Versuch über den Schwindel 9783787334483, 9783787334476

Er war der erste, dem Immanuel Kant von seinem Plan erzählte, die Grenzen der Sinnlichkeit und der Vernunft zu beschreib

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Versuch über den Schwindel
 9783787334483, 9783787334476

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Philosophische Bibliothek

Marcus Herz Versuch über den Schwindel

Meiner

MARCUS HERZ

Versuch über den Schwindel

Mit den Ergänzungen von 1797 und 1798, Einleitung, Werkverzeichnis und Anmerkungen herausgegeben von

Bettina Stangneth

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 711

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN  9 78-3-7873-3447-6 ISBN eBook  9 78-3-7873-3448-3

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2019. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: post scriptum, Vogtsburg-Burkheim  /  Hüfingen. Druck: Strauss, Mörlenbach. Bindung: Litges & Dopf, Heppenheim. Gedruckt auf alte­rungs­beständigem Werkdruck­pa­pier, hergestellt aus 100  % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

I N H A LT

Der Arzt der Philosophen von Bettina Stangneth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Textgestalt und Material . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . LXXI Schriftenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . LXXIV

MARCUS HERZ

Versuch über den Schwindel Vorbericht zur zweiten Auflage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Erstes Hauptstück. Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erster Abschnitt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweiter Abschnitt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dritter Abschnitt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vierter Abschnitt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fünfter Abschnitt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sechster Abschnitt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siebenter Abschnitt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Achter Abschnitt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neunter Abschnitt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



11 29 33 36 42 45 54 58 69 75

Zweites Hauptstück. Erster Abschnitt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Zweiter Abschnitt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Dritter Abschnitt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102

VI

Inhalt

Vierter Abschnitt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fünfter Abschnitt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sechster Abschnitt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siebenter Abschnitt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Achter Abschnitt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

112 117 142 147 153

Drittes Hauptstück. Erster Abschnitt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweiter Abschnitt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dritter Abschnitt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vierter Abschnitt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fünfter Abschnitt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

157 172 176 180 185

Viertes Hauptstück. Erster Abschnitt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Zweiter Abschnitt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Dritter Abschnitt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227

Anhang Über den falschen Schwindel (1797) . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Etwas über Raum und Zeit, als Momente der Assoziation (1798) . . . . . . . . . . . . . . . . . 265

Anmerkungen der Herausgeberin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292

DER ARZT DER PHILOSOPHEN

Forschen, nicht erforschen ist des Menschen Bestimmung. Marcus Herz, 1787.1

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s war sein Lieblingsbuch. Keines seiner vielen Werke sei dem Philosophen und Mediziner so wichtig gewesen wie der Versuch über den Schwindel, heißt es im Nachruf, der 1805 im Nekrolog der Teutschen erscheint. So merkwürdig ist der Verstorbene, dass seine Portrait-Zeichnung mit schönster Selbstverständlichkeit dem Band vorweg gesetzt ist. Aber vielleicht unterstreicht nichts die Bedeutung dieses Denkers für das Gelehrte Deutschland so eindrücklich wie die auch nach seinem Tod munter betriebenen Versuche, seinen Ruf möglichst gründlich zu beschädigen. Gibt es eine größere Anerkennung, als wenn sogar die Kirchenmänner sich nicht anders zu helfen wissen, als jemanden aus der Geschichte zu lügen? Marcus Herz ist erst zwei Jahre tot, da sehen seine Freunde keine andere Möglichkeit mehr, als in der berühmten Neuen Berlinischen Monatsschrift zur öffentlichen Ehrenrettung und gegen die »lächerliche Unwahrheit« anzutreten. Genützt hat es nichts, auch dieser Jude wird vergessen. Vom berühmten Arzt, vom innovativen Mediziner, vom großen Psychologen, vom einflussreichen Lehrer, vom originellen Philosophen und einem der interessantesten Denker seiner Zeit blieb nicht viel mehr als ein Name in der Korrespondenz Immanuel Kants. Wenn doch einmal ausdrücklich von ihm die Rede ist, dann hat er beispielhaft zu sein; kein lebendiges Denken, ein Leben nur insoweit es typisch genug erscheint, um als Illustration von Nutzen zu sein. Man weiß nicht, was verdrießlicher ist: Der offensichtliche Krampf im Umgang mit 1 Albumblatt. Datiert 1787. Heinrich-Heine-Institut HHI.94.5036.18. Digitalisat: http://www.duesseldorf.de/dkult/DE-MUS-037814/133345

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Der Arzt der Philosophen

jüdischer Biographik oder der Mangel an Furcht, sich damit selber entscheidende Denkwege zu verschließen. Marcus Herz gehörte zur ersten Generation deutscher Juden, die sich Hoffnung darauf machten, irgendwann einmal ganz als Mensch zu gelten, der also auch für Menschen wirkt und spricht und schreibt, weil Wissenschaft doch das ist, was für alle Menschen gilt oder für niemanden. Und Philosophie ist Wissenschaft. Nach mehr als zweihundert Jahren sollte der Versuch erlaubt sein, sich einfach nur für das Leben eines Philosophen zu interessieren und die Schriften von Marcus Herz so zu lesen, als wäre man der Leser, für den er gern geschrieben hätte. »Von Wein war nie die Rede …«2 Mordechai ben Hirz Levi wird am 17. Januar 1747 in Berlin geboren. Der Vater Bendix Levi aus Halberstadt ist Thoraschreiber, die Mutter Hendel stammt aus einer Diener-Familie und auch ihr Sohn wäre nicht aus den einfachen Verhältnissen herausgekommen, wenn sich nicht Förderer gefunden hätten, denen der begabte Junge aus armem Haus auffiel. Er besucht das Ephraimische Institut, eine jüdische Schule, auf deren Lehrplan talmudische Bildung steht – nur talmudische Bildung. »Ich wußte von keiner Sprache«, schreibt er später auf, »konnte meine mütterliche wie ein Judenknabe von damaliger Erziehung und hatte selbst von dem Namen keiner Wissenschaft eine Vorstellung.« Der Junge leidet fürchterlich unter der Krätze und noch mehr 2  Manuskript mit der Beschreibung Ein Stück Selbstbiographie und Krankheitsgeschichte. Unvollendet, aus den letzten Wochen seines Lebens, 1802–1803. 8 Seiten. – Das 1899 für die Lessingsche Bücher- und Handschriftensamm­ lung erworbene Schriftstück ist heute nur mehr in einer Teil-Abschrift zugänglich. Zusammen mit weiteren kleinen Schriftaufzügen zu finden in: Lessings Bücher- und Handschriftensammlung. Berlin 1914–16, Zweiter Band, S. 100  f. Dieses und die folgenden beiden Zitate: S. 101. (Die Original­blätter waren zu Beginn des Nationalsozialismus noch im Besitz der Berliner Staatsbibliothek. Über ihren späteren Verbleib ist nichts bekannt.)

Erst 1774 ist von Armut keine Rede mehr: der junge Herz mit Doktortitel, Perücke und pelzbesetztem Kragen. Nach einer Zeichnung von Johann Christoph Frisch, veröffentlicht erst 1789 im Almanach für Ärzte und Nichtärzte.

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Der Arzt der Philosophen

unter der Quacksalberei, mit der man ihn traktiert, beobachtet aber gleichzeitig schon mit Faszination, dass mit dem Schulabschluss auch sofort die Hautkrankheit verschwindet. Er ist noch nicht einmal sechzehn Jahre alt, als man ihn aus Berlin fortschickt, um eine kaufmännische Lehre anzutreten: Marcus Herz soll in Königsberg lernen, und sein Werdegang lässt vermuten, dass seine Förderer schon früh an ein Studium gedacht haben. Seine Ausbildung endet 1764, und abermals fällt Herz das Zusammentreffen von Krankheit und Lebenssituation auf: »In meinem siebenzehnten Jahr gerade in der letzten Woche meines Kaufmannsstandes ward ich in Königsberg an einem leichten Flußfieber mit schlimmem Hals krank, ich mußte doch nur wenige Tage das Bette hüten, und ward besser.« Jetzt darf Herz sich allein weiterbilden, also Deutsch und Latein lernen, und erweist sich als geradezu selbstzerstörerisch fleißiger Auto­ didakt, der es in beeindruckend kurzer Zeit zur Studientauglichkeit3 bringt. Anfang der Sechzigerjahre war seine Chance auf Bildung nirgendwo höher als in Königsberg. Zwar ist es richtig zu betonen, dass die Universität Albertina sich erst 1731 und damit als letzte preußische Universität dazu durchgerungen hat, überhaupt Juden zum Studium zuzulassen, doch hat sich das Königsberg Anfang der Siebzigerjahre gravierend verändert. Die Stadt ist anders als der Rest von Preußen, so anders, dass der König Friedrich II. sie offenbar nicht mehr betreten mag. Die Geschichte wird auffällig selten erzählt, aber Königsberg konnte sich darum zum attraktiven Ort mit mondänem Charme entwickeln, weil die Stadt von 1758 bis Sommer 1762 unter russischem Mandat stand. Friedrich hatte die Stadt in Folge seines großen militärischen Ungeschicks im Siebenjährigen Krieg an das Zarenreich verloren, und zur Überraschung aller profitierten davon die Besetzten. Auch die zunächst geflüchtete ade3  Auch in Königsberg mussten Studenten ein Studium Generale bestehen, in diesem Fall die Humaniora, nämlich neuere Sprachen, Philosophie und Mathematik. Hans-Jürgen Krüger, Die Judenschaft von Königsberg in Preußen 1700–1812. Marburg 1966. S. 60.

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lige Bevölkerung kam gern zurück, als offensichtlich wurde, dass die russischen Besatzer keineswegs brutal oder sonstwie idealtypisch wüteten, sondern im Gegenteil pragmatisch regierten und mit dem Geld auch die Kultur nach Königsberg zogen. Es war denn auch nicht die vermeintliche Toleranz von Friedrich  II., die den Juden Erleichterung brachte. Keiner der russischen Gouverneure fühlte sich dem preußischen Judenreglement verpflichtet oder wäre auch nur auf die Idee gekommen, die Judenstatistik zu pflegen. Stattdessen nutzte man das, was jüdische Händler zu bieten hatten, und das war nicht nur die langjährige Erfahrung im Handel mit Polen, Litauen und Russland, sondern der Zugang zu Luxusgütern, also auch zu all dem, was eine aufblühende Stadtbevölkerung und ihre sie umwerbenden Besatzer dringend benötigten. Baron Nikolai Andrejewitsch Korff, von 1758 bis 1760 der zweite russische Generalgouverneur von Ostpreußen, war »mit großem Pomp und einem gewaltigen Gefolge« in Königsberg eingezogen. So erzählt es jedenfalls sein Dolmetscher Andrej Bolotow4. Korff war unfassbar vermögend, zelebrierte das verschwenderische Leben und überrollte die Königsberger mit einer protzigen Großzügigkeit. Allein die ständigen Empfänge und Gesellschaften, das eigens geförderte Theater- und Konzertangebot, für die Stars sogar noch aus Berlin eingeladen wurden, müssen eine beachtliche Nachfrage bei Tuch- und Schmuckhändlern ausgelöst haben. Zu den besonders geschickten Maßnahmen des Gouverneurs, bei den Königsbergern Eindruck zu machen, gehörte die Öffnung des Kulturangebots für alle Bürger, ganz ohne Ansehen von Adelsnachweis oder Position, vor allem aber kostenlos. Auch Immanuel Kant, der nur ein kleiner Magister war, also keineswegs schon zu den akademischen Honoratioren zählte, kam so zu seinen ersten gesellschaftlichen Vergnügungen und machte sich innerhalb kürzester Zeit einen Namen als brillanter Unterhalter mit 4  Leben und Abenteuer des Andrej Bolotow von ihm selbst für seine Nachkommen aufgeschrieben. 1738–1795. Auswahlausgabe in der Übersetzung von Marianne Schilow. Leipzig 1989. Kapitel S. 294.

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Der Arzt der Philosophen

einem exquisiten Modegeschmack, um den ihn sogar die feinsten Damen beneideten. Die russischen Besatzer brachten ihm außerdem ein zusätzliches Einkommen. Sie respek­tierten nicht nur den Universitätsbetrieb, sondern wünschten sich auch Weiterbildung für die Offiziere. »Kant«, so hat es sein russischer Biograph Arsenij Gulyga recherchiert, »las wirklich auch Fortifikationslehre und Pyrotechnik.«5 Es ging eben nicht mehr anständig preußisch zu, sondern man pflegte bei jeder Gelegenheit den Austausch der Kulturen, was bekanntlich für die Wirtschaft immer die schönsten Folgen hat. Lange bevor Kant seine Philosophie an der Idee des Weltbürgertums ausrichtete, hatte er dessen Vorzüge hautnah erlebt. Friedrich II. verzieh es den Königsbergern nie, dass sie sich unter der russischen Zarin so schnell eingerichtet hatten, so wie er Elisabeth auch erst zu loben weiß, als sie ihm den Gefallen tut, genau im richtigen Moment zu sterben, nämlich bevor Preußen vor aller Welt seinen Bankrott erklären muss. Zu seinem Glück ist der Nachfolger Elisabeths ein Verehrer des Preußenkönigs. Zar Peter rettet Friedrich II. nach einigem Hin und Her das Gesicht, und vielleicht lag es an den Nachrichten, dass die Königsberger in den Monaten nach Elisabeths Tod je nach Stand der Verhandlungen so oft ganz freiwillig hin- und herflaggten. Friedrich II. bekam seine Stadt von den Russen gnadenhalber schließlich zurück, kam aber nie mehr vorbei. Auch der sehr günstige Friedensvertrag konnte das Desaster kaum verdecken: Ein verlorener Krieg, eine zerschlagene Armee, leere Staatskassen – nur den Königsbergern ging es nach wie vor prächtig. Und es werden mehr, denn mit dem Wiederanschluss an Preußen bietet Königsberg beste Lebens- und Aufstiegsbedingungen für alle Zuziehenden. 5  Arsenij Gulyga, Immanuel Kant. Aus dem Russischen übertragen von Sigrun Bielfeldt. Frankfurt a. M. 1985. S. 51. – Gulygas Kant-Biographie gehört immer noch zu den unverzichtbaren, denn obwohl Manfred Kühns grandiose Kant-Biographie von 2003 der Person Kants näher kommt, erweitert Gulyga den Blick um Kants gar nicht zu überschätzende Wirkung in Russland.

