herausfallen. Entsprechend handelt es sich bei der schadensersatzrechtlichen Komponente weder um eine Voraussetzung des Vertrags im Sinne des nationalen noch des unionalen Privatrechts. Zusammenfassend bleibt damit festzuhalten, dass weder die causa oder consideration noch das Erfordernis der Schadensersatzbewehrung von Pflichtverletzungen in die unionsrechtlich-autonome Definition des Vertrags einzubeziehen sind.303 Hingegen setzt ein Vertrag in allen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen voraus, dass mindestens zwei Parteien übereinstimmende Willenserklärungen mit dem Ziel abgeben, sich rechtlich zu binden.304 III. Ertrag In der Unionsrechtsordnung muss der Vertragsbegriff autonom verstanden und damit grundsätzlich von dem nationalen Vertragsverständnis der EUMitgliedstaaten entkoppelt werden. Dennoch steht das unionale Vertragsverständnis den nationalen Vertragskonzeptionen nicht völlig unverbunden gegenüber, sondern bildet vielmehr den Minimalkonsens der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen ab, da es auch nationale Erscheinungsformen des Vertrags in sich aufnehmen muss. Beispielsweise liegt nach Art. 2 Abs. 3 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie bei Kenntnis oder Kennenmüssen des Verbrauchers bereits keine Vertragswidrigkeit vor, so dass der Verkäufer dem Verbraucher nicht im Sinne des Art. 3 Abs. 1 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie haftet. 301 Prägnant beispielsweise LG Köln Urt. v. 13.8.2013 – 29 O 22/13, BeckRS 2014, 10498: „Dabei gibt die bloße Schlechtleistung des Dienstverpflichteten, soweit kein darüber hinausgehender Schaden entstanden ist, dem Dienstberechtigten grundsätzlich keinen Anspruch auf Schadensersatz“. 302 Siehe zu § 619a BGB sowie den sonstigen Privilegierungen im deutschen Arbeitsrecht statt aller MünchKommBGB / Henssler (2016), § 619a BGB Rn. 5 ff. 303 Wie hier im Ergebnis z. B. auch Ghestin / Loiseau / Serinet, La formation du contrat I (2013), Rn. 52. 304 Vgl. nur die Übersicht bei Schlesinger (ed.), Formation of Contract I (1968), S. 75 ff., 119 ff. sowie 615 ff. 300

90

Kapitel 1 – Ausgangsbedingungen und Legitimation unionaler Vertragsfreiheit

Die breit angelegte unionsrechtsimmanente Untersuchung hat die Säulen des unionalen Vertragsbegriffs sichtbar gemacht, die nicht zuletzt auch auf einem soliden rechtvergleichenden Fundament ruhen. Zum Begriffskern der unionalen Vertragskonzeption zählt der vom (i) Rechtsbindungswillen getragene (ii) Konsens (iii) mindestens zweier Parteien. C. Summe des ersten Kapitels Den Siegeszug der Vertragsfreiheit trieben im Wesentlichen zwei Entwicklungen voran: Erstens hat die Intensivierung des Handelsverkehrs schon frühzeitig nach einem dessen Bedürfnissen angepassten Verkehrsrecht verlangt. Wie ein roter Faden zieht sich diese ökonomische Wirkmacht vom römischen über das kanonische Recht bis hin zur modernen Rechtsentwicklung. Zweitens wirkte auch die Tendenz, Rechtsbeziehungen zu „subjektivieren“, schon im nachklassischen römischen Recht als Triebfeder der Erweiterung rechtsgeschäftlicher Autonomie und rückte auch den individuellen Willen der Parteien im Vertragsrecht allmählich in den Vordergrund.305 Volle Fahrt konnte diese Entwicklung indes erst unter dem Eindruck aufklärerischer Ideen aufnehmen, welche die vertragliche Selbstbestimmung als bedeutende Facette der Freiheit des vernunftbegabten Individuums identifizieren. So besehen kreuzen sich in der Vertragsfreiheit die Verbindungslinien zwischen den wirtschaftlichen Erfordernissen des Handelsverkehrs einerseits und individual-freiheitsrechtlichen Errungenschaften des siècle des lumières andererseits. Sowohl die wirtschaftliche als auch die individuelle Antriebskraft der Vertragsfreiheit wirkt auch heute in der Rechtsordnung der Europäischen Union fort: Zum einen zählt die Vertragsfreiheit zu den Strukturprinzipen der unionalen Wirtschaftsverfassung, da ohne sie weder der freie Wettbewerb noch überhaupt eine offene Marktwirtschaft möglich ist. 306 Vor diesem Hintergrund legt das Unionsrecht eine eigene, binnenmarktbezogene Legitimation der Vertragsfreiheit zugrunde. Zum anderen postuliert die Unionsrechtsordnung die natürliche Willens- und Selbstbestimmungsfreiheit der Person. Hierauf kann eine individualistische Legitimation der Vertragsfreiheit aufbauen: Die Freiheit, Verträge zu schließen, ist demnach anzuerkennen, weil sie Ausdruck der Selbstbestimmung und Persönlichkeitsentfaltung des vernunftbegabten Individuums in der rechtsgeschäftlichen Sphäre ist. Generalanwältin Trstenjak fasst den gegenwärtigen Stand der Rechtsentwicklung daher wie folgt treffend zusammen: 305 Zimmermann, The Law of Obligations (1996), S. 564: „[T]here was a general tendency (prevalent in other developed legal systems too) […] to ‚subjectivize‘ legal relations and to pay attention to the individual will rather than to strict and archetypal behavior patterns, to move from form to formlessness, from a nearly exclusive emphasis on certainty of law to equity“. 306 In diesem Sinne auch GA Trstenjak Schlussanträge v. 29.10.2009 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 63.

§ 3 Selbstbestimmung und Vertrag als unionsrechtliche Kategorien

91

„Die [Unions]rechtsordnung wie auch die Rechtsordnungen ihrer Mitgliedstaaten beruhen […] auf dem Gedanken der Freiheit und der Eigenverantwortung des Individuums. Ihnen ist gemeinsam, dass sie ihm die Entscheidung überlassen, wie es seine schutzwürdigen Interessen am besten wahrt“.307

Da der Vertrag ein unverzichtbares Instrument der rechtsgeschäftlichen Selbstbestimmung ist, muss er zugleich eine feste Kategorie des Unionsrechts bilden. In der Tat lässt sich bereits eine eigenständige, unionsrechtlich-autonome Konzeption des Vertragsbegriffs ausmachen, die ihrerseits auf der Selbstbestimmungs- und Willensfreiheit des Individuums aufbaut. Ein Vertrag setzt demnach voraus, dass (i) mindestens zwei Parteien (ii) Konsens durch übereinstimmende und (iii) auf Herbeiführung eines rechtlichen Erfolges gerichtete Willenserklärungen erzielen. Der Vertragsbegriff des Unionsrechts ist nicht zuletzt deshalb von besonderer Bedeutung für die nachfolgende Untersuchung, weil hiervon sowohl der Gegenstand als auch der Umfang der Gewährleistung unionaler Vertragsfreiheit abhängt. Dies führt zur Frage, inwieweit und an welcher Stelle die Unionsrechtsordnung ebendiese Freiheit verbürgt.

307 GA Trstenjak Schlussanträge v. 28.3.2007 – Rs. C-331/05 P (Internationaler Hilfsfonds), Slg. 2007, I-5475 Rn. 93.

Kapitel 2

Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

In der Rechtsordnung der Europäischen Union besteht ein offener Widerspruch zwischen dem umfassenden Postulat der Vertragsfreiheit einerseits und der allenfalls lückenhaften Anbindung im geschriebenen Unionsrecht andererseits (§ 1). Dabei liegt es nahe, dass die unionale Vertragsfreiheit korrespondierend zu ihrer sowohl binnenmarktbezogenen als auch individualistischen Rechtfertigung1 gleich auf zwei Ebenen des Unionsrechts verankert ist. Namentlich streitet die marktbezogene Legitimation dafür, dass diese Freiheit das Leitprinzip des für den Austausch im Binnenmarkt unverzichtbaren Verkehrsrechts bildet: Demnach wäre die Vertragsfreiheit ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsprivatrechts. Zugleich deutet die individualfreiheitsrechtliche Rechtfertigung der Vertragsfreiheit darauf hin, dass die rechtsgeschäftliche Privatautonomie auch als Unionsgrundrecht verbürgt wird. Durch die Zusammenschau einer breiten Basis unionaler Rechtsakte sucht die vorliegende Abhandlung diese Ausgangshypothesen zu bestätigen (§ 2). Darauf aufbauend sind sodann der Gewährleistungsgehalt und die Privatrechtswirkungen unionaler Vertragsfreiheit in den Blick zu nehmen (§ 3).

§ 1 Lückenhafter Schutz und Postulat umfassender Vertragsfreiheit § 1 Lückenhafter Schutz und Postulat umfassender Vertragsfreiheit

Die Vertragsfreiheit wird im geschriebenen Primärrecht der Union bislang nur bereichsspezifisch garantiert (A). Dass die rechtsgeschäftliche Privatautonomie im Unionsrecht indes keineswegs einen in personeller und sachlicher Hinsicht eng umgrenzten Anwendungsbereich haben kann, folgt bereits daraus, dass die umfassende Gewährleistung der Vertragsfreiheit für jedermann sowohl im unionalen Primärrecht als auch in unterschiedlichen Sekundärrechtsakten als gegeben vorausgesetzt wird (B).

1

Siehe erneut oben Kapitel 1 § 2 C sowie Kapitel 1 § 3 C.

94

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

A. Lückenhafte Gewährleistung im geschriebenen Primärrecht Weder die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union noch die Grundfreiheiten (I) oder die kodifizierten Unionsgrundrechte (II) können einen umfassenden Schutz der Vertragsfreiheit im Binnenmarkt sicherstellen.2 I.

Wirtschaftsverfassung und Grundfreiheiten

1. Keine subjektiv-rechtliche Garantie durch Art. 119 Abs. 1 AEUV Die Rechtsordnung der Europäischen Union ist gemäß Art. 119 Abs. 1 AEUV einer „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ verpflichtet. Wenngleich seit dem Vertrag von Lissabon soziale Ziele stärker auf Ebene des unionalen Primärrechts herausgestellt werden, hat sich indes an der fundamentalen Systementscheidung3 zugunsten einer marktwirtschaftlichen Wettbewerbsordnung nichts geändert.4 Doch beinhaltet das Bekenntnis der Union zum freien Wettbewerb und zur offenen Marktwirtschaft bereits eine Garantie der Vertragsfreiheit im Sinne eines subjektiven Rechts der Marktbürger? Dies mögen beispielsweise die Schlussanträge der Generalanwältin Trstenjak in der Rechtssache Caja de Ahorros nahelegen: „Nach den Grundprinzipien einer liberalen Wirtschaftsordnung leg[en] die Vertragspartner Leistung und Gegenleistung, um deren Austausch willen der Vertrag geschlossen wird, autonom fest“.5

Vor diesem Hintergrund wird teilweise angenommen, dass die Vertragsfreiheit bereits durch das Bekenntnis der Union zum freien Wettbewerb und zur offenen Marktwirtschaft gewährleistet werde.6 Gegen eine solche Lesart des 2 Ähnlich bereits Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit im deutschen und europäischen Arbeitsrecht (2014), S. 265, der zu Recht betont, „dass die allgemeine Vertragsfreiheit keine ausdrückliche Aufnahme in die Grundrechte-Charta gefunden hat und auch nicht ohne weiteres aus den […] speziellen Grundrechten abzuleiten ist“. 3 So schon zum EWG-Vertrag Basedow, Von der deutschen zur europäischen Wirtschaftsverfassung (1992), S. 26 ff. 4 Basedow, EuZW 2008, 225; Riesenhuber, GS Wolf (2011), S. 123, 129. 5 So mit Blick auf Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie GA Trstenjak Schlussanträge v. 29.10.2009 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 63. 6 In diesem Sinne etwa Knobel, Wandlungen im Verständnis der Vertragsfreiheit (2000), S. 197; Laumann, Der privatrechtliche Vertragsschluss in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (2005), S. 72. Ähnlich Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang (1999), S. 35 f.; Schulze, GPR 2005, 56, 57 f.; MünchKommBGB / Busche (2015), Vor §§ 145 ff. BGB Rn. 4, die allerdings zusätzlich auf die Grundfreiheiten sowie einen „Grundsatz der allgemeinen Handlungsfreiheit“ rekurrieren. In diese Richtung weist auch Rossi, EuR 2000, 197, 217 mit der Bezugnahme auf die „dem EGV zugrunde liegend[e] und von ihm geschützt[e] Privatautonomie“. Siehe zu der Frage, ob die Grundfreiheiten des Binnenmarktes sowie die allgemeine Handlungsfreiheit als Anbindung der unionalen Vertragsfreiheit dienen können, eingehend unten I 2 sowie unten II 1.

§ 1 Lückenhafter Schutz und Postulat umfassender Vertragsfreiheit

95

Art. 119 Abs. 1 AEUV streitet indes, dass diese Norm lediglich die Grundsätze der europäischen Wirtschaftsverfassung niederlegt und nach ständiger Rechtsprechung des EuGH keine Bestimmung ist, „auf die sich die Einzelnen vor den nationalen Gerichten berufen können“.7 Aber auch unter einem anderen Gesichtspunkt erscheint die Anbindung der unionalen Vertragsfreiheit an Art. 119 Abs. 1 AEUV zweifelhaft: Schließlich setzen der freie Wettbewerb ebenso wie eine offene Marktwirtschaft die Vertragsfreiheit als gegeben voraus und bedürfen ihrer, um effektiv zu sein.8 Anders gewendet kommt zwar ein offener Markt mit freiem Wettbewerb nicht ohne Vertragsfreiheit aus, wohl aber kann Vertragsfreiheit als rechtliche Gewährleistung auch in Abwesenheit jeglichen Wettbewerbs existieren und ausgeübt werden. Beispielsweise ist auch die bloß binäre Entscheidung, ein Vertragsangebot eines Monopolisten anzunehmen oder abzulehnen, immer noch Ausdruck individueller Freiheit in Gestalt der Abschlussfreiheit.9 Hier gilt es daher genau zwischen rechtlicher Freiheitsgewährleistung einerseits und tatsächlicher Freiheitsausübungsmöglichkeit andererseits zu trennen. Nur Letztere vermag der durch Art. 119 zum Element der Wirtschaftsverfassung erhobene und durch Art. 101 ff. AEUV geschützte freie Wettbewerb zu garantieren.10 Denn fraglos ist die Vertragsfreiheit ohne Wettbewerb weitgehend entwertet: Alle Facetten dieser Freiheit können sich nämlich nur entfalten, wenn echte Wahlmöglichkeiten – etwa betreffend den Vertragspartner und den Vertragsinhalt – am Markt bestehen.11 So besehen garantiert die Systementscheidung in Art. 119 Abs. 1 AEUV ein besonders günstiges Umfeld für die Ausübung der Vertragsfreiheit, da ein Mehr an Wettbewerb ein So z. B. EuGH Urt. v. 3.10.2000 – Rs. C-9/99 (Echirolles Distribution), Slg 2000, I8207 Rn. 25; EuGH Urt. v. 3.6.2010 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 46 ff. Vgl. auch EuGH Urt. v. 24.1.1991 – Rs. C-339/89 (Alsthom Atlantique), Slg. 1991, I-107 Rn. 8 ff. Siehe zur unionalen Wirtschaftsverfassung erneut oben Kapitel 1 § 2 A. 8 Siehe oben Kapitel 1 § 2 B sowie z. B. Canaris, FS Lerche (1993), S. 873, 890. 9 Vgl. Basedow, AcP 200 (2000), 445, 486. 10 Abzulehnen ist deshalb die vereinzelt gebliebene Auffassung von Laumann, Der privatrechtliche Vertragsschluss in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (2005), S. 72 und 76, wonach Art. 81 EGV bzw. Art. 85 EWG (nun Art. 101 AEUV) „Ausdruck des Grundsatzes der Vertragsfreiheit“ im Unionsrecht seien. Dieser Ansatz beruht auf einem Missverständnis der Entscheidung EuGH Urt. v. 30.3.2000 – Rs. C-265/ 97 P (VBA u. a./Kommission), Slg. 2000, I-2061 Rn. 134, in welcher der Gerichtshof zum einen nur die Rechtsansichten der Verfahrensbeteiligten referiert – ohne sich diese zu eigen zu machen – und zum anderen Art. 85 EWG nur als Beschränkung, nicht aber als Standort der Vertragsfreiheit im Unionsrecht behandelt. Die unionalen Wettbewerbsregeln fungieren auch nach Auffassung der GA Trstenjak Schlussanträge v. 29.10.2009 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 97 nicht als Garantie umfassender Vertragsfreiheit, denn „[d]en Bestimmungen des Wettbewerbsrechts lässt sich […] nichts entnehmen, was hoheitliche Eingriffe in die Privatautonomie […] verbieten würde“. 11 Basedow, AcP 200 (2000), 445, 486. 7

96

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

Mehr an Wahlmöglichkeiten bedeutet.12 Damit dient die in Art. 119 Abs. 1 AEUV verbürgte „offen[e] Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ also der Schaffung, Erhaltung und Stärkung der Funktionsvoraussetzungen der Vertragsfreiheit.13 Eine rechtliche Verbürgung der Vertragsfreiheit als individuelles unionales Freiheitsrecht enthält Art. 119 AEUV dagegen nicht. 2. Keine umfassende Gewährleistung durch die Grundfreiheiten Der ungehemmte grenzüberschreitende Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital ist ohne den freien Abschluss privatrechtlicher Verträge kaum denkbar.14 Vor diesem Hintergrund ist die Vertragsfreiheit frühzeitig als die „wahre Grundfreiheit“ bezeichnet worden.15 Bisweilen werden die Grundfreiheiten zudem selbst als Ankerpunkt der Vertragsfreiheit in der Unionsrechtsordnung gesehen.16 Dies begegnet jedoch gleich unter mehreren Gesichtspunkten Bedenken. a) Begrenzung auf Binnenmarktsachverhalte Zunächst folgt aus dem Umstand, dass die Ausübung der Grundfreiheiten die Vertragsfreiheit notwendig voraussetzt,17 keineswegs zwingend, dass die Grundfreiheiten des Binnenmarktes selbst die Vertragsfreiheit als subjektives Recht umfassend verbürgen. Dagegen spricht unter systematischen Aspekten bereits, dass die Grundfreiheiten der Verwirklichung des Binnenmarktes und damit einer institutionellen Zielsetzung dienen.18 Der Schutz der grenzüberschreitenden Ausübung individueller Vertragsfreiheit ist gewissermaßen lediglich ein Reflex des übergeordneten Binnenmarktziels und reicht immer

Siehe auch erneut oben Kapitel 1 § 2 B. Dazu noch eingehend unten Kapitel 4 § 1 B. 14 Prägnant Müller-Graff, NJW 1993, 13 f.: „Das Integrationskonzept des EWG-Vertrags zielt demzufolge zuvörderst auf die Wahrnehmung von Grundfreiheiten […] und setzt damit auf die verbindenden Kräfte der möglichst ungehindert grenzüberschreitend initiativen Privatautonomie“. Ähnlich bereits zuvor Rittner, JZ 1990, 838, 841. 15 Mülbert, ZHR 159 (1995), 2, 8. 16 In diesem Sinne statt vieler Schmidt-Leithoff, FS Rittner (1991), S. 597, 606; v. Wilmowsky, JZ 1996, 590, 591; Szczekalla, DVBl. 2005, 286, 287; Busseuil, Contribution à l’étude de la notion de contrat en droit privé européen (2009), S. 202; Wolf /  Lindacher / Pfeiffer, AGB-Recht (2013), Vor Art. 1 Klauselrichtlinie Rn. 11 sowie Art. 8 Klauselrichtlinie Rn. 22; Mohr, Sicherung der Vertragsfreiheit durch Wettbewerbs- und Regulierungsrecht (2015), S. 113 f. 17 Frenz, Handbuch Europarecht IV: Europäische Grundrechte (2009), Rn. 2698 spricht treffend von der „Grundlagenfunktion“ der Vertragsfreiheit. Ähnlich auch Reich, General Principles of EU Civil Law (2014), S. 20: „[F]undamental freedoms […] presuppose freedom of contract“. 18 Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht (2004), S. 111. 12 13

§ 1 Lückenhafter Schutz und Postulat umfassender Vertragsfreiheit

97

nur so weit, wie die institutionelle Zielsetzung dies erfordert.19 Bereits in der Rechtssache Keck hat der EuGH daher klargestellt, dass sich Wirtschaftsteilnehmer keineswegs auf die Warenverkehrsfreiheit berufen können, „um jedwede Regelung zu beanstanden, die sich als Beschränkung ihrer geschäftlichen Freiheit auswirkt, auch wenn sie nicht auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten gerichtet ist“.20 Schließlich besteht die Funktion der Grundfreiheiten in der „Liberalisierung des […] Handels [innerhalb der Union, und nicht darin,] die freie Ausübung der Handelstätigkeit in den einzelnen Mitgliedstaaten [zu] fördern“.21 Entsprechend setzt die Anwendung der Verkehrsfreiheiten einen Binnenmarktbezug voraus, der regelmäßig durch einen grenzüberschreitenden Sachverhalt hergestellt wird.22 Hier offenbart sich die erste Schwachstelle der Anbindung der unionalen Vertragsfreiheit an die Grundfreiheiten: Die Verkehrsfreiheiten können die Vertragsfreiheit niemals umfassend um ihrer selbst willen, sondern einzig und allein in binnenmarktrelevanten Sachverhalten gewährleisten.23 In „rein“ innerstaatlichen Konstellationen entfiele daher dieser unionsrechtliche Schutz der Vertragsfreiheit.24 Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht (2004), S. 111. Ähnlich Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbrauchervertragsrechts (2004), S. 330; Comparato / Micklitz, in: Bernitz / Groussot / Schulyko (eds.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), S. 121, 128. 20 EuGH Urt. v. 24.11.1993 – verb. Rs. C-267/91 u. a. (Keck u. a.), Slg. 1993, I-6097 Rn. 14. 21 GA Wahl Schlussanträge v. 5.9.2013 – verb. Rs. C-159/12 u. a. (Venturini u. a.), EU:C:2013:529 Rn. 27 in Anlehnung an GA Tesauro Schlussanträge v. 27.10.1993 – Rs. C-292/92 (Hünermund), Slg. 1993, I-6800 Rn. 28. 22 Vgl. nur EuGH Urt. v. 17.6.1997 – Rs. C-70/95 (Sodemare), Slg. 1997, I-3395 Rn. 38. Siehe ferner z. B. Frenz, Handbuch Europarecht I: Europäische Grundfreiheiten (2004), Rn. 769; Grabitz / Hilf / Nettesheim / Leible / T. Streinz (2015), Art. 34 AEUV Rn. 33. Calliess / Ruffert / Kingreen (2016), Art. 36 AEUV Rn. 16 sieht in dem grenzüberschreitenden Bezug zwar keine selbständige Anwendungsvoraussetzung, sondern will dieses Erfordernis im Rahmen der Beeinträchtigung berücksichtigen. Vgl. zum Kriterium des Binnenmarktbezugs jüngst EuGH Urt. v. 14.11.2013 – Rs. C-221/12 (Belgacom), EU:C:2013:736 Rn. 28 ff. sowie eingehend Wollenschläger, FS Müller-Graff (2015), S. 443 ff. 23 Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH sind die Grundfreiheiten „nicht auf Betätigungen anwendbar […], deren Merkmale sämtlich nicht über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen“, siehe nur EuGH Urt. v. 22.12.2010 – Rs. C-245/09 (Omalet), Slg. 2010, I-13771 Rn. 12; EuGH Urt. v. 12.12.2013 – Rs. C-292/12 (Ragn-Sells), EU:C:2013: 820 Rn. 70, jeweils m. w. N. Freilich stellt der Gerichtshof zuweilen nur geringe Anforderungen an den grenzüberschreitenden Bezug, vgl. etwa EuGH Urt. v. 8.5.2013 – verb. Rs. C-197/11 u. a. (Libert u. a.), EU:C:2013:288 Rn. 34 f. 24 Dies wird z. B. in den im Gefolge von EuGH Urt. v. 10.1.1985 – Rs. 229/83 (Leclerc u. a.), Slg. 1985, Rn. 25 ff. entschiedenen Rechtssachen gerade mit Blick auf die Preisfreiheit als Facette der Vertragsinhaltsfreiheit offensichtlich: So stellt EuGH Urt. 23.10.1986 – Rs. 355/85 (Driancourt), Slg. 1986, 3231 Rn. 5, 12; EuGH Urt. v. 25.2.1987 – Rs. 168/86 (Rousseau), Slg. 1987, 995 Rn. 7 heraus, dass „für Bücher, die in dem betreffenden Mitgliedstaat selbst verlegt und gedruckt wurden, freie Preise gelten, wenn sie nach ihrer 19

98

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

b) Beschränkungen sind regelmäßig „zu ungewiss und zu mittelbar“ Selbst wo ein Binnenmarktsachverhalt vorliegt, können die Grundfreiheiten im schuldrechtlichen Kontext allenfalls begrenzt in Stellung gebracht werden.25 So bietet beispielsweise die Warenverkehrsfreiheit nach der KeckEntscheidung des EuGH regelmäßig26 keinen Schutz gegen Verkaufsmodalitäten, die alle im Inland tätigen in- und ausländischen Wirtschaftsakteure „rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren“.27 Dies dürfte indes auf die überwiegende Vielzahl der Regelungen des mitgliedstaatlichen Vertragsrechts zutreffen.28 Freilich enthält das nationale Vertragsrecht dort Produktvorschriften, wo es Rechtsprodukte, wie insbesondere Versicherungsverträge,29 prägt. Obschon solche Regelungen potenziell geeignet sind, die Dienstleistungsfreiheit zu beeinträchtigen,30 muss allgemein bezweifelt werden, ob die Vertragsfreiheit durch die Grundfreiheiten hinreichend geschützt werden kann. Der Gerichtshof wertet etwaige Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten durch vertragsrechtliche Normen nämlich in der Regel als „zu ungewiss und zu mittelbar“.31 Infolgedessen vermögen die Grundfreiheiten im Ausfuhr in einen anderen Mitgliedstaat reimportiert wurden, während für Bücher, die nicht Gegenstand eines grenzüberschreitenden Handels innerhalb der Gemeinschaft waren, der Preis vom Verleger vorgeschrieben“ werden könne (Herv. d. Verf.). 25 Schon mit Blick auf Art. 30 EWG hat GA Darmon Schlussanträge v. 10.3.1989 – verb. Rs. 266/87 u. a. (Royal Pharmaceutical Society u. a.), Slg. 1989, 1295 Rn. 22 herausgestellt, dass selbst wenn Einfuhren im Binnenmarkt ausnahmsweise einmal „davon ab[hängen], ob die Grundsätze des Vertragsrechts beachtet würden oder nicht“, die Einhaltung allgemeiner vertragsrechtlicher Grundsätze wie etwa des Grundsatzes „Pacta sunt servanda [niemals] gegen Artikel 30 verstieße […]. Diese Grundsätze stehen […] ganz offenkundig als solche außerhalb jeden Zusammenhangs mit den Einfuhren“. 26 Ausnahmen können freilich dort bestehen, wo unterschiedslos anwendbare Maßnahmen den Marktzugang von Wirtschaftsakteuren aus anderen Mitgliedstaaten erschweren, vgl. z. B. EuGH Urt. v. 10.5.1995 – Rs. C-384/93 (Alpine Investments), Slg. 1995, I-1141 Rn. 23 ff.; EuGH Urt. v. 29.3.2011 – Rs. C-565/08 (Kommission / Italien), Slg. 2011, I2101 Rn. 46. 27 Vgl. EuGH Urt. v. 23.11.1993 – verb. Rs. C-267/91 u. a. (Keck u. a.), Slg. 1993, I6097 Rn. 16 sowie zuletzt etwa EuGH Urt. v. 8.5.2014 – Rs. C-483/12 (Pelckmans Turnhout), EU:C:2014:304 Rn. 24. 28 So auch z. B. Remien, Zwingendes Vertragsrechts und Grundfreiheiten des EGVertrages (2003), S. 193 ff. und 498; Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts (2003), S. 94 ff. A. A. Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht (1996), S. 107 sowie 99 ff. 29 Vgl. statt aller Dreher, Versicherung als Rechtsprodukt (1991). 30 Siehe vor allem W.-H. Roth, VersR 1993, 129, 135. Vgl. zum Bankvertragsrecht jüngst auch z. B. EuGH Urt. v. 12.7.2012 – Rs. C-602/10 (Volksbank România), EU:C: 2012:443 Rn. 77 ff. 31 Vgl. nur EuGH Urt. v. 13.10.1993 – Rs. C-93/92 (CMC), Slg. 1993, I-500 Rn. 12; EuGH Urt. v. 27.1.2000 – Rs. C-190/98 (Graf), Slg. 2000, I-493 Rn. 25. Dazu statt vieler Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85, 90; Kohler / Puffer-Mariette, ZEuP

§ 1 Lückenhafter Schutz und Postulat umfassender Vertragsfreiheit

99

privatrechtlichen Kontext kaum eine lückenlose Aussage darüber zu treffen, ob, wie und in welchem Umfang die Vertragsfreiheit einerseits verbürgt sein muss und andererseits ausgestaltet und beschränkt werden darf.32 Dies wird besonders deutlich in der Rechtssache Volksbank România, in welcher der EuGH eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit durch das Verbot bestimmter Bankprovisionen im rumänischen Bankvertragsrecht mit dem Argument verneint, solche Beeinträchtigungen durch das mitgliedstaatliche Vertragsrecht seien „zu ungewiss und zu mittelbar“.33 Obwohl die Banken zweifelsohne in ihrer Inhaltsfreiheit betroffen sind und ihre Vertragsklauseln anpassen müssen, sieht der EuGH hierin von der Warte der Grundfreiheiten keinerlei „Einmischung in die Vertragsfreiheit dieser Institute“.34 Wo aber nach der Lesart des Gerichtshofs noch nicht einmal der Schutzbereich der Grundfreiheiten berührt ist, können Inhalt und Schranken der Vertragsfreiheit schwerlich umrissen werden. Von der Vertragsfreiheit als Garantin der rechtsgeschäftlichen Autonomie des Einzelnen bleibe bei einer Anbindung an die Grundfreiheiten somit wenig übrig. c) Grundfreiheiten als Schranken der Vertragsfreiheit Die Grundfreiheiten des Binnenmarktes gewährleisten nicht nur Handlungsfreiräume, sondern setzen der Vertragsfreiheit teilweise auch Grenzen. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH sind die Verkehrsfreiheiten unter bestimmten Voraussetzungen nicht nur an die Mitgliedstaaten gerichtet, sondern auch im Verhältnis zwischen privaten Akteuren zu beachten: Namentlich sah der Gerichtshof bereits in seiner Walrave-Entscheidung die Verkehrsfreiheiten potenziell dadurch bedroht, „dass privatrechtliche Vereinigungen oder Einrichtungen kraft ihrer rechtlichen Autonomie“ Hindernisse für die Ausübung der Grundfreiheiten errichten, etwa mithilfe von „Verträge[n] und sonstige[n] Rechtsgeschäfte[n], die von Privatpersonen geschlossen“ werden.35 Vor diesem Hintergrund soll das Diskriminierungsverbot im Kontext der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 ff. AEUV), der Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 ff.

2014, 696, 713. Eine Ausnahme bildet aber etwa die von Amts wegen durch belgische Gerichte zu prüfende Nichtigkeit von Vertragsdokumenten und insbesondere Rechnungen, die nicht in einer der Amtssprachen Belgiens abgefasst sind, vgl. EuGH Urt. v. 21.6.2016 – Rs. C-15/15 (New Valmar), EU:C:2016:464 Rn. 45 f. 32 Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85, 90. Vgl. auch Rutgers, ERCL 5 (2009), 95, 105. 33 EuGH Urt. v. 12.7.2012 – Rs. C-602/10 (Volksbank România), EU:C:2012:443 Rn. 81. 34 EuGH Urt. v. 12.7.2012 – Rs. C-602/10 (Volksbank România), EU:C:2012:443 Rn. 77. 35 EuGH Urt. v. 12.12.1974 – Rs. 36/74 (Walrave), Slg. 1974, 1405 Rn. 16 ff. Gleichsinnig zuletzt z. B. EuGH Urt. v. 17.7.2008 – Rs. C-94/07 (Raccanelli), Slg. 2008 I-5939 Rn. 45.

100

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

AEUV) sowie des Art. 18 AEUV jeweils „horizontale Wirkung“ entfalten36 und sowohl Sportverbände,37 berufsständische Vertretungen,38 Gewerkschaften,39 Krankenhäuser40 und Arbeitgeber41 binden.42 Hinzu kommt, dass der Gerichtshof jüngst auch eine private Zertifizierungsgesellschaft durch die Warenverkehrsfreiheit im Verhältnis zu einem anderen Privaten verpflichtet sah.43 Gleichviel, ob diese Beeinflussung privatrechtlicher Beziehungen systematisch als unmittelbare44 oder mittelbare45 Drittwirkung einzuordnen ist, wirken hier die Grundfreiheiten für die durch sie verpflichtete Partei nicht als Garanten, sondern, ganz im Gegenteil, als Beschränkungen der rechtsgeschäftlichen Au-

Mit Blick auf die Warenverkehrsfreiheit nach Art. 34 ff. AEUV hat EuGH Urt. v. 22.1.1981 – Rs. 58/80 (Dansk Supermarked), Slg. 1981, 181 Rn. 17 eine horizontale Wirkung zwischen Privaten zwar zunächst bejaht, sodann aber in nunmehr ständiger Rechtsprechung abgelehnt, siehe EuGH Urt. v. 5.4.1984 – verb. Rs. 177/82 u. a. (van de Haar), Slg. 1984, 1797 Rn. 11 ff.; EuGH Urt. v. 1.10.1987 – Rs. 311/85 (Vlaamse Reisbureaus), Slg. 1987, 3801 Rn. 30; EuGH Urt. v. 27.9.1988 – Rs. 65/86 (Bayer), Slg. 1988, 5249 Rn. 11; EuGH Urt. v. 6.6.2002 – Rs. C-159/00 (Sapod Audic), Slg. 2002, I-5031 Rn. 74. 37 EuGH Urt. v. 12.12.1974 – Rs. 36/74 (Walrave), Slg. 1974, 1405 Rn. 16 ff.; EuGH Urt. v. 14.7.1976 – Rs. 13/76 (Donà), Slg. 1976, 1333 Rn. 17 ff.; EuGH Urt. v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4921 Rn. 82; EuGH Urt. v. 11.4.2000 – verb. Rs. C51/96 u. a. (Deliège), Slg. 2000, I-2549 Rn. 47; EuGH Urt. v. 13.4.2000 – Rs. C-176/96 (Lehtonen), Slg. 2000, I-2681 Rn. 35. Vgl. zuletzt etwa EuGH Urt. v. 18.7.2006 – Rs. C519/04 P (Meca-Medina), Slg. 2006, I-6991 Rn. 24. 38 EuGH Urt. v. 19.2.2002 – Rs. C-309/99 (Wouters), Slg. 2002, I-1577 Rn. 120. 39 EuGH Urt. v. 11.12.2007 – Rs. C-438/05 (Viking), Slg. 2007, I-10779 Rn. 32 ff. und 56 ff.; EuGH Urt. v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05 (Laval), Slg. 2007, I-11767 Rn. 98 ff. 40 Siehe zu einem unterschiedlichen Behandlungsgebührensatz für Behandlungsverträge mit In- und Ausländern EuGH Urt. v. 3.10.2000 – Rs. C-411/98 (Ferlini), Slg. 2000, I8081 Rn. 47 ff. 41 EuGH Urt. v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 (Angonese), Slg. 2000, I-4139 Rn. 31 ff.; EuGH Urt. v. 17.7.2008 – Rs. C-94/07 (Raccanelli), Slg. 2008 I-5939 Rn. 45; EuGH Urt. v. 28.6.2012 – Rs. C-172/11 (Daimler), EU:C:2012:399 Rn. 48. 42 Siehe zur „horizontalen“ Wirkung bzw. Drittwirkung der Grundfreiheiten statt vieler Jarass, EuR 2000, 705, 715 f.; Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht (2004), S. 722 ff.; Schepel, ERPL 21 (2013), 1211 1213 ff. Eine Drittwirkung des grundfreiheitlichen Beschränkungsverbots bejaht darüber hinaus unter bestimmten Voraussetzungen W.-H. Roth, FS Medicus (2009), S. 393, 410 ff. 43 EuGH Urt. v. 12.7.2012 – Rs. C-171/11 (Fra.bo), EU:C:2012:453 Rn. 21 ff. Zu den Besonderheiten des Falles statt vieler W.-H. Roth, EWS 2013, 16 ff. 44 Eine unmittelbare horizontale Wirkung bejahen v. d. Groeben / Schwarze / MüllerGraff (2003), Art. 28 EGV Rn. 306; W.-H. Roth, FS Medicus (2009), S. 393, 418 f. 45 Für eine lediglich mittelbare Drittwirkung plädieren beispielsweise Rossi, EuR 2000, 197, 217; Canaris, in: Bauer / Cybulka / Kahl u. a. (Hrsg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht (2002), S. 29, 37 ff. und insbesondere 49 f.; Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts (2003), S. 103 f.; Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht (2004), S. 804 ff.; MünchKommBGB / Armbrüster (2015), § 134 BGB Rn. 38. 36

§ 1 Lückenhafter Schutz und Postulat umfassender Vertragsfreiheit

101

tonomie.46 Entsprechend kann die Vertragsfreiheit in solchen Konstellationen zur Rechtfertigung von Verkürzungen der Verkehrsfreiheiten herangezogen werden: Generalanwalt Poiares Maduro fordert in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Viking daher eine Abwägung zwischen „der Schwere des der Ausübung der Verkehrsfreiheit entgegenstehenden Hindernisses und der Bedeutung sowie der Stichhaltigkeit hiermit konkurrierender Belange der Privatautonomie“.47

Die Grundfreiheiten wirken demnach mitnichten nur als Freiheitsverbürgungen, sondern können die rechtsgeschäftliche Autonomie empfindlich verkürzen.48 In der Summe bleibt festzuhalten, dass die Grundfreiheiten des Binnenmarktes sich nicht als Grundlage einer allgemeinen und umfassenden Gewährleistung der Vertragsfreiheit im Unionsrecht eignen.49 II. Insularer Schutz durch kodifizierte Unionsgrundrechte Bei der „Durchführung des Rechts der Union“ und somit auch des Unionsprivatrechts sind die EU-Mitgliedstaaten an die GRCh gebunden. Hinzu treten die ungeschriebenen Unionsgrundrechte im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV. Während die EMRK einen bedeutenden Referenzpunkt in der Rechtsprechung des EuGH bildet, liegt der Fokus im Folgenden auf den Unionsgrundrechten, weil diese zum einen ohnehin das Mindestschutzniveau korrespondierender Grundrechte 46 Prägnant W.-H. Roth, FS Medicus (2009), S. 393, 413 ff.; Köndgen, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre (2015), § 6 Rn. 32. 47 GA Poiares Maduro Schlussanträge v. 23.5.2007 – Rs. C-438/05 (Viking), Slg. 2007, I-10779 Rn. 49 (Herv. d. Verf.). Ebenso Nowak, FS Müller-Graff (2015), S. 475, 478 ff. Cremer, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 1 Rn. 162 bemerkt treffend: „Werden aber Private durch das Unionsrecht zugunsten anderer Privater in die Pflicht genommen […], ist schwerlich einzusehen, weshalb sie einer solchen Belastung nicht ihrerseits Grundrechte entgegenhalten können sollten; dies würde insbesondere einer unverhältnismäßigen Beschränkung ihrer Freiheit wehren – einer Freiheit, die nach der Logik des Grundanliegens der Binnenmarktes, europaweit freie Marktwirtschaft zu verwirklichen, an sich allen privaten Marktsubjekten zuzugestehen ist“. 48 Z. B. Canaris, in: Bauer / Cybulka / Kahl u. a. (Hrsg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht (2002), S. 29, 44 ff.; v. d. Groeben / Schwarze / Müller-Graff (2003), Art. 28 EGV Rn. 306. 49 Ebenso Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85, 90; Rutgers, ERCL 5 (2009), 95, 98 ff. Dessen ungeachtet mögen die Verkehrsfreiheiten in Binnenmarktsachverhalten bestimmte von der Vertragsfreiheit umfasste Garantien durchaus grundfreiheitlich untermauern: So können etwa gesetzliche Beschränkungen der freien Wahl eines Vertragspartners aus einem anderen Mitgliedstaat an den Grundfreiheiten zu messen sein, vgl. GA Sharpston Schlussanträge v. 16.7.2009 – Rs. C-325/08 (Olympique Lyonnais), Slg. 2010, I2177 Rn. 43; EuGH Urt. v. 16.3.2010 – Rs. C-325/08 (Olympique Lyonnais), Slg. 2010, I2177 Rn. 35. In diese Richtung deutet nun auch EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 62 ff. Siehe zu dieser Interaktion binnenmarktbezogener und individual-rechtlicher Vertragsfreiheit näher unten Kapitel 3 § 1 C II.

102

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

der EMRK wahren50 und die Konvention zum anderen mangels Beitritts der EU nicht Teil der Unionsrechts ist.51 Ein wesentlicher Unterschied zwischen den Grundfreiheiten und den Unionsgrundrechten besteht darin, dass die Grundrechte auch in innerstaatlichen Sachverhalten zu beachten sein können: Anders als bei den Verkehrsfreiheiten führt hier nämlich nicht der Binnenmarktbezug, sondern vielmehr schon eine bestimmte Verbindung zum Unionsrecht zur Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte.52 Dabei geht der EuGH in seiner jüngeren Rechtsprechung grundsätzlich von einem einheitlichen Anwendungsbereich der unterschiedlichen Unionsgrundrechte aus53 und rekurriert auf diese Grundrechtsverbürgungen bereits dann, wenn der „Geltungsbereich des Unionsrechts“ eröffnet ist.54 Ausweislich des Art. 6 Abs. 1 EUV sind „die Charta der 50 Gemäß Art. 52 Abs. 3 GRCh haben die Unionsgrundrechte grundsätzlich „die gleiche Bedeutung und Tragweite“ wie gleichlautende Grundrechte der EMRK, wobei das „Recht der Union aber einen weitergehenden Schutz“ gewähren kann. Siehe zum Vorrang der GRCh nur GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 14.4.2011 – Rs. C-70/10 (Scarlet Extended), Slg. 2011, I-11959 Rn. 29 ff. 51 Siehe zur ablehnenden Haltung des Gerichtshofs gegenüber dem in Art. 6 Abs. 2 EUV vorgesehenen Beitritt jüngst EuGH Gutachten v. 18.12.2014 – Gutachtenverfahren 2/13 (EMRK-Beitritt II), EU:C:2014:2454. Vgl. schon zuvor EuGH Gutachten v. 28.3.1996 – Gutachtenverfahren C-2/94 (EMRK-Beitritt I), Slg. 1996, I-1759. Freilich berücksichtigt der EuGH dessen ungeachtet die Grundrechte der EMRK insbesondere im Kontext der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts nach Art. 6 Abs. 3 EUV, dazu eingehend GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 14.4.2011 – Rs. C-70/10 (Scarlet Extended), Slg. 2011, I11959 Rn. 29 ff. 52 Statt vieler Frenz, Handbuch Europarecht I: Europäische Grundfreiheiten (2004), Rn. 61. Vgl. zu solchen Fallgestaltungen im Kontext des Art. 21 GRCh jüngst etwa EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 (Test-Achats), Slg. 2011, I-773 Rn. 2 ff. und 30 ff.; EuGH Urt. v. 8.9.2011 – verb. Rs. C-297/10 u. a. (Hennings u. a.), Slg. 2011, I-7965 Rn. 28 ff. und 46 ff. Siehe zu Grundrechten im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV nur EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 12 und 50 f. 53 Deutlich stellt zuletzt etwa EuGH Urt. v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 (Association de médiation sociale), EU:C:2014:2 Rn. 42 heraus, „dass nach ständiger Rechtsprechung die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen Anwendung finden“ (Herv. d. Verf.). 54 Siehe hierzu noch ausführlich unten § 3 B II. Siehe zur Anwendung der Unionsgrundrechte der GRCh im „Geltungsbereich des Unionsrechts“ nur EuGH Urt. v. 15.11.2011 – Rs. C-256/11 (Dereci), Slg. 2011, I-11315 Rn. 71 f.; EuGH Urt. v. 7.6.2012 – Rs. C-27/11 (Vinkov), EU:C:2012:326 Rn. 58; EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 19 ff. und 45 ff.; EuGH Urt. v. 26.9.2013 – Rs. C-418/11 (Texdata), EU:C:2013:588 Rn. 73; EuGH Urt. v. 26.9.2013 – Rs. C-476/11 (HK Danmark), EU:C:2013:590 Rn. 19 f.; EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-390/12 (Pfleger), EU: C:2014:281 Rn. 33 f.; EuGH Urt. v. 10.7.2014 – Rs. C-198/13 (Hernández), EU:C:2014: 2055 Rn. 32 ff.; EuGH Urt. v. 5.2.2015 – Rs. C-117/14 (Nisttahuz Poclava), EU:C:2015:60 Rn. 28 ff. In diesem Sinne wohl bereits EuGH Urt. v. 22.12.2010 – Rs. C-279/09 (DEB), Slg. 2010, I-13849 Rn. 29 ff. sowie 59 ff. Siehe zum Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte vor dem Inkrafttreten der GRCh z. B. EuGH Urt. v. 18.6.1991 – Rs. C-260/89

§ 1 Lückenhafter Schutz und Postulat umfassender Vertragsfreiheit

103

Grundrechte und die Verträge […] rechtlich gleichrangig“. Im gesamten Unionsprivatrecht treten daher entsprechend die auf Ebene des Primärrechts angesiedelten unionalen Grundrechte in den Vordergrund, während nationale grundrechtliche Gewährleistungen der Vertragsfreiheit, wie in Deutschland z. B. Art. 2 Abs. 1 GG, zurückgedrängt werden.55 Allerdings widmet sich keine der Bestimmungen der GRCh ausdrücklich der Vertragsfreiheit. Insbesondere gewährleisten weder Art. 1 noch Art. 6 GRCh die rechtsgeschäftliche Privatautonomie (1). Die Vertragsfreiheit wird in der Charta vielmehr nur kontextspezifisch und reflexhaft geschützt (2). 1. Keine Anbindung an Menschenwürde oder Handlungsfreiheit „To be free to choose, and not to be chosen for, is an inalienable ingredient in what makes human beings human“56 – dieser Erkenntnis Isaiah Berlins folgend, ist die Menschenwürde wiederholt als Anbindung der Vertragsfreiheit genannt worden.57 Allerdings schützt die Menschenwürdegarantie des Art. 1 GRCh nur vor extremen „Situationen depersonalisierter Beherrschung“. 58 Art. 1 GRCh ist überdies nicht als Auffanggrundrecht im Sinne einer allgemeinen Handlungsfreiheit, sondern vielmehr als spezielles und höchstrangiges Grundrecht konzipiert.59 Während andere grundrechtliche Verbürgungen zwar durch Art. 1 GRCh um einen Menschenwürdekern verstärkt werden mögen,60 (ERT), Slg. 1991, I-2925 Rn. 42; EuGH Urt. v. 24.3.1994 – Rs. C-2/92 (Bostock), Slg. 1994, I-955 Rn. 16; EuGH Urt. v. 27.6.2006 – Rs. C-540/03 (Parlament / Rat), Slg. 2006, I5769 Rn. 105. Für diese weite Lesart des Art. 51 GRCh zu Recht schon Schwarze / Hatje (2012), Art. 51 GRCh Rn. 18 f. 55 Siehe erneut oben Einleitung A III sowie statt vieler Wollenschläger, in: Hatje /  Müller-Graff (Hrsg.), EnzEuR I: Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht (2014), § 8 Rn. 91. Nationale Grundrechte können nach Art. 53 GRCh nur neben den Unionsgrundrechten herangezogen werden, wenn das „Handeln eines Mitgliedstaats nicht vollständig durch das Unionsrecht bestimmt wird“ und „sofern durch diese Anwendung weder das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden“, siehe dazu wiederum nur EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-399/11 (Melloni), EU:C:2013:107 Rn. 60; EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 29. 56 Berlin, Four Essays on Liberty (1969), S. LX. 57 Z. B. von Canaris, FS Lerche (1993), S. 873, 881 und 889; Repgen, Kein Abschied von der Privatautonomie (2001), S. 73. 58 Dazu z. B. v. d. Groeben / Schwarze / Hatje / Augsberg (2015), Art. 1 GRCh Rn. 6. Vgl. zur Garantie der Menschenwürde im Unionsrecht bereits vor Inkrafttreten der GRCh nur EuGH Urt. v. 9.10.2001 – Rs. C-377/98 (Niederlande / Europäisches Parlament und Rat), Slg. 2001, I-7079 Rn. 70 ff.; EuGH Urt. v. 14.10.2004 – Rs. C-36/02 (Omega), Slg. 2004, I-9609 Rn. 34. 59 Statt vieler Tettinger / Stern / Höfling (2006), Art. 1 GRCh Rn. 18; Meyer / Borowski (2014), Art. 1 GRCh Rn. 34; Jarass (2016), Art. 1 GRCh Rn. 9. 60 Siehe mit Blick auf die Vertragsfreiheit unten § 3 A II 3.

104

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

kann diese Norm für sich genommen nicht Standort der Vertragsfreiheit auf Ebene der Unionsgrundrechte sein.61 Womöglich ist die Vertragsfreiheit in der Rechtsordnung der EU jedoch als Facette des Freiheitsrechts gemäß Art. 6 GRCh gewährleistet.62 In diesem Sinne argumentiert etwa der Richter am EuGH Safjan: „[F]reedom of contract is undoubtedly also protected by the Charter, especially as inalienable part of the general guarantees provided by the Article 6 (right to liberty)“.63

Obwohl Art. 6 GRCh dem Wortlaut nach ein Recht auf „Freiheit und Sicherheit“ verbürgt, handelt es sich hierbei nicht um ein allgemeines Freiheitsgrundrecht, welches die Vertragsfreiheit einschließt. Dies verdeutlichen die bei der Auslegung gemäß Art. 52 Abs. 7 verbindlichen Erläuterungen zu Art. 6 GRCh, die zum einen vornehmlich auf Strafsachen verweisen64 und zum anderen den Gewährleistungsgehalt des Art. 6 GRCh mit demjenigen des Art. 5 EMRK gleichsetzen.65 Art. 5 EMRK schützt nach ständiger Rechtsprechung des EGMR nur die physische Bewegungsfreiheit.66 Da der Grundrechtekonvent bewusst auf die Aufnahme der allgemeinen Handlungsfreiheit verzichtet hat,67 kann weder Art. 6 GRCh noch einer anderen Bestimmung der Charta ein solches Auffanggrundrecht entnommen werden.68 Im Ergebnis ebenso Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85, 86. Z. B. Rengeling, Grundrechtsschutz in der EG (1993), S. 21 f. und 135 f.; Knobel, Wandlungen im Verständnis der Vertragsfreiheit (2000), S. 197 f.; Haratsch, in: Heselhaus / Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte (2006), § 18 Rn. 13; Calliess / Ruffert / Calliess (2016), Art. 6 GRCh Rn. 12 f.; Kroll-Ludwigs, Die Rolle der Parteiautonomie im europäischen Kollisionsrecht (2013), S. 261 f. und 252 ff. 63 Safjan, in: Bernitz / Groussot / Schulyko (eds.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), S. 155, 162 f. (Herv. d. Verf.). Siehe zu den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, welche die Vertragsfreiheit unter anderem aus der allgemeinen Handlungsfreiheit herleiten, unten § 2 B II. 64 Vgl. Erläuterungen zur Charta, ABl. 2007 C 303/17, 20. 65 Erläuterungen zur Charta, ABl. 2007 C 303/17, 19: „Die Rechte nach Artikel 6 entsprechen den Rechten, die durch Artikel 5 EMRK garantiert sind“. Dieser Auslegungsgleichklang ist auch durch Art. 52 Abs. 3 GRCh vorgezeichnet. 66 Siehe z. B. EGMR Urt. v. 6.11.1980 – Nr. 7367/76 (Guzzardi / Italy), Rn. 92; EGMR Urt. v. 25.6.1996 – Nr. 19776/92 (Amuur / France), Rn. 40 ff. Vgl. nun auch z. B. EuGH Urt. v. 29.1.2013 – Rs. C-393/11 (Radu), EU:C:2013:39 Rn. 30; GA Sharpston Schlussanträge v. 18.10.2012 – Rs. C-396/11 (Radu), EU:C:2012:648 Rn. 14 und 54 ff.; GA Szpunar Stellungnahme v. 14.5.2014 – Rs. C-146/14 PPU (Mahdi), EU:C:2014:1936 Rn. 2 f. 67 Tettinger / Stern / Höfling (2006), Art. 1 GRCh Rn. 18; Meyer / Borowski (2014), Art. 1 GRCh Rn. 34; Jarass (2016), Art. 1 GRCh Rn. 9. 68 Siehe z. B. Haratsch, in: Heselhaus / Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte (2006), § 18 Rn. 4; Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85, 90; Streinz / ders. (2012), Art. 6 GRCh Rn. 4; Riesenhuber, GS Wolf (2011), S. 123, 131; Schwarze / Knecht (2012), Art. 6 GRCh Rn. 4; Meyer / Bernsdorff (2014), Art. 6 GRCh Rn. 15. Ferner scheidet insbesondere auch Art. 7 GRCh (Achtung des Privat- und Famili61 62

§ 1 Lückenhafter Schutz und Postulat umfassender Vertragsfreiheit

105

Insbesondere im deutschen Schrifttum ist versucht worden, aus der EuGHJudikatur ein ungeschriebenes Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit herzuleiten, welches auch die Vertragsfreiheit einschließen soll.69 Zwar hat der EuGH die „allgemeine Handlungsfreiheit“ in der Rechtssache Rau als „allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts“ bezeichnet: Dies geschah jedoch im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf freie Berufsausübung und der Wettbewerbsfreiheit und mithin in einem Kontext, in dem es auf die etwaige Gewährleistung der allgemeinen Handlungsfreiheit gar nicht ankam. 70 Die Bezugnahme des EuGH auf die Handlungsfreiheit erklärt sich vielmehr durch die Formulierung der Vorlagefrage des deutschen Gerichts.71 Vor diesem Hintergrund nimmt es kaum Wunder, dass der Gerichtshof in seiner weiteren rund dreißigjähigen Entscheidungspraxis nicht mehr auf diesen Grundsatz Bezug genommen hat. Auch in den als Belege für die Existenz eines Unionsgrundrechts der allgemeinen Handlungsfreiheit angeführten Rechtssachen Dow Chemical und Hoechst hat der EuGH nur entschieden, dass Eingriffe in die „Sphäre privater Betätigung“ immer einer gesetzlichen Rechtsgrundlage bedürfen, um einen „Schutz gegen willkürliche oder unverhältnismäßige Eingriffe“

enlebens) als Standort der Handlungs- und Vertragsfreiheit aus, a. A. mit Blick auf die korrespondierende Norm des Art. 8 EMRK aber Colombi Ciacchi, ERPL 13 (2005), 285, 306: „Article 8 ECHR does not merely protect the private life in a strict sense, but also the personal autonomy in general“. Diese Lesart findet aber weder eine Stütze in der Rechtsprechungspraxis des EGMR und des EuGH noch in den Begründungserwägungen zu Art. 7 GRCh, vgl. Erläuterungen zur Charta, ABl. 2007 C 303/17, 20. Insbesondere behandelt der EGMR die Selbstbestimmung nur als Auslegungsleitlinie im Rahmen des Art. 8 EMRK, siehe zur Frage der Strafbarkeit der Beihilfe zum Selbsttötung EGMR Urt. v. 29.4.2002 – Nr. 2346/02 (Petty / United Kingdom), Rn. 61: „Although no previous case has established as such any right to self-determination as being contained in Article 8 of the Convention, the Court considers that the notion of personal autonomy is an important principle underlying the interpretation of its guarantees“ (Herv. d. Verf.). 69 Siehe vor allem Rengeling, Grundrechtsschutz in der EG (1993), S. 21 f.; Knobel, Wandlungen im Verständnis der Vertragsfreiheit (2000), S. 197 f.; Haratsch, in: Heselhaus / Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte (2006), § 18 Rn. 6 ff.; Schwarze / Hatje (2012), Art. 6 EUV Rn. 22; Streinz / ders. (2012), Art. 6 GRCh Rn. 5; Kroll-Ludwigs, Die Rolle der Parteiautonomie im europäischen Kollisionsrecht (2013), S. 261 f. und 252 ff. 70 Vgl. EuGH Urt. v. 21.5.1987 – verb. Rs. 133/85 u. a. (Rau u. a.), Slg. 1987, 2289 Rn. 15. Wie hier bereits Frenz, Handbuch Europarecht IV: Europäische Grundrechte (2009), Rn. 1065 ff. 71 EuGH Urt. v. 21.5.1987 – verb. Rs. 133/85 u. a. (Rau u. a.), Slg. 1987, 2289 Rn. 15: „Die dritte Frage geht im Wesentlichen dahin, ob gemeinschaftliche Maßnahmen, die die Wettbewerbsposition bestimmter Unternehmen verbessern und sich dadurch nachteilig für deren Konkurrenten auswirken, den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts, insbesondere den Grundsätzen der freien Berufsausübung, der allgemeinen Handlungsfreiheit und der Wettbewerbsfreiheit zuwiderlaufen.“

106

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

sicherzustellen.72 Diese Entscheidungen lassen sich daher als schlichter Hinweis auf die unionsrechtlichen Grundsätze der Gesetzlichkeit und der Verhältnismäßigkeit verstehen. 73 Der Gerichtshof hat diese Judikate in seiner späteren Rechtsprechung in ebendiesem Sinne interpretiert.74 In Summe kann ein Unionsgrundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit schwerlich auf die vorgenannte Judikatur des EuGH gestützt werden.75 Schon kontextbedingt konnte der Gerichtshof nämlich jeweils nicht auf eine allgemeine, sondern allenfalls auf die „wirtschaftlich[e] Handlungsfreiheit“76 der betroffenen Unternehmen eingehen, die nunmehr als Berufs- bzw. Unternehmerfreiheit durch Art. 15 bzw. Art. 16 GRCh geschützt wird. Selbst wenn man – ohne das nach Art. 6 Abs. 3 EUV erforderliche rechtsvergleichende Fundament –77 ein ungeschriebenes Unionsgrundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit konstruieren möchte, läge hierin allenfalls ein Auffanggrundrecht, das hinter spezielleren Unionsgrundrechten zurückträte. Vor diesem Hintergrund ist vorrangig zu fragen, ob und inwieweit die Vertragsfreiheit von den spezifischen unionsgrundrechtlichen Gewährleistungen der GRCh umfasst wird. EuGH Urt. v. 21.9.1989 – verb. Rs. 46/87 u. a. (Hoechst / Kommission), Slg. 1989, 2859 Rn. 19. Gleichsinnig EuGH Urt. v. 17.10.1989 – Rs. verb. C-97/87 u. a. (Dow Chemical u. a./Kommission), Slg. 1989, 3165 Rn. 16. 73 In diesem Sinne auch z. B. Hilf / Hörmann, NJW 2003, 1, 6; Grabitz / Hilf /  Nettesheim / Mayer (2014), Nach Art. 6 EUV Rn. 121 f.; Gräditz, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 4 Rn. 46 ff. Zu Recht skeptisch mit Blick auf die Herleitung der unionalen Vertragsfreiheit aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auch Starke, EU-Grundrechte und Vertragsrecht (2016), S. 263 f. 74 Vgl. mit Blick auf die Rechtssache Hoechst nur EuGH Urt. v. 22.10.2002 – Rs. C94/00 (Roquette Frères), Slg. 2002, I-9011 Rn. 27 und 35 ff.; EuGH Urt. v. 15.10.2002 – verb. Rs. C-238/99 P u. a. (Limburgse Vinyl Maatschappij), Slg. 2002 I-8375 Rn. 252. 75 Zu Recht ablehnend daher Hilf / Hörmann, NJW 2003, 1, 6; Lindner, ZRP 2007, 54, 56; Frenz, Handbuch Europarecht IV: Europäische Grundrechte (2009), Rn. 1065 ff.; Jarass (2016), Einl. GRCh Rn. 31. Zurückhaltend auch Mayer, Int. J. Const. L. 11 (2013), 1003, 1006; Gräditz, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 4 Rn. 46 ff. 76 Siehe zu der so verstandenen Handlungsfreiheit nur EuGH Urt. v. 29.4.2004 – Rs. C418/01 (IMS Health), Slg. 2004, I-5039 Rn. 48. Vgl. zuvor etwa EuGH Urt. v. 7.2.1985 – Rs. 240/83 (ADBHU), Slg. 1985, 531 Rn. 9 („grundrechtliche Handelsfreiheit“). 77 Siehe zur Bedeutung der Rechtsvergleichung als Methode zur Gewinnung allgemeiner Grundsätze im Rahmen des Art. 6 Abs. 3 EUV sogleich eingehend unten § 2 A II 3. Bereits an dieser Stelle sei angemerkt, dass vielen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen eine grundrechtliche Verbürgung der allgemeinen Handlungsfreiheit – einschließlich der Vertragsfreiheit – nach dem Vorbild des Art. 2 Abs. 1 GG unbekannt ist, vgl. dazu sogleich unten § 2 B III und siehe ferner nur Haratsch, in: Heselhaus / Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte (2006), § 18 Rn. 9 f.; Tettinger / Stern / Tettinger (2006), Art. 6 GRCh Rn. 17; Schwarze / Knecht (2012), Art. 6 GRC Rn. 4; Meyer /  Bernsdorff (2014), Art. 6 GRCh Rn. 15. 72

§ 1 Lückenhafter Schutz und Postulat umfassender Vertragsfreiheit

107

2. Nur kontextspezifischer Schutz der Vertragsfreiheit in der GRCh Die GRCh schützt in Art. 9 die Eheschließungsfreiheit als spezielle Spielart der Vertragsfreiheit.78 Mit der Vereinigungsfreiheit nach Art. 12 sowie der Berufswahlfreiheit gemäß Art. 15 umfasst die GRCh schließlich zwei weitere kontextspezifische und in ihrem Schutzbereich eng umgrenzte Ausprägungen der Vertragsfreiheit.79 Da die vorliegende Abhandlung der umfassenden Verbürgung der Vertragsfreiheit im Unionsrecht nachspürt, werden im Folgenden insbesondere das Recht auf Eigentum gemäß Art. 17 GRCh sowie die unternehmerische Freiheit nach Art. 16 GRCh in den Blick genommen. Zumindest letztere Norm haben sowohl der Grundrechtskonvent als auch der EuGH explizit als Standort der unionalen Vertragsfreiheit ausgemacht. a) Recht auf Eigentum nach Art. 17 GRCh Der EGMR sieht die Vertragsfreiheit bislang nur durch Art. 1 des 1. Protokolls zur EMRK als Facette des Eigentumsrechts geschützt.80 Entsprechend 78 Siehe zu dem grundrechtlich geschützen „Recht, eine Ehe einzugehen“ nur Meyer /  Bernsdorff (2014), Art. 9 GRCh Rn. 15; Jarass (2016), Art. 9 GRCh Rn. 10. Dagegen verbürgt der an Art. 8 EMRK angelehnte Art. 7 GRCh nur den Schutz des Privat- und Familienlebens im engeren Sinne und gewährleistet nicht auch die Vertragsfreiheit, statt vieler Jarass (2016), Art. 7 GRCh Rn. 6 ff. m. w. N. Anders mit Blick auf Art. 8 EMRK wohl Herresthal, in: Ziegler / Huber (eds.), Current Problems in the Protection of Human Rights (2013), S. 89, 92. 79 Siehe zu diesen Ausprägungen der Vertragsfreiheit statt aller Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85, 90. Vgl. zu den Querbezügen von Vertrags- und Vereinigungsfreiheit zudem nur EuGH Urt. v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 (Werhof), Slg. 2006, I2397 Rn. 23 und 33 ff. Überdies hat der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung herausgestellt, dass die Berufsfreiheit auch die „freie Wahl des Geschäftspartners“ umfasst, z. B. EuGH Urt. v. 10.7.1991 – verb. Rs. C-90/90 u. a. (Neu), Slg. 1991, I-3617 Rn. 13; EuGH Urt. v. 16.12.1993 – Rs. C-307/91 (Luxlait), Slg. 1993, I-6835 Rn. 14. Entsprechendes muss nun auch im Rahmen des Art. 15 sowie Art. 16 GRCh gelten, siehe nur W.-H. Roth, FS Medicus (2009), S. 393, 416. 80 Siehe z. B. EGMR Urt. v. 19.6.2006 – Nr. 35014/97 (Hutten-Czapska / Poland), Rn. 160 f. „In assessing compliance with Article 1 of Protocol No. 1, the Court must make an overall examination of the various interests in issue […]. [T]hat assessment may involve […] the extent of the State’s interference with freedom of contract and contractual relations” (Herv. d. Verf.). Gleichsinnig bereits EGMR Urt. v. 19.12.1989 – Nr. 10522/83 u. a. (Mellacher u. a./Austria), Rn. 50 ff.; EGMR Urt. v. 21.11.1995 – Nr. 18072/91 (Velosa Barreto / Portugal), Rn. 33; EGMR Urt. v. 26.9.2006 – Nr. 35349/05 (Fleri Soler u. a./Malta), Rn. 70; EGMR Urt. v. 12.6.2012 – Nr. 13221/08 (Lindheim u. a./Norway), Rn. 119. Siehe mit Blick auf gesetzliche Begrenzungen der Miethöhe („Mietpreisbremse“) im slowakischen Mietrecht zuletzt etwa EGMR Urt. v. 28.1.2014 – Nr. 30255/09 (Bittó u. a./Slovakia), Rn. 97 f. und 101: Hier prüft der Gerichtshof unter anderem „the conditions for reducing the rent received by individual landlords and the extent of the State’s interference with freedom of contract and contractual relations in the rental market“ und zählt die

108

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

bildet das Recht auf Eigentum nach Art. 17 GRCh einen weiteren Anknüpfungspunkt der Vertragsfreiheit im Unionsrecht, da die Grundrechtsverbürgungen der Charta und der EMRK gemäß Art. 52 Abs. 3 GRCh im Gleichklang auszulegen sind.81 Die Anbindung an das Eigentumsrecht hat indes erhebliche Schwächen: Der Schutzbereich des Art. 1 des 1. Protokolls zur EMRK – und damit auch des Art. 17 GRCh – erfasst nämlich grundsätzlich nur bestehende Verträge, wohingegen z. B. die bloße Anbahnung und die Erwartung künftiger vertraglicher Ansprüche nicht geschützt werden.82 Demnach vermag Art. 17 GRCh die rechtsgeschäftliche Privatautonomie gerade in der entscheidenden Phase der Vertragsanbahnung potenziell nicht zu gewährleisten.83 Als Ankerpunkt einer allgemeinen, umfassenden Vertragsfreiheit kommt Art. 17 GRCh daher nicht in Betracht. b) Unternehmerische Freiheit gemäß Art. 16 GRCh Die unionsrechtliche Verbürgung der unternehmerischen Freiheit ist durch den EuGH seit der Nold-Entscheidung in ständiger Rechtsprechung anerkannt84 und dabei sowohl auf die Ebene eines allgemeinen Grundsatzes als auch eines Grundrechts gehoben worden.85 Während diese Freiheit bislang nicht ausdrücklich im primären Unionsrecht kodifiziert und damit gemeinhin sichtbar war,86 ist die unternehmerische Freiheit nun als Unionsgrundrecht in Art. 16 GRCh verankert. Nimmt man die gemäß Art. 52 Abs. 7 verbindlichen Vertragsfreiheit ausdrücklich zu den „requirements of the protection of the individual’s fundamental rights“. 81 Siehe nur Schöbener / Stork, ZEuS 2004, 43, 57; Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85, 90 f. Art. 52 Abs. 3 GRCh lautet: „Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird“. 82 Vgl. nur EKMR Beschl. v. 11.10.1990 – Nr. 15673/89 (Haye u. a./The Netherlands), Rn. 3: „The mere expectation of future claims cannot be considered as a property right“). Siehe zum Ganzen nur Dolzer, in: Merten / Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte VI/1 (2010), § 140 Rn. 8; G. Wagner, in: Blaurock / Hager (Hrsg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), S. 13, 59. 83 Vgl. zur Berücksichtung der Rechtsprechung des EGMR bei der Auslegung der Unionsgrundrechte der GRCh nur EuGH Urt. v. 22.10.2010 – Rs. C-279/09 (DEB), Slg. 2010, I-13849 Rn. 35 ff. 84 EuGH Urt. v. 14.5.1974 – Rs. 4/73 (Nold / Kommission), Slg. 1974, 491 Rn. 14. 85 Vgl. zur Einordnung der unternehmerischen Freiheit als Unionsgrundrecht bzw. allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts frühzeitig etwa EuGH Urt. v. 27.9.1979 – Rs. 230/78 (Eridania), Slg. 1979, 2749 Rn. 20 und 31; EuGH Urt. v. 7.2.1985 – Rs. 240/83 (ADBHU), Slg. 1985, 531 Rn. 9; EuGH Urt. v. 21.2.1991 – verb. Rs. C-143/88 u. a. (Zuckerfabrik Süderdithmarschen), Slg. 1991, I-415 Rn. 72 ff. 86 Dies beklagte mit Blick auf den EWG-Vertrag etwa Basedow, Von der deutschen zur europäischen Wirtschaftsverfassung (1992), S. 52.

§ 1 Lückenhafter Schutz und Postulat umfassender Vertragsfreiheit

109

Erläuterungen zum Ausgangspunkt, so enthält Art. 16 GRCh nach Auffassung des Grundrechtskonvents die einzige geschriebene Garantie der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie in der Charta.87 Entsprechend nennt auch der EuGH in seiner Rechtsprechung zur Grundrechtecharta bislang allein Art. 16 GRCh als Standort der Vertragsfreiheit: In den Rechtssachen Sky Österreich,88 Schaible,89 Alemo-Herron,90 Pillbox 38,91 Lidl92 und AGET Iraklis 93 sieht der Gerichtshof in dieser Freiheit einen Aspekt der unternehmerischen Freiheit. Korrespondierend mit dem persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich dieses Grundrechts schützt Art. 16 GRCh die Vertragsfreiheit damit zum einen nur im erwerbswirtschaftlichen Kontext. 94 Zum anderen hat der EuGH in den Rechtssachen Sokoll-Seebacher und Pfleger angedeutet, dass der Gewährleistungsgehalt des Art. 16 GRCh in bestimmten Fallgestaltungen nicht über denjenigen der Grundfreiheiten hinausgehen könnte.95 SollErläuterungen zur Charta, ABl. 2007 C 303/17, 23. Statt vieler Remien, EuR 2005, 699, 716; Frenz, Handbuch Europarecht IV: Europäische Grundrechte (2009), Rn. 2702 und 2484; W.-H. Roth, FS Medicus (2009), S. 393, 418; Oliver, in: Bernitz / Groussot /  Schulyko (eds.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), S. 281, 285 ff. 88 EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C:2013:28 Rn. 42. 89 EuGH Urt. v. 17.10.2013 – Rs. C-101/12 (Schaible), EU:C:2013:661 Rn. 25. 90 EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 31 f.: „Art. 16 der Charta […] umfasst insbesondere die Vertragsfreiheit, wie sich aus den Erläuterungen ergibt, die als Anleitung für die Auslegung der Charta der Grundrechte verfasst wurden […] und die gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 7 der Charta für deren Auslegung zu berücksichtigen sind“. Vgl. zudem nur EuG Urt. v. 26.9.2014 – Rs. T-614/13 (Romota / Kommission), EU:T:2014:835 Rn. 56. 91 EuGH Urt. v. 4.5.2016 – Rs. C-477/14 (Pillbox 38), EU:C:2016:324 Rn. 155. 92 EuGH Urt. v. 30.6.2016 – Rs. C-134/15 (Lidl), EU:C:2016:498 Rn. 28. 93 EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 66 ff. 94 Vgl. zum Anwendungsbereich des Art. 16 GRCh nur EuGH Urt. v. 6.9.2012 – Rs. C544/10 (Deutsches Weintor), EU:C:2012:526; EuGH Urt. v. 13.2.2014 – Rs. C-367/12 (Sokoll-Seebacher), EU:C:2014:68; EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-390/12 (Pfleger), EU: C:2014:281. Siehe auch Grabenwarter, in: ders. (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 13 Rn. 28 („Tätigkeiten mit Erwerbsabsicht“); Everson / Correia Gonçalves, in: Peers / Hervey / Kenner (eds.), EU Charter (2014), Art. 16 Rn. 16.01 ff. 95 EuGH Urt. v. 13.2.2014 – Rs. C-367/12 (Sokoll-Seebacher), EU:C:2014:68 Rn. 21 ff.: „Zur Bestimmung der Tragweite der unternehmerischen Freiheit verweist [Art. 16 der Charta] u. a. auf das Unionsrecht. Diese Verweisung ist so zu verstehen, dass Art. 16 der Charta u. a. auf Art. 49 AEUV verweist, der die Ausübung der Niederlassungsfreiheit, einer Grundfreiheit, garantiert“. Laut EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-390/12 (Pfleger), EU:C: 2014:281 Rn. 58 ff. soll zumindest in der fraglichen Rechtssache „eine nicht gerechtfertigte oder im Hinblick auf den in Art. 56 AEUV verankerten freien Dienstleistungsverkehr unverhältnismäßige Einschränkung auch nicht nach Art. 52 Abs. 1 der Charta in Bezug auf deren Art. 15 bis 17 zulässig“ sein. GA Sharpston Schlussanträge v. 14.11.2014 – Rs. C390/12 (Pfleger), EU:C:2013:747 Rn. 70 f. geht auch auf den umgekehrten Fall ein: „Meiner Meinung nach stellen die Art. 15 bis 17 der Charta keine strengeren Voraussetzungen 87

110

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

te der Gerichtshof diese Rechtsprechungslinie festigen, wäre der Schutz der Vertragsfreiheit durch Art. 16 GRCh womöglich ähnlichen Bedenken ausgesetzt, wie sie bereits gegen die Anbindung der Vertragsfreiheit an die Grundfreiheiten vorgebracht worden sind.96 III. Zwischenfazit und Kritik Im geschriebenen unionalen Primärrecht gleicht die Vertragsfreiheit eher einem Nischen- denn einem Jedermannsrecht. Weder die unionale Wirtschaftsverfassung noch die Grundfreiheiten können diese für den Binnenmarkt unverzichtbare Freiheit umfassend garantieren. Auch auf Ebene der kodifizierten Unionsgrundrechte wird die Vertragsfreiheit nur bereichsspezifisch und lückenhaft, etwa durch das Eigentumsrecht nach Art. 17 GRCh, gewährleistet.97 Im System der Grundrechtecharta ist ursprünglich sogar nur die unternehmerische Freiheit gemäß Art. 16 GRCh als Standort der Vertragsfreiheit vorgesehen worden.98 Die Anbindung einer tagtäglich von jedermann in Anspruch genommenen Freiheit an Unionsgrundrechte, deren sachlicher und personaler Wirkbereich eng umgrenzt ist, vermag indes kaum zu überzeugen. An dieser Stelle ist daher kritisch zu hinterfragen, weshalb der Grundrechtskonvent wie auch der EuGH die rechtsgeschäftliche Privatautonomie bislang primär als Privileg von Unternehmern behandelt. Die Erläuterungen zur Grundrechtecharta begründen die Anbindung der Vertragsfreiheit an Art. 16 GRCh mit den Entscheidungen des EuGH in den Rechtssachen Sukkerfabriken Nykøbing99 und Spanien/Kommission.100 Das zuerst genannte Urteil erwähnt die Vertragsfreiheit im Kontext der Auslegung einer europäischen Verordnung betreffend den Kauf von Zuckerrüben durch Zuckerher-

für die Zulässigkeit einer Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs auf als diejenigen, die sich bereits der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 56 AEUV entnehmen lassen […]. Sofern eine Beschränkung diese Kriterien erfüllt, stehen ihr die Art. 15, 16 und 17 der Charta nicht entgegen“. Vgl. hierzu auch Wollenschläger, EuZW 2014, 577, 580. 96 Siehe erneut oben I 2. Allerdings begründet der Gerichtshof den Gleichlauf der Gewährleistungen des Art. 16 GRCh einerseits und der Niederlassungsfreiheit andererseits teilweise mit den Eigenheiten der Vorlagefragen, vgl. EuGH Urt. v. 13.2.2014 – Rs. C367/12 (Sokoll-Seebacher), EU:C:2014:68 Rn. 23. 97 Siehe wiederum Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit im deutschen und europäischen Arbeitsrecht (2014), S. 265, der treffend betont, „dass die allgemeine Vertragsfreiheit keine ausdrückliche Aufnahme in die Grundrechte-Charta gefunden hat und auch nicht ohne weiteres aus den […] speziellen Grundrechten abzuleiten ist“. 98 Vgl. erneut Erläuterungen zur Charta, ABl. 2007 C 303/17, 23. 99 EuGH Urt. v. 16.1.1979 – Rs. 151/78 (Sukkerfabriken Nykøbing), Slg. 1979, 1 Rn. 19. 100 EuGH Urt. v. 5.10.1999 – Rs. C-240/97 (Spanien / Kommission), Slg. 1999, I-6571 Rn. 99.

§ 1 Lückenhafter Schutz und Postulat umfassender Vertragsfreiheit

111

steller.101 In der Rechtssache Spanien/Kommission unterstreicht der EuGH die Vertragsfreiheit sodann im Zusammenhang mit sekundärrechtlichen Bestimmungen zur Förderung der gewerblichen Verarbeitung von Zitrusfrüchten.102 Die von den jeweiligen Verordnungen erfassten Geschäfte wurden somit allein von unternehmerisch handelnden Personen getätigt. Aus den vorgenannten Judikaten lässt sich demnach nur entnehmen, dass nach Auffassung des EuGH Unternehmer jedenfalls Vertragsfreiheit genießen, nicht jedoch, dass sie die einzigen Träger dieser Freiheit sind. Ebenso verhält es sich auch mit der jüngeren Entscheidungspraxis des Gerichtshofs: Die zur unionalen Vertragsfreiheit ergangenen Urteile, etwa in den Rechtssachen Sky Österreich, Schaible, Alemo-Herron, AGET Iraklis und Asklepios Kliniken behandeln allein die Freiheitsrechte unternehmerisch handelnder Akteure.103 Hier hatte der EuGH also keinen Anlass, über Art. 16 GRCh hinaus nach einer allgemeinen Verbürgung der unionalen Vertragsfreiheit zu fragen, weil Letztere ohnehin gegenüber dem speziellen Grundrecht der unternehmerischen Freiheit subsidiär wäre. Obwohl die Vertragsfreiheit im geschriebenen unionalen Primärrecht bislang nur vereinzelt und insbesondere im Kontext des Art. 16 GRCh aufscheint, bedeutet dies keineswegs, dass diese Freiheit in der EU-Rechtsordnung nicht doch für jedermann garantiert wird.104 Die Frage nach dem Standort, der Natur und der Reichweite solcher umfassenden Freiheitsgewährleistungen kann indes nur im Wege einer eingehenden Analyse des Unionsrechts sowie der EuGH-Rechtsprechung beantwortet werden. B. Fazit In Anlehnung an Platons Höhlengleichnis105 lässt sich der vorstehende Befund dahingehend zusammenfassen, dass im geschriebenen Unionsrecht nur 101 Verordnung (EWG) Nr. 741/75 des Rates vom 18. März 1975 zur Aufstellung besonderer Regeln für den Kauf von Zuckerrüben, ABl. 1975 L 74/2. 102 Verordnung (EG) Nr. 3119/93 des Rates vom 8. November 1993 über Sondermaßnahmen zur Förderung der Verarbeitung bestimmter Zitrusfrüchte, ABl. 1993 L 279/17. 103 Vgl. erneut nur EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU: C:2013:28; EuGH Urt. v. 17.10.2013 – Rs. C-101/12 (Schaible), EU:C:2013:661; EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521; EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972; EuGH Urt. v. 27.4.2017 – Rs. C-680/15 u.a. (Asklepios Kliniken u.a.), EU:C:2017:317. 104 Demgegenüber will Grabenwarter, in: ders. (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 13 Rn. 31 den grundrechtlichen Schutz der Vertragsfreiheit wohl auf Art. 16 und 17 GRCh verengen, wenn er neben der unternehmerischen Freiheit nur die in der EMRK anerkannte Gewährleistung des Eigentums als „andere[s] Standbein der Begründung eines Schutzes der Vertragsfreiheit“ nennt. Ähnlich auch Everson / Correia Gonçalves, in: Peers / Hervey / Kenner (eds.), EU Charter (2014), Art. 16 Rn. 16.44 ff. 105 Platon, Politeia 514a–515b.

112

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

die Schattenbilder einer allgemeinen Verbürgung der Vertragsfreiheit erkennbar werden, ohne dass sich die eigentliche Quelle und Gestalt dieser Freiheitsgarantie offenbaren. Selbst in der Grundrechtecharta wird die rechtsgeschäftliche Privatautonomie allenfalls bereichsspezifisch und sachlich eng begrenzt geschützt, etwa durch Art. 17 GRCh sowie zugunsten unternehmerisch handelnder Personen gemäß Art. 16 GRCh. Gerade angesichts der mannigfaltigen Verkürzungen der Vertragsfreiheit, insbesondere durch Diskriminierungsverbote, drängt sich daher die Frage auf, ob die unionale Vertragsfreiheit nicht doch eine „Jedermannfreiheit“ ist, die z. B. auch und gerade Verbrauchern zusteht. Andernfalls droht die im Binnenmarkt so bedeutende Nachfragerfreiheit dieser Personengruppe übergangen zu werden: Beispielsweise geht der EuGH in seiner Test-Achats-Entscheidung zu sogenannten Unisex-Versicherungstarifen mit keinem Wort darauf ein, ob – neben den unternehmerischen Belangen der Versicherer – nicht auch die Freiheit der Versicherungsnehmer, ein bestimmtes geschlechtsspezifisches Versicherungsprodukt nachzufragen, Schutz verdient.106 Für eine umfassende Verbürgung der Vertragsfreiheit im Unionsrecht streitet bereits die Umschau im Sekundärrecht sowie in der Judikatur des EuGH: Die rechtsgeschäftliche Privatautonomie wird zunächst ganz selbstverständlich auch Personen zuerkannt, die weder unternehmerisch im Sinne des Art. 16 GRCh noch in einer von Art. 17 GRCh erfassten Konstellation handeln. Mag die ausdrückliche Erwähnung der Vertragsfreiheit im geschriebenen Unionsrecht dabei auch zuweilen eher zufällig wirken, so ist diese Freiheit doch in allen untersuchten Sachmaterien präsent. Bei genauerer Analyse werden beim derzeitigen Stand bereits sieben Facetten der unionalen Vertragsfreiheit im Unionsrecht sowie in der ständigen Rechtsprechung des EuGH explizit vorausgesetzt: Dies trifft neben 1. der Abschluss- und Auswahlfreiheit, 2. Inhalts-, 3. Typen-, 4. Änderungs-, 5. Aufhebungs- und 6. Formfreiheit schließlich auch 7. auf die Parteiautonomie als international-privatrechtliche Ausdrucksform der Vertragsfreiheit zu. Dieses ausdrückliche Freiheitspostulat findet eine Bestätigung in der umfassenden impliziten Anerkennung der Vertragsfreiheit durch die zahlreichen Beschränkungen all ihrer Facetten im geschriebenen Unionsrecht. Ein derart dichtes Netz an Einschränkungen deutet zum einen darauf hin, dass das sekundäre Unionsrecht von einem umfassenden Grundsatz der Vertragsfreiheit ausgeht und sich darauf zurückzieht, die Grenzen dieser Freiheit im Privatrecht abzustecken.107 Zum anderen streitet dieser Regelungsansatz dafür, dass die unionale Vertragsfreiheit Normcharakter hat: Schließlich bedarf nur ein EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 (Test-Achats), Slg. 2011, I-773 Rn. 16 ff. berücksichtigt nicht einmal die durch Art. 16 GRCh geschützte Vertrags(inhalts)freiheit der Versicherer. 107 In diesem Sinne auch Schulze, GPR 2005, 56, 58. 106

§ 1 Lückenhafter Schutz und Postulat umfassender Vertragsfreiheit

113

Rechtssatz, der seinerseits gilt und mithin normative Kraft besitzt, überhaupt der Einschränkung durch einen gegenläufigen Rechtssatz. Wäre die Vertragsfreiheit nur ein unverbindliches Prinzip im Sinne eines leitenden Rechtsgedankens,108 wäre die Grenzziehung durch Unionsrechtsakte entbehrlich. Gerade die Beschränkungen der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie liefert somit ein Argument dafür, dass die Unionsrechtsordnung die Vertragsfreiheit als rechtssatzförmigen Rechtsgrundsatz109 anerkennt. Den Widerspruch zwischen den lückenhaften geschriebenen primärrechtlichen Gewährleistungen und der durch den Unionsgesetzgeber wie auch durch den EuGH postulierten umfassenden Verbürgung der Vertragsfreiheit gilt es im weiteren Verlauf der Untersuchung aufzulösen. C. Postulat umfassender Vertragsfreiheit im Unionsrecht Schon ein Blick auf das Sekundärecht der EU verdeutlicht, dass die Vertragsfreiheit im Unionsrecht nicht als Privileg von Eigentümern und Unternehmern konzipiert sein kann. Denn trotz ihrer primären Anbindung an Art. 16 und Art. 17 GRCh110 wird die Vertragsfreiheit auch und gerade in Bereichen als gegeben vorausgesetzt, in denen das geschriebene Primärrecht als Ankerpunkt dieser Freiheit in persönlicher oder sachlicher Hinsicht ausfällt. So postuliert der Unionsgesetzgeber etwa die Freiheit aller Binnenmarktakteure, Verträge zu schließen, gleichviel ob sie erwerbswirtschaftliche Zwecke verfolgen oder nicht.111 Insbesondere im Unionsprivatrecht wird die rechtsgeschäftliche Privatautonomie als „Jedermannfreiheit“ behandelt, wie etwa Art. 3 Abs. 2 Unisexrichtlinie 2004/113/EG112 hervorhebt: „Für jede Person gilt der Grundsatz der Vertragsfreiheit“. Die folgende Synopse des Verbraucher-, Finanzdienstleistungs- und Wirtschaftsvertragsrechts verdeutlicht, dass das Unionsrecht auf dem Postulat einer in jeder Hinsicht umfassenden rechtsgeschäftlichen Privatautonomie aufbaut. Zum einen wird die Vertragsfreiheit allen Akteuren rechtsgebietsVgl. zu diesem Begriff nur Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1991), S. 479. 109 Vgl. wiederum Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1991), S. 479 f. 110 Vgl. dazu erneut oben A II 2. 111 Vgl. nur Anhang A Kapitel 2 Nr. 2.12 Verordnung (EG) Nr. 2223/96 des Rates vom 25. Juni 1996 zum Europäischen System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen auf nationaler und regionaler Ebene in der Europäischen Gemeinschaft, ABl. 1996 L 310/1. Der „Grundsatz der Vertragsfreiheit“ gilt zudem gerade auch zugunsten von Verbrauchern, vgl. nur Erwägungsgrund Nr. 22 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte des Online-Warenhandels und anderer Formen des Fernabsatzes von Waren, KOM(2015) 635 endg. 112 Richtlinie 2004/113/EG des Rates vom 13. Dezember 2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, ABl. 2004 L 373/37. 108

114

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

und rechtsaktsübergreifend zuerkannt. Zum anderen ist auch der Inhalt dieser Freiheit weit ausdifferenziert: Die Unionsrechtsordnung verbürgt sieben Facetten der Vertragsfreiheit (I). Neben diese explizite tritt eine implizite Anerkennung der Vertragsfreiheit: Die rechtsgeschäftliche Privatautonomie wird auch insofern im Unionsrecht vorausgesetzt, als mannigfaltige Einschränkungen aller Aspekte der Vertragsfreiheit vorgesehen sind (II). I.