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Auch die Königsberger Juden waren reicher, vor allem aber selbstbewusster geworden und nicht gewillt, die hart erarbeiteten Freiheiten widerstandslos abzugeben. Friedrich, klammer als je zuvor, war auf den Handelsplatz Königsberg viel zu dringend angewiesen, als dass er die Zeit einfach hätte zurückdrehen können. War es den Juden noch in den Fünfzigerjahren verboten gewesen, mit polnischen und russischen Waren in Preußen zu handeln, hätte der preußische Staat durch die Wiedereinführung derartiger Handelsbeschränkungen in Königsberg nur den eigenen, dringend notwendigen Wirtschaftsaufschwung gefährdet. Finanzsorgen wogen schwerer als Friedrichs Façon. Mochten Verwaltung und die Königsberger Christen noch so murren: Als »Ew. Königl. Majestaet allerunterthänigster Schutzjude Joachim Moses Friedländer«6 sich mit der unerhörten Bitte an den Wiederkönig wendet, ihm und seinen fünf Kindern das Generalprivileg zu gewähren, sich außerdem ein Haus kaufen zu dürfen und ausdrücklich die Gleichstellung mit den christlichen Händlern fordert, wird seiner Bitte mit nur wenigen Einschränkungen entsprochen – gegen die Entrichtung von eintausend Dukaten an die Königliche Chargen-Kasse. Sein Generalprivileg vom 23. Februar 1764 enthält außerdem die deutliche Anweisung der Behörden, die Familie nicht in der Ausübung ihrer Religion zu stören. Nur für das Recht, »über Scheffel und Waage« zu handeln, also von Fremden zu kaufen und an Fremde zu verkaufen, musste er noch über zehn Jahre weiterstreiten. 1765 aber kann Friedländer ein Gebäude mitten in der Stadt erwerben, genau gegenüber dem Rathaus. Für einen Moment jedenfalls schien es, als wären die Juden in der Mitte des gesellschaftlichen Lebens angekommen. Von den Folgen der russischen Jahre profitieren nicht nur die alteingesessenen »Schutzjuden«, sondern 6  Julius H. Schoeps, David Friedländer, Freund und Schüler Moses Mendelssohns. Hildesheim 2012, der einiges zur Familiengeschichte der Friedländers zusammengetragen hat, auch wenn ihm der Zusammenhang mit der russischen Periode Königsbergs entgangen ist und es zur Verbindung zwischen Marcus Herz und dem Haus Friedländer mehr zu sagen gäbe.

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auch alle, die nach Königsberg strebten, um vom Personalbedarf der wachsenden Unternehmen zu profitieren. Genau deshalb zog auch Marcus Herz nach Königsberg. Er kommt bei Friedländer unter, erhält sogar wie die eigenen Kinder Klavierunterricht und darf schließlich mit einem von Friedländers Söhnen Kants Vorlesungen besuchen. David Friedländer wird einer seiner besten Freunde und Unterstützer, auch wenn er stets betont, dass es sich dabei nur um eine Rückzahlung handele, weil er Herz »vorzüglich seine Bildung schuldig sei«.7 Marcus Herz wird sein ganzes Leben von den sechs Jahren schwärmen, in denen aus einem siebzehnjährigen Judenjungen ohne alle Bildung der allseits bestaunte und eifersüchtig beneidete Mann wurde, den Immanuel Kant vor aller Augen an seiner Seite haben wollte, als er am 21. August 1770 die letzte Hürde zum Professorentitel nahm, den Skandal nicht fürchtend, oder genau deswegen. Wir wissen nicht, wann genau beide einander zum ersten Mal begegnet sind, aber es lässt sich leicht vermuten, jedenfalls wenn man sich ihr Leben anschaut: Beide hatten wenig Geld, beide liebten Bücher, Kant arbeitete als Bibliothekar der Schlossbibliothek, und der Zugang zur Bibliothek und vor allem zur Kanterschen Buchhandlung war nicht beschränkt. Mit Kant habe er das Weintrinken gelernt, wird Herz später nicht ohne Stolz sagen. »Meine Bekanntschaft mit meinem großen Lehrer Kant und dessen Empfehlungen brachten mir eine etwas bessere Diaet zu Wege, die doch eigentlich nur darin bestand daß ich einige mal wöchentlich ein Paar Gläser Weines zu trinken bekam, ein Getränke das ich in der Tat bis dahin kaum der Erfahrung nach kannte, denn meine ganze körperliche Erziehung war eine ärmliche, von Wein war nie die Rede.«8 Aber Kant empfiehlt nicht nur diese Diät.

7  So zitiert im Nachruf. Friedrich von Schlichtegroll in: ders., Nekrolog der Deutschen. Gotha 1805, 3. S. 27–56. Hier S. 33. 8  Ein Stück Selbstbiographie und Krankheitsgeschichte. Unvollendet, aus den letzten Wochen seines Lebens, 1802–1803. 8 Seiten. S. o. Seite 101.

Die erste Auflage kommt im Kleinformat (10 × 16 cm) heraus.

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Wer heute an Kant denkt9, stellt sich den alten gebeugten Mann vor, nach dem die Königsberger ihre Uhr stellen. Den Mann, der die Kritiken geschrieben hat und durch Strenge unnahbar ist. Der Kant der Sechzigerjahre jedoch war noch längst nicht der Ausbund an Pünktlichkeit und Disziplin und schon gar kein ordentlicher Professor, sondern ein Paradiesvogel in bunten Gewändern mit einer Vorliebe für Goldborten und nächtelange Geselligkeit mit reichlich geistigen Getränken, der sich noch in seinen Vorlesungen amüsiert darüber wundern kann, dass der Mensch auch in bedenklich schwankendem Zustand den Weg nach Hause zu finden vermag. Meistens.10 In dieser Zeit begründet Kant seinen Ruf als eleganter Schriftsteller und fängt sich den Rüffel des großen Moses Mendelssohn ein, der Kants Denken zwar schätzt, aber den Ton der Träume eines Geistersehers dann doch zu frivol findet.11 Kants bester Freund ist ein Engländer, Joseph Green, ein überaus pünktlicher und offenbar auch pedantischer Mann, der Kant hinter seiner Kutsche her rennen lässt, wenn der mal wieder zu einer Verabredung zu spät aus dem Haus kommt. Nicht zufällig begeistert sich Kant in dieser Zeit für englische Philosophen, für David Hume und John Locke, und ist süchtig nach Zeitungen und Reiseberichten und überhaupt neugierig auf alles. Kants Begabung zur selbstverständlichen Großzügigkeit hat viele seiner Mitmenschen tief beeindruckt. Für Marcus Herz wurde sie zur Eintrittskarte in eine Welt, die den meisten Juden trotz allem noch verschlossen war: Kant nahm seinen 23 Jahre jüngeren Freund mit in die illustre Welt der Schriftsteller und Philosophen. Und er lässt ihn in seine Vorlesungen, obwohl Juden sich grundsätzlich nur für  9  Das schönste Portrait Kants stammt von Martin Kühn: Kant. Eine Biographie. Aus dem Englischen übersetzt von Martin Pfeiffer. München 2003. 10  Noch in seiner Schrift zu Moses Mendelssohn Was heißt: Sich im Denken orientieren? berichtet Kant vom Nachhausefinden in tiefster Nacht. 11  Kant an Mendelssohn, 8. April 1766. Brief 39. – Briefe aus der Korrespondenz Kants werden durch die Briefnummern der Akademie-Ausgabe nachgewiesen: Kant’s Gesammelte Schriften, herausgegeben von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900  ff.

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Medizin einschreiben durften.12 Ab April 1766 ist Herz ordentlicher Student am Fachbereich Medizin, natürlich zu den für Juden üblichen Zusatzgebühren, die das Haus Friedländer für die eigenen Söhne zahlen muss und offenbar auch für den mittellosen Herz übernimmt.13 Gemeinsam lesen, diskutieren und scherzen, denken und trinken – es motivierte Marcus Herz zu einem schier unvorstellbaren Lernpensum: Vom akademischen Analphabeten ohne Deutsch- und Lateinkenntnisse zum öffentlichen Verteidiger der Inauguraldissertation des größten Philosophen in nicht einmal sechs Jahren! In dieser Zeit macht Herz nicht zufällig auch die Bekanntschaft einer Begleiterin der unangenehmen Art, die ihn ebenso wenig verlassen wird wie seine Liebe zur Philosophie: Bis zu seinem Lebensende wird die Migräne ihn mit der Unerbittlichkeit einer Geldeintreiberin immer wieder plagen. Es ist Kant, der dem Freund rät, ernsthaft die medizinische Laufbahn einzuschlagen und Arzt zu werden. Er selbst hatte sich 1764 an den »Krankheiten des Kopfes« versucht. Vor allem weiß er, wie beschränkt die Möglichkeiten für Juden sind. Und Kant ist Realist, auch wenn er dagegen anrennt. In den kommenden Jahren scheitert er oft genug dabei, an der Universität jüdische Lehrkräfte durchzusetzen.14 Er wird es auch gewesen sein, der Marcus Herz schon Ende der Sechzigerjahre als ­Autor an Johann Jacob Kanter empfiehlt, der nicht nur eine Zeitlang Kants Vermieter war und die berühmte Buchhand12  Kant gehörte zu den ersten Universitätslehrern, die seine Veranstaltung für Juden öffneten und das auch aus Überzeugung taten. Vgl. Bettina Stangneth, Antisemitische und antijudaistische Motive bei Immanuel Kant? Quellen, Tatsachen, Gründe. Preisschrift. Abgedruckt in: Gronke, Horst; Meyer, Thomas; Neißer, Barbara (Hrsg.): Antisemitismus bei Kant und anderen Denkern der Aufklärung. Würzburg 2001. S. 11–124. 13  Im Nachruf werden sowohl »Freunde und Wohltäter« im Allgemeinen als auch ausdrücklich die Familie Friedländer genannt. Da Juden der Aufenthalt in Königsberg überhaupt nur genehmigt war, wenn sich sogenannte »Schutzjuden« für sie verbürgten, war diese Solidarität auch kein Einzelfall. 14  Zu den Hintergründen Stangneth (2001), s. o.

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lung in Königsberg führt, in der sich Gelehrte die Bände in die Hand geben. Der rührige Kanter gibt auch eine Wochenzeitung heraus, von der heute nur noch bedauerlich wenige Ausgaben aufzufinden sind. Wir wissen aber, dass Herz zumindest eine ­Rezension über die Briefe an eine deutsche Prinzessin, das popu­ lärste Buch des Schweizer Mathematikers Leonard Euler, für die Königs­berger Gelehrte und Politische Zeitung verfassen durfte, weil niemand anderem als Moses Mendelssohn diese Buchbesprechung angenehm auffiel.15 Wie es Kant aber gelungen ist, gegen alle Gepflogenheiten Marcus Herz als Respondenten bei seiner letzten Prüfung vor dem akademischen Senat zu bekommen, obwohl Juden in Königsberg nicht einmal promovieren durften, wissen wir nicht. Überliefert ist nur die lautstarke Empörung der konservativen Vertreter des Lehrpersonals und ihre Erleichterung, »daß der Jude wenigstens an dem Professorenschmaus keinen Theil nehmen könne«16. Marcus Herz hatte an der Albertina alles erreicht, was er nur erreichen konnte. Er verlässt nach Kants Prüfung Königsberg, während alle noch staunen, »wie sehr (…) dieser Schüler von dem großen Lehrer ausgezeichnet wurde, und wie lieb er ihm war«17. Kant und Herz werden nie wieder Gelegenheit für persönliche Gespräche finden, aber sie schreiben einander Briefe.18 Es gibt sogar eine Zeit, in der Immanuel Kant, der doch so ungern Briefe schreibt, gar 15  Genaue Angaben aller Veröffentlichungen von Marcus Herz finden sich zur besseren Lesbarkeit und zur Entlastung der Fußnoten im Schriftenverzeichnis am Ende der Einleitung. 16  David Friedländer, Kant und Herz. An Hrn. Bibliothekar Biester. In: Neue Berlinische Monatsschrift 13, 1805, S. 149–153. 17 Ebd. 18  Im Brief, den Kant am 20. August 1777, dem Tag der Abreise von Mendelssohn aus Königsberg, an Marcus Herz schreibt, ist zwar davon die Rede, dass Marcus Herz ebenfalls in Königsberg war, aber aus Kants ausführlicher Schilderung seiner Begegnung mit Mendelssohn, seines eigenen Gesundheitszustands, ja, sogar seiner Erscheinung, und dem Kurzbericht über die Entwicklung seines Denkens seit dem Wegzug von Herz geht hervor, dass beide nicht viel Zeit miteinander verbracht haben können. Siehe unten.

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nichts anderes schreibt als die langen Briefe an Marcus Herz. In ihnen entwickelt er nicht nur zum ersten Mal den Grundgedanken einer notwendigen Kritik der Vernunft, sondern findet auch Worte einer Zartheit, die jedem von einer besonderen Nähe erzählt, der nicht nur nach dem sogenannten »Schweigenden Kant« sucht. Herz, der seine Briefe mit Blick auf das Kant-Portrait schreibt, das seit 1771 über seinem Schreibtisch hängt19, antwortet nicht weniger zugeneigt. Auch wenn mit den Jahren die Briefe spärlicher werden, weil Kant nun einmal schreibfaul ist, hören sie nicht auf, sich immerhin Freunde zu schicken, um voneinander zu hören. Prädikat: ohne Vorbild Als Marcus Herz 1770 nach Berlin zurückkehrt, reist er mit ­einem Bündel von Empfehlungsschreiben.20 Kant schickt ihn mit seiner Dissertation und einem für Herz sehr schmeichelhaften Brief an Carl Joseph Maximilian Freiherrn von Fürst und Kupferberg, den königlich preußischen Großkanzler, der in diesem Jahr die Zuständigkeit für eine Justizreform in Preußen übernahm. Außerdem empfiehlt Kant seinen Freund dem Wolffianer Johann Georg Sulzer, dem Mathematiker und Philosophen Johann Heinrich Lambert und dem berühmtesten jüdischen Gelehrten überhaupt. Als Herz sich bei Moses Mendelssohn vorstellt, hat auch der Freude an dem aufgeweckten Kopf und wird erst zu seinem Mentor, dann zum Denkpartner und Freund und schließlich zu seinem Patienten. Vollkom19  Herz an Kant, 9. Juli 1771. Brief 68. Das Portrait war ein Geschenk von Kant und David Friedländer. Friedländer bringt es Herz mit, als er ein Jahr nach Herz ebenfalls von Königsberg nach Berlin zieht. Man vermutet, dass es das Kant-Portrait resp. eine Kopie des Ölgemäldes von Johann Gottlieb Becker aus dem Jahr 1768 war, das heute im Schiller-Nationalmuseum in Marbach zu sehen ist. 20  Heute zugänglich in den Korrespondenz-Bänden der Akademie-Ausgabe. Briefe 56, 57 und indirekt 61, 62 und 63.

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men überwältigt berichtet Herz nach seiner ersten Begegnung mit Mendelssohn an Kant, »ich wünsche, daß ich wirklich das wäre, wofür er mich hält«.21 Wie von Kant empfohlen, schreibt Herz sich gleich wieder für das Medizinstudium ein, beginnt aber auch seine Laufbahn als Schriftsteller. Seine Replik auf Kants Prüfungsarbeit Betrachtungen aus der spekulativen Weltweisheit erscheint 1771 in Königsberg und macht nicht nur Kant Freude, sondern, wie Herz bescheiden vermerkt, »keinen geringen Eindruck unter Philosophen«22. Da Kants eigene Dissertation nur auf Latein und in winziger Auflage erscheint, wird Kant tatsächlich sogar meist nur nach Herz zitiert. Im Jahr darauf veröffentlicht Herz ein Theaterstück über den alltäglichen Antijudaismus auf den Berliner Bühnen. Aber Mendelssohn bremst und gibt ihm ein weiteres Manuskript – die heute wie alle Manuskripte verschollenen Philosophischen Gespräche – mit der Aufforderung zurück, Besseres zu leisten. Wie viel der große Gelehrte vom damals vierundzwanzigjährigen Herz erwartet, lässt sich aus der Widmung erahnen, die er ihm in die Neuauflage seiner eigenen Philosophischen Schriften von 1771 schrieb: »Seinem Freund Marcus Herz, empfiehlt folgende Aufsätze zu ferneren Ausführung, deren er selbst wohl auf Erden nicht mehr fähig sein wird, der Verf.[asser].«23 Niemand konnte im Zweifel darüber sein, dass es Mendelssohn mit der Suche nach einem Erben ernst war: Eine rätselhafte Krankheit hatte ihn völlig aus der Bahn geworfen. Besucher erlebten Mendelssohn bettlägerig und mit kahlgeschorenem Kopf – eine Maßnahme, um die hilflose Therapie, nämlich kalte Umschläge, zu erleichtern. In einem Brief an den Orientalisten Johann David Michaelis vom 10. April 1771 beschreibt Mendelssohn, wie es um ihn steht: »Ich wurde allsofort von einem Schwindel überfallen, der nicht ohne Gefahr gewesen, so 21  Herz an Kant, 11. September 1770. Brief 58. 22  Ein Stück Selbstbiographie und Krankheitsgeschichte. Unvollendet, aus den letzten Wochen seines Lebens, 1802–1803. 8 Seiten. 23  David Friedländer, Kant und Herz. (1805) S. o.

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oft ich nur eine Seite zu lesen oder zu schreiben mich unterstund.«24 Der gesellige Gastgeber ist wortwörtlich nicht im Stande, weiterhin Gäste zu empfangen, sinnvolle Gespräche zu führen oder klar zu denken. Der Kaufmann, der Philosoph, der berühmte Schriftsteller – er kann nicht mehr arbeiten. Dabei steigen die Arztrechnungen bedrohlich.25 Berlin mit seinen etwa 140 000 Einwohnern muss mit 36 Medizinern und drei jüdischen Ärzten auskommen. Die Würde, mit der Mendelssohn diesen erbärmlichen Zustand jahrelang erträgt, beeindruckt jeden, sein Freund Friedrich Nicolai nennt es eine »philosophische Entäußerung«26. Aber das seltsame Leiden, zu dem keinem der Ärzte wirklich etwas einfällt, beeindruckt niemanden so nachhaltig wie Marcus Herz. Während sie an Mendelssohn herumdoktern, betreibt Herz mit der bewährten unerbittlichen Disziplin die eigene Ausbildung und fängt mit ihrer Finanzierung an. Das Bankhaus Ephraim sucht einen vertrauenswürdigen Buchhalter für eine königliche Sondermission in Polen: Friedrich II. war zwar ein lausiger Feldherr, aber ein überaus gefährlicher Wirtschaftskrieger.27 Mit Hilfe der Bankiers Veitel Heine Ephraim und 24  Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften. Hrsg. von Fritz Bamberger u. a. Stuttgart-Bad Cannstadt. 1971  ff. Band 12.2: Briefwechsel II,2. 1771–1780. Bearbeitet von Alexander Altmann. Brief 362. 25  Manfred Stürzbacher, Beiträge zur Berliner Medizingeschichte. Quellen und Studien zur Geschichte des Gesundheitswesens vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Berlin 1966, S. 148. Nach offizieller Berliner Medizinaltaxe von 1725, die noch zu Mendelssohns Lebzeiten gültig war, kostete ein Hausbesuch 1 Taler (das entsprach 5 Wochenlöhnen einer Köchin), ein Rezept 8 Groschen (2  Wochenlöhne einer Köchin) und ein schriftliches Konsilium, also eine Fernberatung, 2 Taler (10 Wochenlöhne). Zu den Therapieversuchen: Robert Jütte: Moses Mendelssohn und seine Ärzte. In: Marion Kaplan, Beate Meyer (Hrsg.), Jüdische Welten. Juden in Deutschland vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Göttingen 2005, S. 157–176. 26  Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften … S. o., 3,2: Schriften zur Philosophie und Ästhetik. Bearbeitet von Leo Strauss. Seite 182. 27 Selma Stern, Der Preußische Staat und die Juden. Tübingen 1962. S.  238  ff.

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Daniel Itzig war es ihm schon einmal gelungen, seine Gegner durch das gezielte Verteilen von Falschgeld zu schwächen. Man schätzt heute, dass er auf diese Weise in den Nachbarländern eine Inflation von mindestens 40 Prozent auslöste. Und wieder nimmt der königliche Antijudaist das jüdische Bankhaus Ephraim in die Pflicht, auch wenn er keineswegs versäumt, seinem Nachfolger die Beobachtung der Juden besonders ans Herz zu legen, und dazu rät, »darüber zu wachen, dass sie sich nicht zu stark vermehren«28. Juden sind die besten Geldfälscher, das weiß man doch, vor allem, wenn man sie selber dazu genötigt hat. Immerhin kann man Friedrich II. zum Vorteil anrechnen, dass er Klagen gegen Ephraim erfolgreich verhindert, wenn seine eigenen Untertanen gelegentlich Falschgeld in der Kasse finden. Anfang der Siebzigerjahre plant der Preußenkönig die kampflose Übernahme der Geldwirtschaft Polens. Marcus Herz reist im höchsten Auftrag als persönlicher Assistent des Bankhaussohns Benjamin Veitel Ephraim29 in den ­Osten. Die Mission trägt dem Bankdirektor den Titel eines Geheim-Rathes ein. Marcus Herz ist das erste Mal in der Lage, zu seiner Weiterbildung auch aus eigenen Mitteln beizutragen, kann also wieder studieren. Das Collegium medico-chirurgicum 28  Friedrich der Große, Die Politischen Testamente, Berlin 1922, Seite 141. (= Klassiker der Politik. Hrsg. von Friedrich Meinecke und Hermann Oncken, Band 5.) 29  Da alle Söhne des Veitel Heine auch den Vornamen Veitel tragen, ist die Angabe »Veit Ephraim« zwar nie falsch, aber in diesem Fall ist es Benjamin, der von seinem Vater mit den königlichen Geschäften betraut wird. Benjamin V. Ephraim, Über meine Verhaftung und einige andere Vorfälle meines Lebens. Zweyte vermehrte Auflage. Dessau 1808, S. 128. – Benjamin, immerhin ein Bewunderer von Lessing und Mendelssohn, bemüht sich in den Folge­ jahren ebenso patriotisch wie vergeblich, die Regierung zu fälschungssicheren Geldscheinen zu überreden, was aber als unstatthafte Einmischung eines jüdischen Bankiers in Staatsgeschäfte abgelehnt wird. Die Autobiographie des Königlich Preußischen Geheimen Raths in Ungnade erschien in zwei Auflagen und einer französischen Übersetzung. Benjamin hatte die Toleranzpolitik Napoleons begrüßt, geriet auch deshalb unter Spionageverdacht und starb 1811 mittellos.

Eng bedruckte Seiten in Fraktur mit Buchschmuck – das Schriftbild der ersten Auflage.

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in Berlin darf keine Doktortitel verleihen, aber die Universität Halle hatte 1721 das erste Mal ­einen Juden promoviert.30 Schon das Berliner Collegium war von einem modernen Verständnis der Medizin geprägt, nämlich der für die damalige Zeit neuen Auffassung, dass Empirie ein ebenso unverzichtbarer Bestandteil medizinischen Fortschritts ist wie die akademisch begleitete praktische Erfahrung. Die einflussreichsten Lehrer waren Schüler von Herman Boerhaave. In Halle wird Herz Schüler und Freund von Johann Friedrich Gottlieb Goldhagen, der außer­ dem Zoologie und Botanik unterrichtete und seine Studenten zur vergleichenden Anatomie anregt. Sowohl in Halle als auch in Berlin lehrt man ein neues Verständnis von Krankheit und der Aufgabe des Arztes: Krank ist ein Mensch dann, wenn er aus seinem natürlichen Gleichgewicht geraten ist. Medizin ist die Lehre der Methode, den Menschen wieder in seinen natürlichen Zustand zu versetzen. D ­ arum kann der Arzt dabei auf die Hilfe der Natur hoffen, denn Krankheit ist wesentlich der Versuch der N ­ atur, das Widernatürliche zu beseitigen. Arzt zu sein bedeutet also, der Natur zu folgen und sie zum Nutzen des Patienten zu lenken. Dieses Selbstverständnis, das Herz im direkten Rückgriff auf den englischen Arzt Thomas Sydenham schon in seiner Doktor­arbeit diskutiert, wird er zeitlebens vertreten, vor dem zu forschen Einsatz neuer Medikamente warnen und nicht müde werden, seine Kollegen zu besserer Diagnostik aufzufordern: Beobachtung und Vernunft sind die Säulen der medizinischen Erkenntnis. 1774 verdient er sich mit seiner Arbeit über verschiedene Naturkräfte bei akuten und chronischen Krankheiten das überaus selten vergebene Prädikat sine praeside – und tatsächlich gäbe es auch schwerlich ein besseres Motto für ein unvergleichliches Leben. Mendelssohn ist inzwischen wieder gesund, auch wenn keiner so recht weiß, wie das zugegangen ist. Er kann sich also in be30  Zu Weiterem vgl. Monika Richarz, Der Eintritt der Juden in die akademischen Berufe. Jüdische Studenten und Akademiker in Deutschland 1678– 1848. Tübingen 1974.

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währter Weise wieder planmäßig überarbeiten und auch wieder reisen, sogar Immanuel Kant in Königsberg besuchen. Marcus Herz begleitet Mendelssohn zwar im August 1777 nach Königsberg, scheint aber so beschäftigt gewesen zu sein, dass er Kant allenfalls kurz besuchen konnte. Wie sehr Kant die Begegnung mit Mendelssohn genossen hat, erfährt er erst aus dem langen Brief, den Kant ihm am Tag seiner Abreise nach Berlin hinterherschreibt.31 Kant schwärmt geradezu, versucht offenbar auszugleichen, dass für ihre Begegnung so wenig Zeit blieb, bedankt sich für die antike Gemmen-Sammlung, die ihm Herz mitgebracht hat, und berichtet ausführlich von dem Stand seiner Arbeit, aber auch von seinem Gesundheitszustand. Der Rat von Herz ist ihm in beiden Angelegenheiten wichtig. Außerdem bittet Kant um Nachrichten, wie es dem Freund ergeht, auf den er mit Recht unverhohlen stolz ist. Marcus Herz erarbeitet sich eine beispiellose Karriere: Er gründet eine eigene Arztpraxis, wird Assistent von Benjamin de Lemos, dann sein Nachfolger als Direktor am Jüdischen Krankenhaus in Berlin, baut es zur modernsten medizinischen Einrichtung aus und initiiert den ersten praktischen Ausbildungsgang für Ärzte und Pflegeberufe. Er veröffentlicht Lehrschriften, hält auch am Collegium medico-chirurgicum Vorlesungen über Medizin und Experimentalphysik und darf 1779 sogar das schönste Mädchen von Berlin heiraten. Die Tochter des Chefs wird trotz ihres unerhört zarten Alters32 31  Kant an Herz, 20. August 1777, Brief 120. – Nach dem Brief von Kant ist sogar nicht auszuschließen, dass sich Herz und Kant gar nicht gesehen haben. Kant schreibt nur bedauernd, dass Herz wieder auf dem Weg nach Berlin ist. Er schildert sogar seine eigene körperliche Erscheinung und seine Wirkung auf Menschen, die ihn lang nicht gesehen haben, was doch etwas merkwürdig ist, wenn man sich gerade erst gesehen hat. Aber Kant ist in Briefen an Herz nicht selten unbeholfen. Sicher ist nur, dass beide bei diesem Besuch keine Gelegenheit fanden, alte Gesprächsfäden wieder aufzunehmen. 32  Henriette de Lemos wurde am 15. September 1764 in Berlin geboren. Marcus und Henriette verlobten sich schon 1772 und heirateten am 1. Dezember 1779. Henriette war also fünfzehn Jahre alt. Anders als ein solcher Alters­ unter­schied waren Verheiratungen in einem so jungen Alter auch im 18. Jahr-

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schnell zur Gefährtin im Denken und Forschen. Das erste Buch, das er ihr gibt, sind Eulers Briefe an eine deutsche Prinzessin. Man weiß nicht, wie es möglich war, aber neben dreißig Hausbesuchen, ebenso viel Hospitalpatienten täglich, Krankenhausverwaltung und Personalausbildung gelingt Herz auch noch die gar nicht zu überschätzende Leistung, Kants Philosophie zu einer Bekanntheit zu verhelfen, die er allein nicht hätte erringen können: Marcus Herz liest Königsberger Philosophie in Berlin vor großem, vor allgemeinem Publikum – in vollen Hörsälen nach Vorlesungsmitschriften, die ein beeindruckter Kant selber nach Berlin schickt. Er, der sich schon vor kleinem Publikum offenbar immer etwas unwohl fühlte,33 hat »ausnehmende Freude« an den Berichten seines Freundes. Dass Herz diesen Erfolg hat, überrascht Kant gar nicht, aber er beneidet offen seine Fähigkeit zur »Popularität, in Ansehung derer mir bey einer solchen Unternehmung würde bange geworden seyn«.34 Dabei, bekennt Kant, wäre genau das doch die Aufgabe, wenn Philosophie wirken soll, nämlich auf die »schulgerechte Methode« auch verzichten zu können und so ein breites Publikum zu erreichen. Auch er wolle daran jetzt mehr arbeiten. »Ich empfange jede direkte oder indirekte Nachricht von Ihrem anwachsenden Glücke mit Vergnügen und bin in ewiger Freundschaft Ihr ergebener treuer Diener.« Zum von Kant mitgenossenen Glücke gehört auch die soziale Betriebsamkeit seines Freundes, von der ihm fortwährend berichtet wird. Marcus Herz und seine Frau Henriette führen neben all dem auch noch zwei der berühmtesten Salons in Berhundert keineswegs die Regel, wenn es sich nicht um die Festigung strategischer Partnerschaften durch die Eltern handelte, also wirtschaftliche oder politische Abkürzungen bedeutete. Wir haben in diesem Fall aber keinen Hinweis, dass die Zuneigung keine Rolle gespielt hat. Mehr im Folgenden. 33  Herz deutet das in einem besorgten Schreiben an, als er erfährt, dass Kant nach der gemeinsamen Verteidigung seiner Dissertation krank geworden war. Kant, so heißt es im Brief vom 11. September vorsichtig vorschlagend, solle doch vielleicht weniger »oder überhaupt nicht mit so vieler Anstrengung vortragen«. Brief 58. 34  Kant an Herz, Januar 1779. Brief 145.