Sieben anerkannte Facetten unionaler Vertragsfreiheit

Zu den sieben im Unionsrecht zugunsten jedermann gewährleisteten Facetten der Vertragsfreiheit zählen neben der Abschluss- und Auswahlfreiheit (1) insbesondere die Inhalts- (2), Typen- (3), Änderungs- (4), Aufhebungs- (5) und die Formfreiheit (6). Schließlich behandelt das Unionsrecht auch die Parteiautonomie als international-privatrechtliche Erscheinungsform der Vertragsfreiheit (7). Damit entsprechen diese – zuweilen miteinander verzahnten – Facetten im Wesentlichen den in den Privatrechtsordnungen der EUMitgliedstaaten anerkannten Emanationen der Vertragsfreiheit.113 Im Unterschied zum nationalen Recht sind die Ausdrucksformen der unionalen Vertragsfreiheit bislang noch nicht umfassend beleuchtet worden.114 Ohne Kenntnis der einzelnen Facetten können aber weder Inhalt und Grenzen der unionalen Vertragsfreiheit bestimmt noch die zur Ausgestaltung dieser Freiheit erlassenen unionsprivatrechtlichen Regelungen systematisiert und bewertet werden. 1. Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit Der EuGH hat in seiner Rechtsprechungspraxis zum Unionsprivatrecht ausdrücklich anerkannt, dass die Entscheidung über den Vertragsschluss in den Siehe aus deutscher Sicht statt vieler Bork, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches (2016), Rn. 661 sowie aus französischer Perspektive Malaurie / Aynès / StoffelMunck, Droit des obligations (2016), Rn. 449 und vgl. aus Sicht des englischen common law nur Photo Production Ltd v Securicor Transport Ltd [1980] AC 827, 848 (Lord Diplock); Street v Mountford [1985] AC 809, 819 (Lord Templeman). 114 So erwähnen etwa Frenz, Handbuch Europarecht IV: Europäische Grundrechte (2009), Rn. 2699 ff.; Meyer / Bernsdorff (2014), Art. 16 GRCh Rn. 12; Grabenwarter, in: ders. (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 13 Rn. 31; Jarass (2016), Art. 16 GRCh Rn. 9 lediglich die Vertragspartnerwahl-, Vertragsinhalts- und Vertragsänderungsfreiheit. Weitere Facetten identifizieren hingegen Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), 85, 88 f. und 98 f.; Herresthal, in: Ziegler / Huber (eds.), Current Problems in the Protection of Human Rights (2013), 89, 99. Zumindest einzelne Elemente scheinen auch in Art. II.–1:102(1) DCFR; Art. 1:102 PECL sowie in Art. 1 GEK-E auf. Demgegenüber ist in dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte des Online-Warenhandels und anderer Formen des Fernabsatzes von Waren, KOM(2015) 635 endg. nur noch in Erwägungsgrund Nr. 22 allgemein von einem „Grundsatz der Vertragsfreiheit“ die Rede. 113

§ 1 Lückenhafter Schutz und Postulat umfassender Vertragsfreiheit

115

Bereich der Vertragsfreiheit der Parteien fällt.115 Der Gerichtshof postuliert damit die Gewährleistung der Abschlussfreiheit als „ursprünglichste“116 Ausprägung der Vertragsfreiheit. Diese Freiheit umfasst sowohl die Entscheidung darüber, einen Vertrag einzugehen (positive Abschlussfreiheit), als auch die Freiheit, von einem Vertragsschluss Abstand zu nehmen (negative Abschlussfreiheit).117 Vor diesem Hintergrund erkennt die unionale Rechtsprechung ein „Recht auf Absehen vom Vertragsschluss“ an,118 und der EuGH wertet beispielsweise einen Kontrahierungszwang als Eingriff in die negative Abschlussfreiheit des Verpflichteten.119 Auch ist ein Konsument nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH zum Verbrauchervertragsrecht völlig frei bei seiner Entscheidung, „ob er sich […] vertraglich binden möchte“.120 Im Wirtschaftsvertragsrecht scheint die Abschlussfreiheit z. B. im Vergaberecht in Art. 41 Abs. 1 Vergaberichtinie Bau-, Liefer- und Dienstleistungsaufträge auf, wo ausdrücklich vorausgesetzt wird, dass es dem Auftraggeber freisteht, „auf den Abschluss einer Rahmenverein-

115 EuGH Urt. v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 (Werhof), Slg. 2006, I-2397 Rn. 23. Ebenso z. B. EuGH Urt. v. 18.7.2007 – Rs. C-277/05 (Société thermale), Slg. 2007, I-6415 Rn. 21. 116 Nipperdey, Kontrahierungszwang und diktierter Vertrag (1920), S. 4 f. 117 Deutlich etwa EuGH Urt. v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 (Werhof), Slg. 2006, I-2397 Rn. 23; GA Jacobs Schlussanträge v. 23.3.2000 – verb. Rs. C-180/98 u. a. (Pavlov), Slg. 2000, I-6451 Rn. 150; GA Geelhoed Schlussanträge v. 31.1.2002 – Rs. C-334/00 (Tacconi), Slg. 2002, I-7357 Rn. 55; GA Kokott Schlussanträge v. 17.9.2009 – Rs. C-441/07 P (Kommission / Alrosa), Slg. 2010, I-5949 Rn. 227 f. Siehe mit Blick auf das deutsche Privatrecht statt vieler Staudinger / Bork (2015), Vor § 145 BGB Rn. 12 ff.; MünchKommBGB /  Busche (2015), § 145 BGB Rn. 11. Siehe aus der Diskussion zum Unionsprivatrecht etwa Whittaker, ERCL 7 (2011), 371, 374. 118 Siehe im Kontext des fiskalischen Handels der Kommission und der außervertraglichen Haftung der Union EuG Urt. v. 8.5.2007 – Rs. T-271/04 (Citymo / Kommission), Slg. 2007 II-1375 Rn. 100 und 103. 119 Z. B. stellt nach EuGH Urt. v. 28.4.2009 – Rs. C-518/06 (Kommission / Italien), Slg. 2009, I-3491 Rn. 66 „die Auferlegung eines Kontrahierungszwangs […] eine erhebliche Einmischung in die den Wirtschaftsteilnehmern grundsätzlich zustehende Vertragsfreiheit dar“. Siehe auch EuG Urt. v. 18.9.1992 – Rs. T-24/90 (Automec / Kommission), Slg. 1992, II-2223 Rn. 51: „Da die Vertragsfreiheit die Regel bleiben muß, kann der Kommission im Rahmen der Anordnungsbefugnisse, über die sie zur Abstellung von Zuwiderhandlungen gegen Artikel 85 Absatz 1 verfügt, grundsätzlich nicht die Befugnis zuerkannt werden, einer Partei die Begründung vertraglicher Beziehungen aufzugeben“. Siehe zur Einordnung einer Aufnahmeverpflichtung in der privaten Krankenversicherung als „Kontrahierungszwang, [der] die geschäftliche Entscheidungsfreiheit der PK-Träger“ beschränkt EuG Urt. v. 12.2.2008 – Rs. T-289/03 (BUPA), Slg. 2008, II-81 Rn. 190 ff. 120 Siehe zuletzt nur EuGH Urt. v. 7.9.2016 – Rs. C-310/15 (Deroo-Blanquart), EU:C: 2016:633 Rn. 40. So bereits zuvor z. B. EuGH Urt. v. 31.3.2013 – Rs. C-92/11 (RWE), EU: C:2013:180 Rn. 44; EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:282, Rn. 70.

116

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

barung oder die Vergabe eines Auftrags […] zu verzichten“.121 Gleiches gilt auch im unionsrechtlich überformten Urhebervertragsrecht: Hier überlässt die Datenbankenschutzrichtlinie122 nach der Lesart des EuGH den Abschluss eines Vertrags gerade der autonomen Entscheidung des Urhebers.123 Der Gerichtshof hat überdies frühzeitig die Vertragspartnerwahlfreiheit anerkannt und betont, dass es einer Vertragspartei nach dem Unionsrecht freistehe, die Vertragspartner „auszuwählen, mit denen sie kontrahieren will“.124 Mit Blick auf diese Facette der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie hat der Gerichtshof sodann im Kontext der Betriebsübergangsrichtlinie herausgestellt, dass ein Arbeitnehmer „nicht verpflichtet werden kann, für einen Arbeitgeber zu arbeiten, den er nicht frei gewählt hat“, da eine solche Verpflichtung unweigerlich „gegen Grundrechte des Arbeitnehmers“ verstieße.125 Im unionalen Kartellrecht betont die Europäische Kommission in ihrer Mitteilung aus dem Jahr 2009 zu Art. 82 EGV (nun: Art. 102 AEUV) das Recht jedes Unternehmens, „seine Handelspartner frei zu wählen“.126 Die Kontrahentenwahlfreiheit ist dabei nicht auf Spezialmaterien beschränkt, sondern erfasst das gesamte Schuldvertragsrecht: So betonen Erwägungsgrund 14 und Art. 3 Abs. 2 Unisexrichtlinie 2004/113/EG mit Blick auf das allgemeine zivilrechtliche Diskriminierungsverbot beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, dass „der Grundsatz der Vgl. hierzu auch z. B. EuGH Urt. v. 16.9.1999 – Rs. C-27/98 (Metalmeccanica Fracasso), Slg. 1999, I-5697 Rn. 25; EuGH Beschl. v. 16.10.2003 – Rs. C-244/02 (Kauppatalo Hansel Oy), Slg. 2003, I-12139 Rn. 36. Eingehend Bittrich, Vergabeverfahren und Bürgerliches Recht (2013), S. 122. 122 Vgl. insbesondere Erwägungsgrund Nr. 34 Richtlinie 96/9/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. März 1996 über den rechtlichen Schutz von Datenbanken, ABl. 1996 L 77/20. 123 EuGH Urt. v. 15.1.2015 – Rs. C-30/14 (PR Aviation), EU:C:2015:10 Rn. 43. 124 EuGH Urt. v. 28.6.1984 – verb. Rs. 187/83 und 190/83 (Nordbutter), Slg. 1984, 2553 Rn. 15 erkannte einer Molkerei die Freiheit zu, „die Tierhalter auszuwählen, mit denen sie kontrahieren will“. Vgl. auch EuGH Urt. v. 30.3.2000 – Rs. C-265/97 P (VBA u. a./Kommission), Slg. 2000, I-2061 Rn. 134 ff. Gleichsinnig mit Blick auf die aus dem allgemeinen Grundsatz der freien Berufsausübung abgeleitete „freie Wahl des Geschäftspartners“ EuGH Urt. v. 10.7.1991 – verb. Rs. C-90/90 u. a. (Neu), Slg. 1991, I-3617 Rn. 13; EuGH Urt. v. 16.12.1993 – Rs. C-307/91 (Luxlait), Slg. 1993, I-6835 Rn. 14. Ebenso geht EuG Urt. 12.2.2008 – Rs. T-289/03 (BUPA), Slg. 2008, II-81 Rn. 190 ff. davon aus, dass das Wesen einer „völlig frei ausgeübten Tätigkeit“ gerade darin besteht, „den anderen Vertragspartner zurückweisen zu können“. 125 EuGH Urt. v. 16.12.1992 – verb. Rs. C-132/91 u. a. (Katsikas u. a.), Slg. 1992, I6577 Rn. 31 f. Vgl. auch schon EuGH Urt. v. 11.7.1985 – Rs. 105/84 (Mikkelsen), Slg. 1985, 2639 Rn. 16. 126 Vgl. Mitteilung der Kommission, Erläuterungen zu den Prioritäten der Kommission bei der Anwendung von Artikel 82 des EG-Vertrags auf Fälle von Behinderungsmissbrauch durch marktbeherrschende Unternehmen, ABl. 2009 C 45/7 (dort insbesondere Rn. 75 ff.). 121

§ 1 Lückenhafter Schutz und Postulat umfassender Vertragsfreiheit

117

Vertragsfreiheit […] die freie Wahl des Vertragspartners für eine Transaktion einschließt“. Im Finanzdienstleistungsvertragsrecht schützt Art. 180 Solvency II127 wie bereits zuvor Art. 33 der Vierten Lebensversicherungsrichtline128 die freie Wahl des Vertragspartners durch den Versicherungsnehmer.129 In diesem Zusammenhang ist ferner die Entscheidungslinie des EuGH zu Art. 4 Abs. 1 Rechtschutzversicherungsrichtlinie130 zu nennen, wonach das nunmehr in Art. 201 Solvency II verbürgte Recht auf die freie Wahl des Rechtsbeistands auf einem allgemeinen „Grundsatz der Wahlfreiheit“ beruht, der „allgemeine Bedeutung hat und verbindlich ist“.131 Die Kontrahentenwahlfreiheit scheint darüber hinaus im Wirtschaftsvertragsrecht und namentlich z. B. im Vergaberecht auf, wo die unionale Rechtsprechung das Interesse des Auftraggebers anerkennt, nur an den von ihm gewählten Vertragspartner gebunden zu sein: Entsprechend setzt die Erteilung eines Unterauftrags durch den Verpflichteten voraus, dass ihr der „Auftraggeber entweder bei Vertragsschluss oder während der Durchführung des Vertrags zugestimmt hat“.132 2. Inhaltsfreiheit „Nach den Grundprinzipien einer liberalen Wirtschaftsordnung leg[en] die Vertragspartner Leistung und Gegenleistung, um deren Austausch willen der

127 Richtlinie 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit, ABl. 2009 L 335/1. Die betreffende Norm lautet: „Weder der Mitgliedstaat, in dem das Risiko belegen ist, noch der Mitgliedstaat der Verpflichtung darf den Versicherungsnehmer daran hindern, einen Vertrag mit einem gemäß Artikel 14 zugelassenen Versicherungsunternehmen abzuschließen, solange der Vertragsabschluss nicht im Widerspruch zu den Rechtsvorschriften des Allgemeininteresses steht, die in dem Mitgliedstaat, in dem das Risiko belegen ist, oder dem Mitgliedstaat der Verpflichtung gelten“. 128 Richtlinie 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. November 2002 über Lebensversicherungen, ABl. 2002 L 345/1. 129 Siehe dazu nur Engeländer, VersR 2007, 1297, 1310. 130 Richtlinie 87/344/EWG des Rates vom 22. Juni 1987 zur Koordinierung der Rechtsund Verwaltungsvorschriften für die Rechtsschutzversicherung, ABl. 1987 L 185/77. 131 EuGH Urt. v. 26.5.2011 – Rs. C-293/10 (Stark), Slg. 2011, I-4713 Rn. 29; EuGH Urt. v. 7.11.2013 – Rs. C-442/12 (Sneller), EU:C:2013:717 Rn. 25; EuGH Urt. v. 7.4.2016 – Rs. C-460/14 (Massar), EU:C:2016:216 Rn. 18 und 23. Gleichsinnig EuGH Urt. v. 10.9.2009 – Rs. C-199/08 (Eschig), Slg. 2009, I-8295 Rn. 47. 132 GA Bot Schlussanträge v. 27.10.2009 – Rs. C-91/08 (Wall), Slg. 2010, I-2815 Rn. 60. Ebenso EuGH Urt. v. 18.3.2004 – Rs. C-314/01 (Siemens und ARGE Telekom), Slg. 2004, I-2549 Rn. 45 f. Siehe ferner z. B. Grünbuch über unlautere Handelspraktiken in der B2B-Lieferkette für Lebensmittel und Nicht-Lebensmittel in Europa, KOM(2013) 37 endg., S. 6: „Die Vertragsfreiheit ist ein Eckstein […] der Marktwirtschaft; Vertragsparteien sollten Verträge so ausgestalten können, wie es ihren Bedürfnissen am besten entspricht“.

118

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

Vertrag geschlossen wird, autonom fest“.133 Vor diesem Hintergrund identifiziert der Gerichtshof die Inhaltsfreiheit als bedeutende Facette der Vertragsfreiheit und setzt sie in allen Bereichen des Vertragsrechts voraus. Beispielsweise fällt laut EuGH die Einbeziehung einer Individualabrede in einen Mietvertrag stets unter die Vertragsfreiheit der Parteien.134 Gleiches gilt etwa hinsichtlich der Vereinbarung einer Anzahlung im Rahmen eines Beherbergungsvertrages,135 der Wahl der Vertragssprache,136 der Gestaltung der Arbeitsbedingungen nach einem Betriebsübergang,137 der Aufrundung von Preisen nach einer Währungsumrechnung,138 der Ausgestaltung der Prämie und des Versicherungsschutzes in privaten Krankenversicherungsverträgen139 oder den Modalitäten eines Liefervertrages zwischen einer Molkerei und ihren Milchproduzenten.140 Die individuelle inhaltliche Ausgestaltungsfrei133 So mit Blick auf Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie GA Trstenjak Schlussanträge v. 29.10.2009 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 63. 134 EuGH Urt. v. 22.3.2007 – Rs. C-437/04 (Kommission / Belgien), Slg. 2007, I-2513 Rn. 51 führt aus, dass „es unter deren Vertragsfreiheit fällt, eine solche Klausel in den Vertrag aufzunehmen“. 135 EuGH Urt. v. 18.7.2007 – Rs. C-277/05 (Société thermale), Slg. 2007, I-6415 Rn. 21 stellt heraus, dass dies „in den Bereich der Vertragsfreiheit der Parteien fällt“. 136 Vgl. EuGH Urt. v. 16.4.2013 – Rs. C-202/11 (Las), EU:C:2013:239 Rn. 31; EuGH Urt. v. 21.6.2016 – Rs. C-15/15 (New Valmar), EU:C:2016:464 Rn. 39 ff. („Freiheit der Parteien, einen […] Vertrag in der Sprache ihrer Wahl abzufassen“). 137 EuGH Urt. v. 27.4.2017 – Rs. C-680/15 u.a. (Asklepios Kliniken u.a.), EU:C:2017: 317 Rn. 19 ff. Laut EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013: 521 Rn. 32 ff. gebietet die in Art. 16 GRCh grundrechtlich verbürgte Vertragsfreiheit, dass es dem Betriebserwerber möglich ist, „die die Entwicklung der Arbeitsbedingungen seiner Arbeitnehmer bestimmenden Faktoren mit Blick auf seine künftige wirtschaftliche Tätigkeit auszuhandeln“. Vgl. schon EuGH Urt. v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 (Werhof), Slg. 2006, I-2397 Rn. 37. 138 Siehe mit Blick auf Art. 3 Verordnung (EG) Nr. 1103/97 des Rates vom 17. Juni 1997 über bestimmte Vorschriften im Zusammenhang mit der Einführung des Euro, ABl. 1997 L 162/1 (im Folgenden: Euro-Einführungsverordnung), nur GA Poiares Maduro Schlussanträge v. 25.3.2004 – Rs. C-19/03 (O2), Slg. 2004, I-8183 Rn. 31 und 46. 139 Im Kontext privater Krankenversicherungsverträge führt das EuG Urt. v. 12.2.2008 – Rs. T-289/03 (BUPA), Slg. 2008, II-81 Rn. 192 f. mit Blick auf die Prämienfestsetzung und den Umfang des Versicherungsschutzes aus, dass Versicherer grundsätzlich „geschäftliche Entscheidungsfreiheit […] bei der inhaltlichen Ausgestaltung der PK-Verträge“ genießen (Herv. d. Verf.). 140 EuGH Urt. v. 28.6.1984 – verb. Rs. 187/83 und 190/83 (Nordbutter), Slg. 1984, 2553 Rn. 17: „Keine Vorschrift des Gemeinschaftsrechts verbietet nämlich, daß eine Molkerei in den Liefervertrag, den sie mit den einzelnen Tierhaltern schließt, Bestimmungen aufnimmt, nach denen sich der Tierhalter verpflichtet, einem Beauftragten der Molkerei den Zutritt zum Betrieb zu gestatten und alle für den Nachweis einer der Gemeinschaftsregelung und den eingegangenen Verpflichtungen entsprechenden Verwendung der Milch zweckdienlichen Unterlagen und erforderlichen Informationen beizubringen. Auch hindert nichts eine Molkerei, den Abschluß des Vertrags von der Aufnahme von Klauseln abhän-

§ 1 Lückenhafter Schutz und Postulat umfassender Vertragsfreiheit

119

heit legt auch die Pauschalreiserichtlinie zugrunde, da „besondere Vorgaben des Reisenden, die der Reiseveranstalter akzeptiert hat“, Vertragsbestandteil werden.141 Das unionale Urhebervertragsrecht postuliert in Erwägungsgrund Nr. 34 Datenbankenschutzrichtlinie ebenfalls umfassende Inhaltsfreiheit: Die Art und Weise der Nutzung – und mithin der Vertragsinhalt – sollen grundsätzlich autonom „in dem Lizenzvertrag mit dem Rechtsinhaber festgelegt“ werden können.142 Die Inhaltsfreiheit betreffen schließlich auch unionsprivatrechtliche Rechtsakte, wie etwa die Erwägungsgründe Nr. 8 und 9 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie143 sowie Art. 6 und Art. 15 Abs. 5 Handelsvertreterrichtlinie.144 Die Vertragsinhaltsfreiheit umfasst nicht zuletzt die „Freiheit, den Preis für eine Leistung festzulegen“145 und die Zahlungsmodalitäten zu

gig zu machen, die bewirken sollen, daß die Tierhalter selbst die finanziellen Folgen von Verstößen gegen ihre Verpflichtungen zu tragen haben, wie die Stellung von Kautionen und Bankbürgschaften oder auch die Zustimmung zu Abzügen im Wege der Aufrechnung bei der monatlichen Milchgeldabrechnung, wenn die vertragsbrüchigen Tierhalter auch Lieferanten der Molkerei sind“. 141 Laut Anhang lit. j Pauschalreiserichtlinie a. F. werden alle „Sonderwünsche, die der Verbraucher dem Veranstalter oder dem Vermittler bei der Buchung mitgeteilt hat und die beide Parteien akzeptiert haben“, Bestandteil des Vertrags. Entsprechend hebt EuGH Urt. v. 30.4.2002 – Rs. C-400/00 (Club-Tour), Slg. 2002, I-4051 Rn. 15 mit Blick auf diese Regelung hervor, dass zu „einem durch die Richtlinie erfassten Vertrag alle Sonderwünsche [gehören], die der Verbraucher dem Veranstalter oder dem Vermittler bei der Buchung mitgeteilt hat und die beide Parteien akzeptiert haben“. 142 So nun auch deutlich EuGH Urt. v. 15.1.2015 – Rs. C-30/14 (PR Aviation), EU:C: 2015:10 Rn. 43: „Entscheidet sich der Hersteller einer durch die Richtlinie 96/9 geschützten Datenbank, die Benutzung seiner Datenbank oder einer Kopie davon zu gestatten, steht es ihm daher – wie auch der 34. Erwägungsgrund dieser Richtlinie bestätigt – frei, diese Benutzung durch eine mit dem rechtmäßigen Benutzer geschlossene Vereinbarung zu regeln, in der […] die ‚Zwecke und … Art und Weise‘ der Benutzung dieser Datenbank oder ihrer Kopie festgelegt werden“ (Herv. d. Verf.). 143 Erwägungsgrund Nr. 9 der Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Mai 1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 L 171/12, lautet: „Diese Richtlinie berührt nicht den Grundsatz der Vertragsfreiheit in den Beziehungen zwischen dem Verkäufer, dem Hersteller, einem früheren Verkäufer oder einer anderen Zwischenperson“. Der auf die widerlegbare Vermutung der Vertragsmäßigkeit bezogene Erwägungsgrund Nr. 8 lautet: „Diese Vermutung stellt keine Einschränkung des Grundsatzes der Vertragsfreiheit dar“. 144 Z. B. Art. 6 und Art. 15 Abs. 5 Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter, ABl. 1986 L 382/17. Dazu Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), 85, 91. 145 EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C:2013:28 Rn. 43. In diesem Sinne schon zuvor z. B. EuGH Urt. v. 22.3.2007 – Rs. C-437/04 (Kommission/ Belgien), Slg. 2007, I-2513 Rn. 51.

120

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

bestimmen.146 Dieser Aspekt der Vertragsinhaltsfreiheit wird beispielsweise in Art. 15 Tabaksteuerrichtlinie,147 in Art. 21 Abs. 1 Luftverkehrsdiensteverordnung148 und nach der Lesart des EuGH zudem im unionalen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsdienste verbürgt.149 Eine besondere Spielart der Inhaltsfreiheit ist schließlich die sekundärrechtlich verbürgte Tariffreiheit im Versicherungsrecht.150 Generalanwältin Stix-Hackl hat die Tariffreiheit im Versicherungsvertragsrecht als Facette der Vertragsfreiheit identifiziert,151 und der EuGH spricht in diesem Zusammen146 EuGH Urt. v. 19.4.2012 – Rs. C-213/10 (F-Tex), EU:C:2012:215 Rn. 45. Siehe zur Vertragsinhaltsfreiheit statt vieler Grabenwarter, in: ders. (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 13 Rn. 31; Jarass (2016), Art. 16 GRCh Rn. 9. 147 Richtlinie 2011/64/EU des Rates vom 21. Juni 2011 über die Struktur und die Sätze der Verbrauchsteuern auf Tabakwaren, ABl. 2011 L 176/24. Siehe aus der ständigen Rechtsprechung nur EuGH Urt. v. 19.10.2000 – Rs. C-216/98 (Kommission /  Griechenland), Slg. 2000, I-8921 Rn. 21; EuGH Urt. v. 27.2.2002 – Rs. C-302/00 (Kommission / Frankreich), Slg. 2002, I-2055 Rn. 15. 148 Art. 22 Abs. 1 („Preisfreiheit“) der Verordnung (EG) Nr. 1008/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. September 2008 über gemeinsame Vorschriften für die Durchführung von Luftverkehrsdiensten in der Gemeinschaft (Neufassung), ABl. 2008 L 293/3, lautet: „Die Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft und – auf der Grundlage der Reziprozität – die Luftfahrtunternehmen von Drittländern legen ihre Flugpreise und Frachtraten für innergemeinschaftliche Flugdienste unbeschadet des Artikels 16 Absatz 1 frei fest“. Der EuGH Urt. v. 18.9.2014 – Rs. C-487/12 (Vueling Airlines), EU:C:2014:2232 Rn. 28, 43 und 48 f. betont, dass diese Freiheit gerade auch die Gestaltung der Beförderungsvertragsbedingungen umfasst: Namentlich könnten die Luftfahrtunternehmen zusätzlich zum Entgelt für den Flugschein weitere Kosten für das aufgegebene Gepäck der Fluggäste in Rechnung stellen. Zwingendes mitgliedstaatliches Recht, das die Erhebung von Zusatzentgelten für die Beförderung von aufgegebenem Gepäck untersagt, sei mit dem Unionsrecht unvereinbar, weil hierdurch „die freie Preisfestsetzung für die Beförderung von Fluggästen“ verhindert werde. 149 EuGH Urt. v. 7.11.2013 – Rs. C-518/11 (UPC Nederland), EU:C:2013:709 Rn. 62 f. hebt unter anderem mit Blick auf die Richtlinie 2002/21/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. März 2002 über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste, ABl. 2002 L 108/33, hervor, dass deren Regelungen gerade „die Freiheit der Preisbestimmung“ bzw. die „Preisgestaltungsfreiheit“ des Anbieters elektronischer Kommunikationsdienste unterstreichen. 150 Siehe zuletzt nur EuGH Urt. v. 7.3.2013 – Rs. C-577/11 (DKV Belgium), EU:C: 2013:146 Rn. 20, der diese Freiheit unter anderem aus Art. 29, Art. 39 Abs. 2 und Abs. 3 der Dritten sowie aus Art. 8 Abs. 3 der Ersten Schadensversicherungsrichtlinie herleitet, wonach die Mitgliedstaaten kein System der vorherigen Genehmigung oder der systematischen Übermittlung von Versicherungstarifen einführen dürfen. Siehe nunmehr Art. 182 zur Lebens- und Art. 182 Solvency II zur Nichtlebensversicherung sowie allgemein Art. 21 sowie Art. 154 Solvency II. 151 Vgl. GA Stix-Hackl Schlussanträge v. 30.3.2004 – Rs. C-346/02 u. a. (Kommission /  Luxemburg u. a.), Slg. 2004, I-7517 Rn. 55: „Zugleich zeigt sich, dass im Versicherungsbereich die Tariffreiheit in engem Zusammenhang zur Vertragsfreiheit steht“ (Herv. d. Verf.). Die „geschäftliche Entscheidungsfreiheit“ bei der Tarifgestaltung betont EuG Urt.

§ 1 Lückenhafter Schutz und Postulat umfassender Vertragsfreiheit

121

hang nun ausdrücklich von einem übergreifenden „Grundsatz“.152 Allgemein gilt somit für „die in einem Vertrag vereinbarten Bedingungen […] das Prinzip der Privatautonomie“.153 3. Typenfreiheit Eine bedeutende und daher gesondert zu untersuchende Facette der Vertragsinhaltsfreiheit ist die Vertragstypenfreiheit. Diese besagt, dass die Vertragsparteien zum einen die gesetzlich vorgesehenen Vertragstypen nach ihrem Willen frei modifizieren und auch kombinieren können.154 Zum anderen steht es den Vertragspartnern frei, über den gesetzlich vorgesehenen Katalog an Vertragstypen hinaus eigene, neue Kategorien von Verträgen entsprechend ihren individuellen Bedürfnissen zu schaffen.155 Die Typenfreiheit schafft damit die Voraussetzungen für die vertragliche Regelung neuer, innovativer Transaktionen und ist damit in einer offenen, auf Fortschritt ausgerichteten Marktwirtschaft unverzichtbar. Angesichts ihrer zentralen Bedeutung nimmt es kaum Wunder, dass der EuGH diese Facette der Vertragsfreiheit in seiner ständigen Rechtsprechung betont: So ist zum einen die Typenmischung im Unionsprivatrecht grundsätzlich umfassend gewährleistet.156 Zum anderen 12.2.2008 – Rs. T-289/03 (BUPA), Slg. 2008, II-81 Rn. 192. Vgl. auch schon EuGH Urt. v. 25.2.2003 – Rs. C-59/01 (Kommission / Italien), Slg. 2003, I-1759 Rn. 29 ff. 152 Siehe zu diesem Grundsatz („principe de la liberté tarifaire“; „principle of freedom to set rates“) nur EuGH Urt. v. 7.9.2004 – Rs. C-347/02 (Kommission / Frankreich), Slg. 2004, I-7557 Rn. 22 ff.; EuGH Urt. v. 7.9.2004 – Rs. C-346/02 (Kommission / Luxemburg), Slg. 2004, I-7517 Rn. 21 ff.; EuGH Urt. v. 28.4.2009 – Rs. C-518/06 (Kommission /  Italien), Slg. 2009, I-3491 Rn. 101 und 103; EuGH Urt. v. 7.3.2013 – Rs. C-577/11 (DKV Belgium), EU:C:2013:146 Rn. 21 ff. 153 GA Sharpston Schlussanträge v. 12.5.2016 – Rs. C-555/14 (IOS Finance), Rn. 43 unter Berufung auf EuGH Urt. v. 20.5.2010 – Rs. C-434/08 (Harms), Slg. 2010 I-4431 Rn. 36. 154 Diese Facette der Vertragsfreiheit wird z. B. im italienischen Recht in Art. 1323 sowie vor allem in Art. 1322 Abs. 2 Codice civile ausdrücklich genannt: „Le parti possono anche concludere contratti che non appartengano ai tipi aventi una disciplina particolare, purché siano diretti a realizzare interessi meritevoli di tutela secondo l’ordinamento giuridico“. Siehe zur Vertragstypenfreiheit statt vieler H.P. Westermann, Vertragsfreiheit und Typengesetzlichkeit im Recht der Personengesellschaften (1970), S. 97; Stoffels, Gesetzlich nicht geregelte Schuldverträge (2001), S. 32. 155 Vgl. z. B. H.P. Westermann, Vertragsfreiheit und Typengesetzlichkeit im Recht der Personengesellschaften (1970), S. 42; Stoffels, Gesetzlich nicht geregelte Schuldverträge (2001), S. 31 ff. und 101. 156 Siehe mit Blick auf Art. 16 Nr. 1 EuGVÜ nur EuGH Urt. v. 26.2.1992 – Rs. C280/90 (Hacker), Slg. 1992, I-1111 Rn. 14; EuGH Urt. v. 27.1.2000 – Rs. C-8/98 (Dansommer), Slg. 2000, I-393 Rn. 30 f.; EuGH Urt. v. 13.10.2005 – Rs. C-73/04 (Klein), Slg. 2005, I-8681 Rn. 27 f. Siehe im Kontext des unionalen Vergaberechts nur EuGH Urt. v. 19.4.1994 – Rs. C-331/92 (Gestión Hotelera Internacional), Slg. 1994, I-1329 Rn. 26 ff.; EuGH Urt. v. 18.1.2007 – Rs. C-220/05 (Auroux u. a.), Slg. 2007, I-385 Rn. 37;

122

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

erkennt das Unionsrecht laut Generalanwalt Colomer auch die Freiheit der Parteien an, neue, zuvor unbekannte Vertragskategorien privatautonom zu schaffen.157 4. Änderungsfreiheit Auf „dem Grundsatz der Vertragsfreiheit beruht“ laut EuGH zudem „das Recht der Parteien, von ihnen geschlossene Verträge zu ändern“.158 Im Unionsprivatrecht scheint diese Vertragsänderungsfreiheit etwa in Art. 8 Abs. 2 Verbraucherkreditrichtlinie auf: Demnach können „die Parteien übereinkommen, den Gesamtkreditbetrag nach Abschluss des Kreditvertrages zu ändern“. Die Änderungsfreiheit setzten ferner z. B. Art. 28 Abs. 4 WohnimmobilienkEuGH Urt. v. 21.2.2007 – Rs. C-412/04 (Kommission / Italien), Slg. 2007, I-619 Rn. 47 f.; EuGH Urt. v. 29.10.2009 – Rs. C-536/07 (Kommission / Deutschland), Slg. 2009, I-10355 Rn. 28, 57 und 61; EuGH Urt. v. 6.5.2010 – verb. Rs. C-145/08 u. a. (Club Hotel Loutraki u. a.), Slg. 2010, I-4165 Rn. 46 ff.; EuGH Urt. v. 22.12.2010 – Rs. C-215/09 (Mehiläinen und Terveystalo Healthcare), Slg. 2010, I-13749 Rn. 36. Vgl. schließlich im Kontext des unionalen Mehrwertsteuerrechts nur EuGH Urt. v. 27.9.2012 – Rs. C-392/11 (Field Fisher Waterhouse), EU:C:2012:597 Rn. 13 ff.; EuGH Urt. v. 16.4.2015 – Rs. C-42/14 (Minister Finansów), EU:C:2015:229 Rn. 29 ff.: Hier grenzt der Gerichtshof jeweils im Rahmen eines einheitlichen Vertrags mehrere zusammengesetzte Hauptleistungen gegenüber reinen Nebenleistungen ab. 157 Laut GA Colomer Schlussanträge v. 8.11.2006 – Rs. C-412/04 (Kommission/ Italien), Slg. 2007, I-619 Rn. 29 f. ermöglicht die Vertragsfreiheit „das Erscheinen neuer Vertragstypen, die Bestandteile verschiedener Typen miteinander verbinden, um die von den Vertragsschließenden verfolgten Ziele besser zu verwirklichen. Es gibt unzählige Kombinationsmöglichkeiten in Bezug auf den Vertragsinhalt, denn es besteht die Möglichkeit, dass ein einziges Rechtsgeschäft mehrere umfasst, dass eine Mehrzahl von Vertragsgegenständen existiert und dass dabei jede Partei unterschiedliche Leistungen erbringt“ (Herv. d. Verf.). 158 EuGH Urt. v. 5.10.1999 – Rs. C-240/97 (Spanien / Kommission), Slg. 1999, I-6571 Rn. 99. In diesem Sinne hat schon GA Jacobs Schlussanträge v. 1.7.1992 – Rs. 142/91 (Cebag / Kommission), Slg. 1993 I-553 Rn. 9 betont, bei „einer vertraglichen Beziehung […] stünde es den Partnern […] frei, den Vertragsinhalt zu ändern“. Auch nach Auffassung von GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 19.2.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:82 Rn. 36 sind die Parteien eines Vertrags im Anwendungsbereich der europäischen Betriebsübergangsrichtlinie grundsätzlich „durch nichts daran gehindert, die Vertragsklausel[n] […] neu auszuhandeln“. Die Vertragsänderungsfreiheit wird überdies implizit vorausgesetzt, wenn der EuGH Urt. v. 18.11.2004 – Rs. C-284/03 (Temco), Slg. 2004, I-11237 Rn. 22 im Kontext der Mehrwertsteuerrichtlinie hervorhebt: „Die Mietdauer kann aber während der Durchführung des Vertrags einvernehmlich durch die Parteien verkürzt oder verlängert werden“. Siehe zur unionsrechtlichen Gewährleistung der Vertragsänderungsfreiheit nur Frenz, Handbuch Europarecht IV: Europäische Grundrechte (2009), Rn. 2700; Meyer / Bernsdorff (2014), Art. 16 GRCh Rn. 12; Grabenwarter, in: ders. (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 13 Rn. 31; Jarass (2016), Art. 16 GRCh Rn. 9.

§ 1 Lückenhafter Schutz und Postulat umfassender Vertragsfreiheit

123

reditvertragsrichtlinie,159 Art. 13 Handelsvertreterrichtlinie,160 Art. 3 EuroEinführungsverordnung,161 Art. 20 Abs. 2 Universaldienstrichtlinie,162 Art. 11 Teil C Abs. 1 Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie163 sowie Art. 10 und Art. 11 Pauschalreiserichtlinie voraus.164 Ebenso verhält es sich mit Art. 42 Nr. 6 lit. a i.V.m. Art. 44 Abs. 1 Zahlungsdiensterichtlinie,165 der es den Parteien gestattet, dem Schweigen auf ein Angebot zur Vertragsänderung Erklärungsgehalt beizumessen. Zudem wird die Vertragsänderungsfreiheit beispielsweise in Art. 6 Abs. 5 Verbraucherrechterichtlinie ebenso wie auch in Art. 5 Abs. 2 Time-Sharing-Richtlinie166 postuliert, da ausweislich dieser Vorschriften bestimmte sekundärrechtlich vorgegebene Vertragsbestandteile auch nachträglich geändert werden dürfen, wenn „die Vertragsparteien […] aus-

Gemäß dieser Vorschrift steht es den Parteien eines Kreditvertrags auch nach Vertragsschluss frei, „sich ausdrücklich darauf zu einigen, dass die Rückgabe oder Übertragung der Sicherheit oder des Erlöses aus der Verwertung der Sicherheit als für die Tilgung des Kredits ausreichend angesehen wird“. 160 Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter, ABl. 1986 L 382/17. 161 Artikel 3 Euro-Einführungsverordnung lautet: „Die Einführung des Euro […] gibt […] [k]einer Partei das Recht, ein Rechtsinstrument einseitig zu ändern oder zu beenden. Diese Bestimmung gilt vorbehaltlich etwaiger Vereinbarungen der Parteien“. 162 Namentlich geht diese Bestimmung der Richtlinie 2002/22/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über den Universaldienst und Nutzerrechte bei elektronischen Kommunikationsnetzen und -diensten (Universaldienstrichtlinie), ABl. 2002 L 108/51, davon aus, dass Anbieter von Universaldiensten „Änderungen der Vertragsbedingungen“ vorschlagen und ihre Vertragspartner „die neuen Bedingungen […] annehmen“ können. 163 Hier setzt der EuGH namentlich voraus, „dass eine solche nachträgliche Änderung der vertraglichen Beziehungen“ möglich und von der betreffenden Vorschrift der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage, ABl. 1977 L 145/1, erfasst sein muss, vgl. EuGH Urt. v. 29.5.2001 – Rs. C-86/99 (Freemans), Slg. 2001 I-4167 Rn. 32 f. 164 Z. B. sieht Art. 11 Abs. 2 Pauschalreiserichtlinie vor, dass ein Reisender bei Änderungen „der wesentlichen Eigenschaften der Reiseleistungen“ der vom Reiseveranstalter „vorgeschlagenen Änderung zustimmen“ und so den Inhalt des Pauschalreisevertrags modifizieren kann. 165 Richtlinie 2007/64/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2007 über Zahlungsdienste im Binnenmarkt, zur Änderung der Richtlinien 97/7/EG, 2002/65/EG, 2005/60/EG und 2006/48/EG sowie zur Aufhebung der Richtlinie 97/5/EG, ABl. 2007 L/1. 166 Richtlinie 2008/122/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Januar 2009 über den Schutz der Verbraucher im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Teilzeitnutzungsverträgen, Verträgen über langfristige Urlaubsprodukte sowie Wiederverkaufsund Tauschverträgen, ABl. 2008 L 33/10. 159

124

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

drücklich etwas anderes“ vereinbaren.167 Soweit man die Parteiautonomie als Facette der unionalen Vertragsfreiheit begreift,168 lässt sich auch Art. 3 Abs. 2 Rom I als Verbürgung der Änderungsfreiheit verstehen, da diese Norm „jederzeit“ eine abweichende Rechtswahl gestattet.169 5. Aufhebungsfreiheit Die Freiheit der Parteien, den Vertrag aufzuheben, bildet eine weitere Facette der Vertragsfreiheit.170 Im Kontext der Betriebsübergangsrichtlinie hat der EuGH hervorgehoben, dass dieser Sekundärrechtsakt den Arbeitnehmer keineswegs zur Fortsetzung des Arbeitsvertrages verpflichtet, sondern die Vertragsaufhebungsfreiheit wahrt: „Dieser von der Richtlinie beabsichtigte Schutz ist jedoch gegenstandslos, wenn der […] Arbeitsvertrag […] aufgrund einer aus freien Stücken zwischen dem Arbeitnehmer und dem Veräußerer bzw. dem Erwerber des Unternehmens getroffenen Vereinbarung beendet wird“.171

Aber auch in anderen Materien des Unionsrechts ist anerkannt, dass „die Aufhebung eines Vertrags von der übereinstimmenden Willenserklärung beider Parteien abhängt“ und mithin grundsätzlich Vertragsaufhebungsfreiheit gewährleistet ist.172

167 Dies betrifft namentlich die Infomationen nach Art. 6 Abs. 1 Verbraucherrechtebzw. Art. 4 Abs. 1 Teilzeitnutzungsrechterichtlinie, die grundsätzlich fester Bestandteil des Vertrags sind. 168 Dazu sogleich ausführlich unten 7. 169 In diesem Sinne auch Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85, 98. 170 EuGH Urt. v. 11.7.1985 – Rs. 105/84 (Mikkelsen), Slg. 1985, 2639 Rn. 16; EuGH Urt. v. 16.12.1992 – verb. Rs. C-132/91 u. a. (Katsikas u. a.), Slg. 1992, I-6577 Rn. 30 ff. Vgl. zu einem Aufhebungsvertrag zudem nur EuGH Urt. v. 11.11.2015 – Rs. C-422/14 (Pujante Rivera), EU:C:2015:743 Rn. 15 und 50. 171 EuGH Urt. v. 11.7.1985 – Rs. 105/84 (Mikkelsen), Slg. 1985, 2639 Rn. 16. Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei, dass der Gerichtshof die Vertragsaufhebungsfreiheit des Arbeitnehmers gerade unionsgrundrechtlich verbürgt sieht: Eine Lesart der Betriebsübergangsrichtlinie, wonach der Arbeitnehmer trotz einer einvernehmlichen Vertragsaufhebung oder einer Kündigung für den Betriebserwerber weiterarbeiten müsste, „verstieße gegen Grundrechte des Arbeitnehmers“ (Herv. d. Verf.), EuGH Urt. v. 16.12.1992 – verb. Rs. C-132/91 u. a. (Katsikas u. a.), Slg. 1992, I-6577 Rn. 31 f. 172 Vgl. nur GA Slynn Schlussanträge v. 16.10.1984 – Rs. 35/83 (BAT/Kommission), Slg. 1984, 363, 367. Siehe mit Blick auf die Beendigung von Arbeitsverträgen nun auch EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 69: „Es lässt sich daher nicht bestreiten, dass die Schaffung einer Rahmenregelung für Massenentlassungen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende eine Beschränkung der Ausübung der unternehmerischen Freiheit und insbesondere der Vertragsfreiheit darstellt, über die die Unternehmen grundsätzlich, insbesondere gegenüber den von ihnen beschäftigten Arbeitnehmern, verfügen“ (Herv. d. Verf.).

§ 1 Lückenhafter Schutz und Postulat umfassender Vertragsfreiheit

125

6. Formfreiheit Die Formfreiheit ist eine weitere wichtige Facette der Vertragsfreiheit: Sie besagt, dass die Wirksamkeit der von den Parteien getroffenen Vereinbarung in der Regel nicht von der Einhaltung eines bestimmten Formerfordernisses abhängen soll.173 Besondere Bedeutung hat dieser Grundsatz in dem auf Einfachheit und Schnelligkeit angewiesenen kaufmännischen Verkehr, weshalb die Formfreiheit nicht zuletzt in internationalen Übereinkommen, etwa in Art. 11 CISG,174 verbürgt ist.175 Auch der EuGH betont im Kontext des unionalen Wirtschaftsvertragsrechts ausdrücklich „die Erfordernisse des internationalen Handelsverkehrs in Bezug auf Formfreiheit“.176 Mit Blick auf die Handelsvertreterrichtlinie hat der Gerichtshof wiederholt auf diesen Aspekt der Vertragsfreiheit Bezug genommen: Namentlich baue die Richtlinie auf dem „Grundsatz der Formfreiheit des Vertrags“ auf, so dass sekundärrechtlich nicht vorgesehene „Ausnahmen vom Grundsatz der Formfreiheit gegen die Richtlinie verstoßen“ würden.177 Dieser Grundsatz hat zudem in Art. 3 Abs. 1 Finanzsicherheitenrichtlinie178 Niederschlag gefunden. Ebenso wie die Handelsvertreterrichtlinie begrenzt dieser Sekundärrechtsakt den Spielraum der Mitgliedstaaten, die Wirksamkeit vertraglicher Abreden einer bestimmten Form zu unterwerfen.179 Die Formfreiheit scheint zudem im Verbrauchervertragsrecht insoweit auf, als bestimmte Erklärungen im Rahmen des Vertragsverhältnisses grundsätz-

173 Dazu z. B. Riesenhuber, System und Prinzipien des europäischen Vertragsrechts (2003), S. 559, 323 ff. 174 United Nations Convention on Contracts for the International Sale of Goods v. 11.4.1980, 1489 UNTS, 3. 175 Siehe zur Formfreiheit im Besonderen und zur Vertragsfreiheit im Allgemeinen nur Staudinger / Magnus (2013), Art. 11 CISG Rn. 1 ff. 176 Siehe mit Blick auf die Erleichterungen der Formerfordernisse für Gerichtsstandsvereinbarungen in Art. 17 EuGVÜ (nun Art. 25 Brüssel Ia) nur EuGH Urt. v. 20.2.1997 – Rs. C-106/95 (MSG), Slg. 1997, I-911 Rn. 18. 177 EuGH Urt. v. 30.4.1998 – Rs. C-215/97 (Bellone), Slg. 1998, I-2191 Rn. 14 f.: „Bezüglich der Form des Handelsvertretervertrages gestattet Artikel 13 Absatz 2 der Richtlinie in Kapitel IV mit der Überschrift ‚Abschluß und Beendigung des Handelsvertretervertrages‘ den Mitgliedstaaten, ‚vorzuschreiben, daß ein Vertretungsvertrag nur in schriftlicher Form gültig ist‘. Die Richtlinie geht somit von dem Grundsatz der Formfreiheit des Vertrags aus […]. Wenn Artikel 13 Absatz 2 der Richtlinie den Mitgliedstaaten also nur die Möglichkeit beläßt, die Schriftform vorzuschreiben, folgt daraus, daß andere Ausnahmen vom Grundsatz der Formfreiheit gegen die Richtlinie verstoßen“ (Herv. d. Verf.). Siehe auch EuGH Urt. v. 6.3.2003 – Rs. C-485/01 (Caprini), Slg. 2003, I-2371 Rn. 5 und 16 ff. 178 Richtlinie 2002/47/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juni 2002 über Finanzsicherheiten, ABl. 2002 L 168/43. 179 Vgl. aber z. B. auch Art. 3 Abs. 1 S. 2 und Abs. 3 Finanzsicherheitenrichtlinie.

126

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

lich formfrei wirksam sein sollen.180 Im Finanzdienstleistungsvertragsrecht wird die Form rechtsgeschäftlicher Erklärungen teilweise ausdrücklich zur Disposition der Parteien gestellt: So soll beispielsweise die Zustimmung zu Zahlungsvorgängen gemäß Art. 54 Zahlungsdiensterichtlinie nur „der zwischen dem Zahler und seinem Zahlungsdienstleister vereinbarten Form“ unterliegen.181 Ebenso wie im Rahmen des Art. 11 CISG ist also auch im Kontext des Art. 54 Zahlungsdiensterichtlinie die Möglichkeit, eine bestimmte Form zu vereinbaren, gerade Ausdruck der grundsätzlichen Form- und damit Vertragsfreiheit.182 7. Parteiautonomie Weil die Parteiautonomie die Wahl zwischen staatlichen Rechtsordnungen und Gerichtsbarkeiten eröffnet, wird diese Freiheit zuweilen als vorstaatliche und somit apriorische Freiheit verstanden.183 Die vorliegende Arbeit untersucht indes allein die Gewährleistung der Vertragsfreiheit und all ihrer Facetten im geltenden Unionsrecht und erfasst diese Freiheit mithin als juristischnormative Kategorie.184 Denn ungeachtet des theoretischen Fundaments der Parteiautonomie muss sich die Wahl eines bestimmten Rechts oder Gerichts stets in dem durch das Unionsrecht gesteckten Rahmen bewegen, um von der EU-Rechtsordnung als wirksam anerkannt zu werden.185 Ihrem Erkenntnisin180 Vgl. zum Grundsatz der Formfreiheit der Geltendmachung des Rücktrittsrechts im Rahmen der nur EuGH Urt. v. 22.4.1999 – Rs. C-423/97 (Travel Vac), Slg. 1999 I-2195 Rn. 45 ff. 181 Nach Art. 54 Zahlungsdiensterichtlinie wird das Verfahren – einschließlich etwaiger Formerfordernisse – „für die Erteilung der Zustimmung […] zwischen dem Zahler und dem Zahlungsdienstleister vereinbart“. 182 Siehe im Kontext von Art. 6 sowie Art. 11 CISG nur Staudinger / Magnus (2013), Art. 11 CISG Rn. 18 f. 183 In diesem Sinne z. B. Jayme, Rapport définitif, in: Institut de droit international, Annuaire 64 I (1991), S. 62, 65 ff.; Rühl, Statut und Effizienz (2011), S. 343 ff.; Basedow, RabelsZ 75 (2011), 32, 38 ff. sowie 54 ff. („Aprioristische […] Bedeutung der Parteiautonomie“; „Rechtswahlfreiheit als vorstaatliches Recht“); ders., The Law of Open Societies (2015), S. 146 ff. („Pre-Governmental Right“). Zurückhaltender mit Blick auf das internationale Unionsprivatrecht Mansel, in: Leible / Unberath (Hrsg.), Brauchen wir eine Rom 0Verordnung?, S. 241, 262 ff. 184 Siehe erneut oben Einleitung B I. 185 Beispielsweise unterstellen Art. 3 Abs. 5, Art. 10 Rom I das Zustandekommen und die materielle Wirksamkeit der Rechtswahlvereinbarung dem von den Parteien gewählten Recht. Diese Lösung stellt zwar dem Parteiwillen in den Mittelpunkt, unterwirft die Rechtswahl aber fraglos den kollisionsrechtlichen Regelungen des Unionsrechts, siehe nur Basedow, The Law of Open Societies (2015), S. 135 f. Soweit die Parteiautonomie ein unionsgrundrechtliches Fundament hat, müssen die Normen des internationalen Unionsprivatrechts freilich ihrerseits am Maßstab dieser international-privatrechtlichen Facette der Vertragsfreiheit gemessen werden, Lüttringhaus, IPRax 2014, 146, 149. Vgl. auch

§ 1 Lückenhafter Schutz und Postulat umfassender Vertragsfreiheit

127

teresse entsprechend nimmt diese Abhandlung vorrangig das internationale Unionsprivatrecht der Schuldverhältnisse in den Blick.186 Hier ist zunächst zu hinterfragen, ob die Parteiautonomie im geltenden Unionsrecht als international-privatrechtliche Entsprechung der sachrechtlichen Vertragsfreiheit konzipiert ist. Dafür streitet bereits, dass Ausdruck und Endpunkt der Parteiautonomie ebenfalls die Handlungsform des Vertrags ist. Sowohl bei der Gerichtstands- als auch bei der Rechtswahlvereinbarung handelt es sich um einen Vertrag im unionsrechtlich-autonomen Sinne.187 Vor allem interpretiert der EuGH die Parteiautonomie ausdrücklich als international-privatrechtliches Pendant der Vertragsfreiheit: Namentlich dient Art. 25 Abs. 1 Brüssel Ia „der Wahrung der Privatautonomie“,188 verstanden als die „Privatautonomie im Hinblick auf die Bestimmung des zuständigen Gerichts“.189 Diese Lesart des EuGH hat der europäische Gesetzgeber in den Erwägungsgründen Nr. 15 und 19 Brüssel Ia aufgegriffen, welche explizit „die Vertragsfreiheit der Parteien hinsichtlich der Wahl des Gerichtsstands“ betonen.190 Entsprechend postuliert Basedow, The Law of Open Societies (2015), S. 148 f. Vgl. zur grundrechtlichen Dimension der Parteiautonomie auch Leible, FS Jayme I (2004), S. 485, 488; Rühl, Statut und Effizienz (2011), S. 343 ff. 186 Keine Berücksichtigung findet damit etwa die – begrenzte – Parteiautonomie nach Art. 22 sowie Art. 5 EuErbVO. Diese Fragen sind Gegenstand der umfassenden Untersuchung von Kroll-Ludwigs, Die Rolle der Parteiautonomie im europäischen Kollisionsrecht (2013). 187 Siehe dazu erneut oben Kapitel 1 § 3 B I 1 a. Art. 25 Abs. 5 Brüssel Ia bestimmt explizit, dass eine „Gerichtsstandsvereinbarung, die Teil eines Vertrags ist, […] als eine von den übrigen Vertragsbestimmungen unabhängige Vereinbarung“ zu behandeln ist. Auch kann diese Vereinbarung als Rahmenvereinbarung gerade losgelöst von einem konkreten sachrechtlichen Einzelvertrag geschlossen werden, vgl. nur EuGH Urt. v. 10.3.1992 – Rs. C-214/89 (Powell Duffryn), Slg. 1992, I-1745 Rn. 30 ff.; EuGH Urt. v. 7.3.2013 – Rs. C-543/10 (Refcomp), EU:C:2013:62 Rn. 29 ff. Bei der Rechtswahlvereinbarung gemäß Art. 14 Abs. 1 Rom II und Art. 3 Rom I handelt es sich um einen vom Hauptvertrag entkoppelten Verweisungsvertrag, was sich auch darin zeigt, dass Art. 3 Abs. 5 Rom I diesen Vertrag als eigenständiges Rechtsgeschäft behandelt. Dazu statt aller Staudinger / Magnus (2016), Art. 3 Rom I Rn. 166. 188 Siehe zur Ableitung der Parteiautonomie aus der Privatautonomie mit Blick auf Art. 17 Abs. 1 EuGVÜ bereits EuGH Urt. v. 9.11.1978 – Rs. 23/78 (Meeth), Slg. 1978, 2133 Rn. 8 und 5. Vgl. auch EuGH Urt. v. 24.6.1986 – Rs. 22/85 (Anterist), Slg. 1986, 1951 Rn. 14; EuGH Urt. v. 9.11.2000 – Rs. C-387/98 (Coreck Maritime), Slg. 2000, I9337 Rn. 14; EuGH Urt. v. 12.5.2005 – Rs. C-112/03 (Société financière), Slg. 2005, I3707 Rn. 33; EuGH Urt. v. 7.2.2013 – Rs. C-543/10 (Refcomp), EU:C:2013:62 Rn. 27 f.; EuGH Urt. v. 21.5.2015 – Rs. C-322/14 (El Majdoub), EU:C:2015:334 Rn. 26. 189 GA Capotorti Schlussanträge v. 24.10.1979 – Rs. 25/79 (Sanicentral), Slg. 1979, 3431, 3433. 190 Wortlautgleich wurde die Vertragsfreiheit bereits im Vorgängerrechtsakt als Grundlage der Gerichtsstandwahl identifiziert, siehe Erwägungsgründe Nr. 11 und 14 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zustän-

128

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

beispielsweise Generalanwalt Jääskinen im Kontext des Art. 25 Brüssel Ia den umfassenden „Vorrang der Vertragsfreiheit der Parteien“191 und der EuGH selbst geht ebenfalls von einem „Grundsatz der Anerkennung der Parteiautonomie bei Gerichtsstandsvereinbarungen“ aus.192 In seiner jüngeren Entscheidungspraxis verwendet der EuGH in diesem Zusammenhang nun überdies den synonymen Begriff der „Vertragsautonomie“.193 Im europäischen Kollisionsrecht der Schuldverhältnisse normieren unter anderem Art. 3 Rom I und Art. 14 Rom II die Rechtswahlfreiheit der Parteien.194 Generalanwältin Kokott sieht in der Rechtswahlmöglichkeit zutreffend nur eine besondere Ausdrucksform des „privatautonomen Zugriff[s]“.195 Entsprechend führt der EuGH die kollisionsrechtliche Parteiautonomie in seiner Unamar-Entscheidung wiederum auf den „Grundsatz der Vertragsautonomie“ bzw. auf das „principle of the freedom of contract of the parties to a contract“ zurück.196 Damit stellt der Gerichtshof nicht nur den Bezug zur Vertragsfreiheit her, sondern schlägt zugleich den Bogen zu Art. 25 Brüssel Ia und verdigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. 2000 L 12/1. 191 Vgl. GA Jääskinen Schlussanträge v. 11.12.2014 – Rs. C-353/13 (CDC), EU:C: 2014:2443 Rn. 106 f. 192 EuGH Beschl. v. 6.11.2014 – Rs. C-366/14 (Herrenknecht), EU:C:2014:2353 Rn. 20. 193 Z. B. EuGH Urt. v. 7.2.2013 – Rs. C-543/10 (Refcomp), EU:C:2013:62 Rn. 27 f.; EuGH Urt. v. 21.5.2015 – Rs. C-322/14 (El Majdoub), EU:C:2015:334 Rn. 26. Siehe zur „Vertragsautonomie“ („contractual freedom“, „autonomie contractuelle“) als Synonym der Vertragsfreiheit im sachrechtlichen Kontext nur EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:282 Rn. 47. 194 Laut Erwägungsgrund Nr. 11 Rom I ist die „freie Rechtswahl der Parteien […] einer der Ecksteine des Systems der Kollisionsormen im Bereich der vertraglichen Schuldverhältnisse“. Vgl. auch bereits das obiter dictum des EuGH Urt. v. 24.1.1991 – Rs. C-339/89 (Alsthom Atlantique), Slg. 1991, I-107 Rn. 15, wonach „es den Parteien eines internationalen Kaufvertrags im Allgemeinen frei [steht], das auf ihre Vertragsbeziehungen anwendbare Recht zu bestimmen“. Vgl. darüber hinaus zur Rechtswahl außerhalb des Schuldrechts durch Vereinbarung der Parteien nur Art. 5 Verordnung (EU) Nr. 1259/2010 des Rates vom 20. Dezember 2010 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich des auf die Ehescheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebandes anzuwendenden Rechts, ABl. 2010 L 343/10. 195 GA Kokott Schlussanträge v. 6.11.2014 – Rs. C-564/13 P (Planet AE/Kommission), EU:C:2014:2352 Rn. 32 f. 196 EuGH Urt. v. 17.10.2013 – Rs. C-184/12 (Unamar), EU:C:2013:663 Rn. 49: „Um dem Grundsatz der Vertragsautonomie der Parteien, dem Eckstein des Übereinkommens von Rom, der in der Rom-I-Verordnung übernommen wurde, volle Wirksamkeit zu verleihen, muss somit nach Art. 3 Abs. 1 des Übereinkommens von Rom dafür gesorgt werden, dass die freie Entscheidung der Vertragsparteien hinsichtlich des im Rahmen ihrer Vertragsbeziehung anwendbaren Rechts respektiert wird“. Die Erwägungen des EuGH zu Art. 3 Rom I dürften grundsätzlich auch auf andere Rechtswahlmöglichkeiten, z. B. nach Art. 14 Abs. 1 Rom II, übertragbar sein.

§ 1 Lückenhafter Schutz und Postulat umfassender Vertragsfreiheit

129

deutlich so die einheitliche und übergreifende Konzeption der Parteiautonomie im internationalen Unionsprivatrecht.197 Damit erschöpft sich die Parteiautonomie nicht nur in den jeweiligen kontextspezifischen Gewährleistungen der vorgenannten Sekundärrechtsakte, sondern bildet im System der Unionsrechtsordnung einen Aspekt der Vertragsfreiheit.198 II. Beschränkung als implizite Anerkennung der Vertragsfreiheit Die Mehrzahl der unionsprivatrechtlichen Regelungen legt nicht nur den Rechtsrahmen für vertragliche Transaktionen fest, sondern widmet sich auch – wenn nicht sogar vorrangig – dem rollenspezifischen Schutz bestimmter Akteure.199 Wann immer das Privatrecht der Union zugunsten von Verbrauchern, Handelsvertretern, Arbeit- und Versicherungsnehmern interveniert oder im Wirtschaftsvertragsrecht beispielsweise wettbewerbswidrige Vereinbarungen sanktioniert und partiell Kontrahierungszwänge aufstellt, wird dadurch die Vertragsfreiheit zumindest einer Vertragspartei verkürzt. Derartige Beschränkungen ergeben indes überhaupt nur Sinn, wenn im Anwendungsbereich des Unionsrechts im Grundsatz zunächst vollumfängliche Vertragsfreiheit herrscht.200 Anders gewendet bedarf es eines dichten Netzes an detaillierten und materienübergreifenden Verkürzungen der Vertragsfreiheit in der Unionsrechtsordnung nur, wenn die rechtsgeschäftliche Privatautono197 Vgl. einerseits EuGH Urt. v. 7.2.2013 – Rs. C-543/10 (Refcomp), EU:C:2013:62 Rn. 27 f.; EuGH Urt. v. 21.5.2015 – Rs. C-322/14 (El Majdoub), EU:C:2015:334 Rn. 26 und andererseits EuGH Urt. v. 17.10.2013 – Rs. C-184/12 (Unamar), EU:C:2013:663 Rn. 49. Ein solches übergreifendes Verständnis der Parteiautonomie im internationalen Unionsprivatrecht deutet sich bereits in EuGH Urt. v. 24.6.1986 – Rs. 22/85 (Anterist), Slg. 1986, 1951 Rn. 14 an: „Da Artikel 17 des Übereinkommens eine Bestätigung des Grundsatzes der Parteiautonomie darstellt, ist sein Absatz 3 so auszulegen, dass der gemeinsame Wille der Parteien bei Abschluss des Vertrags respektiert wird“ (Herv. d. Verf.). Schließlich sieht auch die Europäische Kommission in der Parteiautonomie eine Facette der Vertragsfreiheit: Laut der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat, Ein kohärenteres europäisches Vertragsrecht: Ein Aktionsplan, ABl. 2003 C 61/1, 16, würde ein optionales Instrument auf dem Gebiet des Vertragsrechts nämlich „die Vertragsfreiheit auf zweierlei Art sicherstellen: erstens, weil die Parteien dieses Instrument als das anwendbare Recht wählen können, und zweitens, weil die Parteien die betreffenden Bestimmungen grundsätzlich abändern können“. 198 In diesem Sinne GA Kokott Schlussanträge v. 6.11.2014 – Rs. C-564/13 P (Planet AE/Kommission), EU:C:2014:2352 Rn. 32 f. „[S]pezifisch kollisionsrechtliche Spielarten der Vertragsfreiheit“ sieht hierin auch Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85, 91 f. und 98. Ebenso Lüttringhaus, IPRax 2014, 146, 149 f. 199 Vgl. zum Verbraucherrecht als rollenspezifischem Schutzregime nur Medicus, FS Kramer (2004), S. 211 ff.; Zimmermann, Current Leg. Prob. 58 (2005), 415, 418. 200 Müller-Graff, in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung (2011), S. 139, 148.

130

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

mie nicht nur bereichsspezifisch und isoliert, sondern vielmehr als durchgängiges Leitprinzip in all ihren sieben Facetten anerkannt wird.201 1. Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit Die freie Entscheidung, ob und gegebenenfalls mit wem ein Vertrag geschlossen wird, bildet das Fundament, auf dem alle weiteren Aspekte der Vertragsfreiheit aufbauen. Gleichwohl wird diese grundlegende Ausprägung der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie sowohl im europäischen Verbraucher- und Finanzdienstleistungs- als auch insbesondere im Wirtschaftsvertragsrecht wiederholt beschränkt. In allen vorgenannten Materien des Unionsprivatrechts wird die Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit zunächst durch sozialpolitisch motivierte wie auch durch binnenmarktbezogene Diskriminierungsverbote beeinträchtigt:202 Die durch Art. 21 und Art. 23 GRCh unionsgrundrechtlich untermauerten sozialpolitischen Diskriminierungsverbote erfassen neben dem Arbeitsvertragsrecht sowie dem allgemeinen Schuldvertragsrecht unter anderem das Versicherungs- und Bankvertragsrecht.203 Obschon die unionalen Antidiskriminierungsrichtlinien keinen Kontrahierungszwang anordnen, können die Mitgliedstaaten bei der Richtlinien-

In diesem Sinne auch Müller-Graff, in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung (2011), S. 139, 148. Ähnlich bereits Schulze, GPR 2005, 56, 58; Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85, 92. 202 Siehe zu dieser Unterscheidung der Diskriminierungsverbote des Unionsrechts Basedow, ZEuP 2008, 230, 234; ders., in: ders. / Hopt / Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009), S. 316, 317 ff. 203 Vgl. insbesondere Art. 3 Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft, ABl. 2000 L 180/22 (Gleichbehandlungsrichtlinie 2000/43/EG); Art. 3 Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG; Art. 3 Unisexrichtlinie 2004/113/EG; Art. 1 Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (Neufassung), ABl. 2006 L 204/23 (Arbeitnehmergleichbehandlungsrichtlinie 2006/54/EG); Art. 1 Richtlinie 2010/41/ EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. Juli 2010 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen, die eine selbständige Erwerbstätigkeit ausüben, und zur Aufhebung der Richtlinie 86/613/EWG des Rates, ABl. 2010 L 180/1 (Selbstständigengleichbehandlungsrichtlinie 2010/41/EU). Siehe auch Art. 15 Zahlungskontenrichtlinie: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verbraucher mit rechtmäßigem Aufenthalt in der Union, wenn diese Verbraucher ein Zahlungskonto oder den Zugang zu einem solchen Konto innerhalb der Union beantragen, nicht von Kreditinstituten aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit oder ihres Wohnsitzes oder aus anderen in Artikel 21 der Charta genannten Gründen diskriminiert werden. Die Bedingungen für das Unterhalten eines Zahlungskontos mit grundlegenden Funktionen dürfen keinesfalls diskriminierend sein“. 201

§ 1 Lückenhafter Schutz und Postulat umfassender Vertragsfreiheit

131

umsetzung durchaus diese Rechtsfolge wählen.204 Vor allem setzen auch andere an der Verweigerung von Vertragsschlüssen anknüpfenden Sanktionen einen starken Anreiz zu kontrahieren.205 Auf Ebene des Sekundärrechts statuiert etwa Art. 20 Abs. 2 Dienstleistungsrichtlinie206 ein binnenmarktbezogenes Diskriminierungsverbot, insbesondere für den Bereich des Wirtschaftsvertragsrechts.207 Schließlich mag auch das primärrechtliche Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit in vertraglichen Beziehungen zwischen Privaten Beachtung verlangen und die Abschluss- sowie die Vertragspartnerwahlfreiheit verkürzen.208

Vgl. bereits EuGH Urt. v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 (Colson u. a.), Slg. 1984, 1891 Rn. 18; EuGH Urt. v. 10.4.1984 – Rs. 79/83 (Harz), Slg. 1984, 1921 Rn. 18: „[Z]u solchen Maßnahmen könnten zum Beispiel Vorschriften gehören, die den Arbeitgeber zur Einstellung des diskriminierten Bewerbers verpflichten“. Für den Kontrahierungszwang als Sanktionsinstrument plädieren etwa G. Wagner / Potsch, JZ 2006, 1085, 1098 f. Thüsing / v. Hoff, NJW 2007, 21, 22 ff. Ablehnend hingegen etwa Armbrüster, NJW 2007, 1494 ff. 205 Vgl. zur Wirkung von Diskriminierungsverboten und damit korrespondierenden Gleichbehandlungspflichten allgemein EuGH Urt. v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 55: „Diese Pflicht zwänge […] zum Vertragsabschluss mit allen Minderheitsaktionären zu denselben Bedingungen wie denen, die beim Erwerb einer die Kontrolle verschaffenden oder verstärkenden Beteiligung vereinbart wurden, und führte zu einem entsprechenden Recht aller Aktionäre, ihre Aktien an den Hauptaktionär zu verkaufen“ (Herv. d. Verf.). Bezeichnenderweise nehmen z. B. sowohl die englische als auch die französische Sprachfassung des Urteils explizit auf einen Kontrahierungszwang Bezug („obligation […] to contract“; „obligation […] de contracter“). 206 Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt, ABl. 2006 L 376/36. 207 Art. 20 Abs. 2 Dienstleistungsrichtlinie verbietet grundsätzlich an der Staatsangehörigkeit oder an dem Wohnsitz eines Dienstleistungsempfängers ansetzende diskriminierende Bestimmungen in „allgemeinen Bedingungen für den Zugang zu einer Dienstleistung“. Siehe dazu statt aller v. d. Groeben / Schwarze / Hatje / Tiedje (2015), Art. 57 AEUV Rn. 85 ff. 208 EuGH Urt. v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 (Angonese), Slg. 2000, I-4139 Rn 35 f. scheint arbeitsvertragliche Beziehungen an Art. 18 AEUV messen zu wollen. EuGH Urt. v. 17.7.2008 – Rs. C-94/07 (Raccanelli), Slg. 2008, I-5939 Rn. 45 deutet darüber hinaus an, dass Art. 18 AEUV für „alle Verträge zwischen Privatpersonen“ Geltung beanspruchen könnte. In der Tat hat bereits EuGH Urt. v. 13.12.1984 – Rs. 251/83 (Haug-Adrion), Slg. 1984, 4277 Rn. 18 und 6, die einem Versicherungsvertrag zugrunde liegenden Allgemeinen Versicherungsbedingungen an Art. 18 AEUV gemessen, wobei solche Versicherungsbedingungen zum damaligen Zeitpunkt noch der aufsichtsbehördlichen Vorabgenehmigung bedurften. Im Einzelnen ist freilich umstritten, inwieweit Art. 18 AEUV und die spezielleren grundfreiheitlichen Diskriminierungsverbote auf die Rechtsbeziehungen Privater einwirken, siehe zu den unterschiedlichen Ansätzen nur Frenz, Handbuch Europarecht I: Europäische Grundfreiheiten (2004), Rn. 342 ff.; Streinz / ders. (2012), Art. 18 AEUV Rn. 43; Grabitz / Hilf / Nettesheim / v. Bogdandy (2014), Art. 18 AEUV Rn. 28; Dauses /  W.-H. Roth, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts (2014), E. I. Rn. 30, dort jeweils m. w. N. 204

132

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

In einzelnen Teilbereichen existieren zudem Kontrahierungszwänge: Eine Beschränkung speziell der Nachfragefreiheit bewirken etwa die unionsrechtlich fundierten Versicherungspflichten für Kraftfahrzeuge, 209 Luftverkehrsunternehmen,210 Rechtsanwälte211 und Versicherungsvermittler.212 Bei Energieversorgungsverträgen erlegen sowohl Art. 3 Abs. 3 Elektrizitäts-213 als auch Art. 3 Abs. 3 Erdgasbinnenmarktrichtlinie214 sogenannten Grundversorgern eine Verpflichtung zum Vertragsschluss auf, soweit Verträge mit „Haushaltskunden“ und anderen „schutzbedürftigen“ Endkunden in Rede stehen.215 Im Bereich der Telekommunikationsdienste enthält die Universaldienstrichtlinie216 einen Kontrahierungszwang: Namentlich haben Endnutzer nach Art. 20 Vgl. Art. 3 Richtlinie 2009/103/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und die Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht, ABl. 2009 L 263/11. 210 Vgl. Art. 11 Luftverkehrsdiensteverordnung; Art. 4 ff. Verordnung (EG) Nr. 785/ 2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 über Versicherungsanforderungen an Luftfahrtunternehmen und Luftfahrzeugbetreiber, ABl. 2004 L 138/1. 211 Vgl. Art. 6 Abs. 3 Richtlinie 98/5/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 1998 zur Erleichterung der ständigen Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Qualifikation erworben wurde, ABl. 1998 L 77/36. 212 Art. 4 Abs. 3 Richtlinie 2002/92/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Dezember 2002 über Versicherungsvermittlung, ABl. 2003 L 9/3. Siehe zum Ganzen Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85, 98. 213 Diese Bestimmung der Richtlinie 2009/72/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/54/EG, ABl. 2009 L 211/55 lautet auszugsweise: „Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass alle Haushaltskunden und, soweit die Mitgliedstaaten dies für angezeigt halten, Kleinunternehmen […] in ihrem Hoheitsgebiet über eine Grundversorgung verfügen, also das Recht auf Versorgung mit Elektrizität […] haben. […] Die Mitgliedstaaten erlegen Verteilerunternehmen die Verpflichtung auf, Kunden […] an ihr Netz anzuschließen“. 214 Diese Regelung der Richtlinie 2009/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/55/EG, ABl. 2009 L 211/94 lautet auszugsweise: „Die Mitgliedstaaten ergreifen geeignete Maßnahmen zum Schutz der Endkunden und tragen insbesondere dafür Sorge, dass für schutzbedürftige Kunden ein angemessener Schutz besteht“. Anhang I präzisiert dies für „Haushaltskunden“ sodann dahingehend, dass „Kunden […] Anspruch auf einen Vertrag mit ihren Anbietern von Gasdienstleistungen haben“. 215 Siehe zum Instrument des Kontrahierungszwangs nach diesen Rechtsakten und den Bezügen zu anderen Rechtsakten des Verbrauchervertragsrechts nur EuGH Urt. v. 23.10.2014 – verb. Rs. C-359/11 u. a. (Schulz u. a.), EU:C:2014:2317 Rn. 38 ff. Siehe auch Anhang I Erdgasbinnenmarktrichtlinie sowie ferner GA Wahl Schlussanträge v. 8.5.2014 – verb. Rs. C-359/11 u. a. (Schulz u. a.), EU:C:2014:319 Rn. 34. 216 Richtlinie 2002/22/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über den Universaldienst und Nutzerrechte bei elektronischen Kommunikationsnetzen und -diensten (Universaldienstrichtlinie), ABl. 2002 L 108/51. 209

§ 1 Lückenhafter Schutz und Postulat umfassender Vertragsfreiheit

133

Abs. 1 der Richtlinie „Anspruch auf einen Vertrag“ mit Unternehmen, die eine „Verbindung mit einem öffentlichen Kommunikationsnetz und/oder öffentlich zugänglichen elektronischen Kommunikationsdiensten bereitstellen“. Auch über sektorspezifische Kontrahierungszwänge hinaus sieht das Unionsprivatrecht teilweise die Möglichkeit vor, einem Vertragsteil gegen dessen Willen einen neuen Vertragspartner aufzudrängen. So gestattet etwa Art. 9 Pauschalreiserichtlinie dem Verbraucher, der einen Pauschalreisevertrag geschlossen hat, diesen Vertrag unter bestimmten Voraussetzungen auch ohne Zustimmung des Reiseveranstalters auf einen Dritten zu übertragen.217 Damit schränkt sie die Vertragspartnerwahlfreiheit des Veranstalters empfindlich ein.218 Ein ähnlicher Vertragsübernahmemechanismus ist dem unionalen Finanzdienstleistungsvertragsrecht bekannt: Auch bei der Übertragung eines Bestandes an Versicherungsverträgen von einem Versicherer auf einen anderen verzichtet das Unionsrecht auf die eigentlich in allen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen – und z. B. im deutschen Zivilrecht nach § 415 BGB – erforderliche Zustimmung der betroffenen Versicherungsnehmer.219 Obschon eine Aufsichtsbehörde den Übergang der Verträge erst zur Wahrung der Belange der Versicherten prüfen und genehmigen muss,220 sehen sich die Versicherungsnehmer hier kraft unionsrechtlicher Vorgaben ohne ihr Zutun einem neuen Vertragspartner gegenüber, den sie sich nicht haben aussuchen können. Darüber hinaus stellt das unionale Finanzdienstleistungsvertragsrecht etwa im Kontext von Bankverträgen einen Kontrahierungszwang auf: Gemäß Art. 16 Abs. 2 Zahlungskontenrichtlinie221 müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, 217 Nach Art. 9 Abs. 1 Pauschalreiserichtlinie kann „ein Reisender den Pauschalreisevertrag auf eine Person, die alle Vertragsbedingungen erfüllt, übertragen […], nachdem er den Reiseveranstalter auf einem dauerhaften Datenträger innerhalb einer angemessenen Frist vor Beginn der Pauschalreise davon in Kenntnis gesetzt hat“. Aus Perspektive des deutschen Rechts handelt es sich um eine gesetzlich erzwungene Vertragsübernahme: Anders als in § 415 Abs. 1 S. 1 BGB vorgesehen, hängt die Wirksamkeit der Vertragsübernahme nicht von der Genehmigung des Reiseveranstalters ab, sondern der Reisende hat Anspruch darauf, „dass statt seiner ein Dritter in die Rechte und Pflichten aus dem Reisevertrag eintritt“, siehe nur Staudinger / A. Staudinger (2016), § 651b BGB Rn. 4. 218 Gemäß Art. 9 Abs. 2 Pauschalreiserichtlinie haftet der ursprüngliche Reisende indes weiterhin als Gesamtschuldner neben dem Dritten, so dass finanzielle Einbußen des Veranstalters nicht zu besorgen sind. Der Veranstalter kann die Übernahme des Vertrags durch den Dritten aber nur verhindern, wenn Letzterer nicht alle Vertragsbedingungen im Sinne des Art. 9 Abs. 1 Pauschalreiserichtlinie erfüllt. Angesprochen sind damit etwa behördliche Ausreiseverbote, vgl. nur Staudinger / A. Staudinger (2016), § 651b BGB Rn. 4; MünchKommBGB / Tonner (2016), § 651b BGB Rn. 2. 219 Vgl. Art. 39 Abs. 6 und Art. 164 Abs. 6 Solvency II. 220 Vgl. Art. 39 Abs. 1 bis 5 und Art. 164 Abs. 1 bis 5 Solvency II. 221 Richtlinie 2014/92/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Juli 2014 über die Vergleichbarkeit von Zahlungskontoentgelten, den Wechsel von Zahlungskonten und den Zugang zu Zahlungskonten mit grundlegenden Funktionen, ABl. 2014 L 257/214.

134

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

„dass Verbraucher […] das Recht haben, ein Zahlungskonto mit grundlegenden Funktionen bei in ihrem Hoheitsgebiet ansässigen Kreditinstituten zu eröffnen und zu nutzen“.222

Besonders zahlreich sind unionsrechtlich fundierte Kontrahierungszwänge im Wirtschaftsvertragsrecht. So nimmt es kaum Wunder, dass der EuGH in diesem Bereich bereits erste Leitlinien aufstellen konnte, wie ein unter Kontrahierungszwang geschlossener Vertrag zustande kommt und wieviel Gestaltungsfreiheit den Parteien verbleiben muss.223 Zunächst kann im unionalen Kartellrecht nach ständiger Rechtsprechung des EuGH224 aus Art. 102 AEUV unter bestimmten Voraussetzungen „ein Kontrahierungszwang für das marktbeherrschende Unternehmen folgen“.225 Dies betrifft unterschiedliche Fallgruppen, in denen das marktbeherrschende Unternehmen seinen Wettbewerbern durch die Verweigerung von Vertragsschlüssen z. B. den Zugang zu „unentbehrlichen Gütern, Dienstleistungen oder Daten“ verschließt.226 Einem Kontrahierungszwang können etwa Inhaber von Patenten unterliegen, wenn ihre Schutzrechte integraler Bestandteil eines technischen Standards sind.227 Die Vorschrift lautet im Übrigen auszugsweise: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass in ihrem Hoheitsgebiet Verbrauchern Zahlungskonten mit grundlegenden Funktionen von allen oder einer ausreichend großen Zahl von Kreditinstituten angeboten werden, damit alle Verbraucher garantierten Zugang zu einem solchen Konto haben und Wettbewerbsverzerrungen vermieden werden“ (Herv. d. Verf.). 223 Vgl. etwa EuGH Urt. v. 16.7.2015 – Rs. C-170/13 (Huawei Technologies), EU:C: 2015:477 Rn. 63 ff. Siehe zu dieser Frage aus Perspektive des deutschen Rechts nur Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang (1999), S. 245 ff.; Möslein, Dispositives Recht (2011), S. 180 ff. 224 Vgl. z. B. EuGH Urt. v. 5.10.1988 – Rs. 238/87 (Volvo), Slg. 1988, 6211 Rn. 9; EuGH Urt. v. 26.11.1998 – Rs. C-7/97 (Bronner), Slg. 1998, I-7791, Rn. 38 ff., EuGH Urt. v. 29.4.2004 – Rs. C-418/01 (IMS Health), Slg. 2004, I-5039 Rn. 37. Vgl. zur Lieferverweigerung EuGH Urt. v. 16.9.2008 – Rs. C-478/06 (GSK), Slg. 2008, I-7174 Rn. 34: „Aus der gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofs geht hervor, dass die Weigerung eines Unternehmens, das auf dem Markt für ein bestimmtes Erzeugnis über eine beherrschende Stellung verfügt, die Bestellungen eines früheren Kunden auszuführen, eine missbräuchliche Ausnutzung dieser beherrschenden Stellung im Sinne von Art. 82 EG darstellt, wenn dieses Verhalten – ohne eine sachliche Rechtfertigung – geeignet ist, den Wettbewerb von Seiten eines Geschäftspartners auszuschalten“. 225 Zusammenfassend GA Kokott Schlussanträge v. 13.3.2008 – Rs. C-454/06 (pressetext), Slg. 2008, I-4401 Rn. 133. Siehe ferner nur Mestmäcker / Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht (2014), § 19 Rn. 46 ff.; Dauses / Emmerich, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts (2015), H. I. § 3. Art. 102 AEUV Rn. 102 ff. 226 Vgl. wiederum GA Kokott Schlussanträge v. 13.3.2008 – Rs. C-454/06 (pressetext), Slg. 2008, I-4401 Rn. 133. Siehe zu den einzelnen Facetten und Fallgruppen statt vieler Immenga / Mestmäcker / Fuchs / Möschl (2012), Art. 102 AEUV Rn. 305 ff.; Langen / Bunte /  Bulst (2014), Art. 102 AEUV Rn. 263 ff. und 303 ff.; Dauses / Emmerich, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts (2015), H. I. § 3. Art. 102 AEUV Rn. 102 ff. und 111 ff. 227 Der Inhaber solcher standardessenzieller Patente kann eine marktbeherrschende Stellung im Sinne des Art. 102 AEUV innehaben, wenn die in dem jeweiligen Markt täti222

§ 1 Lückenhafter Schutz und Postulat umfassender Vertragsfreiheit

135

Unter bestimmten Voraussetzungen verpflichtet das unionale Kartellrecht die Inhaber solcher standardessenziellen Patente zum Abschluss eines Lizenzvertrages mit den Wettbewerbern.228 Der Vertragsschluss unter Kontrahierungszwang folgt dabei nach der Lesart des EuGH grundsätzlich dem auf Angebot und Annahme fußenden Modell: Auf Anfrage des interessierten Wettbewerbers hat der Patentinhaber ersterem ein annahmefähiges und mithin alle essentialia negotii umfassendes Angebot auf Abschluss eines Lizenzvertrags zu unterbreiten.229 Der Vertrag kommt sodann durch Einigung der Parteien zustande, wenn der Wettbewerber das Angebot annimmt.230 Während der EuGH durch den Kontrahierungszwang nach Art. 102 AEUV zwar die Abschlussund Vertragsinhaltsfreiheit verkürzt sieht, so ist der Gerichtshof hingegen bemüht, den Parteien möglichst umfassende Vertragsinhaltsfreiheit zu belassen und insbesondere „Verhandlungen über die Erteilung von Lizenzen“ zu ermöglichen.231 Im Wirtschaftsvertragsrecht ist ein weiterer Vertragsschlusszwang in Art. 15 Mediendienstleistungsrichtlinie232 angelegt. Diese Regelung gen Wettbewerber den Standard zwingend einhalten müssen, weil sie nicht „von dem betreffenden Patent [abweichen können], ohne die grundlegenden Funktionen des fraglichen Produkts zu gefährden“.Vgl. EuGH Urt. v. 16.7.2015 – Rs. C-170/13 (Huawei Technologies), EU:C:2015:477 Rn. 49 f. Eingehend Hauck, NJW 2015, 2767, 2769. 228 Der Kontrahierungszwang kraft Art. 102 AEUV besteht auch dann, wenn sich der Patentinhaber bereits gegenüber der Standardisierungsorganisation selbst verpflichtet hat, mit Wettbewerbern Lizenzverträge zu fairen, vernünftigen und nichtdiskriminierenden Bedingungen zu schließen („FRAND“-Verpflichtung: fair, reasonable and non-discriminatory): Allerdings ist hier „der Patentinhaber nach Art. 102 AEUV nur verpflichtet, eine Lizenz zu FRAND-Bedingungen zu erteilen“ (Herv. d. Verf.), EuGH Urt. v. 16.7.2015 – Rs. C-170/13 (Huawei Technologies), EU:C:2015:477 Rn. 54. 229 Laut EuGH Urt. v. 16.7.2015 – Rs. C-170/13 (Huawei Technologies), EU:C:2015: 477 Rn. 63 obliegt es in einer Konstellation, in welcher der Patentinhaber eine FRANDVerpflichtung übernommen hat, diesem „Patentinhaber […] ein konkretes schriftliches Lizenzangebot zu FRAND-Bedingungen zu unterbreiten und insbesondere die Lizenzgebühr sowie die Art und Weise ihrer Berechnung anzugeben“. 230 Vgl. EuGH Urt. v. 16.7.2015 – Rs. C-170/13 (Huawei Technologies), EU:C:2015: 477 Rn. 66 ff. Sollte das Angebot dem interessierten Wettbewerber nicht zusagen, so kann er dem Patentinhaber „ein konkretes Gegenangebot mach[en]“. Dieses Gegenangebot bedarf wiederum der Annahme durch den Patentinhaber. Der EuGH stellt abschließend noch Folgendes heraus: „Im Übrigen haben die Parteien, wenn nach dem Gegenangebot des angeblichen Verletzers keine Einigung über die Einzelheiten der FRANDBedingungen erzielt wurde, die Möglichkeit, im gegenseitigen Einvernehmen zu beantragen, dass die Lizenzgebühren durch einen unabhängigen Dritten […] festgelegt werden“. 231 Vgl. EuGH Urt. v. 16.7.2015 – Rs. C-170/13 (Huawei Technologies), EU:C:2015: 477 Rn. 67 f. und 65, wobei der Gerichtshof die Vertragsverhandlungen bestimmten Regeln unterwirft: Namentlich muss der interessierte Wettbewerber auf das Vertragsangebot des Patentinhabers „mit Sorgfalt, gemäß den in dem Bereich anerkannten geschäftlichen Gepflogenheiten und nach Treu und Glauben, […] reagieren, was auf der Grundlage objektiver Gesichtspunkte zu bestimmen ist und u. a. impliziert, dass keine Verzögerungstaktik verfolgt wird“.

136

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

„hat zur Folge […] dass der Inhaber exklusiver Fernsehübertragungsrechte nicht frei wählen kann, mit welchen Fernsehveranstaltern er eine Vereinbarung über die Einräumung eines Kurzberichterstattungsrechts schließt“.233

Schließlich erlegt auch Art. 15 Abs. 2 Übernahmerichtlinie234 Aktionären einen Kontrahierungszwang gegenüber Bietern im Übernahmeverfahren auf, die bereits 90 Prozent der Gesellschaftsanteile einer Zielgesellschaft halten. Hierdurch wird die Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit der verpflichteten Parteien empfindlich verkürzt. 2. Inhaltsfreiheit Das unionale Verbraucher-, Finanzdienstleistungs- und Wirtschaftsvertragsrecht schränkt die Inhaltsfreiheit im Wesentlichen auf zwei Wegen ein: Auf der einen Seite stehen unionale Verbots- und Unwirksamkeitstatbestände, die sich gegen konkrete Vertragsgestaltungen wenden.235 Auf der anderen Seite sind zwingende Unionsrechtsakte zu nennen, die bestimmte Vertragsinhalte verbindlich vorgeben und damit der Disposition der Vertragsparteien entziehen. Da aus der zwingenden Vorgabe einer bestimmten inhaltlichen Ausgestaltung zugleich die Unwirksamkeit abweichender Parteivereinbarungen folgt, werden die beiden Fallgruppen im Folgenden zusammen untersucht. Zunächst wendet sich das Unionsrecht bereichsspezifisch gezielt gegen bestimmte Vertragsinhalte und Vertragsgestaltungen. Als Quelle solcher Verbotstatbestände kommen dabei sowohl das unionale Primärecht als auch das Sekundärrecht in Betracht. Offenkundig gegen die Wirksamkeit privatrechtlicher Verträge gerichtete Verbote primärrechtlicher Provenienz finden sich z. B. in Art. 101 Abs. 2 AEUV, solche auf Ebene des Sekundärrecht dagegen etwa in unionsrechtlichen Embargobestimmungen und dem Gesundheitsschutz dienenden VerordRichtlinie 2010/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. März 2010 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung audiovisueller Mediendienste, ABl. L 95/1. Art. 15 lautet auszugsweise: „Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass jeder Fernsehveranstalter, der in der Union niedergelassen ist, zum Zwecke der Kurzberichterstattung […] Zugang zu Ereignissen hat, die von großem öffentlichen Interesse sind und die von einem der Rechtshoheit der Mitgliedstaaten unterworfenen Fernsehveranstalter exklusiv übertragen werden“. 233 EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C:2013:28 Rn. 44. 234 Richtlinie 2004/25/EG des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend Übernahmeangebote, ABl. 2004 L 142/12. 235 Wenngleich im Kontext von zur Vertragsnichtigkeit führenden Verbotsnormen teilweise von „Abschlussverboten“ gesprochen wird, darf dies nicht zu der Annahme verleiten, dass diese Vorschriften die Vertragsabschlussfreiheit stets vollends beseitigen. Vielmehr betreffen solche Normen in aller Regel – und so auch die nachstehend exemplarisch aufgeführten unionsrechtlichen Fallgruppen – gerade die Vertragsinhaltsfreiheit, ohne jedoch die Abschlussfreiheit per se aufzuheben, vgl. zum deutschen Privatrecht statt aller Staudinger / Bork (2015), Vor § 145 BGB Rn. 13. 232

§ 1 Lückenhafter Schutz und Postulat umfassender Vertragsfreiheit

137

nungen.236 Zu den primärrechtlichen Normen, die den Inhalt privatrechtlicher Verträge unmittelbar beeinflussen können, zählt nicht zuletzt Art. 157 AEUV.237 Überdies können nach gefestigter Rechtsprechung des EuGH auch private Akteure unter bestimmten Voraussetzungen an die Verkehrsfreiheiten des Binnenmarktes sowie an das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit gebunden sein.238 Wo die Grundfreiheiten horizontale Wirkung entfalten, muss vertraglichen Abreden die rechtliche Durchsetzbarkeit verwehrt werden, soweit sie mit den Verkehrsfreiheiten unvereinbar sind.239 Diese primärrechtlich vorgezeichnete Unwirksamkeit der betreffenden Vertragsbestimmungen bedeutet eine Verkürzung der Vertragsinhaltsfreiheit.240 Ähnlich verhält es sich z. B. mit dem Verbot der Entgeltdiskrimi236 Siehe beispielsweise zur Verordnung (EWG) Nr. 2340/90 des Rates vom 8. August 1990 zur Verhinderung des Irak und Kuwait betreffenden Handelsverkehrs der Gemeinschaft, ABl. 1990 L 213/1 etwa BGH Urt. v. 27.1.1994 – III ZR 42/92, BGHZ 125, 27, 30; MünchKommBGB / Armbrüster (2015), § 134 BGB Rn. 37; Herresthal, in: Langenbucher (Hrsg.), Europäisches Privat- und Wettbewerbsrecht (2014), § 2 Rn. 108. Siehe zu weiteren Verbotsnormen nur Staudinger / Sack / Seibl (2011), § 134 BGB Rn. 44 und 313. 237 Siehe neben EuGH Urt. v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 (Defrenne II), Slg. 1976, 455 Rn. 4 ff. nur EuGH Urt. v. 31.3.1981 – Rs. 96/80 (Jenkins), Slg. 1981, 911 Rn. 18 ff.; EuGH Urt. v. 28.9.1994 – Rs. C-200/91 (Coloroll), Slg. 1994, I-4389 Rn. 18 ff. 238 Bereits EuGH Urt. v. 12.12.1974 – Rs. 36/74 (Walrave), Slg. 1974, 1405 Rn. 16 ff. sah die Verkehrsfreiheiten dadurch bedroht, „dass privatrechtliche Vereinigungen oder Einrichtungen kraft ihrer rechtlichen Autonomie“ Hindernisse für die Ausübung der Grundfreiheiten errichten, etwa mithilfe von „Verträge[n] und sonstige[n] Rechtsgeschäfte[n], die von Privatpersonen geschlossen“ werden. Siehe zur Bindung von Arbeitgebern an das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit nur EuGH Urt. v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 (Angonese), Slg. 2000, I-4139 Rn. 31 ff.; EuGH Urt. v. 17.7.2008 – Rs. C-94/07 (Raccanelli), Slg. 2008 I-5939 Rn. 45; EuGH Urt. v. 28.6.2012 – Rs. C172/11 (Daimler), EU:C:2012:399 Rn. 48. 239 So hat der EuGH Urt. v. 23.10.2011 – verb. Rs. C-403/08 u. a. (Murphy u. a.), Slg. 2011 I-9083 Rn. 88 zu Gebietsbeschränkungsklauseln in Nutzungsvereinbarungen für Satellitenfernsehdecoder entschieden, dass das Privatrecht der Mitgliedstaaten solche Klauseln nicht aufrechterhalten darf, wenn dadurch im Ergebnis die Dienstleistungsfreiheit verkürzt wird: „Zwar liegt die Hauptursache für die Behinderung des Empfangs solcher Dienste in den zwischen den Sendeunternehmen und ihren Kunden geschlossenen Verträgen, in denen sich die Gebietsbeschränkungsklauseln widerspiegeln, die in den zwischen den Sendeunternehmen und den Inhabern der Rechte des geistigen Eigentums geschlossenen Verträgen enthalten sind. Da aber die fragliche Regelung diese Beschränkungen unter rechtlichen Schutz stellt und ihre Einhaltung unter Androhung zivilrechtlicher und finanzieller Sanktionen vorschreibt, beschränkt sie selbst den freien Dienstleistungsverkehr“ (Herv. d. Verf.). Siehe zuvor schon W.-H. Roth, FS Medicus (2009), S. 393, 421. 240 Allerdings ist umstritten, ob die Grundfreiheiten im deutschen Privatrecht unmittelbar anwendbare Verbotsgesetze im Sinne des § 134 BGB sind – dafür etwa W.-H. Roth, FS Medicus (2009), S. 393, 421 – oder, ob die Unwirksamkeit im Wege einer mittelbaren Drittwirkung aus § 138 BGB folgt – dafür z. B. MünchKommBGB / Armbrüster (2015), § 134 BGB Rn. 38 m. w. N.

138

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

nierung: Im Anwendungsbereich des Art. 14 Arbeitnehmergleichbehandlungsrichtlinie 2006/54/EG sind arbeitsvertragliche Vereinbarungen, die geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Bezahlung vorsehen, potenziell sowohl sekundär- als auch primärrechtswidrig, da sie zugleich gegen den nach Auffassung des EuGH in Vertragsverhältnisse hineinwirkenden Art. 157 AEUV verstoßen.241 Wendet man sich den einzelnen Sachmaterien des Unionsprivatrechts zu, so gibt im Verbrauchervertragsrecht zunächst Art. 7 Abs. 1 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie die grundsätzlich zwingende Natur der Richtlinienbestimmungen vor und verwehrt entsprechend allen Vertragsklauseln die Wirksamkeit, „durch welche die mit dieser Richtlinie gewährten Rechte unmittelbar oder mittelbar außer Kraft gesetzt oder eingeschränkt werden“.242 In die gleiche Richtung weist z. B. Art. 12 Produkthaftungsrichtlinie,243 der eine vertragliche Haftungsfreizeichnung des Herstellers in Bezug auf die durch die Richtlinie garantierten Ansprüche des Geschädigten verhindert.244 Auch bei den Normen der Verbraucherrechterichtlinie handelt es sich ausweislich ihres Art. 25 um (halb)zwingendes Recht zugunsten des Verbrauchers.245 So begrenzt etwa Art. 19 dieser Richtlinie die Höhe der Entgelte für die Nutzung von Zahlungsdiensten und beschränkt damit die Vertragsinhaltsfreiheit.246 Zudem 241 Vgl. zunächst EuGH Urt. v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 (Defrenne II), Slg. 1976, 455 Rn. 4 ff. (Staatsbetrieb als Arbeitgeber) und sodann zur Erstreckung des Verbots der Entgeltdiskriminierung auf private Arbeitgeber nur EuGH Urt. v. 6.10.1993 – Rs. C-109/91 (Ten Över), Slg. 1993, I-4879 Rn. 11 ff.; EuGH Urt. v. 28.9.1994 – Rs. C-200/91 (Coloroll), Slg. 1994, I-4389 Rn. 18 ff. 242 Siehe zur Einschränkung der Inhaltsfreiheit durch die Umsetzungsvorschrift des § 475 BGB nur MünchKommBGB / S. Lorenz (2016), § 475 BGB Rn. 1. 243 Richtlinie 85/374/EWG des Rates vom 25. Juli 1985 zur Angleichung der Rechtsund Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte, ABl. 1985 L 210/29. 244 Die Vorschrift lautet: „Die Haftung des Herstellers aufgrund dieser Richtlinie kann gegenüber dem Geschädigten nicht durch eine die Haftung begrenzende oder von der Haftung befreiende Klausel begrenzt oder ausgeschlossen werden“. Gleichviel ob die Norm dem Verbraucherschutzrecht zuzuschlagen ist – dagegegen etwa MünchKommBGB /  Wagner (2013), § 14 ProdHaftG Rn. 1 –, enthält sie jedenfalls eine zwingende Regelung, die bestimmten individualvertraglichen Vereinbarungen entgegensteht. Entsprechend sieht die deutsche Umsetzungsvorschrift in § 14 S. 2 ProdHaftG vor, dass anderslautende Abreden „nichtig“ sind. 245 Nach Art. 6 Abs. 5 Verbraucherrechterichtlinie sind bei Fernabsatz- und außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen überdies grundsätzlich alle zwingend zu erteilenden „Informationen nach Absatz 1 […] fester Bestandteil des Fernabsatzvertrags oder des außerhalb von Geschäftsräumen abgeschlossenen Vertrags und dürfen nicht geändert werden“. 246 Die Vorschrift lautet: „Die Mitgliedstaaten verbieten Unternehmern, von Verbrauchern für die Nutzung von Zahlungsmitteln Entgelte zu verlangen, die über die Kosten hinausgehen, die dem Unternehmer für die Nutzung solcher Zahlungsmittel entstehen“.

§ 1 Lückenhafter Schutz und Postulat umfassender Vertragsfreiheit

139

versagt die Fluggastrechteverordnung247 nach der Lesart des EuGH vertraglichen Abreden der Parteien über die Ankunftszeit des Flugzeugs die Wirksamkeit.248 Gleiches gilt nach Art. 15 Abs. 2 Fluggastrechteverordnung für Verträge, in denen der Fluggast einer Ausgleichsleistung zustimmt, die das in der Verordnung vorgesehene Niveau unterschreitet.249 Im Finanzdienstleistungsvertragsrecht untersagt Art. 12 Abs. 1 Wohnimmobilienkreditvertragsrichtlinie grundsätzlich „den Abschluss eines Kreditvertrags in einem Paket gemeinsam mit anderen gesonderten Finanzprodukten oder -dienstleistungen“, sofern der Kreditvertrag nur in Form dieses Kopplungsgeschäfts und nicht auch separat abgeschlossen werden kann.250 Im Bankvertragsrecht fallen zunächst die Inhaltsfreiheit beschränkende Vorschriften betreffend die Preisfestsetzung ins Auge: Neben der bereits erwähnten Beschränkung der Entgelte bei der Nutzung von Zahlungsdiensten durch Verbraucher gemäß Art. 19 Verbraucherrechterichtlinie verbietet Art. 32 Zahlungsdiensterichtlinie auch die Erhebung von Entgelten für bestimmte Informationen im Verhältnis von Zahlungsdienstleistern und (gewerblichen) Nutzern.251 Im Versicherungsvertragsrecht können laut EuGH Abreden in Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91, ABl. 2004 L 46/1. 248 Namentlich soll mit Blick auf den Begriff „tatsächliche Ankunftszeit“ laut EuGH Urt. v. 4.9.2014 – Rs. C-452/13 (Germanwings), EU:C:2014:2141 Rn. 17 f. und 11 „die vertragliche Festlegung […] durch die Beteiligten von vornherein ausscheiden“. 249 Wird nach Art. 15 Abs. 2 in einem von dieser Verordnung erfassten Fall „der Fluggast nicht ordnungsgemäß über seine Rechte unterrichtet und hat er aus diesem Grund einer Ausgleichsleistung zugestimmt, die unter der in dieser Verordnung vorgesehenen Leistung liegt, so ist der Fluggast weiterhin berechtigt, […] eine zusätzliche Ausgleichsleistung zu erhalten“. 250 Vgl. Art. 4 Nr. 26 Wohnimmobilienkreditvertragsrichtlinie. Eine Ausnahme von diesem Kopplungsverbot enthält Art. 12 Abs. 4 Wohnimmobilienkreditvertragsrichtlinie: Soweit dies die Mitgliedstaaten vorsehen, können Kreditgeber vom Verbraucher den Abschluss einer mit dem Wohnimmobilienkreditvertrag in Verbindung stehenden Versicherung verlangen. Allerdings muss der Kreditgeber in diesem Fall auch die Versicherung dieser Risiken durch einen anderen als den von ihm im Rahmen des Kopplungsgeschäfts eigentlich bevorzugten Versicherer akzeptieren, wenn und soweit die Deckungsleistungen gleichwertig sind. Hier scheint das Ziel des Unionsgesetzgebers auf, zwar einerseits den legitimen Interessen des Kreditgebers Rechnung zu tragen, andererseits aber dem Verbraucher gerade die Vertragspartnerwahlfreiheit hinsichtlich des Versicherers zu überlassen. Dies gilt umso mehr, als diese Wahlfreiheit als Facette der unionalen Vertragsfreiheit im europäischen Binnenmarkt für Versicherungen auch über die Grenzen der Mitgliedstaaten hinaus gewährleistet und grundfreiheitlich untermauert ist. 251 Art. 32 Abs. 1 Zahlungsdiensterichtlinie lautet: „Der Zahlungsdienstleister darf dem Zahlungsdienstnutzer die Bereitstellung von Informationen nach diesem Titel nicht in Rechnung stellen“. Siehe zum Ganzen nur Piekenbrock, GPR 2014, 26 ff. 247

140

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

Rechtsschutzversicherungsverträgen unter bestimmten Voraussetzungen wegen Verstoßes gegen das Recht auf freie Anwaltswahl nach Art. 201 Solvency II unwirksam sein.252 Im heterogenen Feld des Wirtschaftsvertragsrechts normiert Art. 101 Abs. 2 AEUV zunächst eine unmittelbar im Primärrecht wurzelnde Nichtigkeitssanktion für wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen.253 Anders als das unionale Kartellrecht geht das europäische Beihilferecht nicht ausdrücklich auf etwaige Unwirksamkeitsfolgen im Vertragsrecht ein. Allerdings enthält Art. 108 Abs. 3 S. 3 AEUV nach Auffassung des EuGH ein Verbot „der Durchführung der Beihilfen, das unmittelbare Wirkung hat“254 und dessen Verletzung gerade „die Gültigkeit“255 der zur Beihilfegewährung getroffenen vertraglichen Abreden betreffen kann.256 Entsprechend wendet sich der EuGH 252 Noch mit Blick auf Art. 4 Abs. 1 lit. a Rechtschutzversicherungsrichtlinie führt EuGH Urt. v. 7.11.2013 – Rs. C-442/12 (Sneller), EU:C:2013:717 Rn. 29 aus, dass diese Norm untersagt, „dass ein Rechtsschutzversicherer, der in seinen Versicherungsverträgen festlegt, dass rechtlicher Beistand grundsätzlich von seinen Mitarbeitern gewährt wird, sich darüber hinaus ausbedingt, dass die Kosten für rechtlichen Beistand durch einen vom Versicherungsnehmer frei gewählten Rechtsanwalt oder Rechtsvertreter nur dann übernahmefähig sind, wenn der Versicherer der Ansicht ist, dass die Bearbeitung der Angelegenheit einem externen Rechtsvertreter übertragen werden muss“. 253 Mit Blick auf die Reichweite der Nichtigkeitssanktion stellt EuGH Urt. v. 11.9.2008 – Rs. C-279 (CEPSA), Slg. 2008, I-6681 Rn. 80 heraus, dass „nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs die Nichtigkeit kraft Gesetzes einer Vereinbarung im Sinne des Art. 81 Abs. 2 EG nur für die von dem Verbot nach Art. 81 Abs. 1 EG erfassten Teile oder aber, falls diese Teile nicht von der Vereinbarung an sich zu lösen sind, für die Vereinbarung insgesamt gilt“. 254 Siehe bereits zu Art. 93 Abs. 3 EGW z. B. EuGH Urt. v. 2.8.1993 – Rs. C-266/91 (Celulose Beira Industrial), Slg. 1993, I-4337 Rn. 23. 255 EuGH Urt. v. 21.11.2013 – Rs. C-284/12 (Flughafen Frankfurt Hahn), EU:C:2013: 755 Rn. 30. Siehe zuvor z. B. EuGH Urt. v. 21.10.2003 – verb. Rs. C-261/01 (van Calster), Slg. 2003, I-12249 Rn. 64; EuGH Urt. v. 21.7.2005 – Rs. C-71/04 (Xunta de Galicia), Slg. 2005, I-7419 Rn. 49; EuGH Urt. v. 7.9.2006 – Rs. C-526/04 (Laboratoires Boiron), Slg. 2006, I-7529 Rn. 29. 256 Vgl. EuGH Urt. v. 8.12.2011 – Rs. C-275/10 (Residex Capital IV), Slg. 2011, I13043 Rn. 44 ff. Vgl. jüngst zudem die Klage v. 30.12.2014 – Rs. T-700/13 (Bankia/ Kommission), ABl. 2014 C 52/45, die sich im beihilferechtlichen Kontext gegen einen Beschluss der Kommission richtet: „Mit ihrem fünften Nichtigkeitsgrund legt die Klägerin dar, aus welchen Gründen der angefochtene Beschluss zudem gegen […] Art. 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verstoße, soweit er sich zur Wirksamkeit von Vertragsklauseln in privaten Verträgen äußere, die nach spanischem Recht zwischen den Investoren und anderen privaten Marktteilnehmern abgeschlossen worden seien“ (Herv. d. Verf.). Eine Nichtigkeitssanktion befürwortete bereits zuvor BGH Urt. v. 5.7.2007 – Az. IX ZR 256/06, BGHZ 173, 129, 137 ff. Siehe auch BGH Urt. v. 4.4.2003 – V ZR 314/02, EuZW 2003, 444, 445; BGH Urt. v. 20.1.2004 – XI ZR 53/03, EuZW 2004, 252, 253; BGH Urt. v. 10.2.2011 – I ZR 136/09, EuZW 2011, 440, 444. Ebenso z. B. Verse /  Wurmnest, AcP 204 (2004), 855 ff.; Fronczak, EuR 2014, 576, 580; Staudinger / Sack / Seibl

§ 1 Lückenhafter Schutz und Postulat umfassender Vertragsfreiheit

141

in der Rechtssache Klausner nun explizit dagegen, dass Verträge, die eine unter Verstoß gegen Art. 108 Abs. 3 S. 3 AEUV durchgeführte Beihilfe enthalten, nach nationalem Privat- und Zivilprozessrecht fortbestehen können.257 Neben diesen Regelungen des unionalen Primärrechts kann auch das sekundärrechtliche Wirtschaftsvertragsrecht den Bestand von Verträgen beeinflussen. So schreibt etwa das harmonisierte Vergaberecht in Art. 2d Nachprüfungsrichtlinie258 unter bestimmten Voraussetzungen die Unwirksamkeit vergaberechtswidriger Verträge vor.259 Das sekundäre Unionsrecht wendet sich darüber hinaus gegen Vertragsgestaltungen, die ungedeckte Leerverkäufe bestimmter Finanzinstrumente zum Gegenstand haben260 oder die Haftung von Ratingagenturen beschränken.261 Zwingendes Recht enthält auch Art. 19 Handelsvertreterrichtlinie,262 der den Parteien vor Beendigung des Vertrags untersagt, den Ausgleichsanspruch des Handelsvertreters durch vertragliche Vereinbarung zu beschneiden.263 Gemäß Art. 7 Abs. 2 Zahlungsverzugsrichtlinie264 können die Parteien im Wirtschaftsverkehr grundsätzlich keinen vertraglichen Ausschluss von Verzugszinsen vereinbaren.265 (2011), § 134 BGB Rn. 313; MünchKommBGB / Armbrüster (2015), § 134 BGB Rn. 37 jeweils m. w. N. auch zur Gegenauffassung. 257 EuGH Urt. v. 11.11.2015 – Rs. C-505/14 (Klausner), EU:C:2015:742 Rn. 44 ff. und Rn. 27 ff. fordert sogar die Durchbrechung der Rechtskraft eines Urteils, welches die Wirksamkeit der als Beihilfe eingestuften Verträge feststellt. 258 Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge, ABl. 1989 L 395/33. 259 Der deutsche Gesetzgeber ist dieser Vorgabe in § 101b GWB nachgekommen, zum Ganzen statt vieler Bittrich, Vergabeverfahren und Bürgerliches Recht (2013), S. 544 ff. Siehe zur Frage, inwieweit darüber hinaus auch Verstöße gegen das sogenannte Vergabeprimärrecht eine Nichtigkeitssanktion im Vertragsrecht nach sich ziehen, Dreher / Motzke /  Dörr (2013), Einl. Rn. 160 f. 260 Vgl. Art. 12 ff. Verordnung (EU) Nr. 236/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. März 2012 über Leerverkäufe und bestimmte Aspekte von Credit Default Swaps, ABl. 2012 L 86/1. Vgl. dazu auch EuGH Urt. v. 22.1.2014 – Rs. C-270/12 (Vereinigtes Königreich / Rat und Parlament), EU:C:2014:18. 261 Gemäß Art. 35a Abs. 3 Verordnung (EG) Nr. 1060/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über Ratingagenturen, ABl. 2009 L 302/1, darf die zivilrechtliche Haftung von Ratingagenturen nur unter bestimmten Voraussetzungen durch vorherige vertragliche Vereinbarung beschränkt werden. Genügt die privatautonome Haftungsbeschränkung diesen Anforderungen nicht, so hat sie gemäß Art. 35a Abs. 3 Unterabs. 2 der Verordnung „keine rechtliche Wirkung“. 262 Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter, ABl. 1986 L 382/17. 263 Siehe zur zwingenden Natur des Ausgleichsanspruchs z. B. EuGH Urt. v. 23.3.2006 – Rs. C-465/04 (Honyvem), Slg. 2006 I-2879 Rn. 22. 264 Richtlinie 2011/7/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr, ABl. 2011 L 48/1.

142

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

Der EuGH sieht die Inhaltsfreiheit ferner z. B. durch Art. 15 Abs. 1 Mediendienstleistungsrichtlinie beschränkt: Nach dieser Regelung können die Inhaber exklusiver Fernsehübertragungsrechte „nicht frei über den Preis entscheiden“, den sie für die Verwendung der Inhalte zum Zwecke der Kurzberichterstattung in Rechnung stellen.266 Im Bereich des Urhebervertragsrechts ordnet Art. 15 Datenbankenschutzrichtlinie schließlich an, dass „vertragliche Bestimmungen […] nichtig“ sind, soweit sie den sekundärrechtlichen Vorgaben zuwiderlaufen und die vom Urheber zu gestattenden Handlungen oder die Rechte rechtmäßiger Datenbanknutzer einschränken. Aus dieser bereichsspezifischen Verkürzung der Vertragsinhaltsfreiheit folgert der EuGH im Umkehrschluss, dass die Parteien im Übrigen den Vertragsinhalt nach ihrem Ermessen festlegen können: Namentlich stehe es dem Datenbankinhaber „frei, diese Benutzung durch eine mit dem rechtmäßigen Benutzer geschlossene Vereinbarung zu regeln“.267 Der EuGH stellt damit das RegelAusnahmeverhältnis klar und stützt so die eingangs formulierte These, dass die mannigfaltigen Verkürzungen der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie durch Unionsrechtsakte nur als Ausnahmen von der grundsätzlich umfassenden Gewährleistung der Vertrags(inhalts)freiheit zu verstehen sind. 3. Typenfreiheit Eine ausdrückliche und abschließende Fixierung bestimmter Vertragstypen ist dem Unionsrecht grundsätzlich fremd. Allerdings folgt aus den zwingenden Regelungen des Unionsprivatrechts, insbesondere im Verbrauchervertragsrecht, oftmals auch eine Beschränkung der Typenfreiheit: Beispielsweise untersagt Art. 7 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie alle vom sekundärrechtlichen Leitbild abweichenden vertraglichen Regelungen, welche die Verkäuferpflichten einerseits und die Rechte des Verbrauchers bei vertragswidriger Lieferung sowie die Ausgestaltung des Nacherfüllungsanspruchs andererseits betreffen. Der Rahmen für die Parteien, einen Vertrag über den Kauf von Verbrauchsgütern im Sinne der Richtlinie zu schließen, ist damit denkbar eng gezogen und erlaubt keine grundsätzlichen Abweichungen von der sekundärNach dieser Vorschrift ist „[e]ine Vertragsklausel oder eine Praxis […] als grob nachteilig im Sinne von Absatz 1 anzusehen, wenn in ihr Verzugszinsen ausgeschlossen werden“. 266 Hierin erblickt EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C: 2013:28 Rn. 44 ff. und Rn. 55 ff. eine Verkürzung der durch Art. 16 GRCh geschützten Vertragsfreiheit. Anders fiel dagegen die Überprüfung einer vergleichbaren Beschränkung durch ein – nicht durch eine unionsrechtliche Richtlinie fundiertes – deutsches Gesetz am Maßstab des Art. 12 GG aus, siehe BVerfG Urt. v. 17.2.1998 – Az. 1 BvF 1/91, BVerfGE 97, 228, 252 ff. 267 EuGH Urt. v. 15.1.2015 – Rs. C-30/14 (PR Aviation), EU:C:2015:10 Rn. 42 f. betont dabei auch das „rechtliche und wirtschaftliche Interesse einer Person, die in die Herstellung einer Datenbank investiert hat“. 265

§ 1 Lückenhafter Schutz und Postulat umfassender Vertragsfreiheit

143

rechtlich vorgezeichneten Vertragsgestalt. Vor diesem Hintergrund ist die Einschätzung nicht von der Hand zu weisen, dass Art. 7 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie „die ursprüngliche archaische Funktion der Vertragstypen partiell wieder belebt hat: Ein Verbrauchsgüterkauf ist danach nur wirksam, wenn sein Inhalt genau den im Gesetz vorgebildeten Regelungen entspricht“.268

Diese Konsequenz zeigt sich etwa im deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch, wo sich nach § 475 BGB der Unternehmer auf eine die Verbraucherrechte in unzulässiger Weise einschränkende Abrede „nicht berufen“ kann: Hier wird der Verbrauchsgüterkaufvertrag folglich stets auf den in der Richtlinie vorgezeichneten Typus zurückgeführt.269 4. Änderungsfreiheit Viele zwingende Bestimmungen des Unionsprivatrechts verkürzen zugleich auch die Vertragsänderungsfreiheit. Beispielsweise steht das Antidiskriminierungsrecht Vertragsänderungen entgegen, die zu einem Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot führen würden: So können die Parteien eines Arbeitsvertrags kaum nachträglich vereinbaren, dass eine Arbeitnehmerin allein aufgrund ihres Geschlechts fortan weniger Lohn erhalten soll. Eine solche Änderung verstößt neben Art. 14 Arbeitnehmergleichbehandlungsrichtlinie 2006/54/EG auch gegen das in privatrechtlichen Verträgen zu beachtende primärrechtliche Verbot der Entgeltdiskriminierung nach Art. 157 AEU.270 Desgleichen berühren die zwingenden Bestimmungen des Verbrauchervertragsrechts ebenfalls die Freiheit, nach Vertragsschluss von den Verbraucherschutzbestimmungen abweichende Vereinbarungen zu treffen. So können etwa beim Verbrauchsgüterkauf die Mängelgewährleistungsrechte nicht vor Bekanntwerden eines Mangels durch einen Änderungsvertrag zulasten des Verbrauchers eingeschränkt werden.271 Entsprechend steht Art. 7 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie allen „mit dem Verkäufer vor dessen Unterrichtung über die Vertragswidrigkeit getroffene[n]“ – und damit gerade auch in einem Änderungsvertrag enthaltenen – Vereinbarungen entgegen.272 Darüber 268 So mit Blick auf den der Umsetzung des Art. 7 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie dienenden § 475 Abs. 1 BGB Staudinger / Oechsler, Eckpfeiler des Zivilrechts (2014), M Rn. 2. 269 Entgegen § 139 BGB ist nicht der gesamte Vertrag, sondern nur die Beschränkung der Verbraucherrechte unwirksam, siehe nur MünchKommBGB / S. Lorenz (2016), § 475 BGB Rn. 12. 270 Siehe zur Einwirkung des Verbots der Entgeltdiskriminierung auf Arbeitsverträge z. B. EuGH Urt. v. 6.10.1993 – Rs. C-109/91 (Ten Över), Slg. 1993, I-4879 Rn. 11 ff.; EuGH Urt. v. 28.9.1994 – Rs. C-200/91 (Coloroll), Slg. 1994, I-4389 Rn. 18 ff. 271 Vgl. Art. 7 Abs. 1 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie. 272 Statt aller MünchKommBGB / S. Lorenz (2016), § 475 BGB Rn. 11.

144

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

hinaus wenden sich Nr. 1 lit. j bis l des Anhangs zur Klauselrichtlinie gegen bestimmte Modalitäten der Vertragsänderung und verkürzen insoweit potenziell die Änderungsfreiheit.273 Im Finanzdienstleistungsvertragsrecht erfasst beispielsweise das grundsätzliche Verbot der Erhebung von Entgelten für Informationen nach Art. 32 Zahlungsdiensterichtlinie auch nachträgliche Änderungsverträge zwischen Zahlungsdienstleistern und Nutzern. Im unionalen Wirtschaftsvertragsrecht untersagt Art. 19 Handelsvertreterrichtlinie nicht nur vertragliche Vereinbarungen, die den Ausgleichsanspruch des Handelsvertreters von Anfang an beschränken, sondern die Regelung steht – wie die Zusammenschau mit Art. 13 der Richtlinie verdeutlicht – auch nachträglichen Vertragsänderungen mit dieser Zielrichtung entgegen.274 Dies folgt gerade aus dem Umstand, dass sich Art. 19 Handelsvertreterrichtlinie explizit gegen alle (Änderungs)Vereinbarungen wendet, die „vor Ablauf des Vertrags“ geschlossen werden. Im Anwendungsbereich der Massenentlassungsrichtlinie275 kann eine nachträgliche Änderung des Arbeitsvertrags unter bestimmten Voraussetzungen als (indirekte) „Entlassung“ oder sonstige Beendigung des Arbeitsvertrags gemäß Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie einzuordnen und entsprechend an den sekundärrechtlichen Vorgaben zu messen sein.276 Darüber steht auch das unionale Vergaberecht einer Vertragsänderung jedenfalls dann entgegen, wenn durch wesentliche Änderungen ein neues Vergabeverfahren erforderlich wird.277 Schließlich wollte die Europäische Kommission in ihrem 273 Hierbei geht es um die auch aus Sicht des Unionsprivatrechts grundsätzlich zulässige – vgl. nur GA Kokott Schlussanträge v. 3.9.2015 – Rs. C-422/14 (Pujante Rivera), EU:C:2015:544 Rn. 55 – vertragliche Delegation des Rechts zur Vertragsänderung auf einen Vertragsteil: So erwähnt der Anhang zur Klauselrichtlinie in Nr. 1 lit. j z. B. Klauseln, die darauf abzielen, dass „der Gewerbetreibende die Vertragsklauseln einseitig ohne triftigen und im Vertrag aufgeführten Grund ändern kann“. Nr. 1 lit. k richtet sich gegen Klauseln, denen zufolge „der Gewerbetreibende die Merkmale des zu liefernden Erzeugnisses oder der zu erbringenden Dienstleistung einseitig ohne triftigen Grund ändern kann“. Nr. 1 lit. l des Anhangs nennt schließlich Gestaltungen, bei denen „der Verkäufer einer Ware oder der Erbringer einer Dienstleistung den Preis zum Zeitpunkt der Lieferung […] erhöhen kann“. 274 Siehe zur zwingenden Natur des Ausgleichsanspruchs z. B. EuGH Urt. v. 23.3.2006 – Rs. C-465/04 (Honyvem), Slg. 2006 I-2879 Rn. 22. 275 Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen, ABl. 1998 L 225/16. 276 Als Rechtsfolge sieht Art. 4 Massenentlassungsrichtlinie dabei eine zeitlich begrenzte Entlassungssperre vor, siehe nur GA Kokott Schlussanträge v. 3.9.2015 – Rs. C422/14 (Pujante Rivera), EU:C:2015:544 Rn. 57; EuGH Urt. v. 11.11.2015 – Rs. C-422/14 (Pujante Rivera), EU:C:2015:743 Rn. 47 ff. 277 Deutlich etwa GA Kokott Schlussanträge v. 13.3.2008 – Rs. C-454/06 (pressetext), Slg. 2008, I-4401 Rn. 44 f.: „Grundsätzlich ist es nicht von vornherein ausgeschlossen, dass spätere inhaltliche Änderungen an bestehenden Verträgen […] den Tatbestand der Vergabe eines öffentlichen Auftrags erfüllen, mit der Folge, dass ein Vergabeverfahren durchzuführen ist“. Vgl. auch EuGH Urt. v. 19.6.2008 – Rs. C-454/06 (pressetext), Slg. 2008, I-4401

§ 1 Lückenhafter Schutz und Postulat umfassender Vertragsfreiheit

145

Grünbuch zu unlauteren Handelspraktiken in der B2B-Lieferkette die Vertragsparteien bereichsspezifisch gerade an der vertraglichen Vereinbarung „rückwirkender Vertragsänderungen“ hindern.278 5. Aufhebungsfreiheit Die Aufhebungsfreiheit wird ebenfalls in unterschiedlichen Bereichen des Unionsprivatrechts eingeschränkt. So wäre beispielsweise selbst eine individualvertraglich vereinbarte Kündigungsmöglichkeit für den Fall der Schwangerschaft nicht mit den Vorgaben des unionalen Antidiskriminierungsrechts und insbesondere mit Art. 14 Arbeitnehmergleichbehandlungsrichtlinie übereinzubringen.279 Und an der Schnittstelle von unionalem Verbraucher- und Finanzdienstleistungsvertragsrecht zwingt Art. 16 Abs. 2 Zahlungskontenrichtlinie die betroffenen Kreditinstitute gerade nicht nur dazu, einen Kontoführungsvertrag mit allen interessierten Verbrauchern abzuschließen, sondern schränkt darüber hinaus auch die Möglichkeiten der Vertragsbeendigung durch die Banken ein: Namentlich müssen die Kreditinstitute den Kunden ermöglichen, „ein Zahlungskonto […] zu eröffnen und zu nutzen“.280 Ebenso wird die Aufhebungsfreiheit in all jenen Materien des Wirtschaftsvertragsrechts verkürzt, in denen das Unionsrecht einen Kontrahierungszwang statuiert: Andernfalls könnte die zum Vertragsschluss verpflichtete Partei durch privatautonome Vereinbarung eines Vertragsaufhebungsrechts oder durch den Rückgriff auf bestehende Vertragsbeendigungstatbestände des Privatrechts den unionalen Kontrahierungszwang umgehen.281 So folgt beispielsweise aus dem unionsrechtlich fundierten Kontrahierungszwang nach der Erdgas- und Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie laut EuGH gerade, dass die Energieversorgungsunternehmen „sich die andere Vertragspartei nicht aussuchen und den Vertrag nicht beliebig beenden können“.282 In der Tat wäre ein Kontrahierungszwang wirkungslos, wenn der zum Vertragsschluss Rn. 47, 59 f. Siehe zu „De-facto-Vergaben“ durch Vertragsänderungen und den Rechtsfolgen nur Poschmann, Vertragsänderungen unter dem Blickwinkel des Vergaberechts (2010), S. 116 ff., 307 ff.; Bittrich, Vergabeverfahren und Bürgerliches Recht (2013), S. 135 ff. 278 Vgl. Grünbuch der Europäischen Kommission vom 31.3.2013 über unlautere Handelspraktiken in der B2B-Lieferkette für Lebensmittel und Nicht-Lebensmittel in Europa, KOM(2013) 37 endg., S. 21. 279 Vgl. bereits EuGH Urt. v. 5.5.1994 – Rs. C-421/92 (Habermann-Beltermann), Slg. 1994, I-1657 Rn. 15 ff. 280 Siehe zur Umsetzung im BGB nur Herresthal, BKR 2016, 133, 140. 281 Siehe zu diesem Zusammenhang statt aller Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang (1999), S. 70: „Dort, wo das Gesetz einen Kontrahierungszwang statuiert, ist zugleich die Vertragsabänderungs- und -beendigungsfreiheit beschränkt“. 282 EuGH Urt. v. 23.10.2014 – verb. Rs. C-359/11 u. a. (Schulz u. a.), EU:C:2014:2317 Rn. 44 (Herv. d. Verf.).

146

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

Verpflichtete sich dem Schuldverhältnis durch umgehende Vertragsaufsage wieder entziehen könnte. Entsprechend ist die Verkürzung der Vertragsbeendigungsfreiheit nach zutreffender Lesart des Generalanwalts Wahl bereits in den Richtlinien angelegt.283 Im unionalen Kartellrecht kann zudem Art. 102 AEUV im Einzelfall einem – nach Maßgabe des jeweiligen mitgliedstaaatlichen Privatrechts eigentlich zulässigen – Abbruch von Vertragsbeziehungen entgegenstehen.284 Darüber hinaus sieht Art. 19 Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie Eingriffsbefugnisse der Regulierungsbehörden bezüglich der Vertragsverhältnisse von „Personen der Unternehmensleitung und/oder Mitgliedern der Verwaltungsorgane des Übertragungsnetzbetreibers“ vor, wenn „Zweifel an der Berechtigung einer vorzeitigen Vertragsbeendigung bestehen“. Eine Verkürzung der Vertragsbeendigungsfreiheit beinhaltet schließlich auch die Massenentlassungsrichtlinie, soweit sie in Art. 4 eine Entlassungssperre vorsieht.285 6. Formfreiheit Besonders augenfällige und zugleich für alle hier untersuchten Sachmaterien gleichermaßen relevante Anforderungen an die Form von Willenserklärungen enthält die Signaturenrichtlinie.286 Ausweislich dieses Sekundärrechtsakts müssen sogenannte qualifizierte elektronische Signaturen „die rechtlichen Anforderungen an eine Unterschrift in Bezug auf in elektronischer Form vorliegende Daten in gleicher Weise erfüllen wie handschriftliche Unterschriften in Bezug auf Daten, die auf Papier vorliegen“.287 Auch das unionale 283 GA Wahl Schlussanträge v. 8.5.2014 – verb. Rs. C-359/11 u. a. (Schulz u. a.), EU:C:2014:319 Rn. 34: „Ebenso engen diese Bestimmungen die Möglichkeiten der Anbieter erheblich ein, Verträge mit solchen Kunden zu beenden (eine Form des Eingriffs, die eindeutig in der Absicht von Art. 3 der Energierichtlinien liegt, wonach die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, durch Maßnahmen dafür Sorge zu tragen, dass ein Ausschluss von der Versorgung vermieden wird)“. 284 Vgl. zur Lieferverweigerung „eines Unternehmens, das auf dem Markt für ein bestimmtes Erzeugnis über eine beherrschende Stellung verfügt, die Bestellungen eines früheren Kunden auszuführen“ nur EuGH Urt. v. 16.9.2008 – Rs. C-478/06 (GSK), Slg. 2008, I-7174 Rn. 34. Eingehend statt vieler Dauses / Emmerich, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts (2015), H. I. § 3. Art. 102 AEUV Rn. 102 ff.; Langen / Bunte / Bulst (2014), Art. 102 AEUV Rn. 248 ff., 263 ff. und 303 ff., dort jeweils m. w. N. 285 Vgl. auch EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 69: „Es lässt sich daher nicht bestreiten, dass die Schaffung einer Rahmenregelung für Massenentlassungen […] eine Beschränkung der Ausübung der unternehmerischen Freiheit und insbesondere der Vertragsfreiheit darstellt“. 286 Richtlinie 1999/93/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 1999 über gemeinschaftliche Rahmenbedingungen für elektronische Signaturen, ABl. 2000 L 13/12. 287 Vgl. Art. 5 Signaturenrichtlinie. Siehe nur Herresthal, in: Langenbucher (Hrsg), Europäisches Privat- und Wirtschaftsrecht (2013), S. 142 f. Im deutschen Bürgerlichen Ge-

§ 1 Lückenhafter Schutz und Postulat umfassender Vertragsfreiheit

147

Verbrauchervertragsrecht schränkt die Formfreiheit beispielsweise in Art. 8 Abs. 2 Unterabs. 2 Verbraucherrechterichtlinie ein. Diese Vorschrift gibt zwingende „formale Anforderungen bei Fernabsatzverträgen“ im elektronischen Geschäftsverkehr vor und sanktioniert deren Nichteinhaltung.288 Eine weitere, nunmehr unter anderem in § 126b BGB mit Blick auf die Textform umgesetzte Vorgabe enthält die Verbraucherrechterichtlinie in Bezug auf die Speicherbarkeit der Erklärung auf einem dauerhaften Datenträger.289 Darüber hinaus bestimmt z. B. Art. 5 Abs. 1 Time-Sharing-Richtlinie, dass der Vertrag „schriftlich in Papierform oder auf einem anderen dauerhaften Datenträger“ abgefasst werden muss.290 Ähnliche Regelungen enthält etwa die Pauschalreiserichtlinie.291 Im Finanzdienstleistungsvertragsrecht fordert Art. 10 Verbraucherkreditrichtlinie, dass Kreditverträge „auf Papier oder auf einem anderen dauerhaften Datenträger erstellt“ werden.292 Ebensolche Vorgaben macht auch Art. 41 Zahlungsdiensterichtlinie mit Blick auf sogenannte Rahmenverträge. An der Schnittstelle von Verbraucher- und Wirtschaftsvertragsrecht293 verlangt Art. 10 Abs. 3 E-Commerce-Richtlinie,294 dass dem Nutzer die „Vertragsbestimmungen und die allgemeinen Geschäftsbedingunsetzbuch ist diese Vorgabe durch § 126a BGB sowie das Signaturengesetz umgesetzt worden, dazu statt aller Jauernig / Mansel (2015), § 126a BGB Rn. 1 ff. 288 Die Norm lautet auszugsweise: „Wenn der Bestellvorgang die Aktivierung einer Schaltfläche oder eine ähnliche Funktion umfasst, ist diese Schaltfläche oder entsprechende Funktion gut lesbar ausschließlich mit den Worten „zahlungspflichtig bestellen“ […] zu kennzeichnen, die den Verbraucher darauf hinweist, dass die Bestellung mit einer Zahlungsverpflichtung gegenüber dem Unternehmer verbunden ist. Wenn der Unternehmer diesen Unterabsatz nicht einhält, ist der Verbraucher durch den Vertrag oder die Bestellung nicht gebunden“ (Herv. d. Verf.). Siehe zur Einordnung als Formvorschrift nur MünchKommBGB / Wendehorst (2016), § 312j BGB Rn. 32. 289 Vgl. z. B. Art. 7 Abs. 1 und 4, Art. 8 Abs. 1 und 6 Verbraucherrechterichtlinie. Siehe dazu nur Jauernig / Mansel (2015), § 126b BGB Rn. 1. 290 Dieses Formerfordernis gilt nach Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie auch für Vertragsänderungen, soweit diese die in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie genannten Informationen betreffen. 291 Art. 7 Abs. 1 Pauschalreiserichtlinie lautet: „Bei Abschluss des Pauschalreisevertrags bzw. unverzüglich danach stellt der Reiseveranstalter oder Reisevermittler dem Reisenden eine Kopie oder eine Bestätigung des Vertrags auf einem dauerhaften Datenträger zur Verfügung“. 292 Weitere Formerfordernisse enthalten z. B. Art. 11 Abs. 1, Art. 12, Art. 13 Abs. 1 und Art. 18 Abs. 1 Verbraucherkreditrichtlinie. 293 Obschon die E-Commerce-Richtlinie auch Sonderregelungen für Verbraucher vorsieht, definiert sie in Art. 2 lit. d „Nutzer“ allgemein als „jede natürliche oder juristische Person, die zu beruflichen oder sonstigen Zwecken einen Dienst der Informationsgesellschaft in Anspruch nimmt, insbesondere um Informationen zu erlangen oder zugänglich zu machen“. 294 Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt, ABl. 2003 L 178/1.

148

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

gen […] so zur Verfügung gestellt werden, daß er sie speichern und reproduzieren kann“. Formerfordernisse finden sich auch in den Teildisziplinen des Wirtschaftsvertragsrechts: So muss z. B. laut Art. 17 Abs. 3 Gemeinschaftsmarkenverordnung295 „die rechtsgeschäftliche Übertragung der Gemeinschaftsmarke schriftlich erfolgen und bedarf der Unterschrift der Vertragsparteien […]; anderenfalls ist sie nichtig“. Eine gleichlautende Regelung enthält Art. 23 Sortenschutzverordnung.296 Ein Schriftformerfordernis stellte z. B. auch die – mittlerweile aufgehobene – Verordnung über Lagerverträge für Tafelwein auf.297 Schließlich sieht auch Art. 1 Abs. 2 lit. a und b Vergaberichtlinie 2004 die Schriftlichkeit „öffentlicher Aufträge“ bzw. „Bauaufträge“ im unionalen Vergaberecht vor.298 Beachtung verdient schließlich, dass das Unionsrecht jeweils ein autonomes, von den nationalen Kategorien entkoppeltes Verständnis der Formerfordernisse und Formzwecke299 zugrunde legt.300 7. Parteiautonomie Die Parteiautonomie wird durch zahlreiche Regelungen des internationalen Unionsprivatrechts eingeschränkt. Beispielsweise bestimmt Art. 25 Abs. 4, dass Gerichtsstandsvereinbarungen „keine rechtliche Wirkung“ haben, wenn sie Art. 15, 19 oder 23 Brüssel Ia zuwiderlaufen. Die zuletzt genannten Vorschriften lassen Zuständigkeitsvereinbarungen in Versicherungs-, Arbeitssowie in Verbrauchersachen nur unter engen Voraussetzungen zu.301 Eine Verordnung (EG) Nr. 207/2009 des Rates vom 26. Februar 2009 über die Gemeinschaftsmarke, ABl. 2009 L 78/1. 296 Verordnung (EG) Nr. 2100/94 des Rates vom 27. Juli 1994 über den gemeinschaftlichen Sortenschutz, ABl. 1994 L 227/1. 297 Verordnung (EWG) Nr. 1437/70 der Kommission vom 20. Juli 1970 über die Lagerverträge für Tafelwein, ABl. 1970 L 160/16. Vgl. zu diesem Schriftformerfordernis auch EuGH Urt. v. 27.1.1981 – Rs. 1251/79 (Italien / Kommission), Slg. 1981, 205 Rn. 13; GA Verloren van Themaat Schlussanträge v. 18.3.1982 – verb. Rs. 66/81 u. a. (Pommerehnke u. a.), Slg. 1982, 1380, 1384. 298 Dabei stellt Art. 1 Abs. 12 Vergaberichtlinie 2004 klar: „Der Begriff ‚schriftlich‘ umfasst jede aus Wörtern oder Ziffern bestehende Darstellung, die gelesen, reproduziert und mitgeteilt werden kann. Darin können auch elektronisch übermittelte und gespeicherte Informationen enthalten sein“. 299 Vgl. auch Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85, 98 f. 300 Vgl. allgemein etwa EuGH Urt. v. 24.1.2002 – Rs. C-170/00 (Finnland /  Kommission), Slg. 2002, I-1007 Rn. 28 ff. Zur Schriftform nach Art. 4 Verbraucherkreditrichtlinie a. F. führt BGH Urt. v. 6.12.2005 – Az. XI ZR 139/05 NJW 2006, 681, 683 aus, dass diese „Schriftform nicht mit der strengen schriftlichen Form des § 126 BGB gleichzusetzen, sondern eher als „Schriftlichkeit” des Vertrags zu verstehen ist“. 301 Dahinter steht die in Erwägungsgrund Nr. 18 Brüssel Ia aufscheinende Ratio, dass bei „Versicherungs-, Verbraucher- und Arbeitsverträgen […] die schwächere Partei durch Zuständigkeitsvorschriften geschützt werden [sollte], die für sie günstiger sind als die 295

§ 1 Lückenhafter Schutz und Postulat umfassender Vertragsfreiheit

149

weitere Beschränkung der zuständigkeitsrechtlichen Parteiautonomie folgt neben dem Schriftformerfordernis in Art. 25 Abs. 1 Brüssel Ia302 gerade aus den ausschließlichen Zuständigkeiten nach Art. 24, Art. 25 Abs. 4 Brüssel Ia.303 Im Kollisionsrecht schränken neben Eingriffsnormen304 und der OrdrePublic-Klausel305 unter bestimmten Voraussetzungen auch einfach zwingende Regelungen des mitgliedstaatlichen und des unionalen Rechts306 sowie schließlich besondere Kollisionsnormen für Arbeit- und Versicherungsnehmer und Verbraucher die Parteiautonomie ein.307 Anders als die vorstehend behandelten sechs sachrechtlichen Facetten der unionalen Vertragsfreiheit wird die Parteiautonomie zumindest auf Ebene des Sekundärrechts explizit und umfassend verbürgt: So geht etwa Art. 3 Rom I wie auch Art. 14 Rom II von der Rechtswahlfreiheit aus.308 Gleichsam sind Gerichtsstandsvereinbarungen als zuständigkeitsrechtlicher Ausdruck der Parteiautonomie in Art. 25 Brüssel Ia vorgesehen.309 Hier wird deutlich, wie das Regel-Ausnahmeverhältnis im gesamten Unionsrecht beschaffen ist: Den Grundsatz und den Ausgangspunkt bildet immer die umfassende Gewährleistung der unionalen Vertragsfreiheit in all ihren Facetten. Die Einschränkung der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie hingegen ist die – begründungsund stets gesondert regelungsbedürftige – Ausnahme.

allgemeine Regelung“. Entsprechend soll nach Erwägungsgrund Nr. 19 Brüssel Ia „bei Versicherungs-, Verbraucher- und Arbeitsverträgen, […] nur eine begrenztere Vertragsfreiheit zulässig“ sein. 302 Vgl. z. B. EuGH Urt. v. 14.7.1983 – Rs. 201/82 (Gerling), Slg. 1983, 2503 Rn. 13 sowie zuletzt etwa EuGH Urt. v. 21.5.2015 – Rs. C-322/14 (El Majdoub), EU:C:2015:334 Rn. 26 ff. m. w. N. 303 So wahrt die Brüssel Ia ausweislich ihres Erwägungsgrundes Nr. 19 „die Vertragsfreiheit der Parteien hinsichtlich der Wahl des Gerichtsstands“ gerade nur „[v]orbehaltlich der in dieser Verordnung festgelegten ausschließlichen Zuständigkeiten“. 304 Vgl. z. B. Art. 9 Rom I, Art. 16 Rom II. 305 Vgl. z. B. Art. 21 Rom I, Art. 26 Rom II. 306 Vgl. z. B. Art. 3 Abs. 3 und 4 Rom I, Art. 14 Abs. 2 und 3 Rom II. 307 Vgl. nur Art. 6, Art. 7, Art. 8 Rom I. Zum Ganzen statt vieler Staudinger / Magnus (2016), Art. 3 Rom I Rn. 22 ff., 130 ff., 149 ff.; Basedow, The Law of Open Societies (2015), S. 136 ff. 308 Vgl. auch Erwägungsgrund Nr. 11 Rom I: „Die freie Rechtswahl der Parteien sollte einer der Ecksteine des Systems der Kollisionsnormen im Bereich der vertraglichen Schuldverhältnisse sein“. Vgl. ferner Erwägungsgrund Nr. 31 Rom II: „Um den Grundsatz der Parteiautonomie zu achten […], sollten die Parteien das auf ein außervertragliches Schuldverhältnis anzuwendende Recht wählen können“. 309 Laut Erwägungsgrund Nr. 19 Brüssel Ia „sollte die Vertragsfreiheit der Parteien hinsichtlich der Wahl des Gerichtsstands […] gewahrt werden“.

150

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

§ 2 Vertragsfreiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts § 2 Vertragsfreiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts

Ausgehend vom Spektrum allgemeiner Grundsätze des Unionsrechts (A) ist zu fragen, inwieweit die Vertragsfreiheit beim derzeitigen Stand sowohl ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsprivatrechts als auch ein Unionsgrundrecht im Sinne eines allgemeinen Grundsatzes nach Art. 6 Abs. 3 EUV (B) ist. Von einer solch doppelköpfigen Natur allgemeiner Grundsätze des Unionsrechts geht der EuGH beispielsweise im Antidiskriminierungsrecht aus: So ist insbesondere das Verbot der Altersdiskriminierung nach der Lesart des Gerichtshofs nicht nur im Sekundärrecht verankert, sondern zugleich Ausdruck eines allgemeinen Grundsatzes des Unionsrechts310 und Schutzgegenstand der in Art. 21, 23 GRCh garantierten Unionsgrundrechte.311 Da die gesellschaftspolitischen Diskriminierungsverbote die rechtsgeschäftliche Privatautonomie besonders einschneidend verkürzen, liegt es nahe, dass die Vertragsfreiheit als wohl bedeutendstes Gegengewicht die normhierarchische und -systematische Stellung der Diskrimimierungsverbote in der Unionsrechtsordnung teilt. A. Allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts Der Unionsrechtsordnung sind bereits seit den Gründungsverträgen allgemeine Rechtsgrundsätze bekannt, welche das lückenhafte Regelungsgefüge dieser Materie ergänzen.312 Auch die Vertragsfreiheit wird bisweilen von den Generalanwälten des EuGH als ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts behandelt.313 Bevor der Frage nachgegangen werden kann, ob diese Einordnung auf einem soliden Fundament ruht, sind zunächst die dem Unionsrecht bekannten allgemeinen Rechtsgrundsätze zu identifizieren und zu systematisieren. Dabei strebt die vorliegende Abhandlung keine umfassende 310 Vgl. EuGH Urt. v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981 Rn. 74 ff. Mit Blick auf das Unionsprivatrecht sehen Basedow, ZEuP 2008, 230, 244; Metzger, RabelsZ 75 (2011), 845, 879 f. hierin zumindest ein „heuristisches Prinzip“. 311 Deutlich EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 18 ff. Vgl. erneut auch EuGH Urt. v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981 Rn. 74 ff. 312 Vgl. zum „Grundsatz von Treu und Glauben“ z. B. schon EuGH Urt. v. 15.7.1960 – verb. Rs. 43/59 u. a. (Lachmüller u. a.), Slg. 1960, 967, 989; EuGH Urt. v. 16.12.1960 – Rs. 44/59 (Fiddelaar / Kommission), Slg. 1960, 1117, 1139. Eingehend mit weiteren Beispielen Zweigert, RabelsZ 28 (1964), 601, 607 ff.; Tridimas, The General Principles of EU Law (2006), S. 7 ff. 313 Siehe z. B. GA Kokott Schlussanträge v. 17.9.2009 – Rs. C-441/07 P (Kommission /  Alrosa), Slg. 2010, I-5949 Rn. 225. In diesem Sinne bereits GA Trstenjak Schlussanträge v. 28.3.2007 – Rs. C-331/05 P (Internationaler Hilfsfonds / Kommission), Slg. 2007, I-5475 Rn. 93.

§ 2 Vertragsfreiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts

151

Typologie unionaler Rechtsgrundsätze an, sondern fokussiert allein auf die privatrechtsrelevanten Erscheinungsformen.314 Obschon der Gerichtshof zuweilen auf eine genaue Differenzierung verzichtet,315 lassen sich in diesem Bereich mindestens zwei wesentliche Kategorien ausmachen: Zum einen enthält die Unionsrechtsordnung allgemeine Rechtsgrundsätze im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV und zum anderen existieren allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts (I).316 Den unterschiedlichen Arten und Funktionen allgemeiner Rechtsgrundsätze zum Trotz gleichen sich die Methoden zur Identifikation und Gewinnung dieser Grundsätze im Unionsrecht (II). I.

Arten und Funktionen

Sowohl in der Rechtsprechungspraxis des EuGH als auch in den Schlussanträgen seiner Generalanwälte findet sich bisweilen ein geradezu monolithisches Verständnis allgemeiner Rechtsgrundsätze des Unionsrechts: Hierunter sollen nur solche Grundsätze fallen, die in den Mitgliedstaaten mit verfassungsrechtlicher Dignität ausgestattet sind und die zudem ein derart hohes Abstraktionsniveau erreichen, dass sie rechtsgebietsübergreifend gelten.317 Diese Sichtweise orientiert sich ersichtlich an Art. 6 Abs. 3 EUV, der bestimmt: „Die Grundrechte, […] wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, sind als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts“. 314 Entsprechend werden im Folgenden etwa solche allgemeinen Rechtsgrundsätze ausgeklammert, die – wie etwa das Subsidiaritätsprinzip – der Unionsrechtsordnung inhärent sind, siehe zu dieser Kategorie von Rechtsgrundsätzen nur GA Trstenjak Schlussanträge v. 30.6.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 69; Basedow, FS Hopt I (2010), S. 27, 44. 315 So z. B. in EuGH Urt. v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 63. Vgl. auch GA Trstenjak Schlussanträge v. 30.6.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 84 ff. 316 Auch GA Trstenjak Schlussanträge v. 30.6.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 69 und 71, verweist einerseits auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze, „die den Rechts- und Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind“, und arbeitet andererseits heraus, dass im Unionsrecht auch Rechtsgrundsätze existieren, „die dem Vertragsrecht nicht fremd sind, wie z. B. der allgemeine Rechtsgrundsatz pacta sunt servanda“ (Herv. im Original). Siehe ferner nur Basedow, ERPL 24 (2016), 331, 346 ff. 317 Dafür insbesondere EuGH Urt. v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 63: „Die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts haben nämlich Verfassungsrang“. Ebenso GA Trstenjak Schlussanträge v. 30.6.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 84 ff. sowie 69, wobei diese Lesart schwerlich mit der gleichzeitigen Bejahung genuin privat- und insbesondere vertragsrechtlicher allgemeiner Rechtsgrundsätze des Unionsrechts (vgl. Rn. 71) übereinzubringen ist. Siehe aus dem Schrifttum nur Van Ommeslaghe, Droit des obligations (2010), S. 114 („égaux aux règles issues du Traité“); Lang, in: Bernitz / Groussot / Schulyko (eds.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), S. 65, 68 („General principles have constitutional status […] [and] they can override secondary EU legislation and national law“).

152

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

Die Reduktion der allgemeinen Rechtsgrundsätze auf solche mit Grundrechtsqualität findet indes keine Stütze im Unionsrecht. Beispielsweise geht schon aus den Bestimmungen zur außervertraglichen Haftung der EU hervor, dass allgemeine Grundsätze des Unionsrechts existieren, die weder grundrechtlichen Status haben noch überhaupt rechtsgebietsübergreifende Geltung beanspruchen können: Gemäß Art. 340 Abs. 2 AEUV haftet die Union „nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind“.318 Der EuGH hat solche allgemeine Rechtsgrundsätze des unionalen Haftungsrechts etwa im Bereich des Mitverschuldens und der Verzinsung von Schadensersatzansprüchen entwickelt.319 Vor allem ist der Gerichtshof in jüngerer Zeit wiederholt von der Existenz „allgemeiner Grundsätze des Zivilrechts“ ausgegangen.320 Dem Untersuchungsgegenstand dieser Abhandlung entsprechend gilt das Augenmerk zunächst solchen allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsprivatrechts (1). Sodann werden die Grundsätze im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV in den Blick genommen (2). Dabei wird vor allem zu belegen sein, dass die beiden unterschiedlichen Kategorien allgemeiner Rechtsgrundsätze jeweils eine andere normhierarchische Stellung und Funktion im Unionsrecht haben. 1. Allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts Allgemeine Grundsätze des Unionsprivatrechts existieren sowohl im Bereich vertraglicher als auch außervertraglicher Schuldverhältnisse.321 BeispielsweiVgl. hierzu z. B. schon EuGH Urt. v. 3.5.1978 – Rs. 112/77 (Töpfer / Kommission), Slg. 1978, 1019 Rn. 19. 319 So hat EuGH Urt. v. 4.10.1979 – Rs. 238/78 (Ireks-Arkady / Kommission), Slg. 1979, 2955 Rn. 20 zur außervertraglichen Haftung der Union entschieden, dass „im Lichte der den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsamen allgemeinen Rechtsgrundsätze […] ein Zinsanspruch grundsätzlich gegeben“ sei. Siehe dazu Basedow, FS Hopt I (2010), S. 27, 42; ders., AcP 210 (2010), 158, 178; Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 349. 320 EuGH Urt. v. 18.7.2007 – Rs. C-277/05 (Société thermale), Slg. 2007, I-6415 Rn. 24 f. (Herv. d. Verf.). Siehe auch z. B. EuGH Urt. v. 10.4.2008 – Rs. C-412/06 (Hamilton), Slg. 2008, I-2383 Rn. 42; EuGH Urt. v. 3.9.2009 – Rs. C-489/07 (Messner), Slg. 2009, I-7315 Rn. 26; EuGH Urt. v. 15.4.2010 – Rs. C-215/08 (E. Fritz), Slg. 2010, I-2947 Rn. 48; EuGH Urt. v. 19.12.2013 – Rs. C-174/12 (Hirmann), EU:C:2013:856 Rn. 61. Vgl. zu einem „Grundsatz des Zivilrechts, genauer: des Schuldrechts“ auch bereits EuGH Urt. v. 2.4.1998 – Rs. C-296/95 (EMU Tabac) Slg. 1998 I-1605 Rn. 31. Siehe zudem GA Mancini Schlussanträge v. 6.10.1983 – Rs. 92/82 (Gutmann / Kommission), Slg. 1983, 3136 Rn. 3; GA Kokott Schlussanträge v. 30.1.2014 – Rs. C-557/12 (Kone), EU:C:2014:45 Rn. 74. 321 Statt vieler Metzger, Extra legem, intra ius – Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 323 ff.; Hartkamp, RabelsZ 75 (2011), 241, 255 ff.; S. Martens, Methodenlehre des Unionsrechts (2013), S. 155 f.; Hesselink, in: Leczykiewicz / Weatherill (eds.), The Involvement of EU Law in Private Law Relationships (2013), 318

§ 2 Vertragsfreiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts

153

se haben der EuGH und seine Generalanwältin Kokott im Kontext zivilrechtlicher Schadensersatzforderungen gegen Kartellbeteiligte jüngst mit den „allgemeinen Grundsätzen des Zivilrechts“ argumentiert, wonach sich das Verschulden nicht auch auf den eingetretenen Schaden in seiner konkreten Gestalt beziehen muss.322 Im Bereich des Vertragsrechts erwähnt der EuGH den „Grundsatz, dass Verträge eingehalten werden müssen“,323 und erkennt des Weiteren einen Grundsatz an, „dass sich die vollständige Durchführung eines Vertrags in der Regel aus der Erbringung der gegenseitigen Leistungen der Vertragsparteien und der Beendigung des entsprechenden Vertrags ergibt“.324 Zudem postuliert der Gerichtshof einen Grundsatz des Zivilrechts, demgemäß rechtsgrundlos zu viel gezahlte Beträge zurückgefordert werden können.325

S. 131 ff. Wendehorst, GPR 2015, 55, 57; Heinze, Schadensersatz im Unionsprivatrecht (2017), S. 12 ff. Kritisch zu dieser Entwicklung Weatherill, ERCL 6 (2010), 74, 78 ff. 322 Siehe mit Blick auf sogenannte Preisschirmeffekte im Zusammenhang mit der privatrechtlichen Durchsetzung unionalen Kartellrechts GA Kokott Schlussanträge v. 30.1.2014 – Rs. C-557/12 (Kone), EU:C:2014:45 Rn. 74: „Es kommt aber nicht darauf an, ob die Kartellbeteiligten darüber hinaus auch die konkret eingetretenen Schäden vorsätzlich oder fahrlässig verursacht haben. Ein solches Verschuldenserfordernis wäre mit den allgemeinen Grundsätzen des Zivilrechts nicht vereinbar und würde die praktische Durchsetzung der Wettbewerbsregeln übermäßig erschweren“ (Herv. d. Verf.). Vgl. sodann auch EuGH Urt. v. 5.6.2014 – Rs. C-557/12 (Krone u. a.), EU:C:2014:1317 Rn. 31 ff. und insbesondere Rn. 34. 323 EuGH Urt. v. 18.7.2007 – Rs. C-277/05 (Société thermale), Slg. 2007, I-6415 Rn. 24 f.: „Nach den allgemeinen Grundsätzen des Zivilrechts hat nämlich jede Vertragspartei den Vertrag einzuhalten und die vertraglich bedungene Leistung zu erbringen” (Herv. d. Verf.). Siehe zum Grundsatz pacta sunt servanda im Vertragsrecht auch EuG Urt. v. 25.5.2004 – T-154/01 (Distilleria f. Palma) Slg. 2004, II-1493 Rn. 45 sowie z. B. GA Darmon Schlussanträge v. 10.3.1989 – verb. Rs. 266/87 u. a. (Royal Pharmaceutical Society u. a.), Slg. 1989, 1295 Rn. 22; GA Poiares Maduro Schlussanträge v. 25.3.2004 – Rs. C-19/03 (O2 Germany), Slg. 2004, I-8183 Rn. 24; GA Colomer Schlussanträge v. 19.1.2006 – Rs. C-259/04 (Emanuel), Slg. 2006, I-3089 Rn. 38; GA Trstenjak Schlussanträge v. 15.11.2007 – Rs. C-404/06 (Quelle), Slg. 2008, I-2685 Rn. 64; GA Trstenjak Schlussanträge v. 30.6.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 71; GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C:2011:559 Rn. 96. 324 EuGH Urt. v. 10.4.2008 – Rs. C-412/06 (Hamilton), Slg. 2008, I-2383 Rn. 42. 325 Siehe bereits GA Mancini Schlussanträge v. 6.10.1983 – Rs. 92/82 (Gutmann /  Kommission), Slg. 1983, 3136 Rn. 3 und nunmehr auch z. B. EuGH Urt. v. 3.9.2009 – Rs. C-489/07 (Messner), Slg. 2009, I-7315 Rn. 26; EuGH Urt. v. 16.5.2013 – Rs. C-191/12 (Alakor), EU:C:2013:315 Rn. 25 und 28. Auch im Bereich der außervertraglichen Haftung der Union im Sinne des Art. 288 Abs. 2 EG (nunmehr Art. 340 Abs. 2 AEUV) erkennt der EuGH Urt. v. 16.12.2008 – Rs. C-47/07 P (Masdar / Kommission), Slg. 2008, I-9761 Rn. 44 ff. das Rechtsinstitut der ungerechtfertigten Bereicherung als allgemeinen Rechtsgrundsatz an: „Nach den Grundsätzen, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind, hat eine Person, die einen Verlust erlitten hat, der zu einem Vermögenszuwachs bei einer anderen Person geführt hat, ohne dass ein Rechtsgrund für diese Bereiche-

154

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

Schließlich zählt auch das Verbot des Rechtsmissbrauchs bereits zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsprivatrechts.326 Allerdings schwankt der EuGH bei der normhierarchischen Einordnung der allgemeinen Grundsätze des Unionsprivatrechts. So klang etwa in der Audiolux-Entscheidung an, dass allgemeine Rechtsgrundsätze ausnahmslos auf Ebene des Primärrechts stehen und somit als höherrangiges Recht Geltungsvorrang327 vor dem geschriebenen Sekundärrecht beanspruchen können.328 In der Rechtssache Barclays geht der Gerichtshof nun jedoch davon aus, dass die Klauselrichtlinie eine lex specialis zu den ihr zugrunde liegenden – genuin privatrechtlichen – „den Verbraucherschutz und ausgewogene Vertragsverhältnisse betreffenden Grundsätzen des Unionsrechts“ ist.329 rung besteht, im Allgemeinen gegen den Bereicherten einen Herausgabeanspruch bis zur Höhe dieses Verlustes“. 326 Eingehend Basedow, FS Stathopoulos I (2010), S. 159 ff. m. w. N. Siehe zum internationalen Unionsprivatrecht jüngst EuGH Urt. v. 21.5.2015 – Rs. C-352/13 (CDC), EU:C:2015:335 Rn. 29 ff.; v. Hein, LMK 2015, 373398. Siehe zum allgemeinen Verbot des Rechtsmissbrauchs nur EuGH Urt. v. 2.5.1996 – Rs. C-206/94 (Brennet), Slg. 1996, I2357 Rn. 24; EuGH Urt. v. 14.12.2000 – Rs. C-110/99 (Emsland-Stärke), Slg. 2000, I11569 Rn. 52 ff.; EuGH Urt. v. 29.4.2004 – verb. Rs. C-487/01 u. a. (Gemeente Leusden u. a.), Slg. 2004 I-5337 Rn. 78 sowie zuletzt – zusammenfassend – beispielsweise GA Szpunar Schlussanträge v. 20.5.2014 – Rs. C-202/13 (McCarthy), EU:C:2014:345 Rn. 108 ff. Teilweise wird auch Treu und Glauben als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts angesehen, dafür etwa GA Trstenjak Schlussanträge v. 2.6.2011 – Rs. C-118/09 (Koller), Slg. 2010, I-13627 Rn. 81 (dort in Fn. 36); Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 348 f.; Stempel, Treu und Glauben im Unionsprivatrecht (2016). In der Tat postuliert EuGH Urt. v. 3.9.2009 – Rs. C-489/07 (Messner), Slg. 2009, I-7315 Rn. 29 die Existenz von „Grundsätzen des bürgerlichen Rechts wie denen von Treu und Glauben“. Siehe zum Ganzen noch eingehend unten Kapitel 7 § 1 A II 1. 327 Das Konzept des Geltungsvorrangs besagt, dass ein höherrangiger den nachrangigen Rechtsatz seiner Geltung beraubt, statt aller Calliess / Ruffert (2016), Art. 1 AEUV Rn. 18 m. w. N. 328 Vgl. wiederum EuGH Urt. v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I9823 Rn. 63. GA Trstenjak Schlussanträge v. 30.6.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 70 verortet die Grundsätze ausnahmslos im „Primärrecht innerhalb der Normhierarchie der Gemeinschaftsrechtsordnung“. In diesem Sinne z. B. auch Tridimas, The General Principles of EU Law (2006), S. 31 ff. Dagegen aber zu Recht Basedow, AcP 210 (2010), 158, 179 f.; Metzger, RabelsZ 75 (2011), 845, 879; Basedow, ERPL 24 (2016), 331, 336 ff. 329 EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-280/13 (Barclays), EU:C:2014:279 Rn. 43 f.: „Zu den den Verbraucherschutz und ausgewogene Vertragsverhältnisse betreffenden Grundsätzen des Unionsrechts ist festzustellen, dass die Richtlinie 93/13 deren Beachtung dadurch sicherstellen soll, dass in Verbraucherverträgen missbräuchliche Klauseln als Ausdruck einer Unausgewogenheit zwischen den Vertragsparteien beseitigt werden […]. Wenn eine lex specialis wie die Richtlinie 93/13 vorhanden ist, die einen Fall wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden aus ihrem Anwendungsbereich ausschließt, können die ihr

§ 2 Vertragsfreiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts

155

Gleichviel, ob man diese Grundsätze anzuerkennen bereit ist,330 will der EuGH mithilfe des lex specialis-Grundsatzes hier offenkundig einen Normenkonflikt gleichrangiger Regeln auflösen331 und verortet die hinter der Richtlinie stehenden allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts somit nicht im Primär-, sondern vielmehr im Sekundärrecht. Von hier ausgehend bedürfen die Natur und die Beziehung dieser Grundsätze zum geschriebenen Unionsprivatrecht näherer Betrachtung. Zunächst erscheint zweifelhaft, ob der vom EuGH herangezogene Satz lex specialis derogat legi generali das Verhältnis des Sekundärrechts zu den allgemeinen unionsprivatrechtlichen Grundsätzen treffend beschreibt. Denn obschon allgemeine Rechtsgrundsätze abstrakt-generell gefasst sind,332 enthalten sie doch gerade im EU-Privatrecht zuweilen konkretere und umfassendere Regelungen als die Unionsrechtsakte in diesem Bereich.333 Vor allem

zugrunde liegenden allgemeinen Grundsätze daher keine Anwendung finden“ (Herv. d. Verf.). In der Rechtssache war die Klauselrichtlinie nicht anwendbar, da nach den Vorlagefragen Normen des spanischen Vertragsrechts auf ihre Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht hin überprüft werden sollten. Auf Rechtsnormen findet die Klauselrichtlnie indes ausweislich ihres Art. 1 Abs. 2 und des Erwägungsgrundes Nr. 13 keine Anwendung. 330 Einen allgemeinen Grundsatz des Verbraucherschutzes deutete bereits EuGH Urt. v. 10.3.2005 – Rs. C-336/03 (Easycar), Slg. 2005, I-1947 Rn. 21 an: „Stehen diese Begriffe wie im Ausgangsverfahren in einer Bestimmung, die eine Ausnahme von einem allgemeinen Grundsatz oder, spezifischer, von gemeinschaftsrechtlichen Verbraucherschutzvorschriften darstellt, so sind sie außerdem eng auszulegen“ (Herv. d. Verf.). Im Schrifttum hat insbesondere Rösler, Europäisches Konsumentenvertragsrecht (2004), S. 6 und 135 f. diese Sichtweise bereits frühzeitig eingenommen: So spricht er von einem „rechtsordnungsimmanenten Schutzprinzip“ (Herv. im Original) und von einem „auf europäischer Ebene auch in den grundlegenden Dokumenten der Gemeinschaft wie dem EG-Vertrag und der Grundrechtscharta verankert[en]“ Rechtsprinzip. Dezidiert a. A. Riesenhuber, System und Prinzipien des europäischen Vertragsrechts (2003), S. 575. Zurückhaltend auch Heiderhoff, Europäisches Privatrecht (2016), S. 124, die aber im Ergebnis ebenfalls für die Herausbildung spezifischer Grundsätze des Verbraucherschutzes eintritt, welche das gesamte Verbraucherrecht durchdringen und „insbesondere als Auslegungshilfe dienen“ sollen. 331 Siehe zur Funktion des Grundsatzes lex specialis derogat legi generali als Instrument zur Auflösung eines Konfliktes gleichrangiger Regeln nur Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 77 f. 332 In diesem Sinne EuGH Urt. v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I9823 Rn. 50 und 63; GA Trstenjak Schlussanträge v. 30.6.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 84. 333 Als Beispiel mag der seinem Gegenstand nach sehr spezifische unionsprivatrechtliche Grundsatz der Nichtdiskriminierung aufgrund des Alters dienen: Dieser ist weitaus enger gefasst als die sekundärrechtlichen Diskriminierungsverbote in Art. 1 und Art. 3 Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG, vgl. zum – allerdings wohl unionsgrundrechtlich konzipierten – allgemeinen Grundsatz des Verbots der Diskrimimierung aufgrund des Alters nur EuGH Urt. v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981 Rn. 74 ff.; EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 18 ff. Anhand weiterer Beispiele hat Basedow, FS Hopt I (2010), S. 27, 42 f., für das

156

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

dienen allgemeine unionsprivatrechtliche Grundsätze nach der Lesart der Generalanwälte des EuGH zuvörderst der Auslegung des geschriebenen Zivilrechts der Union sowie ferner der Ausfüllung unionsrechtsinterner Regelungslücken334 in Rechtsakten des EU-Privatrechts.335 Diese Funktion käme kaum zum Tragen, wenn das geschriebene Privatrecht der Union stets spezieller wäre.336 Schließlich wird vielfach angenommen, dass die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts regelmäßig erst dann normative Kraft entfalten, nachdem sie mit konfligierenden Grundsätzen abgewogen und in Ausgleich gebracht worden sind.337 In der Summe streitet dies dafür, dass es sich bei den allgemeinen Grundsätzen des Unionsprivatrechts um Rechtsprinzipien handelt: Die Funktion als Auslegungsleitlinie und Instrument zur Lückenfüllung ist für Rechtsprinzipien ebenso charakteristisch wie das Erfordernis der Abwägung mit gegenläufigen Prinzipien.338 Der Terminologie Alexys folgend, sind Prinzipien Normen, die als „Optimierungsgebote“ nur „gebieten, daß etwas in einem relativ auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten möglichst hohen Maße realisiert wird“.339 Treffen widerstreitende Rechtsprinzipien aufeinander, setzt sich daher nicht etwa ein spezifisches Prinzip automatisch durch, sondern es ist erst im Rahmen einer AbUnionsprivatrecht nachgewiesen, dass durchaus auch „sehr spezifische Fragen Gegenstand eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes sein“ können. 334 Eine unionsrechtsinterne Regelungslücke zeichnet sich dadurch aus, dass sie aus der Warte des Unionsgesetzgebers gerade durch das Unionsrechts selbst und nicht etwa durch die Bestimmungen des Privatrechts der EU-Mitgliedstaaten geschlossen werden muss, siehe nur Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft (1999), S. 605 f.; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht (2009), S. 26 f.; Neuner, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre (2015), § 12 Rn. 28 ff. 335 GA Mazák Schlussanträge v. 15.2.2007 – Rs. C-411/05 (Palacios de la Villa), Slg. 2007, I-8531 Rn. 134 ff.; GA Trstenjak Schlussanträge v. 30.6.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 68; GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C:2011:559 Rn. 93. Siehe auch Basedow, FS Hopt I (2010), S. 27, 45; Lenaerts / Gutiérrez-Fons, CMLR 47 (2010), 1629. 336 EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-280/13 (Barclays), EU:C:2014:279 Rn. 44 deutet an, dass es für den Ausschluss der Anwendung allgemeiner Grundsätze bereits ausreichen könnte, dass überhaupt „eine lex specialis wie die Richtlinie 93/13 vorhanden ist“ – mag sie auch auslegungsbedürftig oder lückenhaft sein. 337 Hartkamp, RabelsZ 75 (2011), 241, 256: „Where principles are conflicting in a private law context – as e.g. the principle of non-discrimination and the principle of freedom of contract may in some situations be – the outcome is […] dependent upon […] a weighing process which is conditioned by the circumstances of the case“. Ebenso Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 546 („Abwägungsgebote und vermutlich verbindliche Sätze“); ders., RabelsZ 75 (2011), 845, 879. 338 Siehe im Kontext des Unionsprivatrechts eingehend Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 14 ff., 389 ff., 395 ff., 545 f.; ders., RabelsZ 75 (2011), 845, 879. 339 Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 71 f. sowie 75 und 87 f.