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lin. Über zwei Jahrzehnte versammeln beide das geistige Leben der Stadt unter einer besonderen Doppel-Monarchie im eigenen Hause. Marcus pflegt, denn natürlich mussten die Veranstaltungen der Männer anders heißen, eine »Gesellschaft«, in der über Wissenschaft und Politik geredet wird und zu der Frauen außer seiner eigenen keinen Zugang haben. Henriette bezaubert in ihrem Salon schon von Jugend an mit ihrer Kopf- und Herzensbildung, der überschwänglichen Begeisterung für Goethe und die moderne schöne Literatur. Sie darf in seiner »Gesellschaft« nichts sagen, ihm fehlt es in ihrem »Salon« an der Leichtigkeit in Wort und Tat, aber zusammen schaffen sie einen ungezwungenen Raum der Begegnung für Menschen unterschiedlichster Schichten vom armen Studenten über mehr oder minder erfolgreiche Dichter und Geistliche aller Religionen bis zu staatstragenden Politikern. Besonders ein Verehrer der Herzschen Vorlesungen befeuert Gerede, denn natürlich konnte bei einem so schnellen Erfolg der Neid nicht ausbleiben: Karl Abraham, Freiherr von Zedlitz. Herz berichtet stolz nach Königsberg, dass keiner früher komme und später gehe als der preußische Staats- und Justizminister, der außerdem für Kirchen- und Unterrichtsangelegenheiten zuständig war. Das Ohr dieses Zuhörers hätten viele gern gehabt, denn er besaß das Vertrauen der Könige und war durchaus in der Lage, Berufungen zum Professor zu ermöglichen. Dass Marcus Herz hier erfahrungsgemäß keine Konkurrenz sein konnte, weil es noch nie einen jüdischen Professor für Philosophie gegeben hatte, bremst weder den Neid noch die üble Nachrede. Herz sei vollkommen überschätzt, tuscheln die Männer, die er für seine Freunde hält, hinter dem Rücken von Kant. »Die philosophische Schulfüchserei geht zu B.[erlin] so weit als möglich«, ätzt Johann Georg Hamann, »D. Herz, Kants beschnittener Zuhörer, hat eine philosophische Bude aufgeschlagen, die täglich zunehmen soll und worunter der Mäcen der Wittwen und Waisen (Acad. und Schule) unsers Landes auch gehört«35. 35  Hamann an Herder, 21. Februar 1779. In: Hamann’s Schriften heraus­ gegeben von Friedrich Roth. Berlin 1824, 6, S. 68  f.

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Herz habe Kant ständig bedrängt, weil er ohne dessen Vorlesungsmitschriften nichts zu sagen hätte, verbreitet auch Christian Jacob Kraus, der als Kant-Schüler diesen Erfolg in Berlin gern überboten hätte, aber Herz sabotiere das: »Dieser Doctor Herz der gleichfalls [wie Aron Joël] ein Jude ist und in Berlin in grossem Ansehn steht, ist ein Schüler meines Freundes des Professor Kant: all sein Ansehn hat er diesem Manne zu verdanken, denn seine Gelehrsamkeit besteht blos in demienigen was er von Kant gelernt hat; eben der Umstand dass er des Pr. Kant Schüler ist, hat ihm das Glück zuwege gebracht, dass er bei dem Minister Zedlitz, der über alle Academien des Königs zu befehlen hat, so gut angeschrieben ist, denn der Minister Zedlitz schätzt den Pr. Kant so hoch, dass er sich vom Doctor Herz die Collegia, die er ehemals beim Kant gehört hat, vorlesen und erklären lässt. Nun weiss D: Herz sehr gut, dass ich von den Collegien des Pr. Kant eben so wie er und wohl noch ein Bischen mehr verstehe«, behauptet Kraus in einem Brief an seinen Bruder, der ihn zwischenfinanziert, und darum tue Herz auch alles, um zu verhindern, dass Kraus nach Berlin kommt.36 Dass Kant den jungen Kraus nach Berlin empfiehlt und Herz bittet, ihm aus alter Freundschaft etwas unter die Arme zu greifen; dass Herz, wie ein Chronist erzählt, es »seinerseits nicht an Freundlichkeit fehlen liess«, nichts davon macht Kraus in seiner Verfolgungsangst irre. Er müsse wohl chronisch misstrauisch sein, schreibt Herz an Kant, der gesteht, dass ihm diese »Misologie« an Kraus auch schon aufgefallen ist37 und dass er sich schon davor ausdrücklich gegen eine Vorlesungstätigkeit von Kraus in Berlin ausgesprochen ­hatte.38 Im Frühjahr 1781 verschafft Kant seinem Schüler Kraus die Professur für Moral und Politik in Königsberg und festigt damit geschickt die Position seiner Lehre in Königsberg 36  Gottlieb Krause (Hrsg.), Beiträge zum Leben Christian Jakob Kraus. In: Altpreussische Monatsschrift 18, 1881, S. 53–96 und 193–224. Hier 201. – Es handelt sich um einen Brief aus dem Oktober 1778. 37  Kant an Herz, 4. Februar 1779. Brief 146. 38  Kant an Herz, 15. Dezember 1778. Brief 144.

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und in Berlin, ohne dass sich Herz und Kraus weiter ins Gehege kommen können. Kraus wird dennoch nicht aufhören, den Werdegang von Herz argwöhnisch zu verfolgen, und dabei wie viele nach ihm nicht verstehen, warum Kant, »der sonst so sparsam mit brieflichen Mitteilungen war, [Herz] stets von dem Fortschritte seiner Untersuchungen Nachricht gegeben«39 habe. Man kann sich des Eindrucks schwer erwehren, dass sich manchmal der Königsberger Geist in Berlin leichter verbreiten ließ als um Kant herum. Das, was Marcus Herz in Berlin so erfolgreich verbreitet und auch Kraus so fasziniert hat, ist natürlich ein anderer Kant als der spätere Vertreter der Vernunftkritik, des kategorischen Imperativs und der Systematik der Erkenntnisvermögen – all das gibt es nämlich noch gar nicht, als Marcus Herz in Berlin zu lesen beginnt. Der Kant, den Herz erlebt und mit dem er zusammen gedacht hatte, war das, was man in der Forschung heute etwas despektierlich den »vorkritischen Kant« nennt: ein äußerst lebendiger Denker, der vor Ideen nur so sprüht und sehr viel mehr entscheidende Fragen stellt, als dass er schon Antworten zu geben hätte. Die Aufklärungsphilosophie, die Marcus Herz in Berlin so berühmt macht, ist der Denkweg zu einer Revolution der Philosophie, und zwar in dem Moment, in dem sie sich ereignet, also ohne das Wissen um ein Resultat. Das Licht, das sich auf diese Weise verbreiten lässt, ist heller als die Lehrbücher, die man bei Kerzenschein liest. Nur weil diese Linie der Kant-Interpretation schließlich unter die Sonnenräder gekommen ist, so dass man bis heute kaum noch etwas davon ahnt, sollte man weder die Bedeutung noch die Wirkung dieser Denk­ richtung unterschätzten, der Nationalsozialisten immerhin einen ganz eigenen Namen gaben: Es handele sich hier um den »jüdischen Kant« im Unterschied zu dem »deutschen Kant«.40 39  So Gottlieb Krause, s. o., S. 204. 40  Bettina Stangneth, Jüdischer Kant. Deutscher Kant. – Die Philosophie-­ Verwirrung des nationalsozialistischen Jahrhunderts. Vortrag Potsdam, Einstein-Forum, 18. Juni 2014 (ungedruckt).

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Die Folgen dieser perfiden und nun zweifellos deutschen Inter­ pretations­leistung sind bekanntlich immer noch nicht Geschichte. Im Jahr 1781 bricht Kant endlich sein Schweigen, veröffentlicht die Kritik der reinen Vernunft und setzt besondere Hoffnung in Herz. Ihm ist nur zu bewusst, dass ihm vielleicht etwas Großes, sicher jedoch nichts Populäres gelungen ist. Aber verstanden werden möchte er doch unbedingt, und das zuallererst »von einem Manne (…) der unter allen, die mir das Glück als Zuhörer zugeführt hat, am geschwindesten und genauesten meine Gedanken und Ideen begriff und einsah«, also auch das neue Werk kritisch gegenlesen und vielleicht sogar popularisieren kann.41 Aber diesmal schafft es Herz nicht, die Gedanken seines Lehrers in Berlin sofort zu verbreiten. Eine schwere Krankheit hatte ihn zum Jahreswechsel für zwei Monate niedergeworfen und er erholte sich nur mühsam.42 Seine Verpflichtungen waren ihm über den Kopf gewachsen, denn er und seine Frau hatten Ende 1780 einen Umzug zu bestehen, und dann fiel auch noch sein Schwiegervater im Krankenhaus aus, weil er sich den Fuß angestoßen hatte und schließlich die Leitung ganz an seinen Schwiegersohn übergeben musste. Dabei hatte Herz seine Zeit schon vorher waghalsig verplant. Er steckte mit Mendelssohn und dem ideensprühenden Karl Philipp Moritz mitten in der Entwicklung einer ganz neuen Art von Zeitschrift, verfasste auf den Wunsch von Mendelssohn eine Übersetzung für ein gemeinsames Buch und dann muss auch noch sein eigenes Buch gelingen, das mit seiner Gliederung auch der Zeitschrift von Moritz ein Gerüst geben soll. Sein Grundriß aller 41  Kant an Herz, 11. Mai 1781. Brief 166. 42  Wir haben drei Berichte dieser Krankheit, nämlich je einen zeitnahen von Herz (s. u.), den er noch einmal gerafft im Versuch über den Schwindel gibt, von seinem behandelnden Arzt und die Erinnerungen von Henriette Herz, die im Rückblick von 38 Jahren geschrieben wurden. Christian Gottlieb Selle in: ders. (Hrsg.), Neue Beiträge zur Natur- und Arznei-Wissenschaft. Berlin 1782, 1, S. 90–102. Rainer Schmitz (Hrsg.), Henriette Herz in Erinnerungen, Briefen und Zeugnissen. Leipzig und Weimar 1984, S. 30–33.

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medizinischen Wissenschaften wird nur mit Mühe zu 1782 fertig.43 Das gern »Medicinische Encyklopädie« genannte Buch wird sofort ein großer Erfolg und sogar an seinen Universitäten in Berlin und Halle zum kanonischen Lehrmittel. Doch das »Nervenfieber« hatte seine Spuren hinterlassen, ebenso wie die erschreckenden Erlebnisse, die Herz, seine Frau und die Freunde auszustehen hatten. Sein Zustand war zwischenzeitlich so bedrohlich gewesen, dass seine Frau ernsthaft darüber nachgedacht hatte, wie sie ihm in den Tod würde folgen können. Zur Überraschung seiner eigenen Ärzte hat der Patient überlebt. Aber vernünftiger macht es ihn endlich doch. Herz half Kant zwar bei der Verteilung und auch Gestaltung seiner Widmungsexemplare in Berlin, sagte jedoch die Vorlesungen ab, trat auch sonst kürzer und protokollierte gleich wieder fasziniert die eigene Krankheit für die Öffentlichkeit, und zwar in der neuen Zeitschrift, dem Magazin für Erfahrungsseelenkunde, als einem Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte, seines Freundes Karl Philipp Moritz, regelmäßig Gast im Salon seiner Frau. Und dann will auch der Verleger Christian Friedrich Voß sofort weitere Bücher von seinem gefragten Autor. Man entscheidet sich für eine Neuauflage der Briefe an Aerzte, für die Herz einen Anhang und gleich noch einen zweiten Band schreiben soll. Den ersten Teil hatte Herz schon 1777 veröffentlicht, und das Buch hatte Kant »überaus wohlgefallen und wahre Freude gemacht«. Ganz genau so solle Herz auch weiterhin »die Arzneikunst mit der Forschbegierde eines Experimentalphilosophen und zugleich mit der Gewissenhaftigkeit eines Menschenfreundes (…) treiben«.44 Beide Bände, zusammen fast sechshundert Seiten, erscheinen 1784. Dass Kant diesmal zu kurz kommt, hat 43  Herz deutet in der Einleitung an, dass das Buch der Umstände halber in einer kürzeren Fassung erscheint als ursprünglich geplant. Moritz berichtet im ersten Heft in der Einleitung und seinen »Grundlinien« für das Magazin vom Einfluss, den Mendelssohn und Herz auf die Konzeption hatten, und nennt ausdrücklich den Grundriß von Herz als Grundlage. 44  Kant an Herz, 20. August 1777. Brief 120.