§ 2 Vertragsfreiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts

157

wägung zu ermitteln, welchem Rechtsprinzip mehr Gewicht zukommt.340 Anders verhält es sich, wenn Prinzipien mit geschriebenen Regeln zusammentreffen: Hier gebührt Letzteren im Konfliktfall grundsätzlich Vorrang.341 Versteht man die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts vor diesem Hintergrund als Prinzipien, so lässt sich das vom EuGH in der Rechtssache Barclays postulierte Vorrangverhältnis des geschriebenen Sekundärrechts ebenso wie die Funktion der Grundsätze bei der Auslegung und Lückenfüllung jeweils in befriedigender Weise erklären: Zunächst treten die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts gewöhnlich hinter den Regeln des geschriebenen Privatrechts zurück.342 Dieser Vorrang reicht aber nur so weit, wie das geschriebene Recht tatsächlich eine eindeutige Regelung trifft. Der Rückgriff auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts bleibt möglich, wo z. B. in europäischen Richtlinien oder Verordnungen eine Lücke oder zumindest Auslegungsbedarf besteht.343 Vor diesem Hintergrund erfüllen die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts eine Ergänzungs- und Reservefunktion. Beim Rückgriff auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts sind damit zwei Methoden des Unionrechts miteinander verschränkt: Zum einen verlangt das Unionsprivatrecht bei Unklarheiten oder Lücken dass seine Rechtssätze in einer Weise interpretiert oder ergänzt werden, die mit den diese Materie beherrschenden Grundsätzen konform geht. Somit liegt ein Fall der „unionsprivatrechtskonformen“ Auslegung vor. In der Tat legt die Rechtsprechungspraxis des EuGH344 ein umfassendes Verständnis der unionsrechtskonformen Auslegung dahingehend nahe, dass ihr Referenzpunkt sowohl ein Rechtssatz des Primär- oder Sekundärrechts als auch ein allgemeiner

Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 78 f. Siehe – auch zu möglichen Ausnahmen – wiederum nur Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 76 und 121, der unter Regeln „Festsetzungen im Raum des tatsächlich und rechtlich Möglichen“ versteht, wobei eine Regel – anders als das nur auf Optimierung zielende Prinzip – stets gebiete, „genau das zu tun, was sie verlangt“ (Herv. im Original). 342 Vgl. mit Blick auf allgemeine Grundsätze des Unionsrechts auch Basedow, FS Hopt I (2010), S. 27, 43: „[D]och haben diese Grundsätze ersichtlich keinen Vorrang vor dem sekundären Gemeinschaftsrecht, sondern nur Nachrang; sie sind subsidiär“. 343 Z. B. GA Mazák Schlussanträge v. 15.2.2007 – Rs. C-411/05 (Palacios de la Villa), Slg. 2007, I-8531 Rn. 134 ff.; GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C:2011:559 Rn. 93. Siehe auch Basedow, FS Hopt I (2010), S. 27, 45. 344 Vgl. nur EuGH Urt. v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-403/01 u. a. (Pfeiffer u. a.), Slg. 2004, I-8835 Rn. 114 (richtlinienkonforme als Unterfall der unionsrechtskonformen Auslegung); EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 48, 49 und 50; EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 (Test-Achats), Slg. 2011, I-773 Rn. 28 und 32 (richtlinien- und unionsgrundrechtskonforme Auslegung im Lichte des Diskriminierungsverbots); EuGH Urt. v. 11.11.2015 – Rs. C-505/14 (Klausner), EU:C:2015:742 Rn. 32 (einheitliche Grenze der unionsrechtskonformen Auslegung). 340 341

158

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

Grundsatz des Unionsrechts sein kann.345 Weil die allgemeinen privatrechtlichen Rechtsgrundsätze Bestandteil der Unionsrechtsordnung – und namentlich des EU-Privatrechts als einem ihrer Teilbereiche – sind, bezeichnet die vorliegende Abhandlung den Rekurs auf diese Rechtsgrundsätze als Unterfall der unionsrechtskonformen Auslegung und Rechtsanwendung. Werden die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts auf diese Weise fruchtbar gemacht, so steht zum anderen stets die Frage nach dem Telos des konkreten Unionsprivatrechtsakts im Raum: Die Auslegung und Lückenfüllung im Lichte unionsprivatrechtlicher Rechtsprinzipien setzt nämlich voraus, dass der vorwiegend hinter der jeweiligen Regelung stehende allgemeine Rechtsgrundsatz identifiziert wird. Kommen mehrere konfligierende Rechtsgrundsätze in Betracht, sind diese gegeneinander abzuwägen.346 Dies führt zwangsläufig zum konkreten Zweck der Regelung. Methodisch wirken die als Rechtsprinzipien verstandenen allgemeinen Rechtsgrundsätze daher zugleich im Wege einer – prinzipiengeleiteten – teleologischen Auslegung sowie gegebenenfalls einer teleologischen Rechtsfortbildung347 in das EU-Privatrecht und in das unionsrechtlich determinierte Zivilrecht der Mitgliedstaaten hinein.348 2. Allgemeine Grundsätze i.S.d. Art. 6 Abs. 3 EUV Bereits in der Rechtssache Stauder hat der EuGH ungeschriebene „Grundrechte der Person“ aus „allgemeinen Grundsätzen“ abgeleitet.349 Gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV sind die aus der EMRK sowie „aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten“ folgenden Grundrechte „als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts“.350 Diese ungeschriebenen 345 In diesem Sinne auch W.-H. Roth, EWS 2005, 385, 386; T. Möllers, GS Wolf (2011), S. 669, 670; W.-H. Roth / Jopen, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre (2015), § 13 Rn. 9 f. 346 Siehe nur Hartkamp, RabelsZ 75 (2011), 241, 256; Metzger, RabelsZ 75 (2011), 845, 879 sowie eingehend unten § 3 A III 2. Vgl. erneut auch EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-280/13 (Barclays), EU:C:2014:279 Rn. 43. 347 Statt vieler Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht (2009), S. 26 f. 348 Riesenhuber, in: ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre (2015), § 10 Rn. 42 hebt dabei zu Recht hervor, dass dabei die hinter unionalen Rechtsakten stehenden Rechtsprinzipien bzw. „Schutzrichtungen“ wie z. B. der „Verbraucherschutz“ zu unspezifisch sind und daher stets eine Ausdifferenzierung der konkreten Inhalte erforderlich ist. Anders gewendet müssen also die im jeweiligen Einzelfall betroffenen Facetten der – notwendig abstrakt gehaltenen – Rechtsprinzipien identifiziert werden. 349 EuGH Urt. v. 12.11.1969 – Rs. 29/69 (Stauder), Slg.1969, 419 Rn. 7. Siehe ferner nur EuGH Urt. v. 13.12.1979 – Rs. 44/79 (Hauer), Slg. 1979, 3727 Rn. 15. 350 Diese Normgruppe wird auch in der Auslegungsregel des Art. 52 Abs. 4 GRCh insoweit angesprochen, als sich die in der GRCh enthaltenen Unionsgrundrechte einerseits und die Grundrechte im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV andererseits decken: „Soweit in dieser Charta Grundrechte anerkannt werden, wie sie sich aus den gemeinsamen Verfas-

§ 2 Vertragsfreiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts

159

Unionsgrundrechte stehen normhierarchisch auf Ebene des Primärrechts.351 Teilweise wird zwar angenommen, dass seit Inkrafttreten der GRCh Art. 6 Abs. 3 EUV als „Notnagel prätorischer Rechtsfortbildung eigentlich nicht mehr benötigt“ werde.352 Dem ist schon deshalb zu widersprechen, weil die Grundrechte der GRCh lückenhaft sind 353 und sie ausweislich des Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 EUV zudem auf gleicher Stufe mit den RechtsgrundsatzGrundrechten stehen.354 Sowohl die Generalanwälte als auch der EuGH gehen vor diesem Hintergrund davon aus, dass die ungeschriebenen Unionsgrundrechte jedenfalls insoweit neben die Charta-Grundrechte treten, als die GRCh keine spezielleren oder abschließenden Regelungen enthält.355 Hier können sungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, werden sie im Einklang mit diesen Überlieferungen ausgelegt“. Siehe dazu nur Meyer / Borowsky (2014), Art. 52 GRCh Rn. 44 ff. Darüber hinaus kennt die GRCh auch noch eine weitere Kategorie von Grundsätzen: Namentlich unterscheidet Art. 52 GRCh „Rechte“ auf der einen und „Grundsätze“ auf der anderen Seite. In Art. 52 Abs. 5 GRCh wird sodann nahegelegt, dass der Grad der Verbindlichkeit solcher Grundsätze hinter dem der Rechte zurückbleibt: „Die Bestimmungen dieser Charta, in denen Grundsätze festgelegt sind, können durch Akte der Gesetzgebung und der Ausführung der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union sowie durch Akte der Mitgliedstaaten zur Durchführung des Rechts der Union in Ausübung ihrer jeweiligen Zuständigkeiten umgesetzt werden. Sie können vor Gericht nur bei der Auslegung dieser Akte und bei Entscheidungen über deren Rechtmäßigkeit herangezogen werden“ (Herv. d. Verf.). 351 In diesem Sinne z. B. GA Mazák Schlussanträge v. 15.2.2007 – Rs. C-411/05 (Palacios de la Villa), Slg. 2007, I-8531 Rn. 136 („Teil des primären Gemeinschaftsrechts“); GA Trstenjak Schlussanträge v. 30.6.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 70 („Rang als Primärrecht“). Siehe statt vieler S. Martens, Methodenlehre des Unionsrechts (2013), S. 157 ff.; Jarass (2016), Einl. GRCh Rn. 27. Vgl. zu den Grundrechten der GRCh auch Art. 6 Abs. 1 EUV. 352 Calliess / Ruffert / Kingreen (2016), Art. 6 EUV Rn. 18. Gleichsinnig Oliver, in: Bernitz / Groussot / Schulyko (eds.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), S. 281, 283 ff. 353 Siehe mit Blick auf die Gewährleistung der Vertragsfreiheit erneut oben § 1 A II. Siehe im Übrigen nur GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C:2011:559 Rn. 127; Jarass (2016), Einl. GRCh Rn. 30. 354 GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C:2011:559 Rn 127. 355 Der EuGH greift entsprechend auch nach Inkrafttreten der GRCh auf Art. 6 Abs. 3 EUV und die dort angesprochenen allgemeinen Grundsätze zurück, siehe z. B. EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 21 ff.; EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 (Test-Achats), Slg. 2011, I-773 Rn. 15 ff.; EuGH Urt. v. 24.4.2012 – Rs. C-571/10 (Kamberaj), EU:C:2012:233 Rn. 60 f. Vgl. zudem nur EuG Urt. v. 20.9.2011 – Rs. T-232/10 (Couture Tech), Slg. 2011, II-6469 Rn. 68; EuGH Urt. v. 29.9.2011 – Rs. C-521/09 P (Elf Aquitaine), Slg. 2011, I-8947 Rn. 112; EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 44. Auch GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 14.4.2011 – Rs. C-70/10 (Scarlet Extended), Slg. 2011, I-11959 Rn. 30 stellt heraus, dass „ein Rückgriff auf die […] allgemeinen Grundsätze” des Unionsrecht

160

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

und müssen die allgemeinen Grundsätze im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV eine Auffangfunktion übernehmen, um Inkohärenzen und Schutzdefizite im System der Unionsgrundrechte zu verhindern. Angesichts der primärrechtlichen Natur der allgemeinen Rechtsgrundsätze nach Art. 6 Abs. 3 EUV ist das Unionsprivatrecht an diesen ungeschriebenen Unionsgrundrechten zu messen. Soweit eine unionsprivatrechtliche Regelung eine nicht zu rechtfertigende Verkürzung der Unionsgrundrechte enthält, beanspruchen die allgemeinen Grundsätze nach Art. 6 Abs. 3 EUV – ebenso wie auch die geschriebenen Unionsgrundrechte der GRCh – Geltungsvorrang und führen zur Unwirksamkeit der entgegenstehenden sekundärrechtlichen Regelung.356 Im Verhältnis zum nationalen Recht der Mitgliedstaaten, das eine Richtlinienvorgabe umsetzt und daher in den Anwendungsbereich des Unionsrechts gelangt, entfalten die ungeschriebenen Unionsgrundrechte dagegen im Konfliktfall nur Anwendungsvorrang.357 Aufgrund ihrer primärnur insoweit nicht mehr erforderlich sei, als „diese mit den in der Charta niedergelegten übereinstimmen“. Noch weiter geht GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C282/10 (Dominguez), EU:C:2011:559 Rn 131, wenn sie meint, es sei „nicht auszuschließen, dass die aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen abgeleiteten und sich weiterentwickelnden Grundrechte einen umfangreicheren Schutz als die Grundrechte der Charta gewähren“. Ebenso wohl auch GA Sharpston Schlussanträge v. 18.10.2012 – Rs. C-396/11 (Radu), EU:C:2012:648 Rn. 45 ff.: „Meines Erachtens stellt Art. 6 Abs. 1 und 3 EUV lediglich eine […] „Kodifizierung“ der früher bestehenden Rechtslage dar […]. Sie stellt keinerlei grundsätzlichen Wandel dar“. Für eine umfassendes Nebeneinander von GRCh und allgemeinen Grundsätzen plädieren z. B. Mayer, Int. J. Const L. 11 (2013), 1003, 1007, Hofman /  Mihaescu, EuConst 9 (2013) 73, 77 ff. 356 So hat EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 (Test-Achats), Slg. 2011, I-773 Rn. 16 ff. und 32 f. eine sekundärrechtliche Regelung wegen Verstoßes gegen Art. 21, 23 GRCh für unwirksam erklärt: „Die Bestimmung ist […] als ungültig anzusehen“. Allerdings hat der Gerichtshof in dieser Entscheidung eine Übergangsfrist im Urteil bestimmt. Vgl. zur Wirkung der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV auch EuGH Urt. v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 63; GA Trstenjak Schlussanträge v. 30.6.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 70. 357 Der Anwendungsvorrang besagt, dass „die Verträge und das von der Union auf der Grundlage der Verträge gesetzte Recht […] Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten“ haben, siehe Anhang zur konsolidierten Fassung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union: Erklärungen zur Schlussakte der Regierungskonferenz (17. Erklärung zum Vorrang), ABl. 2008 C 115/344 sowie grundlegend EuGH Urt. v. 15.7.1964 – Rs. 6/64 (Costa / ENEL), Slg. 1964, 1259, 1270. Vgl. zur Wirkung der Unionsgrundrechte im Kontext des Unionsprivatrechts nur EuGH Urt. v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981 Rn. 74 ff. sowie insbesondere 78. Sodann begründet auch EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 19 ff. und insbesondere 27 sowie 50 f. die Verpflichtung nationaler Gerichte, das nationale Recht unangewendet zu lassen, nicht nur unter Verweis auf die sekundärrechtlichen Vorgaben, sondern nimmt ausdrücklich auf den allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts Bezug: „Daraus folgt, dass die Frage, ob das Unionsrecht einer nationalen Regelung wie der im Ausgangs-

§ 2 Vertragsfreiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts

161

rechtlichen Natur wirken die allgemeinen Grundsätze im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV somit auf andere Weise auf das Privatrecht ein als die allgemeinen Grundsätze des Unionsprivatrechts. Darüber hinaus sind die Grundsätze nach Art. 6 Abs. 3 EUV nicht nur bei Lücken oder Unklarheiten in Rechtsakten des EU-Privatrechts heranzuziehen: Vielmehr ist im Wege der unionsgrundrechtskonformen Auslegung stets sicher zu stellen, dass das Privatrecht der EU im Einklang mit den Unionsgrundrechten interpretiert und angewendet wird.358 II. Induktive Gewinnung allgemeiner Rechtsgrundsätze Wenngleich keine durchgehend einheitliche Methode zur Gewinnung allgemeiner Rechtsgrundsätze in der Rechtsprechung des EuGH feststellbar ist, lassen sich doch drei wesentliche Elemente identifizieren, derer sich der Gerichtshof bei der Ermittlung von Rechtsgrundsätzen des Unionsrechts bedient: Im Zentrum steht ein Induktionsschluss (1), der sowohl auf unionsrechtsimmanente Quellen (2) als auch auf rechtsvergleichend und durch die Heranziehung völkervertraglicher Abkommen (3) gewonnene Erkenntnisse gestützt werden kann. Bestätigt wird diese Lesart nicht zuletzt durch Art. 6 Abs. 3 EUV, der mit Blick auf die – induktive – Ermittlung ungeschriebener Unionsgrundrechte ausdrücklich die Berücksichtigung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen und der EMRK verlangt. 1. Zweistufiges Begründungsverfahren Die allgemeinen Grundsätze im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV ebenso wie die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts sind im Wege einer induktiven Verallgemeinerung zu ermitteln: Dabei wird von speziellen Rechtsregeln auf den dahinterstehenden allgemeinen Rechtsgrundsatz geschlossen.359 Im Anschluss an Basedow baut diese Abhandlung bei der Gewinnung allgemeiner Rechtsgrundsätze des Unionsrechts auf ein zweistufiges verfahren fraglichen entgegensteht, auf der Grundlage des jede Diskriminierung wegen des Alters verbietenden allgemeinen Grundsatzes des Unionsrechts, wie er in der Richtlinie 2000/78 konkretisiert ist, zu prüfen ist […]. Es obliegt daher dem nationalen Gericht […], die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten, indem es erforderlichenfalls jede diesem Verbot entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet lässt “ (Herv. d. Verf.). 358 Siehe zur unionsgrundrechtskonformen Auslegung als Form der Privatrechtswirkung der Unionsgrundrechte im Privatrecht noch eingehend unten Kapitel 3 § 1 A III 2. Vgl. zudem nur EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 (Test-Achats), Slg. 2011, I-773 Rn. 16 ff.; EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 30 ff. 359 Siehe mit Blick auf allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 37 ff.; Basedow, FS Hopt I (2010), S. 27, 33 ff.

162

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

Begründungsverfahren: Auf der ersten Stufe wird das empirische Fundament für den Induktionsschluss gelegt.360 Dies erfolgt durch eine Zusammenschau all jener Regelungen des Unionsrechts, des nationalen Rechts der EUMitgliedstaaten und des Völkerrechts, die als spezifischer Ausdruck des zu ermittelnden allgemeinen Rechtsgrundsatzes in Betracht kommen.361 Auf zweiter Stufe ist sodann zu prüfen, ob die empirische Basis einen Induktionsschluss dahingehend rechtfertigt, dass in der Unionsrechtsordnung ein allgemeiner Grundsatz entsprechenden Inhalts besteht.362 2. Unionsrechtsimmanente Betrachtung Den Eckstein des empirischen Fundaments zur induktiven Gewinnung allgemeiner unionsrechtlicher Grundsätze bildet eine Bestandsaufnahme in der Rechtsordnung der EU.363 Nach der Rechtsprechung des EuGH ist jedoch zu beachten, dass die Existenz nur bereichsspezifischer Vorschriften „für sich genommen noch nicht für den Nachweis der Existenz eines allgemeinen Grundsatzes des Gemeinschaftsrechts genügt, insbesondere wenn ihr Anwendungsbereich auf sehr genau festgelegte und bestimmte Rechte beschränkt ist“.364

Während speziellen und eher vereinzelten Regelungen damit allenfalls Indizwirkung zukommt, liegt die Annahme eines allgemeinen Grundsatzes des Unionsrechts umso näher, je umfassender ein bestimmter Grundsatz in unterschiedlichen Materien nachweisbar ist.365 Regelmäßig ist daher zwar zu fordern, dass ein Rechtsgrundsatz „mehrere Verankerungen im positiven Recht gefunden hat und auf diese Weise seine grundlegende Bedeutung erkennen

360 Basedow, FS Hopt I (2010), S. 27, 41 und 44; ders., ERPL 24 (2016), 331, 346. In diese Richtung weist auch die „prozedurale Theorie“ von Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 545 f. 361 Basedow, FS Hopt I (2010), S. 27, 41; ders., ERPL 24 (2016), 331, 346. Siehe auch Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 379 ff. und insbesondere 384. 362 Basedow, FS Hopt I (2010), S. 27, 41 bezeichnet dies als „argumentative Phase, in der der Induktionsschluss von den besonderen Regeln auf den Bestand eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes gerechtfertigt wird“. 363 Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 380 spricht auch von „durch Gesamtanalogie aus mehreren Vorschriften des acquis communautaire gewonnenen Rechtsprinzipien“. 364 EuGH Urt. v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 34. 365 EuGH Urt. v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 34 und 42 betont insoweit den „allgemeine[n] übergreifende[n] Charakter, der […] allgemeinen Rechtsgrundsätzen naturgemäß innewohnt“. Auch laut Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 383 ist der „Grad an insitutioneller Verkörperung eines Prinzips im positiven Recht […] entscheidend für seine Überzeugungskraft“.

§ 2 Vertragsfreiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts

163

lässt“.366 Zugleich ist die Ermittlung wie auch die Überzeugungskraft von Rechtsgrundsätzen des Unionsrechts keineswegs an feste Kennziffern gebunden: Da es um allgemeine Grundsätze geht, muss weniger nach einer Mindestanzahl positiv-rechtlicher Verbürgungen als vielmehr nach der Weite ihres Anwendungsbereichs und damit nach der Verbreitung des dahinterstehenden Prinzips gefragt werden.367 Selbst wenn das empirische Fundament für den Induktionsschluss nur aus wenigen Vorschrifen besteht, kann diese Grundlage bereits ausreichen, sofern die betreffenden Regelungen einen ausgedehnten, rechtsgebietsübergreifenden Anwendungsbereich beanspruchen.368 Nach der Lesart des EuGH können allerdings nur solche Vorschriften den Induktionsschluss stützen, die den ihnen zugrunde liegenden allgemeinen Rechtsgrundsatz und seinen Inhalt unzweideutig erkennen lassen.369 3. Rechtsvergleichung und Völkerrecht Als Fundament der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts können darüber hinaus Regelungen der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen sowie des Völkerrechts dienen.370 Dies gilt sowohl für die Ermittlung unionsprivatrechtlicher Grundsätze als auch für die Unionsgrundrechte im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV. Bei Letzteren kommt der EMRK als völkervertraglichem Übereinkommen besondere Bedeutung zu: Gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV sind nämlich 366 Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 384. Vgl. auch GA Trstenjak Schlussanträge v. 30.6.2009 – Rs. C101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 94. 367 Vgl. wiederum EuGH Urt. v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I9823 Rn. 34. Vgl. auch GA Trstenjak Schlussanträge v. 30.6.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 69; GA Mazák Schlussanträge v. 20.7.2008 – Rs. C-47/07 P (Masdar), Slg. 2008, I-9761 Rn. 45. Somit stellt auch Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 60, zu Recht heraus, dass die Existenz eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes nicht allein „von einer möglichst hohen Zahl von Rechtsregeln ab[hängt], welche den Grundsatz stützen“. 368 Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 384. 369 EuGH Urt. v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 34 („zwingend formuliert“). Vgl. bereits EuGH Urt. v. 12.7.2001 – Rs. C-189/01 (Jippes), Slg. 2001, I-5689 Rn. 74. 370 Siehe schon EuGH Urt. v. 13.7.1989 – Rs. 5/88 (Wachauf), Slg. 1989, 2609 Rn. 17: „Nach ständiger Rechtsprechung […] gehören die Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die der Gerichtshof zu wahren hat. Bei der Gewährleistung dieser Rechte hat der Gerichtshof von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten auszugehen […]. Auch die völkerrechtlichen Verträge über den Schutz der Menschenrechte […] können Hinweise geben, die im Rahmen des Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen sind“. Ebenso auch z. B. EuGH Urt. v. 18.6.1991 – Rs. C-260/89 (ERT), Slg. 1991, I-2925 Rn. 42; EuGH Urt. v. 18.12.1997 – Rs. C-309/96 (Annibaldi), Slg. 1997, I-7493 Rn. 12.

164

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

„[d]ie Grundrechte, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, […] als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts“.

Zugleich verpflichtet Art. 6 Abs. 3 EUV zur Verfassungsrechtsvergleichung, wobei allerdings ein von nationalen Konzeptionen entkoppeltes, unionsrechtlich-autonomes Verfassungsverständnis maßgeblich ist: Schon weil die EU selbst beim derzeitigen Stand der Rechtsentwicklung nicht über ein klassisches Verfassungsdokument verfügt,371 spricht vieles dafür, dass auch bei Art. 6 Abs. 3 EUV kein formales Verständnis der Verfassung angelegt werden darf. Die Bezugnahme auf die Verfassungsüberlieferungen ist zudem auch nach dem Sinn und Zweck des Art. 6 Abs. 3 EUV weit zu verstehen, da nur auf diese Weise überhaupt die Rechtsordnungen aller Mitgliedstaaten – und damit auch solche ohne Verfassung im kontinental-europäischen Sinne – in die Betrachtungen einbezogen werden können. Diese Lesart findet eine Stütze in den Ausführungen der Generalanwältin Trstenjak, die in ihren Schlussanträgen in der Rechtssache Dominguez mit Blick auf die Ermittlung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes des Unionsrechts herausstellt: „Unschädlich ist dabei, dass nicht alle Mitgliedstaaten ihm Verfassungsrang innerhalb ihrer Rechtsordnungen einräumen, denn jedenfalls wird er als ein Kernbestandteil des nationalen Rechts angesehen“.372

Art. 6 Abs. 3 EUV verlangt somit eine wertende Rechtsvergleichung durch den EuGH,373 bei der weder „die Methode des kleinsten gemeinsamen Nenners“ angewendet wird noch überhaupt gefordert wird, dass die „Rechtsgrundsätze in ihrer konkreten Ausformulierung auf Gemeinschaftsebene immer in allen verglichenen Rechtsordnungen gleichzeitig vorkommen“.374 Die im Zuge der rechtsvergleichenden Bestandsaufnahme wie auch die durch die Analyse des Völkerrechts identifizierten Regeln sind demnach keine verbindlichen „Rechtsquellen, sondern […] Rechtserkenntnisquellen“, mit deren Hilfe eigenständige allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts identifi-

Basedow, FS Hopt I (2010), S. 27, 41. GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C:2011:559 Rn 112 (Herv. d. Verf.). 373 Statt vieler Schwarze / Hatje (2012), Art. 6 EUV Rn. 18 m. w. N. 374 GA Trstenjak Schlussanträge v. 30.6.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I9823 Rn. 69. Auch GA Mazák Schlussanträge v. 20.7.2008 – Rs. C-47/07 P (Masdar), Slg. 2008, I-9761 Rn. 45 wendet sich dagegen „dass die von den Gemeinschaftsgerichten angewandten Grundsätze der außervertraglichen Haftung den Grundsätzen, die in den Rechtsordnungen sämtlicher Mitgliedstaaten vorhanden sind, genau entsprechen müssen – oder können – oder dass sie in gewisser Weise „automatisch“ als gemeinsame Nenner aus den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten abgeleitet werden können“. 371 372

§ 2 Vertragsfreiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts

165

ziert werden können.375 Dies eröffnet denkbar weite Spielräume, wie insbesondere die Rechtssache Mangold verdeutlicht: Der dort postulierte allgemeine Rechtsgrundsatz des Verbots der Diskriminierung aufgrund des Alters ist – abgesehen von der finnischen Verfassung – kaum einer Rechtsordnung der EU-Mitgliedstaaten in dieser Form bekannt.376 Sieht man von dieser Ausnahme ab, so fordert der Gerichtshof in seiner bisherigen Spruchpraxis in der Regel zumindest eine gewisse Konvergenz der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen.377 Jedenfalls sobald ein Grundsatz in der „Verfassungsüberlieferung“ einer überwiegenden Mehrheit der Mitgliedstaaten enthalten ist, liegt die Existenz eines entsprechenden allgemeinen Grundsatzes des Unionsrechts durchaus nahe.378 Sowohl bei der Identifikation allgemeiner privatrechtlicher Grundsätze als auch bei der Ermittlung der Grundsätze im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV muss das rechtsvergleichend gelegte empirische Fundament demnach kein monolithischer Block sein, um einen Induktionsschluss tragen zu können. Erforderlich und zugleich ausreichend sind vielmehr „grundlegendend[e] Rechtsgedanken und Wertvorstellungen, die einer Rechtsordnung eigen sind“, sofern diese einen „allgemeinen übergreifenden Charakter“ haben.379 III. Zwischenfazit Die Unionsrechtsordnung enthält allgemeine Rechtsgrundsätze verschiedener Abstraktionsgrade, die unterschiedliche Funktionen erfüllen und auf verschiedenen normhierarchischen Stufen angesiedelt sind.380 Für die Zwecke 375 Streinz / ders. (2012), Art. 6 AEUV Rn. 25. Ebenso Jarass (2016), Einl. Rn. 29. Tridimas, The General Principles of EU Law (2006), S. 6 formuliert treffend, die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts seien zwar häufig „children of national law but as brought up by the Court, they become enfants terribles: they are extended, narrowed, restated, transformed by a creative and eclectic judicial process“ (Herv. im Original). 376 Anklänge finden sich allenfalls noch in der spanischen Verfassung, dazu statt vieler GA Mazák Schlussanträge v. 15.2.2007 – Rs. C-411/05 (Palacios de la Villa), Slg. 2007, I8531 Rn. 88; Mayer, Int. J. Const. L. 11 (2013), 1003, 1008. Tridimas, The General Principles of EU Law (2006), S. 6 meint gar, der EuGH könne auch einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts anerkennen, ohne dass dieser Grundsatz überhaupt nur in einer einzigen mitgliedstaatlichen Rechtsordnung bekannt ist. 377 EuGH Urt. v. 28.3.2000 – Rs. 7/98 (Krombach), Slg. 2000, I-1935 Rn. 25 verlangt zumindest „Hinweise“ in den jeweiligen Rechtsordnungen. 378 GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C:2011:559 Rn 111 (dort in Fn. 115); Lenaerts / Gutiérrez-Fons, CMLR 47 (2010), 1629, 1633. 379 So schon Basedow, FS Hopt I (2010), S. 27, 41 unter Bezugnahme auf GA Trstenjak Schlussanträge v. 30.6.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn 87 sowie 84. 380 Schon ausweislich des Wortlauts des Art. 6 Abs. 3 EUV „sind […] allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts“, ohne dass es irgendwelcher konstitutiver Zwischenschritte bedürfte. Keine Zustimmung verdient daher Starke, EU-Grundrechte und Vertrags-

166

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

dieser Untersuchung werden zwei Kategorien allgemeiner Rechtsgrundsätze aufgrund ihrer besonderen Privatrechtsrelevanz in den Blick genommen: Auf der einen Seite stehen allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts. Hierbei handelt es sich um Rechtsprinzipien, die regelmäßig der Abwägung mit gegenläufigen Prinzipien bedürfen. Im Anschluss an die in der französischen Rechtswissenschaft verbreitete Aufgliederung381 hat Metzger drei wesentliche Funktionen solcher allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts identifiziert: Sie dienen der Gesetzesauslegung (secundum legem), der Gesetzesergänzung (praeter legem) und in besonderen Ausnahmefällen auch der Gesetzeskorrektur (contra legem).382 Auf der anderen Seite existieren ungeschriebene Unionsgrundrechte in Gestalt allgemeiner Grundsätze gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV, die primärrechtlichen Rang haben. Im Einzelfall können allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts freilich mit den allgemeinen Grundsätzen gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV oder auch mit geschriebenen Unionsgrundrechten zusammenfallen.383 recht (2016), S. 262 f., soweit er meint, die Frage, ob die Vertragsfreiheit ein allgemeinem Rechtsgrundsatz des EU-Rechts sei, führe in eine Sackgasse, weil allgemeine Rechtsgrundsätze nur das Produkt von „in Urteile gegeossene[n] Schaffensakten“ des EuGH seien. Wie Art. 6 Abs. 3 EUV verdeutlicht, werden allgemeinen Rechtsgrundsätze nicht erst im Wege der richterrechtlichen Rechtsfortbildung geschaffen, sondern durch den EuGH allenfalls als Teil der Unionsrechtsordnung identifiziert. Wie hier mit Blick auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts auch Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 107 („nicht Teil des Richterrechts“, sondern „geltendes Recht“). 381 Vgl. nur Terré, Introduction générale au droit (2009), S. 279 f. m. w. N. 382 Metzger, Extra legem, intra ius – Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 179 ff., 183 ff., 185 ff. sowie zusammenfassend S. 553. Ebenso nun auch Hartkamp, RabelsZ 75 (2011), 241, 242; Hesselink, in: Leczykiewicz / Weatherill (eds.), The Involvement of EU Law in Private Law Relationships (2013), S. 131, 149; S. Martens, Methodenlehre des Unionsrechts (2013), S. 155 ff. 383 Ein Beispiel hierfür ist wiederum das Verbot der Diskrimimierung aufgrund des Alters: Dieses durch EuGH Urt. v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981 Rn. 74 ff. zunächst als allgemeiner Grundsatz im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV bezeichnete Verbot ist beim derzeitigen Stand der Rechtsentwicklung sowohl ein Unionsgrundrecht nach Art. 21 GRCh als auch ein allgemeiner Grundsatz des Unionsprivatrechts im Sinne eines Prinzips, welches mit anderen Prinzipien abgewogen und in Ausgleich gebracht werden muss, in diese Richtung z. B. Basedow, ZEuP 2008, 230, 244; Metzger, RabelsZ 75 (2011), 845, 879 f. Ein weiterer doppelköpfiger allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts ist der „Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub“: Dieser ist zunächst als Rechtsprinzip bei der Auslegung und Lückenfüllung des unionalen Sekundärrechts zu berücksichtigen, vgl. nur EuGH Urt. v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C:2012:33 Rn. 16, m. w. N. aus der ständigen Rechtsprechung. Dem steht laut EuGH Urt. v. 22.5.2014 – Rs. C-539/12 (Lock), EU:C:2014:351 Rn. 14 gerade nicht entgegen, dass dieser Grundsatz zusätzlich („im Übrigen“) auch „in Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausdrücklich verankert [ist], der in Art. 6 Abs. 1 EUV derselbe rechtliche Rang wie den Verträgen zuerkannt wird“.

§ 2 Vertragsfreiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts

167

Die allgemeinen Grundsätze des Unionsprivatrechts ebenso wie die Grundsätze im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV sind im Rahmen eines zweistufigen Verfahrens zu identifizieren: Zunächst muss die empirische Basis für den Induktionsschluss ermittelt werden, indem diejenigen Regelungen des Unionsrechts, des nationalen Rechts der EU-Mitgliedstaaten und des Völkerrechts in den Blick genommen werden, die als spezifischer Ausdruck des zu ermittelnden allgemeinen Rechtsgrundsatzes in Betracht kommen. Sodann ist zu prüfen, ob diese Grundlage einen Induktionsschluss dahingehend rechtfertigt, dass in der Unionsrechtsordnung ein allgemeiner Grundsatz entsprechenden Inhalts besteht. Dabei sind folgende Anforderungen an einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts zu stellen: Erstens muss der Grundsatz jeweils zum „Kernbestandteil“ der supranationalen und mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen sowie des Völkerrechts zählen.384 Zweitens muss der Grundsatz „allgemeine Geltung“385 beanspruchen und darf daher regelmäßig nicht nur auf einen isolierten Rechtsbereich beschränkt sein. Drittens muss der Rechtsgrundsatz auch ein „Mindestmaß an normativer Bestimmtheit“ aufweisen.386 B. Unionsrechtsimmanente, völkerrechtliche und rechtsvergleichende Bestandsaufnahme Durch eine Bestandsaufnahme im Unionsrecht (I) sowie in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen (II) und im Völkerrecht (III) wird im Folgenden zunächst das erforderliche empirische Fundament gelegt, bevor sodann ein allgemeiner unionsgrund- und unionsprivatrechtlicher Grundsatz der Vertragsfreiheit induktiv begründet werden kann. I.

Unionsrechtsimmanente Betrachtung

1. Unionsprivatrecht Wie bereits ausgeführt, anerkennt das Unionsrecht die Vertragsfreiheit in sieben Facetten sowohl ausdrücklich als auch implizit durch die vielfaltigen Beschränkungen dieser Freiheit.387 Das Spektrum der Materien, in denen der Unionsgesetzgeber und der EuGH einen „Grundsatz der Vertragsfreiheit“ postulieren, reicht dabei vom Verbraucher- über das Finanzdienstleistungs-

384 Vgl. GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C: 2011:559 Rn. 112. 385 GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C: 2011:559 Rn. 112. 386 Vgl. GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C: 2011:559 Rn. 112. 387 Siehe bereits ausführlich oben § 1 B I und II.

168

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

bis hin zum Wirtschaftsvertragsrecht.388 Darüber hinaus erheben auch rechtsgebietsübergreifende Rechtsakte, wie etwa das EU-Antidiskriminierungsrecht, die Vertragsfreiheit zur Regel.389 Erkennt man überdies die Parteiautonomie als Facette der unionalen Vertragsfreiheit an,390 so finden sich gerade in der Judikatur des Gerichtshofs weitere Hinweise auf die Omnipräsenz und den übergreifenden Charakter dieser Freiheit. Namentlich hat der EuGH im internationalen Zuständigkeitsrecht bereits in der Rechtsache Anterist angedeutet, dass die in Art. 17 EuGVÜ verbürgte Freiheit zum Abschluss von Gerichtsstandsvereinbarungen nur „eine Bestätigung des Grundsatzes der Parteiautonomie darstellt“ und diese Autonomie somit nur eine Ausprägung eines übergeordneten Grundsatzes des internationalen Unionsprivatrechts ist.391 Ganz in diesem Sinne begreift der Gerichtshof in seiner Unamar-Entscheidung nun auch die kollisionsrechtliche Parteiautonomie gemäß Art. 3 Rom I als Ausdruck des allgemeinen „Grundsatz[es] der Vertragsautonomie der Parteien“.392 In der Zusammenschau liefert somit bereits die unionsrechtsimmanente Betrachtung eine breite Basis für einen Induktionsschluss dahingehend, dass das Unionsprivatrecht einen allgemeinen Grundsatz der Vertragsfreiheit enthält. 2. Grundrechtliche Verbürgung Dass die Charta und insbesondere deren Art. 16 GRCh kaum die einzige unionsgrundrechtliche Verbürgung der Vertragsfreiheit in der EU-RechtsordSiehe erneut eingehend oben § 1 B I und II. Siehe wiederum nur Art. 3 Abs. 2 Unisexrichtlinie 2004/113/EG: „Für jede Person gilt der Grundsatz der Vertragsfreiheit“. 390 Vgl. erneut oben § 1 B I 7 und II 7. Siehe zur „Vertragsfreiheit der Parteien hinsichtlich der Wahl des Gerichtsstands“ erneut Erwägungsgründe Nr. 15 und 19 Brüssel Ia sowie zum umfassenden „Vorrang der Vertragsfreiheit der Parteien“ im Rahmen des Art. 25 Brüssel Ia nur GA Jääskinen Schlussanträge v. 11.12.2014 – Rs. C-353/13 (CDC), EU:C:2014:2443 Rn. 106 f. Siehe zum Grundsatz der „Vertragsautonomie“ schließlich nur EuGH Urt. v. 7.2.2013 – Rs. C-543/10 (Refcomp), EU:C:2013:62 Rn. 27 f.; EuGH Urt. v. 21.5.2015 – Rs. C-322/14 (El Majdoub), EU:C:2015:334 Rn. 26; EuGH Urt. v. 17.10.2013 – Rs. C-184/12 (Unamar), EU:C:2013:663 Rn. 49. 391 EuGH Urt. v. 24.6.1986 – Rs. 22/85 (Anterist), Slg. 1986, 1951 Rn. 14: „Da Artikel 17 des Übereinkommens eine Bestätigung des Grundsatzes der Parteiautonomie darstellt, ist sein Absatz 3 so auszulegen, dass der gemeinsame Wille der Parteien bei Abschluss des Vertrags respektiert wird“. Der EuGH sieht die Legitimation der freien Gerichtsstandswahl auch unter der Brüssel Ia weiterhin in dem allgemeinen „Grundsatz der Vertragsautonomie“, siehe nur EuGH Urt. v. 7.2.2013 – Rs. C-543/10 (Refcomp), EU:C:2013:62 Rn. 27 f.; EuGH Urt. v. 21.5.2015 – Rs. C-322/14 (El Majdoub), EU:C:2015:334 Rn. 26. 392 EuGH Urt. v. 17.10.2013 – Rs. C-184/12 (Unamar), EU:C:2013:663 Rn. 49. Ebenso sieht z. B. GA Kokott Schlussanträge v. 6.11.2014 – Rs. C-564/13 P (Planet AE/Kommission), EU:C:2014:2352 Rn. 32 f. in der Rechtswahl gerade eine Form des „privatautonomen Zugriff[s]“. 388 389

§ 2 Vertragsfreiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts

169

nung enthalten, legt schon folgende Erwägung nahe: Sowohl das Vereinigte Königreich als auch Polen haben gemäß Protokoll Nr. 30 einen Vorbehalt gegen die Anwendung der GRCh eingelegt.393 Wäre die Vertragsfreiheit nur in der GRCh verbürgt, gäbe es keinerlei unionsrechtlichen Schutz der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie, soweit dieser Vorbehalt in Protokoll Nr. 30 reicht.394 Zu Recht führt Lenaerts daher mit Blick auf das Protokoll Nr. 30 allgemein aus: „General principles […] take over where the scope of application of the Charter ends“.395 In der Tat finden sich zahlreiche Anhaltspunkte dafür, dass die Vertragsfreiheit als ungeschriebenes Unionsgrundrecht im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV garantiert wird. Namentlich gehen der Gerichtshof und seine Generalanwälte davon aus, dass der „Grundsatz der Vertragsfreiheit“ in der Unionsrechtsordnung als subjektives Abwehrrecht gegen hoheitliche Interventionen verbürgt ist.396 Für die grundrechtliche Dignität und mithin für die primär393 Laut Art. 1 Abs. 1 Protokoll (Nr. 30) über die Anwendung der Charta der Grundrechte auf Polen und das Vereinigte Königreich, ABl. 2008 C 115/313, bewirkt die GRCh „keine Ausweitung der Befugnis des Gerichtshofs der Europäischen Union oder eines Gerichts Polens oder des Vereinigten Königreichs zu der Feststellung, dass die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die Verwaltungspraxis oder -maßnahmen Polens oder des Vereinigten Königreichs nicht mit den durch die Charta bekräftigten Grundrechten, Freiheiten und Grundsätzen im Einklang stehen“. 394 Der EuGH Urt.v. 21.12.2011 – verb. Rs. C-411/10 (N.S.), Slg. 2011, I-13905 Rn. 119 f. sieht in besagtem Protokoll allerdings ohnehin nur eine Auslegungsregel zu Art. 51 GRCh und gerade keinen Vorbehalt gegen die Anwendung der Charta: „Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung ergibt sich, […] dass das Protokoll (Nr. 30) nicht die Geltung der Charta für das Vereinigte Königreich oder für Polen in Frage stellt“. 395 Lenaerts / Gutiérrez-Fons, CMLR 47 (2010), 1629, 1659. Siehe auch Wollenschläger, in: Hatje / Müller-Graff (Hrsg.), EnzEuR I: Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht (2014), § 8 Rn. 97; Grabitz / Hilf / Nettesheim / Mayer (2015), Nach Art. 6 EUV Rn. 62. Zweifelnd Schwarze / Hatje (2012), Art. 51 GRCh Rn. 21. 396 Siehe z. B. EuGH Urt. v. 5.10.1999 – Rs. C-240/97 (Spanien / Kommission), Slg. 1999, I-6571 Rn. 99 (unionsrechtliche Zulässigkeit von Vertragsänderungen im Kontext von Beihilfen für die Verarbeitung von Zitrusfrüchten); EuGH Urt. v. 28.4.2009 – Rs. C518/06 (Kommission / Italien), Slg. 2009, I-3491 Rn. 66 (Kontrahierungszwang als Eingriff in die Vertragsfreiheit von Versicherern); EuGH Urt. v. 14.10.2010 – Rs. C-61/09 (Landkreis Bad Dürkheim), Slg. 2010, I-9763 Rn. 55 (unionsrechtliche Zulässigkeit einer vertraglichen Flächenüberlassung im Kontext landwirtschaftlicher Beihilfen); EuGH Urt. v. 29.6.2010 – Rs. C-441/07 P (Kommission / Alrosa), Slg. 2010, I-5949 Rn. 109 ff. (Wettbewerbsrecht als Schranke der Vertragsfreiheit im Unionsrecht); EuG Urt. v. 18.9.1992 – Rs. T-24/90 (Automec / Kommission), Slg. 1992, II-2223 Rn. 51 f. (unionsrechtliche Zulässigkeit eines Kontrahierungszwangs); EuG Urt. v. 12.12.2000 – Rs. T-128/98 (Aéroports de Paris / Kommission), Slg. 2000, II-3929 Rn. 82 f. (Vertragsfreiheit als Maßstab für Weisungen der Kommission). Siehe ferner nur GA Cosmas Schlussanträge v. 24.9.1998 – verb. Rs. C-127/96 u. a. (Hernández Vidal), Slg. 1998, I-8179 Rn. 87 (Wahrung der Vertragsfreiheit beim Betriebsübergang); GA Jacobs Schlussanträge v. 28.1.1999 – verb. Rs. C-

170

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

rechtliche Natur dieses Grundsatzes streitet, dass der Unionsgesetzgeber die Mitgliedstaaten in einigen Rechtsakten ausdrücklich verpflichtet, die „Vertragsfreiheit gemäß dem Unionsrecht“ zugunsten Privater zu gewährleisten.397 Darüber hinaus wird die rechtsgeschäftliche Privatautonomie gerade als Rechtfertigung für die Beschränkung der Grundfreiheiten des Binnenmarktes ins Feld geführt.398 Vor allem ordnen sowohl der Gerichtshof als auch seine Generalanwälte einzelne Facetten des „Grundsatzes der Vertragsfreiheit“ explizit als grundrechtliche Garantien ein: Dies betrifft insbesondere die Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit, aber auch die Inhaltsfreiheit als Kernelemente der Vertragsfreiheit.399 67/96 u. a. (Albany), Slg. 1999, I-5751 Rn. 161 (Verhandlungen als unionsgrundrechtlich durch die Vertragsfreiheit geschützte Tätigkeit). 397 Siehe nur Art. 12 Abs. 1 lit. g Richtlinie 2011/98/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über ein einheitliches Verfahren zur Beantragung einer kombinierten Erlaubnis für Drittstaatsangehörige, sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufzuhalten und zu arbeiten, sowie über ein gemeinsames Bündel von Rechten für Drittstaatsarbeitnehmer, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten, ABl. 2011 L 343/1; Art. 23 Abs. 1 lit. e Richtlinie 2014/36/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zwecks Beschäftigung als Saisonarbeitnehmer, ABl. 2014 L 94/375; Art. 18 Abs. 2 lit. e Richtlinie 2014/66/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen im Rahmen eines unternehmensinternen Transfers, ABl. 2014 L 157/1. Siehe ferner schon Art. 14 Abs. 2 Richtlinie 2009/50/EG des Rates vom 25. Mai 2009 über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer hochqualifizierten Beschäftigung, ABl. 2009 L 155/17 („Vertragsfreiheit nach Maßgabe des Gemeinschaftsrechts“). In diese Richtung weist auch z. B. Art. 37 Abs. 1 lit. l Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie und Art. 41 Abs. 1 lit. l Erdgasbinnenmarktrichtlinie. 398 Vgl. GA Poiares Maduro Schlussanträge v. 23.5.2007 – Rs. C-438/05 (Viking), Slg. 2007, I-10779 Rn. 49: „Der Gerichtshof kann unterschiedliche Prüfungsmaßstäbe anlegen, abhängig vom Ursprung und der Schwere des der Ausübung der Verkehrsfreiheit entgegenstehenden Hindernisses und der Bedeutung sowie der Stichhaltigkeit hiermit konkurrierender Belange der Privatautonomie“ (Herv. d. Verf.). 399 So stellt EuGH Urt. v. 16.12.1992 – verb. Rs. C-132/91 u. a. (Katsikas u. a.), Slg. 1992, I-6577 Rn. 32 im Kontext der Betriebsübergangsrichtlinie heraus, dass kein Arbeitnehmer „verpflichtet werden kann, für einen Arbeitgeber zu arbeiten, den er nicht frei gewählt hat“, da eine solche Verpflichtung „gegen Grundrechte des Arbeitnehmers“ verstieße. Gleichsinnig EuGH Urt. v. 11.7.1985 – Rs. 105/84 (Mikkelsen), Slg. 1985, 2639 Rn. 16. Siehe nun mit Blick auf die Arbeitgeberseite – freilich im Rahmen des Art. 16 GRCh – auch EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 30 ff. Die Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit betont zudem etwa GA Jacobs Schlussanträge v. 28.5.1998 – Rs. C-7/97 (Bronner), Slg. 1998, I-7794 Rn. 56. Die Freiheit, den Inhalt einer Vereinbarung auszuhandeln, sieht GA Jacobs Schlussanträge v. 28.1.1999 – verb. Rs. C-67/96 u. a. (Albany), Slg. 1999, I-5751 Rn. 161 grundrechtlich bereits „durch den allgemeinen Grundsatz der Vertragsfreiheit geschützt. Ein besonderer Grundrechtsschutz wird daher nicht benötigt“.

§ 2 Vertragsfreiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts

171

II. Umschau in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen Sowohl die Europäische Kommission400 als auch der EuGH401 und seine Generalanwälte402 postulieren, dass die Vertragsfreiheit in den Rechtsordnungen aller Mitgliedstaaten der Union verankert ist. Diese Annahme wird nachfolgend im Rahmen einer rechtsvergleichenden Umschau überprüft. Um eine möglichst breite und repräsentative Basis von Rechtsordnungen zu gewinnen, gilt die Aufmerksamkeit – jenseits der überkommenen Einteilung in Rechtskreise – gerade auch den Rechtsystemen solcher Staaten, die erst seit jüngerer Zeit zu den Mitgliedern der EU zählen. Neben Frankreich (1), Deutschland (2), Belgien (3), Österreich (4), dem Vereinigten Königreich (5), Spanien (6), Portugal (7) und Italien (8) werden daher auch Ungarn (9), Polen (10), Litauen (11) sowie schließlich Schweden (12) in den Blick genommen. Dabei ist jeweils der Frage nachzuspüren, ob die Vertragsfreiheit jeweils als allgemeiner Grundsatz sowohl des Privatrechts als auch des Verfassungsrechts verankert ist. 1. Frankreich a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts Der französische Code civil setzt die Vertragsfreiheit unter anderem in Art. 6403 sowie in Art. 1105404 voraus, und seit der Schuldrechtsreform betont Art. 1102 nun ausdrücklich die „liberté contractuelle“: „Chacun est libre de contracter ou de ne pas contracter, de choisir son cocontractant et de déterminer le contenu et la forme du contrat dans les limites fixées par la loi“.405

Laut Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat – Ein kohärenteres europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan, ABl. 2003 C 61/1, 14 bildet die Vertragsfreiheit „in allen Mitgliedstaaten das Kernstück des Vertragsrechts“. 401 Z. B. EuGH Urt. v. 16.12.1981 – Rs. 244/80 (Foglia), Slg. 1981, 3045 Rn. 29; EuGH Urt. v. 7.9.2006 – Rs. C-125/05 (Vulcan Silkeborg), Slg. 2006, I-1451 Rn. 47; EuGH Urt. v. 18.1.2007 – Rs. C-421/05 (City Motors Groep), Slg. 2007, I-653 Rn. 24. 402 Z. B. GA Jacobs Schlussanträge v. 28.5.1998 – Rs. C-7/97 (Bronner), Slg. 1998, I7794 Rn. 56; GA Poiares Maduro Schlussanträge v. 23.5.2007 – Rs. C-438/05 (Viking), Slg. 2007, I-10779 Rn. 49 ff. Zuletzt spricht etwa GA Wahl Schlussanträge v. 12.2.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:85 Rn. 29 von „den fest in den Rechtstraditionen der Mehrzahl der Mitgliedstaaten im Bereich des Vertragsrechts verankerten Grundsätzen der Willensautonomie und der Vertragsfreiheit“. 403 Die Norm lautet: „On ne peut déroger, par des conventions particulières, aux lois qui intéressent l‘ordre public et les bonnes mœurs“. 404 Die Norm setzt namentlich die Vertragstypenfreiheit voraus und lautet auszugsweise: „Les contrats, qu’ils aient ou non une dénomination propre, sont soumis à des règles générales“. 405 Art. 1102 al. 2 Code civil stellt sodann heraus: „La liberté contractuelle ne permet pas de déroger aux règles qui intéressent l’ordre public“. Siehe dazu statt aller Malaurie /  Aynès / Stoffel-Munck, Droit des obligations (2016), Rn. 449. 400

172

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

Überdies stellt Art. 1103 (vormals Art. 1134) Code civil heraus: „Les contrats légalement formés tiennent lieu de loi à ceux qui les ont faits“.406

Vor diesem Hintergrund nimmt es kaum Wunder, dass die Vertragsfreiheit auch in der französischen Rechtsprechung als allgemeiner Grundsatz des Zivil- und Handelsrechts anerkannt wird: Die Cour de cassation spricht in diesem Kontext von einem übergreifenden „principe de la liberté contractuelle“, das sich nicht zuletzt bei der Auslegung und Anwendung des Code civil entfaltet.407 Als Facetten der Vertragsfreiheit werden unter anderem die Abschluss-408 und Vertragspartnerwahlfreiheit,409 die Typen-410, Vertragsbeendigungs-411 sowie die Form- und Inhaltsfreiheit412 geschützt.413 Damit ist die Vertragsfreiheit als allgemeiner privatrechtlicher Grundsatz fest in der französischen Rechtsordnung verankert. b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung „La liberté contractuelle, [est-elle] un droit de l’homme?“414 – Während sich der französische Code civil eindeutig zur Vertragsfreiheit bekennt, rankte Siehe zur Herleitung und Verortung der Vertragsfreiheit im Rahmen des Code civil statt vieler Terneyre, FS Peiser (1995), S. 473 ff.; Leveneur, AJDA 1998, 676 ff.; Malaurie / Aynès / Stoffel-Munck, Droit des obligations (2016), Rn. 449. 407 Deutlich etwa Cass. soc. v. 1.12.1999 – n° 97-43.496 (non publié); Cass. com. v. 29.11.2011 – n° 10-26.060 (non publié); Cass. com. v. 10.9.2013 – n° 12-21.804, D. 2013, 2812; Cass. 1re civ. v. 16.10.2013 – n° 12-27.574 (non publié); Cass. 3ème civ. v. 17.2.2015 – n° 14-13.703 (non publié). Siehe insbesondere auch Cass. ass. plén. v. 26.3.1999 – n° 9717.136, D. 1999, 369 m. Anm. Delebecque („la liberté contractuelle […] a une valeur de principe“) sowie Mestre, RTD Civ. 1999, 615 („valeur normative du principe de liberté contractuelle“). Dagegen bemerken Malaurie / Aynès / Stoffel-Munck, Droit des obligations (2016), Rn. 449 mit Blick auf die ausdrückliche Erwähnung der Vertragsfreiheit in Art. 1102 Code civil: „[L]‘ordonnance de 2016 est la première à en faire un principe de droit privé “ (Herv. d. Verf.). 408 Siehe zur „liberté de ne pas conclure“ z. B. Cass. com. v. 18.9.2012 – n° 11-19.629, RTD Civ. 2012, 721; Cass. 1re civ. v. 11.9.2013 – n° 12-20.844 (non publié). Siehe auch CA Versailles v. 28.11.2013 – n° 11/06741 (non publié). Gleichsinnig („la liberté contractuelle implique le droit de ne pas contracter“) auch z. B. CA Nancy v. 25.11.2013 – n° 13/02298 (non publié). 409 Z. B. Cass. soc. v. 11.3.2015 – n° 13-19.545 (non publié); CA Paris Pôle 5 Ch. 11 v. 25.10.2013 – n° 11/11656 (non publié). 410 Vgl. wiederum Art. 1105 Code civil. 411 Z. B. Cass. com.v. 8.10.2013 – n° 12-22.952, D. 2013, 2617. 412 Z. B. Cass. 1re civ. v. 16.10.2013 – n° 12-27.574 (non publié). 413 Zum Ganzen statt vieler Leveneur, AJDA 1998, 676 ff.; Terré / Simler / Lequette, Droit civil – Les obligations (2013), Rn. 24, 203 sowie 264; Fages, Droit des Obligations (2013), Rn. 31, 44, 59 und 165. 414 Kayanama, in: Chabot / Didier / Ferrand (éd.), Le code civil et les droits de l’homme (2005), S. 131 ff. 406

§ 2 Vertragsfreiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts

173

lange Zeit ein erbitterter Streit darum, ob diese Freiheit auch grundrechtlich garantiert wird.415 Der Conseil constitutionnel stellte sich zunächst auf den Standpunkt, „qu‘aucune norme de valeur constitutionnelle ne garantit le principe de la liberté contractuelle“.416 Demgegenüber hat das Schrifttum die Grundrechtsqualität der Vertragsfreiheit frühzeitig mit der Déclaration des droits de l‘homme et du citoyen de 1789 und insbesondere unter Verweis auf deren Art. 4 begründet.417 Nach anfänglichem Schwanken macht sich der französische Conseil constitutionnel diese Lesart nun zu eigen und betont, „que le législateur ne saurait porter à l‘économie des conventions et contrats légalement conclus une atteinte d‘une gravité telle qu'elle méconnaisse manifestement la liberté découlant de l‘article 4 de la Déclaration des droits de l‘homme et du citoyen de 1789“.418

Der Conseil anerkennt und schützt seither in ständiger Rechtsprechung „la liberté contractuelle, qui découle de l‘article 4 de la Déclaration de 1789“.419 Gesetze, welche die Vertragsfreiheit unverhältnismäßig verkürzen, erklärt der Conseil constitutionnel seither für unvereinbar mit der Verfassung.420 Das Siehe zu dieser Kontroverse nur Terneyre, FS Peiser (1995), 473 ff. m. w. N. Siehe aus jüngerer Zeit sodann z. B. Fages, Droit des Obligations (2013), Rn. 31. 416 Zuletzt z. B. Cons. const. DC v. 3.8.1994 – n° 94-348, Rec. 1994, 117 Rn. 9; Cons. const. DC v. 20.3.1997 – n° 97-388, Rec. 1997, 31 Rn. 48 („que le principe de liberté contractuelle n’a pas en lui-même valeur constitutionnelle; […] que ne résulte ni de l‘article 4 de la Déclaration des droits de l’homme et du citoyen ni d‘aucune autre norme de valeur constitutionnelle un principe constitutionnel dit de l‘autonomie de la volonté“). 417 Vgl. nur Carbonnier, Droit civil II (1956, 2004), S. 1946. Art. 4 Déclaration des droits de l‘homme et du citoyen de 1789 lautet: „La liberté consiste à pouvoir faire tout ce qui ne nuit pas à autrui: ainsi, l’exercice des droits naturels de chaque homme n’a de bornes que celles qui assurent aux autres Membres de la Société la jouissance de ces mêmes droits. Ces bornes ne peuvent être déterminées que par la Loi“. 418 So im Kontext der Einführung der 35-Stunden-Woche erstmals Cons. const. DC v. 10.6.1998 – n° 98-401, Rec. 1998 Rn. 29 Siehe ferner nur Cons. const. DC v. 19.12.2000 – n° 2000-437 Rec. 2000, 190 Rn. 37; Cons. const. DC v. 13.6.2013 – n° 2013-672, Rec. 2013, 817 Rn. 6 ff.; Cons. const. QPC v. 1.8.2013 – n° 2013-337, JORF 2013, 13319 Rn. 4 und 9; Cons. const. DC v. 29.12.2013 – n° 2013-682 Rec. 2013, 1094 Rn. 43 ff.; Cons. const. DC v. 20.3.2014 – n° 2014-691 JORF 2014, 5925 Rn. 7, 35 und 69. Vgl. zur Anbindung an die „liberté d’entreprendre“ schon Cons. const. DC v. 8.1.1991 – n° 90-283, Rec. 1991, 11 Rn. 12 ff. Im Übrigen wird die Vertragsfreiheit auch in anderen Bereichen gesondert geschützt, vgl. etwa zur „liberté contractuelle du défunt“ nur Cons. const. QPC v. 1.8.2013 – n° 2013-337, JORF 2013, 13319 Rn. 2, 4 und 9 sowie zur Eheschließungsfreiheit z. B. Cons. const. DC v. 13.8.1993 – n° 93-325, Rec. 1993, 224 Rn. 3 ff. und schließlich zur Vereinigungsfreiheit nur Cons. const. DC v. 19.7.1971 – n° 71-44, Rec. 1971, 29 Rn. 2. 419 Z. B. Cons. const. QPC v. 1.8.2013 – n° 2013-337, JORF 2013, 13319 Rn. 4. Ohne Analyse der französischen Rechtsprechung a. A. dennoch z. B. Starke, EU-Grundrechte und Vertragsrecht (2016), S. 262 f. (dort insbesondere in Fn. 81). 420 Siehe zur „déclaration d‘inconstitutionnalité“ etwa Cons. const. DC v. 13.6.2013 – n° 2013-672, Rec. 2013, 817 Rn. 11 ff. und insbesondere 13 f. („Considérant […] que les dispositions de l‘article L. 912-1 du code de la sécurité sociale portent à la liberté 415

174

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

Verdikt der Verfassungswidrigkeit ereilte beispielsweise Teile der Loi n° 89462 du 6 juillet 1989:421 In einigen Bestimmungen dieses Gesetzes, das – ähnlich der in Deutschland in §§ 556d ff. BGB eingefügten „Mietpreisbremse“ – 422 Mieterhöhungen nur noch unter engen Voraussetzungen zulässt, sah der Conseil constitutionnel einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Vertragsfreiheit der Vermieter.423 Aufwind hat die Überprüfung privatrechtlicher und insbesondere vertragsrechtsrelevanter Regelungen am Maßstab der Grundrechte durch die Einführung des Normenkontrollverfahrens der „question prioritaire de constitutionalité“ im Jahre 2010 gewonnen. 424 Darüber hinaus wirkt die Rechtsprechung des Conseil constitutionnel zur „liberté contractuelle“ auch in zivilrechtliche Verfahren hinein, da sowohl die Gerichte als auch die Parteien vermehrt mit der grundrechtlichen Verbürgung der Vertragsfreiheit argumentieren.425

d‘entreprendre et à la liberté contractuelle une atteinte disproportionnée au regard de l‘objectif poursuivi […] ces dispositions […] doivent être déclarées contraires à la Constitution“). In diesem Sinne schon zuvor Terneyre, AJDA 1998, 676, 682 f., der zumindest eine „quasi-constitutionnalisation“ der Vertragsfreiheit feststellt. 421 Loi n° 89-462 du 6 juillet 1989 tendant à améliorer les rapports locatifs et portant modification de la loi n° 86-1290 du 23 décembre 1986, JORF 1989, 8541. 422 Eingefügt durch Gesetz zur Dämpfung des Mietanstiegs auf angespannten Wohnungsmärkten und zur Stärkung des Bestellerprinzips bei der Wohnungsvermittlung (Mietrechtsnovellierungsgesetz – MietNovG) vom 21. April 2015, BGBl. I 2015, S. 610. 423 Zu diesem Zweck wird ein regionaler Referenzmietpreis durch eine Behörde erstellt, von dem nur bei „außergewöhnlichen“ Mietsachen unter engen Voraussetzungen Abweichungen zulässig sein sollten. Hierin sah der Cons. const. DC v. 20.3.2014 – n° 2014-691, JORF 2014, 5925 Rn. 25 f., eine unverhältnismäßige Verkürzung der Vertragsfreiheit: „[L]e législateur a […] ainsi porté à […] la liberté contractuelle une atteinte disproportionnée à l’objectif poursuivi; que, par suite, […] l’article 17 de la loi du 6 juillet 1989, dans sa rédaction résultant de l’article 6, le mot « exceptionnel » doit être déclaré contraire à la Constitution“. 424 Vgl. Art. 61 al. 1 Constitution française du 4 octobre 1958, eingefügt durch Loi constitutionnelle n° 2008-724 du 23 juillet 2008 de modernisation des institutions de la Ve République, JORF 2008, 11890. Jüngere Beispiele sind etwa mit Blick auf Art. 918 Code civil Cons. const. QPC v. 1.8.2013 – n° 2013-337, JORF 2013, 13319 sowie im Kontext der Art. L. 1226-4 und R. 4624-35 Code du travail Cass. soc. 2.10.2013 – n° 13-40.051 (non publié). 425 Vgl. nur CA Colmar v. 23.10.2013 – n° 11/03900 (non publié): „La SARL […] considère que le premier juge a fait une mauvaise interprétation des dispositions de l‘article L 145-39 du code de commerce en portant une atteinte grave au principe de la liberté contractuelle et à l'article 4 de la Déclaration des droits de l'homme, de sorte que la demande de révision aurait du être déclarée irrecevable. Elle entend faire prévaloir le principe de la liberté contractuelle ayant valeur constitutionnelle sur les dispositions précitées du code de commerce“ (Herv. d. Verf.). Vgl. ferner nur CA Versailles v. 31.10.2013 – n° 12/04024 (non publié); CA Aix-en-Provence v. 26.11.2013 – n° 13/00470 (non publié).

§ 2 Vertragsfreiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts

175

2. Deutschland a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts Das deutsche Privatrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches baut auf dem Grundsatz der Vertragsfreiheit auf, der in § 311 Abs. 1 BGB vorausgesetzt wird.426 Bereits die Motive stellen die Vertragsfreiheit ins Zentrum: „Vermöge des Prinzipes der Vertragsfreiheit, von welchem das Recht der Schuldverhältnisse beherrscht wird, können die Parteien ihre Rechts- und Vertragsbeziehungen nach ihrem Ermessen mit obligatorischer Wirkung unter sich bestimmen“.427

Auch in der ständigen Rechtsprechung des Reichsgerichts428 und sodann des Bundesgerichtshofs429 sowie des Bundesverfassungsgerichts430 wird der „Grundsatz der Vertragsfreiheit“ zum Ausgangspunkt im Vertragsrecht genommen. Bemerkenswert ist dabei, dass der Bundesgerichtshof der Vertragsfreiheit in der deutschen Rechtsordnung eine Doppelnatur zuerkennt: Namentlich handelt es sich hierbei um einen allgemeinen „das deutsche Recht beherrschenden Grundsatz“431 des Privatrechts und zugleich um eine grundrechtliche Gewährleistung.432 b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung Die Vertragsfreiheit war bereits in Art. 152 Weimarer Reichsverfassung vom 1.8.1919433 garantiert. Obschon das deutsche Grundgesetz der VertragsfreiMit Blick auf die Vorläufernorm zu § 311 BGB in § 305 BGB a. F. spricht etwa BGH Beschl. v. 12.11.1952 – Az. IV ZB 93/52, BGHZ 8, 23, 31 von dem „Grundsatz der Vertragsfreiheit (§ 305 BGB)“. Siehe statt vieler auch HKK / Thier (2007), § 311 I BGB Rn. 1. 427 Motive II, S. 2 = Mugdan II, S. 1. Die Vorlagen der Redaktoren für die erste Kommission führen dazu weiter aus: „Der die Rechtsordnung zur Anerkennung der rechtsgestaltenden Kraft der Willenserklärung bestimmtende Grund beruht in der Erkenntniß der Nothwendigkeit der Autonomie der Person im Privatrecht und der Vertragsfreiheit insbesondere im Verkehrsrecht“, Schubert (Hrsg.), Die Vorlagen der Redaktoren für die erste Kommission, Schuldrecht I (1980), S. 136. 428 RG Urt. v. 3.5.1930 – Az. V B 6/30, RGZ 128, 246, 249 f. 429 Z. B. BGH Urt. v. 28.6.1952 – Az. II ZR 263/51, BeckRS 1952, 31203107; BGH Beschl. v. 12.11.1952 – Az. IV ZB 93/52, BGHZ 8, 23, 31; BGH Urt. v. 7.5.1975 – Az. VIII ZR 210/73, NJW 1975, 1268, 1269; BGH Urt. v. 27.9.2012 – Az. IX ZR 15/12, ZEV 2013, 272, 274; BGH Urt. v. 10.7.2013 – VIII ZR 388/12, NJW 2013, 2820, 2821. 430 Siehe z. B. BVerfG Beschl. v. 7.9.2010 – Az. 1 BvR 2160/09 u. a., NJW 2011, 1339, 1341: Der „Grundsatz der Vertragsfreiheit“ ist bei der Inhaltskontrolle von Preisanpassungsklauseln durch Zivilgerichte immer zu beachten. 431 Z. B. BGH Urt. v. 17.9.1954 – Az. V ZR 79/53, BGHZ 14, 306, 308. 432 So betont zuletzt z. B. BGH Urt. v. 15.1.2013 – Az. XI ZR 22/12, NJW 2013, 1519, 1521 die Gewährleistung der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie durch „die privatrechtliche Vertragsfreiheit und die grundgesetzlichen Freiheitsrechte“ (Herv. d. Verf.). Gleichsinnig etwa Jauernig / Stadler (2015), § 311 BGB Rn. 3. 426

176

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

heit keine eigene Vorschrift mehr widmet, genießt diese Freiheit nach der Lesart des Bundesverfassungsgerichts umfassenden grundrechtlichen Schutz. Soweit nicht speziellere Freiheitsgrundrechte, wie etwa die Berufsfreiheit nach Art. 12 GG, einschlägig sind,434 wird die Vertragsfreiheit als Ausfluss der allgemeinen Handlungsfreiheit durch Art. 2 Abs. 1 GG verbürgt.435 3. Belgien a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts Die Vertragsfreiheit ist durch die belgische Rechtsprechung ebenfalls als allgemeiner Grundsatz des Privatrechts anerkannt.436 Als solcher umfasst er insbesondere die Abschluss-, Vertragspartnerwahl-, Inhalts-, Form- und Typenfreiheit.437 Dabei findet dieser Grundsatz – ebenso wie im französischen Recht – vor allem in Art. 6, Art. 1107, Art. 1123 sowie Art. 1134 belgischer Code civil Ausdruck.438 Laut belgischer Cour de cassation umfasst der Grundsatz der Vertragsfreiheit „la liberté de toute personne de conclure des conventions à son gré“.439 Als Element der „liberté d’entreprende“ ist die Vertragsfreiheit nunmehr auch im Wirtschaftsvertragsrecht und namentlich in Art. II.2 und Art. II.3 Code de droit économique440 verbürgt.441

433 RGBl. 1919, S. 1383. Die Vorschrift lautet auszugsweise: „Im Wirtschaftsverkehr gilt Vertragsfreiheit nach Maßgabe der Gesetze“. 434 Siehe nur BVerfG Urt. v. 12.12.2006 – Az. 1 BvR 2576/04, BVerfGE 117, 163, 181; BVerfG Beschl. v. 6.7.2010 – Az. 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286, 300 und 313 ff. Zum Ganzen statt aller Maunz / Dürig / Di Fabio (2016), Art. 2 GG Rn. 103 m. w. N. 435 Z. B. BVerfG Beschl. v. 12.11.1958 – Az. 2 BvL 4/56 u. a., BVerfGE 8, 274, 328 (PreisG); BVerfG Beschl. v. 12.1.1967 – Az. 1 BvR 335/63, BVerfGE 21, 87, 90 (Genehmigung nach GrdstVG); BVerfG Beschl. v. 4.6.1985 – Az. 1 BvL 12/84, BVerfGE 70, 115, 123 (Klauselkontrolle nach dem AGBG); BVerfG Beschl. v. 19.10.1993 – Az. 1 BvR 567/89 u. a., BVerfGE 89, 214, 231 (Angehörigenbürgschaft); BVerfG Urt. v. 6.2.2001 – Az. 1 BvR 12/92, BVerfGE 103, 89, 100 (Ehevertrag); BVerfG Beschl. v. 13.5.2015 – Az. 1 BvQ 9/15, NJW 2015, 1815, 1817 (Bestellerprinzip). 436 Deutlich z. B. Cour constitutionnelle v. 1.9.2008 – n° 130/2008, M.B. 2008, 48885, 48888 („principe général de droit de la liberté contractuelle“); Cass. 1re v. 13.9.1991 – RG 7015, Pasic. 1992.I, 33; Cour du Travail de Mons v. 26.1.2011 – n° 2011/162, RG 2009/AM/21839, 5 („principe de la liberté contractuelle“). Siehe zur Stellung dieses Rechtsgrundsatzes im belgischen Privatrecht nur Van Ommeslaghe, Droit des obligations (2010), S. 85 ff. und 153 ff. 437 Z. B. Van Ommeslaghe, Droit des obligations (2010), S. 85 ff. und 155; Wéry, Droit des obligations I (2011), S. 125 ff. 438 Statt vieler Wéry, Droit des obligations I (2011), S. 124. 439 Cass. 1re v. 13.9.1991 – RG 7015, Pasic. 1992.I, 33. 440 Loi introduisant le Code de droit économique v. 28.2.2013, M.B. 2013, 19975. 441 Siehe dazu nur Demarsin / Keirsblick, ZEuP 2016, 859, 872.

§ 2 Vertragsfreiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts

177

b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung Die belgische Cour constitutionnelle zieht die Vertragsfreiheit in ihrer verfassungsrechtlichen Entscheidungspraxis als allgemeines Rechtsprinzip heran und spricht namentlich von einem „principe général de droit de la liberté contractuelle, qui découle de la liberté de commerce et d’industrie“.442

Darüber hinaus wird die Vertragsfreiheit in einigen Entscheidungen auch als „liberté des conventions“ auf Art. 1134 belgischer Code civil gestützt.443 Bemerkenswert ist, dass die Cour constitutionnelle die Vertragsfreiheit mit anderen – verfassungsrechtlich garantierten – Positionen abwägt. So führt die Cour constitutionnelle beispielsweise im Kontext des unter anderem in Art. 10 und Art. 11 Constitution belge verankerten Diskrimierungsverbots444 aus: „Eu égard à l’objectif des lois attaquées, les modalités relatives à cette obligation ne peuvent être considérées comme portant une atteinte disproportionnée à la liberté des conventions qui fait l’objet de l’article 1134 du Code civil“.445

In diesem Zusammenhang definiert die Cour constitutionnelle die „liberté contractuelle” ausdrücklich als „la sphère dans laquelle le droit autorise les citoyens à conclure des conventions à leur gré“.446 Entsprechend soll die Vertragsfreiheit durchaus Schutz gegen Einschränkungen bieten können, die ungerechtfertigt oder in dieser Form nicht erforderlich sind und außer Verhältnis zum verfolgten Ziel stehen: „Elle ne serait violée que si elle était limitée sans nécessité et de manière manifestement disproportionnée au but poursuivi“.447 442 Z. B. Cour constitutionnelle v. 1.9.2008 – n° 130/2008, M.B. 2008, 48885, 48888. Siehe ferner nur Cour constitutionnelle v. 10.11.2011 – n° 166/2011, M.B. 2012, 7373, 7377. Allerdings beruht die „liberté de commerce et d’industrie“ ihrerseits auf Art. 7 Décret des 2–17 mars 1791 portant suppression de tous les droits d‘aides, de toutes les maîtrises et jurandes, et établissement de patentes (Décret d‘Allarde). Diese Regelung soll durch die Loi du 29 mars 2013 introduisant le Code de droit économique, M.B. 2013, 19975, 19984, abgeschafft werden. 443 Siehe Cour constitutionnelle v. 12.2.2009 – n° 17/2009, M.B. 2009, 21696, 21702 und 21705. 444 Vgl. Cour constitutionnelle v. 12.2.2009 – n° 17/2009, M.B. 2009, 21696, 21700 ff. 445 Siehe Cour constitutionnelle v. 12.2.2009 – n° 17/2009, M.B. 2009, 21696, 21702 und 21705 (Herv. d. Verf.). 446 Cour constitutionnelle v. 12.2.2009 – n° 17/2009, M.B. 2009, 21696, 21705, unterstreicht zugleich: „[M]ais cette sphère […] est limitée par de nombreuses dispositions législatives, mais elle est également limitée par la liberté contractuelle d‘autrui, par les droits d‘autrui et par l‘interdiction de discrimination“. Gleichsinnig etwa Cour constitutionnelle v. 10.11.2011 – n° 166/2011, M.B. 2012, 7373, 7377. 447 Cour constitutionnelle v. 1.9.2008 – n° 130/2008, M.B. 2008, 48885, 48888; Cour constitutionnelle v. 10.11.2011 – n° 166/2011, M.B. 2012, 7373, 7377.

178

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

Somit tritt die Cour constitutionnelle bei einer Verkürzung der Vertragsfreiheit in eine Verhältnismäßigkeitsprüfung ein. Als Beispiele aus jüngerer Zeit sind neben den gesetzlichen Einschränkungen der Freiheit der Versicherer, bestimmte medizinische Angaben des Versicherten im Rahmen des Vertrags zu erfragen,448 auch Begrenzungen der Vertragsabschlussfreiheit bei Bankgeschäften zu nennen.449 In der Zusammenschau der Judikatur der belgischen Cour constitutionnelle erscheint die Vertragsfreiheit damit als eine zumindest grundrechtsähnliche Freiheitsverbürgung. 4. Österreich a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts Die österreichische Rechtsprechung erkennt den „Grundsatz der Vertragsfreiheit“ als Leitprinzip des Schuldvertragsrechts umfassend an.450 Dieser privatrechtliche Grundsatz beinhaltet nicht zuletzt die Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit sowie die Inhalts-, Typen-, Form-, Änderungs- und die Beendigungsfreiheit.451 b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung Das österreichische Staatsgrundgesetz (StGG)452 enthält keine Grundrechtsnorm, welche die Vertragsfreiheit ausdrücklich garantiert. Im Schrifttum ist eine grundrechtliche Absicherung der Vertragsfreiheit durch das Eigentumsrecht nach Art. 5 sowie durch die Berufsfreiheit nach Art. 6 StGG befürwor-

448 Cour constitutionnelle v. 10.11.2011 – n° 166/2011, M.B. 2012, 7373, 7379 f.: „L’article 138ter-1 de la loi du 25 juin 1992 ne porte pas atteinte de manière disproportionnée à la liberté de commerce et d’industrie et à la liberté contractuelle des assureurs“. 449 Cour constitutionnelle v. 1.9.2008 – n° 130/2008, M.B. 2008, 48885, 48888: „Les parties requérantes allèguent encore la violation du […] principe général de droit de la liberté contractuelle, qui découle de la liberté de commerce et d‘industrie, en ce que les banques verraient limitée leur faculté de ne pas contracter […]. Elle ne serait violée que si elle était limitée sans nécessité et de manière manifestement disproportionnée au but poursuivi“. 450 Siehe nur OGH v. 21.3.1985 – 8Ob637/84 (RIS); OGH v. 30.10.1990 – 8Ob661/90 (RIS); OGH v. 25.11.1992 – 9ObA241/92 (RIS); OGH v. 7.10.1997 – 4 Ob 255/97x (RIS); OGH v. 14.4.1998 – 10Ob122/98h (RIS). 451 Siehe zur Vertragspartnerwahl- und zur Inhaltsfreiheit nur VfGH v. 15.6.1990 – G 56/89, VfSlg. 12379/1990: „Die Privatautonomie sichert ihm die Freiheit zu, selbst darüber zu disponieren, ob, mit wem und zu welchen Bedingungen er Rechtsgeschäfte abschließen will (Vertragsfreiheit)“. Siehe ferner nur P. Bydlinski, Bürgerliches Recht I (2013), S. 119 ff. 452 Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867 über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder, RGBl. 142/1867.

§ 2 Vertragsfreiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts

179

tet worden.453 Der Verfassungsgerichtshof hat sich diese Lesart zu eigen gemacht und die Vertragsfreiheit zunächst in Art. 5 StGG454 verortet: „Im Zweifel ist das Gesetz […] im Sinne der Vertragsfreiheit (eines Aspektes des Rechtes auf Unversehrtheit des Eigentums) auszulegen und anzuwenden“.455

Der Verfassungsgerichtshof hat sodann in einer Entscheidung betreffend das Verbot, Waren unter oder zum Einkaufspreis zu verkaufen, die damit verbundene Verkürzung der Vertragsfreiheit am Maßstab der Berufsfreiheit nach Art. 6 StGG456 gemessen.457 Entsprechend sah der Verfassungsgerichtshof auch in einer Entgeltregelung für Luftbeförderungsunternehmen „eine in die Vertragsfreiheit und somit in die Privatautonomie eingreifende […] Preisregelungsvorschrift“.458 Aber auch darüber hinaus deutet der Verfassungsgerichtshof in einer Reihe von Entscheidungen an, dass jede Verkürzung der Vertragsfreiheit eine Beeinträchtigung der grundrechtlich geschützten „Rechtsphäre“ bedeutet.459 453 Dafür z. B. Schantl, FS Korinek (1972), S. 129, 146. Ähnlich etwa Mayer-Maly, FS Korinek (1972), S. 151, 152 f. 454 Art. 5 StGG lautet auszugsweise: „Das Eigenthum ist unverletzlich“. 455 VfGH v. 13.6.1988 – B3/88, VfSlg. 11721/1988. Anlass dieser Grundsatzentscheidung war die Weigerung einer Behörde, die zum Erwerb eines Grundstücks erforderliche grundverkehrsrechtliche Genehmigung zu erteilen. Vgl. zudem nur VfGH v. 29.6.2000 – G 45/00 u. a., VfSlg. 15888/2000. 456 Art. 6 StGG lautet: „Jeder Staatsbürger kann […] unter den gesetzlichen Bedingungen jeden Erwerbszweig ausüben“. 457 VfGH v. 15.6.1990 – G 56/89, VfSlg. 12379/1990 stellt dabei unter anderem folgende Erwägungen an: „Das Verbot, selbst frei bestimmen zu können, zu welchen Preisen der Antragsteller seine Waren verkaufen will, greift in seine Privatautonomie ein. Die Privatautonomie sichert ihm die Freiheit zu, selbst darüber zu disponieren, ob, mit wem und zu welchen Bedingungen er Rechtsgeschäfte abschließen will (Vertragsfreiheit). Die Freiheit ist geschmälert, wenn ihm die Möglichkeit entzogen wird, über einen wesentlichen Teil des Vertragsinhalts, den Preis, den er für seine Waren am Markt verlangen will, zu entscheiden“. Im Ergebnis urteilt der VfGH: „§3a NahVG verstößt daher gegen die verfassungsgesetzlich gewährleistete Erwerbsausübungsfreiheit und ist als verfassungswidrig aufzuheben“. 458 VfGH v. 17.12.1993 – G 48/93 u. a., VfSlg. 13659/1993. 459 Namentlich begründet der Verfassungsgerichtshof die Zulässigkeit des Antrags wiederholt gerade mit einer Verletzung der Vertragsfreiheit des Antragstellers, siehe z. B. VfGH v. 15.6.1990 – G 56/89, VfSlg. 12379/1990 („Dieses Verbot trifft den Antragsteller als Handelsgewerbetreibenden in seiner Rechtssphäre, indem es ihn in seiner Vertragsfreiheit beschränkt“.); VfGH v. 17.6.1992 – G 45/91, VfSlg. 13102/1992 („Sie trifft daher die Antragsteller […] in ihrer Rechtssphäre, weil sie ihre Vertragsfreiheit beschränkt“.); VfGH v. 23.6.1993 – G 250/92, VfSlg. 13471/1993 („Die Regelung beeinträchtigt die Antragstellerin […] aktuell in ihrer Rechtssphäre, weil sie ihre Vertragsfreiheit beschränkt“.); VfGH v. 29.6.2000 – G 45/00 u. a., VfSlg. 15888/2000 („Durch die verbindliche Festsetzung des Preises für die Überlassung ihrer Anlagen greifen die angefochtenen Verordnungsbestimmungen in die Vertragsfreiheit der antragstellenden Gesellschaft unmittelbar ein“.); VfGH v.

180

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

Ungeachtet der Frage, ob dies auf eine umfassendere verfassungsrechtliche Verbürgung der Vertragsfreiheit hindeuten mag, genießt die Vertragsfreiheit in Österreich jedenfalls grundrechtlichen Schutz. 5. Vereinigtes Königreich a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts Das common law operiert ebenfalls „mit weitgespannten Rechtsprinzipien“, und so ist „das Vertragsrecht ganz vom Grundsatz der Vertragsfreiheit dominiert“.460 Lord Jessel stellte bereits in Printing and Numerical Registering Co. v Sampson im Jahr 1875 heraus „that men of full age and competent understanding shall have the utmost liberty in contracting“.461 Diese Linie ist in nachfolgenden Entscheidungen weiter fortgeführt worden462 und die Vertragsfreiheit wird von der höchstrichterlichen Rechtsprechung als „freedom to contract“,463 „liberty of contracting“464 und „freedom of contract“465 umfas5.12.2000 – V 42/00 u. a., VfSlg. 16042/2000 („Durch die verbindliche Festsetzung des Preises greifen die angefochtenen Verordnungsbestimmungen in die Vertragsfreiheit der Antragsteller ein“); VfGH v. 9.4.2007 – G174/06, VfSlg. 18101/2007. Vgl. auch VfGH v. 2.7.1983 – G32/83, VfSlg. 97617/1983: Das öParteienG sah nach seinem Wortlaut bei Spenden an Parteien ab einer gewissen Höhe die Veröffentlichung des Spendernamens oder die Zurückweisung der Spende seitens der Partei vor. Ein Spender machte geltend, hierdurch in seinen Rechten verletzt zu sein, da ihm der Abschluss sowie die Durchführung eines Schenkungsvertrages verwehrt werde. Der VfGH führt in diesem Zusammenhang aus, dass die gesetzliche Regelung die Vertragsfreiheit des Schenkers nicht über Gebühr beschneide. 460 Vogenauer, in: Basedow / Hopt / Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009), S. 280, 282. 461 Printing and Numerical Registering Co. v Sampson (1875) LR 19 Eq 462, 465 (Herv. d. Verf.). 462 Deutlich etwa Tailby v Official Receiver (1888) 13 AC 523, 545 (Lord Macnaghten): „Between men of full age and competent understanding ought there to be any limit to the freedom of contract but that imposed by positive law or dictated by considerations of morality or public policy?“. Siehe ferner z. B. Manchester, Sheffield and Lincolnshire Ry v Brown (1883) 8 AC 703, 716 ff. (Lord Bramwell); Esso Petroleum Co Ltd v Harper's Garage (Stourport) Ltd [1967] UKHL 1 (Lord Morris of Borth-y-Gest); Suisse Atlantique Société d’Armenent Maritime SA v NV Rotterdamsche Kolen Centrale [1967] 1 AC 361, 399 (Lord Reid: „[G]eneral principle of English law that parties are free to contract as they may think fit“ ); Photo Production Ltd v Securicor Transport Ltd [1980] AC 827, 848 (Lord Diplock: „[B]asic principle of the common law of contract“); Abnett v British Airways Plc (Scotland) [1996] UKHL 5 (Lord Hope of Craighead: „[G]reat principle, which is that of freedom of contract”); Parkwood Leisure Ltd v Alemo-Herron and others [2011] UKSC 26 (Lord Hope): „[C]ommon law principle of freedom of contract“. Siehe hierzu statt vieler Chitty on Contracts I (2012), Rn. 1-029. 463 Z. B. Mixnam’s Properties Ltd v Chertsey Urban District Council [1965] AC 735, 764 (Lord Upjohn). Siehe auch Stewart v Perth and Kinross Council [2004] UKHL 16 (Lord Steyn).

§ 2 Vertragsfreiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts

181

send im Privatrecht anerkannt. Entsprechend werden auch die einzelnen Facetten der Vertragsfreiheit, wie etwa die Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit466 sowie die Inhalts-467 und Typenfreiheit468, gewährleistet. Sowohl die Instanzgerichte469 als auch das Schrifttum behandelten „[f]reedom of contract as a general principle“ des common law.470 Dieses Verständnis der Vertragsfreiheit als „common law principle of freedom of contract” haben in jüngerer Zeit das House of Lords sowie sodann der Supreme Court aufgegriffen und die Vertragsfreiheit damit als allgemeinen Grundsatz des Privatrechts explizit anerkannt.471 b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung Die Rechtsordnung des Vereinigten Königreichs fordert „an enhanced respect for contractual obligations as an extension of individual liberty“472 und er464 Z. B. Mahomed Zahoor Ali Khan v Thakooranee Rutta Kooer (Agra) [1868] UKPC 3 (Sir Lawrence Peel); Printing and Numerical Registering Co. v Sampson (1875) LR 19 Eq 462, 465 (Lord Jessel); Homburg Houtimport BV v Agrosin Private Ltd (The Starsin) [2003] UKHL 12 (Lord Bingham of Cornhill). 465 Z. B. Tailby v Official Receiver (1888) 13 AC 523, 545 (Lord Macnaghten); Melville Dundas Ltd & Ors v George Wimpey UK Ltd & Ors (Scotland) [2007] UKHL 18 (Lord Hoffmann); Parkwood Leisure Ltd v Alemo-Herron and others [2011] UKSC 26 (Lord Hope). 466 Deutlich etwa Street v Mountford [1985] AC 809, 819 (Lord Templeman): „Both parties enjoyed freedom to contract or not to contract“. Siehe auch Esso Petroleum Co Ltd v Harper's Garage (Stourport) Ltd [1967] UKHL 1 (Lord Morris of Borth-y-Gest): „In general the law recognizes that there is freedom to enter into any contract that can lawfully be made“. Siehe schließlich auch Abnett v British Airways Plc (Scotland) [1996] UKHL 5 (Lord Hope of Craighead): „Any person is free, unless restrained by statute, to enter into a contract with another”. 467 Z. B. als „freedom of the parties to make their own terms“ erwähnt in Melville Dundas Ltd & Ors v George Wimpey UK Ltd & Ors (Scotland) [2007] UKHL 18 (Lord Hoffmann). In derselben Entscheidung betont auch Lord Neuberger of Abbotsbury „the freedom of parties to a […] contract to negotiate such terms as they see fit“. Gleichsinnig schon zuvor z. B. Street v Mountford [1985] AC 809, 819 (Lord Templeman). Siehe schließlich auch Photo Production Ltd v Securicor Transport Ltd [1980] AC 827, 848 (Lord Diplock): „[P]arties to a contract are free to determine for themselves what primary obligations they will accept“. Siehe statt vieler auch Collins, Law & Contemp. Probs. 76 (2013), 71, 77 ff. 468 Zu diesen Facetten im Einzelnen etwa Chitty on Contracts I (2012), Rn. 1-031 ff. 469 Vgl. wiederum etwa Suisse Atlantique Société d’Armenent Maritime SA v NV Rotterdamsche Kolen Centrale [1967] 1 AC 361, 399 (Lord Reid: „[G]eneral principle of English law that parties are free to contract as they may think fit“ ); Photo Production Ltd v Securicor Transport Ltd [1980] AC 827, 848 (Lord Diplock: „[B]asic principle of the common law of contract“). 470 Chitty on Contracts I (2012), Rn. 1-029. 471 Parkwood Leisure Ltd v Alemo-Herron and others [2011] UKSC 26 (Lord Hope): „common law principle of freedom of contract“. Siehe zu dem „great principle, which is that of freedom of contract“ bereits Abnett v British Airways Plc (Scotland) [1996] UKHL 5 (Lord Hope). 472 Parry, The Sanctity of Contracts in English Law (1959), S. 69.

182

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

blickt in der Vertragsfreiheit „the expression of individual and private autonomy“.473 Allerdings verfügt das Vereinigte Königreicht nicht über ein Verfassungsdokument, das als Anknüpfungspunkt für eine grundrechtliche Verbürgung der Vertragsfreiheit herangezogen werden könnte.474 Allerdings bestehen im englischen Recht durchaus Garantien, die eine besonders herausgehobene Stellung einnehmen: Als Beispiele seien nur die Magna Carta von 1215 sowie die Bill of Rights von 1689 genannt.475 Und soweit die Vertragsfreiheit durch das Erste Zusatzprotokoll zur EMRK geschützt wird, ist diese Freiheit auch durch den Human Rights Act 1998476 als Menschenrecht verbürgt.477 Ruft man sich in Erinnerung, dass im Rahmen des Art. 6 Abs. 3 EUV nicht nur Regelungen mit „Verfassungsrang“ im engeren Sinne, sondern gerade auch solche Grundsätze berücksichtigt werden, die besondere Bedeutung haben und daher „Kernbestandteil des nationalen Rechts“ sind,478 so könnte die Haltung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Vertragsfreiheit kaum eindeutiger sein: Die „natural liberty of contracting“479 ist bereits in den 1870er Jahren in den Stand einer „paramount public policy“ gehoben worden.480 Vor allem hat Lord Upjohn in der Mixnam’s Properties Ltd v Chertsey Urban District Council-Entscheidung des House of Lords rund neunzig Jahre später ausdrücklich herausgestellt: „[F]reedom to contract between the subjects of this country is a fundamental right“.481

Dazu statt aller Chitty on Contracts I (2012), Rn. 1-214 m. w. N. Z. B. Juss, in: Rabello / Sarcevic (eds.), Freedom of Contract and Constitutional Law (1998), S. 245 und 248. 475 In diesem Sinne auch Gajdosova / Zehetner, England, in: Brüggemeier / Colombi Ciacchi / Comandé (eds.), Fundamental rights and private law in the European Union I (2010), S. 119 ff. 476 1998 c. 42. 477 Siehe zum Schutz der Vertragsfreiheit im Rahmen der EMRK unten C II 3 sowie ferner oben § 1 A II 2 a. In Wilson v First County Trust [2000] EWCA Civ 427 ist die Regelung in s. 127(3) Consumer Credit Act 1974 ausdrücklich an den Garantien des Human Rights Act 1998, einschließlich des dort inkorporierten Art. 1 des Ersten Zusatzprotokoll zur EMRK, gemessen worden. Das House of Lords folgte dieser Argumentation des Court of Appeal nur deshalb nicht, weil der Fall einen Zeitraum vor dem Inkrafttreten des Human Rights Act 1998 betraf, vgl. Wilson v First County Trust Ltd [2003] UKHL 40. 478 GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C:2011: 559 Rn 112. Siehe auch erneut oben A III. 479 Mahomed Zahoor Ali Khan v Thakooranee Rutta Kooer (Agra) (1868) UKPC 3 (Sir Lawrence Peel). 480 Printing and Numerical Registering Co. v Sampson (1875) LR 19 Eq 462, 465 (Lord Jessel): „[Y]ou have this paramount public policy to consider – that you are not lightly to interfere with this freedom of contract“. 481 Mixnam’s Properties Ltd v Chertsey Urban District Council [1965] AC 735, 764 (Lord Upjohn). 473 474

§ 2 Vertragsfreiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts

183

In Fortführung dieser Rechtsprechung des House of Lords bestätigt auch Lord Steyn in Stewart v Perth and Kinross Council „that freedom to contract is a fundamental right“.482 Mag man diese Bezugnahme auf den Grundrechtscharakter auch untechnisch verstehen, so geht Lord Steyn in Stewart v Perth and Kinross Council jedoch davon aus, dass insbesondere die gesetzgebende Gewalt die Vertragsfreiheit zu achten und zu schützen hat, weshalb gesetzliche Beschränkungen dieser Freiheit stets bestimmten Anforderungen genügen müssen: „[F]reedom to contract is a fundamental right, and […] if Parliament intends to empower a third party to make conditions which regulate the terms of contracts to be made between others then […] it must do so in clear terms“.483

In der Zusammenschau all dieser Elemente ist die rechtsgeschäftliche Privatautonomie im Vereinigten Königreich weit mehr als nur ein „reasonable social ideal“:484 Die Vertragsfreiheit wird in der höchstrichterlichen Rechtsprechung ausdrücklich zum Kernbestandteil der Rechtsordnung gezählt.485 6. Spanien a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts Im spanischen Privatrecht setzt Art. 1255 Código civil die umfassende Vertragsfreiheit der Parteien voraus.486 Darüber hinaus ist der Grundsatz der Vertragsfreiheit nebst seinen wichtigsten Facetten auch in der Rechtsprechung als „principio de libertad contractual“ für das gesamte Recht der Schuldverträge anerkannt.487 Beispielsweise bezeichnet auch der Richter des Stewart v Perth and Kinross Council [2004] UKHL 16 (Lord Steyn) unter Bezugnahme auf Mixnam’s Properties Ltd v Chertsey Urban District Council [1965] AC 735, 763 f. (Lord Upjohn). 483 Siehe erneut Stewart v Perth and Kinross Council [2004] UKHL 16 (Lord Steyn). 484 Vgl. Beatson, Anson’s Law of Contract (1998), S. 4. 485 Vgl. wiederum nur Mixnam’s Properties Ltd v Chertsey Urban District Council [1965] AC 735, 763 f. (Lord Upjohn); Stewart v Perth and Kinross Council [2004] UKHL 16 (Lord Steyn). Siehe zum „common law principle of freedom of contract“ Parkwood Leisure Ltd v Alemo-Herron and others [2011] UKSC 26 (Lord Hope). Vgl. auch Abnett v British Airways Plc (Scotland) [1996] UKHL 5 (Lord Hope). Wie hier im Ergebnis auch Herresthal, in: Ziegler / Huber (eds.), Current Problems in the Protection of Human Rights (2013), S. 89, 92. A. A. – ohne eine Analyse der Rechtsprechungspraxis – dagegen z. B. Starke, EU-Grundrechte und Vertragsrecht (2016), S. 262 f. (dort insbesondere in Fn. 81). 486 Die Vorschrift lautet auszugsweise: „Los contratantes pueden establecer los pactos, cláusulas y condiciones que tengan por conveniente“. 487 Laut Tribunal Constitucional v. 29.6.2000 – 181/2000, BOE n° 180 Suplemento v. 28.7.2000, 14342 ist die „libertad contractual reconocida en el art. 1255 del Código Civil y por abundante doctrina jurisprudencial“. Siehe auch schon Tribunal Constitucional v. 22.7.1987 – 136/1987, BOE n° 191 Suplemento v. 11.8.1987, 18636 mit Blick auf das „principio de libertad contractual reconocido en el art. 1255 del Código Civil“. Siehe zur 482

184

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

Tribunal Constitucional Carlos de la Vega Benayas die „autonomía o libertad contractual“ in seinem Votum ausdrücklich als „una de las bases del sistema contractual español“.488Auch in Spanien ist die Vertragsfreiheit somit ein allgemeiner Grundsatz des Privatrechts. b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung Das spanische Tribunal Constitucional sieht die Vertragsfreiheit als Facette der Unternehmerfreiheit (libertad de empresa) gemäß Art. 38 Constitución Española de 1978489 grundrechtlich geschützt: „El […] respeto al contenido esencial del principio de libre empresa […] exigiría una previa definición de cuál sea ese contenido […]: la libertad de acceso al mercado, que presupone el derecho de propiedad, el de libre elección de profesión y la libertad contractual“.490

Im spanischen Schrifttum wird die Vertragsfreiheit zudem als Element der Privatautonomie aus Art. 10 Abs. 1 Constitución Española de 1978491 hergeleitet: Die Facetten dieser Freiheit seien „manifestaciones evidentes del derecho al libre desarrollo de la personalidad, ámbito en el que el Estado no puede interferir injustificadamente (art. 10.1 CE)“.492 In der Tat anerkennt das spanische Tribunal Constitucional im vertragsrechtlichen Kontext „la autonomía individual, pues ésta, garantía de la libertad personal“.493 Überdies stellt das Tribunal Constitucional das „principio de la autonomía de la voluntad“ in die verfassungsrechtliche Abwägung ein und setzt diesen Grundsatz insbesondere dem Grundrecht auf Gleichheit und Nichtdiskriminierung nach

„libertad para fijar el contenido de los contratos“ sowie zur „libertad para contractar o no y para elegir al cocontratante“ nur Alfaro Aguila-Real, An. Der. Civ. 46 (1993), 57, 93. 488 Vgl. Sondervotum des Richters Carlos de la Vega Benayas zu Tribunal Constitucional v. 28.9.1992 – 121/1992, BOE n° 260 Suplemento v. 29.10.1992, 23991. 489 BOE n° 311 v. 29.12.1978, 29313. Art. 38 Constitución Española de 1978 lautet: „Se reconoce la libertad de empresa en el marco de la economía de mercado. Los poderes públicos garantizan y protegen su ejercicio y la defensa de la productividad, de acuerdo con las exigencias de la economía general y, en su caso, de la planificación“. 490 Tribunal Constitucional v. 16.6.1994 – 179/1994, BOE n° 163 Suplemento v. 9.7.1994, 16040 (Herv. d. Verf.). 491 Die Norm lautet: „La dignidad de la persona, los derechos inviolables que le son inherentes, el libre desarrollo de la personalidad, el respeto a la ley y a los derechos de los demás son fundamento del orden político y de la paz social“. 492 Alfaro Aguila-Real, An. Der. Civ. 46 (1993), 57, 62 und 94. Weitergehend Ramos Muñoz, in: Heiderhoff / Lohsse / Schulze (Hrsg.), EU-Grundrechte und Privatrecht (2016), S. 227, 241 („party autonomy as a principle that cuts across all fundamental rights“). 493 Namentlich wirft das Tribunal Constitucional v. 30.4.1985 – 58/1985, BOE n° 134 Suplemento v. 5.6.1985, 10374 mit Blick auf die Bindung einzelner Arbeitnehmer an Kollektivvereinbarungen ebendiese individuelle (Vertrags)Freiheit in die Waagschale.

§ 2 Vertragsfreiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts

185

Art. 14 Constitución Española de 1978494 entgegen.495 Zumindest bereichsspezifisch gibt das Tribunal Constitucional der Vertragsfreiheit damit ein grundrechtliches Fundament.496 7. Portugal a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts Im portugiesischen Zivilrecht setzt der „liberdade contratual“ betitelte Art. 405. °, n. °1 Código civil die Vertragsfreiheit voraus.497 In der portugiesischen Rechtsprechung findet sich daher auch die allgemeine Bezugnahme auf den das Recht der Schuldverträge beherrschenden Grundsatz der Vertragsfreiheit („princípio da liberdade contratual“).498 b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung Das portugiesische Tribunal Constitucional sieht die Vertragsfreiheit zunächst durch die Berufsfreiheit in Art. 47. ° Constituição499 verbürgt: Dieses Grundrecht garantiert auch das Recht auf die freie Wahl des Arbeitgebers als eine Facette der Vertragsfreiheit des Arbeitnehmers.500 So hat das Tribunal Constitucional etwa die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Verkürzungen 494 Art. 14 Constitución Española de 1978 lautet: „Los españoles son iguales ante la ley, sin que pueda prevalecer discriminación alguna por razón de nacimiento, raza, sexo, religión, opinión o cualquier otra condición o circunstancia personal o social“. 495 Im Kontext des Kollektivarbeitsrechts führt Tribunal Constitucional v. 10.10.1988 – 177/1988, BOE n° 266 Suplemento v. 5.11.1988, 25632 mit Blick auf Art. 14 Constitución Española de 1978 aus „que en el ámbito de las relaciones privadas […] los derechos fundamentales y, entre ellos, el principio de igualdad, han de aplicarse matizadamente, pues han de hacerse compatibles con otros valores o parámetros que tienen su último origen en el principio de la autonomía de la voluntad, y que se manifiestan a través de los derechos y deberes que nacen de la relación contractual creada por las partes“ (Herv. d. Verf.). 496 Siehe auch Ramos Muñoz, in: Heiderhoff / Lohsse / Schulze (Hrsg.), EU-Grundrechte und Privatrecht (2016), S. 227, 241 f. 497 Die Vorschrift lautet: „Dentro dos limites da lei, as partes têm a faculdade de fixar livremente o conteúdo dos contratos, celebrar contratos diferentes dos previstos neste código ou incluir nestes as cláusulas que lhes aprouver“. 498 Siehe nur Supremo Tribunal de Justiça 4.ª Secção v. 10.10.2007 – n.º 2449/07, SASTJ Secções Cíveis 2007, 168; Supremo Tribunal de Justiça 4.ª Secção v. 7.11.2007 – n.º 1516/07 SASTJ Secções Cíveis 2007, 186 („princípio geral da liberdade contratual“); Supremo Tribunal de Justiça 6.ª Secção v. 22.4.2008 – n.° 274/08, SASTJ Secções Cíveis 2008, 300. Siehe ferner nur Tribunal Constitucional v. 8.3.2007 – n° 181/07 Rn. 6 (abrufbar unter: ). 499 Constituição da República Portuguesa, in der Fassung der 7ª Revisão Constitucional 2005, Lei Constitucional n.º 1/2005. 500 Tribunal Constitucional v. 8.3.2007 – n° 181/07 Rn. 11 f. (abrufbar unter: ).

186

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

dieser Freiheit durch ein Gesetz geprüft, das die Vereinbarung von Ablösesummen in Anstellungsverträgen von Profifußballspielern billigt und den Spielern dadurch die Wahl eines neuen Arbeitgebers erschwert.501 Darüber hinaus wird die Vertragsfreiheit nach der Lesart des Tribunal Constitucional auch als Facette der privaten wirtschaftlichen Freiheit („iniciativa económica privada“) durch Art. 61. °, n. °1 Constituição502 verbürgt.503 In der Summe genießt die Vertragsfreiheit damit auch in der portugiesischen Rechtsordnung zumindest partiell verfassungsrechtlichen Schutz.

Im konkreten Fall verneint das Tribunal Constitucional v. 8.3.2007 – n° 181/07 Rn. 11 (abrufbar unter: ) angesichts der geringen Höhe der Ablösesumme jedoch einen Grundrechtsverstoß: „o valor da compensação não pode em caso algum, afectar de forma desproporcionada, na prática, a liberdade de contratar do praticante“. Zugleich hält das Tribunal Constitucional eine unverhältnismäßige Verkürzung der Vertragsfreiheit in anderen Konstellationen für möglich und macht daher Vorgaben zur Berechnung der Ablösesumme (Rn. 12): „Uma das condições para a fixação do valor da referida compensação é, aliás, como se disse, que ela não possa afectar de forma desproporcionada, na prática, a liberdade de contratar do praticante […] Com efeito, quanto ao direito de escolher livremente a profissão ou o género de trabalho consagrado no artigo 47.º, n.º 1, da Lei Fundamental, enquanto dele deriva o direito de celebrar contrato com outro clube, as normas dos n.ºs 2 e 3 do artigo 18.º da Lei n.º 28/98 permitem uma restrição à liberdade de trabalho, reconhecendo-se que a indemnização de promoção ou valorização, que as normas dos n.ºs 2 e 3 do artigo 18.º da Lei n.º 28/98 viabilizam, entrava a livre contratação de jogadores pelos clubes e limita a liberdade civilística de contratar pura e simplesmente com um clube diverso, consubstanciando uma restrição ao livre jogo da concorrência no mercado de trabalho“ (Herv. d. Verf.). 502 Die Norm lautet: „A iniciativa económica privada exerce-se livremente nos quadros definidos pela Constituição e pela lei e tendo em conta o interesse geral.“ 503 Tribunal Constitucional v. 25.3.2015 – n° 204/2015 Rn. 2.2 (abrufbar unter: ) verneint zunächst die Herleitung der Vertragsfreiheit aus Art. 27 Constituição („Direito à liberdade e à segurança“) und prüft sodann Eingriffe in die Vertragsfreiheit am Maßstab des Art. 61 Abs. 1 Constituição: „Assim, é manifesto que não está aqui em causa a violação do direito à liberdade, na dimensão consagrada no artigo 27.º da Constituição, podendo, quanto muito, estar em causa outra dimensão da liberdade, concretamente, a liberdade de iniciativa económica privada a que se refere o artigo 61.º da Constituição ou, conforme sugere também a decisão recorrida e é sustentado pela Recorrida, os valores da autonomia privada e da liberdade contratual, subjacentes ao princípio do Estado de direito democrático. É o que importa agora apreciar“ (Herv. d. Verf.). Für eine Herleitung aus Art. 26. ° Constituição („direitos à identidade pessoal, ao desenvolvimento da personalidade“) plädieren darüber hinaus z. B. Pinto Oliveira /  MacCrorie, in: Grundmann (ed.), Constitutional Values and European Contract Law (2008), S. 111, 113. 501

§ 2 Vertragsfreiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts

187

8. Italien a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts Einfachgesetzlich ist die Vertragsfreiheit im italienischen Privatrecht in dem mit „autonomia contrattuale“ überschriebenen Art. 1322 Abs. 1 Codice civile verankert: „Le parti possono liberamente determinare il contenuto del contratto nei limiti imposti dalla legge“.504

Die Vertragsfreiheit wird darüber hinaus in der ständigen Rechtsprechung der Corte di cassazione sowie im Schrifttum als allgemeiner Grundsatz des Privatrechts anerkannt.505 b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung Obschon die Vertragsfreiheit in der italienischen Verfassung nicht ausdrücklich Erwähnung findet, ist diese Freiheit nach gefestigter Rechtsprechung der Corte costituzionale zum einen als Ausfluss der privaten wirtschaftlichen Initiative („iniziativa economica privata“) gemäß Art. 41 und zum anderen als Element des Eigentumsrechts („proprietà“) nach Art. 42 Costituzione della Repubblica Italiana506 grundrechtlich geschützt.507 Im Schrifttum wird die rechtsgeschäftliche Privatautonomie aufgrund ihres Bezuges zur Persönlichkeitsentfaltung auch als Bestandteil der durch Art. 2 Costituzione508 garantier-

Dabei sieht Art. 1322 Abs. 2 Codice civile ausdrücklich die Typenfreiheit vor: „Le parti possono anche concludere contratti che non appartengano ai tipi aventi una disciplina particolare, purché siano diretti a realizzare interessi meritevoli di tutela secondo l’ordinamento giuridico“. 505 Siehe zum „principio dell’autonomia contrattuale“ z. B. Cass. civ. v. 9.10.1991 – n. 10612, Giust. civ. 1991.I, 2895, 2896. Siehe statt vieler Trimarchi, Istituzioni di diritto privato (2011), S. 254. 506 G.U. v. 27.12.1947, n. 298. 507 Siehe insbesondere Corte costituzionale v. 23.4.1965 – n. 30, Giur. cost. 1965, 283: „poiché l’autonomia contrattuale in materia commerciale è strumentale rispetto all’iniziativa economica, ogni limite posto alla prima si risolve in un limite della seconda, ed è legittimo, perciò, solo se preordinato al raggiungimento degli scopi previsti o consentiti dalla Costituzione“. Deutlich führt auch Corte costituzionale v. 11.2.1988, n. 159, Giur. cost., 1988, 553 aus „che dagli artt. 41 e 42 Cost. possa essere argomentato un implicito principio generale di tutela costituzionale dell‘autonomia privata“. Siehe ferner nur Corte costituzionale v. 28.7.2000 – n. 393, Giur. cost. 2000, 2757. Eingehend zum Ganzen Fava, Il Contratto (2012), S. 34 f. m. w. N. aus der Rechtsprechungspraxis. 508 Die Norm lautet: „La Repubblica riconosce e garantisce i diritti inviolabili dell’uomo, sia come singolo sia nelle formazioni sociali ove si svolge la sua personalità, e richiede l‘adempimento dei doveri inderogabili di solidarietà politica, economica e sociale“. 504

188

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

ten „diritti inviolabili dell‘uomo“ angesehen.509 In jedem Fall hat die grundrechtliche Dimension der Vertragsfreiheit bereits Eingang in die Rechtsprechungspraxis der Zivilgerichte gefunden: So behandelt die Corte di cassazione die Vertragsfreiheit als einen „Wert von Verfassungsrang“ („valore costituzionale“).510 Auch in der italienischen Rechtsordnung ist die Vertragsfreiheit mithin verfassungsrechtlich verankert und zumindest bereichsspezifisch als Grundrecht geschützt. 9. Ungarn a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts Im ungarischen Privatrecht verbürgt der mit „Vertragsfreiheit“ („Szerződési szabadság“) überschriebene § 6:59 des ungarischen Bürgerlichen Gesetzbuches511 ausdrücklich die rechtsgeschäftliche Privatautonomie: „Die Parteien können frei Verträge schließen und frei die anderen Vertragsparteien wählen. Die Parteien können den Inhalt des Vertrags frei festlegen“.512

Das ungarische Recht erkennt mithin die Vertragsfreiheit nebst ihrer wichtigsten Facetten als allgemeinen Grundsatz des Privatrechts an.513 b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung Während die Vertragsfreiheit in der Rechtsprechung des ungarischen Verfassungsgerichts (Magyarország Alkotmánybírósága) zunächst als eigenständiges Grundrecht behandelt worden ist,514 hat das Verfassungsgericht die Vertragsfreiheit später aus anderen Grundrechten, namentlich aus der Eigen-

509 Z. B. Sacco / Bussani, Trattato di Diritto Civile: I Singoli Contratti IV (2004), S. 5ff. m. w. N. Siehe insbesondere auch Mengoni, Banca e Borsa 1997.I, 1 ff.; Somma, Autonomia privata e struttura del consenso contrattuale (2000), S. 430 f. 510 Cass. civ. v. 24.9.1999 – n. 10511, Foro it. 2000.I, 1929, 1939 mit Blick auf die als Element der „iniziativa economica privata“ gemäß Art. 41 Costituzione verbürgten Vertragsfreiheit. Dazu Moscati, FS Giacobbe II (2010), S. 1201, 1205 f. Vgl. auch M. Stürner, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Schuldvertragsrecht (2010), S. 155 ff. 511 Polgári törvénykönyv, in der Fassung des Gesetzes 2013:V v. 26.2.2013, Magyar Közlöny 2013 Nr. 31, 2382. 512 Deutsche Übersetzung nach Küpper, in: Breidenbach (Hrsg.), Handbuch Wirtschaft und Recht in Osteuropa IV (2014), UNG 200 § 6:59 BGB. 513 Siehe zur Vertragsfreiheit im ungarischen Privatrecht nur Küpper, WiRO 2014, 366, 369; Fuglinszky, RabelsZ 79 (2015), 72, 90 f.; Vékas, FS Müller-Graff (2015), 98, 102. 514 Vgl. nur Magyarország Alkotmánybírósága v. 5.3.1992 – 11/1992 (III. 5.) AB, in englischer Übersetzung abgedruckt in: Sólyom / Brunner (eds.), Constitutional Judiciary in a New Democracy (2000), S. 212, 221. Siehe dazu nur Sólyom, in: ders. / Brunner (eds.), Constitutional Judiciary in a New Democracy (2000), S. 1, 26; Kerek, Verfassungsgerichtsbarkeit in Ungarn und Rumänien (2010), S. 449.

§ 2 Vertragsfreiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts

189

tumsgarantie sowie der Handlungsfreiheit und Menschenwürde, abgeleitet.515 Da das seit 1.1.2012 in Kraft stehende reformierte ungarische Grundgesetz (Magyarország Alaptörvénye)516 insoweit keine Änderung intendiert, bleibt die Vertragsfreiheit weiterhin als Ausfluss der Freiheitsrechte und insbesondere der Eigentumsgarantie geschützt.517 10. Polen a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts In der polnischen Rechtsordnung stellt Art. 3531 Zivilgesetzbuch (ZGB)518 die Vertragsfreiheit wie folgt heraus: „Die Vertragsparteien können ihr Rechtsverhältnis nach freiem Willen gestalten, soweit dessen Inhalt und Ziel der Besonderheit (der Natur) des Rechtsverhältnisses, dem Gesetz und den Grundsätzen des gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht widerspricht“.519

Darüber hinaus wird die Vertragsfreiheit als allgemeines Prinzip des polnischen Privatrechts aufgefasst: Dieser Grundsatz greift über die nach Art. 3531 ZGB ausdrücklich geschützten Facetten der Vertragsfreiheit hinaus und gebietet umfassende rechtsgeschäftliche Gestaltungsfreiheit, etwa bezüglich des Vertragsabschlusses, der Vertragspartnerwahl, der Änderung sowie der Aufhebung des Vertrags.520 Die Vertragsfreiheit ist demnach auch im polnischen Recht als allgemeiner Grundsatz anerkannt.

515 Sólyom, in: ders. / Georg Brunner (eds.), Constitutional Judiciary in a New Democracy (2000), S. 27 f. m. w. N. : „[F]reedom of contract […] is protected on the basis of the right to property and constitutional privacy (the right to freedom of action as derived from the right to human dignity)“. Siehe zur Entscheidung des Magyarország Alkotmánybírósága v. 21.2.2006 – 7/2006 (II. 22.) AB auch Téglási, Dny práva 2012 (2013), S. 2442, 2459: „It also declared that the provision regarding the right of preemption is not unconstitutional up to the point that it does not lead to elimination of the right to dispose of property which it characterized as “rendering empty” and rendering freedom of contract impossible“ (Herv. im Original). 516 Magyar Közlöny 2011 Nr. 43, 10656. Dazu Jakab / Sonnevend, ZaöRV 2012, 79. 517 Siehe zur Kontinuität mit Blick auf die einzelnen Facetten des Eigentumsrechts nach Art. VIII ungarisches Grundgesetz nur Balogh / Hajas, in: Csink / Schanda / Varga (eds.), The Basic Law of Hungary (2012), Ch. 5, 2.9. (S. 135, 163 ff.). In diesem Sinne auch Jakab / Sonnevend, ZaöRV 2012, 79, 88. Zurückhaltender Küpper, WiRO 2014, 366, 369. 518 Kodeks cywilny v. 23.4.1964 (bereinigte Fassung), Dziennik Ustaw 2014, 121. 519 Deutsche Übersetzung nach Lane / Gralla, in: Breidenbach (Hrsg.), Handbuch Wirtschaft und Recht in Osteuropa II (2014), PL 200 Art. 3531 ZGB. 520 Statt vieler Lohs, Grenzen der Vertragsfreiheit im polnischen Zivilrecht (2000), S. 42 ff.; Motyka-Mojkowski, Polnisches Zivilrecht AT (2010), S. 28 und 147, jeweils m. w. N.

190

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung Das polnische Verfassungsgericht (Trybunał Konstytucyjny) leitet die Vertragsfreiheit in erster Linie aus dem Freiheitsgrundrecht gemäß Art. 31521 sowie aus Art. 20522 und Art. 22523 der polnischen Verfassung524 ab.525 Somit ruht die Vertragsfreiheit in der polnischen Rechtsordnung ebenfalls auf einem grundrechtlichen Fundament. 11. Litauen a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts Für das Recht der Schuldverträge sieht der mit „Grundsatz der Vertragsfreiheit“ („Sutarties laisvės principas“) überschriebene Art. 6.156 Abs. 1 litauisches Zivilgesetzbuch (ZGB)526 folgende Regelung vor:

521 Die offizielle deutsche Übersetzung des Artikels lautet: „Die Freiheit des Menschen steht unter dem Schutz des Rechtes. Jedermann ist verpflichtet, die Freiheiten und Rechte der anderen zu beachten. Niemand darf zu etwas gezwungen werden, was ihm nicht durch das Recht geboten ist. Einschränkungen, verfassungsrechtliche Freiheiten und Rechte zu genießen, dürfen nur in einem Gesetz beschlossen werden und nur dann, wenn sie in einem demokratischen Staat wegen seiner Sicherheit oder öffentlicher Ordnung oder zum Schutz der Umwelt, Gesundheit, der öffentlichen Moral oder der Freiheiten und Rechte anderer Personen notwendig sind. Diese Einschränkungen dürfen das Wesen der Freiheiten und Rechte nicht verletzen“. 522 Die offizielle deutsche Übersetzung der Vorschrift lautet: „Die soziale Marktwirtschaft, gestützt auf die Freiheit der wirtschaftlichen Tätigkeit, Privateigentum und Solidarität, Dialog und Zusammenarbeit der sozialen Partner, bildet die Grundlage der wirtschaftlichen Ordnung der Republik Polen.“ 523 Die offizielle deutsche Übersetzung der Vorschrift lautet: „Eine Einschränkung der Freiheit der wirtschaftlichen Tätigkeit ist zulässig nur auf dem Gesetzesweg und nur wegen eines wichtigen gesellschaftlichen Interesses.“ 524 Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej v. 2.4.1997, Dziennik Ustaw 1997, 483. 525 So führt Trybunał Konstytucyjny v. 29.4.2003 – SK 24/02, OTK ZU 2003, Nr. 4A, 33 aus: „The connection between the freedom of contract with the constitutional guarantee of personal freedom lies in the fact that the obligation to respect freedom is imposed by the Constitution on all parties in legal relationships, also on the parties in civil law“ (Zitat und englische Übersetzung nach Safjan, FS Micklitz (2014), S. 123, 132 (dort in Fn. 24)). Siehe zur verfassungsrechtlichen Verankerung der Vertragsfreiheit auch MotykaMojkowski, Polnisches Zivilrecht AT (2010), S. 28; Jańczuk / Krzemińska-Vamvaka, in: Brüggemeier / Colombi Ciacchi / Comandé (eds.), Fundamental Rights and Private Law in the European Union I (2010), S. 485, 518 f.; Rott-Pietzyk, in: Drygala / Heiderhoff / Staake u. a. (eds.), Private Autonomy in Germany and Poland and in the Common European Sales Law (2012), S. 15, 18 (dort auch in Fn. 2). 526 Civilinis Kodeksas, Gesetz Nr. VIII-1864 v. 18.7.2000, offizielle englische Übersetzung der konsolidierten Fassung des Gesetzes Nr. XI-1312 v. 12.4.2011 (abrufbar unter: ).

§ 2 Vertragsfreiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts

191

„The parties shall be free to enter into contracts and determine their mutual rights and duties at their own discretion.“527

Darüber hinaus betont Art. 6.156 ZGB die Abschluss-528 sowie die Typen-529 und Inhaltsfreiheit.530 Schließlich weist das litauische ZGB gegenüber den anderen untersuchten Rechtsordnungen ein Alleinstellungsmerkmal auf, da es in Art. 1.2. Abs. 1 ZGB allgemeine Prinzipien für das gesamte Privatrecht vorausschickt, zu denen auch die Vertragsfreiheit zählt: „Civil relationships shall be regulated in accordance with the principles of equality of their subjects’ rights, inviolability of property, freedom of contract, non-interference in private relations, legal certainty, proportionality, and legitimate expectations, prohibition to abuse a right, as well as the principles of comprehensive judicial protection of civil rights.“

Das litauische Privatrecht enthält somit einen allgemeinen privatrechtlichen Grundsatz der Vertragsfreiheit, der überdies in der Rechtsprechung umfassend Anerkennung findet.531 b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung Das litauische Verfassungsgericht (Lietuvos Respublikos Konstitucinis teismas) sieht die Vertragsfreiheit durch die litauische Verfassung532 garantiert und leitet den grundrechtlichen Schutz aus der Freiheit des Individuums gemäß Art. 21,533 aus der Unverletzlichkeit des Eigentums nach Art. 23534 sowie 527 Die Vorschrift sieht im Übrigen umfassende Abschlussfreiheit (Abs. 2) und Vertragstypenfreiheit (Abs. 3) vor. 528 Art. 6.156 Abs. 2 ZGB lautet: „It shall be prohibited to compel another person to conclude a contract, except in cases when the duty to enter into a contract is established by laws or a free-will engagement.“ 529 Art. 6.156 Abs. 3 ZGB lautet: „The parties may form a contract which contains elements of contracts of several classes. Such contract shall be governed by norms regulating the separate classes of contracts unless otherwise provided for by the agreement of the parties, or this contradicts the essence of the contract.“ 530 Art. 6.156 Abs. 4 und Abs. 5 ZGB lauten auszugsweise: „The conditions of a contract shall be established by the parties at their own discretion […]. Where the conditions of a contract are established by a non-mandatory law rule, the parties may agree on nonapplication of these conditions, or they may agree on any other conditions“. 531 Dazu z. B. Galginaitis / Himmelreich / Vrubliauskaité, Einführung in das litauische Recht (2010), S. 102; Zukas, Transformation des Vertragsrechts in Litauen (2011), S. 57 ff., jeweils m. w. N. 532 Lietuvos Respublikos Konstitucija, Lietuvos Aidas 1992, Nr. 220 (offizielle englische Übersetzung abrufbar unter: ). 533 Die offizielle englische Übersetzung der Vorschrift lautet auszugsweise: „The person of the human being shall be inviolable. The dignity of the human being shall be protected by law“. 534 Die offizielle englische Übersetzung der Vorschrift lautet auszugsweise: „Property shall be inviolable. The rights of ownership shall be protected by law“.

192

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

aus der individuellen wirtschaftlichen Freiheit gemäß Art. 46 litauische Verfassung535 ab: „The freedom to conclude agreements is a […] manifestation of such values which are consolidated in the Constitution as freedom of a person (Article 21), the inviolability of property (Article 23), freedom of individual economic activity (Article 46). Thus, the freedom to conclude agreements may be deemed to be a guarantee on the constitutional level.“536

Demnach genießt die Vertragsfreiheit in der litauischen Rechtsordnung verfassungsrechtlichen Schutz.537 12. Schweden a) Allgemeiner Grundsatz des Privatrechts Das schwedische Recht erkennt die Vertragsfreiheit („avtalsfrihet“) unter anderem in § 3 Köplag538 umfassend an. Auch darüber hinaus nimmt die schwedische höchstrichterliche Rechtsprechung auf einen übergreifenden privatrechtlichen Rechtsgrundsatz der Vertragsfreiheit („principiella avtalsfrihet“) Bezug.539 Dieser allgemeine Grundsatz umfasst unterschiedliche Facetten und schützt insbesondere die Inhaltsfreiheit („innehållsfrihet“), Vertragspartnerwahlfreiheit („frihet att välja avtalspart“), Typenfreiheit („typfrihet“) Formfreiheit („formfrihet“) und schließlich auch die Vertragsaufhebungsfreiheit („upplösningsfrihet“).540 b) Grund- und verfassungsrechtliche Verbürgung Im schwedischen Schrifttum wird die Vertragsfreiheit teilweise aus der allgemeinen Freiheit des Menschen abgeleitet und somit auf ein menschen- und

535 Die offizielle englische Übersetzung der Vorschrift lautet auszugsweise: „Lithuania’s economy shall be based on the right of private ownership, freedom of individual economic activity and initiative“. 536 Lietuvos Respublikos Konstitucinis teismas v. 20.11.1996 – 2/96, Valstybes Zinios 114-2643 v. 27.11.1996 (offizielle englische Übersetzung abrufbar unter: ). 537 Siehe auch Zukas, Transformation des Vertragsrechts in Litauen (2011), S. 57. 538 Köplag, SFS 1990:931. Siehe darüber hinaus nur Kap. 14 § 2 und Kap. 16 § 3 Sjölag, SFS 1994:1009; § 2 Kommissionslag, SFS 2009:865. 539 Z. B. Högsta Domstolen v. 30.5.1991 – Ö1676-89, NJA 1991, 284. Ähnlich Högsta Domstolen v. 26.2.2001 – T3832-98, NJA 2001, 75 („inom den allmänna avtalsrätten rådande viktiga principen om avtalsfrihet“ (Herv. d. Verf.)). Siehe auch Marknadsdomstolen v. 4.5.2010, MD 2010:12 („Grundprincipen är att avtalsfrihet råder“). Allgemein zur Vertragsfreiheit z. B. Strömholm, FS Sveriges Advokatsamfund (1987), S. 531 ff.; Ramberg /  Ramberg, Allmän avtalsrätt (2014), S. 27 ff. 540 Vgl. nur Strömholm, FS Sveriges Advokatsamfund (1987), S. 531 ff. m. w. N.

§ 2 Vertragsfreiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts

193

grundrechtliches Fundament gestellt.541 Soweit ersichtlich, hat die schwedische Rechtsprechungspraxis die Gewährleistung der Vertragsfreiheit bislang nicht verfassungsrechtlich untermauert. Im Zuge des Inkrafttretens der EMRK ist in Schweden jedoch diskutiert worden, die Vertragsfreiheit ausdrücklich in der Verfassung zu verbürgen.542 Während im Ergebnis darauf verzichtet wurde, ist im Rahmen der Debatte doch der besondere Stellenwert der Vertragsfreiheit in der schwedischen Rechtsordnung sowie die Rechtfertigungsbedürftigkeit aller Einschränkungen dieser Freiheit betont worden.543 Auch Schweden zählt die Vertragsfreiheit demnach zu den Kernbestandteilen seiner Rechtsordnung. III. Verankerung der Vertragsfreiheit im Völkerrecht Das Völkerrecht kommt gleich in dreierlei Hinsicht als Referenzpunkt eines allgemeinen Grundsatzes der Vertragsfreiheit in Betracht: Zunächst genießen die Völkerrechtssubjekte umfassende Vertragsfreiheit beim Abschluss völkerrechtlicher Abkommen (1). Darüber hinaus ist die Vertragsfreiheit das Leitprinzip diverser völkervertraglicher Übereinkommen mit Bezug zum Privatrecht (2). Schließlich wird die Vertragsfreiheit potenziell auch als Grund- und Menschenrecht in völkerrechtlichen Abkommen verbürgt (3). 1. Allgemeiner völkervertragsrechtlicher Grundsatz Wie der zweite Rapporteur der International Law Commission (ILC) für Recht der Verträge, Sir Hersch Lauterpacht, bereits im Jahr 1953 prägnant herausgestellt hat, gilt im Recht der völkerrechtlichen Verträge „the general principle of law which postulates freedom of consent as an essential condition of […] consensual undertakings”.544

Dieses Prinzip umfassender Abschlussfreiheit hat Eingang in den Text der Wiener Vertragsrechtskonvention vom 23.5.1969 gefunden.545 Auch darüber hinaus wird das Völkervertragsrecht von einem allgemeinen Grundsatz der Ver541 Vgl. z. B. Ramberg / Ramberg, Allmän avtalsrätt (2014), S. 27 f. und vgl. auch Regeringens proposition 1993/94:117, Inkorporering av Europakonventionen och andra frioch rättighetsfrågor v. 9.12.1993. 542 Vgl. Regeringens proposition 1993/94:117, Inkorporering av Europakonventionen och andra frioch rättighetsfrågor v. 9.12.1993 („grundlagsskydd för avtalsfriheten“). 543 Vgl. wiederum Regeringens proposition 1993/94:117, Inkorporering av Europakonventionen och andra fri- och rättighetsfrågor v. 9.12.1993: „Vi anser att principen om avtalsfriheten är så viktig att denna inte bör inskränkas annat än i de fall då avtalsfriheten klart missbrukas“. 544 Report on the Law of Treaties, U.N. Doc. A/CN.4/63 v. 24.3.1953, in: Y.B. ILC Vol. 2 (1953), S. 90, 148. 545 Vgl. insbesondere Art. 6 und Art. 11 ff. Vienna Convention on the Law of Treaties 1969, 1155 UNTS, 331.

194

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

tragsfreiheit beherrscht: Die Vertragsparteien genießen beim Abschluss und bei der Ausgestaltung völkerrechtlicher Abkommen grundsätzlich umfassende Autonomie.546 Dabei geht es freilich allein um die Gewährleistung von „freedom of contract of sovereign states“ und sonstiger Völkerrechtssubjekte.547 2. Vertragsfreiheit als Grundprinzip privatrechtsrelevanter völkerrechtlicher Abkommen Die Vertragsfreiheit scheint darüber hinaus als allgemeiner Grundsatz auch in zahlreichen völkervertraglichen Abkommen mit privatrechtlichen Bezügen auf. Als Beispiele werden nachfolgend das Kaufrecht, das Transportvertragsrecht sowie das Immaterialgüterrecht in den Blick genommen. Zunächst gewährleistet das CISG nicht nur umfassende Parteiautonomie, sondern baut auch auf dem Grundsatz der Vertragsfreiheit auf, wie Art. 6 CISG verdeutlicht: „Die Parteien können die Anwendung dieses Übereinkommens ausschließen oder, vorbehaltlich des Artikels 12, von seinen Bestimmungen abweichen oder deren Wirkung ändern“.548

Eine vergleichbare Regelung enthielt bereits Art. 3 ULIS.549 Auch internationale Rechtsvereinheitlichungsprojekte, wie insbesondere die durch UNIDROIT erarbeiteten PICC 2010,550 heben die Vertragsfreiheit als zentralen privatrechtlichen Grundsatz hervor. Art. 1.1 PICC 2010 („freedom of contract“) stellt folgende Vorschrift voran: „The parties are free to enter into a contract and to determine its content“. Begründet wird diese Regelung mit der allgemeinen Geltung und herausragenden Bedeutung der Vertragsfreiheit im internationalen Handelsverkehr.551 546 Siehe zum allgemeinen Grundsatz der Vertragsfreiheit im Völkervertragsrecht nur D’Amato, Harv. Int. L.J. 3 (1962), 1, 7 („contracting parties are free, by virtue of the freedom of contract“); Dahm / Delbrück / Wolfrum, Völkerrecht I/3 (2002), S. 535 ff.; Daillier /  Pellet, Droit international public (2002), S. 118 ff.; Bischoff, Die Europäische Gemeinschaft und die Konventionen des einheitlichen Privatrechts (2010), S. 286 f. Implizit wird dies auch durch Art. 53 Wiener Vertragsrechtskonvention anerkannt, da laut dieser Norm nur das ius cogens der Vertragsfreiheit der Parteien Grenzen setzt. 547 Statt vieler Dajani, Mich. J. Int. L. 34 (2012), 1, 3. Vgl. auch Art. 6 Wiener Vertragsrechtskonvention. 548 Zu den Einzelheiten und Grenzen statt vieler Staudinger / Magnus (2013), Art. 6 CISG Rn. 1 und 8 ff.; Ferrari / Kieninger / Mankowski / Saenger, Internationales Vertragsrecht (2011), Art. 6 CISG Rn. 1; MünchKommHGB / Benicke (2013), Art. 6 CISG Rn. 1. 549 Art. 3 Convention relating to a Uniform Law on the International Sale of Goods v. 1.7.1964, BGBl. 1973 II, S. 885 lautet auszugsweise: „The parties to a contract of sale shall be free to exclude the application thereto of the present Law either entirely or partially“. 550 UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts 2010. 551 UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts 2010, S. 8: „The principle of freedom of contract is of paramount importance in the context of international trade. The right of business people to decide freely to whom they will offer their goods or

§ 2 Vertragsfreiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts

195

Obschon das Transportvertragsrecht zahlreiche zwingende Regelungen enthält,552 scheint in internationalen Übereinkommen in diesem Bereich wiederholt die Vertragsfreiheit auf: So eröffnet etwa Art. 52 CIM553 den Beförderern untereinander beim Eisenbahntransport die Freiheit, Vereinbarungen über Rückgriffsansprüche zu treffen.554 Eine ähnliche Regelung enthält auch Art. 40 CMR555 für den Straßengüterverkehr.556 Besonders deutlich wird der allgemeine Grundsatz in dem mit „Vertragsfreiheit“ („liberté de contracter“, „freedom to contract“) betitelten Art. 27 MÜ557 herausgestellt, der insbesondere die Vertragspartnerwahl-, Abschluss- und Inhaltsfreiheit betont: „Dieses Übereinkommen hindert den Luftfrachtführer nicht daran, den Abschluss eines Beförderungsvertrags zu verweigern, auf Einwendungen, die ihm nach dem Übereinkommen zur Verfügung stehen, zu verzichten oder Vertragsbedingungen festzulegen, die nicht im Widerspruch zu diesem Übereinkommen stehen“.558

Die grundsätzliche Formfreiheit von Luftbeförderungsverträgen sieht zudem Art. 9 MÜ vor.559 Im Bereich der Binnenschifffahrt wird die Vertragsfreiheit als allgemeiner Grundsatz in Art. 25 CMNI560 vorausgesetzt, der zwar Begrenzungen der Vertragsfreiheit normiert („limites de la liberté contractuelle“, „limits of contractual freedom“), im Übrigen aber rechtsgeschäftliche

services and by whom they wish to be supplied, as well as the possibility for them freely to agree on the terms of individual transactions, are the cornerstones of an open, marketoriented and competitive international economic order“. 552 Siehe zur Beschränkung der einzelnen Facetten der Vertragsfreiheit eingehend Basedow, Der Transportvertrag (1987), S. 127 ff, 191 ff. und 247 ff. 553 Einheitliche Rechtsvorschriften für den Vertrag über die internationale Eisenbahnbeförderung von Gütern (CIM) – Anhang B zum Übereinkommen über den internationalen Eisenbahnverkehr (COTIF) vom 9. Mai 1980 in der Fassung des Revisionsausschusses der OTIF v. 25.6.2009, BGBl. 2010 II, S. 1246, 1247. 554 Art. 52 CIM lautet: „Den Beförderern steht es frei, untereinander Vereinbarungen zu treffen, die von den Artikeln 49 und 50 abweichen“. Dazu statt aller MünchKommHGB / Freise (2014), Art. 52 CIM Rn. 1. 555 Übereinkommen über den Beförderungsvertrag im internationalen Straßengüterverkehr (CMR) v. 19.5.1956, BGBl. 1961 II, S. 1120. 556 Art. 40 CMR lautet: „Den Frachtführern steht es frei, untereinander Vereinbarungen zu treffen, die von den Artikeln 37 und 38 abweichen”. Siehe dazu nur MünchKommHGB / Jesser-Huß (2014), Art. 40 CMR Rn. 1. 557 Übereinkommen zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr (Montrealer Übereinkommen) vom 28. Mai 1999, BGBl. 2004 II, S. 458. 558 Eingehend MünchKommHGB / Ruhwedel (2014), Art. 40 MÜ Rn. 1 ff. 559 Statt aller MünchKommHGB / Ruhwedel (2014), Art. 1 MÜ Rn. 12, Art. 9 MÜ Rn. 2 und Art. 40 MÜ Rn. 1. 560 Budapester Übereinkommen über den Vertrag über die Güterbeförderung in der Binnenschifffahrt (CMNI) v. 22.6.2001, BGBl. 2007 II, S. 298.

196

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

Privatautonomie gewährt.561 Zudem findet sich gerade im Bereich der Transportversicherung eine bedeutende Anerkennung des Grundsatzes der Vertragsfreiheit im Kontext des GATT 1947:562 Die Vertragsparteien des GATT nahmen bereits im Jahr 1959 eine Empfehlung betreffend „Freedom of Contract in Transport Insurance“ an.563 Schließlich nimmt auch das TRIPS564 die „freely negotiated licence“565 zum Leitbild und fordert in Art. 28 Abs. 2 TRIPS umfassende Vertragsfreiheit, insbesondere in Bezug auf Lizenzverträge, ein: „Patent owners shall also have the right to […] conclude licensing contracts“.

Der Grundsatz der Vertragsfreiheit ist somit allen vorgenannten privatrechtsrelevanten Übereinkommen präsent. 3. Grundrechtliche Dimension völkerrechtlicher Abkommen Die Vertragsfreiheit ist in völkerrechtlichen Übereinkommen zumindest partiell auch als Grund- und Menschenrecht verbürgt: Wie bereits dargelegt, wird die rechtsgeschäftliche Privatautonomie nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR als Facette der durch Art. 1 des 1. Protokolls zur EMRK geschützten Eigentumsfreiheit gewährleistet.566 Dies bedeutet zugleich, dass die Vertragsfreiheit insoweit auch in allen EU-Mitgliedstaaten grundrechtlich garantiert wird. Darüber hinaus wird die Vertragsfreiheit womöglich auch durch die UN-MRK567 geschützt: Mit unterschiedlicher Akzentsetzung wird diese Freiheit unter anderem aus Art. 16 (Eheschließungsfreiheit), Art. 17 (Vereinigungsfreiheit) sowie aus Art. 1 und Art. 3 UN-MRK (Menschenwürde und Freiheitsrecht) hergeleitet.568 Auch Art. 16 International Convention 561 Dazu statt vieler MünchKommHGB / Otte (2014), Art. 25 CMNI Rn. 5: „Grundsätzlich sind die Vertragsparteien frei, einen Frachtvertrag zu schließen, seinen Inhalt zu bestimmen und – in den Grenzen von Art. 25 – Abweichungen von den Regelungen der CMNI zu vereinbaren“. 562 General Agreement on Tariffs and Trade v. 30.10.1947, 55 UNTS, 194. 563 GATT Secretariat, Freedom of Contract in Transport Insurance v. 27.5.1959, BISD 8th Supp. 26 (1960). Siehe Footer / George, in: Macrory / Appleton / Plummer (eds.), The World Trade Organization: Legal, Economic and Political Analysis I (2005), S. 799, 803. 564 Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights v. 15.4.1994, 1869 UNTS, 299. 565 Vgl. Art. 37 Abs. 1 TRIPS. 566 Siehe beispielsweise EGMR Urt. v. 19.12.1989 – Nr. 10522/83 u. a. (Mellacher u. a./ Austria), Rn. 50 ff.; EGMR Urt. v. 19.6.2006 – Nr. 35014/97 (Hutten-Czapska / Poland), Rn. 160 f.; EGMR Urt. v. 28.1.2014 – Nr. 30255/09 (Bittó u. a./Slovakia), Rn. 97 f. und 101 Siehe dazu erneut oben § 1 A II 2 a. 567 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte v. 10.12.1948, A/RES/217, UN-Doc. 217/A-(III). 568 In diesem Sinne z. B. Alpa / Andenæs, Grundlagen des Europäischen Privatrechts (2010), S. 48 f. Für die Verbürgung der Vertragsfreiheit als Menschenrecht auch Petersmann, EJIL 13 (2002), 621, 626 und 630; Schneider, FS Petersmann (2014), S. 453, 456 f.

§ 2 Vertragsfreiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts

197

on Civil and Political Rights („Right to Recognition as a Person before the Law“) wird teilweise dahingehend verstanden, dass hierin auch die grundsätzliche Fähigkeit des Menschen verbürgt wird, Verträge einzugehen.569 Schließlich ist insbesondere auch die Parteiautonomie als Ausfluss der durch die UNMRK sowie die International Convention on Civil and Political Rights geschützte Freiheit des Individuums bezeichnet worden.570 Mag der Schutz der Vertragsfreiheit auch bereichsspezifisch und lückenhaft sein, so werden zumindest einzelne Facetten der privaten rechtsgeschäftlichen Autonomie in internationalen Übereinkommen als Grund- und Menschenrechte garantiert.571 C. Vertragsfreiheit als Grundsatz des Unionsprivatrechts und Unionsgrundrecht i.S.d. Art. 6 Abs. 3 EUV Die Bestandsaufnahme im Unions- und Völkerrecht sowie in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen hat eine Fülle von Verbürgungen der Vertragsfreiheit zutage gefördert. Das empirische Material ist im Folgenden daraufhin zu prüfen, ob es in der Zusammenschau einen Induktionsschluss auf einen allgemeinen privatrechtlichen Grundsatz der Vertragsfreiheit (I) ebenso wie auf einen Grundsatz im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV (II) zu tragen vermag. I.

Unionsprivatrechtlicher Rechtsgrundsatz

Bereits die Untersuchung des EU-privatrechtlichen acquis und insbesondere des unionalen Verbraucher-, Finanzdienstleistungs- und Wirtschaftsvertragsrechts hat gezeigt, dass in allen Regelungsbereichen im Grundsatz umfassende Vertragsfreiheit vorausgesetzt wird. Die Heterogenität der Materien und Rechtsakte verdeutlicht dabei, dass es sich nicht um eine Freiheit handelt, die nur sektoriell im Unionsrecht garantiert wird, sondern vielmehr um ein übergreifendes, weitgespanntes Prinzip, dass überall anzutreffen ist, wo schuldvertragliche Beziehungen in Rede stehen. Die sieben im Rahmen dieser Abhandlung identifizierten Facetten der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie werden ausdrücklich in der Rechtsprechung des EuGH anerkannt,572 und der Unionsgesetzgeber hebt ebenfalls in unterschiedlichen Bereichen auf einen

(„inseparable link to the human right to liberty“). Dezidiert a. A. ist beispielsweise Alston, EJIL 13 (2002), 815 ff. 569 Vgl. etwah Joseph / Castan, The International Convention on Civil and Political Rights (2013), S. 336 f. („all humans can enter into contracts“). 570 In diesem Sinne Jayme, Rapport définitif, in: Institut de droit international, Annuaire 64 I (1991), S. 62, 65 ff.; Basedow, RabelsZ 75 (2011), 32, 54 ff.; ders., The Law of Open Societies (2015), S. 148 f. 571 So auch Alpa / Andenæs, Grundlagen des Europäischen Privatrechts (2010), S. 48 f. 572 Siehe eingehend oben § 1 B I und § 2 B I.

198

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

allgemeinen „Grundsatz der Vertragsfreiheit“ ab.573 Überdies wird die Vertragsfreiheit implizit dadurch anerkannt, dass mannigfaltige Regelungen des unionalen Privat- und Wirtschaftsrechts die Vertragsfreiheit in all ihren Facetten beschränken.574 Solcher Einschränkungen bedarf es denknotwendig nur, wenn im Ausgangspunkt zunächst umfassende Vertragsfreiheit besteht.575 Dieser unionsrechtsimmanente Befund wird durch die Verankerung der Vertragsfreiheit im Völkerrecht bestätigt.576 Zum einen ist das Völkervertragsrecht selbst vom Grundsatz der Vertragsfreiheit der Völkerrechtssubjekte beherrscht. Zum anderen bildet die Vertragsfreiheit das Leitprinzip vieler völkerrechtlicher Abkommen mit Privatrechtsbezug, etwa im Bereich des Kauf- und des Transportrechts. Die umfassende internationale Anerkennung der Vertragsfreiheit zeigt sich nicht zuletzt daran, dass diese Freiheit in privatrechtlichen Harmonisierungsprojekten vorangestellt wird, wie etwa Art. 1.1 PICC 2010, Art. 1:102 PECL und Art. II.–1:102(1) DCFR belegen.577 Vor allem aber erkennen sämtliche im Rahmen der rechtsvergleichenden Umschau untersuchten mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen die Vertragsfreiheit als allgemeinen Grundsatz des Privatrechts an.578 Die unionsrechtsimmanente, völkerrechtliche und rechtsvergleichende Betrachtung liefert damit ein solides Fundament für die induktive Begründung eines allgemeinen privatrechtlichen Rechtsgrundsatzes der Vertragsfreiheit in der Unionsrechtsordnung. Die rechtsgeschäftliche Privatautonomie erfüllt alle Anforderungen, die der EuGH und seine Generalanwälte an allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts stellen:579 Zunächst zählt diese Freiheit jeweils zum Kernbestandteil des Unionsrechts, des Völkerrechts und der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen.580 Zudem beansprucht der Grundsatz 573 Siehe erneut nur Erwägungsgründe Nr. 8 und 9 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie; Erwägungsgrund Nr. 14 Unisexrichtlinie; Erwägungsgrund Nr. 7 Euro-Einführungsverordnung. Vgl. auch Erwägungsgründe Nr. 28 und 29 Zahlungsverzugsrichtlinie. In ihrem Aktionsplan für ein europäisches Vertragsrecht erhebt schließlich auch die Europäische Kommission die Vertragsfreiheit zum „[l]eitenden Grundsatz“, siehe Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat – Ein kohärenteres europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan, ABl. 2003 C 61/1, 11 und 15: „Leitender Grundsatz sollte hierbei die Vertragsfreiheit sein; Einschränkungen sollten nur dann vorgesehen werden, wenn es gute sachliche Gründe dafür gibt“. 574 Siehe eingehend oben § 1 B II. 575 In diesem Sinne bereits zuvor Schulze, GPR 2005, 56, 58; Müller-Graff, in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung (2011), S. 139, 148. 576 Siehe oben oben B III. 577 Hierzu eingehend Hosemann, in: Jansen/Zimmermann (eds.), Commentaries on European Contract Laws (2018), Art. 1:102 Rn. 1 ff. 578 Siehe erneut oben B II. 579 Siehe zu den Kriterien oben A sowie GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C:2011:559 Rn. 112. 580 Siehe oben § 1 B und § 2 B.

§ 2 Vertragsfreiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts

199

allgemeine Geltung im Privatrecht und ist nicht nur auf einen einzelnen Rechtsbereich beschränkt.581 Schließlich weist der Grundsatz der Vertragsfreiheit im Unionsrecht beim derzeitigen Stand weit mehr als nur ein „Mindestmaß an normativer Bestimmtheit“ auf,582 da bereits sieben Facetten dieser Freiheit im Unionsrecht umfassend ausdifferenziert sind.583 Dieser Befund überzeugt schließlich auch in Ansehung der Funktion allgemeiner Rechtsgrundsätze des EU-Privatrechts: Nach mittlerweile gefestigter Rechtsprechung des EuGH sollen diese Grundsätze in Vertragsbeziehungen „für einen vernünftigen Ausgleich und eine gerechte Risikoverteilung zwischen den einzelnen Beteiligten sorgen“.584 Doch welcher vertragliche Ausgleich und welche Risikoverteilung kann prima facie eine höhere Überzeugungskraft entfalten als das von den Parteien vermöge ihrer Vertragsfreiheit ausdrücklich Vereinbarte?585 Insgesamt zählt die Vertragsfreiheit als unverzichtbares Instrument privatautonomer Selbstbestimmung schon beim derzeitigen Stand der Rechtsentwicklung zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsprivatrechts. II. Vertragsfreiheit als Grundrecht im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV Bereits in der Bestandsaufnahme im Recht der EU und insbesondere in der Rechtsprechung des EuGH klingt wiederholt an, dass der „Grundsatz der Vertragsfreiheit“ grund- und damit primärrechtliche Dignität genießt.586 Lenkt man den Blick darüber hinaus auf das Völkerrecht, so zeigt sich, dass einzelne Facetten der Vertragsfreiheit auch durch internationale Abkommen als Grund- und Menschenrechte garantiert werden.587 Insbesondere schützt Art. 1 des ersten Zusatzprotokolls zur EMRK nach der Lesart des EGMR die rechtsgeschäftliche Privatautonomie. Diese Verbürgung der Vertragsfreiheit als EMRK-Grundrecht ist schon ausweislich des Wortlauts des Art. 6 Abs. 3 EUV bei der Begründung eines ungeschriebenen allgemeinen Grundsatzes des Unionsrechts von besonderer Bedeutung. Während diese Garantie im Rahmen der EMRK sachlich eng umgrenzt ist,588 zeigt die rechtsvergleichende Umschau in den mitgliedstaatlichen Siehe erneut oben § 1 B und § 2 B. Vgl. GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C: 2011:559 Rn. 112. 583 Siehe wiederum oben § 1 B I und § 2 B I. 584 Vgl. EuGH Urt. v. 15.4.2010 – Rs. C-215/08 (E. Fritz), Slg. 2010, I-2947 Rn. 48; EuGH Urt. v. 19.12.2013 – Rs. C-174/12 (Hirmann), EU:C:2013:856 Rn. 61. 585 Auf die „Richtigkeitsgewähr“ des Vertragsmechanismus im Unionsrecht wird noch umfassend zurückzukommen sein, siehe unten Kapitel 3 § 3 B. 586 Siehe oben B I 2 und vgl. insbesondere GA Kokott Schlussanträge v. 17.9.2009 – Rs. C-441/07 P (Kommission / Alrosa), Slg. 2010, I-5949 Rn. 225. 587 Siehe oben B III. 588 Vgl. oben § 1 A II 2 a. 581 582

200

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

Rechtsordnungen, dass die Vertragsfreiheit dort umfassend geschützt wird.589 Namentlich ruht die Vertragsfreiheit in der überwiegenden Mehrzahl der verglichenen Rechtsordnungen auf einem verfassungsrechtlichen Fundament. Dabei ist der Schutz dieser Freiheit teilweise ebenfalls an spezielle Grundrechte gebunden: In Italien und Spanien steht etwa das Grundrecht auf wirtschaftliche Betätigung im Zentrum, während die Vertragsfreiheit z. B. in Portugal und in Österreich auch auf die Berufsfreiheit gestützt wird. In Deutschland, Polen und Litauen kann die rechtsgeschäftliche Privatautonomie darüber hinaus auf einem allgemeinen Freiheitsgrundrecht fußen. Diese Doppelnatur der Vertragsfreiheit als Grundrecht und privatrechtliches Prinzip findet auch über den Kreis der hier untersuchten Rechtsordnungen hinaus eine Bestätigung: So ist die Vertragsfreiheit etwa in Griechenland und in Slowenien sowohl privat- als auch gerade verfassungsrechtlich verbürgt.590 Und obschon die Vertragsfreiheit etwa in der belgischen Rechtsordnung nicht an einer konkreten Verfassungsnorm festgemacht wird, lässt sich dort dennoch eine „quasi-constitutionnalisation“591 beobachten: Die Verfassungsgerichtsbarkeit erhebt die Vertragsfreiheit zum Prüfungsmaßstab und wägt sie mit anderen grundrechtlich geschützten Positionen ab.592 Auch soweit der Grundrechtscharakter der Vertragsfreiheit z. B. in Schweden bislang nicht umfassend anerkannt worden ist, bildet die Vertragsfreiheit dort jedenfalls ein Kernelement der nationalen Rechtsordnung.593 Selbst im Vereinigten Königreich, das über kein Verfassungsdokument im engeren Sinne verfügt, hat die höchstrichterliche Rechtsprechung den besonderen Stellenwert der Vertragsfreiheit betont und wiederholt herausgestellt: „[F]reedom to contract between the subjects of this country is a fundamental right“.594

Vgl. oben B II. Siehe nur Mežnar, in: Colombi Ciacchi (ed.), Protection of Non-Professional Sureties in Europe (2007), S. 247, 256 f.; Erifillidis, in: Colombi Ciacchi / Weatherill (eds.), Regulating Unfair Banking Practices in Europe (2010), S. 277, 297; Colombi Ciacchi, in: Kenny / Devenney / Fox O’Mahony (eds.), Unconscionability in European Private Financial Transactions (2010), S. 7, 14 und 16, dort jeweils m. w. N. zur Rechtsprechung. 591 In diesem Sinne mit Blick auf Frankreich Terneyre, AJDA 1998, 676, 682 f. 592 Vgl. erneut nur Cour constitutionnelle v. 1.9.2008 – n° 130/2008, M.B. 2008, 48885, 48888; Cour constitutionnelle v. 10.11.2011 – n° 166/2011, M.B. 2012, 7373, 7377. 593 Siehe erneut oben B II 12. 594 Mixnam’s Properties Ltd v Chertsey Urban District Council [1965] AC 735, 764 (Lord Upjohn). Darüber hinaus klingt in Stewart v Perth and Kinross Council [2004] UKHL 16 (Lord Steyn) gerade die Bindung der gesetzgebenden Gewalt an die Vertragsfreiheit an: „[F]reedom to contract is a fundamental right, and […] if Parliament intends to empower a third party to make conditions which regulate the terms of contracts to be made between others then […] it must do so in clear terms“. Vgl. jüngst auch Parkwood Leisure Ltd v Alemo-Herron and others [2011] UKSC 26 (Lord Hope). 589 590

§ 2 Vertragsfreiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts

201

Vor diesem Hintergrund genügt die Vertragsfreiheit den Anforderungen an einen allgemeinen Rechtsgrundsatz im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV: Die rechtsgeschäftliche Privatautonomie zählt als individuelles Freiheitsrecht zum Kernbestand der mitgliedstaatlichen, völkerrechtlichen und supranationalen Rechtsordnungen.595 Im Rahmen der wertenden Rechtsvergleichung nach Art. 6 Abs. 3 EUV sind dabei auch solche Freiheitsgarantien zu berücksichtigen, die nicht unmittelbar auf Verfassungsnormen im engeren Sinne rückführbar sind, wohl aber zum Nukleus der jeweiligen Rechtsordnung gehören.596 Vor allem verbürgt die EMRK in Art. 1 des ersten Zusatzprotokolls die Vertragsfreiheit nicht nur auf völkerrechtlicher Ebene, sondern trägt diese grundrechtliche Garantie auch in die Rechtsordnungen der EU-Mitgliedstaaten als Konventionsstaaten hinein. Im Unionsrecht wie auch im nationalen Recht und im Völkerrecht beansprucht der Grundsatz der Vertragsfreiheit allgemeine und nicht nur sektorspezifische Geltung.597 Schließlich ist die Vertragsfreiheit inhaltlich hinreichend bestimmt,598 da nicht nur ihre einzelnen Facetten bereits ausdifferenziert sind,599 sondern der EuGH auch den grundrechtlichen Wesensgehalt dieser Freiheit schon umrissen hat.600 III. Fazit Die Vertragsfreiheit ist in der Rechtsordnung der EU überall dort umfassend präsent, wo vertragliche Rechtsverhältnisse in Rede stehen. Gerade die Heterogenität der Sachmaterien und ihrer Regelungsziele verdeutlichen, dass die Vertragsfreiheit ein übergreifender, allgemeiner Rechtsgrundsatz ist.601 Dabei ist die Vertragsfreiheit nicht nur als allgemeiner Grundsatz des Unionsprivatrechts, sondern zugleich auch als ein auf Ebene des Primärrechts angesiedelSiehe erneut oben § 1 B und § 2 B. Siehe erneut oben A II 3, III. Siehe auch GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C:2011:559 Rn. 112. Soweit ersichtlich, wird die Vertragsfreiheit seit Außerkrafttreten des Art. 152 Weimarer Reichsverfassung ohnehin nur in Art. 2 Nr. 14 Constitución política del Perú (1993) explizit als Grundrecht erwähnt: „Toda persona tiene derecho: […] A contratar con fines lícitos, siempre que no se contravengan leyes de orden público“. Vgl. auch Art. 62 Constitución política del Perú (1993): „La libertad de contratar garantiza que las partes pueden pactar válidamente según las normas vigentes al tiempo del contrato“. 597 Siehe erneut oben § 1 B und § 2 B. 598 Vgl. zum „Mindestmaß an normativer Bestimmtheit“ erneut nur GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C:2011:559 Rn 112. 599 Siehe wiederum oben § 1 B I und II. 600 Vgl. EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 34 f.; EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 68 und 87; EuGH Urt. v. 27.4.2017 – Rs. C-680/15 u.a. (Asklepios Kliniken u.a.), EU:C: 2017:317 Rn. 23. Siehe zum Wesensgehalt der Vertragsfreiheit eingehend unten § 3 A II. 601 In diesem Sinne bereits Schulze, GPR 2005, 56, 58. 595 596

202

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

tes Unionsgrundrecht verbürgt.602 Als Grundrecht wird die Vertragsfreiheit bereichsspezifisch zunächst durch die GRCh und insbesondere deren Art. 16 geschützt. Darüber hinaus ist die Vertragsfreiheit als ungeschriebenes Unionsgrundrecht gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV umfassend in der EU-Rechtsordnung verbürgt. Die Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Kommission/Alrosa geben demnach eine prägnante Zusammenfassung des gegenwärtigen Standes der unionalen Rechtsentwicklung sowohl im Bereich des Unionsprivatrechts als auch im Bereich der EU-Grundrechte: „Die Vertragsfreiheit gehört zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des [Unions]rechts“.603

Dies wirft die Frage nach dem Gewährleistungsgehalt und und den privatrechtlichen Einwirkungsachsen dieser mehrdimensionalen Freiheit auf.

§ 3 Gewährleistungsgehalt unionaler Vertragsfreiheit § 3 Gewährleistungsgehalt unionaler Vertragsfreiheit

Der Gehalt der unionalen Vertragsfreiheit ist im Zusammenhang mit der Funktionsbestimmung dieser Freiheit in der Rechtsordnung der Union zu sehen. Die Vertragsfreiheit ist die rechtliche Garantie einer bedeutsamen Facette der im Unionsrecht postulierten natürlichen Selbstbestimmungsfreiheit des Menschen: Namentlich verwirklicht und schützt sie die Selbstbestimmung in allen vertraglichen Angelegenheiten.604 Da sie als Unionsgrundrecht und als allgemeiner Rechtsgrundsatz des EU-Privatrechts diese Funkti602 Für eine grundrechtliche Verbürgung plädieren bereits GA Jacobs Schlussanträge v. 28.1.1999 – verb. Rs. C-67/96 u. a. (Albany u. a.), Slg. 1999, I-5751 Rn. 161; GA Kokott Schlussanträge v. 17.9.2009 – Rs. C-441/07 P (Kommission / Alrosa), Slg. 2010, I-5949 Rn. 225. Wie hier z. B. Canaris, FS Lerche (1993), S. 873, 890; Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85, 94 f.; Bruns, JZ 2007, 385, 392; Safjan / Miklaszewicz, ERPL 18 (2010), 475, 484 f.; Hartkamp, ERPL 18 (2010), 527, 548. 603 GA Kokott Schlussanträge v. 17.9.2009 – Rs. C-441/07 P (Kommission / Alrosa), Slg. 2010, I-5949 Rn. 225. In diese Richtung bereits GA Trstenjak Schlussanträge v. 28.3.2007 – Rs. C-331/05 P (Internationaler Hilfsfonds / Kommission), Slg. 2007, I-5475 Rn. 93. A. A. Starke, EU-Grundrechte und Vertragsrecht (2016), S. 262 f. Auch Prassl, ILJ 42 (2013), 434, 442 bezweifelt im Kontext der Alemo-Herron-Entscheidung des EuGH, „that freedom of contract is anywhere near as fundamental a principle of EU law as […] the Court suggest“. 604 Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang (1999), S. 17 und M.-P. Weller, Die Vertragstreue (2009), S. 171 sprechen treffend von der „Transformation der Selbstbestimmung in die Rechtsordnung“, die sich laut v. Arnauld, Rechtssicherheit (2006), S. 135 f. darin äußert, „dass der Staat private Vereinbarungen als Recht anerkennt“. In diesem Sinne auch z. B. Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers (1998), S. 208; Herresthal, in: Ziegler / Huber (eds.), Current Problems in the Protection of Human Rights (2013), S. 89, 91. Siehe zum Postulat der natürlichen Selbstbestimmungsfreiheit im Unionsrecht erneut oben Kapitel 1 § 3 A.

§ 3 Gewährleistungsgehalt unionaler Vertragsfreiheit

203

on gleichermaßen erfüllt, hat die Vertragsfreiheit in der Unionsrechtsordnung grundsätzlich einen einheitlichen Gewährleistungsgehalt (A). Demgegenüber mag der Anwendungsbereich der EU-Grundrechte einerseits und der privatrechtlichen Rechtsgrundsätze andererseits durchaus differieren (B). A. Inhalt Beim derzeitigen Stand der Rechtsentwicklung sind weder der Inhalt noch die Schranken der unionalen Vertragsfreiheit hinreichend konturiert und systematisch aufgearbeitet worden.605 Erkenntnisfortschritt verspricht die umfassende Analyse einer möglichst breiten Basis unionsrechtlicher Sachmaterien sowie der hierzu ergangenen EuGH-Judikatur. Zuvor ist allerdings der grundlegenden Frage nachzugehen, ob der Schutzbereich der Vertragsfreiheit ausgestaltungsbedürftig und damit normgeprägt ist oder ob diese Freiheit in der Unionsrechtsordnung vielmehr eigenständigen Gehalt hat (I). Von hier ausgehend können der Inhalt und insbesondere der Wesensgehalt der Vertragsfreiheit in der Unionsrechtsordnung bestimmt werden (II). Schließlich ist die Einschränkbarkeit der Vertragsfreiheit auszuleuchten (III). I.

Autonomer Schutzbereich

Nach einer Lesart wird die Vertragsfreiheit in der Unionsrechtsordnung von vornherein nur in dem durch das unionale und mitgliedstaatliche (Privat)Recht gesteckten Rahmen gewährleistet.606 Der Schutzbereich der als privatrechtlicher Grundsatz und als Unionsgrundrecht garantierten Vertragsfreiheit wäre demnach normgeprägt.607 Diese These stützt sich im Wesentlichen auf die Formulierung des Art. 16 GRCh: Nach dieser Vorschrift wird die unternehmerische Freiheit, einschließlich der Vertragsfreiheit, „nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkannt“. Dies wird vereinzelt als Verweis darauf verstanden, dass bereits der Gewährleistungsgehalt des Art. 16 GRCh durch mitgliedstaatliche und unionale Regelungen vorgezeichnet ist.608 Selbst einschneidende Regelungen der Union oder ihrer Mitgliedstaaten, wie z. B. Kontrahierungszwänge, wären demnach gar keine Verkürzungen, sondern lediglich Ausgestaltungen der 605 Dies kritisiert auch Herresthal, in: Ziegler / Huber (eds.), Current Problems in the Protection of Human Rights (2013), S. 89, 102. 606 In diesem Sinne etwa Picod, FS Jacqué (2010), S. 527, 533. 607 Vgl. zur These des normabhängigen Schutzbereichs der Vertragsfreiheit nur Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte (2005), S. 192 ff., der sich treffend gegen eine solche vollständige „Rechtsabhängigkeit der Vertragsfreiheit“ stellt. 608 So insbesondere von Picod, FS Jacqué (2010), S. 527, 533. Auch Everson / Correia Gonçalves, in: Peers / Hervey / Kenner (eds.), EU Charter (2014), Art. 16 Rn. 16.47 postulieren „that contractual freedom will form a part of the jurisdiction of Article 16, but that its ambit remains restricted “ (Herv. d. Verf.).

204

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

unionalen Vertragsfreiheit. Tatsächlich sind nach Auffassung des Generalanwalts Wahl Energieversorgungsverträge, die auf einen im Unionsrecht wurzelnden und damit in den Anwendungsbereich des Art. 16 GRCh fallenden Kontrahierungszwang vermeintlich von vornherein „nicht dem Bereich der Vertragsfreiheit zuzurechnen. Dies zeigt sich besonders deutlich darin, dass Anbieter nach den einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften gezwungen sind, Verträge auch mit unerwünschten Kunden abzuschließen“.609

Auch hat der EuGH zumindest mit Blick auf die Solidaritätsrechte der Charta, wie etwa Art. 27 GRCh, herausgestellt, dass diese Normen erst „durch Bestimmungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts konkretisiert werden“ müssen, um dem Einzelnen überhaupt Rechte verleihen zu können. 610 Während es sich aber bei Art. 27 um ein lediglich als „Grundsatz“ im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRCh geschütztes Solidaritätsrecht des Titels IV der Charta handelt, ordnet der EuGH Art. 16 GRCh als vollwertiges Freiheitsgrundrecht ein. 611 Hätte das einfache (Privat)Recht der Mitgliedstaaten und der Union uneingeschränkte Definitionsmacht über den Gehalt der unter anderem in Art. 16 GRCh grundrechtlich verbürgten unionalen Vertragsfreiheit, könnte diese Freiheitgewährleistung völlig ausgehöhlt werden. Da die mitgliedstaatlichen Rechtsvorschriften nach wie vor variieren, gäbe es im Rahmen des Art. 16 GRCh zudem überhaupt keinen autonomen unionsrechtlichen, sondern nur einen nach Rechtsordnungen zersplitterten, unionsweit unterschiedlichen Schutz der Vertragsfreiheit. Dies verstieße gegen den Grundsatz der Einheitlichkeit des Unionsrechts und nähme Art. 16 GRCh seine Effektivität. 612 609 So mit Blick auf Art. 3 Abs. 3 Elektrizitäts- und Art. 3 Abs. 3 Erdgasbinnenmarktrichtlinie GA Wahl Schlussanträge v. 8.5.2014 – verb. Rs. C-359/11 u. a. (Schulz u. a.), EU:C:2014:319 Rn. 34 (Herv. d. Verf.). 610 EuGH Urt. v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 (Association de médiation sociale), EU:C: 2014:2 Rn. 45 ff. Vgl. zu Art. 34 GRCh auch EuGH Urt. v. 24.4.2012 – Rs. C-571/10 (Kamberaj), EU:C:2012:233 Rn. 92. Auch bemerkt EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C283/11 (Sky Österreich), EU:C:2013:28 Rn. 46; EuGH Urt. v. 28.11.2013 – Rs. C-348/12 P (Kala), EU:C:2013:776 Rn. 123, dass der Wortlaut des „Art. 16 der Charta […] sich von dem der anderen grundrechtlich geschützten Freiheiten, die in ihrem Titel II verankert sind, unterscheidet und dabei dem Wortlaut einiger Bestimmungen ihres Titels IV ähnelt“. 611 Deutlich z. B. EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013: 521 Rn. 32, der gerade von einem Unionsgrundrecht und nicht nur von einem „Grundsatz“ im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRCh spricht. Wie hier z. B. Oliver, in: Bernitz / Groussot /  Schulyko (eds.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), S. 281, 295 f. A. A. Picod, FS Jacqué (2010), S. 527, 533. 612 Deutlich bereits EuGH Urt. v. 13.12.1979 – Rs. 44/79 (Hauer), Slg. 1979, 3727 Rn. 14: „Die Aufstellung besonderer, von der Gesetzgebung oder der Verfassungsordnung eines bestimmten Mitgliedstaates abhängiger Beurteilungskriterien würde die materielle Einheit und die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts beeinträchtigen und hätte daher unausweichlich die Zerstörung der Einheit des gemeinsamen Marktes und eine Gefährdung des Zusammenhalts der Gemeinschaft zur Folge“ (Herv. d. Verf.).

§ 3 Gewährleistungsgehalt unionaler Vertragsfreiheit

205

Vor diesem Hintergrund definiert der EuGH den Schutzbereich des Art. 16 GRCh nicht in Abhängigkeit von anderen Normen, sondern zieht die Vertragsfreiheit in den Rechtssachen Alemo-Herron sowie Sky Österreich als eine feste, unionsrechtlich-autonome Grenze für mitgliedstaatliche und unionale Beschränkungen der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie heran.613 Die Bezugnahme auf das Unionsrecht und die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften in Art. 16 ebenso wie in Art. 52 Abs. 6 GRCh trägt lediglich dem Umstand Rechnung, dass die unternehmerische Freiheit und damit auch die darin mitverbürgte Vertragsfreiheit regelmäßig weiterer Ausgestaltung bedarf.614 Wo diese Ausgestaltung Eingriffscharakter hat, muss sie laut EuGH aber stets den Anforderungen genügen, die Art. 52 Abs. 1 GRCh an jede Grundrechtseinschränkung stellt: Nur auf Basis einer Rechtsgrundlage und unter Achtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sowie des Wesensgehalts kann diese Freiheit „einer Vielzahl von Eingriffen der öffentlichen Gewalt unterworfen werden, die im allgemeinen Interesse die Ausübung der wirtschaftlichen Tätigkeit beschränken“. 615 Zu Recht unterscheidet der Gerichtshof somit genau zwischen der Eröffnung des Schutzbereichs der durch Art. 16 GRCh geschützten unionalen Vertragsfreiheit einerseits und Eingriffen in diesen Schutzbereich andererseits.616 Gleiches muss auch gelten, soweit die Vertragsfreiheit als ungeschriebenes Unionsgrundrecht im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV sowie als allgemeiner Grundsatz des Unionsprivatrechts gewährleistet wird: Als Instrument zur Ver613 EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 33 ff.; EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C:2013:28 Rn. 47. Vgl. im Anschluss an die Vorlage des BAG Beschl. v. 17.6.2015 – Az. 4 AZR 61/14 (A), NZG 2016, 628 zu § 613a BGB und Art. 16 GRCh auch EuGH Urt. v. 27.4.2017 – Rs. C-680/15 u.a. (Asklepios Kliniken u.a.), EU:C:2017:317 Rn. 23 ff. 614 Cornils, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 5 Rn. 52. 615 EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C:2013:28 Rn. 46. Siehe ferner EuG Urt. v. 27.2.2014 – Rs. T-256/11 (Ezz), EU:T:2014:93 Rn. 229 ff.; GA Sharpston Schlussanträge v. 14.11.2013 – Rs. C-390/12 (Pfleger), EU:C:2013:747 Rn. 64 f. Dieser Befund findet schließlich eine solide Stütze in den gemäß Art. 52 Abs. 7 GRCh bei der Auslegung der Chatergrundrechte zu berücksichtigenden Erläuterungen zur Charta, ABl. 2007 C 303/17, 23, wo mit Blick auf das Freiheitsgrundrecht der unternehmerischen Freiheit ausgeführt wird: „Es kann nach Artikel 52 Absatz 1 der Charta beschränkt werden“. Wie hier auch Cornils, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 5 Rn. 52. Allerdings mag sich die spezielle Formulierung des Art. 16 GRCh laut EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C:2013:28 Rn. 47 im Einzelfall darauf auswirken, „auf welche Weise nach Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu handhaben ist“. 616 Während die Union und die Mitgliedstaaten bei Grundrechtseinschränkungen einen weiten Spielraum haben mögen, so ist jedenfalls der Schutzbereich der unionalen Vertragsfreiheit gemäß Art. 16 GRCh keineswegs von vornherein durch nationale und unionale Rechtsakte geprägt, wie hier Jarass (2014), Art. 16 GRCh Rn. 18; Grabenwarter, in: ders. (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 13 Rn. 27 ff. und 41 ff.