Herz im Alter von 37 Jahren. Leipziger Stich nach einer Zeichnung von ­Daniel Nikolaus Chodowiecki, der für Herz auch den Titel zu seinem Buch Über die frühe Beerdigung der Juden entworfen hat, das Herz vor dem (ersten) Grabstein von Mendelssohn zeigt. (Universitätsbibliothek Leipzig)

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aber neben der andauernden Überforderung offenbar noch einen anderen Grund: Marcus Herz will endlich das ernst nehmen, was ihn schon so früh interessiert hatte, von dem aber Immanuel Kant in seinem jüngsten Buch behauptet hat, dass es gar keine Wissenschaft sei, nämlich die empirische Psychologie. Wenn wirklich eine Möglichkeit besteht, Menschen dadurch zu heilen, dass man ihren Seelenzustand genau beobachtet und gezielt beeinflusst, dann wollte Herz herausfinden, wie das zu bewerk­stelligen sein könnte. Nicht zuletzt die vielen Gespräche über Krankheitserfahrung, die Herz mit Mendelssohn geführt hatte, brachten ihn auf das Thema, das sich für dieses experimentalphilosophische Abenteuer eignete wie kein anderes: der Schwindel. Es ist Mendelssohn, der den Plan zu einem Buch über den Schwindel 1783 öffentlich macht. Gern hätte er selber über diese eigenartige Erfahrung geschrieben: »Jedoch ich verlasse diese besondere Krankheit, die ein philosophischer Arzt von meinen Freunden mit mehrerer Ausführlichkeit zu behandeln im Werke hat, und verweise meine Leser auf die Abhandlung desselben, die wahrscheinlicherweise nächstens zum Vorschein kommen wird.«45 Wenn daraus aber etwas werden soll, muss sich endlich der Gesundheitszustand bessern. Herz ist auch drei Jahre nach seinem dramatischen Zusammenbruch immer noch nicht wieder völlig hergestellt. Seine Entscheidung, dem Beispiel von Moses Mendelssohn zu folgen46 und 1785 in das berühmte Kurbad Pyrmont zu reisen, erwies sich gleich in doppelter Hinsicht als gute Idee. Herz entdeckte nicht nur die Ruhe und das Heilwasser mit dem hohen Magnesiumanteil als taugliches Mittel gegen seine Migräne; Pyrmont brachte ihm auch einen gesellschaftlichen Aufstieg, mit dem ein Mann seiner Herkunft nicht rechnen 45  Moses Mendelssohn, Psychologische Betrachtungen auf Veranlassung ­einer von dem Herrn Oberkonsistorialrat Spalding an sich selbst gemachten Erfahrung. In: Magazin für Erfahrungsseelenkunde 1, 1783. Nachdruck hrsg. von Petra und Uwe Nettelbeck. Nördlingen 1986. 1, S. 211–232. Hier S. 223. 46  Mendelssohn war 1761, 1773 und 1774 in Pyrmont.

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konnte. Herz begegnete Friedrich I. Karl August zu Waldeck. Das Fürstenhaus Waldeck und Pyrmont war besonders interessiert daran, hervorragende Ärzte an das Kurbad zu binden. Dass die kleine Stadt im 18. Jahrhundert zum berühmtesten Kurbad wurde und sogar Karlsbad erfolgreich Konkurrenz machte, war vor allem der Anwesenheit berühmter Bade- und Brunnenärzte zu verdanken, die nicht nur ihre vermögenden Patienten mitbrachten, sondern auch Aufsätze und Bücher über den hohen therapeutischen Nutzen des Pyrmonter Brunnens schrieben. Schließlich erbrachte der Versand von abgefülltem Heilwasser den Großteil der Einkünfte der Grafschaft Pyrmont. Heinrich Matthias Marcard, größter Patientenmagnet und ein von Herz bewunderter Kollege, beendet in diesem Jahr mit der Unterstützung des Fürstenhauses sein bekanntestes Werk Beschreibung von Pyrmont, aus dem Herz in seinem Versuch über den Schwindel ausgiebig zitiert. Fürst Friedrich I. schätzt außerdem das kultivierte Gespräch mit gebildeten Menschen. Er nutzt die Chance und ernennt Herz zum fürstlich waldeckischen Leib­ arzt und Hofrath, eine öffentliche Anerkennung, die sich nicht nur in Windeseile herumspricht und Herz wie alle Titel das Berufsleben erleichtert, sondern ihm auch offensichtlich einfach gut tut. Kant grüßt seinen Freund im nächsten Brief nicht ohne Stolz mit »Wohlgeborner Herr Hofrat! Teurester Freund!«.47 Herz muss sein Buch über den Schwindel im Sommer in Pyrmont zu Ende gedacht haben und bekommt künftig regelmäßig das Wasser vom Pyrmonter Brunnen geliefert. Mit der zunehmenden Berühmtheit mehrten sich auch Wünsche, die von einer Seite an ihn herangetragen wurden, der Herz sich verpflichtet fühlte. Das deutsche Judentum steckte mitten in der größten Debatte seiner Geschichte, und wie immer, wenn Tradition und soziales Engagement aufeinandertreffen, war auch jetzt die Herausforderung riesig. Mendelssohn, der sich neben allem anderen durch Übersetzungen bemüht hatte, Brücken von der alten Welt in die neue zu bauen, besprach sich immer wie47  Kant an Herz, 25. November 1785. Brief 254.

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der mit Herz, der die folgenden Jahre dazu verwenden wird, die wichtigsten Punkte wie ein Pflichtenheft abzuarbeiten. Wer es geschafft hatte, musste auch sichtbar vorangehen – davon waren jüdische Aufklärer ebenso überzeugt wie ihre Kollegen mit christlichem Migrationshintergrund. Als wäre die Gratwanderung zwischen Reformbemühungen und allgemeiner Überforderung nicht herausfordernd genug, wurde Mendelssohn und mit ihm sein gesamtes Umfeld 1785 noch einmal in eine Auseinandersetzung verwickelt, wie sie nur der erlebt, der allen Verdiensten und allem wirtschaftlichen und publizistischen Erfolg zum Trotz doch nie ganz von der Mehrheits­gesellschaft akzeptiert wird. Es hätte eine ganz alltägliche Episode aus der wissenschaftlichen Forschung sein können: Der eine Wissenschaftler möchte eine Biographie schreiben, ein anderer weiß etwas dazu und schreibt einen hilfreichen Brief, man fragt vielleicht noch einmal nach, überprüft die Angaben und dankt für die freundliche Unterstützung. Aber es ging um Moses Mendelssohn, Friedrich Heinrich Jacobi, ein Buch über Gotthold Ephraim Lessing und die Frage nach Sein oder Nichtsein eines Gottes. Der sogenannte Pantheismusstreit48, dem wir zumindest verdanken, dass man nicht vergessen hat, wer Spinoza ist, gehört zu den erbittertsten Auseinandersetzungen der Philosophiegeschichte und mittendrin gab es tatsächlich einen Toten. Dabei fing es ganz harmlos an. Mendelssohn hielt seinen Freund Lessing für e­ inen Theisten. Jacobi war überzeugt davon, von Lessing im persönlichen Gespräch ein Bekenntnis zum Pantheismus und zu Spinoza gehört zu haben, was er nun wiederum für eine Folge des grassierenden Rationalismus hielt, bei dem es sich nur um Atheismus handeln konnte. Mendelssohn erfuhr davon über eine ge48  Diese äußerst geraffte Darstellung folgt der Korrespondenz zwischen Mendelssohn und Jacobi. Zitiert wird nach: Heinrich Scholz (Hrsg.), Die Hauptschriften zum Pantheismusstreit zwischen Jacobi und Mendelssohn. Berlin 1916. Zitate im Folgenden: Jacobi an Mendelssohn, 5. September 1784, Seite 122. Jacobi an Mendelssohn, 26. April 1785, S. 140.

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meinsame Bekannte und bat um Auskunft über diese Gespräche. Jacobi lässt Mendelssohn Ende 1783 einen langen Brief zukommen, den Mendelssohn nicht so ernst nimmt wie vom Absender offensichtlich erhofft. Er habe im Moment keine Zeit, lässt Mendelssohn die gemeinsame Freundin ausrichten, werde sich aber melden. Ein Jahr später erhält Jacobi wirklich Post aus den Händen der Freundin, in der Mendelssohn freundlich mitteilt, dass er den ritterlich hingeworfenen Handschuh aufnehmen und nun über den Spinozismus schreiben wolle. Ein langer Text zu Jacobis Entwurf liegt dabei. Jacobi antwortet umgehend: »Daß ich ritterlich den Handschuh hingeworfen hätte, davon weiß ich nichts.« Außerdem legt er die Abschrift eines weiteren langen Textes bei, den er als Antwort an jemand anderen geschrieben hatte. Mendelssohn zeigt sich enttäuscht, fragt aber artig nach, ob er die Korrespondenz für eine Veröffentlichung verwenden dürfe. Jacobi hat nichts dagegen und ä­ ußert die Hoffnung, endlich »das Lehrgebäude Spinozas in seiner wahren Gestalt« dargestellt zu sehen. »Ein Gespenst davon geht unter allerhand Gestalten seit geraumer Zeit in Deutschland um«, raunt er bedeutungsvoll. »Vielleicht erleben wir es noch, daß über den Leichnam des Spinoza sich ein Streit erhebt, wie jener über den Leichnam Moses zwischen dem Erzengel und Satanas.« Das klingt zweifellos elegant, musste aber doch Mendelssohn in eine überaus unangenehme Lage bringen, denn wenn für Jacobi Spinozismus unvermeidlich Atheismus ist, Mendelssohn aber eine andere Position vertritt, dann ist die Rollenverteilung in diesem Bild allzu eindeutig, zumal Jacobi in seiner romantischen Vorliebe für die ganz große Zusammenknüpfung auch gleich der gesamten Leibniz-Wolffschen Schule und der »Cabbalistischen Philosophie« unterstellte, letztendlich auf Spinozismus hinauszulaufen. Jacobi wiederum reagiert zutiefst gekränkt, dass Mendelssohn tatsächlich ein Buch ankündigt, ohne ihm vorher noch einmal eigens davon zu berichten. Wenn Mendelssohn die öffentliche Kontroverse wollte, dann wollte sie auch Jacobi haben. Er entschied sich, seine Briefe mit einem unangenehm zickigen Kommentar zu veröffentlichen, der

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auch die Unterstellung enthielt, dass Mendelssohn ihn betrogen habe. Es war ein seltsames Buchpaar, das den Lesern schließlich 1785 unter die Augen kam: Hier Mendelssohns Morgenstunden oder Vorlesungen über das Dasein Gottes, das in ruhigem Ton ganz der Sache, nämlich der Frage nach Lessing und dem Spinozismus gewidmet war und die These darlegte, dass Lessing nicht etwa Spinozist oder Pantheist gewesen sei, sondern vielmehr einen geläuterten Spinozismus vertreten habe, der sich sehr wohl mit Gott vereinbaren ließe. Lessings Werk spräche ohnehin für sich. – Dort Jacobis Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, das seine Berichte über die Gespräche mit Lessing im denkbar ungünstigsten Kontext präsentierte, nämlich als Teil einer beleidigten und beleidigenden Anklage, dass Mendelssohn nicht nur unredlich arbeite, sondern auch noch einen Atheisten verteidige. Diese Vorwürfe wären schon für einen christlichen Denker schwerwiegend gewesen, für einen Juden waren sie gefährlich. Die Leser wiederum konnten nicht anders, als bei Angriffen auf Mendelssohn an den unangenehmen Vorfall mit Johann Caspar Lavater zu denken, der Mendelssohn 1769 öffentlich zum Übertritt ins Christentum aufgefordert hatte. Kurz: Jacobi brachte sich nicht nur durch seine überspannte Sorge vor der Spinozierung des Abendlandes, sondern auch durch ungeschicktes Vorgehen und offene Aufklärungsgegnerschaft um Sympathien, Ansehen und schließlich Freundschaften. Der alarmierte Mendelssohn arbeitete so fieberhaft an einer öffentlichen Richtigstellung, dass seine Freunde sich zu Recht um ihn sorgten. Nichts und niemand konnte unbeteiligt bleiben, schon gar nicht die ohnehin heftig geführte inner­jüdische Debatte über Mendelssohn und seine Hoffnung auf Gleichberechtigung durch Bildung. »Ha! das waren Zeiten«, schreibt Herz im November 1785 an Kant, »da (…), es werde mir meines Lehrers Beifall und Aufmunterung gewährt, der einzige Morgen- und Abendwunsch war, und der mir so oft gewährt wurde; das waren! – Aber die Zeiten sind vorüber, nun ist alles anders.« Die Arbeit, die undankbaren und unfreundlichen Menschen, die Missgunst und der

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Neid, all das mache missmutig und übellaunisch. »Behalten Sie mich lieb«, bittet Herz und kündigt für die nächste Post »einen psychologisch-medizinischen Aufsatz über den Schwindel« an, der eben im Druck sei, und »wovon die Grundidee noch seit einer einstmaligen Unterredung mit Ihnen in meiner Seele lag«.49 Am 27. Februar gibt ihn Herz dem ehemaligen Kant-Studenten Aron Isaak Joël, inzwischen Arzt in Königsberg, für Kant mit und legt einen bemerkenswerten Gruß bei: »Die Hauptidee des ganzen Werks äußerte ich einst in einer jener glückseligen Unterredungen mit Ihnen, deren alle ich mich immer noch mit Entzücken erinnere. Da lag sie in meiner Seele, wartend auf hinreichende physiologische Kenntnisse, um mit diesen in ein Ganzes verwebt zu werden und in ihrem Einflusse auf die Praxis, so schwach er vielleicht auch noch scheinen möchte, sich zeigen zu können. Sie sehen, teuerster Mann, ich bin kein ganz Abtrünniger von Ihnen, bin vielmehr ein Überläufer, der noch Ihre Uniform trägt, und bei andern Mächten, nicht Ihren Feinden, Ihren Dienst einzuführen sucht; oder um mich minder preußisch auszudrücken, ich liebe das Umherwandeln in den Grenzörtern der beiden Länder, der Philosophie und der Medizin, und habe meine Freude ­daran, wenn ich da Vorschläge und Einrichtungen zu Gemein­ regie­rungen entwerfen kann. Es wäre gut, dünkt mir, wenn ähnliche Grenzörter zwischen der Philosophie und ihren benachbarten Gebieten fleißig von den Philosophen sowohl als von den praktischen Gelehrten und Künstlern aller Art fleißig besucht würden; jene würden dadurch dem häufigen gerechten Tadel der unnützen Grübelei, und diese dem der Empirie entgehen.«50

Hier spricht nicht mehr jemand, der sich darum sorgt, ob er dem philosophischen Anspruch überhaupt je genügen kann, sondern ein emanzipierter Denker, der selber Ansprüche stellt, und zwar an Philosophen ebenso wie an alle, die immer noch 49  Herz an Kant, 25. November 1785. Brief 255. 50  Herz an Kant, 27. Februar 1786. Brief 260.

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meinen, dass es die kritische Philosophie nicht braucht, nur weil man lieber Hirngespinsten nachhängt oder ein Kunsthandwerk erlernt hat. Im Gegenteil: Philosoph und gleichzeitig Praktiker zu sein, erst das erscheint als ideale Existenz. War nicht auch einer der berühmtesten Philosophen im zweiten Beruf Seidenhändler? Aber ausgerechnet Moses Mendelssohn erlebte das Erscheinen des Versuchs über den Schwindel nicht mehr. Das Jahr des Schwindels Das Jahr 1786, das Jahr, in dem der Versuch über den Schwindel zum ersten Mal erschien, begann erschütternd und wurde auch nicht besser. Der Tod dreier Menschen veränderte das Leben und auch die Beziehung von Kant und Herz entscheidend. Am 4. Januar starb Moses Mendelssohn, Kants Freund, enger Gesprächspartner von Herz und eine Fackel der Aufklärung nicht nur für Juden. Am 27. Juni verlor Kant seinen ihm nächsten Freund Joseph Green und wurde durch diesen schmerzlichen Verlust endlich zu dem Inbegriff von Pünktlichkeit und Disziplin, dem Ideal der wandelnden Uhr, zu dem Green ihn all die Jahre vergeblich hatte formen wollen. Aber die größte Veränderung sollte vom Tod eines Mannes ausgehen, dem keiner wirklich nahestand: In der Nacht des 17. August starb Friedrich II. Die allgemeine Trauer hielt sich in Grenzen, denn der König war längst der größte Unbeliebte seines Volkes. Aber sein Tod löste Ängste aus, denn sein Erbe war eine nur unpreußisch zu nennende Unordnung, die insbesondere die öffentlich Denkenden zutiefst verunsichern musste. So angenehm es gewesen war, unter einem Regenten zu schreiben, dem die Religion herzlich egal war, so sehr rächte sich nun diese königliche Nachlässigkeit. Desinteresse ist weder Toleranz noch Fortschritt. Friedrichs Launen starben mit ihm. Gesetze, die seinen Nachfolger in Fragen der Meinungsäußerung oder der Religionsfreiheit gebunden hätten, hinterließ er nicht. Für Juden galt uneingeschränkt sein Judenreglement von 1750, das ein französischer Beobach-

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ter51 sarkastisch als »un loi digne d’un canibale« – »ein Gesetz, eines Kannibalen würdig« bezeichnet hatte. Niemand konnte wissen, wie der kommende Regent mit Dichtern, Denkern und anderen Minderheiten umgehen würde. Dass es unter Friedrich Wilhelm II. strenger zugehen würde, konnte man von der Umstellung des Regierungssystems erwarten. Zur neu gebildeten Kabinettsregierung und seinem Beraterkreis gehörten Kritiker der Aufklärung. Die unsichere Lage ließ so manchen vorsichtiger werden. Auch Kant. Marcus Herz war dabei, als Moses Mendelssohn mit nur 57  Jahren starb, und beschrieb diesen Moment als schmerzvollsten in seinem Leben. »Da neben ihm hinzusinken und mit ihm zu entschlafen, das war der heißeste Wunsch den ich je gehabt und haben werde.«52 Die Trauer um den »Weltweisen« geht weit über die jüdischen Gruppen hinaus und verursacht eine rege Geschäftigkeit. Am Folgetag blieben die jüdischen Geschäfte geschlossen, der Trauerzug zum Berliner jüdischen Friedhof in der Großen Hamburger Straße war so eindrucksvoll vielfältig wie Mendelssohns Leben. Vom kleinen Händler und den unbekannten und großen Gelehrten bis zu Repräsentanten des Königshauses – alles zollte »Herrn Moses« seinen Respekt. Nachrufe erschienen, Festlichkeiten wurden abgehalten, Mendelssohns Nachlass musste gesammelt und geordnet, sein letztes Buch veröffentlicht werden. An die Freunde Lessings erscheint, herausgegeben von Johann Jakob Engel und mit einem Bericht von Herz über die letzten Stunden des Sterbenden. Außer­dem wurde eigens eine Trauermusik komponiert, die landesweit zu Gedenkfeiern aufgeführt wurde. Kant, der bekannt dafür war, religiöse Gesänge zu verabscheuen und keine Kirche zu betreten, erschien zur Trauerfeier für Mendelssohn in Königsberg. Die Musik hatte ihm zwar gar nicht gefallen, aber die Feier hatte er um nichts versäumen wollen: »In achtzehn Jah51  Honoré Gabriel de Riqueti, Marquis de Mirabeau, De la monarchie prussienne sous Frédéric le Grand, Paris 1788, Band 1, S. 74. 52  Moses Mendelssohn An die Freunde Lessings … S. o., S. XXII.

Titelvignette der prächtigen zweiten Auflage von 1791: Die Schlange reicht der Eule den Olivenzweig, zusammengeführt von Asklepios, dem griechischen Gott der Heilkunst, unter der ihm heiligen Zypresse. Die von Paul Malvieux gestochene Zeichnung fertigte Asmus Jacob Carstens, der auch für die »Götterlehre« von Herz’ Freund Moritz die Illustrationen lieferte. Der norddeutsche Autodidakt war in den Neunzigerjahren für Wand- und Deckengemälde im königlichen Palast engagiert. Man schätzte ihn besonders für seinen spielerischen Umgang mit antiken Symbolen wie in diesem Sinnbild für die Überzeugung von Marcus Herz, dass »die beiden großen Wohltäterinnen des Menschengeschlechts, die Philosophie und die Heilwissenschaft, Hand in Hand sich vereinigen müssen, um der leidenden Menschheit zu Hilfe zu kommen«.

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ren, sagte er, habe ich keinem öffentlichen Spektakel mehr beigewohnt; aber ich war Mendelssohns Freund zu sehr, als daß ich nicht zugegen sein sollte«, berichtet ein staunender Korrespondent der noch verblüffteren Öffentlichkeit.53 Die wahren Misstöne kamen von einer anderen Seite. Nachdem Engel und Herz öffentlich berichtet hatten, dass Moses Mendelssohn an den Folgen einer Erkältung gestorben war, die er sich offenbar zugezogen hatte, als er seine neueste Kampfschrift gegen Jacobi durch die kalte Winternacht zum Verleger getragen habe, steigerte Karl Philipp ­Moritz den Anlass zur Anklage: Es sei der Streit mit Jacobi gewesen, der Mendelssohn umgebracht hatte. Jacobi war schuld, und seine Anhänger auch. Eine solche Zuspitzung war weder Herz noch Kant geheuer oder kam doch keinem von beiden gelegen. Herz fürchtete nicht ohne Grund, dass man diese Interpretation der Dinge auf ihn zurückführen könnte. Kant fand es unangemessen, irgendjemanden »eines so schrecklichen Verbrechens«54 zu bezichtigen, und das hatte nicht nur mit dem schrillen Ton des gesamten Mendelssohn-Jacobi-Streits zu tun. Außerdem drängten die Verleger ihn, sich zu der Angelegenheit zu äußern. »Wenn es Ihnen doch gefiele«, so fleht auch Herz, »etwas zu sagen!«55 Aber noch im April bittet Kant ihn »gar sehr«, seinen Namen und vor allem seine privaten Äußerungen, also seine Briefe, bloß von jeglicher Öffentlichkeit »gänzlich wegzulassen«. Es fällt Kant sichtlich schwer, die Debatte philosophisch ernst zu nehmen. »Die Jacobische Grille 53  Kants Missfallen an der Musik bezeugt Wannowski. Kant habe besonders gestört, dass die Trauermusik zum Ende nicht »munter und belebend« geworden sein, denn sie habe die Aufgabe, das Gemüt nicht [zu] beängstigen«. Zitiert in: Rudolph Reicke, Kantiana. Beiträge zu Kants Leben. Königsberg 1860. S. 41  f. Leicht nachzulesen in: Rudolf Malter (Hrsg.), Kant in Rede und Gespräch. Hamburg 1990. (Philosophische Bibliothek Band 329.) Eintrag Nr. 335. Das Kurzinterview findet sich in: Deutsche Zeitung für die Jugend und ihre Freunde. Gotha 28, 13. Juni 1787, S. 237–238. 54  So Kant in der Rektoratsrede vom 1. Oktober 1786, von der im Folgenden ausführlich die Rede ist. 55  Herz an Kant, 27. Februar 1786. Brief 260.

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ist keine ernstliche, sondern nur eine affektierte Genieschwärmerei, um sich einen Namen zu machen, und ist daher kaum einer ernstlichen Wiederlegung wert.«56 Aber das Gerede will nicht verstummen, es kommt immer noch bedrohlicher näher, weil sich Jacobi bei seinen Angriffen auf Mendelssohn und seine Freunde ausgerechnet auf Kant beruft, von dem doch jeder weiß, wie viel ihn mit Mendelssohn verband. Kant muss sich äußern. Im Juli 1786 schließlich spricht er das von Herz so erbetene Machtwort. Er schreibt einen Aufsatz für die Oktober-Ausgabe der Berlinischen Monatsschrift und zu Anfang August auch noch eine Vorrede für das Mendelssohn-Buch eines Kollegen.57 So groß das menschliche Dilemma war, in dem er steckte, weil er zwar Jacobis Angriffe nicht gutheißen, aber Mendelssohn bei aller Freundschaft auch nicht nur verteidigen konnte – es war letztlich der Tod des Königs im Juni, der auch dem Jacobi-Mendelssohn-Streit ein anderes Gewicht gab: Aus der zwar hart geführten, aber doch innerintellektuellen Aus­einander­setzung war über Nacht eine existenzbedrohliche Angelegenheit geworden. Ob Spinoza nun ein Atheist war oder nicht, die Diskussion darüber betraf Kant ganz persönlich. Es war für jemanden, der seinen Amtseid gegen den Atheismus geschworen hatte, überaus brisant, dass inzwischen auch sein eige­nes Denken mit »Spinozismus« verglichen wurde. Vorlesungen über Kants Schriften zu halten, war an einigen Universitäten schon vorher verboten worden. Auf dem Spiel stand nicht weniger als seine Existenz, die ganz von der Lehrtätigkeit abhing. Auf wessen Seite sich Kant schließlich stellte, konnte weder den Freunden noch den Feinden Mendelssohns entgehen. Dass Kant auf beiden Seiten gravierende Denkfehler sah, überraschte sicher niemanden. Ob Dogmatismus der Vernunftideen oder der Irrationalität – beides war Schwärmerei. Aber als er sich schließlich durchrang, die 56  Kant an Herz, 7. April 1786. Brief 267. 57  Ludwig Heinrich Jakob, Prüfung der Mendelssohnschen Morgenstunden oder aller spekulativen Beweise für das Dasein Gottes in Vorlesungen. Leipzig 1786. Kants Vorrede auch in: Akademie-Ausgabe VIII, S. 149–155.

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Welttauglichkeit der Vernunft gegen beide Kontrahenten zu verteidigen, borgte er sich als Titel die bekannte Formulierung seines Freundes: Was heißt: Sich im Denken orientieren? Dabei sollte es allerdings nicht bleiben. Als Rektor war es an Kant, den ersten Geburtstag des neuen Königs, Friedrich Wilhelms II., feierlich und vor allem öffentlich zu begehen. Die Universität feierte künftig an jedem 25. September dieses Treueversprechen. Kurz darauf, am 1. Oktober, zeitgleich mit dem Erscheinen des Aufsatzes, versucht Kant den Befreiungsschlag aus der ganzen gefährlichen Debatte. Er nutzt die Feierlichkeiten zur turnusmäßigen Niederlegung seines ersten Rektorats, um über den Tod von Mendelssohn zu sprechen. Man muss es vielleicht wiederholen, um das Unerhörte dieser Entscheidung zu verdeutlichen: Immanuel Kant, der berühmte Philosoph und Rektor der Albertina in Königsberg, spekulierte in einer feierlichen Rede vor Kollegen, Honoratioren der Stadt und Studenten ausführlich darüber, woran ein jüdischer Gelehrter gestorben sein könnte, und das unter dem Titel De medicina corporis, quae philosophorum est – Über die Heilung des Körpers, soweit sie ­Sache der Philosophen ist.58 Worauf es ihm dabei ankam, ist nicht zu übersehen: Woran Mendelssohn auch gestorben sein mochte, die Philosophie war garantiert unschuldig daran!59 Zwar galt es allgemein als gesundheitsgefährdend, sich früh intellektuell zu betätigen, oder wie man es damals sagte, von Jugend an die Seelenkräfte anzustrengen. Das Verbot jeder geistigen Beschäftigung gehörte zu den verschriebenen Diäten: Nicht lesen, nicht denken, nicht diskutieren, schon gar nichts schreiben. Aber hinter der Diskussion um Mendelssohns Tod stand inzwischen sehr viel mehr: Eine politische Konstellation, in der es auf einmal wirklich einen gefährlichen Gedanken gab, nämlich den, Philosophie einfach zu verbieten. Philosophie, das 58  Akademie-Ausgabe Band VI, S. 939–951 (Refl. 1526). Es ist Reinhard Brandt zu danken, diese Rede aus den Untiefen der Kant-Ausgabe gehoben und vor allem übersetzt zu haben. Kant-Studien 90, 1999, S. 354–366. 59  Das betont auch Reinhard Brandt, s. o. S. 357.