206

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

wirklichung der vertraglichen Selbstbestimmung hat die unionale Vertragsfreiheit stets einen eigenständigen, unionsrechtlich-autonomen Gehalt. Dies führt zur Frage nach dem Inhalt dieser Freiheitsgewährleistung. II. Gegenstand, Gehalt und Kernbereich unionaler Vertragsfreiheit Bezugspunkt der unionsrechtlich verbürgten rechtsgeschäftlichen Privatautonomie ist zunächst jede Erscheinungsform des Vertrags, die dem unionalen Vertragsbegriff unterfällt. Den Begriffskern der unionalen Vertragskonzeption macht dabei der vom (i) Rechtsbindungswillen getragene (ii) Konsens (iii) mindestens zweier Parteien aus.617 Darüber hinaus mag auch die Freiheit zur einseitigen Verpflichtung gegenüber einer anderen Partei – etwa im Rahmen einer Auslobung nach § 657 BGB – in den Schutzbereich der unionalen Vertragsfreiheit einzubeziehen sein: Zum einen schlägt das Unionsrecht „ein freiwillig gegebenes Versprechen“ zumindest kontextspezifisch durchaus dem Vertragsrecht zu.618 Zum anderen scheint das Konzept einseitig bindender Versprechen partiell auch in akademischen Projekten zur Vorbereitung eines europäischen Vertragsrecht auf.619 Zum Gewährleistungsgehalt der unionalen Vertragsfreiheit zählen die sieben im geschriebenen Unionsrecht sowie in der Rechtsprechung des EuGH bereits identifizierten Facetten: Neben der Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit,620 der Inhalts-,621 Typen-,622 Änderungs-,623 Aufhebungs-624 und der Formfreiheit625 ist auch die Parteiautonomie als international-privatSiehe zum unionalen Vertragsbegriff erneut oben Kapitel 1 § 3 B. Siehe im Kontext des Vertragsgerichtsstandes nach der Brüssel Ia nur GA Jacobs Schlussanträge v. 8.7.2004 – Rs. C-27/02 (Engler), Slg. 2005, I-484 Rn. 45. In seiner ständigen Rechtsprechung zu Art. 7 Nr. 1 Brüssel Ia lässt der EuGH entsprechend eine „von einer Partei gegenüber einer anderen freiwillig eingegangene Verpflichtung“ genügen, siehe nur EuGH Urt. v. 17.6.1992 – Rs. C-26/91 (Handte), Slg. 1992, I-3967 Rn. 15; EuGH Urt. v. 27.10.1998 – Rs. C-51/97 (Réunion européenne), Slg. 1998, I-6511 Rn. 17; EuGH Urt. v. 17.9.2002 – Rs. C-334/00 (Tacconi), Slg. 2002, I-7357 Rn. 23; EuGH Urt. v. 5.2.2004 – Rs. C-265/02 (Frahuil), Slg. 2004, I-1543 Rn. 24; EuGH Urt. v. 20.1.2005 – Rs. C-27/02 (Engler), Slg. 2005, I-481 Rn. 50 ff.; EuGH Urt. v. 11.10.2007 – Rs. C-98/06 (Freeport), Slg. 2007, I-8319 Rn. 23; EuGH Urt. v. 14.3.2013 – Rs. C-419/11 (Feichter), EU:C:2013:165 Rn. 45 ff.; EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-147/12 (ÖFAB), EU:C:2013: 490 Rn. 33. 619 Siehe mit Blick auf Art. 2:107 PECL sowie Art. II.-1:103 und Art. II-4:301 ff. DCFR nur Zimmermann, FS Heldrich (2005), S. 467 ff.; M.-P. Weller, GS Hübner (2012), S. 435, 440. 620 Hierzu eingehend oben § 1 B I 1. 621 Hierzu eingehend oben § 1 B I 2. 622 Hierzu eingehend oben § 1 B I 3. 623 Hierzu eingehend oben § 1 B I 4. 624 Hierzu eingehend oben § 1 B I 5. 625 Hierzu eingehend oben § 1 B I 6. 617 618

§ 3 Gewährleistungsgehalt unionaler Vertragsfreiheit

207

rechtliche Dimension rechtsgeschäftlicher Privatautonomie zu nennen.626 Diese Ausprägungen der Vertragsfreiheit sind mithin sowohl als Unionsgrundrecht als auch als allgemeiner Grundsatz des Unionsprivatrechts geschützt. Darüber hinaus werden in der Zusammenschau der Unionsrechtsakte sowie der Rechtsprechung des EuGH erste Konturen des Wesensgehalts der unionalen Vertragsfreiheit erkennbar: Die Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit (1) ebenso wie auch die Festlegung der wesentlichen Vertragsinhalte in Gestalt der essentialia negotii machen den Kernbestand dieser Freiheit aus (2). Bei näherer Betrachtung weist der Wesensgehalt der unionalen Vertragsfreiheit einen Menschenwürdekern auf und wird somit durch das ranghöchste Grundrecht des Art. 1 GRCh verstärkt (3). 1. Entscheidung über den Vertragsschluss und Vertragspartnerwahl Die Entscheidung über den Abschluss eines Vertrags ist der Angelpunkt der Ausübung rechtsgeschäftlicher Privatautonomie.627 Entsprechend betrachtet der EuGH die positive wie auch die negative Abschlussfreiheit als zentrales Element der unionalen Vertragsfreiheit: Zum einen sieht der Gerichtshof Verträge allgemein „durch das Prinzip der Privatautonomie gekennzeichnet […], wonach die Parteien frei darin sind, gegenseitige Verpflichtungen einzugehen“.628 Zum anderen erkennt die unionale Rechtsprechung ein „Recht auf Absehen vom Vertragsschluss“ an.629 Dabei schlägt der Gerichtshof die positive wie negative Abschlussfreiheit dem Kernbereich der Vertragsfreiheit zu: Namentlich betont der EuGH in der Rechtssache Sky Österreich, dass die Freiheit der Wirtschaftsteilnehmer, sich für oder auch gegen einen Vertragsschluss zu entscheiden, den Wesensgehalt der in Art. 16 GRCh verbürgten Freiheit ausmacht.630 Entsprechend sah der Gerichtshof in seiner AlemoHerron-Entscheidung den Wesensgehalt der Vertragsfreiheit beeinträchtigt, wenn ein Vertragspartner nicht „die Möglichkeit [hat], im Rahmen eines zum Hierzu eingehend oben § 1 B I 7. Nipperdey, Kontrahierungszwang und diktierter Vertrag (1920), S. 4 f. sieht hierin die „ursprünglichste“ Vertragsfreiheit. 628 EuGH Urt. v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 (Werhof), Slg. 2006, I-2397 Rn. 23; EuGH Urt. v. 27.4.2017 – Rs. C-680/15 u.a. (Asklepios Kliniken u.a.), EU:C:2017:317 Rn. 19. 629 EuG Urt. v. 8.5.2007 – Rs. T-271/04 (Citymo / Kommission), Slg. 2007 II-1375 Rn. 100 und 103. Deutlich auch GA Kokott Schlussanträge v. 17.9.2009 – Rs. C-441/07 P (Kommission / Alrosa), Slg. 2010, I-5949 Rn. 227 f. Siehe ferner GA Jacobs Schlussanträge v. 23.3.2000 – verb. Rs. C-180/98 u. a. (Pavlov), Slg. 2000, I-6451 Rn. 150; GA Geelhoed Schlussanträge v. 31.1.2002 – Rs. C-334/00 (Tacconi), Slg. 2002, I-7357 Rn. 55. 630 So kommt EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C:2013:28 Rn. 49 gerade deshalb zu dem Ergebnis, dass der zu überprüfende Sekundärrechtsakt „den Wesensgehalt der unternehmerischen Freiheit nicht antastet“, weil der Unternehmer sich weiterhin nach seiner Wahl „vertraglich gegen Entgelt“ verpflichten oder hiervon absehen kann. 626 627

208

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

Vertragsabschluss führenden Verfahrens seine Interessen wirksam geltend zu machen“.631 Echte Selbstbestimmung durch das Instrument des Vertrags bedeutet somit auch im Unionsrecht notwendig, dass die Entscheidung für oder auch gegen einen Vertragsschluss frei ist.632 Nimmt man darüber hinaus die Rechtsprechungslinie in Katsikas und Mikkelsen in den Blick, wird offenbar, dass auch die Auswahl des Vertragspartners in den Kernbereich der unionalen Vertragsfreiheit fällt: So darf laut EuGH grundsätzlich niemand gezwungen werden, einen Vertrag mit einem Vertragspartner einzugehen, „den er nicht frei gewählt hat“.633 Das Aufdrängen eines Vertragspartners durch hoheitlichen Zwang verstößt nach der Lesart des Gerichtshofs in aller Regel „gegen Grundrechte“,634 wobei hiermit die als Facette der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie grundrechtlich verbürgte Kontrahentenwahlfreiheit angesprochen ist. Bestätigt wird dieser Befund nun durch die Rechtssache Sky Österreich, in welcher der EuGH den Wesensgehalt der unter anderem in Art. 16 GRCh verbürgten Freiheit ausdrücklich darin sieht, dass der Vertragspartner autonom gewählt werden kann.635 Vor diesem Hintergrund werden auch die besonders hohen Anforderungen an Beschränkungen der Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit durch Kontrahierungszwänge im unionalen Wirtschaftsrecht verständlich: Der Zwang zum Vertragsschluss stellt „eine erhebliche Einmischung in die […] Vertragsfreiheit“ dar,636 weshalb der Europäischen Kommission „im Rahmen 631 EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 34 f. Siehe auch EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 68 und 87; EuGH Urt. v. 27.4.2017 – Rs. C-680/15 u.a. (Asklepios Kliniken u.a.), EU: C:2017:317 Rn. 23. 632 Siehe zum deutschen Recht statt vieler Hillgruber, ZRP 1995, 6, 7; Repgen, Kein Abschied von der Privatautonomie (2001), S. 23. 633 EuGH Urt. v. 16.12.1992 – verb. Rs. C-132/91 u. a. (Katsikas u. a.), Slg. 1992, I6577 Rn. 32. Vgl. auch schon EuGH Urt. v. 11.7.1985 – Rs. 105/84 (Mikkelsen), Slg. 1985, 2639 Rn. 16. 634 EuGH Urt. v. 16.12.1992 – verb. Rs. C-132/91 u. a. (Katsikas u. a.), Slg. 1992, I6577 Rn. 31 f. Vgl. auch schon EuGH Urt. v. 11.7.1985 – Rs. 105/84 (Mikkelsen), Slg. 1985, 2639 Rn. 16. Siehe zu Vertragspartnerwahlfreiheit im Unionsrecht zudem schon EuGH Urt. v. 28.6.1984 – verb. Rs. 187/83 und 190/83 (Nordbutter), Slg. 1984, 2553 Rn. 15; EuGH Urt. v. 10.7.1991 – verb. Rs. C-90/90 u. a. (Neu), Slg. 1991, I-3617 Rn. 13; EuGH Urt. v. 16.12.1993 – Rs. C-307/91 (Luxlait), Slg. 1993, I-6835 Rn. 14; EuGH Urt. v. 30.3.2000 – Rs. C-265/97 P (VBA u. a./Kommission), Slg. 2000, I-2061 Rn. 134 ff. EuG Urt. v. 12.2.2008 – Rs. T-289/03 (BUPA), Slg. 2008, II-81 Rn. 190 ff. betont zudem die Freiheit, „den anderen Vertragspartner zurückweisen zu können“. 635 EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C:2013:28 Rn. 49 verneint einen Eingriff in „den Wesensgehalt der unternehmerischen Freiheit“ durch einen Kontrahierungszwang betreffend Fernsehrechte an Kurzzusammenfassungen von Sportveranstaltungen mit dem Argument, dass der Zwang sachlich sehr eng umgrenzt sei und der Verpflichtete im Übrigen weiterhin mit frei gewählten Vertragspartnern Verträge über die gesamten Sportübertragungen schließen könne.

§ 3 Gewährleistungsgehalt unionaler Vertragsfreiheit

209

der Anordnungsbefugnisse, über die sie zur Abstellung von Zuwiderhandlungen gegen [Art. 101 AEUV] verfügt, grundsätzlich nicht die Befugnis zuerkannt werden [kann], einer Partei die Begründung vertraglicher Beziehungen aufzugeben“.637 Der Umstand, dass selbst das für das Funktionieren des Binnenmarktes so bedeutsame Kartellrecht allenfalls als ultima ratio und unter sehr engen Voraussetzungen Kontrahierungszwänge zu begründen vermag,638 verdeutlicht, dass mit der Vertragspartnerwahl- und Abschlussfreiheit der Kernbereich der unionalen Vertragsfreiheit berührt ist. 2. Bestimmung der essentialia negotii Im deutschen Privatrecht ist die autonome Festlegung der zentralen vertraglichen Haupt- und Gegenleistungen – mithin der essentialia negotii – durch die Parteien frühzeitig als „Wesensgehalt der Vertragsfreiheit“ identifiziert worden.639 Die Ausformung dieser Elemente ist durch die Inhaltsfreiheit verbürgt, welche den Parteien gestattet, den Vertrag nach ihrem Willen zu gestalten.640 Dass die freie Bestimmung von Hauptgegenstand und Preis in der Rechtsordnung der EU ebenfalls zum Wesensgehalt der Vertragsfreiheit zählt,641 lässt sich jeweils auf Ebene der Unionsgrundrechte, des Unionsprivatrechts und des unionalen Wirtschaftsvertragsrechts veranschaulichen. Einen vielversprechenden Ausgangspunkt bildet wiederum die AlemoHerron-Entscheidung des EuGH, weil der Gerichtshof hier erstmals einen Eingriff in den Wesensgehalt des unionalen Grundrechts der Vertragsfreiheit bejaht hat: In dieser Rechtssache konnte ein Arbeitgeber nach einem Betriebsübergang keinen Einfluss auf die Entwicklung der Arbeitsvertragsbedingungen nehmen, weil er einerseits nicht an den Tarifvertragsverhandlungen teilnehmen durfte, andererseits aber durch nach nationalem Arbeitsvertragsrecht zulässige dynamische Verweisungsklauseln an alle neuen Verhandlungsergebnisse gebunden war.642 Laut EuGH ist hier der Kern der unionalen Vertragsfreiheit 636 EuGH Urt. v. 28.4.2009 – Rs. C-518/06 (Kommission / Italien), Slg. 2009, I-3491 Rn. 66. Vgl. auch EuG Urt. v. 12.2.2008 – Rs. T-289/03 (BUPA), Slg. 2008, II-81 Rn. 190 ff. 637 So noch zu Art. 85 EWG EuG Urt. v. 18.9.1992 – Rs. T-24/90 (Automec/Kommission), Slg. 1992, II-2223 Rn. 51. 638 Siehe zu den Voraussetzungen des kartellrechtlichen Zwangs zum Vertragsschluss sowie zu weiteren im Unionsrecht angelegten Kontrahierungszwängen erneut oben § 1 B II 1 und 2. 639 Canaris, NJW 1987, 609, 613. 640 Bei Zugrundelegung einer markt- und wettbewerbsgestützten Konzeption unionaler Vertragsfreiheit kann allerdings auch die Betätigung der Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit in einem freien Markt mit freiem Wettbewerb zu dem gewünschten inhaltlichen Vertragsergebnis führen, siehe dazu noch eingehend unten Kapitel 3 § 3 B. 641 Dafür etwa Riesenhuber, GS Wolf (2011), S. 123, 133. 642 Vgl. erneut EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013: 521 Rn. 20 ff. und 34 f.

210

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

betroffen, da der Arbeitgeber als Vertragspartner daran gehindert ist, die „Arbeitsbedingungen seiner Arbeitnehmer“ auszuhandeln oder auf sonstige Weise zu beeinflusssen und somit insgesamt keinerlei „Möglichkeit [hat], im Rahmen eines zum Vertragsabschluss führenden Verfahrens seine Interessen wirksam geltend zu machen“. 643 Die in der Rechtssache Alemo-Herron erwähnten Arbeitsbedingungen umfassen mit der zu erbringenden Arbeitsleistung – und insbesondere den Arbeitszeiten – zum einen die Hauptleistungspflicht. Zum anderen ist die Bestimmung der Höhe des Arbeitsentgelts und somit die Gegenleistungspflicht betroffen. Diese beiden Elemente rechnet der Gerichtshof somit zum „Wesensgehalt“ der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie.644 Eine weitere Stütze findet diese Sichtweise im sekundären Unionsrecht und namentlich im Unionsprivatrecht, wo ausweislich des Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie die Inhaltskontrolle „weder den Hauptgegenstand des Vertrags noch die Angemessenheit zwischen dem Preis bzw. dem Entgelt und den Dienstleistungen bzw. den Gütern“ erfasst.645 Das in der Klauselrichtlinie aufscheinende Konzept der essentialia negotii erhält durch die Rechtsprechung des EuGH erste unionsrechtlich-autonome Konturen: Namentlich „müssen die Ausdrücke ‚Hauptgegenstand des Vertrags‘ und ‚Angemessenheit zwischen dem Preis […] und de[r] […] Gegenleistung […]‘ in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 grundsätzlich in der gesamten Europäischen Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten“.646

643 EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 34 f. Siehe auch EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 68. In der Folge bejaht EuGH Urt. v. 27.4.2017 – Rs. C-680/15 u.a. (Asklepios Kliniken u.a.), EU:C:2017:317 Rn. 23 ff. solche durch die unionale Vertragsfreiheit gebotenen Einflussnahmemöglichkeiten im deutschen Recht, weil es„sowohl einvernehmliche als auch einseitige Möglichkeiten für den Erwerber vorsieht, die zum Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsbedingungen nach dem Übergang anzupassen.“ 644 Vgl. EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 35 und 32 ff. Vgl. auch EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU: C:2016:972 Rn. 67 f. und 87. 645 Der „Hauptgegenstand“ bzw. „objet principal“ in der französischen, „ogetto principale“ in der italienischen und „objeto principal“ in der spanischen Sprachfassung beschreibt die beiderseitigen Hauptleistungspflichten der Parteien und lehnt sich an das Verständnis der romanischen Rechtsordnungen an, statt vieler Herresthal, in: Langenbucher (Hrsg.), Europäisches Privat- und Wirtschaftsrecht (2013), § 2 Rn. 130; MünchKommBGB / Wurmnest (2016), Vor § 307 BGB Rn. 5. In Bezug auf diese Punkte findet lediglich eine Transparenzkontrolle statt, die EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:282 Rn. 73 ff. allerdings als „Markttransparenzgebot“ versteht, das den Verbrauchern das tatsächliche Verständnis der (wirtschaftlichen) Bedeutung der Klauseln und damit den umfassenden Vergleich mit Vertragskonditionen von Wettbewerbern ermöglichen soll. Siehe hierzu noch eingehend unten Kapitel 4 § 3 D II. 646 EuGH Urt. v. 26.2.2015 – Rs. C-143/13 (Matei), EU:C:2015:127 Rn. 50 und 54 (Herv. d. Verf.) betont, dass „unter den Ausdruck ‚Hauptgegenstand des Vertrags‘ im Sinne von

§ 3 Gewährleistungsgehalt unionaler Vertragsfreiheit

211

Für die Zwecke diese Untersuchung von besonderem Interesse sind die Beweggründe des Unionsgesetzgebers für die Herausnahme der essentialia negotii aus der Klauselkontrolle. Generalanwältin Trstenjak führt in diesem Zusammenhang ausdrücklich die „Wahrung eines Kernbereichs der Privatautonomie“ an, welcher gerade durch die Bezugnahme in Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie auf den Hauptgegenstand und den Preis umschrieben werde.647 Dieser Analyse folgt auch Generalanwalt Wahl, der darüber hinaus die Entstehungsgeschichte des Regelung und namentlich den Gemeinsamen Standpunkt vom 22. September 1992648 aufgreift, wo eindeutig zum Ausdruck gebracht werde, dass Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie „mit dem Ziel eingefügt wurde, alles vom Anwendungsbereich der Richtlinie auszuschließen, was unmittelbar aus der Vertragsfreiheit der Parteien folgt. Damit wurde, anders formuliert, der Wunsch zum Ausdruck gebracht, dass der Kern des Vertragsverhältnisses (die essentialia negotii), sobald er einmal in klaren und verständlichen Worten festgelegt worden ist, nicht mehr beeinträchtigt werde “.649

Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 diejenigen Klauseln zu fassen sind, die seine Hauptleistungen festlegen und ihn als solche charakterisieren. Hingegen können Klauseln mit akzessorischem Charakter gegenüber denen, die das Wesen des Vertragsverhältnisses selbst definieren, nicht unter den genannten Begriff ‚Hauptgegenstand des Vertrags‘ fallen“. 647 GA Trstenjak Schlussanträge v. 29.10.2009 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 65, 68 und 40 (Herv. d. Verf.) bezieht sich namentlich auf den „von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 umschriebenen Kernbereich der Privatautonomie“ und deutet zudem an, dass eine Regelung „die Privatautonomie ganz aufheben würde“, wenn sie auch den Hauptgegenstand des Vertrags, den Preis sowie das Preis-Leistungs-Verhältnis vollständig vorgäbe. 648 Gemeinsamer Standpunkt des Rates vom 22. September 1992 im Hinblick auf die Annahme der Richtlinie des Rates über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, Dok. 8406/1/92, ABl. 1992 C 283/1, im Volltext abgedruckt in ZIP 1992, 1591 f. 649 GA Wahl Schlussanträge v. 12.2.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:85 Rn. 33 (Herv. d. Verf.). Keine Zustimmung verdient dagegen die Annahme des Generalanwalts (dort in Rn. 36), dass Art. 4 Abs. 2 von vornherein nur einen Bereich erfasse, „in dem die Vertragsfreiheit nicht zur vollen Entfaltung gelangt“ sei, weil Art. 3 Abs. 1 Klauselrichtlinie individuell ausgehandelte Vertragsbestimmungen ohnehin vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausklammere. Hierbei übersieht der Generalanwalt, dass auch ohne ein individuelles Aushandeln des Preises und der Hauptleistung die Vertragsfreiheit beider Parteien – und zwar in all ihren Facetten – betätigt werden kann: Zum einen machen Verbraucher und Unternehmen den Leistungsgegenstand und den Preis auch dann zum Gegenstand ihrer Willensbildung und -betätigung, wenn diese Punkte nicht im Einzelnen ausgehandelt werden, ebenso Riesenhuber, GS Wolf (2011), S. 123, 135. Zum anderen kann in einem freien Markt mit freiem Wettbewerb regelmäßig zwischen verbschiedenen Anbietern und unterschiedlichen Vertragsangeboten gewählt werden, ohne dass es somit zwingend stets individueller Verhandlungen bedürfte, um den gewünschten Vertragsschluss zu erzielen, siehe zu diesem markt- und wettbewerbsbasierten Funktionsmodell unionaler Vertragsfreiheit noch eingehend unten Kapitel 3 § 3.

212

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

Diese Lesart macht sich auch der EuGH im Wesentlichen zu eigen und kommt mit Blick auf die Kontrollfreiheit des Preis-Leistungs-Verhältnis gemäß Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie zu dem Ergebnis, dass hier von der Warte des Unionsrechts aus besehen allein die von den Parteien vermöge ihrer Vertragsfreiheit getroffene Vereinbarung maßgeblich sein kann, weil „[es] in Bezug auf das Preis-/Leistungsverhältnis einer Lieferung oder Dienstleistung […] keine als Rahmen und Leitlinie einer solchen Kontrolle in Betracht kommenden Standards oder juristischen Kriterien gibt“.650

Der EuGH651 und seine Generalanwälte652 stützen ihre Erwägungen damit jeweils auf die herausragende Bedeutung der Freiheit der Parteien, die wesentlichen Vertragsinhalte festzulegen. Das besondere Gewicht, das die EU-Rechtsordnung der autonomen Festlegung der essentialia negotii durch die Parteien beimisst, zeigt sich auch dort, wo das unionale Wirtschaftsrecht die Abschluss- und Vertragspartnerwahl durch einen auf Art. 102 AEUV gestützten Kontrahierungszwang zulasten der Inhaber von standardessentiellen Patenten verkürzt: Während dem Kontrahierungsverpflichteten die Entscheidung entzogen wird, ob und mit wem er den Vertrag schließt, so soll er doch frei bleiben, dem anderen Teil ein alle essentialia negotii umfassendes Angebot auf Abschluss eines Lizenzvertrags zu FRAND-Bedingungen653 zu unterbreiten.654 Insbesondere sollen den Parteien sodann „Verhandlungen über die Erteilung von Lizenzen“ und damit über den Inhalt der Haupt- und Gegenleistungen möglich sein.655 Ein ähnliches Bild zeigt sich bei Kontrahierungszwängen im Kontext von Energielieferungsver650 EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:282 Rn. 54 f. Gleichsinnig EuGH Urt. v. 26.2.2015 – Rs. C-143/13 (Matei), EU:C:2015:127 Rn. 55. 651 Namentlich betont der EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014: 282 Rn. 47 f. in diesem Zusammenhang, dass „eine Klausel von den Vertragsparteien im Rahmen ihrer Vertragsautonomie und der Marktbedingungen ausgehandelt“ wird. Dem Umstand des Aushandelns misst der Gerichtshofs für die Zwecke des Art. 4 Abs. 2 freilich deshalb keine Bedeutung bei, weil ausweislich des Erwägungsgrundes Nr. 12 und des Art. 3 Abs. 1 Klauselrichtlinie im Einzelnen ausgehandelte Vertragsklauseln ohnehin nicht der Klauselkontrolle unterliegen. 652 Siehe erneut GA Trstenjak Schlussanträge v. 29.10.2009 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 65 und 68; GA Wahl Schlussanträge v. 12.2.2014 – Rs. C26/13 (Kásler), EU:C:2014:85 Rn. 33. 653 Siehe zur Bedeutung der sogenannten FRAND-Verpflichtung (fair, reasonable and non-discriminatory) bereits oben § 1 B II 1. 654 Laut EuGH Urt. v. 16.7.2015 – Rs. C-170/13 (Huawei Technologies), EU:C:2015: 477 Rn. 54 und 63 ist „der Patentinhaber nach Art. 102 AEUV nur verpflichtet, eine Lizenz zu FRAND-Bedingungen zu erteilen“ und hat dem anderen Vertragsteil „ein konkretes schriftliches Lizenzangebot zu FRAND-Bedingungen zu unterbreiten und insbesondere die Lizenzgebühr sowie die Art und Weise ihrer Berechnung anzugeben“. 655 EuGH Urt. v. 16.7.2015 – Rs. C-170/13 (Huawei Technologies), EU:C:2015:477 Rn. 67 f. und 65 will.

§ 3 Gewährleistungsgehalt unionaler Vertragsfreiheit

213

trägen: Art. 3 Abs. 3 Elektrizitäts-656 und Art. 3 Abs. 3 Erdgasbinnenmarktrichtlinie657 verpflichten sogenannte Grundversorger, alle „schutzbedürftigen Kunden“ als Vertragspartner zu akzeptieren.658 Der Gerichtshof fordert angesichts dieser empfindlichen Einschränkung der Vertragsfreiheit, dass die Energieversorger zumindest weiterhin ein Mindestmaß an Gestaltungsfreiheit hinsichtlich der zentralen Inhalte der Schuldverhältnisse und insbesondere hinsichtlich des Preises ihrer Leistungen genießen.659 Während alle vorgenannten Kontrahierungszwänge somit die Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit verkürzen, ist der EuGH angesichts der Bedeutung der Freiheit zur Festlegung der wesentlichen Vertragsbestandteile bemüht, den Parteien möglichst umfassende Inhaltsfreiheit zu belassen und so zumindest ein Element des Kernbereichs der unionalen Vertragsfreiheit zu bewahren. In der Summe ist die Bestimmung der essentialia negotii dem Wesensgehalt der unionalen Vertragsfreiheit zuzuschlagen. Allerdings ist der Begriff der essentialia für die Zwecke des Unionsrechts als unionsrechtlich-autonomes Konzept zu verstehen, welches nicht zwangsläufig mit den Kategorien des mitgliedstaatlichen Zivilrechts übereinstimmt.660 Dabei deutet der EuGH jedenfalls mit Blick auf Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie ein weites Verständnis an. Namentlich will der Gerichtshof bei der Bestimmung des Hauptgegenstandes des Vertrags danach differenzieren, ob die konkrete Klausel lediglich Diese Bestimmung der Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie lautet auszugsweise: „Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass alle Haushalts-Kunden und, soweit die Mitgliedstaaten dies für angezeigt halten, Kleinunternehmen […] in ihrem Hoheitsgebiet über eine Grundversorgung verfügen, also das Recht auf Versorgung mit Elektrizität […] haben. […] Die Mitgliedstaaten erlegen Verteilerunternehmen die Verpflichtung auf, Kunden […] an ihr Netz anzuschließen“. 657 Diese Regelung der Richtlinie 2009/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/55/EG, ABl. 2009 L 211/94 lautet auszugsweise: „Die Mitgliedstaaten ergreifen geeignete Maßnahmen zum Schutz der Endkunden und tragen insbesondere dafür Sorge, dass für schutzbedürftige Kunden ein angemessener Schutz besteht“. Anhang I präzisiert dies für „Haushaltskunden“ sodann dahingehend, dass „Kunden […] Anspruch auf einen Vertrag mit ihren Anbietern von Gasdienstleistungen haben“. 658 Siehe zu diesen Kontrahierungszwängen nur EuGH Urt. v. 23.10.2014 – verb. Rs. C-359/11 u. a. (Schulz u. a.), EU:C:2014:2317 Rn. 38 ff.; GA Wahl Schlussanträge v. 8.5.2014 – verb. Rs. C-359/11 u. a. (Schulz u. a.), EU:C:2014:319 Rn. 34. 659 EuGH Urt. v. 23.10.2014 – verb. Rs. C-359/11 u. a. (Schulz u. a.), EU:C:2014:2317 Rn. 40: „Da diese Strom- und Gasversorger verpflichtet sind, […] mit allen Kunden […] Verträge zu schließen, sind die wirtschaftlichen Interessen dieser Versorger insoweit zu berücksichtigen, als sie sich die andere Vertragspartei nicht aussuchen und den Vertrag nicht beliebig beenden können“. 660 Vgl. mit Blick auf Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie wiederum nur EuGH Urt. v. 26.2.2015 – Rs. C-143/13 (Matei), EU:C:2015:127 Rn. 50. Vgl. ferner GA Trstenjak Schlussanträge v. 29.10.2009 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 68; GA Wahl Schlussanträge v. 12.2.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:85 Rn. 39. 656

214

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

akzessorischen Charakter hat oder aber „das Wesen des Vertragsverhältnisses selbst“ definiert: Zum Hauptgegenstand im Sinne von Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie zählen daher die Klauseln des Vertrags, „die seine Hauptleistungen festlegen und ihn als solche charakterisieren“.661 Angesprochen sind damit bei gegenseitigen Verträgen jedenfalls die Haupt- sowie die Gegenleistung,662 einschließlich des Verhältnisses dieser Leistungen zueinander.663 Gleicht man diesen Befund wiederum mit den Aussagen der Gerichtshofs in der Rechtssache Alemo-Herron ab,664 so zählen die essentialia negotii in der Tat zum Wesensgehalt der unionalen Vertragsfreiheit und damit zum „innersten Kern privatautonom gesetzter Regelungen, für den eine besonders hohe Eingriffsschwelle besteht“.665 Vor allem offenbart sich Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie somit zugleich als einfachrechtliche Sicherung dieses Kernbereichs unionaler Vertragsfreiheit. Auf die damit verbundenen privatrechtlichen Konsequenzen wird noch zurückzukommen sein.666 3. Wesensgehalt, Funktionsbestimmung und Menschenwürdekern Die Entscheidung über den Vertragsschluss und die Auswahl des Vertragspartners lassen sich zunächst ebenso wie die parteiautonome Festlegung der essentialia negotii auf die Funktionsbestimmung der unionalen Vertragsfreiheit zurückführen. Diese Facetten betreffen grundlegende Aspekte der Selbst661 EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:282 Rn. 49 ff. (Herv. d. Verf.) überlässt es sodann den nationalen Gerichten, den Chrarakter der Klauseln im Einzelfall „unter Berücksichtigung der Natur, der Systematik und der Bestimmungen des Vertrags sowie seines rechtlichen und tatsächlichen Kontexts zu prüfen“. Der Ansatz des EuGH erinnert an „die für den Vertrag charakteristische Leistung“ im Sinne des Art. 4 Abs. 2 Rom I, wobei der Gerichtshof im Kontext der Inhaltskontrolle angesichts der Vorgaben in Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie sowohl Haupt- als auch Gegenleistung sowie das Äquivalenzverhältnis zwischen diesen Hauptleistungspflichten erfasst sehen will. Vgl. auch Wolf / Lindacher / Pfeiffer, AGB-Recht (2013), Art. 4 Klauselrichtlinie Rn. 27. 662 Deutlich mit Blick auf „‚Hauptgegenstand‘ und ‚Preis‘ im Sinne von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13“ nun auch EuGH Urt. v. 26.2.2015 – Rs. C-143/13 (Matei), EU:C: 2015:127 Rn. 44 ff. Vgl. aus anderen Unionsrechtsakten ferner nur Art. 4 Abs. 5 Pauschalreiserichtlinie a. F., der gerade die „wesentlichen Bestandteile des Vertrags, zu denen auch der Preis gehört“, erwähnt. 663 Vgl. hierzu sowie zur autonomen Bestimmung des Preis-Leistungs-Verhältnisses im Rahmen des Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie wiederum nur EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C26/13 (Kásler), EU:C:2014:282 Rn. 49 und 52; EuGH Urt. v. 26.2.2015 – Rs. C-143/13 (Matei), EU:C:2015:127 Rn. 44 ff. und 54. Wie hier mit Blick auf die Klauselrichtlinie Wolf / Lindacher / Pfeiffer, AGB-Recht (2013), Art. 4 Klauselrichtlinie Rn. 27. 664 Vgl. erneut EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013: 521 Rn. 35 und 32 ff. Siehe nun auch EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 67 ff. und 87. 665 So allgemein schon Stoffels, JZ 2001, 843, 844. 666 Siehe eingehend unten Kapitel 7 § 2.

§ 3 Gewährleistungsgehalt unionaler Vertragsfreiheit

215

bestimmung in vertraglichen Angelegenheiten: Wer weder über den Abschluss oder Nicht-Abschluss des Vertrags oder die Wahl des Vertragspartners entscheiden noch die zentralen Ecksteine des ihn bindenden Vertragsinhalts beeinflussen kann, handelt nicht mehr selbst-, sondern im Wesentlichen fremdbestimmt. Hier ist deshalb der Kern unionaler Vertragsfreiheit berührt. In der heutigen Gesellschaft ist der Abschluss von Verträgen zudem eine schlicht unverzichtbare Ausdrucksform der Selbstbestimmung – nicht nur im ökonomischen Kontext, sondern in nahezu allen menschlichen Lebensbereichen.667 Dem Wesensgehalt der unionalen Vertragsfreiheit fällt daher die Aufgabe zu, den Nukleus dieser Autonomie des Menschen im vertraglichen Bereich zu wahren. Vor diesem Hintergrund besteht eine Verbindungslinie zwischen dem Wesensgehalt der unionsgrundrechtlich geschützten rechtsgeschäftlichen Privatautonomie einerseits und der Menschenwürdegarantie gemäß Art. 1 GRCh als höchstem Wert der Europäischen Union andererseits: Weil für ein selbstbestimmtes, würdevolles Leben der Abschluss von Verträgen unabdingbar ist, würde der durch Art. 1 GRCh mitgeschützte Lebensmodus in Frage gestellt, wenn Verträge ihrerseits zu Instrumenten der Fremdbestimmung geraten, weil weder eine freie Entscheidung über den Abschluss oder Nicht-Abschluss noch über die Wahl des Vertragspartners und die wesentlichen Vertragsinhalte gewährleistet ist.668 Anders gewendet ist die unionale Vertragsfreiheit in ihrem Wesensgehalt „reductible to a fundamental right of dignity […], whereby human self-expression […] is assured“.669 667 So ist etwa der Zugang zum politischen, kulturellen und religiösen Leben vielfach ebenso vertragsförmig organisiert wie die Zugehörigkeit zu den entsprechenden Vereinen und Organisationen. Selbst das menschliche Zusammenleben kann durch die Handlungsform des Vertrags bestimmt werden: Man denke nur an die freie Entscheidung für eine Eheschließung als „Aspek[t] der Vertragsfreiheit“, vgl. Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85, 90. 668 Ganz in diesem Sinne betont mit Blick auf die unionsrechtliche Konzeption der Menschenwürde auch GA Stix-Hackl Schlussanträge v. 18.3.2004 – Rs. C-36/02 (Omega), Slg. 2004, I-9609 Rn. 78 ff.: „Die Menschenwürde wurzelt insgesamt tief in der Entstehung eines Menschenbildes im europäischen Kulturkreis, der den Menschen als zur Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung begabtes Wesen begreift. Aufgrund seiner Fähigkeit zur eigenen, freien Willensbildung ist er Subjekt […]. Aus der in diesem Konzept zum Ausdruck kommenden Bezogenheit des Würdebegriffs zur Selbstbestimmung und Freiheit des Menschen wird deutlich, warum die Idee der Würde des Menschen auch häufig über andere Begriffe und Schutzgüter wie die Persönlichkeit oder die Identität in Erscheinung tritt […]. Als Ausfluss und besondere Ausformungen der Menschenwürde dienen […] letztlich alle (besonderen) Menschenrechte der Verwirklichung und dem Schutz der menschlichen Würde“ (Herv. d. Verf.). Siehe aus der philosphischen Warte erneut Berlin, Four Essays on Liberty (1969), S. LX: „To be free to choose, and not to be chosen for, is an inalienable ingredient in what makes human beings human“. 669 Everson / Correia Gonçalves, in: Peers / Hervey / Kenner (eds.), EU Charter (2014), Art. 16 Rn. 16.01. Gleichsinnig bereits zuvor z. B. Canaris, FS Lerche (1993), S. 873, 881 und 889.

216

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

Bei dieser Lesart umfasst zumindest das „‘core’, or ‘existential’, righ[t] of freedom to conclude a contract“ durchaus einen Menschenwürdekern,670 der durch Art. 1 GRCh verstärkt wird.671 Daraus folgt zum einen, dass dieser Kernbereich nicht generell preisgegeben werden darf. Zum anderen sind selbst an punktuelle Eingriffe – wie etwa bereichsspezifische Kontrahierungszwänge – immer besonders hohe Rechtfertigungsanforderungen zu stellen. Diese Einsicht muss auch die Abwägung sowie die Einschränkung der unionalen Vertragsfreiheit leiten. III. Abwägung und Beschränkbarkeit Während die Schranken der unionsgrundrechtlich verbürgten Vertragsfreiheit bereits erste Konturen angenommen haben (1), ist dem Verhältnis konfligierender allgemeiner Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts zueinander bislang weniger Aufmerksamkeit zuteilgeworden (2). Im Folgenden ist zu untersuchen, inwieweit das Bentham’sche Diktum auf beide Normgruppen gleichermaßen zutrifft: „You, who fetter contracts; you, who lay restraints on the liberty of man, it is for you […] to assign a reason for your doing so“.672

1. Grundrechtliche Schrankensystematik Schon bevor die Vertragsfreiheit insbesondere als Aspekt der unternehmerischen Freiheit in der GRCh verbürgt worden ist, hat der EuGH wiederholt herausgestellt, dass diese Freiheit stets „im Zusammenhang mit ihrer gesellschaftlichen Funktion zu sehen“ und entsprechenden Schranken unterworfen sei.673 Mit Blick auf Eingriffe in ungeschriebene Unionsgrundrechte im Sinne 670 Everson / Correia Gonçalves, in: Peers / Hervey / Kenner (eds.), EU Charter (2014), Art. 16 Rn. 16.01. 671 Vgl. erneut auch Canaris, FS Lerche (1993), S. 873, 881 und 889; Everson / Correia Gonçalves, in: Peers / Hervey / Kenner (eds.), EU Charter (2014), Art. 16 Rn. 16.01. Zurückhaltender positioniert sich mit Blick auf das deutsche Grundgesetz Basedow, Bitburger Gespräche 2008/I (2009), S. 85, 86, weil die „Ableitung aus dem allerhöchsten und unverrückbaren Rechtsgut […] wenig zu den Myriaden von Einschränkungen“ passe. Indes geht es hier nicht um die unmittelbare Herleitung der Vertragsfreiheit aus der Menschenwürde – ablehnend dazu bereits oben § 1 A II 1 –, sondern nur um die Verstärkung des Schutzbereiches jener Freiheitsfacetten, ohne die ein selbstbestimmte Organisation des Lebens schlicht nicht denkbar ist. Vgl. zur verstärkenden Wirkung der Menschenwürdegarantie in Bezug auf die Unionsgrundrechte allgemein GA Stix-Hackl Schlussanträge v. 18.3.2004 – Rs. C36/02 (Omega), Slg. 2004, I-9609 Rn. 78 ff.; Breuer, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 7 Rn. 12 ff. 672 Bentham, Defence of Usury: Letter I, January, 1787 (1816), S. 2. 673 Vgl. z. B. EuGH Urt. v. 9.9.2004 – verb. Rs. C-184/02 u. a. (Spanien und Finnland /  Parlament und Rat), Slg. 2004, I-7789 Rn. 51 f. Deutlich auch EuGH Urt. v. 5.10.1999 – Rs. C-240/97 (Spanien / Kommission), Slg. 1999, I-6571 Rn. 99 f.; EuGH Urt. v. 14.12.2004

§ 3 Gewährleistungsgehalt unionaler Vertragsfreiheit

217

des Art. 6 Abs. 3 EUV hat der Gerichtshof drei Voraussetzungen formuliert, welche nun auch in Art. 52 Abs. 1 GRCh für die Chartagrundrechte aufgegriffen werden: Die Einschränkung muss, erstens, gesetzlich vorgesehen sein, zweitens, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ebenso wie auch, drittens, den Wesensgehalt des jeweiligen Grundrechts wahren.674 a) Erfordernis einer Rechtsgrundlage Bereits im Jahr 1983 hielt GA Rozès in der Rechtssache Schmidt/Kommission eine „Rechtsgrundlage für einen Eingriff in die Vertragsfreiheit der Wirtschaftsteilnehmer“ für unverzichtbar.675 Auch der EuGH stellt diese Anforderung in unterschiedlichen Bereichen und mit Blick auf diverse Facetten der unionalen Vertragsfreiheit. Beispielsweise hat der Gerichtshof frühzeitig hervorgehoben, dass „das Recht der Parteien, von ihnen geschlossene Verträge zu ändern, auf dem Grundsatz der Vertragsfreiheit beruht und daher nicht eingeschränkt werden kann, wenn es keine Gemeinschaftsregelung gibt, die in dieser Beziehung besondere Beschränkungen festlegt“.676

In die gleiche Richtung weist die unionale Entscheidungspraxis in kartellrechtlichen Verfahren: In der Rechtssache Kommission/Alrosa werden als Rechtsgrundlage für die Einschränkung des „Grundsatzes der Vertragsfrei– Rs. C-210/03 (Swedish Match), Slg. 2004, I-11893 Rn. 72; EuGH Urt. v. 9.9.2004 – verb. Rs. C-184/02 u. a. (Spanien und Finnland / Parlament und Rat), Slg. 2004, I-7789 Rn. 51 f. Siehe zu Art. 16 GRCh nur EuGH Urt. v. 4.5.2016 – Rs. C-477/14 (Pillbox 38), EU:C:2016:324 Rn. 158 ff.; EuGH Urt. v. 30.6.2016 – Rs. C-134/15 (Lidl), EU:C:2016: 498 Rn. 31 ff. 674 Siehe zur Schrankensystematik der Unionsgrundrechte im Kontext des Art. 16 GRCh nur EuGH Urt. v. 6.9.2012 – Rs. C-544/10 (Deutsches Weintor), EU:C:2012:526 Rn. 54; EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C:2013:28 Rn. 42 ff.; EuGH Urt. v. 31.1.2013 – Rs. C-12/11 (McDonagh), EU:C:2013:43 Rn. 61; EuGH Urt. v. 17.10.2013 – Rs. C-101/12 (Schaible), EU:C:2013:661 Rn. 27 ff.; EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-390/12 (Pfleger), EU:C:2014:281 Rn. 58; GA Sharpston Schlussanträge v. 14.11.2013 – Rs. C-390/12 (Pfleger), EU:C:2013:747 Rn. 64. Siehe zur Vertragsfreiheit nur EuGH Urt. v. 5.10.1999 – Rs. C-240/97 (Spanien / Kommission), Slg. 1999, I-6571 Rn. 99 f.; EuGH Urt. v. 20.5.2010 – Rs. C-434/08 (Harms), Slg. 2010, I-4431 Rn. 36 f. Zum Ganzen statt vieler Wollenschläger, in: Hatje / Müller-Graff (Hrsg.), EnzEuR I: Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht (2014), § 8 Rn. 72 f.; Cornils, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 5 Rn. 107 ff. 675 GA Rozès Schlussanträge v. 28.6.1983 – Rs. 210/8 (Schmidt / Kommission), Slg. 1983, 3045, 3072. 676 EuGH Urt. v. 5.10.1999 – Rs. C-240/97 (Spanien / Kommission), Slg. 1999, I-6571 Rn. 99 f. (Herv. d. Verf.). Ebenso weist EuGH Urt. v. 20.5.2010 – Rs. C-434/08 (Harms), Slg. 2010, I-4431 Rn. 36 f. darauf hin, „dass ein Vertrag zwar durch das Prinzip der Privatautonomie, wonach die Parteien frei darin sind, gegenseitige Verpflichtungen einzugehen, gekennzeichnet ist, dass sich aus dem anwendbaren Unionsrecht aber Grenzen für die Vertragsfreiheit ergeben können“.

218

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

heit“ Art. 81, 82 EG (nunmehr Art. 101, 102 AEUV) genannt.677 Ebenso hat das EuG in der Rechtssache Automec/Kommission geprüft, ob und unter welchen Voraussetzungen Art. 85 EWG (nunmehr Art. 101 AEUV) sowie Art. 3 Abs. 1 Verordnung Nr. 17678 eine hinreichende Rechtsgrundlage für einen Kontrahierungszwang und mithin einer „Einschränkung der Vertragsfreiheit“ in Form der Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit bilden.679 Auch soweit die Vertragsinhaltsfreiheit durch zwingende Preisregelungen beschnitten wird, fordert der EuGH stets eine Rechtsgrundlage für diese Beschränkung.680 Andere Verkürzungen der Vertragsinhaltsfreiheit, etwa durch die unionsrechtlich fundierte Klauselkontrolle, werden ebenfalls als einer Rechtsgrundlage sowie einer Rechtfertigung bedürftige hoheitliche Eingriffe in die rechtsgeschäftliche Privatautonomie gesehen.681 b) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Art. 52 Abs. 1 S. 2 GRCh stellt Eingriffe in die durch Art. 16 GRCh garantierte unionale Vertragsfreiheit ausdrücklich unter den Vorbehalt, dass sie erforderlich sowie geeignet sind und insbesondere auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne wahren. Einschränkungen sind daher nur zulässig, wenn und soweit sie „erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen“.682 Diese Formel hat der EuGH bereits vor Inkrafttreten der GRCh zugrunde gelegt683 und insbesondere bei Einschränkungen des „Grundsatzes

EuGH Urt. v. 29.6.2010 – Rs. C-441/07 P (Kommission / Alrosa), Slg. 2010, I-5949 Rn. 111 sowie 109 f. und 120. 678 Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962, Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrags, ABl. 1962 13/204. 679 EuG Urt. v. 18.9.1992 – Rs. T-24/90 (Automec / Kommission), Slg. 1992, II-2223 Rn. 49 und 51 f. 680 Vgl. etwa zum Verbot von Zugangsentgelten nach Art. 16 Abs. 3 Richtlinie 96/67/ EG des Rates vom 15. Oktober 1996 über den Zugang zum Markt der Bodenabfertigungsdienste auf den Flughäfen der Gemeinschaft, ABl. 1996 L 272/36 nur EuGH Urt. v. 16.10.2003 – Rs. C-363/01 (Deutsche Lufthansa), Slg. 2003, I-11893 Rn. 59. 681 Deutlich etwa GA Trstenjak Schlussanträge v. 29.10.2009 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 39 f.: „Die Richtlinie 93/13 schränkt den Grundsatz der Vertragsfreiheit zugunsten des Verbrauchers wesentlich ein, indem sie eine richterliche Kontrolle missbräuchlicher Klauseln erlaubt. Gerechtfertigt wird dieser hoheitliche Eingriff in die Privatautonomie mit der Annahme, dass auf dem Gebiet der standardisierten Verträge eine Asymmetrie wirtschaftlicher Macht bestehe“. 682 Vgl. Art. 52 Abs. 1 S. 2 GRCh. Siehe aus der ständigen Rechtsprechung zuletzt etwa EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 70. Siehe zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als „Schranken-Schranke“ statt aller Cornils, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 5 Rn. 12. 677

§ 3 Gewährleistungsgehalt unionaler Vertragsfreiheit

219

der Vertragsfreiheit“ eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgenommen.684 Friktionen zwischen den geschriebenen und ungeschriebenen Unionsgrundrechten sind daher insoweit nicht zu besorgen. Damit eine Einschränkung der unionalen Vertragsfreiheit verhältnismäßig ist, darf sie „nicht die Grenzen dessen überschreiten […], was zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist, wobei zu beachten ist, dass dann, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist und die verursachten Nachteile nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen dürfen“.685

Der Gerichtshof prüft mithin die Geeignetheit, Erforderlichkeit sowie schließlich die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, also die Frage, ob die Einschränkung der Vertragsfreiheit noch in einer angemessenen Relation zu dem mit dieser Verkürzung angestrebten Ziel steht.686 Das Regelungsziel und damit die Legitimation der Einschränkung muss dabei „den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Z. B. EuGH Urt. v. 13.7.1989 – Rs. 5/88 (Wachauf), Slg. 1989, 2609 Rn. 18; EuGH Urt. v. 10.1.1992 – Rs. C-177/90 (Kühn), Slg. 1992, I-35 Rn. 16; EuGH Urt. v. – verb. Rs. C20/00 u. a. (Booker Aquaculture u. a.) Slg. 2003, I-7411 Rn. 68. Vgl. zu Art. 16 GRCh sodann nur EuGH Urt. v. 6.9.2012 – Rs. C-544/10 (Deutsches Weintor), EU:C:2012:526 Rn. 54; EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-390/12 (Pfleger), EU:C:2014:281 Rn. 58. 684 Siehe beispielsweise EuGH Urt. v. 29.6.2010 – Rs. C-441/07 P (Kommission/ Alrosa), Slg. 2010, I-5949 Rn. 120 und 109 ff. Deutlich auch EuG Urt. v. 18.9.1992 – Rs. T-24/90 (Automec / Kommission), Slg. 1992, II-2223 Rn. 51 f.: „Da die Vertragsfreiheit die Regel bleiben muß, kann der Kommission im Rahmen der Anordnungsbefugnisse, über die sie zur Abstellung von Zuwiderhandlungen gegen Artikel 85 Absatz 1 verfügt, grundsätzlich nicht die Befugnis zuerkannt werden, einer Partei die Begründung vertraglicher Beziehungen aufzugeben, da ihr im allgemeinen geeignete Mittel zu Gebote stehen, um ein Unternehmen zum Abstellen einer Zuwiderhandlung zu zwingen. Eine solche Einschränkung der Vertragsfreiheit kann insbesondere deshalb nicht gerechtfertigt werden, weil es mehrere Mittel gibt, eine Zuwiderhandlung abzustellen“. 685 Siehe zu Art. 16 GRCh nur EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C:2013:28 Rn. 50; EuGH Urt. v. 4.5.2016 – Rs. C-477/14 (Pillbox 38), EU:C: 2016:324 Rn. 158 ff.; EuGH Urt. v. 30.6.2016 – Rs. C-134/15 (Lidl), EU:C:2016:498 Rn. 31 ff. 686 Vgl. wiederum nur EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C: 2013:28 Rn. 50; EuGH Urt. v. 17.10.2013 – Rs. C-101/12 (Schaible), EU:C:2013:661 Rn. 29; EuGH Urt. v. 31.1.2013 – Rs. C-12/11 (McDonagh), EU:C:2013:43 Rn. 44 und 59 ff.; EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 67 ff. und 70 ff. Vgl. auch EuGH Urt. v. 29.1.2008 – Rs. C-275/06 (Promusicae), Slg. 2008, I271 Rn. 65 ff.; EuGH Urt. v. 6.9.2012 – Rs. C-544/10 (Deutsches Weintor), EU:C:2012: 526 Rn. 54 ff. Vgl. bereits EuGH Urt. v. 13.7.1989 – Rs. 5/88 (Wachauf), Slg. 1989, 2609 Rn. 18. Vgl. zur Verhältnismäßigkeitsprüfung und zur Wahrung des Wesensgehalts bei den als allgemeine Rechtsgrundsätze anerkannten Unionsgrundrechten nur EuGH Urt. v. 12.6.2003 – Rs. C-112/00 (Schmidberger), Slg. 2003, I-5659 Rn. 79 ff.; EuGH Urt. v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981 Rn. 65 und 75. 683

220

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen“.687 Angesprochen sind damit insbesondere die Unionsgrundrechte der Charta sowie die ungeschriebenen allgemeinen Grundsätze im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV. Wenn sich die Vertragsfreiheit und andere durch die Unionsrechtsordnung geschützte Rechte gegenüberstehen, zieht der EuGH den Gedanken der Konkordanz heran, wonach durch Abwägung „die einzelnen betroffenen Grundrechte miteinander in Einklang zu bringen [sind] und ein angemessenes Gleichgewicht zwischen ihnen herzustellen“ ist.688 Damit bedarf es einer Abwägung der unionalen Vertragsfreiheit einerseits mit den konfligierenden Positionen andererseits.689 Weil bei Verträgen mindestens zwei Parteien ihre rechtsgeschäftliche Privatautonomie betätigen, ist hier stets die unionsgrundrechtlich verbürgte Vertragsfreiheit beider Parteien in diese Abwägung einzustellen.690 Leitlinie der Abwägung muss die größtmögliche Entfaltung der

687 EuGH Urt. v. 31.1.2013 – Rs. C-12/11 (McDonagh), EU:C:2013:43 Rn. 61. Deutlich auch EuG Urt. v. 27.2.2014 – Rs. T-256/11 (Ezz), EU:T:2014:93 Rn. 229 ff. Mit Blick auf die Vertragsfreiheit führt GA Stix-Hackl Schlussanträge v. 30.3.2004 – Rs. C-346/02 und C-347/02 (Kommission / Luxemburg und Frankreich), Slg. 2004, I-7517 Rn. 55 f. aus, „dass allfällige […] Beschränkungen […] gerechtfertigt werden können, sofern es sich bei diesen Vorschriften um Vorschriften aus Gründen des Allgemeininteresses handelt“. Siehe statt aller Cornils, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 5 Rn. 95 ff. Zumindest soweit die Vertragsfreiheit durch Art. 16 GRCh verbürgt ist, deutet der Gerichtshof einen besonders großzügigen Maßstab bei der Verhältnismäßigkeitprüfung an: Weil die unternehmerische Freiheit nur „nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkannt“ werde, könne dieses Grundrecht „einer Vielzahl von Eingriffen der öffentlichen Gewalt unterworfen werden, die im allgemeinen Interesse die Ausübung der wirtschaftlichen Tätigkeit beschränken“, siehe nur EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C:2013:28 Rn. 46 f. Gegen eine über Art. 52 hinausgehende Beschränkbarkeit des Art. 16 GRCh plädiert unter systematischen Gesichtspunkten zu Recht Grabenwarter, in: ders. (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 13 Rn. 41 ff. 688 EuGH Urt. v. 31.1.2013 – Rs. C-12/11 (McDonagh), EU:C:2013:43 Rn. 64 und 62. 689 Entsprechend führt bereits GA Sharpston Schlussanträge v. 15.10.2009 – Rs. C28/08 P (Bavarian Lager / Kommission), Slg. 2010, I-6055 Rn. 95 unter Verweis auf EuGH Urt. v. 12.6.2003 – Rs. C-112/00 (Schmidberger), Slg. 2003, I-5659 Rn. 80 f.; EuGH Urt. v. 9.1.2008 – Rs. C-275/06 (Promusicae), Slg. 2008, I-271 Rn. 70 aus, dass „die widerstreitenden Interessen gegeneinander abzuwägen sind und ein angemessenes Gleichgewicht zwischen diesen Interessen und den in Rede stehenden Grundrechten zu gewährleisten ist“. Siehe auch Gundel, ZHR 180 (2016), 323, 352. 690 Während sich die Vertragsfreiheit zunächst als Abwehrrecht gegen hoheitliche Interventionen wendet, ist durchaus denkbar, dass die Vertragsfreiheiten der beteiligten Parteien zuweilen in unterschiedliche Richtungen weisen: Wenn und soweit die Rechtsordnung der EU unionsgrundrechtliche Schutzpflichten enthält, mag die Verkürzung der Vertragsfreiheit des einen gerade im Interesse der Gewährleistung der Vertragsfreiheit des anderen Vertragsteils geboten sein, siehe eingehend unten Kapitel 3 § 1 A II und Kapitel 4 § 1 B sowie ferner unten Kapitel 7 § 1 A I 1.

§ 3 Gewährleistungsgehalt unionaler Vertragsfreiheit

221

Vertragsfreiheit auf der einen und der gegenläufigen Grundrechtspositionen auf der anderen Seite sein.691 c) Wahrung des Wesensgehalts Bei Eingriffen in den Wesensgehalt der unionalen Vertragsfreiheit sind zunächst besonders hohe Anforderungen an die Rechtfertigung der Beschränkung zu stellen.692 Hingegen mag auf sich beruhen, ob der in Art. 52 Abs. 1 GRCh erwähnte Wesensgehalt der unionalen Vertragsfreiheit eine eigenständige „Schranken-Schranke“ ist, in deren Rahmen sich alle Eingriffe bewegen müssen,693 oder ob es sich nur um die „Umschreibung eines unverhältnismäßigen und daher nicht gerechtfertigten Grundrechtseingriffs“ handelt:694 Nach beiden Lesarten bildet der Kernbereich nämlich eine Grenze der Beschränkbarkeit unionaler Vertragsfreiheit, die dann zum Tragen kommt, wenn die Vertragsabschluss- und Partnerwahlfreiheit sowie die Freiheit zur Festlegung der essentialia negotii völlig ausgehöhlt und dadurch die Selbstbestimmung in vertraglichen Angelegenheiten gänzlich unmöglich wird.695 Dies gilt umso 691 Vgl. erneut EuGH Urt. v. 31.1.2013 – Rs. C-12/11 (McDonagh), EU:C:2013:43 Rn. 64. Mit Blick auf die Gewährleistung der Vertragsfreiheit nach dem deutschen Grundgesetzt fordert das BVerfG Beschl. v. 23.10.2013 – 1 BvR 1842/11 u. a., NJW 2014, 46, 47 entsprechend einen „Ausgleich, bei dem die Freiheit der einen mit der Freiheit der anderen [Vertragspartei] in Einklang zu bringen ist. Dabei kollidierende Grundrechtspositionen sind hierfür in ihrer Wechselwirkung zu erfassen und […] nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz so in Ausgleich zu bringen, dass sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden“. 692 Vgl. nur EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 31 ff. Vgl. auch EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C:2013: 28 Rn. 48 f. EuGH Urt. v. 4.5.2016 – Rs. C-477/14 (Pillbox 38), EU:C:2016:324 Rn. 161. 693 In diesem Sinne zuletzt insbesondere EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C:2013:28 Rn. 49; EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (AlemoHerron), EU:C:2013:521 Rn. 35. In diese Richtung weist z. B. schon EuGH Urt. v. 13.12.1994 – Rs. C-306/93 (SMW Winzersekt), Slg. 1994, I-5555 Rn. 22; EuGH Urt. v. 12.5.2005 – Rs. C-34//03 (ERSA), Slg. 2005, I-3785 Rn. 119, da der Gerichtshof die Außengrenze – und damit die „Schranken-Schranke“ – für Verkürzungen der Unionsgrundrechte auf freie Berufsausübung und Eigentum dort zieht, wo der Eingriff „das gewährleistete Recht in seinem Wesensgehalt antasten würde“. Ebenso mit Blick auf die unternehmerische Freiheit nach Art. 16 GRCh zuletzt etwa EuGH Urt. v. 6.9.2012 – Rs. C-544/10 (Deutsches Weintor), EU:C:2012:526 Rn. 54. Siehe allgemein auch EuGH Urt. v. 29.4.2015 – Rs. C-528/13 (Léger), EU:C:2015:288 Rn. 52. Für eine eigenständige Rolle des Wesensgehalts plädiert vor diesem Hintergrund z. B. Meyer / Borowsky (2014), Art. 52 GRCh Rn. 23 f. 694 So mit Blick insbesondere auf die ältere Rechtsprechung des EuGH etwa Cornils, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 5 Rn. 104 ff. 695 Vgl. mit Blick auf Art. 16 GRCh wiederum EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 35. EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C:2013:28 Rn. 49.

222

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

mehr, als nach der hier vertretenen Auffassung der Wesensgehalt der unionalen Vertragsfreiheit zugleich einen Menschenwürdekern enthält.696 Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb der Unionsgesetzgeber ebenso wie der EuGH und seine Generalanwälte bemüht sind, diesen Kernbereich der Vertragsfreiheit zu schützen. So hält Generalanwältin Trstenjak mit Blick auf den Wesensgehalt der unionalen Vertragsfreiheit beispielsweise die restriktive Ausgestaltung der Klauselrichtlinie durch den Unionsgesetzgeber für geboten: „Rechtstechnisch wird das Ziel der Wahrung eines Kernbereichs der Privatautonomie verwirklicht, indem der Missbrauchskontrolle der Hauptleistungspflichten Grenzen gesetzt werden“.697

Nach dieser Lesart wäre der Kernbereich der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie also z. B. durch Regelungen berührt, die den Hauptgegenstand des Vertrags, den Preis sowie das Preis-Leistungs-Verhältnis lückenloser Kontrolle und umfassenden hoheitlichen Eingriffen unterwerfen, da dies „die Privatautonomie ganz aufheben würde“.698 In eine ähnliche Richtung weist der EuGH im Kontext unionsrechtlich fundierter Kontrahierungszwänge: Unter dem Gesichtspunkt des Wesensgehalts der unionalen Vertragsfreiheit fordert der Gerichtshof, dass der Vertragspartei, deren Vertragsabschlussund Partnerwahlfreiheit durch den Vertragsschlusszwangs verkürzt wird, zumindest möglichst umfassende Vertragsinhaltsfreiheit verbleibt.699 Schließ696 Siehe erneut oben II 3 sowie z. B. Everson / Correia Gonçalves, in: Peers / Hervey /  Kenner (eds.), EU Charter (2014), Art. 16 Rn. 16.01. 697 GA Trstenjak Schlussanträge v. 29.10.2009 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 65. In diese Richtung deutet z. B. auch GA Kokott Schlussanträge v. 8.11.2012 – Rs. C-415/11 (Aziz), EU:C:2012:700 Rn. 73, wenn sie herausstellt, dass nach der Klauselrichtlinie „eine Vertragsklausel nur dann als missbräuchlich anzusehen ist, wenn durch sie entgegen dem Gebot von Treu und Glauben zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten verursacht wird. So wird der Grundsatz der Vertragsfreiheit gewahrt und anerkannt, dass Parteien vielfach ein berechtigtes Interesse an einer gegenüber der Gesetzeslage abweichenden Ausgestaltung ihrer Vertragsbeziehungen besitzen“ (Herv. d. Verf.). 698 GA Trstenjak Schlussanträge v. 29.10.2009 – Rs. C-484/08 (Caja de Ahorros), Slg. 2010, I-4785 Rn. 40. Siehe hierzu noch eingehend unten Kapitel 7 § 2. Vgl. auch GA Wahl Schlussanträge v. 12.2.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:85 Rn. 104 f.: „Der richterliche Eingriff darf, so weit wie irgend möglich, allein darauf abzielen, eine gewisse Gleichrangigkeit zwischen den Gewerbetreibenden und den Verbrauchern wiederherzustellen, mit denen sie Verträge schließen […]. Denn es ist wohlbekannt, dass […] jeglicher Eingriff eines Dritten, einschließlich des Staates als Gesetzgeber, nur mit Vorsicht in Betracht gezogen werden darf, da er möglicherweise geeignet ist, die Vertragsfreiheit […] zu beeinträchtigen“. Gleichsinnig Canaris, FS Lerche (1993), S. 873, 887; ders., AcP 200 (2000), 273, 324; Riesenhuber, GS Wolf (2011), S. 123, 132 ff. 699 Siehe zur Inhaltsfreiheit und dem auf Art. 102 AEUV gestützten Zwang zum Abschluss von Lizenzverträgen nach FRAND-Bedingungen erneut nur EuGH Urt. v. 16.7.2015

§ 3 Gewährleistungsgehalt unionaler Vertragsfreiheit

223

lich fordert der Gerichtshof in seiner Alemo-Herron-Entscheidung, dass jeder Vertragsteil „die Möglichkeit [hat], im Rahmen eines zum Vertragsabschluss führenden Verfahrens seine Interessen wirksam geltend zu machen“ und Einfluss auf die wesentlichen Vertragsbedingungen zu nehmen.700 Wo diese Anforderungen nicht erfüllt sind, ist der Kernbereich der unionalen Vertragsfreiheit betroffen. 2. Abwägung unionsprivatrechtlicher Grundsätze Die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts kommen als Rechtsprinzipien insbesondere dort zum Tragen, wo das geschriebene Unionsprivatrecht auslegungsbedürtig ist oder eine Lücke enthält.701 Laut EuGH ist ein Vertrag auch in der EU-Rechtsordnung stets „durch das Prinzip der Privatautonomie, wonach die Parteien frei darin sind, gegenseitige Verpflichtungen einzugehen, gekennzeichnet“.702 Wenn allerdings weitere, mit der Vertragsfreiheit konfligierende Grundsätze im Raum stehen, müssen diese gegenläufigen Prinzipien zunächst abgewogen und in Ausgleich gebracht werden.703 Erst wenn sich ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsprivatrechts im Zuge dieser Abwägung durchsetzt, gewinnt er Überzeugungskraft als Leitlinie der Auslegung oder Lückenfüllung.704 Dabei geht es freilich – Rs. C-170/13 (Huawei Technologies), EU:C:2015:477 Rn. 54 und 63. Siehe zur Inhaltsfreiheit bei Kontrahierungszwängen im Kontext von Energielieferungsverträgen nach Art. 3 Abs. 3 Elektrizitäts- und Art. 3 Abs. 3 Erdgasbinnenmarktrichtlinie wiederum z. B. EuGH Urt. v. 23.10.2014 – verb. Rs. C-359/11 u. a. (Schulz u. a.), EU:C:2014:2317 Rn. 40. 700 EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 34. Siehe auch EuGH Urt. v. 27.4.2017 – Rs. C-680/15 u.a. (Asklepios Kliniken u.a.), EU: C:2017:317 Rn. 23. 701 Siehe erneut oben § 2 A I 1. Siehe ferner nur Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 14 ff., 389 ff., 395 ff., 545 f.; Basedow, FS Hopt I (2010), S. 27, 45. In diesem Sinne auch GA Mazák Schlussanträge v. 15.2.2007 – Rs. C-411/05 (Palacios de la Villa), Slg. 2007, I-8531 Rn. 134 ff.; GA Trstenjak Schlussanträge v. 30.6.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 68; GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C: 2011:559 Rn. 93. Siehe allgemein auch Lenaerts / Gutiérrez-Fons, CMLR 47 (2010), 1629, 1631 ff. und 1636 ff.; Tridimas, The General Principles of EU Law (2006), S. 17 f. und 29 f. („gap-filling function“; „[a]id to interpretation“). 702 EuGH Urt. v. 20.5.2010 – Rs. C-434/08 (Harms), Slg. 2010, I-4431 Rn. 36. Siehe auch EuGH Urt. v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 (Werhof), Slg. 2006, I-2397 Rn. 23; EuGH Urt. v. 27.4.2017 – Rs. C-680/15 u.a. (Asklepios Kliniken u.a.), EU:C:2017:317 Rn. 19. Vgl. zudem nur EuGH Urt. v. 5.10.1999 – Rs. C-240/97 (Spanien / Kommission), Slg. 1999, I-6571 Rn. 99. 703 Siehe erneut oben § 2 A I 1 sowie statt vieler Hartkamp, RabelsZ 75 (2011), 241, 256; Metzger, RabelsZ 75 (2011), 845, 879. 704 Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 546 bezeichnet die Rechtsprinzipien vor diesem Hintergrund treffend als „Abwägungsgebote und vermutlich verbindliche Sätze“.

224

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

nicht um eine „Alles-oder-Nichts“-Entscheidung zugunsten eines einzigen Prinzips: Auch der Grundsatz, der nach sorgfältiger Abwägung die Oberhand behält, kann durch das gegenläufige Prinzip begrenzt werden und entsprechend nur in abgeschwächter Form bei der Interpretation oder der Füllung von Lücken zu berücksichtigen sein.705 Innerhalb des durch die unionale Methodenlehre gesteckten Rahmens besteht somit ein erheblicher Spielraum bei der Anwendung der allgemeinen Grundsätze des Unionsprivatrechts.706 Dessen ungeachtet ist im weiteren Verlauf dieser Abhandlung zu fragen, welche Leitlinie den Abwägungsvorgang beherrschen soll und inwieweit und unter welchen Voraussetzungen der unionsprivatrechtliche Grundsatz der Vertragsfreiheit Vorrang vor anderen Prinzipien genießt.707 Entscheidendes Gewicht wird dabei nicht zuletzt der im Ausgangspunkt prozeduralen und marktbasierten Konzeption unionaler Vertragsfreiheit auf der einen sowie ihrer „Materialisierung“ auf der anderen Seite zukommen.708 3. Ergebnis Die als Unionsgrundrecht und allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsprivatrechts geschützte Vertragsfreiheit hat einen autonomen und einheitlichen Schutzbereich. Dieser umfasst alle sieben Facetten der unionalen Vertragsfreiheit und gewährleistet mithin neben der Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit,709 der Inhalts-,710 Typen-,711 Änderungs-,712 Aufhebungs-713 und der Formfreiheit714 auch die Parteiautonomie als international-privatrechtliche Dimension rechtsgeschäftlicher Privatautonomie.715 Der Schutzbereich wie auch der Wesensgehalt der unionalen Vertragsfreiheit sind vor dem Hintergrund der Funktionsbestimmung dieser Freiheit zu Metzger, RabelsZ 75 (2011), 845, 879 (dort in Fn. 153). Vgl. Lenaerts / Gutiérrez-Fons, CMLR 47 (2010), 1629, 1631: „[T]he ECJ is able to weigh competing interests against each other in a coherent, rational, and dynamic fashion“. 707 Mit Recht bemerken Eidenmüller / Faust / Grigoleit / Jansen / Wagner / Zimmermann, Oxford J. Legal Studies, 28 (2008), 659671 f. in Bezug auf die Abwägung privatrechtlicher Prinzipien: „At least a number of abstract ‘conflict rules’ would be required that determine when a given value prevails or may prevail and, even more importantly, the reasons relevant for this assessment should be provided“. Einen grundsätzlichen Vorrang der Vertragsfreiheit im unionsrechtlich determinierten Privatrecht postuliert beispielsweise Metzger, RabelsZ 75 (2011), 845, 878. 708 Siehe unten Kapitel 3 und Kapitel 4. 709 Hierzu eingehend oben § 1 B I 1. 710 Hierzu eingehend oben § 1 B I 2. 711 Hierzu eingehend oben § 1 B I 3. 712 Hierzu eingehend oben § 1 B I 4. 713 Hierzu eingehend oben § 1 B I 5. 714 Hierzu eingehend oben § 1 B I 6. 715 Hierzu eingehend oben § 1 B I 7. 705 706

§ 3 Gewährleistungsgehalt unionaler Vertragsfreiheit

225

sehen: Namentlich deckt die durch die Unionsrechtsordnung geschützte rechtsgeschäftliche Privatautonomie alle grundlegenden Aspekte ab, die zur Selbstbestimmung im vertraglichen Bereich unverzichtbar sind. Zum Wesensgehalt der unionalen Vertragsfreiheit zählt entsprechend die freie Entscheidung über den Vertragsschluss und die Auswahl des Vertragspartners ebenso wie die parteiautonome Festlegung der essentialia negotii. Diesem Wesensgehalt der unionalen Vertragsfreiheit kommt die Aufgabe zu, den Nukleus der Selbstbestimmungsfreiheit des Menschen im vertraglichen Bereich zu wahren und Schutz vor Fremdbestimmung zu gewährleisten. Hierin liegt zugleich der Menschenwürdekern des Unionsgrundrechts der Vertragsfreiheit. Einschränkungen der unionsgrundrechtlich geschützten Vertragsfreiheit sind nur im Rahmen der unionalen Schrankensystematik möglich. Jeder Eingriff bedarf demnach einer Rechtsgrundlage und darf weder gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoßen noch den Wesensgehalt der unionalen Vertragsfreiheit beeinträchtigen. Besonders hohe Anforderungen sind demnach an Eingriffe in die Abschluss- und Vertragspartnerwahlfreiheit sowie in die Freiheit zur Bestimmung der essentialia negotii zu stellen. Obschon Beschränkungen anderer Facetten der unionalen Vertragsfreiheit grundsätzlich unter weniger strengen Voraussetzungen zulässig sind, kann auch hier im Einzelfall der Kernbereich der Vertragsfreiheit berührt sein, etwa, weil durch Intensität und Umfang des konkreten Eingriffs die Ausübung der unionalen Vertragsfreiheit insgesamt vereitelt wird.716 Die hier aufgezeigten Schranken der unionalen Vertragsfreiheit sind insbesondere auch durch alle unionalen und – im Anwendungsbereich des Unionsrechts – auch durch mitgliedstaatliche Hoheitsträger zu beachten: Beispielsweise ist mit Blick auf zwingendes Vertragsrecht, Kontrahierungszwänge und Verbotstatbestände stets zu fragen, inwieweit diese Regelungen jeweils geeignet, erforderlich und angemessen sind.717 Verkürzungen des allgemeinen unionsprivatrechtlichen Grundsatzes der Vertragsfreiheit sind ebenfalls nur nach einer Abwägung zulässig, wobei wie im Kontext der Unionsgrundrechte auch ein Ausgleich konfligierender Posititionen im Sinne „praktischer Konkordanz“ anzustreben ist. Allerdings bestehen Unterschiede bei der Wirkungsweise und der normativen Kraft: Anders als die Unionsgrundrechte stehen die allgemeinen Rechtsgrundsätze des UniSo stellt der EuGH mit Blick auf den Wesensgehalt eine ergebnisbezogene Betrachtung an und fragt im Kontext des Art. 16 GRCh gerade danach, ob der Grundrechtsträger durch einen konkreten Eingriff „an Ausübung der unternehmerischen Tätigkeit als solcher […] gehindert“ wird, vgl. EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C: 2013:28 Rn. 49. 717 Siehe dazu noch eingehend unten Kapitel 7 § 1. Vgl. bereits Grundmann, ERCL 1 (2005), 184, 195. Entsprechend fragt Hess, JZ 2005, 540, 548 zu Recht, „ob der weit greifende Verbraucherschutz […] die Privatautonomie […] über Gebühr beschränkt und damit das gemeinschaftsrechtliche Übermaßverbot verletzt“. 716

226

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

onsprivatrechts normhierarchisch in der Regel auf Ebene des Sekundärrechts.718 Auch dienen sie als Rechtsprinzipien lediglich der Auslegung, Lückenfüllung sowie in Ausnahmefällen auch der Ergänzung des geschriebenen Unionsprivatrechts. Diese Gemeinsamkeiten und Unterschiede sind auch für die Bestimmung des Anwendungsbereichs sowie der Privatrechtswirkungen der Vertragsfreiheit von Bedeutung. B. Anwendungsbereich Nationale Garantien der Vertragsfreiheit treten angesichts der zunehmenden unionsrechtlichen Durchdringung des Privat- und insbesondere zahlreicher Felder des Schuldvertragsrechts immer weiter in den Hintergrund.719 Doch vermag die unionale Vertragsfreiheit die dadurch entstehenden Schutzlücken vollumfänglich zu schließen? Dies führt zur Frage nach dem persönlichen (I) sowie dem jeweiligen sachlichen Anwendungsbereich der unionsrechtlichen Vertragsfreiheit in ihren Ausprägungen als Unionsgrundrecht (II) und als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsprivatrechts (III). I.

Persönlicher Anwendungsbereich: Jedermanns(grund)recht

Das allgemeine Recht auf Freiheit im Sinne des Art. 6 GRCh steht jeder natürlichen Person zu.720 Diese Aussage wird man grundsätzlich auf alle Freiheitsgrundrechte des II. Titels der Charta und damit auch auf die unter anderem durch Art. 12, 15 und 16 GRCh verbürgte sowie darüber hinaus als Grundsatz im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV geschützte unionale Vertragsfreiheit übertragen können: Auch diese Freiheit ist ein Jedermannsgrundrecht721 und wird zugunsten aller natürlichen – einschließlich nach mitgliedstaatlichem Recht minderjähriger oder geschäftsunfähiger – Personen gewährleistet.722 Darüber hinaus können sich im Binnenmarkt neben den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten auch Angehörige von Nicht-EU-Staaten und Staatenlose auf die unionale Vertragsfreiheit berufen.723 Ebenso ist die Vertragsfreiheit juristischen Personen sowie grundsätzlich auch nicht-rechtsfähigen Gebilden zuzuerkennen, gleichviel, ob sie Kreaturen Siehe erneut oben § 2 A I 1. Siehe erneut oben Einleitung A III sowie sogleich unten II 2 c. 720 Vgl zu Art. 6 GRCh EuGH Urt. v. 26.4.2012 – Rs. C-92/12 PPU (C), EU:C:2012: 255 Rn. 111. 721 So zu Art. 16 GRCh auch Meyer / Bernsdorff (2014), Art. 16 GRCh Rn. 17. 722 Wiederum mit Blick auf Art. 6 GRCh stellt EuGH Urt. v. 26.4.2012 – Rs. C-92/12 PPU (C), EU:C:2012:255 Rn. 111 heraus, es handle sich um ein auch „‚Minderjährigen‘ zuerkannte[s] Grundrecht auf Freiheit“. 723 Siehe mit Blick auf Art. 16 GRCh etwa Meyer / Bernsdorff (2014), Art. 16 GRCh Rn. 17; Oliver, in: Bernitz / Groussot / Schulyko (eds.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), S. 281, 296 f. 718 719

§ 3 Gewährleistungsgehalt unionaler Vertragsfreiheit

227

des mitgliedstaatlichen oder aber drittstaatlichen Rechts sind.724 Allerdings gibt weder die unionale Vertragsfreiheit noch die unternehmerische Freiheit im Sinne des Art. 16 GRCh natürlichen Personen oder Gesellschaften aus Drittstaaten ein Recht darauf, sich in der EU niederzulassen oder im Binnenmarkt tätig zu werden.725 Anders ausgedrückt profitieren Drittstaatsangehörige nur insoweit von dieser Freiheit, als ihnen ein anderweitiges Recht auf Zugang zum Binnenmarkt zusteht.726 II. Unionsgrundrechtliche Bindung der EU und ihrer Mitgliedstaaten Gemäß Art. 51 Abs. 1 GRCh gelten die Grundrechtsverbürgungen der GRCh umfassend für alle Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union. Auch die ungeschriebenen Unionsgrundrechte in Gestalt der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV sind von der EU stets zu beachten. Die Mitgliedstaaten sind an die geschriebenen Unionsgrundrechte gemäß Art. 51 Abs. 1 GRCh jedenfalls bei der „Durchführung des Rechts der Union“ gebunden (1). Darüber hinaus sind nicht zuletzt der Judikatur einige Erweiterungen des Anwendungsbereich des Unionsrechts – und damit auch der EU-Grundrechte – zu entnehmen (2). 1. Durchführung des Unionsrechts Unter der „Durchführung des Rechts der Union“ im Sinne des Art. 51 Abs. 1 GRCh sind zunächst alle Formen der normativen, administrativen und judikativen Durchführung zu verstehen.727 Erfasst wird zunächst die Anwendung und Auslegung unionsrechtlicher Vorschriften ungeachtet deren normhierarchischer Stellung: Entsprechend ist die Durchsetzung primärrechtlicher Regelungen, wie etwa Art. 101, 102 AEUV, durch mitgliedstaatliche Stellen eben-

724 Eingehend Sasse, EuR 2012, 628, 630 ff. und 636 ff. Durch Art. 17 GRCh sieht EuG Urt. v. 6.9.2013 – Rs. T-35/10 u. a. (Bank Melli Iran), EU:T:2013:397 Rn. 36 sogar solche juristische Personen geschützt, hinter denen öffentliche Stellen von Drittstaaten stehen: „Weder die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. 2010, C 83, S. 389) noch das Primärrecht der Union sehen Bestimmungen vor, die juristische Personen, die Emanationen von Staaten sind, vom Grundrechtsschutz ausnehmen. Die Bestimmungen der Grundrechtecharta, die im Zusammenhang mit den von der Klägerin geltend gemachten Klagegründen einschlägig sind, namentlich ihre Art. 17, 41 und 47, gewährleisten vielmehr die Rechte „[j]ede[r] Person“, was juristische Personen wie die Klägerin einschließt“. Ebenso GA Sharpston Schlussanträge v. 26.2.2015 – Rs. C-176/13 P (Bank Mellat / Rat), EU:C:2015:130 Rn. 43 ff. 725 Statt vieler Oliver, in: Bernitz / Groussot / Schulyko (eds.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), S. 281, 297; Meyer / Bernsdorff (2014), Art. 16 GRCh Rn. 17. 726 So mit Blick auf Art. 16 GRCh treffend Jarass (2016), Art. 16 GRCh Rn. 10 f. 727 Jarass, NVwZ 2012, 457, 459; Schwarze / Hatje (2012), Art. 51 GRCh Rn. 19.

228

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

so am Maßstab der unionalen Vertragsfreiheit zu messen wie die Anwendung von Sekundärrecht, etwa in Gestalt von Verordnungen.728 Die Umsetzung von Richtlinen durch die EU-Mitgliedstaaten729 fällt ebenfalls unter den Begriff der Durchführung gemäß Art. 51 Abs. 1 GRCh. Dies gilt auch dann, wenn die Mitgliedstaaten über einen gewissen Umsetzungsbzw. Ermessensspielraum verfügen.730 Mit Blick auf das Unionsprivatrecht von besonderer Bedeutung ist dabei, dass auch Öffnungsklauseln in mindestharmonisierenden Richtlinien, die – wie z. B. Art. 8 Klauselrichtlinie – den Mitgliedstaaten eine über das sekundärrechtliche Niveau hinausgehende Umsetzung gestatten, an den Unionsgrundrechten zu messen sind. Aus der unmittelbaren Grundrechtsbindung der Union folgt nämlich, dass sie nicht hinnehmen kann, dass die Mitgliedstaaten mithilfe einer Öffnungsklausel auf einem in die Regelungszuständigkeit der EU fallenden Gebiet Unionsgrundrechte verletzten. Der EuGH stellt vor diesem Hintergrund heraus, „dass eine [unionsrechtliche] Bestimmung […] als solche die Grundrechte missachtet, wenn sie den Mitgliedstaaten […] gestattet, nationale Gesetze zu erlassen oder beizubehalten, die die Grundrechte missachten“.731

Anders gewendet gerät auf diesem Wege mittelbar auch das in „überschießender“ Richtlinienumsetzung ergangene mitgliedstaatliche (Privat)Recht unter den Einfluss der Unionsgrundrechte, einschließlich der unionalen Vertragsfreiheit.732

Siehe speziell zur Gewährleistung der Vertragsfreiheit nach Art. 16 GRCh EuGH Urt. v. 17.10.2013 – Rs. C-101/12 (Schaible), EU:C:2013:661 Rn. 25 ff. Siehe ferner nur EuGH Urt. v. 9.11.2010 – verb. Rs. C-92/09 u. a. (Schecke u. a.), Slg. 2010, I-11063 Rn. 46; EuGH Urt. v. 6.9.2012 – Rs. C-544/10 (Deutsches Weintor), EU:C:2012:526 Rn. 42 ff.; EuGH Urt. v. 31.1.2013 – Rs. C-12/11 (McDonagh), EU:C:2013:43 Rn. 59 ff. Siehe zur Auslegung statt aller v. d. Groeben / Schwarze / Hatje / Terhechte (2015), Art. 51 GRCh Rn. 10. 729 Siehe speziell zur Verbürgung der unionalen Vertragsfreiheit in Art. 16 GRCh EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C:2013:28 Rn. 42 ff.; EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 30. Siehe ferner z. B. EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 23 ff.; EuGH Urt. v. 27.9.2012 – Rs. C-179/11 (Cimade und GISTI), EU:C:2012:594 Rn. 42; EuGH Urt. v. 27.3.2014 – Rs. C-314/12 (UPC Telekabel), EU:C:2014:192 Rn. 46. Deutlich mit Blick auf das spanische Privatrecht zuletzt etwa EuGH Urt. v. 10.7.2014 – Rs. C198/13 (Hernández), EU:C:2014:2055 Rn. 32: „Diese Vorschriften des spanischen Rechts sind im Licht von Art. 20 der Charta auszulegen, sofern sie in den Geltungsbereich der Richtlinie 2008/94 fallen“. Siehe ferner nur GA Kokott Schlussanträge v. 15.5.2014 – Rs. C-318/13 (X), EU:C:2014:333 Rn. 49 ff. 730 Siehe z. B. zu einem Ermessensspielraum im Rahmen einer Verordnung EuGH Urt. v. 21.12.2011 – Rs. C-411/10 (N.S.), Slg. 2011, I-13905 Rn. 64 ff. Dazu statt vieler Jarass, NVwZ 2012, 457, 460; Wollenschläger, in: Hatje / Müller-Graff (Hrsg.), EnzEuR I: Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht (2014), § 8 Rn. 18 ff. 731 EuGH Urt. v. 27.6.2006 – Rs. C-540/03 (Parlament / Rat), Slg. 2006, I-5809 Rn. 23. 728

§ 3 Gewährleistungsgehalt unionaler Vertragsfreiheit

229

2. Erweiterungen des „Anwendungsbereichs“ des Unionsrechts und der EU-Grundrechte Während der EuGH in ständiger Rechtsprechung auf den „Anwendungsbereich“ des Unionsrechts abhob,732 könnte Art. 51 Abs. 1 GRCh mit dem Erfordernis der „Durchführung“ des EU-Rechts nun womöglich eine Einschränkung der Grundrechtsverpflichtung der EU-Mitgliedstaaten implizieren.733 Eine solche Beschränkung des Wirkbereichs der Grundrechtecharta bliebe jedoch in der Praxis regelmäßig folgenlos: Die in der Charta enthaltenen Grundrechte sind nämlich überwiegend ohnehin bereits als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV verbürgt. Da Letztere weiterhin neben den Chartagrundrechten fortbestehen,734 würden bei der „Durchführung“ des Unionsrechts die Grundrechte der Charta und im „Anwendungsbereich“ des Unionsrechts hingegen die – im Wesentlichen inhaltsgleichen – Grundrechte nach Art. 6 Abs. 3 EUV eingreifen.735 Ein solcher Dualismus ist freilich weder sinnvoll noch von den Verfassern der Grundrechtecharta intendiert.736 Vor allem findet eine restriktive Lesart des Art. 51 Abs. 1 GRCh auch keinerlei Stütze in den für die Auslegung der Charta verbindlichen Erläuterungen zur GRCh: Dort wird ganz im Gegenteil auf die etablierte EuGH-Rechtsprechung zu den ungeschriebenen Unionsgrundrechten Bezug genommen, dergemäß die „Grundrechte für die Mitgliedstaaten nur dann [gelten], wenn sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts handeln“.737

732 Vgl. nur EuGH Urt. v. 18.6.1991 – Rs. C-260/89 (ERT), Slg. 1991, I-2925 Rn. 42; EuGH Urt. v. 24.3.1994 – Rs. C-2/92 (Bostock), Slg. 1994, I-955 Rn. 16; EuGH Urt. v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981 Rn. 75; EuGH Urt. v. 27.6.2006 – Rs. C-540/03 (Parlament / Rat), Slg. 2006, I-5769 Rn. 105. Diese Rechtsprechungslinie ist entscheidend durch EuGH Urt. v. 15.6.1978 – Rs. 149/77 (Defrenne III), Slg. 1978, 1365 Rn. 26 ff. geprägt worden, wo der Gerichtshof zunächst die Existenz eines Grundrechts als „Bestandteil der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts“ bejahte, sodann jedoch mangels einschlägiger gemeinschaftlicher Regelungen den Anwendungsbereich des Unionsrechts – und damit auch des fraglichen Grundrechts – nicht eröffnet sah. 733 Z. B. Tettinger / Stern / Ladenburger (2006), Art. 51 GRCh Rn. 35; Ludwig, EuR 2011, 715, 720 ff.; Streinz / ders. / Michl (2012), Art. 51 GRCh Rn. 7 ff.; Herresthal, ZEuP 2014, 238, 249 ff.; Meyer / Borowsky (2014), Art. 51 GRCh Rn. 30a f. 734 Siehe erneut oben § 2 A I 2. 735 GA Bot Schlussanträge v. 5.4.2011 – Rs. C-108/10 (Scattolon), EU:C:2011:211 Rn. 120. Ebenso UWG-Großkommentar / Heinze (2014), Einl. Rn. 197. 736 So auch GA Bot Schlussanträge v. 5.4.2011 – Rs. C-108/10 (Scattolon), EU:C:2011: 211 Rn. 120. 737 Vgl. Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl. 2007 C 303/17, 32 sowie Art. 51 Abs. 7 GRCh. Hierauf verweist ausdrücklich auch EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 20. Siehe statt vieler auch Schwarze / Hatje (2012), Art. 51 GRCh Rn. 18.