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wollte Kant mehr als alles andere sagen, ist aber nicht gefährlich. Sie muss nicht gefürchtet, also auch nicht etwa besonders überwacht und reglementiert werden. Nein, Mendelssohn habe einfach zu viel gearbeitet, zu wenig geruht und ungesund gegessen. Das war alles, weil es alles gewesen sein musste. Kant wusste wie alle Zuhörer in der Universität nämlich auch dies: Es war erst acht Jahre her, dass es von seinem eigenen Studenten Ruben Elchana hieß, er sei »bei Kant-Studien von Sinnen« gekommen.60 Auch wenn diese Rektoratsrede im Unterschied zum Aufsatz in der Berlinischen Monatsschrift auf Latein gehalten wurde, Kants Ausführungen also bei weitem weniger bemerkt wurden als sein schöner Aufsatz, mussten sie Herz tief berühren.61 Sollte er bis dahin im Zweifel gewesen sein, bekam er es nun schriftlich, dass ausgerechnet Kant von seiner Existenzform, also von der Idee eines philosophischen Arztes, nichts hielt. Manche Krankheiten mögen zwar wie Geisteskrankheiten aussehen, so Kant, aber auch Melancholie und Hypochondrie seien allein Angelegenheit der Ärzte, »weil die Quelle des Übels eher im Körper als im Geist zu suchen ist und man dem Geist durch einen Aderlaß oder ein Reinigungsmittel eher helfen kann als durch Unterricht und Argumente«.62 Philosophie könne zwar Lebensregeln aufstellen, die auch die Hygiene oder den Umgang mit den Körperkräften beträfen, aber das gelte nur allgemein und für den gesunden Menschen. Auch Hinweise für die Ärzte selbst könne die Philosophie geben, nämlich beispielsweise erklären, warum ein Chirurg nicht dem eigenen Mitleid nachgeben dürfe, weil er sonst nicht mehr helfen könne. Aber der Arzt 60  Einzelheiten finden sich in: Bettina Stangneth (2001). 61  Dass Herz von der Rede erfuhr, steht außer Frage. Herz ließ sich nicht nur von jedem, der Königsberg besuchte, über Kant berichten und las alles von Kant. Er kannte viele ehemalige und aktuelle Kant-Studenten persönlich, die ihm auch Informationen und Mitschriften zutrugen, wenn Kant das nicht persönlich veranlasste. Öffentliche Äußerungen von Kant zu und über Mendelssohn waren zu wichtig, als dass sie nicht sofort Gesprächsthema gewesen wären. 62  Rektoratsrede, S. 363.

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habe es mit Kranken zu tun und müsse darum die Grenze seines Berufs beachten, statt sich in Grenzörtern herumzutreiben: »Die Aufgabe des Arztes bezieht sich unmittelbar auf den Körper, nie auf die Seele, es sei denn mittels des Körpers und dessen Pflege. Wenn der Arzt dem Körper durch die Kraft des Gemütes zu helfen sucht, dann übernimmt er die Rolle des Philosophen.« Und das sei nun einmal nicht seine Aufgabe. Das ging weit über Kants bekannte Abneigung gegen fachbereichsübergreifende Fragen und anderen »ekelhaften Mischmasch«63 hinaus. Wer Kant näher kennenlernen durfte, konnte nämlich gar nicht übersehen, dass er sich sehr wohl mit dem Zusammenhang zwischen Denken und Körper beschäftigte, sei es nun, weil Kant keine Gelegenheit ausließ, in wahrer hypo­ chondrischer Leidenschaft jedes kleine Zipperlein und seine möglichen Gründe hingebungsvoll vor Freunden auszubreiten, oder weil jeder in seiner Anthropologie-Vorlesung hören konnte, wie man allerlei Marotten klug analysieren kann, wenn man individuelle menschliche Denkungsarten auf ihre Folgen hin unter­sucht. Darum hatten ihm die Briefe an Aerzte von Herz so gefallen und darum unterhielt Herz ihn in seinen Briefen mit skurrilen Krankengeschichten. Aber um die Philosophie von jedem Verdacht zu befreien, ein ordnungsgefährdendes Unterfangen zu sein, war Kant offensichtlich bereit, den Nutzen der Philosophie für die medizinische Praxis in einem Ausmaß zu leugnen, dass für die Hoffnung auf ein konstruktives Gespräch mit ihm kein Raum mehr blieb. Marcus Herz schickte Kant weiterhin alle seine Schriften, der Ton seiner Briefe ist ungebrochen liebevoll, aber das inhaltliche Gespräch sucht er nicht mehr wie früher. Ja, Herz überliest auch in späteren Jahren Kants Versuche, das alte Gesprächsniveau wieder herzustellen. Er muss 1786 63  Kant verwendet die Formulierung mehrmals. Beispielsweise in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, stärker noch in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft: »Es ist nicht Vermehrung, sondern Verunstaltung der Wissenschaften, wenn man ihre Grenzen in einander laufen läßt.« B VIII / Akademie-Ausgabe III, S. 8.

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zu der trostlosen Erkenntnis gekommen sein, gleich zwei Gesprächspartner verloren zu haben. »Kant und Moses«, so hatte der junge Marcus Herz 1771 in seinem ersten Buch geschwärmt, »die ihr mich meine Vernunft brauchen gelehrt, bei eurer menschenfreundlichen Hand mich der göttlichen Weltweisheit zugeführt, und auch mich der Bekanntschaft mit eurer Vertrauten gewürdigt habt, euch habe ich auch diese Wohltat zu verdanken, daß aller Zweifel über meine künftige Glückseligkeit aus meiner Brust gänzlich verbannt ist.«64 Die Dankbarkeit blieb wie der Entschluss, den eigenen Weg weiterzugehen, auch wenn er nicht glücklich darüber war, es nun ohne sie tun zu müssen. »Herz bedauerte späterhin, während der akademischen Jahre zu sehr vom Studium der Philosophie angezogen worden zu sein, deren Spekulationen seinem Geiste zu viel Nahrung gaben und zu viel Reiz für ihn hatten«, vermutet dementsprechend einer seiner Nachrufer.65 »Die Folge war, daß er für seine Brodwissenschaft und für alles, was mit derselben zusammenhing, nicht Zeit genug übrig behielt, oder in den Beschäftigungen dieser Art nicht genug Genuß fand.« So und ähnlich hat Herz es tatsächlich gesagt und geschrieben, sogar an Immanuel Kant. Aber man darf doch zweifeln, ob es auch stimmt. Es ist schließlich nicht erst eine Erfindung unserer Jahrhunderte, die Philosophie zur nicht alltagsverträglichen Liebschaft zu erklären, für die man – angeblich – gern mehr Zeit hätte, wenn einem denn die ach so wichtigen Geschäfte nur Raum dazu ließen. Das klingt auch viel interessanter als die schroffe Wahrheit, dass man sie wie jede Liaison zwar auf eine gelegentliche Tasse Tee unterhaltsam, aber auf die Dauer einfach zu anstrengend findet. Im Fall von Herz aber liegen die Dinge nochmal ganz anders. Die meisten Gesprächspartner von Marcus Herz waren keine Philosophen, sondern Fachkollegen, Politiker oder Literaten, 64  Marcus Herz, Betrachtungen aus der spekulativen Weltweisheit. Königsberg 1771. S. 153. In der Neuausgabe der Philosophischen Bibliothek, Band 424, S. 79. 65  Nekrolog, s. o., S. 33.

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denen erfahrungsgemäß in der Nähe von Philosophen, die ihren Beruf ernst nehmen, immer etwas unbehaglich ist, weil sie einem bisweilen so irritierende Fragen stellen können, dass man sich auch auf dem eigenen Terrain nicht mehr sicher fühlt. Kant hingegen war zwar ein Philosoph und für Herz zweifellos auch der Größte unter ihnen, aber er pflegte eine offene Abneigung gegen Interdisziplinarität. Herz war also in der unerfreulichen Lage, dem Mann, dessen Liebe zur Philosophie er uneingeschränkt teilte, nicht vermitteln zu können, dass er den fächerübergreifenden Zugriff für den einzig richtigen Weg hielt; seine Möglichkeit aber, auf Nicht-Philosophen aufklärend zu wirken, hing ganz wesentlich davon ab, dass die Philosophie als exklusiver Ort erschien, den man auch ohne vorangegangenes Studium in Mußestunden besuchen konnte, ohne allzu große Erschütterungen des eigenen Selbstverständnisses oder Alltags zu befürchten. Ein einfühlsamer Mensch sagt viel, wenn er Freunde nicht vor den Kopf stoßen und Mitmenschen für etwas Neues einnehmen will. Es war dieselbe Zugeneigtheit zum Menschen, die dem berühmten Arzt seine beeindruckend genaue Beschreibung der Patienten und ihrer Beschwerden ermöglichte. Marcus Herz kannte keine größere Liebe als die Philosophie und keinen größeren Wunsch, als Menschen zu heilen. Er wollte und er konnte beides. Ja, er schrieb in seinen Büchern ausführlich über diese ihm alternativlos erscheinende Bigamie. Aber er wusste auch genau, dass es nicht genug ist, nur hier die Kranken zu heilen und dort einige Leser zu erreichen, wenn es um eine Revolution der Denkungsart geht, von der die Veränderung der Welt abhängt. Experimentalphilosophie Es genügt, die Veröffentlichungen aufzuzählen, um zu belegen, dass Herz nie darüber nachgedacht hat, sich etwa für eines seiner beiden Talente zu entscheiden. Schon ein Jahr später erscheint 1787 neben seiner Vorlesung über Experimentalphysik der flammende Appell an die Juden, mit der Tradition zu bre-

Die zweite Auflage erscheint in größerem Format (12 × 20 cm), v. a. aber mit neuem Schriftbild: Herz entschied sich für Antiqua, eine Schriftart, die sich in Deutschland nur langsam durchsetzt.

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chen, weil die frühe Beerdigung schrecklicherweise immer wieder zu frühe Beerdigungen zur Folge hatte. Eine Stellungnahme des berühmten Arztes konnte nur eine heftige Debatte auslösen, die ihn sogar mit einem alten Freund aus Halle entzweite.66 Seine Schrift erschien zusätzlich in niederländischer und hebräischer Übersetzung und auch schnell als eigenständige Publikation, die sofort nachgedruckt werden musste. Eigens für die nochmals erweiterte Buchveröffentlichung 1788 lässt Herz ein beeindruckendes Titelbild entwerfen: Es zeigt ihn trauernd vor dem Grab von Mendelssohn, einen Scheintoten hinter sich, der mühsam ins Freie zu gelangen versucht. Die meiste Zeit investierte Herz aber in die Überarbeitung seiner beiden Hauptwerke, die diesmal – passend zur Berühmtheit und zur sozialen Stellung ihres Autors – in größeren prächtigen Ausgaben mit Titelkupfer und einem großzügigeren und klaren Druckbild auf schönstem Papier erscheinen. In der Vorrede zur neuen Auflage des Versuchs über den Schwindel ist von einer »beinahe völligen Umarbeitung« die Rede. Tatsächlich gliedert Herz seinen Text weiter auf und enthüllt so die zugrunde gelegte Systematik auch für den, der, um sie zu bemerken, eine Inhaltsangabe braucht. Zu den herausragenden Eigenschaften des Autors Marcus Herz gehört die Haltung des konstruktiven Lesens ebenso wie die ehrliche Dankbarkeit für jede Quelle der Einsicht. Die Selbstverständlichkeit, mit der Herz einem Kollegen noch mit einem einzigen Gedankenfetzen Raum gibt, ist bekanntlich selten, zumal wenn es jemandem so leicht fiele, ganze Bände mit der Auflistung von Fehlern der anderen zu füllen. Er ergänzt das ein oder andere Zitat aus aktueller Literatur und nutzt die Gelegenheit, ausführlicher als zuvor die alte Vorstellung zu widerlegen, dass Erinnerung in Abbildern besteht, die sich beim Se66  Einer seiner ältesten Freunde aus Halle, Marcus Jakob Marx, von dem später noch die Rede sein wird, veröffentlichte 1787 einen grundlegenden Angriff auf Kritiker der herrschenden jüdischen Beerdigungssitten und ging ­darin insbesondere Marcus Herz scharf an. Ders., Ueber die Beerdigung der Todten. Hannover 1787.

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hen in das Gehirn drücken wie ein Stempel in Wachs. Seine Beschreibung der Gedächtnis-Engramme als skalierbare Proportionsdatensätze gehört zweifellos zu den besonders spannenden Überlegungen. Aber die meiste Zeit steckte Herz in etwas, was Philosophen viel zu selten versuchen: Er überschrieb weite Teile seines eigenen Buchs mit noch klareren, noch gefälligeren Sätzen und das auch dort, wo es die Sache nicht forderte. Das Sprachgefühl, das Herz sich in nur fünf Jahren erworben haben muss, verwandelte ein gut lesbares in ein brillantes Buch – es ist das einzige Beispiel für einen sich allein zu Gunsten seiner Leser so schonungslos lektorierenden Denker, das ich kenne. Sowohl der Versuch über den Schwindel als auch der Versuch über den Geschmack, der schon 1790 in neuer Fassung erscheint, wurde offensichtlich vor allem darum überarbeitet, weil der Denker Herz immer noch höhere Ansprüche an das eigene Lernen stellte und große Freude an der Sprache hatte, die er erst in Königsberg gelernt hatte. Aber auch, wenn dieser Neuausgabe in der Philosophischen Bibliothek selbstverständlich die Ausgabe letzter Hand, also die überarbeitete Fassung von 1791 zugrunde liegt, darf nicht vergessen werden, wann Herz die Gedanken zu diesem Buch wirklich entwickelt hat. Wer die beiden Ausgaben des Versuchs über den Schwindel vergleicht, kann nämlich eines nicht übersehen: All das, was der mit Kant vertraute Leser sofort als Anspielungen auf sein kritisches Werk identifiziert, steht tatsächlich schon in der ersten Auflage von 1786. Die meisten Bücher von Kant waren also noch gar nicht geschrieben. Vom kritischen Geschäft lag nur die Kritik der reinen Vernunft in ihrer ersten Fassung vor. Die B-Auflage erschien erst 1787, die Kritik der praktischen Vernunft folgte 1788 und die Kritik der Urteilskraft erschien erst 1790. Herz nutzte also nicht etwa Kants Schriften, sondern kam parallel zu Kant auf vergleichbare Gedanken. Beide fächerten unabhängig voneinander das aus, was demnach schon in den Sechzigerjahren grundgelegt oder doch denkbar gewesen sein muss. Es ist keineswegs nur Freundlichkeit, wenn Kant seinem »sehr hochgeschätzten Freund« im Oktober 1790 schreibt: »Ihr sinn-