230

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

Darüber hinaus wird der Begriff der Durchführung nicht in allen Sprachfassungen des Art. 51 Abs. 1 GRCh verwendet: Beispielsweise stellt die spanische ebenso wie auch die portugiesische und französische Fassung der Charta auf die Anwendung des Unionsrechts ab.738 Vor diesem Hintergrund wahrt der Gerichtshof konsequenterweise auch im Rahmen des Art. 51 Abs. 1 GRCh die Kontinuität mit seiner Rechtsprechungspraxis zu den ungeschriebenen Unionsgrundrechten: Der EuGH rekurriert auf die Unionsgrundrechte – ungeachtet ihrer Provenienz –, wenn nur der Anwendungsbereich des Unionsrechts eröffnet ist.739 Der Gerichtshof postuliert damit einen einheitlichen Wirkbereich der Chartagrundrechte und der Grundrechte im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV: Nunmehr finden sämtliche „in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen Anwendung“.740 Dies wirft die Folgefrage auf, wann ein Sachverhalt in ebendiesen Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt. In dem so gesteckten Rahmen bildet dann die unionsgrundrechtlich verbürgte Vertragsfreiheit den Prüfungsmaßstab sowohl für das unionale wie auch für das nationale Privatrecht. Der Umstand, dass eine Person Unionsbürger ist und die daraus fließenden Rechte ausübt, dürfte für die Eröffnung des Geltungsbereichs des EU-Recht genauso

So lautet die relevante Passage des Art. 51 Abs. 1 GRCh in der spanischen Fassung „apliquen el Derecho de la Unión“, in der portugiesischen „apliquem o direito da União“ und in der französischen „mettent en oeuvre le droit de l’Union“. 739 So zuletzt etwa EuGH Urt. v. 10.7.2014 – Rs. C-198/13 (Hernández), EU:C:2014: 2055 Rn. 33: „Wie sich aus den Erläuterungen zu Art. 51 der Charta ergibt, die nach deren Art. 52 Abs. 7 gebührend zu berücksichtigen sind, bestätigt der Begriff der Durchführung in Art. 51 die vor dem Inkrafttreten der Charta entwickelte Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Anwendbarkeit der Grundrechte der Union als allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts […], wonach die Verpflichtung zur Einhaltung der in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte für die Mitgliedstaaten nur dann gilt, wenn sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts handeln“ (Herv. d. Verf.). Gleichsinnig EuGH Urt. v. 15.11.2011 – Rs. C-256/11 (Dereci), Slg. 2011, I-11315 Rn. 71 f.; EuGH Urt. v. 7.6.2012 – Rs. C-27/11 (Vinkov), EU:C:2012:326 Rn. 58; EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 17 ff. und 45 ff.; EuGH Urt. v. 26.9.2013 – Rs. C-418/11 (Texdata), EU:C:2013:588 Rn. 73; EuGH Urt. v. 26.9.2013 – Rs. C-476/11 (HK Danmark), EU:C:2013:590 Rn. 19 f.; EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-390/12 (Pfleger), EU:C: 2014:281 Rn. 33 f. Ebenso wohl schon EuGH Urt. v. 22.10.2010 – Rs. C-279/09 (DEB), Slg. 2010, I-13849 Rn. 29 ff. sowie 59 ff. Siehe ferner nur Schwarze / Hatje (2012), Art. 51 GRCh Rn. 18. Anders dennoch z. B. Calliess / Ruffert / Kingreen (2016), Art. 51 GRCh Rn. 19 f.; Meyer / Borowsky (2014), Art. 51 GRCh Rn. 24 a und 30a f. 740 EuGH Urt. v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 (Association de médiation sociale), EU:C: 2014:2 Rn. 42. Siehe zum übereinstimmenden Anwendungsbereich des als allgemeiner Grundsatz nach Art. 6 Abs. 3 EUV einerseits und in Art. 21 GRCh andererseits verbürgten Grundrechts nur EuGH Urt. v. 29.4.2015 – Rs. C-528/13 (Léger), EU:C:2015:288 Rn. 46 ff. m. w. N. 738

§ 3 Gewährleistungsgehalt unionaler Vertragsfreiheit

231

wenig ausreichen741 wie das Bestehen einer allgemeinen, in dem fraglichen Bereich aber noch nicht genutzten Regelungszuständigkeit der Union.742 Gleiches gilt z. B. auch für die lediglich „programmatischen Bestimmungen über die allgemeine Entwicklung des sozialen Wohls“, wie sie etwa Art. 151 und 156 AEUV enthalten.743 Ebenso sind mitgliedstaatliche Vorschriften nicht schon allein deshalb an den Unionsgrundrechten zu messen, weil sie an einen unionsrechtlich determinierten Regelungsbereich angrenzen: In den Rechtssachen Hernández und Siragusa hat der EuGH vielmehr hervorgehoben, dass die Eröffnung des Anwendungsbereichs des Unionsrechts „das Vorliegen eines Zusammenhangs zwischen einem Unionsrechtsakt und der fraglichen nationalen Maßnahme voraussetzt, der darüber hinausgeht, dass die fraglichen Sachbereiche benachbart sind oder der eine von ihnen mittelbare Auswirkungen auf den anderen haben kann“.744

741 Wie hier Wollenschläger, in: Hatje / Müller-Graff (Hrsg.), EnzEuR I: Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht (2014), § 8 Rn. 32 ff. In eine andere Richtung weist aber GA Sharpston Schlussanträge v. 30.9.2010 – Rs. C-34/09 (Ruiz Zambrano), Slg. 2011 I-1177 Rn. 83 f.: „Der Unionsbürger, der von Freizügigkeitsrechten Gebrauch macht, kann sich auf die gesamte Palette der unionsrechtlich geschützten Grundrechte berufen (gleichviel, ob diese mit der wirtschaftlichen Tätigkeit zusammenhängen, zu deren Ausübung er sich von einem Mitgliedstaat in einen anderen begibt). Wäre dies nicht der Fall, könnte er von der Wahrnehmung dieser Freizügigkeitsrechte abgehalten werden. Es wäre (gelinde gesagt) paradox, wenn ein Unionsbürger sich auf unionsrechtliche Grundrechte berufen könnte, wenn er von einem wirtschaftlichen Freizügigkeitsrecht als Arbeitnehmer Gebrauch macht, wenn eine innerstaatliche Regelung in den Geltungsbereich des Vertrags fällt […] oder wenn er sich auf abgeleitetes Unionsrecht stützt […], ihm dies jedoch verwehrt wäre, wenn er sich in dem betreffenden Mitgliedstaat lediglich ‚aufhält‘“. Vgl. auch schon GA Jacobs Schlussanträge v. 9.12.1992 – Rs. C-168/91 (Konstantinidis), Slg. 1993, I-1191 Rn. 46, der mit Blick auf einen Unionsbürger ausführte, „dass er, wohin er sich in der Europäischen [Union] zu Erwerbszwecken auch begibt, stets im Einklang mit einer gemeinsamen Ordnung von Grundwerten behandelt wird […] Mit anderen Worten, er ist berechtigt, zu sagen ‚civis europaeus sum‘ und sich auf diesen Status zu berufen, um sich jeder Verletzung seiner Grundrechte zu widersetzen“. 742 Laut EuGH Urt. v. 10.7.2014 – Rs. C-198/13 (Hernández), EU:C:2014:2055 Rn. 36 kann „allein der Umstand, dass eine nationale Maßnahme in einen Bereich fällt, in dem die Union über Zuständigkeiten verfügt, diese Maßnahme nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts bringen und somit zur Anwendbarkeit der Charta führen“. Ebenso schon zur Anwendung der Grundrechte als ungeschriebene allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts EuGH Urt. v. 23.9.2008 – Rs. C-427/06 (Bartsch), Slg. 2008 I-7245 Rn. 18 ff.; EuGH Urt. v. 10.5.2011 – Rs. C-147/08 (Römer), Slg. 2011, I-3591 Rn. 60 ff. 743 Vgl. bereits zu Art. 117 f. EWG EuGH Urt. v. 15.6.1978 – Rs. 149/77 (Defrenne III), Slg. 1978, 1365 Rn. 30 ff. und 19 ff. 744 Siehe zu Art. 51 Abs. 1 GRCh EuGH Urt. v. 10.7.2014 – Rs. C-198/13 (Hernández), EU:C:2014:2055 Rn. 34. Gleichsinnig EuGH Urt. v. 6.3.2014 – Rs. C-206/13 (Siragusa), EU:C:2014:126 Rn. 24, wo der Gerichtshof zudem „einen hinreichenden Zusammenhang von einem gewissen Grad verlangt“.

232

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

In jedem Einzelfall muss demnach geprüft werden, ob „die unionsrechtlichen Vorschriften in dem betreffenden Sachbereich […] bestimmt[e] Verpflichtungen der Mitgliedstaaten […] schaffen“.745 Nur wenn die Mitgliedstaaten in einem „unionsrechtlich hinreichend determinierten Kontext“ handeln,746 ist der Geltungsbereich des Unionsrechts und damit auch der Vertragsfreiheit als Unionsgrundrecht eröffnet. Um feststellen zu können, ob eine mitgliedstaatliche Vorschrift in den Anwendungsbreich des Unionsrechts fällt, will der EuGH insbesondere prüfen, „ob mit der fraglichen nationalen Regelung die Durchführung einer Bestimmung des Unionsrechts bezweckt wird, welchen Charakter diese Regelung hat und ob mit ihr andere als die unter das Unionsrecht fallenden Ziele verfolgt werden, selbst wenn sie das Unionsrecht mittelbar beeinflussen kann, sowie ferner, ob es eine Regelung des Unionsrechts gibt, die für diesen Bereich spezifisch ist oder ihn beeinflussen kann“.747

Dieser Ansatz steht indes in gewissem Widerspruch zu der Rechtsprechungslinie des EuGH in Fransson und Mangold: In besagten Entscheidungen war Anwendungsbereich des Unionsrechts laut EuGH eröffnet, obwohl nur in angrenzenden Materien unionsrechtliche Vorgaben bestanden.748 Dies ist teilweise dahingehend gedeutet worden, dass der EuGH lediglich als Einstieg einen thematischen Bezug zu einem EU-Rechtsakt fordert, der sodann – gewissermaßen als Türöffner – den Weg für eine umfassende Kontrolle angrenzender Rechtsakte am Maßstab der Unionsgrundrechte bereitet. Während diese Lesart zu weit geht, so lassen sich indes drei Fallgruppen ausmachen, in denen der Geltungsbereich des Unionsrechts auch außerhalb harmonisierter Areale eröffnet ist: In den Anwendungsbereich des Unionsrechts – und damit zugleich in denjenigen der Vertragsfreiheit als Unionsgrundrecht – fallen zunächst Verkürzungen der Verkehrsfreiheiten durch die Mitgliedstaaten (a). Darüber hinaus erlegt auch der Effektivitätsgrundsatz den Mitgliedstaaten hinreichend konkrete unionsrechtliEuGH Urt. v. 6.3.2014 – Rs. C-206/13 (Siragusa), EU:C:2014:126 Rn. 26; EuGH Urt. v. 10.7.2014 – Rs. C-198/13 (Hernández), EU:C:2014:2055 Rn. 35. Siehe auch schon EuGH Urt. v. 13.6.1996 – Rs. C-144/95 (Maurin), Slg. 1996, I-2909 Rn. 11 f. 746 Wollenschläger, EuZW 2015, 285, 288. 747 Z. B. EuGH Urt. v. 8.11.2012 – Rs. C-40/11 (Iida), EU:C:2012:691 Rn. 79; EuGH Urt. v. 8.5.2013 – Rs. C-87/12 (Ymeraga u. a.), EU:C:2013:291, Rn. 41; EuGH Urt. v. 6.3.2014 – Rs. C-206/13 (Siragusa), EU:C:2014:126 Rn. 25; EuGH Urt. v. 10.7.2014 – Rs. C-198/13 (Hernández), EU:C:2014:2055 Rn. 37. Damit überträgt der Gerichtshof seine zu den ungeschriebenen Unionsgrundrechten entwickelte Rechtsprechungspraxis auch insoweit auf die Chartagrundrechte, vgl. nur EuGH Urt. v. 18.12.1997 – Rs. C-309/96 (Annibaldi), Slg. 1997, I-7493 Rn. 13 ff. sowie EuGH Urt. v. 13.6.1996 – Rs. C-144/95 (Maurin), Slg. 1996, I-2909 Rn. 11 f., dort jeweils m. w. N. 748 Vgl. EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 17 ff.; EuGH Urt. v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981 Rn. 74 ff. Kritisch zu den hieraus teilweise hergeleiteten expansiven Ansätzen Wollenschläger, in: Hatje /  Müller-Graff (Hrsg.), EnzEuR I: Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht (2014), § 8 Rn. 32 ff. m. w. N. 745

§ 3 Gewährleistungsgehalt unionaler Vertragsfreiheit

233

che Verpflichtungen auf und kann somit den Geltungsbereich des EU-Rechts eröffnen (b). Schließlich behandelt der EuGH privatrechtliche Verträge von der Warte der unionalen Vertragsfreiheit als Einheit und bezieht sie bereits dann in den Schutzbereich dieses Freiheitsgrundrechts ein, wenn nur einzelne Aspekte des Schuldverhältnisses unionsrechtlich determiniert sind (c). a) Vertragsfreiheit als Schranke und „Schranken-Schranke“ bei Verkürzungen der Verkehrsfreiheiten Mit Blick auf die ungeschriebenen Unionsgrundrechte im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV hat der EuGH frühzeitig anerkannt, dass diese Grundrechte auch in Fällen zur Anwendung kommen, in denen die Mitgliedstaaten die Grundfreiheiten beschränken. 749 Während angesichts des Wortlauts des Art. 51 Abs. 1 GRCh teilweise in Zweifel gezogen wurde, ob dies auch für die in der Charta garantierten Grundrechte gilt,750 hat der Gerichtshof in seiner PflegerEntscheidung nun ausdrücklich klargestellt, dass auch insoweit der Anwendungsbereich des Unionsrechts und damit der GRCh und der ungeschriebenen Unionsgrundrechte eröffnet ist: „Nimmt ein Mitgliedstaat im Unionsrecht vorgesehene Ausnahmen in Anspruch, um eine Beschränkung einer durch den Vertrag garantierten Grundfreiheit zu rechtfertigen, muss dies […] als „Durchführung des Rechts der Union“ im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta angesehen werden“.751

Dies bedeutet zunächst, dass die unionale Vertragsfreiheit als Rechtfertigung eines mitgliedstaatlichen Eingriffs in die Grundfreiheiten herangezogen werSiehe nur EuGH Urt. v. 18.6.1991 – Rs. C-260/89 (ERT), Slg. 1991, I-2925 Rn. 43; EuGH Urt. v. 26.6.1997 – Rs. C-368/95 (Familiapress), Slg. 1997, I-3689 Rn. 24 f; EuGH Urt. v. 11.7.2002 – Rs. C-60/00 (Carpenter), Slg.  2002, I-6279 Rn. 40; EuGH Urt. v. 12.6.2003 – Rs. C-112/00 (Schmidberger), Slg.  2003, I-5659 Rn. 74 f.; EuGH Urt. v. 14.10.2004 – Rs. C-36/02 (Omega), Slg. 2004, I-9609 Rn. 30 ff. Dazu statt vieler Jarass (2016), Art. 51 GRCh Rn. 21. 750 Siehe nur Huber, EuR 2008, 190, 193 ff.; Calliess / Ruffert / Kingreen (2016), Art. 51 GRCh Rn. 16 ff. und 19 f.; Kingreen, JZ 2013, 801, 803 f. 751 EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-390/12 (Pfleger), EU:C:2014:281 Rn. 36 (Herv. d. Verf.) führt unter Bezugnahme auf EuGH Urt. v. 18.6.1991 – Rs. C-260/89 (ERT), Slg. 1991, I-2925 Rn. 43 weiter aus, dass diese Situation „offensichtlich in den Geltungsbereich des Unionsrechts und folglich der Charta“ falle. So zuletzt auch z. B. EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 62 ff. Gleichsinnig GA Sharpston Schlussanträge v. 14.11.2014 – Rs. C-390/12 (Pfleger), EU:C:2013:747 Rn. 46: „Es ist daher davon auszugehen, dass ein Mitgliedstaat „bei der Durchführung des Rechts der Union“ im Sinne von Art. 51 handelt, wenn er eine Ausnahme von einer Grundfreiheit einführt. Folglich findet die Charta Anwendung. Da die in den Ausgangsverfahren hier in Rede stehende nationale Maßnahme in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt und mit ihr deshalb das Recht der Union „durchgeführt“ wird, ist sie im Licht der Charta auszulegen“. Siehe auch Wollenschläger, EuZW 2014, 577 ff. 749

234

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

den kann: Zweifelsohne handelt es sich bei dieser als Unionsgrundrecht verbürgten Freiheit um ein durch die Unionsrechtsordnung anerkanntes Allgemeininteresse.752 Demnach fungiert die Vertragsfreiheit, ebenso wie andere Unionsgrundrechte, als Schranke der Verkehrsfreiheiten des Binnenmarktes. Auch soweit man – wie der EuGH in der Rechtssache Angonese –753 unter bestimmten Voraussetzungen Private im individualvertraglichen Kontext an das Verbot der Diskrimimierung aufgrund der Staatsangehörigkeit gebunden sieht,754 dürften die Unionsgrundrechte in ebendieser Schrankenfunktion zum Tragen kommen. In der in Angonese entschiedenen Konstellation ließe sich die Vertragsfreiheit des Arbeitgebers als unionsrechtlich geschützte Position heranziehen, die eine Einschränkung von Verkehrsfreiheiten grundsätzlich rechtfertigen kann.755 In diese Richtung weist auch Generalanwältin Trstenjak in ihren Schlussanträgen zur Rechtssache Fra.bo, in welcher der EuGH756 die Bindung einer privatrechtlichen Zertifizierungsgesellschaft an die Warenverkehrsfreiheit sodann bejaht hat: „Unter Verweisung auf das Urteil Angonese könnte der DVGW möglicherweise auch „sachliche Überlegungen“ zur Rechtfertigung der in Rede stehenden Beschränkung vortragen. Der DVGW könnte sich des Weiteren unter Verweisung auf seine privatrechtliche Rechtsnatur auf den Schutz der in der Grundrechtecharta verbürgten Grundrechte berufen, 752 GA Poiares Maduro Schlussanträge v. 23.5.2007 – Rs. C-438/05 (Viking), Slg. 2007, I-10779 Rn. 49 fordert daher eine Abwägung zwischen „der Schwere des der Ausübung der Verkehrsfreiheit entgegenstehenden Hindernisses und der Bedeutung sowie der Stichhaltigkeit hiermit konkurrierender Belange der Privatautonomie“ (Herv. d. Verf.). Die Funktion der Unionsgrundrechte als im Allgemeininteresse liegende Schranken der Grundfreiheiten spricht auch z. B. EuGH Urt. v. 12.6.2003 – Rs. C-112/00 (Schmidberger), Slg.  2003, I-5659 Rn. 74 f. an: „Da die Grundrechte demnach sowohl von der Gemeinschaft als auch von ihren Mitgliedstaaten zu beachten sind, stellt der Schutz dieser Rechte ein berechtigtes Interesse dar, das grundsätzlich geeignet ist, eine Beschränkung von Verpflichtungen zu rechtfertigen, die nach dem Gemeinschaftsrecht, auch kraft einer durch den Vertrag gewährleisteten Grundfreiheit wie dem freien Warenverkehr, bestehen“. Siehe ferner nur EuGH Urt. v. 26.6.1997 – Rs. C-368/95 (Familiapress), Slg. 1997, I-3689 Rn. 24 f; EuGH Urt. v. 11.7.2002 – Rs. C-60/00 (Carpenter), Slg.  2002, I-6279 Rn. 40; EuGH Urt. v. 14.10.2004 – Rs. C-36/02 (Omega), Slg. 2004, I-9609 Rn. 30 ff. und insbesondere 35. Siehe auch Jarass (2016), Art. 51 GRCh Rn. 21. 753 EuGH Urt. v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 (Angonese), Slg. 2000, I-4139. Siehe auch EuGH Urt. v. 17.7.2008 – Rs. C-94/07 (Raccanelli), Slg. 2008, I-5939 Rn. 45. 754 Dafür etwa W.-H. Roth, FS Medicus (2009), S. 393, 410 ff. Zurückhaltender z. B. Streinz / ders. (2012), Art. 18 AEUV Rn. 43. 755 Laut EuGH Urt. v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 (Angonese), Slg. 2000, I-4139 Rn. 42 könnte die Einschränkung durch Private gerechtfertigt werden, „wenn sie auf sachliche Erwägungen gestützt wäre, die unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen und in bezug auf das berechtigterweise verfolgte Ziel verhältnismäßig sind“. Wie hier auch Cremer, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 1 Rn. 162; Nowak, FS Müller-Graff (2015), S. 475, 478 ff. 756 EuGH Urt. v. 12.7.2012 – Rs. C-171/11 (Fra.bo), EU:C:2012:453 Rn. 32.

§ 3 Gewährleistungsgehalt unionaler Vertragsfreiheit

235

so beispielsweise auf die in Art. 16 der Grundrechtecharta verbürgte unternehmerische Freiheit, und versuchen, eine Kollision zwischen der Warenverkehrsfreiheit und einem oder mehreren Grundrechten darzutun, die unter Heranziehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes einem gerechten Ausgleich zugeführt werden müsste“.757

Umgekehrt dienen die Unionsgrundrechte bei der Verkürzung von Grundfreiheiten als „Schranken-Schranke“:758 Namentlich können mitgliedstaatliche Beschränkungen der Verkehrsfreiheiten nur gerechtfertigt werden, wenn die betreffende nationale Regelung mit den Unionsgrundrechten vereinbar ist und damit nicht zuletzt die unionale Vertragsfreiheit weder unverhältnismäßig verkürzt noch ihren Wesensgehalt antastet.759 Soweit der Gerichtshof beispielsweise in der Rechtssache Kommission/Italien durch einen im italienischen Versicherungsrecht enthaltenen Kontrahierungszwang die Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit von Versicherungsunternehmen aus anderen Mitgliedstaaten beschränkt sieht,760 ist demnach eine besonders umfassende Prüfung veranlasst, inwieweit diese Beschränkung mit der – in ihrem Kernbereich betroffenen –761 unionalen Vertragsfreiheit vereinbar ist. Tatsächlich hebt der EuGH zunächst ausdrücklich hervor, dass „die Auferlegung eines Kontrahierungszwangs […] eine erhebliche Einmischung in die den Wirtschaftsteilnehmern grundsätzlich zustehende Vertragsfreiheit dar[stellt]“ und verneint sodann eine unverhältnismäßige Beschränkung durch den Kontrahierungszwang nicht zuletzt mit dem Argument, dass die Versicherer zumindest andere zentrale Facetten ihrer Vertragsfreiheit – namentlich die Inhaltsfreiheit – bei der Festlegung der Versicherungstarife ausüben können.762 GA Trstenjak Schlussanträge v. 12.3.2012 – Rs. C-171/11 (Fra.bo), EU:C:2012:176 Rn. 56. 758 So allgemein zu den Unionsgrundrechten Schwarze / Hatje (2012), Art. 51 GRCh Rn. 16; Wollenschläger, in: Hatje / Müller-Graff (Hrsg.), EnzEuR I: Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht (2014), § 8 Rn. 25 ff.; v. d. Groeben / Schwarze / Hatje /  Terhechte (2015), Art. 51 GRCh Rn. 10. 759 Siehe wiederum EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-390/12 (Pfleger), EU:C:2014:281 Rn. 36, wo der Gerichtshof unter Bezugnahme auf EuGH Urt. v. 18.6.1991 – Rs. C-260/89 (ERT), Slg. 1991, I-2925 Rn. 43, ausführt: „Erweist sich eine nationale Regelung als geeignet, die Ausübung einer oder mehrerer durch den Vertrag garantierter Grundfreiheiten zu beschränken, können […] die im Unionsrecht vorgesehenen Ausnahmen somit für die betreffende Regelung nur insoweit als Rechtfertigung dieser Beschränkung gelten, als den Grundrechten, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat, Genüge getan wird“ (Herv. d. Verf.). Gleichsinnig z. B. EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU: C:2016:972 Rn. 62 ff. 760 EuGH Urt. v. 28.4.2009 – Rs. C-518/06 (Kommission / Italien), Slg. 2009, I-3491 Rn. 71. 761 Siehe zum Kernbereich erneut oben A II. 762 EuGH Urt. v. 28.4.2009 – Rs. C-518/06 (Kommission / Italien), Slg. 2009, I-3491 Rn. 66, 72 ff. und Rn. 90 f. Siehe zu einer ähnlichen durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und den Wesensgehalt der unionalen Vertragsfreiheit motivierten Herangehensweise des EuGH bei Kontrahierungszwängen erneut oben A III 1 b und c. 757

236

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

Mithin setzt die unionale Vertragsfreiheit in ihrer Eigenschaft als „Schranken-Schranke“ der Beschränkbarkeit der Verkehrsfreiheiten eine unionsgrundrechtliche Außengrenze.763 Insgesamt wird somit bei allen Einschränkungen der Grundfreiheiten des Binnenmarkts zugleich der Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte einschließlich der unionalen Vertragsfreiheit eröffnet.764 b) Ausdehnung des Anwendungsbereichs durch den Effektivitätsgrundsatz Der Anwendungsbereich des Unionsrechts kann überdies auch in Gebieten des nationalen Rechts eröffnet sein, die selbst nicht Gegenstand einer unionsrechtlichen Harmonisierung sind: Namentlich müssen die Mitgliedstaaten stets „die volle Anwendung des Unionsrechts […] und den Schutz der Rechte […] gewährleisten, die den Einzelnen aus diesem Recht erwachsen“.765 Triebkräfte dieser Verpflichtung sind der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV und das Erfordernis der praktischen Wirksamkeit des Unionsrechts.766 Als besondere Ausprägungen dieser Verpflichtung halten der In diesem Sinne EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C: 2016:972 Rn. 62 ff. Siehe allgemein zu den Unionsgrundrechten nur Wollenschläger, in: Hatje / Müller-Graff (Hrsg.), EnzEuR I: Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht (2014), § 8 Rn. 25 ff.; v. d. Groeben / Schwarze / Hatje / Terhechte (2015), Art. 51 GRCh Rn. 10. 764 Siehe zu Art. 16 GRCh nur EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 62 ff. Vgl. mit Blick auf die GRCh und die ungeschriebenen Unionsgrundrechte im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV erneut z. B. EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-390/12 (Pfleger), EU:C:2014:281 Rn. 36. Wollenschläger, EuZW 2014, 577, 580 plädiert aber dafür, dass sich die „Konsequenzen einer Heranziehung der Unionsgrundrechte als Schranken respektive Schranken-Schranken der Grundfreiheiten […] in einer Ausdifferenzierung der Rechtfertigungsprüfung“ erschöpfen sollten. Der EuGH begebe sich nicht nur „[m]ethodisch […] mit einer gegenüber den Grundfreiheiten verselbstständigten Grundrechtsprüfung […] auf dünnes Eis“, sondern es läge sogar „eine Überschreitung der aufgezeigten Grenzen“ des Anwendungsbereichs des Unionsrechts nahe. Weshalb nun der durch Grundfreiheiten eröffnete Geltungsbereich des Unionsrechts im Vergleich zum sonstigen Anwendungsbereich anders zu behandeln sein sollte, ist jedoch nicht recht einsichtig, zumal der EuGH den Geltungsbereich des Unionsrechts und damit auch denjenigen der Unionsgrundrechte einheitlich konzipiert: Laut EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C390/12 (Pfleger), EU:C:2014:281 Rn. 34 „sind keine Fallgestaltungen denkbar, die vom Unionsrecht erfasst würden, ohne dass diese Grundrechte anwendbar wären. Die Anwendbarkeit des Unionsrechts umfasst die Anwendbarkeit der […] Grundrechte“. 765 So prägnant EuGH Gutachtenverfahren v. 8.3.2011 – Gutachten 1/09 (Einheitliches Patentgerichtssystem), Slg. 2011, I-1137 Rn. 68. Vgl. auch EuGH Urt. v. 9.3.1978 – Rs. 106/77 (Simmenthal), Slg. 1978, 629 Rn. 21 f.; EuGH Urt. v. 13.3.2007 – Rs. C-432/05 (Unibet), Slg. 2007, I-2271 Rn. 38; EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 45. 766 Eingehend Heinze, in: Basedow / Hopt / Zimmermann (Hrsg.) Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009), S. 337 ff. Vgl. ferner nur EuGH Gutachtenverfahren v. 8.3.2011 – Gutachten 1/09 (Einheitliches Patentgerichtssystem), Slg. 2011, I-1137 Rn. 68 763

§ 3 Gewährleistungsgehalt unionaler Vertragsfreiheit

237

Effektivitäts- und der Äquivalenzgrundsatz die Mitgliedstaaten an, das Unionsrecht effektiv sowie in gleicher Weise und nach den gleichen Modalitäten wie das nationale Recht durchzusetzen.767 Soweit die Mitgliedstaaten bei der Anwendung ihres nationalen Rechts daher den Äquivalenz- und den Effektivitätsgrundsatz beachten müssen, zieht dies nach der Rechtsprechung des EuGH die Bindung an die Unionsgrundrechte nach sich: Wo diese Grundsätze beispielsweise auf das – unharmonisierte – interne Zivilverfahrensrecht der Mitgliedstaaten einwirken, gelangen nach der Lesart des EuGH automatisch auch „die anwendbaren nationalen Beweisregeln in den Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts“.768

Von hier ausgehend gelangt der Gerichtshof konsequenterweiser zu folgendem Ergebnis: „Mithin müssen diese Beweisregeln den Anforderungen genügen, die sich aus den Grundrechten ergeben“. 769

Welche Wirkmacht der Effektivitätsgrundsatz als „Türöffner“ für die Unionsgrundrechte entfalten kann, verdeutlicht auch die Rechtssache Fransson: In dieser Entscheidung prüfte der EuGH Vorschriften des schwedischen Steuerstrafrechts auf ihre Vereinbarkeit mit dem Verfahrensgrundrecht des Art. 47 GRCh.770 Zum Anwendungsbereich des Unionsrechts – und damit zur unionalen Grundrechtskontrolle – gelangte der Gerichtshof, indem er auf die Vorgaben der Mehrwertsteuerrichtlinie abhob, welche die Mitgliedstaaten zur Betrugsbekämpfung bei der Mehrwertsteuererhebung verpflichtet.771 Das Pikante an der Agrumentation des EuGH ist dabei, dass Herrn Fransson zwar unter anderem Mehrwertsteuerhinterziehung zur Last gelegt wurde, dieser sowie bereits zu Art. 10 EGV nur EuGH Urt. v. 13.3.2007 – Rs. C-432/05 (Unibet), Slg. 2007, I-2271 Rn. 38. 767 Siehe grundlegend EuGH Urt. v. 16.12.1976 – Rs. 33/76 (Rewe), Slg. 1976, 1989 Rn. 5; EuGH Urt. v. 16.12.1976 – Rs. 45/76 (Comet), Slg. 1976, 2043 Rn. 12. Zuletzt führt z. B. EuGH Urt. v. 22.1.2015 – Rs. C-463/13 (Stanley), EU:C:2015:25 Rn. 37 unter Verweis auf die ständige Rechtsprechungspraxis aus, dass das mitgliedstaatliche Recht den Schutz der aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte zu gewährleisten hat, wobei die „Modalitäten jedoch nicht weniger günstig ausgestaltet sein dürfen als für entsprechende Sachverhalte innerstaatlicher Art (Äquivalenzgrundsatz) und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen (Effektivitätsgrundsatz)“. 768 EuGH Urt. v. 10.4.2003 – Rs. C-276/01 (Steffensen), Slg. 2003, I-3735 Rn. 62 ff. und insbesondere 71 (Herv. d. Verf.). 769 EuGH Urt. v. 10.4.2003 – Rs. C-276/01 (Steffensen), Slg. 2003, I-3735 Rn. 71 (Herv. d. Verf.). 770 EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 17 ff. 771 Vgl. zu Art. 2, Art. 250 Abs. 1 und Art. 273 Mehrwertsteuerrichtlinie EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 25.

238

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

Vorwurf aber keineswegs den Schwerpunkt, sondern dem hinterzogenen Volumen ebenso wie auch der Strafe nach kaum ein Fünftel des Verfahrensgegenstandes ausmachte. Im Kern ging es vielmehr um Einkommensteuerhinterziehung sowie ferner um die Vorenthaltung von Sozialversicherungsbeiträgen.772 In keiner dieser Materien bestehen indes unionsrechtliche Vorgaben zur Strafbewehrung. Dies hielt den EuGH nicht davon ab, den Anwendungsbereich des Unionsrechts insgesamt zu bejahen, obschon der Gerichtshof durchaus konzedierte, dass das schwedische Steuerstrafrecht nicht allein oder auch nur vorwiegend der Erfüllung unionsrechtlicher Vorgaben dient.773 Als Triebfedern der umfassenden unionsrechtlichen Durchdringung dieser Materien macht der Gerichtshof den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV und den Effektivitätsgrundsatz aus.774 Bei diesem Verständnis dient das mitgliedstaatliche Steuerstrafrecht der „Durchführung des Unionsrechts“ im Sinne des Art. 51 Abs. 1 GRCh.775 Weil hier „das Handeln [d]es Mitgliedstaats nicht vollständig durch das Unionsrecht bestimmt wird“, soll die unionale Grundrechtskontrolle allerdings nur neben diejenige am Maßstab nationaler Grundrechte treten.776 Durch die Anwendung nationaler Grundrechte dürfe selbst dann aber „weder das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden“.777 Nichts anderes kann nun gelten, wenn der Effektivitätsgrundsatz auf das mitgliedstaatliche Vertragsrecht einstrahlt und auf diese Weise den Anwendungsbereich des Unionsrechts eröffnet.778 In solchen Konstellationen sind Vgl. EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 12. EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 28. 774 EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 25 ff. sieht die Mitgliedstaaten namentlich in der Pflicht, rechtswidrige Handlungen, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten, wirksam zu sanktionieren. 775 EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 26 f. 776 EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 29. Vgl. auch EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-399/11 (Melloni), EU:C:2013:107 Rn. 60. Siehe zu dieser „Parallelgeltung“ unionaler und mitgliedstaatlicher Grundrechtsstandards Wollenschläger, in: Hatje / Müller-Graff (Hrsg.), EnzEuR I: Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht (2014), § 8 Rn. 24. Ähnlich Kingreen, JZ 2013, 801, 803 f.: „Kumulationsthese“. 777 EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 29. Ebenso bereits EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-399/11 (Melloni), EU:C:2013:107 Rn. 60. 778 Vgl. z. B. EuGH Urt. v. 6.6.2002 – Rs. C-159/00 (Sapod Audic), Slg. 2002, I-5031 Rn. 52: „Die Frage, welche Folgerungen im Ausgangsverfahren aus der Unanwendbarkeit des Artikels 4 Absatz 2 des Dekrets Nr. 92-377 zu ziehen wären, ob sie also etwa als Sanktion die Nichtigkeit oder die Unanwendbarkeit des Vertrags zwischen den Parteien zur Folge hätte, richtet sich allerdings nach nationalem Recht. Das gilt insbesondere für die Regeln und Grundsätze des Vertragsrechts, die eine solche Sanktion im Verhältnis zum festgestellten Fehler begrenzen oder anpassen. Diese Regeln und Grundsätze dürfen jedoch nicht weniger günstig sein als bei gleichartigen Einwänden, die das innerstaatliche Recht betreffen (Grundsatz der Gleichwertigkeit), und sie dürfen nicht so ausgestaltet sein, dass 772 773

§ 3 Gewährleistungsgehalt unionaler Vertragsfreiheit

239

die EU-Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte und somit auch an die unionale Vertragsfreiheit gebunden. In diesem Zusammenhang ist zudem von besonderer Bedeutung, dass der Effektivitätsgrundsatz eine wirksamkeitsorientierte Auslegung des mitgliedstaatlichen Rechts in seiner Gesamtheit verlangt und dadurch potenziell den „Wirkbereich des Unionsrechts in die nichtharmonisierten Areale des nationalen Rechts“ erweitert.779 So beschränkt sich das Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung nicht auf „die zur Umsetzung der fraglichen Richtlinie erlassenen innerstaatlichen Bestimmungen, […] sondern verlangt, dass das nationale Gericht das gesamte nationale Recht berücksichtigt“.780

In dieser Konstellation handeln die Mitgliedstaaten in einem unionsrechtlich determinierten Kontext, weil das EU-Recht ihnen mit der unionsrechtskonformen Auslegung des gesamten mitgliedstaatlichen Rechts hinreichend bestimmte Verpflichtungen auferlegt.781 Insoweit ist der Anwendungsbereich des Unionsrechts eröffnet, und die Mitgliedstaaten sind entsprechend zur Beachtung der Unionsgrundrechte einschließlich der Vertragsfreiheit gehalten.782 Praktische Folge dieser Auslegungsvorgabe kann gerade auch die Nichtanwendbarkeit von nationalen Normen sein, die außerhalb der harmonisierten Bereiche des mitgliedstaatlichen Rechts liegen, wie etwa die Rechtssachen Kücükdeveci783 und A784 verdeutlichen. sie die Ausübung der Rechte, die die Gemeinschaftsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen (Grundsatz der Effektivität)“ (Herv. d. Verf.). Siehe im vertragsrechtlichen Kontext ferner nur EuGH Urt. v. 27.3.2014 – Rs. C-565/12 (Crédit Lyonnais), EU:C: 2014:190 Rn. 44 ff. Vgl. zur Bedeutung des Effektivitätsgrundsatzes für das nationale Privatrecht schließlich auch EuGH Urt. v. 12.7.2012 – Rs. C-378/10 (Vale), EU:C:2012: 440 Rn. 48 ff. 779 So prägnant UWG-Großkommentar / Heinze (2014), Einl. Rn. 7. 780 Vgl. nur EuGH Urt. v. 9.3.2004 – verb. Rs. C-397/01 (Pfeiffer u. a.), Slg. 2004, I8835 Rn. 115 (Herv. d. Verf.). Hierzu statt vieler Heinze, in: Basedow / Hopt / Zimmermann (Hrsg.) Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009), S. 337 ff. 781 Vgl. erneut EuGH Urt. v. 6.3.2014 – Rs. C-206/13 (Siragusa), EU:C:2014:126 Rn. 26; EuGH Urt. v. 10.7.2014 – Rs. C-198/13 (Hernández), EU:C:2014:2055 Rn. 35. Siehe auch schon EuGH Urt. v. 13.6.1996 – Rs. C-144/95 (Maurin), Slg. 1996, I-2909 Rn. 11 f. 782 Vgl. wiederum nur EuGH Urt. v. 6.3.2014 – Rs. C-206/13 (Siragusa), EU:C:2014: 126 Rn. 26; EuGH Urt. v. 10.7.2014 – Rs. C-198/13 (Hernández), EU:C:2014:2055 Rn. 35. 783 In der Rechtssache Kücükdeveci konnte der Gerichtshof die Unionsrechtswidrigkeit des § 622 Abs. 2 BGB a. F. nur unter Heranziehung des Art. 21 GRCh begründen, weil der Wortlaut des § 622 Abs. 2 BGB „wegen seiner Klarheit und Eindeutigkeit einer der Richtlinie 2000/78 konformen Auslegung nicht zugänglich“ war, siehe EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 21 ff., 45 ff. sowie insbesondere 49 und 53: „Die Notwendigkeit, die volle Wirksamkeit des Verbots der Diskriminierung wegen des Alters in seiner Konkretisierung durch die Richtlinie 2000/78 zu gewährleisten, bedeutet, dass das nationale Gericht eine in den Anwendungsbereich des Unionsrechts

240

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

c) Bindung an die unionale und Überlagerung der nationalen Vertragsfreiheit im Schuldvertragsrecht Die unionale Vertragsfreiheit ist als Unionsgrundrecht nur im Geltungsbereich des EU-Rechts zu beachten, weshalb ihre Wirkmacht im Schuldvertragsrecht auf den ersten Blick eher begrenzt erscheinen mag. Schließlich bildet der schuldvertragliche acquis communautaire keinen monolithischen Block, sondern vielmehr ein Mosaik aus heterogenen Einzelrechtsakten. Da diese Regelungen zudem häufig nur bestimmte Teilaspekte des Vertragsrechts betreffen, ist im Übrigen das nationale Privatrecht maßgeblich. Die Felder, in denen die Mitgliedstaaten unionales Schuldvertragsrecht im Sinne des Art. 51 GRCh „durchführen“, wären demnach überschaubar. aa) Einheitlicher Schutzgegenstand und unteilbare Vertragsfreiheit Allerdings ergibt sich eine Besonderheit daraus, dass der EuGH privatrechtliche Verträge für die Zwecke der unionalen Vertragsfreiheit als einheitliche, unteilbare Selbstbestimmungsakte behandelt: Namentlich postuliert der Gerichtshof, dass die EU-Rechtsordnung Verträge bereits dann – zumindest auch – dem Schutz der unionalen Vertragsfreiheit unterstellt, wenn der Anwendungsbereich des Unionsrechts für einzelne Aspekte dieses Schuldverhältnisses eröffnet ist.785 So hat der EuGH beispielsweise in der Rechtssache Katsikas einerseits betont, dass die Betriebsübergangsrichtlinie in ihrer alten Fassung keine Regelung dazu enthielt, welche Rechtsfolgen der Widerspruch eines Arbeitnehmers gegen den Übergang seines Arbeitsvertrags auf den neuen Arbeitgeber zeitigt.786 Während insoweit also das autonome Vertragsrecht der Mitgliedstaaten – und in Deutschland damit der an den Rechtsgedanken aus § 415 BGB angelehnte § 613a BGB – anwendbar war, hat der Gerichtshof andererseits aber auch diese nicht-harmonisierten nationalen Regelungen am Maßstab der unionalen Vertragsfreiheit gemessen: Nament-

fallende nationale Bestimmung, die es für mit diesem Verbot unvereinbar hält und die einer unionsrechtskonformen Auslegung nicht zugänglich ist, unangewendet lassen muss“ (Herv. d. Verf.). 784 EuGH Urt. v. 11.9.2014 – Rs. C-112/13 (A), EU:C:2014:2195 Rn. 47 ff. hat entschieden, dass der unionsgrundrechtskonform im Lichte des Art. 47 GRCh ausgelegte Art. 26 Brüssel Ia einer nach nationalem österreichischem Prozessrecht eigentlich zulässigen Einlassung des Beklagten durch einen Abwesenheitskurator im Sinne des § 116 ZPO entgegensteht. 785 Vgl. z. B. bereits EuGH Urt. v. 5.10.1999 – Rs. C-240/97 (Spanien / Kommission), Slg. 1999, I-6571 Rn. 99. 786 EuGH Urt. v. 16.12.1992 – verb. Rs. C-132/91 u. a. (Katsikas u. a.), Slg. 1992, I6577 Rn. 35 f. Vgl. auch schon EuGH Urt. v. 11.7.1985 – Rs. 105/84 (Mikkelsen), Slg. 1985, 2639 Rn. 16.

§ 3 Gewährleistungsgehalt unionaler Vertragsfreiheit

241

lich dürfe der Arbeitnehmer durch das Vertragsrecht der Mitgliedstaaten nicht verpflichtet werden, den Vertrag fortzuführen, weil dies „gegen Grundrechte des Arbeitnehmers [verstieße], der bei der Wahl seines Arbeitgebers frei sein muß und nicht verpflichtet werden kann, für einen Arbeitgeber zu arbeiten, den er nicht frei gewählt hat“.787

Hier lässt der EuGH es mithin genügen, dass der zu beurteilende Vertrag überhaupt in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, und unterwirft sodann auch andere, außerhalb der konkreten sekundärrechtlichen Einflusssphäre liegende Areale des mitgliedstaatlichen Vertragsrechts der unionalen Vertragsfreiheit. Dass dieses Freiheitsgrundrecht über die konkret durch das EU-Recht geregelten Fragen hinaus die Wahrung der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie der Parteien einfordert, verdeutlicht auch die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Alemo-Herron: Hier verlangt der Gerichtshof, dass das mitgliedstaatliche Privatrecht individualarbeitsvertraglich vereinbarten Klauseln die Wirkung versagt, wenn diese auf die jeweils aktuelle Fassung eines Tarifvertrags verweisen, auf dessen Fortentwicklung der kraft Betriebsübergangs in die Arbeitgeberstellung einrückende Betriebserwerber mangels Tariffähigkeit keinen Einfluss nehmen kann.788 Kontrollgegenstand ist dabei nicht nur die Reichweite der Übernahmeverpflichtung nach Art. 3 Betriebsübergangsrichtlinie, sondern der EuGH prüft vielmehr, ob das nichtharmonisierte nationale Arbeitsvertragsrecht, welches dynamische Verweisungsklauseln zulässt, im Zusammenspiel mit der Betriebsübergangsrichtlinie das Unionsgrundrecht der Vertragsfreiheit in unverhältnismäßiger Weise verkürzt.789 Dabei kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die Aufrechterhaltung solcher Vertragsklauseln bei einem Betriebsübergang in den Wesensgehalt unionaler Vertragsfreiheit eingreift und die Klauseln daher gegenüber dem Erwerber eines Betriebes unanwendbar sind.790 Weil die einschlägige Betriebsüber787 EuGH Urt. v. 16.12.1992 – verb. Rs. C-132/91 u. a. (Katsikas u. a.), Slg. 1992, I6577 Rn. 31 f. 788 Vgl. EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 9 ff. und insbesondere 30 ff. Freilich sieht der EuGH Urt. v. 27.4.2017 – Rs. C-680/15 u.a. (Asklepios Kliniken u.a.), EU:C:2017:317 Rn. 23 ff. die unionale Vertragsfreiheit durch den Regelungsansatz des deutschen Rechts gewahrt, weil es„sowohl einvernehmliche als auch einseitige Möglichkeiten für den Erwerber vorsieht, die zum Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsbedingungen nach dem Übergang anzupassen.“ 789 Vgl. EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 30 ff. In diese Richtung deutet auch EuGH Urt. v. 27.4.2017 – Rs. C-680/15 u.a. (Asklepios Kliniken u.a.), EU:C:2017:317 Rn. 19 ff. mit Blick auf das deutsche Recht. Siehe zum Ganzen Latzel, RdA 2014, 110, 115; Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit im deutschen und europäischen Arbeitsrecht (2014), S. 267. 790 Vgl. EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 37. Zum gegenteiligen Ergebnis gelangt EuGH Urt. v. 27.4.2017 – Rs. C-680/15 u. a.

242

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

gangsrichtlinie die streitgegenständlichen dynamischen Verweisungsklauseln nicht regelt, stellt der EuGH damit wiederum Vorschriften des nicht unionsrechtlich determinierten nationalen Arbeitsvertragsrechts mit auf den Prüfstand der unionalen Vertragsfreiheit.791 Nach der Lesart des EuGH erfasst das Unionsrecht vertragliche Schuldverhältnisse somit als einheitliches Phänomen und unterstellt diese insgesamt dem Schutzbereich der unionalen Vertragsfreiheit, sobald vertragliche Einzelaspekte in den Geltungsbereich des Unionsrechts fallen.792 Hier scheint die Überlegung auf, dass die unionale Vertragsfreiheit grundsätzlich unteilbar ist und auch der Vertrag als ihr Schutzgegenstand eine Einheit bildet.793 Was dies für die Bindung der Mitgliedstaaten an das Unionsgrundrecht der Vertragsfreiheit konkret bedeutet, lässt sich am Beispiel der Verbraucherrechteund der Klauselrichtlinie verdeutlichen: Auf der einen Seite überantworten diese Sekundärrechtsakte zahlreiche vertragsrechtliche Fragen, wie etwa Willensmängel und Vertragsnichtigkeitsgründe, ausdrücklich dem mitgliedstaatlichen Recht.794 Auf der anderen Seite enthalten beide Richtlinien Rege(Asklepios Kliniken u.a.), EU:C:2017:317 Rn. 19 ff. und 23 ff. sodann mit Blick auf das deutsche Recht, weil es Instrumente vorsieht, um die unionale Vertragsfreiheit des Betriebserwerbers zu gewährleisten. 791 Entsprechend betont EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 35 und 37 ausdrücklich: „Unter diesen Umständen ist die Vertragsfreiheit dieses Erwerbers so erheblich reduziert, dass eine solche Einschränkung den Wesensgehalt seines Rechts auf unternehmerische Freiheit beeinträchtigen kann […]. Nach alledem ist […] Art. 3 der Richtlinie 2001/23 dahin auszulegen […], dass er es einem Mitgliedstaat verwehrt, vorzusehen, dass im Fall eines Unternehmensübergangs die Klauseln, die dynamisch auf nach dem Zeitpunkt des Übergangs ausgehandelte und abgeschlossene Kollektivverträge verweisen, gegenüber dem Erwerber durchsetzbar sind, wenn dieser nicht die Möglichkeit hat, an den Verhandlungen über diese nach dem Übergang geschlossenen Kollektivverträge teilzunehmen“ (Herv. d. Verf.). Dies heben zu Recht etwa Sutschet, RdA 2013, 28, 34 und Latzel, RdA 2014, 110, 115 hervor. Auch Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit im deutschen und europäischen Arbeitsrecht (2014), S. 267 fragt mit Blick auf die Bindung des Betriebserwerbers an die individualvertraglich vereinbarten Verweisungsklauseln, „ob sich die Bindung des Erwerbers überhaupt legitimieren lässt“ und verneint dies mit Blick auf die unionale Vertragsfreiheit. 792 Vgl. wiederum EuGH Urt. v. 5.10.1999 – Rs. C-240/97 (Spanien / Kommission), Slg. 1999, I-6571 Rn. 99; EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013: 521 Rn. 35 ff. 793 Für diese einheitliche Konzeption der unionalen Vertragsfreiheit spricht, dass die einzelnen Facetten dieser Freiheit regelmäßig miteinander verzahnt sind und die Regulierung einer dieser Facetten potenziell auf die anderen durchschlägt: Beispielsweise führt die Negation der Abschlussfreiheit unweigerlich dazu, dass auch die Inhaltsfreiheit nicht ausgeübt werden kann. Zudem kann eine Beschränkung der Vertragspartnerwahlfreiheit gerade bei Zugrundelegung eines markt- und wettbewerbsgestützten Funktionsmodells der Vertragsfreiheit zugleich auch die Freiheit zur Einflussnahme auf den Vertragsinhalt beschneiden, siehe hierzu noch unten Kapitel 3 § 3 A II.

§ 3 Gewährleistungsgehalt unionaler Vertragsfreiheit

243

lungen, die sämtliche Etappen des Vertrags – von der Anbahnung über den Abschluss und die Durchführung bis hin zur Beendigung – betreffen.795 Dies kann nicht ohne Folgen für die Grundrechtsverpflichtung der Mitgliedstaaten bleiben: Wo alle Phasen eines einheitlichen Vertragsverhältnisses – und sei es nur punktuell – unionsrechtlich normiert werden, muss insoweit zumindest auch der Anwendungsbereich der unionalen Vertragsfreiheit eröffnet sein. bb) Grundsätzlicher Vorrang unionaler Vertragsfreiheit Soweit das mitgliedstaatliche Recht zwar einerseits in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, es andererseits aber nicht vollständig durch Letzteres determiniert wird, bleiben nationale Grundrechte parallel anwendbar:796 Entsprechend treten nationale Verbürgungen der Vertragsfreiheit, etwa nach Art. 2 Abs. 1 GG, zunächst neben das korrespondierende Unionsgrundrecht. Sofern das nationale Recht weitergehende Verbürgungen der Vertragsfreiheit enthält, kann der Grundrechtsträger sich dann nach Art. 53 GRCh gegenüber den Mitgliedstaaten weiterhin auf solche ihm günstigeren Garantien berufen.797 Obschon nationale Grundrechte demnach neben den Unionsgrundrechten Anwendung finden, bildet die unionale Vertragsfreiheit im Konfliktfall die maßgebliche Außengrenze: Durch mitgliedstaatliche Grundrechte darf nämlich „weder das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden“.798

794 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 14, Art. 3 Abs. 5 Verbraucherrechterichtlinie: „Diese Richtlinie lässt das allgemeine innerstaatliche Vertragsrecht wie die Bestimmungen über die Wirksamkeit, das Zustandekommen oder die Wirkungen eines Vertrags, soweit Aspekte des allgemeinen Vertragsrechts in dieser Richtlinie nicht geregelt werden, unberührt“. Siehe zum Verhältnis der Klauselkontrolle zu den Instrumenten des allgemeinen Vertragsrechts und insbesondere zu den Unwirksamkeitstatbeständen der §§ 134, 138 BGB statt aller MünchKommBGB / Wurmnest (2016), Vor § 307 BGB Rn. 8 ff. 795 Vgl. nur Art. 5, Art. 6 Abs. 1 und Abs. 5; Art. 7 f. sowie Art. 9 ff. und Art. 18 ff. Verbraucherrechterichtlinie. Vgl. ferner z. B. Art. 3 i. V. m. Anhang Nr. 1 lit. c–d sowie f–o Klauselrichtlinie. 796 Vgl. nur EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 29; EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-399/11 (Melloni), EU:C:2013:107 Rn. 60. Dazu statt aller Jarass (2016), Art. 53 GRCh Rn. 10. 797 Streinz / Michl, EuZW 2011, 386; Meyer / Borowsky (2014), Art. 53 GRCh Rn. 22; Jarass (2016), Art. 53 GRCh Rn. 116. Im Ergebnis ebenso Calliess / Ruffert / Kingreen (2016), Art. 53 GRCh Rn. 4 und 7. 798 EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 29; EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-399/11 (Melloni), EU:C:2013:107 Rn. 60. Eine solche Kumulation nationaler und unionaler Grundrechte kommt dort in Betracht, wo das mitgliedstaatliche Recht nicht vollständig durch das EU-Recht determiniert wird, etwa, weil den Mitgliedstaaten (Umsetzungs)Spielräume verbleiben, siehe Jarass (2016), Art. 53 GRCh Rn. 10 m. w. N.

244

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

Hierin liegt eine Umkehrung der Solange-II-Rechtsprechung des BVerfG: Nur solange die unionalen und nationalen Grundrechte weitgehend gleichlaufen, besteht Idealkonkurrenz; bei einem nicht mit dem unionsrechtlichen Schutzniveau zu vereinbarenden Standard setzen sich dagegen die Unionsgrundrechte durch.799 Darüber hinaus ist hier stets auch der Vorrang des übrigen Unionsrechts – jenseits der Unionsgrundrechte – zu beachten.800 Bei drohenden Friktionen zwischen den Grundrechten der EU und denen den Mitgliedstaaten betont der EuGH, dass die nationalen Gerichte „gegebenenfalls die Pflicht [haben], den Gerichtshof um eine Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV zu ersuchen“.801 Dass solche Konfliktlagen keineswegs nur theoretischer Natur sind, belegt die Rechtssache Sky Österreich, die einen sekundärrechtlich fundierten802 Kontrahierungszwang des Inhabers von Fernsehrechten an Sportveranstaltungen betraf: Während das deutsche BVerfG durch einen solchen im nationalen Recht wurzelnden Abschlusszwang das Grundrecht des Rechteinhabers aus Art. 12 GG als spezielle Ausprägung der Vertragsfreiheit verletzt sah,803 kam der EuGH mit Blick auf die in Art. 16 GRCh geschützte Freiheit zum gegenteiligen Ergebnis.804 Ebenso stellte der EuGH in der bereits erwähnten Rechtssache Alemo-Herron einen Eingriff in den Wesensgehalt der unionalen Vertragsfreiheit fest, während der UK Supreme Court in seiner Vorlageentscheidung die – nationale – Vertragsfreiheit nicht über Gebühr eingeschränkt sah.805 Festzuhalten bleibt, dass der Anwendungsbereich des EU-Rechts bei Schuldverträgen weit gesteckt ist und die Vertragsfreiheit als Unionsgrund-

Vgl. erneut nur EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-399/11 (Melloni), EU:C:2013:107 Rn. 60. Statt vieler de Boer, CMLR 50 (2013), 1083 ff.; v. d. Groeben / Schwarze / Hatje /  Terhechte (2015), Art. 51 GRCh Rn. 11. 800 Siehe erneut nur EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013: 105 Rn. 29; EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-399/11 (Melloni), EU:C:2013:107 Rn. 60 sowie statt aller Meyer / Borowsky (2014), Art. 53 GRCh Rn. 22. 801 EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 30. Gleichsinnig z. B. EuGH Urt. v. 22.6.2010 – verb. Rs. C-188/10 u. a. (Melki u. a.), EU:C:2010:363 Rn. 54 ff.; EuGH Urt. v. 11.9.2014 – Rs. C-112/13 (A), EU:C:2014:2195 Rn. 41 ff. Siehe dazu auch Safjan, FS Micklitz (2014), S. 123, 145. 802 Vgl. Art. 15 Mediendienstleistungsrichtlinie. 803 Vgl. BVerfG Urt. v. 17.2.1998 – Az. 1 BvF 1/91, BVerfGE 97, 228, 252 ff. 804 EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C:2013:28 Rn. 44 ff. und insbesondere Rn. 54 ff. GA Bot Schlussanträge v. 12.6.2012 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C:2012:341 Rn. 80 bemerkt dazu, „dass die zwischen den verschiedenen in Rede stehenden Grundrechten vorzunehmende Abwägung im nationalen Rahmen und auf Unionsebene nicht zwangsläufig gleich ausfallen muss“. 805 Vgl. nur Parkwood Leisure Ltd v Alemo-Herron and others [2011] UKSC 26 (Lord Hope) einerseits und EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013: 521 Rn. 30 ff. andererseits. 799

§ 3 Gewährleistungsgehalt unionaler Vertragsfreiheit

245

recht hier überdies prinzipiell Vorrang vor mitgliedstaatlichen Freiheitsgrundrechten genießt.806 III. Wirkbereich als privatrechtlicher Rechtsgrundsatz Als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsprivatrechts bindet die Vertragsfreiheit die EU und deren Mitgliedstaaten regelmäßig nur im Anwendungsbereich des Unionsrechts. Dies folgt bereits aus der dienenden Natur solcher privatrechtlichen Grundsätze: Nur wo eine Lücke oder zumindest Auslegungsbedarf im geschriebenen Privatrecht der Union besteht, kommen sie als Auslegungsleitlinie und Instrument zur Lückenfüllung zum Tragen.807 Aufgrund dieser Reserve- und Ergänzungsfunktion deckt sich der Anwendungsbereich der privatrechtlichen Rechtsgrundsätze daher prima facie mit demjenigen des Unionsprivatrechts.808 Für diese Lesart spricht auch, dass die mitgliedstaatlichen ebenso wie die unionalen Gerichte angesichts der Kompetenzverteilung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten nur im Anwendungsbereich des Unionsrechts unionale Rechtsgrundsätze auf privatrechtliche Sachververhalte anwenden können.809 Entsprechend stellt der EuGH in seiner Barclays-Entscheidung heraus, dass die allgemeinen Grundsätze des Unionsprivatrechts nur herangezogen werden können, soweit der Anwendungsbereich des Unionsrechts in dem konkreten privatrechtlichen Regelungsfeld eröffnet ist: Schließt hingegen eine Richtlinie „einen Fall wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden aus ihrem Anwendungsbereich aus […], können die ihr zugrunde liegenden allgemeinen Grundsätze […] keine Anwendung finden“.810

Siehe auch erneut oben Einleitung A III. Siehe zu dieser Funktion bereits oben § 2 A I 1. Siehe erneut auch GA Mazák Schlussanträge v. 15.2.2007 – Rs. C-411/05 (Palacios de la Villa), Slg. 2007, I-8531 Rn. 134 ff.; GA Trstenjak Schlussanträge v. 30.6.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 68; GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C:2011:559 Rn. 93; Metzger, Extra legem, intra ius – Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 553; Basedow, FS Hopt I (2010), S. 27, 45; Lenaerts / Gutiérrez-Fons, CMLR 47 (2010), 1629. 808 In diese Richtung auch Metzger, Extra legem, intra ius – Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 553. 809 Wie hier Lenaerts / Gutiérrez-Fons, CMLR 47 (2010), 1629, 1636: „[C]ourts have a duty to interpret both EU law and national law falling within the scope of application of EU law in accordance with general principles of EU law“. Gleichsinnig Lang, in: Bernitz /  Groussot / Schulyko (eds.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), S. 65, 66. 810 EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-280/13 (Barclays), EU:C:2014:279 Rn. 44. In der Rechtssache war die Klauselrichtlinie nicht anwendbar, da nach den Vorlagefragen Normen des spanischen Vertragsrechts auf ihre Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht hin über806 807

246

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

Auch laut EuGH fällt der Anwendungsbereich dieser Grundsätze prinzipiell mit demjenigen des Unionsprivatrechts zusammen.811 Wie schon im Fall des Unionsgrundrechts kann der Anwendungsbereich des EU-Privatrechts aber unter anderem durch den Effektivitätsgrundsatz eröffnet werden,812 so dass die Mitgliedstaaten in solchen Konstellationen den allgemeinen Rechtsgrundsatz der Vertragsfreiheit ebenfalls beachten müssen. Entsprechend der EuGH-Judikatur zum korrespondierenden Unionsgrundrecht liegt es überdies nahe, dass das Unionsrecht ein vertragliches Schuldverhältnis auch für die Zwecke des unionsprivatrechtlichen Grundsatzes der Vertragsfreiheit als einheitliches Phänomen behandelt und bereits dann umfassend dem privatrechtlichen Rechtsgrundsatz der Vertragsfreiheit unterwirft, wenn einzelne Aspekte des vertraglichen Schuldverhältnisses in den Geltungsbereich des Unionsrechts fallen.813 In diese Richtung mag beispielsweise die Rechtssache Spanien/Kommission deuten: Obschon die einzigen in dieser Rechtssache einschlägigen Regelungen des Unionsrechts Sondermaßnahmen zur Förderung der Verarbeitung von Zitrusfrüchten betrafen, bemerkt der EuGH hinsichtlich eines mit Blick auf diese Fördermaßnahmen nach nationalem Privatrecht geschlossenen Vertrags, „daß das Recht der Parteien, von ihnen geschlossene Verträge zu ändern, auf dem Grundsatz der Vertragsfreiheit beruht und daher nicht eingeschränkt werden kann, wenn es keine Gemeinschaftsregelung gibt, die in dieser Beziehung besondere Beschränkungen festlegt“.814

In nicht ausschließlich unionsrechtlich determinierten Regelungsbereichen kann die unionale Vertragsfreiheit indes nicht alleinige Geltung beanspruchen, sondern sie tritt vielmehr nur neben etwaige nationale privatrechtliche Rechtsgrundsätze, wie sie z. B. in Deutschland § 311 Abs. 1 BGB sowie in Frankreich Art. 6, 1102 und 1103 Code civil aufstellen. Allerdings kommt dem unionsprivatrechtlichen Rechtsgrundsatz der Vertragsfreiheit – ebenso wie dem Unionsgrundrecht – im Anwendungsbereich des EU-Rechts regelmäßig Vorrang vor vergleichbaren nationalen Verbürgungen zu: Im Interesse der einheitlichen Anwendung und der praktischen Wirksamkeit des Unionsrechts sind bei der Auslegung und Anwendung ebenso wie bei der Beseitigung von Regelungslücken im unionsrechtlich determinierten Privatrecht vielmehr die autonomen Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts heranzuziehen.815 Insbesondere könprüft werden sollten. Auf Rechtsnormen findet die Klauselrichtlinie indes ausweislich ihres Art. 1 Abs. 2 und des Erwägungsgrundes Nr. 13 keine Anwendung. 811 Vgl. erneut EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-280/13 (Barclays), EU:C:2014:279 Rn. 44. 812 Vgl. oben II 2 b. 813 Vgl. erneut oben II 2 b. 814 EuGH Urt. v. 5.10.1999 – Rs. C-240/97 (Spanien / Kommission), Slg. 1999, I-6571 Rn. 99. 815 Vgl. bereits oben Einleitung A III 1.

§ 3 Gewährleistungsgehalt unionaler Vertragsfreiheit

247

nen mitgliedstaatliche Gerichte eine restriktive Lesart unionaler Regelungen – etwa im Bereich des Verbrauchervertragsrechts – nicht auf potenziell divergierende nationale Grundsätze der Vertragsfreiheit stützen.816 Auch darüber hinaus ist der Rekurs auf einen nationalen Grundsatz der Vertragsfreiheit immer nur insoweit zulässig, als hierdurch weder das durch den unionalen Rechtsgrundsatz der Vertragsfreiheit gewährleistete Niveau unterschritten noch der „Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt“ wird.817 C. Summe des zweiten Kapitels Obschon die Vertragsfreiheit für den Binnenmarkt unverzichtbar ist, wird diese Freiheit durch das geschriebene Primärrecht der EU nur insular und lückenhaft geschützt. Weder die unionale Wirtschaftsverfassung noch die Grundfreiheiten können diese Freiheit umfassend garantieren. Auch die Gewährleistung der Vertragsfreiheit durch die kodifizierten Unionsgrundrechte gleicht einem Flickenteppich: Insbesondere vermag die Anbindung dieser Jedermannfreiheit an Unionsgrundrechte, deren sachlicher und personaler Wirkbereich gerade im Fall der Art. 16 und Art. 17 GRCh eng umgrenzt ist, kaum zu überzeugen. Indes postulieren der Unionsgesetzgeber und der EuGH, dass die Vertragsfreiheit im Binnenmarkt umfassend verbürgt wird. Die Vertragsfreiheit wird überdies implizit in der Unionsrechtsordnung dadurch anerkannt, dass die rechtsgeschäftliche Privatautonomie in all ihren Facetten mannigfaltige Einschränkungen erfährt. Solcher flächendeckenden Beschränkungen durch unionsrechtliche Normen bedarf es denknotwendig nur, wenn das EU-Recht davon ausgeht, dass die Vertragsfreiheit im Grundsatz als verbindlicher Rechtsatz gilt. Eine breit angelegte unionsrechtsimmanente, völkerrechtliche und rechtsvergleichende Bestandsaufnahme hat diesen Befund in unterschiedlichen Sachmaterien bestätigt. Damit besteht ein solides Fundament für die induktive Herleitung eines allgemeinen unionalen Rechtsgrundsatzes der Vertragsfreiheit. Hierbei wird die Doppelnatur der unionalen Vertragsfreiheit offenbar: Die Unionsrechtsordnung schützt die Vertragsfreiheit zum einen als Unionsgrundrecht im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV, das als primärrechtliche Verbürgung neben bereichsspezifische Gewährleistungen, wie etwa Art. 16 GRCh, tritt. Zum anderen ist die rechtsgeschäftliche Privatautonomie ein allgemeiner Grundsatz des Unionsprivatrechts: Dabei handelt es sich um ein Rechtsprinzip, das nach Abwägung mit konfligierenden Rechtsgrundsätzen insbesondere bei der Auslegung und Ergänzung des unionsrechtlich determinierten Privatrechts heranzuziehen ist. Vgl. oben Einleitung A III 1. Vgl. wiederum mit Blick auf die Unionsgrundrechte EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 29. 816 817

248

Kapitel 2 – Unionale Vertragsfreiheit als Mehrebenenphänomen

Die unionale Vertragsfreiheit hat einen autonomen Gewährleistungsgehalt, der sieben Facetten umfasst: Hierzu zählen die Abschluss- und Auswahlfreiheit sowie die Inhalts-, Typen-, Änderungs-, Aufhebungs- und Formfreiheit sowie schließlich die Parteiautonomie als international-privatrechtliche Ausdrucksform der Vertragsfreiheit. Den Kernbereich der Vertragsfreiheit machen neben der Abschluss- und Kontrahentenwahlfreiheit insbesondere die autonome Bestimmung der zentralen Vertragsinhalte im Sinne der essentialia negotii aus. Der Wesensgehalt unionaler Vertragsfreiheit ist somit besonders eng mit der Funktionsbestimmung dieser Freiheit verwoben: Die Vertragsfreiheit soll die Autonomie des Menschen in der vertraglichen Sphäre wahren und Schutz vor Fremdbestimmung gewährleisten. Ein selbstbestimmtes Leben setzt nicht zuletzt die freie Entscheidung über den Abschluss von Verträgen voraus. Zumindest dieser Wesensgehalt unionaler Vertragsfreiheit weist einen Menschenwürdekern auf und wird insoweit durch Art. 1 GRCh verstärkt. Entsprechend sind an Verkürzungen des Kernbereichs der Vertragsfreiheit besonders hohe Anforderungen zu stellen. Als allgemeiner privatrechtlicher Rechtsgrundsatz und als Grundrecht bindet die unionale Vertragsfreiheit die Union und all ihre Organe. Die EUMitgliedstaaten sind hingegen nur im Anwendungsbereich des Unionsrechts verpflichtet, die rechtsgeschäftliche Privatautonomie unionaler Provenienz zu beachten. Dabei geht der Geltungsanspruch des Unionsrechts auch auf dem Gebiet des Privatrechts weit über die zuvörderst in Richtlinien und Verordnungen enthaltenen Regelungen des acquis communautaire hinaus. Namentlich sind die Mitgliedstaaten an die unionale Vertragsfreiheit gebunden, wenn sie die Verkehrsfreiheiten des Binnenmarktes beschränken oder wenn der Effektivitätsgrundsatz die Einflusssphäre des EU-Rechts in die nichtharmonisierte Bereiche des nationalen Rechts ausdehnt. Auf diese Weise werden potenziell sämtliche Areale des allgemeinen Vertragsrechts in den Wirkbereich der unionalen Vertragsfreiheit gezogen. Zudem hat der EuGH den privatrechtlichen Vertrag wiederholt als einheitlichen, unteilbaren Selbstbestimmungsakt behandelt: Selbst wenn der Anwendungsbereich des Unionsrechts nur für einzelne Aspekte dieses Schuldverhältnisses eröffnet ist, kann der gesamte Vertrag – zumindest auch – dem Schutz der unionalen Vertragsfreiheit unterstehen. Insgesamt tritt die unionale Vertragsfreiheit in vielen Bereichen des Schuldvertragsrechts in den Vordergrund, während gleichlaufende nationale Verbürgungen zurückgedrängt und überlagert werden. Dabei ist keineswegs gleichgültig, welche Vertragsfreiheit – die jeweilige mitgliedstaatliche oder aber die unionsrechtliche – den Maßstab bildet. Während die Vertragsfreiheit in allen Mitgliedstaaten geschützt wird, unterscheiden sich ihr Schutzbereich und vor allem ihre Schranken teilweise deutlich: So legt der EuGH z. B. in den Rechtssachen Sky Österreich und Alemo-Herron eine gänzlich andere

§ 3 Gewährleistungsgehalt unionaler Vertragsfreiheit

249

Lesart und Gewichtung der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie als die mitgliedstaatlichen Gerichte zugrunde.818 Wird somit die nationale Verbürgung in vielen Bereichen durch die Vertragsfreiheit unionaler Provenienz abgelöst, drängt sich die Frage auf, ob die rechtsgeschäftliche Privatautonomie eine gewisse Konvergenz des Schuldvertragsrechts im Mehrebenensystem der EU begünstigen kann.

818 Vgl. nur Parkwood Leisure Ltd v Alemo-Herron and others [2011] UKSC 26 (Lord Hope) einerseits und EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013: 521 Rn. 30 ff. andererseits. Vgl. zudem BVerfG Urt. v. 17.2.1998 – Az. 1 BvF 1/91, BVerfGE 97, 228, 252 ff. auf der einen und sodann EuGH Urt. v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 (Sky Österreich), EU:C:2013:28 Rn. 44 ff. und insbesondere Rn. 54 ff. auf der anderen Seite.

Zweiter Teil

Vertragsfreiheit und ihre Materialisierung als Richtschnur des Schuldvertragsrechts der EU und ihrer Mitgliedstaaten Zweiter Teil – Vertragsfreiheit und ihre Materialisierung

Die unionale Vertragsfreiheit kann bestimmte Ausgestaltungen des Privatrechts der Union und ihrer Mitgliedstaaten ge- oder auch verbieten und so einen äußeren Rahmen für das Schuldvertragsrecht im Binnenmarkt stecken. Ihre Rolle als Kompass des EU-Privatrechts wird indes dadurch erschwert, dass sich die Vertragsfreiheit in der Unionsrechtsordnung zwischen zwei Polen bewegt: Einerseits schützt sie die eigenverantwortliche Gestaltung vertraglicher Rechtsverhältnisse vor überbordenden Eingriffen. Andererseits verlangt sie werthaltige, notfalls durch hoheitliche Intervention abzusichernde Selbstbestimmungsmöglichkeiten für alle Akteure im Binnenmarkt. Der zweite Teil dieser Abhandlung zeigt auf, wie die unionale Vertragsfreiheit trotz dieser Antinomie als Bindeglied und Matrix für ein kohärentes EU-Schuldvertragsrecht dienen kann. Soweit der Anwendungsbereich des Unionsrechts reicht, wirkt die unionale Vertragsfreiheit darüber hinaus tief in das deutsche Bürgerliche Recht und in das Zivilprozessrecht hinein. Den Ausgangspunkt der weiteren Untersuchungen bildet die Frage, wie die Vertragsfreiheit zu verwirklichen ist und auf welchem Wege sie das Privatrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten beeinflusst.

Kapitel 3

Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell unionaler Vertragsfreiheit Kapitel 3 – Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell

Die Vertragsfreiheit ist als Unionsgrundrecht und als allgemeiner Grundsatz des EU-Privatrechts jeweils an prominenter Stelle in der Rechtsordnung der Union verankert. Als Orientierungspunkt des Schuldvertragsrechts kann die unionale Vertragsfreiheit jedoch nur dienen, soweit sie auf das Privatrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten einwirkt (§ 1). Eine zentrale Rolle kommt der Vertragsfreiheit sowohl bei der Begründung als auch bei der Begrenzung der Vertragsbindung zu (§ 2). Die weiteren Anforderungen, welche die Vertragsfreiheit unionaler Provenienz an die Privatrechtsordnungen der EU und ihrer Mitgliedstaaten stellt, hängen entscheidend davon ab, auf welche Weise diese Freiheit zu entfalten ist. Die Abwehrdimension der Vertragsfreiheit streitet dafür, dass die Freiheitsverwirklichung vorrangig den Parteien sowie dem Spiel des durch die EU-Verträge geschützen offenen, wettbewerblich strukturierten Marktes überlassen bleibt. Wo dieser Vertrags- und Marktmechanismus wirkt, erkennt ihm die Unionsrechtsordnung zudem eine – begrenzte – Richtigkeits- und Gerechtigkeitsgewähr zu (§ 3).

§ 1 Einwirkungsachsen im Privatrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten § 1 Einwirkungsachsen im Privatrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten

Deine Vertragsfreiheit oder meine Vertragsfreiheit? Diese Frage müssen die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen immer dann an das Unionsrecht richten, wenn ein vertragliches Schuldverhältnis in den – weit gesteckten – Anwendungsbereich des EU-Rechts fällt und der Schutz der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie in Rede steht. Entsprechend ihrer Doppelnatur sind zwei Einwirkungsachsen der unionalen Vertragsfreiheit im Privatrecht zu unterscheiden: Zum einen wirken unionsgrundrechtliche Triebkräfte (A). Zum anderen existiert eine unionsprivatrechtliche Dimension, soweit diese Freiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz des EU-Privatrechts zum Tragen kommt (B). Schließlich ist auch der Frage nach dem Verhältnis der unionalen Vertragsfreiheit zu anderen privatrechtswirksamen Freiheitsverbürgungen und insbesondere zu den Grundfreiheiten des Binnenmarktes nachzugehen (C).

254

Kapitel 3 – Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell

A. Privatrechtswirkungen der Vertragsfreiheit als Unionsgrundrecht „Schützt das Bürgerliche Gesetzbuch vor dem Grundgesetz!“ – diese Aufforderung Dölles1 müsste heutzutage auch auf die Unionsgrundrechte gemünzt werden, weil diese das BGB angesichts der Europäisierung des Privatrechts in zunehmendem Maße beeinflussen können.2 Jüngere Zivilrechtskodifikationen widmen dem Verhältnis von Unionsgrundrechten und Privatrecht bereits eigene Regelungen: Beispielsweise lässt § 1 des am 1.1.2014 in Kraft getretenen tschechischen Zivilgesetzbuches (ZGB)3 zwar einerseits verlauten, dass die Anwendung der zivilrechtlichen unabhängig von öffentlich-rechtlichen Bestimmungen erfolge.4 Andererseits postuliert § 2 Abs. 1 tschechisches ZGB die Grundrechtsabhängigkeit des Privatrechts und fordert zudem, dass sämtliche Normen des nationalen Zivilrechts im Lichte der Grundrechte der Europäischen Union ausgelegt werden.5 Dieser offene Widerspruch ist paradigmatisch für das Verhältnis der europäischen Privatrechtswissenschaft zur Rolle der Grundrechte: Das Spektrum reicht von rigoroser Ablehnung6 bis hin zur Akzeptanz der umfassenden Durchdringung des Zivilrechts durch verfassungs- und insbesondere durch grundrechtliche Wertungen.7 So nimmt es kaum Wunder, dass der Einfluss der Unionsgrundrechte auf das EU-Privatrecht ebenfalls seit längerem Gegenstand einer ausgreifenden Kontroverse ist. Bereits vor mehr als 25 Jahren fragte Generalanwalt Van Gerven, inwieweit die in der Unionsrechtsordnung anerkannten Grundrechte „Wirkungen im Verhältnis zwischen Privatpersonen zeitigen“ können.8 Obschon weitere Generalanwälte diesen Punkt für klä1 Huber, Die verfassungsrechtliche Bedeutung der Vertragsfreiheit (1966), S. 1, schreibt diesen Ausruf Dölle zu. 2 Vgl. zur Konstitutionalisierung des Unionsprivatrechts und der damit verbundenen Beeinflussung des nationalen Zivilrechts erneut nur EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/ 07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 18 ff. (Unanwendbarkeit des § 622 Abs. 2 BGB a. F. wegen Unvereinbarkeit mit Art. 21 GRCh) und siehe statt vieler Herresthal, ZEuP 2014, 238 ff. sowie erneut oben Einleitung A IV. 3 Sbírka zákonů č. 89/2012, S. 1026. 4 „The application of private law is independent of the application of public law“ (offizielle englische Übersetzung). 5 „Each provision of private law can be understood only in accordance with the Charter of Fundamental Rights and Freedoms“ (offizielle englische Übersetzung). Siehe hierzu auch Wendehorst, RabelsZ 75 (2011), 730, 748. 6 Siehe aus Perspektive der deutschen Rechtswissenschaft insbesondere Zöllner, AcP 196 (196), 1 ff.; Diederichsen, AcP 198 (1998), 171 ff. Siehe zum Diskussionsstand im Vereinigten Königreich z. B. Collins, Law & Contemp. Probs. 76 (2013), 71, 88; ders., in: Micklitz (ed.), Constitutionalization of European private law (2014), S. 26 ff. 7 Siehe statt vieler Kumm, GLJ 7 (2006), 341 ff. („Who’s Afraid of the Total Constitution?“). 8 GA Van Gerven Schlussanträge v. 30.1.1990 – Rs. C-262/88 (Barber), Slg. 1990, I1912 Rn. 51 ff.

§ 1 Einwirkungsachsen im Privatrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten

255

rungsbedürftig hielten,9 ist der EuGH bislang weder umfassend auf die Grundrechtsbindung des Unionsprivatrechts (I) noch auf die Privatrechtswirksamkeit unionaler Vertragsfreiheit eingegangen. Beide Fragen sind untrennbar mit den Funktionen der Unionsgrundrechte verzahnt (II). Hierdurch werden die methodischen Einwirkungsebenen der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie im EU-Privatrecht vorgegeben (III). I.

Autarkie und Grundrechtsbindung des Privatrechts

Der Unionsgesetzgeber geht ganz selbstverständlich von der Grundrechtsbindung des Privatrechts der Union aus. So betont beispielsweise Erwägungsgrund Nr. 52 Pauschalreiserichtlinie: „Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, wie sie mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden. Diese Richtlinie achtet insbesondere die unternehmerische Freiheit gemäß Artikel 16 der Charta und stellt gleichzeitig ein hohes Verbraucherschutzniveau innerhalb der Union nach Artikel 38 der Charta sicher“.

Durch die Nennung des Art. 16 GRCh, der unter anderem die rechtsgeschäftliche Privatautonomie umfasst, bejaht der Unionsgesetzgeber mithin seine Bindung an die unionale Vertragsfreiheit. Ähnliche Verweise auf das Erfordernis der Unionsgrundrechtskonformität finden sich auch in anderen privatrechtsrelevanten Sekunddärrechtsakten.10 Darüber hinaus trägt Art. 15 Zahlungskontenrichtlinie die unionsgrundrechtlich in Art. 21 GRCh normierten Diskriminierungsverbote nun „kraft Verweisung“ in Vertragsbeziehungen hinein.11 Der EuGH postuliert zudem eine noch umfassendere Einwirkung der EU-Grundrechte auf das unionsrechtlich determinierte Privatrecht, wie nicht zuletzt die Rechtssachen Kücükdeveci und Test-Achats verdeutlichen.12 GeneSo zuletzt etwa GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 18.7.2013 – Rs. C-176/12 (Association de médiation sociale), EU:C:2013:491 Rn. 28 ff. 10 Vgl. beispielsweise Erwägungsgrund Nr. 55 Zahlungskontenrichtlinie; Erwägungsgrund Nr. 33 Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000, ABl. 2003 L 338/1; Erwägungsgrund Nr. 121 Verordnung (EU) Nr. 806/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Juli 2014 zur Festlegung einheitlicher Vorschriften und eines einheitlichen Verfahrens für die Abwicklung von Kreditinstituten und bestimmten Wertpapierfirmen im Rahmen eines einheitlichen Abwicklungsmechanismus und eines einheitlichen Abwicklungsfonds sowie zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1093/2010, ABl. 2014 L 225/1. 11 Siehe oben Einleitung A IV. 12 Vgl. nur EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 22 ff. (diskriminierende Kündigungschutzregelung); EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C236/09 (Test-Achats), Slg. 2011, I-773 Rn. 16 ff. (Versicherungsvertragsrecht); EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 30 ff. (Betriebsüber9

256

Kapitel 3 – Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell

ralanwältin Kokott fasst dies dahingehend zusammen, dass die in der Rechtsordnung der EU anerkannten Grundrechte „als Kontrollmaßstab für die Rechtmäßigkeit des innerstaatlichen Rechts angewandt“ werden können, wenn und soweit der Anwendungsbereich des Unionsrechts eröffnet ist.13 Gefährdet diese Einwirkung der Grundrechte die Eigenständigkeit des Privatrechts oder mündet sie gar in eine „Veröffentlichrechtlichung“ dieser Materie? Teilweise wird die Befürchtung geäußert, dass das Privatrecht und die Privatautonomie an Bedeutung verlören, da zivilrechtliche Fälle bei konsequenter Beachtung der Normenhierarchie direkt mithilfe von Grundrechtsnormen zu lösen seien.14 Bei näherer Betrachtung sind diese Sorgen unbegründet: Selbst im Fall einer weitreichenden Grundrechtsbindung werden das nationale wie unionale Privatrecht weder vollständig überlagert, geschweige denn überflüssig. Wie alles Primärrecht genießen die Unionsgrundrechte lediglich einen Anwendungsvorrang vor dem nationalen Zivilrecht, so dass letzteres vorrangig maßgeblich ist und nur im – seltenen – Fall der Unvereinbarkeit mit den Unionsgrundrechten unangewendet bleiben muss. 15 Allein gegenüber privatrechtlichen Unionsrechtsakten, z. B. in Gestalt von Richtlinien oder Verordnungen, kommt den EU-Grundrechten ein Geltungsvorrang dergestalt zu, dass die mit den Unionsgrundrechten unvereinbare Regelung nichtig ist. 16 Hier wie dort stecken die Grundrechte der EU einen äußeren Rahmen für das Zivilrecht ab und greifen nur bei einer Abweichung von den grundrechtlich gebotenen Gewährleistungen in das unionsrechtlich determinierte Privatgang); EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU:C:2016:972 Rn. 67 ff. (Massenentlassungsrichtlinie). Vgl. auch schon EuGH Urt. v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981 Rn. 75 ff. (arbeitsvertragliche Befristung). 13 So mit Blick auf Art. 21 GRCh und den allgemeinen Grundsatz der Nichtdiskriminierung GA Kokott Schlussanträge v. 20.9.2012 – Rs. C-394/11 (Belov), EU:C:2012:585 Rn. 81 f. (Herv. d. Verf.). 14 In diese Richtung deutet z. B. Zöllner, AcP 196 (1996), 1, 7 ff., wenn er meint, mit der „mittelbaren Grundrechtswirkung“ habe die Privatrechtswissenschaft „dem Staatsrecht den kleinen Finger gegeben, für den es nun die ganze Hand fordert“. Vgl. auch Diederichsen, AcP 198 (1998), 171, 209 ff.; Kumm, GLJ 7 (2006), 341, 359. 15 Folglich bleibt nationales Privatrecht weiter wirksam, selbst wenn es gegen Unionsgrundrechte verstößt, siehe zur Pflicht, unionsrechtswidriges nationales Recht unangewendet zu lassen zuletzt z. B. EuGH Urt. v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981 Rn. 77; EuGH Urt. v. 22.12.2008 – Rs. C-414/07 (Magoora), Slg. 2008, I-10921 Rn. 44; EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 50 f. Gleichsinnig Jarass, in: Heiderhoff / Lohsse / Schulze (Hrsg.), EU-Grundrechte und Privatrecht (2016), S. 31, 39 ff. 16 EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 (Test-Achats), Slg. 2011, I-773 Rn. 31 ff.: „Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/113 […] ist mit den Art. 21 und 23 der Charta unvereinbar. Die Bestimmung ist daher nach Ablauf einer angemessenen Übergangszeit als ungültig anzusehen“. Siehe auch Jarass, in: Heiderhoff / Lohsse / Schulze (Hrsg.), EU-Grundrechte und Privatrecht (2016), S. 31, 38 f.

§ 1 Einwirkungsachsen im Privatrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten

257

recht ein.17 Dass dieser Rahmen weit gezogen ist, zeigt sich schon darin, dass grundrechtliche Wertungen in aller Regel viel zu unspezifisch sind, um in privatrechtlichen Konstellationen ein einzig richtiges Ergebnis en détail vorzugeben: Hier bedarf es zwingend weiterhin der Normen des Privatrechts, um konkrete und vorhersehbare Entscheidungen zu ermöglichen.18 Dabei werden von der Warte der Grundrechte zumeist verschiedene Lösungen eines zivilrechtlichen Falls und damit auch unterschiedliche Gestaltungen der Privatrechtsordnung hinnehmbar sein.19 Insoweit lässt sich die Argumentation des Generalanwalts Poiares Maduro zu den Grundfreiheiten auch auf die Privatrechtswirksamkeit der Unionsgrundrechte übertragen: Ebenso wenig wie die Verkehrsfreiheiten des Binnenmarktes enthalten die EU-Grundrechte „eine spezifische Lösung für jeden Fall, sondern ziehen lediglich bestimmte Grenzen, in deren Rahmen ein Konflikt zwischen zwei Privatrechtssubjekten gelöst werden kann. Dies hat eine wichtige Folge: Selbst in Fällen, die in ihren Geltungsbereich fallen, treten die Bestimmungen […] nicht an die Stelle des innerstaatlichen Rechts, das den einschlägigen normativen Rahmen für die Beurteilung von Streitigkeiten zwischen privaten Akteuren bildet. Vielmehr bleibt es den Mitgliedstaaten unbenommen, das Verhalten Privater zu regeln, solange sie dabei die Grenzen beachten, die ihnen das [Unions]recht setzt“.20

Nur in Ausnahmefällen – und namentlich mit Blick auf bestimmte Facetten des Diskriminierungsverbots in Art. 21, 23 GRCh – geht der EuGH davon aus, dass ein Unionsgrundrecht auch in privatrechtlichen Beziehungen „dem Einzelnen ein subjektives Recht verleiht, das er als solches geltend machen kann“.21 Hierzu dürfte beispielsweise das durch Art. 23 GRCh nun auch grundrechtlich fundierte Verbot der Entgeltdiskriminierung zählen, zumal der Gerichtshof dessen Privatrechtswirksamkeit bereits im Rahmen des Art. 157 AEUV ausdrücklich bejaht hat.22 Beim derzeitigen Stand der Rechtsentwicklung kann es damit nicht mehr um die Frage gehen, ob, sondern vielmehr auf welche Weise und in welchem

Dies erfasst Canaris, Grundrechte und Privatrecht (1999), S. 50 im Kontext der deutschen Rechtsordnung als eine Frage des sogenannten Untermaßverbots. 18 Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 492. 19 Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 492. 20 GA Poiares Maduro Schlussanträge v. 23.5.2007 – Rs. C-438/05 (Viking), Slg. 2007, I-10779 Rn. 50 f. 21 Siehe zum Verbot der Diskrimimierung auf Grund des Alters EuGH Urt. v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 (Association de médiation sociale), EU:C:2014:2 Rn. 47 unter Verweis auf EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 50 ff. 22 Siehe zur Einwirkung des Verbots der Entgeltdiskriminierung auf privatrechtliche Arbeitsverträge mit Nicht-Hoheitsträgern nur EuGH Urt. v. 6.10.1993 – Rs. C-109/91 (Ten Över), Slg. 1993, I-4879 Rn. 11 ff.; EuGH Urt. v. 28.9.1994 – Rs. C-200/91 (Coloroll), Slg. 1994, I-4389 Rn. 18 ff. 17

258

Kapitel 3 – Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell

Umfang die EU-Grundrechte das Privatrecht im Anwendungsbereich des Unionsrechts beeinflussen. II. Unionsgrundrechtliche Triebfedern der Privatrechtswirkung Die Privatrechtswirkungen der Vertragsfreiheit entfalten sich entlang der Funktionen dieses Grundrechts, welche wiederum durch unionsrechtlichautonome Auslegung zu ermitteln sind.23 In der Unionsrechtsordnung dient die Vertragsfreiheit nicht nur der Abwehr hoheitlicher Eingriffe (1), sondern erlegt der EU und ihren Mitgliedstaaten auch Leistungs- und insbesondere Schutzpflichten auf (2). Die Adressaten unionaler Vertragsfreiheit sind namentlich zur Bereitstellung „grundrechtsnotwendiger oder -fördernder Institutionen“ gehalten.24 Schließlich ist auch die objektiv-rechtliche Dimension der Vertragsfreiheit in den Blick zu nehmen (3). 1. Abwehrgrundrecht Die unionale Vertragsfreiheit ist zuvörderst ein Abwehrrecht, welches allen grundrechtsverpflichteten Hoheitsträgern gebietet, ungerechtfertigte Eingriffe in grundrechtlich geschützte Bereiche zu unterlassen.25 Diese von Georg Jellinek26 als „negativer Status (status libertatis)“ beschriebene Abwehrfunktion klingt auch in Art. 51 Abs. 1 S. 2 GRCh an, da die EU und die Mitgliedstaaten ausweislich dieser Norm verpflichtet sind, die Unionsgrundrechte zu achten.27 Soweit der Gewährleistungsgehalt der unionalen Vertragsfreiheit reicht, haben die Union und – im Anwendungsbereich des EU-Rechts – auch ihre Mitgliedstaaten diese Freiheitssphäre zu respektieren.28 Entsprechend mag z. B. zu prüfen sein, ob eine vertragsrechtliche Regelung der Union oder ihrer Mitgliedstaaten „die Privatautonomie […] über Gebühr beschränkt und damit das gemeinschaftsrechtliche Übermaßverbot verletzt“.29

23 Statt aller Wollenschläger, in: Hatje / Müller-Graff (Hrsg.), EnzEuR I: Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht (2014), § 8 Rn. 45. 24 In diesem Sinne zu den Unionsgrundrechten allgemein Cornils, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 5 Rn. 52. Vgl. auch Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte (2005), S. 666 ff. 25 Siehe zu Art. 16 GRCh nur Cremer, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 1 Rn. 70. Vgl. statt vieler auch Schwarze / Hatje (2012), Art. 51 GRCh Rn. 24; Jarass (2016), Art. 51 GRCh Rn. 37. 26 Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte (1892), S. 82. 27 Jarass (2016), Art. 51 GRCh Rn. 37. 28 Vgl. zum Schutzbereich erneut oben Kapitel 2 § 3. 29 Hess, JZ 2005, 540, 548. Siehe z. B. auch Jarass, in: Heiderhoff / Lohsse / Schulze (Hrsg.), EU-Grundrechte und Privatrecht (2016), S. 31, 38 ff.

§ 1 Einwirkungsachsen im Privatrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten

259

2. Schutzpflichtdimensionen unionaler Vertragsfreiheit Im Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte sind die EU und ihre Mitgliedstaaten ausweislich der Erläuterungen zur GRCh darüber hinaus zur „Förderung“ dieser Grundrechte verpflichtet.30 Hier klingt bereits an, dass die Unionsgrundrechte – und damit auch die unionale Vertragsfreiheit – neben einer rein negierenden, Eingriffe abwehrenden Funktion auch eine Leistungsdimension umfassen, die ein positives Tätigwerden der Grundrechtsverpflichteten gebieten mag. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass grundrechtliche Freiräume auch auf andere Weise als durch hoheitliche Eingriffe, etwa durch Handlungen anderer Privater, verkürzt werden können.31 In solchen Konstellationen ist zu fragen, ob die Union und ihre Mitgliedstaaten intervenieren müssen, um sicherzustellen, dass sich die Unionsgrundrechte voll entfalten können. Diese Grundrechtsfunktion wird mit dem Begriff der Schutzpflichtendimension beschrieben.32 Das Konzept der Schutzpflichten ist dem Unionsrecht aus anderem Zusammenhang wohlbekannt: Der EuGH hat wiederholt eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten statuiert, im Interesse der ungehinderten Wahrnehmung von Verkehrsfreiheiten des Binnenmarktes die Rechtsgüter von Privatpersonen vor Übergriffen durch andere Private zu schützen.33 So stellte der Gerichtshof in der Rechtssache Kommission/Frankreich mit Blick auf die Warenverkehrsfreiheit heraus: „Artikel 30 verbietet den Mitgliedstaaten somit nicht nur eigene Handlungen oder Verhaltensweisen, die zu einem Handelshemmnis führen könnten, sondern verpflichtet sie […] auch dazu, alle erforderlichen und geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um in ihrem Gebiet die Beachtung dieser Grundfreiheit sicherzustellen […]. Folglich ist festzustellen, daß die Französische Republik dadurch gegen die Verpflichtungen aus Artikel 30 […] verstoßen hat, daß sie nicht alle erforderlichen und angemessenen Maßnahmen ergriffen hat, damit der freie Warenverkehr mit Obst und Gemüse nicht durch Handlungen von Privatpersonen beeinträchtigt wird“.34

Impulse für eine Schutzpflichtendimension der Unionsgrundrechte gehen zudem von der EMRK aus: Der EGMR bejaht in ständiger Rechtsprechung „positive obligations“, welche die Konventionsstaaten verpflichten, die Grundrechte Erläuterungen zur Charta, ABl. 2007 C 303/17, 32. Dazu statt vieler Jarass (2016), Art. 51 GRCh Rn. 5 f.; Cremer, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 1 Rn. 77. 31 Statt aller Jarass (2016), Art. 51 GRCh Rn. 41: „Von besonderer Bedeutung ist der Schutz der Grundrechtsausübung vor Behinderungen durch Privatpersonen“. 32 Zu den Unionsgrundrechten statt aller Wollenschläger, in: Hatje / Müller-Graff (Hrsg.), EnzEuR I: Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht (2014), § 8 Rn. 45. 33 EuGH Urt. v. 9.12.1997 – Rs. C-265/95 (Kommission / Frankreich), Slg. 1997, I6959 Rn. 32 ff.; EuGH Urt. v. 12.6.2003 – Rs. C-112/00 (Schmidberger), Slg. 2003, I-5659 Rn. 57 ff. Dazu statt aller Wollenschläger, EuZW 2014, 577, 579. 34 EuGH Urt. v. 9.12.1997 – Rs. C-265/95 (Kommission / Frankreich), Slg. 1997, I6959 Rn. 32 und 66 (Herv. d. Verf.). 30

260

Kapitel 3 – Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell

auch gegen Beeinträchtigungen durch nicht grundrechtsgebundene Dritte zu schützen.35 Da die Unionsgrundrechte der Charta gemäß Art. 52 Abs. 3 GRCh im Gleichklang mit korrespondierenden Grundrechten der EMRK auszulegen und anzuwenden sind, finden diese Schutzpflichten insoweit Eingang in die Unionsrechtsordnung. 36 Aber auch über den Einflussbereich der EMRK hinaus haben der EuGH und seine Generalanwälte bereits angedeutet, dass die Unionsgrundrechte eine Schutzpflichtendimension umfassen können. 37 Für diese Lesart spricht, dass die Mitgliedstaaten gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV stets „die volle Anwendung des Unionsrechts […] und den Schutz der Rechte […] gewährleisten [müssen], die den Einzelnen aus diesem Recht erwachsen“.38 Grundlegend zu „positive obligations“ EGMR Urt. v. 13.6.1979 – Nr. 6833/74 (Marckx / Belgien), Rn. 31; EGMR Urt. v. 9.10.1979 – Nr. 6289/73 (Airey / Irland), Rn. 32. Zuletzt deutlich mit Blick auf die (negative) Vereinigungsfreiheit nach Art. 11 EMRK etwa EGMR Urt. v. 18.11.2012 – Nr. 52562/99 u. a. (Sørensen u. a./Danmark), Rn. 57: „[N]ational authorities may in certain circumstances be obliged to intervene in the relationship between private individuals by taking reasonable and appropriate measures to secure the effective enjoyment of those rights“. Das Konzept der „positive obligations“ entspricht im Wesentlichen dem der Schutzpflichten, obschon „positive obligations“ teilweise weiter verstanden werden, dazu statt vieler Breuer, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 7 Rn. 19 ff. m. w. N. 36 Vgl. nur EuGH Urt. v. 9.11.2010 – verb. Rs. C-92/09 u. a. (Schecke u. a.), Slg. 2010 I-11063 Rn. 51 f. So auch ausdrücklich GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C282/10 (Dominguez), EU:C:2011:559 Rn. 81 ff.; GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 18.7.2013 – Rs. C-176/12 (Association de médiation sociale), EU:C:2013:491 Rn. 36. Wie hier z. B. Seifert, EuZW 2011, 696, 701; Herresthal, ZEuP 2014, 238, 256; Cremer, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 1 Rn. 80; Fornasier, ERPL 23 (2015), 29, 39 f. 37 Beispielsweise sieht GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 12.12.2013 – Rs. C-293/12 (Digital Rights Ireland), EU:C:2013:845 Rn. 123 und 115 ff. sowohl den Unionsgesetzgeber als auch die Mitgliedstaaten als Adressaten umfassender grundrechtlicher Schutzpflichten: Zum einen habe die Union „Schutzmaßnahmen“ zu definieren, um Verkürzungen der unionsgrundrechtlich geschützten Sphäre zu verhindern. Zum anderen seien auch die nationalen Gesetzgeber verpflichtet, „dafür zu sorgen, dass die auf ihre eigene Initiative erlassenen Rechtsvorschriften, die zu einer Einschränkung der Grundrechte führen, alle notwendigen Schutzmaßnahmen umfassen“. Vgl. sodann auch EuGH Urt. v. 8.4.2014 – verb. Rs. C-293/12 u. a. (Digital Rights Ireland u. a.), EU:C:2014:238 Rn. 42. Siehe ferner nur GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C:2011: 559 Rn. 81 ff.; GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 18.7.2013 – Rs. C-176/12 (Association de médiation sociale), EU:C:2013:491 Rn. 36. Vgl. zur „grundlegenden staatlichen Schutzpflicht“ des Gesundheitsschutzes auch GA Trstenjak Schlussanträge v. 21.6.2007 – Rs. C-319/05 (Kommission / Deutschland), Slg. 2007, I-9816 Rn. 35. Wie hier im Ergebnis Wollenschläger, in: Hatje / Müller-Graff (Hrsg.), EnzEuR I: Europäisches Organisationsund Verfassungsrecht (2014), § 8 Rn. 47. Zurückhaltender Calliess / Ruffert / Kingreen (2016), Art. 51 GRCh Rn. 26 ff. 38 EuGH Gutachtenverfahren v. 8.3.2011 – Gutachten 1/09 (Einheitliches Patentgerichtssystem), Slg. 2011, I-1137 Rn. 68. Siehe zuvor nur EuGH Urt. v. 9.3.1978 – Rs. 106/ 35

§ 1 Einwirkungsachsen im Privatrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten

261

Dies gilt insbesondere auch für die Grundrechte der GRCh und die ungeschriebenen Unionsgrundrechte im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV: Aus Art. 21 GRCh hat der EuGH nun ausdrücklich unionsgrundrechtliche Schutzpflichten in privatrechtlichen Streitigkeiten abgeleitet und ausgeführt, dass das „Verbot der Diskriminierung wegen des Alters dem Einzelnen ein subjektives Recht verleiht, das er als solches geltend machen kann und das die nationalen Gerichte auch in Rechtsstreitigkeiten zwischen Privatpersonen verpflichtet“.39

Die unionale Vertragsfreiheit kann als EU-Grundrecht ebenfalls solche Schutzpflichten begründen,40 wobei deren genauer Inhalt und methodische Einwirkung auf das Privatrecht an späterer Stelle noch eingehend zu beleuchten ist.41 3. Grundrechtsnotwendige Institutionen und objektiv-rechtliche Dimension Die rechtsgeschäftliche Privatautonomie kommt nicht ohne die Bereitstellung „grundrechtsnotwendiger [und] -fördernder Institutionen“ aus.42 Namentlich bedarf das Unionsgrundrecht der Vertragsfreiheit rechtlicher Rahmenbedingungen, welche die Ausübung dieser Freiheit in all ihren Facetten ermöglichen, begünstigen und sie gegen etwaige Beeinträchtigungen abschirmen. Das Unionsgrundrecht der Vertragsfreiheit erfordert damit insbesondere, dass

77 (Simmenthal), Slg. 1978, 629 Rn. 21 f.; EuGH Urt. v. 13.3.2007 – Rs. C-432/05 (Unibet), Slg. 2007, I-2271 Rn. 38; EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 45. 39 EuGH Urt. v. 19.4.2016 – Rs. C-441/14 (Dansk Industri), EU:C:2016:278 Rn. 36 (Herv. d. Verf.). Diese Forumlierung des EuGH erinnert an BVerfG Beschl. v. 7.2.1990 – Az. 1 BvR 26/84, BVerfGE 81, 242, 256: „Der […] Schutzauftrag […] richtet sich hier an den Richter, der den objektiven Grundentscheidungen der Grundrechte […] mit den Mitteln des Zivilrechts Geltung zu verschaffen hat“. Siehe bereits vor der Dansk IndustriEntscheidung z. B. EuGH Urt. v. 8.9.2011 – verb. Rs. C-297/10 u. a. (Hennings und Mai), Slg. 2011, I-7965 Rn. 46 f.; EuGH Urt. v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 (Association de médiation sociale), EU:C:2014:2 Rn. 47 sowie mit Blick auf das Verbot der Altersdiskriminierung als allgemeinem Grundsatz i. S. d. Art. 6 Abs. 3 EUV auch EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 50 f. und 45 ff. Vgl. zur Bedeutung des Art. 6 Abs. 3 EUV bei der Begründung von Schutzpflichten im Kontext der Grundfreiheiten schließlich etwa EuGH Urt. v. 9.12.1997 – Rs. C-265/95 (Kommission / Frankreich), Slg. 1997, I-6959 Rn. 32 und 66. Wie hier Lang, in: Bernitz / Groussot / Schulyko (eds.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), S. 65, 113 f. 40 So mit Blick auf Art. 16 GRCh auch Frenz, Handbuch Europarecht IV: Europäische Grundrechte (2009), Rn. 2767; Grabenwarter, in: ders. (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 13 Rn. 48. 41 Siehe sogleich unten III sowie sodann Kapitel 4 § 1 B II. 42 In diesem Sinne zu den Unionsgrundrechten allgemein Cornils, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 5 Rn. 52, der solche Handlungs- und Schutzpflichten umfassenden Rechte als „Ausgestaltungsgrundrechte“ einordnet, siehe dazu auch Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte (2005), S. 494 ff.

262

Kapitel 3 – Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell

der Vertrag als rechtliche Handlungsform existiert und durch vertragsrechtliche Regelungen im Recht der EU und ihrer Mitgliedstaaten flankiert wird. So ist die Vertragsfreiheit unionaler Provenienz beispielswesie auf privatrechtliche Normen betreffend den Abschluss, die Änderung und die Aufhebung von Verträgen angewiesen.43 Zu den Vertragsfreiheit ermöglichenden und damit durch das Unionsgrundrecht der Vertragsfreiheit gebotenen Vorschriften zählen darüber hinaus diejenigen Bestimmungen des Privat- und Prozessrechts, welche die Durchsetzung von Verträgen regeln.44 Erforderlich ist damit zum einen die Bereitstellung eines Instrumentariums im Privatrecht der Union und ihrer Mitgliedstaaten zur Durchsetzung der jeweiligen vertraglichen Verpflichtungen. Zum anderen muss insbesondere auch die Klag- und Vollstreckbarkeit der vertraglichen Ansprüche gewährleistet sein.45 Entsprechend stellt auch der EuGH mit Blick auf alle rechtsverbindlichen vertraglichen Verpflichtungen im Anwendungsbereich des Unionsrechts heraus, dass „ihre Erfüllung einklagbar sein“ muss.46 Aus dem Unionsgrundrecht der Vertragsfreiheit folgt somit, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten entsprechende Rechtsinstitute bereitstellen müssen und sie auch nicht wieder beseitigen oder aushöhlen dürfen.47 Dies gilt insbesondere für diejenigen Elemente, die den Kernbereich dieser Freiheit betreffen: So muss die Entscheidung über das „Ob“ und das „Wie“ der Setzung von Rechtsfolgen mit selbst gewählten Partnern grundsätzlich frei sein. 48 Soweit der Anwendungsbereich des Unionsgrundrechts reicht, steckt es auf diese Weise einen – weit gezogenen und durch umfassende Ausgestaltungsspielräume gekennzeichneten – äußeren Rahmen, innerhalb dessen sich der Unionsgesetzgeber und die Mitgliedstaaten bewegen müssen. Insofern kann man von einer aus der unionalen Vertragsfreiheit fließenden Einrichtungs- oder 43 Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 441 formuliert in diesem Zusammenhang „Rechte auf privatrechtliche Kompetenzen“ und definiert Letztere als „Rechte gegenüber dem Staat darauf, dass der Staat Normen zur Verfügung stellt, die für privatrechtliche Rechtshandlungen […] konstitutiv sind“. 44 Vgl. dazu näher unten Kapitel 5 § 1 B, Kapitel 6 § 1 und Kapitel 7 § 1 B. Siehe allgemein nur Höfling, Vertragsfreiheit (1991), S. 22 sowie 31; M.-P. Weller, Die Vertragstreue (2009), S. 173 ff. 45 Insoweit tritt die unionale Vertragsfreiheit neben den allgemeinen Justizgewährleistungsanspruch, vgl. M.-P. Weller, Die Vertragstreue (2009), S. 180 ff. 46 Mit Blick auf einen dem unionalen Vergaberecht unterliegenden Bauvertrag führt EuGH Urt. v. 25.3.2010 – Rs. C-451/08 (Müller), Slg. 2010, I-2673 Rn. 62 darüber hinaus aus: „Mangels einer Regelung im Unionsrecht sind die Modalitäten für die Erfüllung solcher Verpflichtungen im Einklang mit dem Grundsatz der Autonomie dem nationalen Recht überlassen“. 47 Vgl. zu dieser Grundrechtsdimension Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 441 und 220 ff. 48 Siehe zum Kernbereich der unionalen Vertragsfreiheit erneut oben Kapitel 2 § 3 A II. Wie hier auch M.-P. Weller, Die Vertragstreue (2009), S. 174 f.

§ 1 Einwirkungsachsen im Privatrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten

263

Institutsgarantie sprechen.49 Diese objektiv-rechtliche Dimension der Vertragsfreiheit ist dabei nicht vom subjektiv-rechtlichen Charakter dieses Grundrechts entkoppelt, sondern folgt aus der Summe aller individuellen Berechtigungen: Sämtliche Grundrechtsträger in der Union haben gegenüber den grundrechtsverpflichteten Hoheitsträgern ein Recht darauf, dass privatrechtliche Normen existieren, welche die durch das Grundrecht der Vertragsfreiheit garantierten Verhaltensweisen ermöglichen.50 Die so verstandene institutionelle Dimension der Vertragsfreiheiheit müssen die EU und ihre Mitgliedstaaten bei der Rechtsetzung und -anwendung im Geltungsbereich des Unionsrechts stets beachten.51 Die Konzeption der Unionsgrundrechte als „Elemente einer werteorientierten Gesamtrechtsordnung“52 klingt auch in der EuGH-Judikatur an,53 und Generalanwalt Cruz Villalón betont, dass ein „Zivilgericht bei seiner Rechtsfindung“ im Anwendungsbereich des Unionsrechts nicht „ignorieren darf, dass die Charta existiert“, da sie – jedenfalls als Wertekanon – „auch in einem zivilrechtlichen Verfahren Wirkungen entfaltet“.54 III. Methodische Einwirkungsebenen Die Vertragsfreiheit kann als Unionsgrundrecht zunächst Ausgestaltungsvorgaben bei der Rechtsetzung durch die Union und die Mitgliedstaaten enthalten (1). Zudem sind Unionsrechtsakte und – im Anwendungsbereich des EU49 Cremer, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 1 Rn. 88. 50 Vgl. zu dieser Lesart der Institutsgarantie erneut Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 441 ff. Die subjektiv-rechtliche Dimension der Unionsgrundrechte betont z. B. EuGH Urt. v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 (Association de médiation sociale), EU:C:2014:2 Rn. 47: Der Gerichtshof geht namentlich davon aus, dass „das in Art. 21 Abs. 1 der Charta niedergelegte Verbot der Diskriminierung wegen des Alters […] schon für sich allein dem Einzelnen ein subjektives Recht verleiht“. 51 Im Ergebnis ebenso Herresthal, ZEuP 2014, 238, 257. 52 Herresthal, ZEuP 2014, 238, 257. 53 EuGH Urt. v. 3.9.2014 – Rs. C-201/13 (Deckmyn), EU:C:2014:2132 Rn. 30 verweist nationale Zivilgerichte bei der Beurteilung, ob eine Parodie im Sinne des Art. 5 Abs. 3 Buchst. k Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft, ABl. 2001 L 167/10, vorliegt, gerade allgemein „auf die Bedeutung des Verbots der Diskriminierung aufgrund der Rasse, der Hautfarbe oder der ethnischen Herkunft […], wie es […] insbesondere in Art. 21 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union bestätigt worden ist“ (Herv. d. Verf.). 54 Vgl. GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 22.5.2014 – Rs. C-201/13 (Deckmyn), EU:C:2014:458 Rn. 84. Weitergehend Ritter, NJW 2012, 1549 ff.; M. Stürner, in: Collins, Hugh (ed.), European contract law and the Charter of Fundamental Rights (2017), S. 33, 36 ff. Siehe zu dieser Dimension der unionalen Vertragsfreiheit noch eingehend unten Kapitel 5 § 2 C I.

264

Kapitel 3 – Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell

Rechts – auch mitgliedstaatliche Rechtsakte stets unionsgrundrechtskonform auszulegen und anzuwenden (2). Dieses Gebot wird durch eine Vorlageverpflichtung zum EuGH flankiert. Schließlich folgt aus der Schutzpflichtendimension unionaler Vertragsfreiheit, dass diese Freiheit mittelbare horizontale Drittwirkung in Privatrechtsbeziehungen entfalten kann (3). 1. Ausgestaltungsvorgaben bei der Rechtsetzung „Es steht außer Frage, dass […] jeder Rechtsakt der Union, grundrechtskonform umgesetzt werden muss“.55 Demnach dürfen der unionale und, soweit der Anwendungsbereich des EU-Rechts eröffnet ist, der nationale Gesetzgeber die Vertragsfreiheit nicht ungerechtfertigt oder in unverhältnismäßiger Weise bei der Rechtsetzung verkürzen.56 Dies folgt aus der Abwehrdimension der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie.57 Die Gesetzgebung muss zugleich ihre unionsgrundrechtlichen Leistungspflichten erfüllen und alle Rechtsinstitute bereithalten, die zur Ausübung und Entfaltung der Vertragsfreiheit unverzichtbar sind.58 Im Geltungsbereich des Unionsrechts treffen die EU und ihre Mitgliedstaaten schließlich unionsgrundrechtliche Schutzpflichten, die eine gesetzgeberische Intervention in Konstellationen gebieten können, in denen die Ausübung und Verwirklichung der unionalen Vertragsfreiheit auf andere Weise als durch hoheitliche Maßnahmen bedroht wird.59 Diese Ausgestaltungsvorgaben lassen sich dahingehend zusammenfassen, dass die unionale Vertragsfreiheit als Abwehrgrundrecht ein Übermaßverbot, die Leistungs- und Schutzdimension der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie hingegen ein Untermaßverbot enthält. Demnach müssen der Unionsgesetzgeber und die EU-Mitgliedstaaten im Anwendungsbreich des Unionsrechts stets die Vertragsfreiheit schonende und fördernde Regelungsinstrumente wählen.60 55 So im Kontext der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000, ABl. 2003 L 338/1, GA Bot Schlussanträge v. 7.12.2010 – Rs. C-491/10 (Aguirre Zarraga), Slg. 2010, I-14247 Rn. 69. Siehe auch Jarass (2016), Einl. GRCh Rn. 53 und Art. 51 GRCh Rn. 33. 56 Vgl. zu einem von vornherein unionsgrundrechtswidrigen Sekundärrechtsakt nur EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 (Test-Achats), Slg. 2011, I-773 Rn. 16 ff. 57 Vgl. oben II 1. 58 Vgl. oben II 3. 59 Vgl. oben II 2. 60 Wie bereits dargelegt – siehe oben Kapitel 2 § 3 B II 1 –, ist die Union z. B. auch beim Erlass und bei der Auslegung von Öffnungsklauseln in mindestharmonisierenden Richtlinien des Unionsprivatrechts verpflichtet, die Unionsgrundrechte zu wahren: EuGH Urt. v. 27.6.2006 – Rs. C-540/03 (Parlament / Rat), Slg. 2006, I-5809 Rn. 23 stellt daher treffend heraus, „dass eine [unionsrechtliche] Bestimmung […] als solche die Grundrechte

§ 1 Einwirkungsachsen im Privatrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten

265

2. Durch Vorlageverpflichtung flankierte unionsgrundrechtskonforme Auslegung und Rechtsanwendung Der EuGH sieht die Union ebenso wie ihre „Mitgliedstaaten zu[r] grundrechtskonforme[n] Auslegung und Anwendung“ von Unionsrechtsakten verpflichtet.61 Da die Unionsgrundrechte gemäß Art. 6 Abs. 1 EUV auf Ebene der Verträge stehen, handelt es sich bei der grundrechtskonformen um eine Facette der primärrechtskonformen Auslegung.62 Dabei sind die Unionsgrundrechte aufgrund ihrer besonderen Dignität durchaus auch als Auslegungsmaßstab für das übrige Primärrecht heranzuziehen: So hat der EuGH die Grundfreiheiten und namentlich Art. 56 AEUV bereits „im Licht des Grundrechts auf Achtung des Familienlebens“ interpretiert.63 Vor diesem Hintergrund will Generalanwältin Sharpston die aus der Unionsbürgerschaft nach Art. 20, 21 AEUV fließenden Gewährleistungen nun ebenfalls unionsgrundrechts- und insbesondere chartakonform auslegen.64 Weil alle EU-Rechtsakte dem Gebot der Grundrechtskonformität unterliegen,65 können die Unionsgrundrechte missachtet, wenn sie den Mitgliedstaaten […] gestattet, nationale Gesetze zu erlassen oder beizubehalten, die die Grundrechte missachten“. Dies wirkt sich potenziell auch auf die – nach Art. 8 Klauselrichtlinie grundsätzlich zulässige – überschießende Umsetzung der Klauselrichtlinie und namentlich bei der pauschalen Inhaltskontrolle von Individualvereinbarungen und Hauptleistungspflichten aus, siehe hierzu umfassend unten Kapitel 7 § 2. 61 Z. B. EuGH Urt. v. 21.12.2011 – verb. Rs. C-411/10 u. a. (N.S.), Slg. 2011, I-13905 Rn. 99. 62 Z. B. EuGH Urt. v. 31.1.2013 – Rs. C-12/11 (McDonagh), EU:C:2013:43 Rn. 44: „Es muss jedoch gesichert sein, dass diese Auslegung nicht […] der Grundrechtecharta zuwiderläuft. Nach einem allgemeinen Auslegungsgrundsatz ist nämlich ein Unionsrechtsakt […] im Einklang mit dem gesamten Primärrecht auszulegen“ (Herv. d. Verf.). 63 EuGH Urt. v. 11.7.2002 – Rs. C-60/00 (Carpenter), Slg. 2002, I-6279 Rn. 46; EuGH Urt. v. 12.3.2014 – Rs. C-457/12 (S), EU:C:2014:136 Rn. 37 ff. 64 GA Sharpston Schlussanträge v. 12.12.2013 – Rs. C-457/12 (S), EU:C:2013:842 Rn. 62 f.: „Die sich aus der Unionsbürgerschaft ergebenden Rechte aus den Art. 20 AEUV und 21 AEUV sind daher so auszulegen, dass ihr Wesensgehalt „chartakonform“ gewährleistet wird […]. Bei diesem Ansatz wird der Anwendungsbereich des Unionsrechts nicht „ausgeweitet“ und daher die Zuständigkeitsverteilung zwischen der Union und den sie konstituierenden Mitgliedstaaten nicht verletzt. Es wird lediglich dem übergeordneten Grundsatz Rechnung getragen, dass in einer Rechtsunion bei der Auslegung einer zu dieser Rechtsordnung gehörenden Bestimmung sämtliche einschlägigen Rechtsnormen (selbstverständlich einschließlich des einschlägigen Primärrechts in Gestalt der Charta) zu berücksichtigen sind“. 65 Laut EuGH Urt. v. 11.9.2014 – Rs. C-112/13 (A), EU:C:2014:2195 Rn. 51 „sind die Bestimmungen des Unionsrechts wie die der Verordnung Nr. 44/2001 im Licht der Grundrechte auszulegen, die nach ständiger Rechtsprechung zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat, und nun in der Charta verankert sind“. Siehe zur unionsgrundrechtskonformen Auslegung und Anwendung von Sekundärrechtsakten ferner nur EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 (Test-Achats), Slg. 2011, I-773 Rn. 16 ff.; EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 30 ff.

266

Kapitel 3 – Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell

über die jeweilige Spielart der unionsrechtskonformen Auslegung in das nationale Recht hineinwirken.66 Anders gewendet impliziert also jede unionsrechtskonforme zugleich eine unionsgrundrechtskonforme Auslegung. Auch unionale Rechtsakte, welche die Rechtsbeziehungen zwischen Privaten regeln, müssen im Einklang mit den Unionsgrundrechten interpretiert und angewendet werden.67 Im Unionsprivatrecht betrifft dies zuvörderst Sekundärrechtsakte, wie Verordnungen und Richtlinien.68 Doch wie geht diese Form der Grundrechtseinwirkung auf das unionale und nationale Privatrecht vonstatten? Eindeutig fällt die Antwort bei unmittelbar anwendbaren Verordnungen im Bereich des EU-Privatrechts aus: Der Rechtsakt ist von allen Stellen der Union und der Mitgliedstaaten im Lichte der Unionsgrundrechte auszulegen und anzuwenden. Komplexer ist die Situation hingegen, wenn eine Richtlinie noch der Umsetzung in das mitgliedstaatliche Recht bedarf. Hier wäre zunächst denkbar, dass nur die Richtlinie selbst unionsgrundrechts-, das der Umsetzung dienende natio-nale (Privat)Recht dagegen richtlinienkonform interpretiert und angewendet werden muss.69 Dies hätte zur Folge, dass die für die richtliIm Ergebnis ebenso Herresthal, ZEuP 2014, 238, 275 f.; Leible / Domröse, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre (2015), § 8 Rn. 41; Jarass (2016), Einl. GRCh Rn. 53, 58 und Art. 51 GRCh Rn. 34. Vgl. auch T. Möllers, GS Wolf (2011), S. 669 ff.; Jarass, NVwZ 2012, 457, 460. Siehe zu den unterschiedlichen Spielarten der unionsrechtskonformen Auslegung erneut nur W.-H. Roth / Jopen, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre (2015), § 13 Rn. 9 f. 67 Siehe zum EU-Privatrecht nur GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C282/10 (Dominguez), EU:C:2011:559 Rn. 83, die hervorhebt, dass „die grundrechtskonforme Auslegung auch bei privatrechtlichen Vorschriften zum Tragen“ kommt. Siehe hierzu auch Jarass, in: Heiderhoff / Lohsse / Schulze (Hrsg.), EU-Grundrechte und Privatrecht (2016), S. 31, 41 ff. Ebenso stellt GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 22.5.2014 – Rs. C-201/13 (Deckmyn), EU:C:2014:458 Rn. 79 heraus, „dass die ständige Rechtsprechung, wonach das abgeleitete Unionsrecht im Einklang mit dem primären Recht einschließlich der Charta auszulegen ist, auch dann gilt, wenn es um eine Vorschrift des abgeleiteten Rechts geht, die zwischen Einzelnen anwendbar ist“. Gleichsinnig EuGH Urt. v. 3.9.2014 – Rs. C-201/13 (Deckmyn), EU:C:2014:458 Rn. 30 und 35. Vgl. zu Fragen des Datenschutzes in privatrechtlichen Beziehungen ferner nur EuGH Urt. v. 13.5.2014 – Rs. C-131/12 (Google), EU:C:2014:317 Rn. 68; EuGH Urt. v. 11.12.2014 – Rs. C-212/13 (Ryneš), EU:C:2014:2428 Rn. 29. 68 EuGH Urt. v. 9.11.2010 – verb. Rs. C-92/09 u. a. (Schecke u. a.), Slg. 2010, I-11063 Rn. 46; EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 (Test-Achats), Slg. 2011, I-773 Rn. 32.; EuGH Urt. v. 27.9.2012 – Rs. C-179/11 (Cimade und GISTI), EU:C:2012:594 Rn. 42; EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521 Rn. 30; EuGH Urt. v. 11.12.2014 – Rs. C-212/13 (Ryneš), EU:C:2014:2428 Rn. 29; EuGH Urt. v. 13.5.2014 – Rs. C-131/12 (Google), EU:C:2014:317 Rn. 68. 69 Dafür Leible / Domröse, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre (2015), § 8 Rn. 41. In diese Richtung mag auch EuGH Urt. v. 29.1.2008 – Rs. C-275/06 (Promusicae), Slg. 2008, I-271 Rn. 68 deuten: „Es ist daher Sache der Mitgliedstaaten, bei der Umsetzung der genannten Richtlinien darauf zu achten, dass sie sich auf eine Auslegung derselben stützen, die es ihnen erlaubt, ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den verschiedenen 66

§ 1 Einwirkungsachsen im Privatrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten

267

nienkonforme Auslegung relevanten Grenzen zu beachten wären.70 Versteht man die Pflicht zur unionsgrundrechtskonformen Auslegung und Anwendung hingegen umfassend, so müssten sowohl der Sekundärrechtsakt als auch sämtliche nationalen Normen des Privatrechts, die in den Geltungsbereich des Unionsrechts gelangen, selbst direkt und umfassend an den Unionsgrundrechten gemessen werden.71 Entscheidend gegen eine ausschließlich über die richtlinienkonforme Auslegung vermittelte Privatrechtswirksamkeit der EUGrundrechte streitet, dass der Gerichtshof wiederholt Vorschriften des sekundärrechtlich fundierten nationalen Privatrechts für unanwendbar gehalten hat, weil sie mit Unionsgrundrechten unvereinbar waren.72 Überdies geht der Gerichtshof gerade davon aus, dass die Grundrechte der Union im Anwendungsbereich des EU-Rechts lückenlos zu beachten sind.73 Da jedenfalls das der Umsetzung einer Richtlinie dienende mitgliedstaatliche Privatrecht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt,74 ist es demnach direkt an den durch die Gemeinschaftsrechtsordnung geschützten Grundrechten sicherzustellen. Bei der Durchführung der Maßnahmen zur Umsetzung dieser Richtlinien haben die Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten nicht nur ihr nationales Recht im Einklang mit diesen Richtlinien auszulegen, sondern auch darauf zu achten, dass sie sich nicht auf eine Auslegung dieser Richtlinien stützen, die mit diesen Grundrechten […] kollidiert“. Ähnlich wohl Jarass, in: Heiderhoff / Lohsse / Schulze (Hrsg.), EU-Grundrechte und Privatrecht (2016), S. 31, 43, der allerdings bemerkt, dass auch bei einer solchen Lesart letztlich „das einschlägige [Unions]Grundrecht entscheidend“ ist. Vor allem betont er zu Recht: „Möglich ist aber auch eine unmittelbare grundrechtskonforme Auslegung des nationales Rechts“ (S. 45). 70 Vgl. zu diesen Schranken nur EuGH Urt. v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 (Adeneler), Slg. 2006, I-6057 Rn. 110. So ausdrücklich auch Jarass (2016), Einl. GRCh Rn. 54. 71 Herresthal, ZEuP 2014, 238, 275 f.; Cremer, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 1 Rn. 102. In diesem Sinne auch z. B. Schwarze /  Hatje (2012), Art. 51 GRCh Rn. 16 und 18. 72 Besonders deutlich wird dies in der Entscheidung des EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 22 f. und 49 ff.: Weil die alte Fassung des „§ 622 Abs. 2 Unterabs. 2 BGB […] wegen seiner Klarheit und Eindeutigkeit einer der Richtlinie 2000/78 konformen Auslegung nicht zugänglich“ war, der Gerichtshof hierin aber einen Verstoß gegen das in Art. 21 Abs. 1 GRCh normierte Verbot der Altersdiskriminierung sah, war das nationale Gericht verpflichtet, „jede diesem Verbot entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet“ zu lassen. Siehe zu § 14 Abs. 3 TzBfG a. F. auch schon EuGH Urt. v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I9981 Rn. 77. Siehe ferner nur GA Kokott Schlussanträge v. 15.5.2014 – Rs. C-318/13 (X), EU:C:2014:333 Rn. 57. 73 So finden laut EuGH Urt. v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 (Association de médiation sociale), EU:C:2014:2 Rn. 42 „nach ständiger Rechtsprechung die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen Anwendung“ (Herv. d. Verf.). Gleichsinnig EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-390/12 (Pfleger), EU:C:2014:281 Rn. 34. 74 Z. B. EuGH Urt. v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981 Rn. 75. Deutlich mit Blick auf das spanische Privatrecht zuletzt etwa EuGH Urt. v. 10.7.2014 – Rs. C-198/13 (Hernández), EU:C:2014:2055 Rn. 32: „Diese Vorschriften des spanischen

268

Kapitel 3 – Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell

Unionsgrundrechten einschließlich der unionalen Vertragsfreiheit zu messen. Soweit also der Anwendungsbereich des Unionsrechts eröffnet ist, müssen die Mitgliedstaaten die Unionsgrundrechtskonformität ihres nationales Privatrechts sicherstellen.75 Entsprechend sind das Unionsrecht ebenso wie die hierauf beruhenden mitgliedstaatlichen Umsetzungs- und Durchführungsrechtsakte „im Einklang mit den Grundrechten auszulegen […], wie sie in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ sowie als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts in Art. 6 Abs. 3 EUV anerkannt werden.76 Diese Pflicht zur grundrechtsrechtskonformen Interpretation und Anwendung des unionalen wie des nationalen Privatrechts wird durch Art. 267 AEUV abgesichert: Bei Unklarheiten bezüglich der Auslegung des Unionsrechtsakts oder auch des Gewährleistungsgehalts und der Einwirkungstiefe des Unionsgrundrechts haben mitgliedstaatliche Gerichte die Möglichkeit und im Fall des Art. 267 Abs. 3 AEUV die Verpflichtung, diese Rechtsfragen dem EuGH vorzulegen.77 Dies gilt insbesondere, wenn ein nationales Gericht Rechts sind im Licht […] der Charta auszulegen, sofern sie in den Geltungsbereich der Richtlinie 2008/94 fallen“ (Herv. d. Verf.). Siehe ferner z. B. EuGH Urt. v. 12.12.2002 – Rs. C-442/00 (Caballero), Slg. 2002, I-11915 Rn. 31; GA Kokott Schlussanträge v. 15.5.2014 – Rs. C-318/13 (X), EU:C:2014:333 Rn. 57 und 49 ff. 75 Siehe im arbeitsrechtlichen Kontext nur EuGH Urt. v. 12.12.2002 – Rs. C-442/00 (Caballero), Slg. 2002, I-11915 Rn. 31 „Fällt eine nationale Regelung in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts, so hat der Gerichtshof, wenn er im Vorabentscheidungsverfahren angerufen wird, dem vorlegenden Gericht alle Auslegungskriterien an die Hand zu geben, die es benötigt, um die Vereinbarkeit dieser Regelung mit den Grundrechten beurteilen zu können, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat“ (Herv. d. Verf.). Siehe auch EuGH Urt. v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981 Rn. 75 sowie bereits zuvor EuGH Urt. v. 18.6.1991 – Rs. C-260/89 (ERT), Slg. 1991, I-2925 Rn. 42; EuGH Urt. v. 24.3.1994 – Rs. C-2/92 (Bostock), Slg. 1994, I-955 Rn. 16; EuGH Urt. v. 19.11.1998 – Rs. C-85/97 (SFI), Slg. 1998, I-7447 Rn. 29. Siehe erneut auch EuGH Urt. v. 10.7.2014 – Rs. C-198/13 (Hernández), EU:C:2014:2055 Rn. 32. GA Kokott Schlussanträge v. 20.9.2012 – Rs. C-394/11 (Belov), EU:C:2012:585 Rn. 80 und 82 hebt mit Blick auf Art. 21 GRCh hervor, dass dieses „Grundrecht […] als Kontrollmaßstab für die Rechtmäßigkeit des innerstaatlichen Rechts angewandt wird“. GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 12.12.2013 – Rs. C-293/12 (Digital Rights Ireland), EU:C:2013:845 Rn. 153 sieht die nationalen Gerichte ebenfalls zur umfassenden „Prüfung und Würdigung der nationalen Maßnahmen zur Umsetzung einer Richtlinie mit den in der Charta vorgesehenen Garantien“ verpflichtet. Wie hier auch Cremer, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 1 Rn. 102. 76 In diesem Sinne z. B. EuGH Urt. v. 27.9.2012 – Rs. C-179/11 (Cimade und GISTI), EU:C:2012:594 Rn. 42. Siehe zudem nur EuGH Urt. v. 12.12.2002 – Rs. C-442/00 (Caballero), Slg. 2002, I-11915 Rn. 30. 77 EuGH Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 (Fransson), EU:C:2013:105 Rn. 30: „Dabei haben die nationalen Gerichte, wenn sie Bestimmungen der Charta auslegen sollen, die Möglichkeit und gegebenenfalls die Pflicht, den Gerichtshof um eine Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV zu ersuchen“. Vgl. im Kontext der ungeschriebenen Unionsgrundrechte nur EuGH Urt. v. 12.12.2002 – Rs. C-442/00 (Caballero), Slg. 2002, I-11915 Rn. 31.

§ 1 Einwirkungsachsen im Privatrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten

269

eine unionsrechtliche Norm für unvereinbar mit den EU-Grundrechten hält,78 selbst wenn ausnahmsweise nationale Grundrechte parallel anwendbar sein sollten.79 Soweit zivilrechtliche Vorschriften unionsgrundrechtskonform ausgelegt werden sollen, kann der EuGH allerdings nur eine Interpretation des Privatrechts der Union, nicht aber eine konkrete Lesart einer nationalen Zivilrechtsnorm verbindlich vorgeben.80 In Bezug auf eine potenziell von der Einwirkung der Unionsgrundrechte betroffene „nationale Regelung […] hat der Gerichtshof, wenn er im Vorabentscheidungsverfahren angerufen wird, dem vorlegenden Gericht alle Auslegungskriterien an die Hand zu geben, die es benötigt, um die Vereinbarkeit dieser Regelung mit den Grundrechten beurteilen zu können“.81

Da der EuGH die Vertragsfreiheit als unionsgrundrechtliche Gewährleistung bislang ebensowenig umrissen hat wie deren Einwirkungsachsen in das Privatrecht, dürfte kaum ein acte clair vorliegen.82 Im Gefolge des AlemoHerron-Urteils des EuGH83 nehmen daher die Vorabentscheidungsverfahren mit Bezug zur unionalen Vertragsfreiheit zu.84 3. Mittelbare horizontale Drittwirkung in Privatrechtsbeziehungen Bereits die erste Stellungnahme eines Generalanwalts zur Privatrechtswirksamkeit der Unionsgrundrechte hinterfragte, ob diese Grundrechte „unmittel78 Mit Blick auf die Vereinbarkeit eines Unionsrechtsakts mit der GRCh betonen z. B. EuGH Urt. v. 22.6.2010 – verb. Rs. C-188/10 u. a. (Melki u. a.), EU:C:2010:363 Rn. 54 ff.; EuGH Urt. v. 11.9.2014 – Rs. C-112/13 (A), EU:C:2014:2195 Rn. 41 ff. „die alleinige Zuständigkeit des Gerichtshofs […], eine Handlung der Union und insbesondere eine Richtlinie für ungültig zu erklären“. Vgl. bereits EuGH Urt. v. 22.10.1987 – Rs. 314/85 (Foto-Frost), Slg. 1987, 4199 Rn. 20. Siehe zur Unwirksamkeit einer Richtlinienbestimmung wegen Verstoßes gegen Art. 21 GRCh EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 (TestAchats), Slg. 2011, I-773 Rn. 16 ff. 79 Siehe dazu erneut oben Kapitel 2 § 3 B II 2 c. 80 Vgl. nur EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 49. 81 EuGH Urt. v. 12.12.2002 – Rs. C-442/00 (Caballero), Slg. 2002, I-11915 Rn. 31. Ebenso schon EuGH Urt. v. 18.6.1991 – Rs. C-260/89 (ERT), Slg. 1991, I-2925 Rn. 42; EuGH Urt. v. 24.3.1994 – Rs. C-2/92 (Bostock), Slg. 1994, I-955 Rn. 16; EuGH Urt. v. 19.11.1998 – Rs. C-85/97 (SFI), Slg. 1998, I-7447 Rn. 29. 82 Vgl. zur Acte-clair-Doktrin nur EuGH Urt. v. 6.10.1982 – Rs. C-283/81 (CILFIT), Slg. 1982, 3415 Rn. 13 ff. 83 EuGH Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), EU:C:2013:521. 84 Siehe zuletzt etwa EuGH Urt. v. 21.12.2016 – Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), EU: C:2016:972 Rn. 67 ff. Vgl. zur Frage, ob auch individualvertragliche Verweisungen auf Kollektivvereinbarungen in Arbeitsverträgen die durch Art. 16 GRCh geschützte unionale Vertragsfreiheit eines Betriebserwerbers beeinträchtigen können, wenn der Erwerber nach § 613a BGB in die Rechtsstellung des Betriebsveräußerers einrückt jüngst auch EuGH Urt. v. 27.4.2017 – Rs. C-680/15 u.a. (Asklepios Kliniken u.a.), EU:C:2017:317 Rn. 19 ff.

270

Kapitel 3 – Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell

bare Wirkungen im Verhältnis zwischen Privatpersonen zeitigen“.85 Die Grundrechte der EU sowie die hierzu ergangene Judikatur des EuGH zeichnen auf den ersten Blick ein gemischtes Bild: Gegen eine Grundrechtsverpflichtung privater Akteure streitet, dass ausweislich des Art. 51 Abs. 1 GRCh nur die Union und – im Anwendungsbereich des EU-Rechts – ihre Mitgliedstaaten, nicht aber Private an die Unionsgrundrechte gebunden sind.86 Gleiches gilt auch für die ungeschriebenen Grundrechte im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV.87 Dennoch hat der EuGH in seiner Rechtsprechungspraxis neben dem Verbot der Entgeltdiskriminierung nach Art. 157 AEUV auch das grundfreiheitliche Verbot der Diskrimimierung aufgrund der Staatsangehörigkeit auf privatrechtliche Verträge erstreckt.88 Besagte Verbote sind nun in Art. 23 und Art. 21 GRCh als Grundrechte verbürgt. Auch darüber hinaus postuliert der Gerichtshof, dass sich insbesondere Art. 21 und Art. 23 GRCh auf Rechtsverhältnisse zwischen Privaten auswirken können, wie etwa die Rechtssachen Mangold, Kücükdeveci und Test-Achats verdeutlichen.89 Dieser scheinbare Widerspruch lässt sich durch die Schutzpflichtendimension der Unionsgrundrechte auflösen. Gerade im Kontext der Privatrechtswirkung des Art. 21 GRCh ist es laut Generalanwältin Kokott zwar möglich, dass „die dem grundrechtlich verankerten Diskriminierungsverbot entgegenstehenden nationalen Rechtsvorschriften auch zwischen Privaten unangewendet“ bleiben müssen.90 Diese Privatrechtswirksamkeit der Unionsgrundrechte zeichnet sich aber gerade dadurch aus, dass „der Private nicht unmittelbar zum Grundrechtsadressaten wird, sondern das Grundrecht lediglich als Kontrollmaßstab für die Rechtmäßigkeit des innerstaatlichen Rechts angewandt wird“.91

GA Van Gerven Schlussanträge v. 30.1.1990 – Rs. C-262/88 (Barber), Slg. 1990, I1912 Rn. 51 sowie 53 ff. 86 Schwarze / Hatje (2012), Art. 51 GRCh Rn. 22 hinterfragt dagegen, ob Art. 51 GRCh auf lange Sicht eine unmittelbare Drittwirkung verhindern kann. 87 Siehe zum einheitlichen Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte der Charta und der ungeschriebenen Grundrechte nach Art. 6 Abs. 3 EUV bereits oben Kapitel 2 § 3 B. 88 Vgl. nur EuGH Urt. v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 (Angonese), Slg. 2000, I-4139 Rn. 5 ff. und 35 ff. sowie z. B. EuGH Urt. v. 6.10.1993 – Rs. C-109/91 (Ten Över), Slg. 1993, I-4879 Rn. 11 ff.; EuGH Urt. v. 28.9.1994 – Rs. C-200/91 (Coloroll), Slg. 1994, I4389 Rn. 18 ff. 89 Vgl. EuGH Urt. v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981 Rn. 74 ff.; EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 22 ff.; EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 (Test-Achats), Slg. 2011, I-773 Rn. 16 ff. 90 GA Kokott Schlussanträge v. 20.9.2012 – Rs. C-394/11 (Belov), EU:C:2012:585 Rn. 81 f. 91 GA Kokott Schlussanträge v. 20.9.2012 – Rs. C-394/11 (Belov), EU:C:2012:585 Rn. 81 f. 85

§ 1 Einwirkungsachsen im Privatrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten

271

Adressaten des aus Art. 21 GRCh folgenden Verbots sind folglich allein Hoheitsträger, und nur vermittelt über diese direkte Grundrechtsbindung der Union und ihrer Mitgliedstaaten strahlen die Unionsgrundrechte sodann auf privatrechtliche Beziehungen ein. Soweit also das Privatrecht der Union und ihrer Mitgliedstaaten an den EU-Grundrechten zu messen ist, beeinflussen diese Grundrechte indirekt auch die durch diese privatrechtlichen Normen geregelten Beziehungen, wie etwa Vertragsverhältnisse. Dieser Mechanik entsprechend wird das Phänomen treffend als „mittelbare Drittwirkung“ bzw. „mittelbare horizontale Wirkung“ der Unionsgrundrechte bezeichnet.92 Triebfeder der mittelbaren Drittwirkung im Verhältnis von Privaten sind die unionsgrundrechtlichen Schutzpflichten. Solche aus der unionalen Vertragsfreiheit fließenden Pflichten treffen den Unionsgesetzgeber beispielsweise beim Erlass einer Richtlinie und den nationalen Gesetzgeber sodann bei der Richtlinienumsetzung in nationales Recht.93 Darüber hinaus sind alle unionalen und mitgliedstaatlichen Gerichte Adressaten dieser Schutzpflichten.94 Diese Konzeption der durch Schutzpflichten vermittelten Horizontalwirkungen der Unionsgrundrechte haben auch Generalanwälte des EuGH wiederholt zugrunde gelegt.95 Hierfür streitet aus methodischer Sicht, dass die parallele 92 Statt vieler Cremer, in: Grabenwarter (Hrsg.), EnzEuR II: Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 1 Rn. 160; Herresthal, ZEuP 2014, 238, 268 ff.; Fornasier, ERPL 23 (2015), 29 ff.; Jarass (2016), Art. 51 GRCh Rn. 32 ff.; ders., in: Heiderhoff / Lohsse / Schulze (Hrsg.), EU-Grundrechte und Privatrecht (2016), S. 31, 56 ff. Siehe auch bereits W.-H. Roth, FS Medicus (2009), S. 393, 403. Für eine unmittelbare Privatrechtswirkung der Unionsgrundrechte spricht sich dagegen wohl Lazzerini, CMLR 51 (2014), 907, 925 aus. 93 Vgl. GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 12.12.2013 – Rs. C-293/12 (Digital Rights Ireland), EU:C:2013:845 Rn. 115 f. sowie 123, der neben dem Unionsgesetzgeber gerade auch die nationalen Gesetzgeber bei der Umsetzung in der Pflicht sieht, „dafür zu sorgen, dass die auf ihre eigene Initiative erlassenen Rechtsvorschriften, die zu einer Einschränkung der Grundrechte führen, alle notwendigen Schutzmaßnahmen umfassen“. Gleichsinnig GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C:2011:559 Rn. 81 ff. Vgl. zur „grundlegenden staatlichen Schutzpflicht“ des Gesundheitsschutzes auch GA Trstenjak Schlussanträge v. 21.6.2007 – Rs. C-319/05 (Kommission/Deutschland), Slg. 2007, I-9816 Rn. 35. 94 Vgl. zur Pflicht nationaler Gerichte, im Lichte der Unionsgrundrechte „Schutzmaßnahmen“ zur Wahrung der Grundrechte Privater vorzusehen, GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 12.12.2013 – Rs. C-293/12 (Digital Rights Ireland), EU:C:2013:845 Rn. 153 und 115 ff. 95 Siehe z. B. GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C:2011:559 Rn. 81 ff., die mit Blick auf Art. 31 GRCh ausführt: „Diese Bestimmung gewährt dem Einzelnen somit ein subjektives Recht, das in erster Linie in einer Schutzpflicht der Union und ihrer Mitgliedstaaten ihm gegenüber besteht […]. Privatpersonen können […] allenfalls mittelbar durch Regelungen zur Umsetzung der Schutzpflicht gebunden werden“. Auch GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 18.7.2013 – Rs. C-176/12 (Association de médiation sociale), EU:C:2013:491 Rn. 36 erfasst die „Grundrechtsunterworfenheit Privater […] im Sinne einer ‚Schutzpflicht‘ des Staates“ und führt ergänzend aus:

272

Kapitel 3 – Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell

Frage der Horizontalwirkung der Grundfreiheiten ebenfalls durch Schutzpflichten gelöst werden kann, wie der EuGH etwa in Kommission/Frankreich und Schmidberger angedeutet hat.96 Gleiches gilt im Übrigen für die Privatrechtswirkungen der Verkehrsfreiheiten in anderen Konstellationen, wie etwa in der Rechtssache Angonese, sowie für die Drittwirkung des Verbots der Entgeltdiskriminierung gemäß Art. 157 AEUV.97 B. Privatrechtswirksamkeit der Vertragsfreiheit als Rechtsgrundsatz In ihrer Ausprägung als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsprivatrechts ist die Vertragsfreiheit im Anwendungsbereich des EU-Rechts umfassend in allen schuldvertraglichen Sachverhalten zu beachten.98 Anders als durch das korrespondierende Unionsgrundrecht können nicht nur hoheitliche Stellen, sondern auch private Akteure durch den Rechtsgrundsatz verpflichtet werden: Als Rechtsprinzip durchdringt die unionale Vertragsfreiheit alle Vertragsbeziehungen im Geltungsbereich des Unionsrechts und kann somit z. B. von Gerichten auch unmittelbar im Verhältnis von Privaten untereinander – etwa zur Rechtfertigung einer bestimmten Interpretation einer vertraglichen Vereinbarung – fruchtbar gemacht werden.99 „Dies ist im Übrigen der Ansatz, den sich auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zu eigen gemacht hat und der eine unbestreitbare Autorität genießt“. 96 Vgl. EuGH Urt. v. 9.12.1997 – Rs. C-265/95 (Kommission / Frankreich), Slg. 1997, I-6959 Rn. 32 ff.; EuGH Urt. v. 12.6.2003 – Rs. C-112/00 (Schmidberger), Slg. 2003, I5659 Rn. 57 ff. Wie hier z. B. GA Cruz Villalón Schlussanträge v. 18.7.2013 – Rs. C-176/ 12 (Association de médiation sociale), EU:C:2013:491 Rn. 34 ff.; W.-H. Roth, FS Medicus (2009), S. 393, 402; Lang, in: Bernitz / Groussot / Schulyko (eds.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013), S. 65, 113. 97 So lässt sich auch EuGH Urt. v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 (Angonese), Slg. 2000, I4139 Rn. 5 und 47 als Verweis auf in der Arbeitnehmerfreizügigkeit wurzelnde Schutzpflichten verstehen: Demnach müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass ein Arbeitgeber die Bewerber für eine Stelle in einer privaten Bankgesellschaft nicht verpflichten darf, „ihre Sprachkenntnisse ausschließlich durch ein einziges in einer einzigen Provinz eines Mitgliedstaats ausgestelltes Diplom nachzuweisen“. Ebenso kann die z. B. in EuGH Urt. v. 28.9.1994 – Rs. C-200/91 (Coloroll), Slg. 1994, I-4389 Rn. 18 ff. eingeforderte Durchsetzung des Verbots der Entgeltdiskrimimierung in privatrechtlichen Anstellungsverhältnissen über staatliche Schutzpflichten erfolgen: Der EuGH Urt. v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 (Angonese), Slg. 2000, I-4139 Rn. 34 interpretiert seine seit Defrenne II bestehende Entscheidungspraxis gerade dahingehend, dass Art. 157 AEUV nur die Mitgliedstaaten unmittelbar verpflichtet, wobei korrespondierend zu diesen mitgliedstaatlichen (Schutz)Pflichten „zugleich allen an der Einhaltung der so umschriebenen Pflichten interessierten Privatpersonen Rechte verliehen sein können“. Gleichsinnig zuvor schon EuGH Urt. v. 4.2.1988 – Rs. 157/86 (Murphy), Slg. 1988, 673 Rn. 11 f. 98 Siehe zum Anwendungsbereich oben Kapitel 2 § 3 B III und vgl. erneut EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-280/13 (Barclays), EU:C:2014:279 Rn. 44. 99 Ganz in diesem Sinne führt der EuGH beispielsweise die Bindungswirkung, welche durch die Ausübung der Vertragsfreiheit im Zuge des Vertragsschlusses eintritt, auf das

§ 1 Einwirkungsachsen im Privatrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten

273

Insbesondere kann die unionale Vertragsfreiheit als allgemeiner privatrechtlicher Rechtsgrundsatz Bezugspunkt einer prinzipiengeleiteten Auslegung und gegebenenfalls Rechtsfortbildung sein (I). Dabei mag die Vertragsfreiheit zuweilen in Konflikt mit gegenläufigen allgemeinen Rechtsprinzipien stehen. Hier bedarf es einer Auflösung, wobei auch im Unionsprivatrecht ein „ prima facie-Vorrang des Prinzips der rechtlichen Freiheit“100 besteht (II). I.

Prinzipiengeleitete Auslegung und Rechtsfortbildung

Die unionale Vertragsfreiheit kommt als Rechtsgrundsatz insbesondere dann zum Tragen, wenn eine unionsrechtsinterne Lücke oder zumindest Auslegungsbedarf im europarechtlich determinierten Privatrecht besteht.101 Dabei muss die unionale Vertragsfreiheit mit etwaig konfligierenden Rechtsprinzipien abgewogen werden, und im Zuge dieses Vorgangs ist zu ermitteln, auf welchem allgemeinen privatrechtlichen Rechtsgrundsatz die konkret auszulegende oder zu ergänzende Regelung vorwiegend beruht.102 Setzt sich die unionale Vertragsfreiheit im Ergebnis durch, so müssen die im konkreten Fall einschlägigen Facetten und Gewährleistungsgegenstände dieses Rechtsprinzips, wie etwa die Abschluss-, Vertragspartnerwahl- und Vertragsinhaltsfreiheit, die Auslegung oder Lückenfüllung lenken. Methodisch handelt es sich bei dieser prinzipiengeleiteten teleologischen Auslegung und Anwendung des EU-Privatrechts um einen Unterfall der unionsrechtskonformen Auslegung sowie gegebenenfalls der unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung.103 Bei diesem Verständnis fügen sich auch die drei Funktionen der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts nahtlos in das System der unionalen Methoden ein: Das EU-Recht kann eine unionsrechtskonforme Gesetzesauslegung (secundum legem), Gesetzesergänzung (praeter legem) und – in Ausnahmefällen sowie beschränkt auf die Rechtsakte des Unionsprivatrechts selbst –104 Prinzip der Vertragsfreiheit zurück, vgl. nur EuGH Urt. v. 18.7.2007 – Rs. C-277/05 (Société thermale), Slg. 2007, I-6415 Rn. 24: „Die Verpflichtung, sich an den Vertrag zu halten, […] ergibt sich aus dem Vertrag selbst“. Siehe hierzu noch eingehend unten § 2 A. 100 Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 517. 101 Siehe erneut oben Kapitel 2 § 2 A I 1. Vgl. auch GA Mazák Schlussanträge v. 15.2.2007 – Rs. C-411/05 (Palacios de la Villa), Slg. 2007, I-8531 Rn. 134 ff.; GA Trstenjak Schlussanträge v. 30.6.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 68; GA Trstenjak Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 (Dominguez), EU:C:2011:559 Rn. 93; Basedow, FS Hopt I (2010), S. 27, 45; Lenaerts / Gutiérrez-Fons, CMLR 47 (2010), 1629. 102 Vgl. EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-280/13 (Barclays), EU:C:2014:279 Rn. 43. 103 Siehe erneut oben Kapitel 2 § 2 A I 1. 104 Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH findet die unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts – sowohl in ihrer Spielart als richtlinien- als auch als primärrechtskonforme Auslegung – in der contra-legem-Grenze eine Schranke, so zur richtlinienkonformen Auslegung z. B. EuGH Urt. v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06 (Impact), Slg. 2008, I2483 Rn. 100; EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:282 Rn. 65.

274

Kapitel 3 – Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell

eine Gesetzeskorrektur (contra legem) gebieten.105 Entsprechend kommt die unionale Vertragsfreiheit als Rechtsprinzip beispielsweise zum Tragen, wenn Unklarheit darüber herrscht, wie eine bestimmte Regelung in einer schuldvertragsrechtsrelevanten Richtlinie oder Verordnung zu interpretieren ist. Zum anderen kann der privatrechtliche Rechtsgrundsatz herangezogen werden, wenn Lücken in einem Rechtsakt des Unionsprivatrechts oder in einem unionsrechtlich determinierten Bereich des nationalen Zivilrechts bestehen. Sowohl bei der Auslegung als auch bei der Lückenfüllung gebietet der Rechtsgrundsatz eine freiheitsfreundliche Lesart und eine Lösung, welche der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie als Leitprinzip des Schuldvertragsrechts gebührend Rechnung trägt. Zugleich ist die unionale Vertragsfreiheit in diesen Konstellationen stets mit etwaigen konfligierenden Rechtsprinzipien abzuwägen. 106 Anschauungsmaterial für die Wirkmacht der Vertragsfreiheit als Auslegungsleitlinie des unionalen wie nationalen Privatrechts bietet beispielsweise die Entscheidung Shearman v Hunter Boot Ltd, in welcher der englische High Court mangels ausdrücklicher Hinweise in der Handelsvertreterrichtlinie, die zu deren Umsetzung ergangene nationale Regelung im Lichte der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie interpretiert: Siehe mit Blick auf das Primärrecht und namentlich Art. 107, Art. 108 Abs. 3 S. 3 AEUV nun auch EuGH Urt. v. 11.11.2015 – Rs. C-505/14 (Klausner), EU:C:2015:742 Rn. 32: „So findet die Verpflichtung des nationalen Richters, bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts den Inhalt des Unionsrechts heranzuziehen, ihre Schranken in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen und darf nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen“ (Herv. d. Verf.). Überwunden werden kann diese contra-legem-Grenze indes entweder durch die Unionsgrundrechte oder andere Rechtssätze des Primärrechts, soweit diese aufgrund ihres Anwendungsvorrangs vor dem mitgliedstaatlichen Recht gebieten, dass Letzteres unangewendet bleibt, vgl. nur EuGH Urt. v. 4.2.1988 – Rs. 157/86 (Murphy), Slg. 1988, 673 Rn. 11; EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 48 ff.; EuGH Urt. v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 (Association de médiation sociale), EU:C:2014:2 Rn. 41 und 47. Siehe in diesem Zusammenhang zur Wirkmacht des Effektivitätsgrundsatzes jüngst EuGH Urt. v. 11.11.2015 – Rs. C-505/14 (Klausner), EU:C:2015:742 Rn. 45. 105 Vgl. zu diesen drei Funktionen der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts wiederum nur Metzger, Extra legem, intra ius – Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 553; Hartkamp, RabelsZ 75 (2011), 241, 242; Hesselink, in: Leczykiewicz / Weatherill (eds.), The Involvement of EU Law in Private Law Relationships (2013), S. 131, 149. Soweit eine Gesetzesergänzung oder gar -korrektur in Rede steht, kann sich der EuGH bei der Auslegung einer sekundärrechtlichen Norm durchaus über den Wortsinn der Vorschrift hinwegsetzen, wenn dies der hinter der Regelung stehende allgemeine privatrechtliche Rechtsgrundsatz des Unionsrechts – und somit der konkrete Zweck der Regelung – erfordert, vgl. zu einer „weite[n], über den Wortlaut der Bestimmung hinausgehenden Auslegung“ nur EuGH Urt. v. 11.7.1985 – Rs. 107/84 (Kommission /  Deutschland), Slg. 1985, 2655 Rn. 12; Leible / Domröse, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre (2015), § 8 Rn. 36. 106 Siehe erneut oben Kapitel 2 § 3 B III.

§ 1 Einwirkungsachsen im Privatrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten

275

„The principle of freedom of contract has also been recognised as a general principle of European Union law […]. It follows that, absent any EU obligation requiring it to be construed otherwise Regulation 17(2) must be read as leaving the parties with a general freedom to contract in respect of the payment of an indemnity rather than compensation on the termination of the Agreement which must include the freedom to provide for an indemnity in certain circumstances and compensation in others“.107

Zudem kann die unionale Vertragsfreiheit gerade dort zu berücksichtigen sein, wo das Unionsrecht die Unwirksamkeit einer unionsprivatrechtlichen Regelung108 oder die Nicht-Anwendbarkeit einer Norm des mitgliedstaatlichen Privatrechts erzwingt: Weil der fragliche Rechtsakt infolge der Einwirkung des Unionsrechts lückenhaft wird, muss die entstehende Lücke unionsrechtskonform geschlossen werden.109 Im Schuldvertragsrecht kommt dabei dem allgemeinen Rechtsgrundsatz der Vertragsfreiheit besondere Bedeutung zu. II. Ausgleich mit gegenläufigen Prinzipien und der „prima facie-Vorrang des Prinzips der rechtlichen Freiheit“ im Unionsrecht Als weiteres Beispiel für die Einwirkung allgemeiner Grundsätze des Unionsprivatrechts auf das Vertragsrecht mag das Spannungsfeld zwischen der Vertragsfreiheit und den ihr entgegengesetzten Prinzipien dienen: So geht der EuGH in der Rechtssache Barclays davon aus, dass „den Verbraucherschutz und ausgewogene Vertragsverhältnisse betreffenden Grundsätze des Unionsrechts“ existieren.110 Hierbei soll es sich ersichtlich um allgemeine Rechtsgrundsätze des Privatrechts handeln, welche der Klauselrichtlinie zugrunde liegen.111 Mithin kommen diese Grundsätze nur im Anwendungsbereich des Unionsrechts als Rechtsprinzipien zum Tragen, welche mit gegegenläufigen Prinzipien gleichen Ranges abgewogen werden müssen. In diesem Zusammenhang ist bedeutsam, dass in der Unionsrechtsordnung nach ständiger Rechtsprechung „die Vertragsfreiheit die Regel bleiben muß“112 und ihr als Leitprinzip des unionalen Schuldvertragsrechts mithin grundsätzlich Vorrang So mit Blick auf reg. 17(2) Commercial Agents (Council Directive) Regulations 1993, S.I. 1993 No. 3053, Shearman (t/a Charles Shearman Agencies) v Hunter Boot Ltd [2014] EWHC 47 (QB). 108 Vgl. wiederum nur EuGH Urt. v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 (Test-Achats), Slg. 2011, I-773 Rn. 30 ff. 109 Gebauer, in: ders. / Wiedmann (Hrsg.), Zivilrecht unter europäischem Einfluss (2010), Kap. 4. Rn. 15; Leible / Domröse, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre (2015), § 8 Rn. 61. 110 EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-280/13 (Barclays), EU:C:2014:279 Rn. 43 f. 111 EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-280/13 (Barclays), EU:C:2014:279 Rn. 44. 112 EuG Urt. v. 18.9.1992 – Rs. T-24/90 (Automec / Kommission), Slg. 1992, II-2223 Rn. 51. In diesem Sinne bereits EuGH Urt. v. 16.1.1979 – Rs. 151/78 (Sukkerfabriken Nykøbing), Slg. 1979, 1 Rn. 19; EuGH Urt. v. 5.10.1999 – Rs. C-240/97 (Spanien/Kommission), Slg. 1999, I-6571 Rn. 99. 107

276

Kapitel 3 – Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell

vor „den Verbraucherschutz und ausgewogene Vertragsverhältnisse betreffenden Grundsätzen des Unionsrechts“ gebührt. Dennoch wäre zumindest im Verbrauchervertragsrecht eine feststehende Auslegungsregel „im Zweifel für die Vertragsfreiheit“113 ebenso nur von heuristischem Wert wie die teilweise postulierte Maxime „im Zweifel für den Verbraucher“.114 Als Rechtsprinzipien des EU-Privatrechts sind die unionale Vertragsfreiheit und der Verbraucherschutz stets im Einzelfall gegeneinander abzuwägen, wobei sich das überwiegende Prinzip durchsetzt.115 Erst dann kann eine entsprechende Auslegung oder Ergänzung eines unionsprivatrechtlichen Rechtsakts erfolgen. Daher fragen auch der EuGH und seine Generalanwälte konsequenterweise immer danach, welches Rechtsprinzip der konkret zu interpretierenden Vorschrift zugrunde liegt: Beispielsweise wird eine Vorschrift, die – wie etwa Art. 6 Klauselrichtlinie – das Interesse des Konsumenten in den Vordergrund stellt, eher vom Prinzip des Verbraucherschutzes dominiert116 als die Regelung in Art. 4 Abs. 2 derselben Richtlinie, welche der rechtgeschäftlichen Privatautonomie der Parteien bezüglich der – transparenten – Festlegung des Hauptleistungsgegenstandes und des Preis-LeistungsVerhältnisses Vorrang einräumt.117 Entsprechend ist stets eine Differenzierung erforderlich.118 Betrachtet man freilich das unionale Schuldvertragsrecht in seiner Gesamtheit, so liegt zumindest als Ausgangspunkt „[i]n einem von der Vertragsfreiheit beherrschten Vertragsrecht […] jene [als] die beherrschende Auslegungsdirektive für freiheitsbeschränkende Vorschriften“ na113 Vgl. zum Grundsatz „in dubio pro libertate“ als Leitbild des primären wie sekundären Unionsrechts z. B. GA Roemer Schlussanträge v. 21.11.1972 – Rs. 6/72 (Europemballage / Kommission), Slg. 1972, 151, 256 (Wettbewerbsrecht); GA Kokott Schlussanträge v. 13.12.2007 – Rs. C-413/06 P (Bertelsmann), Slg. 2008 I-4951 Rn. 223 (Fusionskontrollverordnung); GA Trstenjak Schlussanträge v. 21.10.2008 – Rs. C-299/07 (VTB-VAB), Slg. 2009 I-2949 Rn. 81; GA Trstenjak Schlussanträge v. 24.3.2010 – Rs. C-540/08 (Mediaprint), Slg. 2010, I-10909 Rn. 74 (Lauterkeitsrichtlinie). 114 Für eine Auslegungsregel „in dubio pro consumatore“ plädierte schon Reich, in: Hadding / Hopt (Hrsg.), Das Neue Verbraucherkreditgesetz (1991), S. 29, 33, 35 f. und 47. 115 Vgl. erneut oben Kapitel 2 § 3 B III. 116 Vgl. im Kontext des Art. 6 Abs. 1 Klauselrichtlinie nur EuGH Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-280/13 (Barclays), EU:C:2014:279 Rn. 43: „Zu den den Verbraucherschutz und ausgewogene Vertragsverhältnisse betreffenden Grundsätzen des Unionsrechts ist festzustellen, dass die Richtlinie 93/13 deren Beachtung dadurch sicherstellen soll, dass in Verbraucherverträgen missbräuchliche Klauseln als Ausdruck einer Unausgewogenheit zwischen den Vertragsparteien beseitigt werden“. 117 GA Wahl Schlussanträge v. 12.2.2014 – Rs. C-26/13 (Kásler), EU:C:2014:85 Rn. 36 postuliert im Kontext des Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie daher, dass bei „individuell ausgehandelte[n] Vertragsklauseln […] die Vertragsfreiheit […] zur vollen Entfaltung gelangt ist“ (Herv. d. Verf.). Wie hier im Ergebnis auch z. B. Dauses / Micklitz / Rott, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts (2015), H. V. Rn. 102 „Die Auslegung des materiellen Verbraucherrechts richtet sich […] nach dem jeweiligen Gegenstand“. 118 Riesenhuber, JZ 2005, 829, 835.

§ 1 Einwirkungsachsen im Privatrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten

277

he.119 Auch diese Direktive beschreibt allerdings wiederum nur den „prima facie-Vorrang des Prinzips der rechtlichen Freiheit“120 und ist damit mehr heuristisches Prinzip denn unverrückbare Regel. Gleiches muss auch gelten, soweit ein allgemeiner unionsprivatrechtlicher Rechtsgrundsatz der Nichtdiskriminierung postuliert wird: So versteht der EuGH in seiner ständigen Rechtsprechung die in den Antidiskriminierungsrichtlinien enthaltenen zivilrechtlichen Diskriminierungsverbote lediglich als Ausdruck eines übergreifenden allgemeinen Grundsatzes.121 Dies lässt sich als Verweis darauf verstehen, dass das Diskriminierungsverbot – ebenso wie die unionale Vertragsfreiheit – nicht nur eine unionsgrundrechtliche Dimension hat, sondern zugleich einen unionsprivatrechtlichen allgemeinen Rechtsgrundsatz darstellt.122 Die Frage, ob überhaupt eine hinreichend breite empirische Basis für die induktive Herleitung eines solchen allgemeinen privatrechtlichen Grundsatzes besteht oder ob ein solcher vielmehr nur im Bereich Antidiskriminierungsrichtlinien angenommen werden kann, sprengt indes den Rahmen der vorliegenden Abhandlung.123 Schmidt-Kessel, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre (2015), § 17 Rn. 41. 120 Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 517. 121 Deutlich etwa EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I365 Rn. 50: „Insoweit ist zum einen zu beachten, dass der Grundsatz der Gleichbehandlung […] in der Richtlinie 2000/78 nicht verankert ist, sondern dort nur konkretisiert wird, und zum anderen, dass das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts ist“. Gleichsinnig z. B. EuGH Urt. v. 12.5.2011 – Rs. C391/09 (Wardyn u. a.), Slg. 2011, I-3787 Rn. 43. Überdies postulierte bereits EuGH Urt. v. 12.12.2002 – Rs. C-442/00 (Caballero), Slg. 2002, I-11915 Rn. 32 einen „allgemeine[n] Grundsatz der Gleichheit und der Nichtdiskriminierung“. 122 In diesem Sinne bereits Schulze, GPR 2005, 56, 58: „[Den] Grundsatz der Nichtdiskriminierung […] hat das Gemeinschaftsrecht mit größerer Tragweite für den privaten Rechtsverkehr ausgebildet als die meisten mitgliedstaatlichen Rechte“. Vgl. auch Rott, JZ 2014, 358, 360. Im Ergebnis ebenso – wenn auch zurückhaltender – Basedow, ZEuP 2008, 230, 244 und 250; Metzger, RabelsZ 75 (2011), 845, 879 f. Dafür, dass hiermit – zumindest auch – ein privatrechtlicher Rechtsgrundsatz gemeint ist, streitet, dass der Grundsatz weder in sachlicher noch in zeitlicher Hinsicht über den Anwendungsbereich der Antidiskriminierungsrichtlinien hinausreichen soll, vgl. nur EuGH Urt. v. 23.9.2008 – Rs. C-427/06 (Bartsch), Slg. 2008, I7245 Rn. 18; EuGH Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 Rn. 24; EuGH Urt. v. 10.5.2011 – Rs. C-147/08 (Römer), Slg. 2011, I-3591 Rn. 61; EuGH Urt. v. 19.4.2016 – Rs. C-441/14 (Dansk Industri), EU:C:2016:278 Rn. 22 ff. 123 EuGH Urt. v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), Slg. 2009, I-9823 Rn. 32 ff. und 52 ff. verneint zumindest die „Existenz eines allgemeinen Grundsatzes der Gleichbehandlung von Minderheitsaktionären“ und sieht auch keine „spezielle Ausprägung des allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes im Bereich des Gesellschaftsrechts“. Zweifel an einem allgemeinen privatrechtlichen Grundsatz der Nichtdiskriminierung äußern z. B. auch Basedow, ZEuP 2008, 230, 244 und 250; Metzger, RabelsZ 75 (2011), 845, 879 f. Befürwortend – wenngleich auch nicht vorrangig auf unionsrechtlicher Ebene argumentierend – Grünberger, Personale Gleichheit (2013), S. 759 ff. 119

278

Kapitel 3 – Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell

Postuliert man einen solchen Grundsatz, hätte er ebenfalls nur den Charakter eines Rechtsprinzips, das bei der Auslegung und Ergänzung des Unionsprivatrechts zu berücksichtigen ist, wenn es nach der gebotenen Abwägung mit gegenläufigen Rechtsprinzipien überwiegt.124 Auch insoweit gilt die allgemeine Aussage des EuGH, dass wann immer „sich mehrere durch die Unionsrechtsordnung geschützte Rechte gegenüber stehen, darauf zu achten [ist], dass die Erfordernisse des Schutzes dieser verschiedenen Rechte miteinander in Einklang gebracht werden müssen und dass ein angemessenes Gleichgewicht zwischen ihnen besteht“.125

Während dabei im Regelfall der Vertragsfreiheit als Leitprinzip des unionalen Schuldvertragsrechts Vorrang gebührt,126 mögen Ausnahmen im Anwendungsbereich der Antidiskrimimierungsrichtlinien bestehen, soweit der Unionsgesetzgeber hier eine eindeutige gesellschaftspolitische Entscheidung zugunsten eines etwaigen Rechtsprinzips der Nichtdiskriminierung getroffen hat.127 Völlig abwägungsfrei sind indes selbst die meisten Bestimmungen der Antidiskrimimierungsrichtlinien nicht ausgestaltet,128 wie etwa der Verweis in Art. 3 Abs. 2 Unisexrichtlinie Unisexrichtlinie 2004/113/EG verdeutlicht: „Für jede Person gilt der Grundsatz der Vertragsfreiheit“.129 Festzuhalten 124 Deutlich etwa Hartkamp, RabelsZ 75 (2011), 241, 256: „Where principles are conflicting in a private law context – as e.g. the principle of non-discrimination and the principle of freedom of contract may in some situations be – the outcome is […] dependent upon […] a weighing process which is conditioned by the circumstances of the case“. Siehe auch Basedow, ZEuP 2008, 230, 244 und 250 („hermeneutisches Prinzip“); Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009), S. 546 („Abwägungsgebote und vermutlich verbindliche Sätze“); ders., RabelsZ 75 (2011), 845, 879 f. („Prinzip der Gleichbehandlung“). Weitergehend wiederum Grünberger, Personale Gleichheit (2013), S. 759 ff. 125 EuGH Urt. v. 31.1.2013 – Rs. C-12/11 (McDonagh), EU:C:2013:43 Rn. 62. 126 Metzger, RabelsZ 75 (2011), 845, 877 ff. und insbesondere 879 f. 127 Wie hier Schulze, GPR 2005, 56, 58: „Derartige einschränkende Bestimmungen sichern zum Teil für einzelne Regelungsgegenstände den Vorrang anderer Prinzipien gegenüber der Vertragsfreiheit“. Gleichsinnig Metzger, RabelsZ 75 (2011), 845, 880. Vgl. zur Bedeutung der Positivierung von Prinzipien in verbindlichen Regeln auch Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 121 („Entscheidungen für Prinzipien“). 128 Vgl. zur Einwirkungsmöglichkeit von Prinzipien bei abwägungsoffenen Regeln wiederum Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 121. 129 Insbesondere könnten auch gegenüber einem allgemeinen Rechtsprinzip der Nichtdiskriminierung alle Rechtfertigungsgründe der Antidiskriminierungsrichtlinie in Stellung gebracht werden, in diesem Sinne etwa BGH Urt. v. 9.3.2016 – Az. IV ZR 168/15, NZARR 2016, 315, 318: „Ist – wie hier – eine ungleiche Behandlung nach den Kriterien des Art. 6 Abs. 1 der RL 2000/78/EG gerechtfertigt, verstößt sie auch nicht gegen andere gemeinschaftsrechtliche Diskriminierungsverbote“. Der BGH nimmt dabei insbesondere auch auf Diskriminierungsverbote „aus allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts“ Bezug. Demgegenüber sollen „die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes“ laut EuGH Urt. v. 19.4.2016 – Rs. C-441/14 (Dansk Industri), EU:C:2016:278

§ 1 Einwirkungsachsen im Privatrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten

279

bleibt, dass die unionale Vertragsfreiheit als privatrechtlicher Rechtsgrundsatz gerade als Gegengewicht zu den potenziell freiheitsbegrenzenden Prinzipien dienen kann, welche der EuGH in wachsender Zahl in das Unionsprivatrecht hineinträgt. C. Multidimensionalität der Privatrechtswirkungen Wie gezeigt, kann die Vertragsfreiheit als Unionsgrundrecht und als allgemeiner privatrechtlicher Rechtsgrundsatz tief in das unionale und in das mitgliedstaatliche Vertragsrecht hineinwirken. Doch welche Funktionen erfüllen diese beiden Erscheinungsformen der unionalen Vertragsfreiheit und in welchem Verhältnis stehen sie zueinander (I)? Darüber hinaus ist zu fragen, inwieweit die Vertragsfreiheit in bestimmten Konstellationen mit der durch die Grundfreiheiten des Binnenmarktes geschützten „grenzüberschreitenden Privatautonomie“ interagiert (II). I.

Privatrechtlicher Rechtsgrundsatz und Unionsgrundrecht

Weshalb bedarf die Unionsrechtsordnung zur Ausdifferenzierung und Systematisierung ihres Schuldvertragsrechts gleich einer doppelten Verbürgung der Vertragsfreiheit in Gestalt eines prinzipienförmigen allgemeinen Rechtsgrundsatzes einerseits und in Form eines Unionsgrundrechts andererseits? Die Antwort liefert die jeweilige normhierarchische Stellung und die unterschiedliche Wirkungsweise dieser beiden Erscheinungsformen der Vertragsfreiheit. Zunächst bedeutet keineswegs jede Auslegung oder Anwendung einer zivilrechtlichen Norm, welche dem privatrechtlichen Rechtsprinzip der Vertragsfreiheit nicht hinreichend Rechnung trägt, automatisch eine Verletzung des korrespondierenden Unionsgrundrechts. Letzteres ist vielmehr nur ausnahmsweise dann der Fall, wenn das Grundrecht der Vertragsfreiheit in unverhältnismäßiger Weise ungerechtfertigt verkürzt wird.130 Häufig werden aber verschiedene Lesarten einer privatrechtlichen Norm einer grundrechtlichen Überprüfung standhalten können, solange sie sich nur in dem breiten unionsgrundrechtlichen „Korridor“ vertretbarer Auslegungsvarianten bewegen. So besehen liegt also die Schwelle, ab der von der Warte der Unionsgrundrechte eine konkrete vertragsfreiheitsbetonte Lesart oder gar eine – richterliche oder legislative – Intervention zur Sicherung der Vertragsfreiheit geboten ist, potenziell höher. Rn. 22 und 38 ff. keinen Vorrang vor dem Verbot der Altersdiskriminierung als „allgemeinem Grundsatz des Unionsrechts“ haben können. Eine Abwägung im Lichte der Freiheitsrechte und unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes befürwortet hingegen zu Recht auch Grünberger, Personale Gleichheit (2013), S. 780 ff., 804 ff., 835 ff., 931 ff. und 1000 ff. 130 Vgl. zu solchen Fallgestaltungen noch eingehend unten Kapitel 7 § 1 A I sowie Kapitel 7 § 2 B und C.

280

Kapitel 3 – Privatrechtswirkungen und Funktionsmodell

Demgegenüber ermöglicht der allgemeine privatrechtliche Rechtsgrundsatz der Vertragsfreiheit auch unterhalb dies