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reiches Werk über den Geschmack, für dessen Zusendung ich Ihnen den ergebensten Dank sage, würde ich in manchen Stücken benutzt haben, wenn es mir hätte früher zu Händen kommen.«67 Tatsächlich gibt es etliche Berührungspunkte zur eben erschienenen Kritik der Urteilskraft. Das Denken von Kant und Herz ist immer noch beieinander, auch wenn die letzte Begegnung zwanzig Jahre zurückliegt. So richtig es folglich ist, wenn sich Marcus Herz als Kant-Schüler bezeichnet, so verheerend wäre es, wenn wir es täten.68 Ja, Herz lernte das Philosophieren durch Kant kennen. Ja, es waren Kants Fragen, die auch für Herz zum Leitthema wurden. Aber ein Wegbegleiter im Dickicht des Denkens zu sein, ist etwas ganz anderes, als einem Denkmeister zu Füßen zu sitzen oder etwa seine Lehre nur nachzudenken und zu verteidigen. Miteinander Denken bedeutet eine andere Leistung, als sich an einen Lehrer zu klammern, der vor sich hin monologisiert. Kant hatte Herz 1777 einen »Experimentalphilosophen« genannt. Herz antwortete 1790 unübertrefflich, Kant sei »der große kritische Seelen­umsegler«69. Im Idealfall finden Denkgefährten unterschiedliche Teile der Antwort auf ihr gemeinsames Fragen, die nicht nur der Komplexität eines Themas besser gerecht werden, als es ein Einzelner könnte, sondern in ihrem Nebeneinander auch etwas von der belebenden Spannung vermitteln, die das dialogische Denken ausmacht. Wenn man Kants grundlegender These folgte, dass es dem Philosophen vor allem darum gehen muss, mehr über unser Erkenntnisvermögen zu lernen und vor allem ein Bewusstsein für seine Grenzen zu schaffen, dann kann man unsere Erkenntnis67  Kant an Herz, 15. Oktober 1790. Brief 454. 68  In diesem Sinne heißt schon im Nachruf: »(…) bei aller Verehrung für seinen unsterblichen Lehrer war er kein Kantianer, und wurde es auch nie.« Nekrolog, s. o. S. 35. Auch wenn man selbstverständlich hinzusetzen muss, dass die Eigenständigkeit von Herz nicht etwa, wie so oft behauptet, nur darin bestünde, dass er an der intellektuellen Leistung gescheitert sei, Kants kritischer Wende noch zu folgen. Ob wiederum Herz in Fragen der Ethik nicht tatsächlich ganz Kantianer ist, wäre ein anderes Thema. 69  Versuch über den Geschmack. Zweite Auflage Berlin 1790, S. 8.

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werkzeuge präzise zu beschreiben versuchen, also unser Vermögen säuberlich in seine Einzelteile zerlegen und so mehr darüber herausfinden, was wir über uns und die Welt wissen können. Man kann aber auch nach der Dynamik, also nach dem Vermögen selbst fragen, indem man dort beginnt, wo es versagt und das insbesondere bei denen, die überaus erfahrene Anwender sind. Und wir müssen es sogar, weil es dabei nicht nur um die Frage geht, wie wir einen Apparat reparieren können, wenn er defekt ist, sondern weil Denken keineswegs ein harmloses Unterfangen ist. Es gibt nicht nur Grenzen der Erkenntnis, die uns Antworten generell vorenthalten, so wie Antworten auf die Frage nach Gott und der Unsterblichkeit beispielsweise. Es gibt nicht nur ein Denken, das uns dennoch Halt gibt, also die Orientierung in einer Welt ermöglicht, die für uns nie ganz zu erfassen ist. Es gibt auch ein Denken, mit dem wir uns den Halt nehmen können, weil wir in der Lage sind, uns noch mehr um unseren Weltbezug zu ängstigen, als die manchmal so unzugängliche Welt uns je ängstigen könnte. Oder kurz gesagt: Es gibt nicht nur den Nebel, es gibt auch den Schwindel. Marcus Herz aber interessiert weniger als Kant, wie viel Welt dem Menschen gegen sein Bedürfnis verschlossen bleibt. Der philosophische Arzt will herausfinden, welchen Anteil das jeweils eigene Denken an den Illusionen von Selbst- und Weltverhältnis hat, die sogar grundlegende Fähigkeiten des Überlebens bedrohen. Schwindel ist ein zutiefst verstörendes Ereignis, wie jeder weiß, der wie schätzungsweise über fünfunddreißig Prozent aller Menschen schon einmal einen Schwindelanfall hatte. Die gute Nachricht, die vermutlich auch Mendelssohn ein langes Elend erspart hätte, besteht darin, dass wir heute in der Lage sind, Schwindel in den allermeisten Fällen erfolgreich zu behandeln – aber nur dann, wenn es gelingt, den konkreten Schwindel und seine Ursachen auch richtig zu identifizieren. Tatsächlich ist das Wissen um diese Erkrankung immer noch erstaunlich lückenhaft. Man konnte bisher noch nicht einmal das Hirn­ areal sicher eingrenzen, in dem die Bewegungsillusion entsteht, die uns derart traumatisieren kann, weil sie sogar die Fähig-

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keit zu trinken und zu essen stört. Nicht zufällig verwenden wir Schwindel-Metaphern, wenn wir uns nicht mehr auskennen und dabei dennoch den Verdacht nicht loswerden, dass die Ursache der Verwirrung in uns liegt. Den Halt verlieren, aus der Bahn geworfen werden, benommen durch die Welt taumeln, ins Bodenlose stürzen – die Schwindelerfahrung gibt einer Urangst Realität und trifft umso mehr diejenigen, die bei Orientierungsfragen der Kraft des Denkens vertrauen. Denn der aufmerksame Beobachter Marcus Herz hat schon vor über zweihundert Jahren deutlich erkannt, dass es nicht nur einen organisch bedingten Schwindel gibt, sondern dass es gerade das Denken sein kann, das uns schwindeln lässt. Weil das so ist, forderte Herz konsequent eine philosophische Grundausbildung für Ärzte, das solide Wissen über das menschliche Denkvermögen und außerdem eine empirische Psychologie. Auch der Philosoph, so widerspricht Marcus Herz seinem Denkgefährten Immanuel Kant, darf sich nicht damit begnügen, die Seele zu umsegeln, sondern muss sich der Aufgabe stellen, alles über die Folgen einer denkenden Existenz herauszufinden. Insbesondere der Philosoph, der doch für das Denken eintritt und sich von der allgemeinen Aufklärung so viel erwartet, muss sein Leben als das Experiment betrachten, das es nämlich letztlich ist: Der Versuch zu begreifen, inwieweit nicht nur der körperliche Zustand die Denkfähigkeit beeinflusst, sondern wie sehr das Denken oder doch eine bestimmte Art zu denken seinerseits den Körper verändern kann. Denn genau darauf vertraut am Ende doch die Aufklärung: Nicht etwa auf die bloße menschliche Anlage der Vernunft, nicht auf eine sich womöglich einstellende natürliche Entwicklung, sondern auf – so nennt es Marcus Herz – »kultivierte Vernunft«. Also auch darauf, dass die künftige Entwicklung der Menschheit nicht nur eine Frage der Biologie ist, sondern auch die Wahl des denkenden Menschen sein kann. Wenn das aber so ist, dann sollte man auch möglichst viel darüber herausfinden, wie weit unsere Möglichkeit zur Selbstevolution reicht, denn die Gefahr bestand niemals wirklich darin, dass wir Frankensteins Monster oder Roboter schaffen, die

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dann die Welt verheeren. Verheerender als jede digitale Transformation ist nachweislich unser Vermögen zur Selbstprogrammierung, die wir dennoch nie aufhören sollten zu versuchen, auch wenn sie nicht nur Halt bringt. »Es ist«, schreibt Marcus Herz im Versuch über den Schwindel, »nur die Sache des kultivierten, im Nachdenken vorzüglich geübten Verstandes, sich um die Gründe der Dinge in der Welt zu bekümmern und sie überall aufzusuchen; der ganz rohe Verstand begnügt sich bloß mit dem Gegenwärtigen, und der gemeine praktische sieht nur auf dessen Folgen. Es sei eine seltene Erscheinung am Himmel: der Wilde wird sie anstaunen, der gemeine gesittete Mensch auf ihre Folgen und Deutung denken; nur der Weltweise wird ängstlich ihrer Ursache nachforschen.« Der veruntreute Nachlass Am liebsten hätte Marcus Herz seinen Versuch über den Schwindel gleich noch einmal überarbeitet, aber er lässt dann doch nur noch zwei Ergänzungen drucken. Zur Jahrhundertwende verändert sich der Buchmarkt gravierend, und sein Verleger klagt, dass »die Herzischen Schriften jetzt fast gar nicht mehr verlangt werden«70. Es hat natürlich auch mit der Revolution in Frankreich zu tun, dass das Publikum sich anderem zuwendet. Aber man darf auch nicht unterschätzen, dass die Aufklärer Ende des Jahrhunderts in die Jahre gekommen waren. Wenn es sich nicht um Schriften handelt, die unmittelbar politisch Stellung nahmen oder sonst ins allgemeine Gespräch kamen, erschien die Aufklärung längst wie ein Unternehmen älterer gutsituierter Herrschaften und war jedenfalls längst nicht mehr so neu und mitreißend wie in den Jahrzehnten davor. Aber die befürchteten 70  Aus dem Reisebericht von Karl August Böttiger von 1797. In: K. W. Böttiger (Hrsg.), Literarische Zustände und Zeitgenossen. In Schilderungen aus Karl Aug. Böttiger’s handschriftlichem Nachlasse. Erstes Bändchen. Leipzig 1838, S. 111.

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Probleme mit der Zensur treffen Herz im Unterschied zu Kant nicht, der sich auf königliche Anweisung weiterer Äußerungen zur Religion enthalten muss und damit dank eines Helfers in der Zensurbehörde noch glimpflich davonkommt.71 Zwar wird in den Gesellschaften, an denen Herz beteiligt ist, seit je leidenschaftlich über Politik diskutiert, also selbstverständlich auch über die Ereignisse in Frankreich, aber bei seinen Publikationen liegen politische Themen nicht nahe. Dass Herz die republikanische Verfassung für vernunftgemäß, also auch für einen Fortschritt hält, verschweigt er in seinen Schriften keineswegs.72 Poli­tisch ambitioniert jedoch schreibt Herz nur dann, wenn es die jüdischen Reformbestrebungen betrifft. Das ist nicht die Folge eines etwa einseitigen Interesses, sondern peinliche Vorsicht. Als 1789 der hochumstrittene Theologe Carl Friedrich Bahrdt wegen seiner unüberhörbaren Kritik an der königlichen Zensur festgenommen wurde und man auch den Namen von Marcus Herz im Verzeichnis der Mitglieder der Deutschen Union der XXII fand, sah Herz sich gezwungen, öffentlich bekannt zu geben, dass er nie zu diesem von Bahrdt gegründeten preußischen Geheimbund gehört habe.73 Tatsächlich spricht einiges dafür, dass Herz mit Bahrdts Unternehmen zumindest sympathisierte, denn beide Männer kannten sich gut,74 und die Gemeinschaft hatte sich auf den Kampf gegen den grassieren71  Anlass für den Konflikt mit der Zensur sind die Vorveröffentlichungen zu Kants Religion. Siehe Bettina Stangneth, Kants schädliche Schriften. Einleitung zu Band 545 der Philosophischen Bibliothek: Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Hamburg 2003. 72  Christoph Maria Leder hat die meisten Textstellen diskutiert. In: ders., Die Grenzgänge des Marcus Herz. Beruf, Haltung und Identität eines jüdischen Arztes gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Münster u. a. O. 2007. S. 282  ff. 73  Das Verdienst, dieses Dementi in der Februar-Ausgabe der Königlich-­ pr­ivilegirten Berlinischen Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen von 1789 gefunden zu haben, gebührt Ulrich Wyrwa, Juden in der Toskana und in Preußen im Vergleich. Aufklärung und Emanzipation in Florenz, Livorno, Berlin und Königsberg in Pr. London 2003. S. 144. 74  Auch Henriette Herz kannte und schätzte Bahrdt.

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den Obskurantismus verpflichtet. Dass der Regent eine große Schwäche für Geisterseherei hatte, machte die Mitgliedschaft in diesem Club der Aufklärer allerdings gefährlich. Wie Herz es außerdem mit der Religion hält, kann dem Leser nicht entgehen, der aufmerksam danach sucht, aber Herz präsentiert seine Sympathie für den Pantheismus in einer selbstverständlichen Beiläufigkeit, die es schwer macht, ihm volkspädagogische Ziele oder auch nur Provokation zu unterstellen.75 Der Arzt Marcus Herz hingegen diagnostiziert in klaren Worten Phänomene religiöser Verblendung und klerikaler Neurose als gefährliche Krankheiten,76 also als Angelegenheit der Mediziner und nicht etwa der Theologen, und zwar ohne Unterscheidung der Religionen. Der von Biographen sträflich ignorierte Preußenkönig Friedrich Wilhelm II. brachte nicht nur Unangenehmes. Zwar zeigte er eine bedenkliche Begeisterung für Hokuspokus und dubiose Berater, aber seine Regentschaft brachte doch einige Fortschritte in der Gesetzgebung, auch wenn sogar seine mutigsten Reformer natürlich wie reaktionäre Deppen aussehen mussten,77 weil man sich unter seinem Vorgänger längst an andere Freiheiten jenseits des Rechts gewöhnt hatte. Aber eine der Ursachen für das beachtliche Staatsdefizit, das Friedrich Wilhelm II. in seiner Regentschaft zu verantworten hat, ist nicht zuletzt die noch vom Freiherrn von Zedlitz erreichte Unterstützung von Bildungseinrichtungen. Auch Kant profitierte davon, dass der Universitätsfonds schon im Oktober 1787 um zweitausend Taler erhöht wurde, weil damit auch sein Gehalt stieg. Ausgerechnet der gefürchtete Nachfolger von Friedrich II. krönte sogar die 75  Beispielsweise in seinem Krankenbericht im Magazin für Erfahrungsseelenkunde 1, 1783, S. 122: »und hätt’ ich nicht richtigere Begriffe von den Gesetzen der Natur, und wäre ich nicht überzeugt, daß die Blattlaus nicht minder Zweck, nicht minder Bestimmung (obschon mindren Zweck, mindre ­Bestimmung) in der Schöpfung hat, als der Cherub« … 76  So im Grundriß aller medizinischen Wissenschaften (1782). § 187. 77  Zu einer notwendigen Neubewertung der Arbeit von Johann Christoph von Wöllner und der rechtsgeschichtlichen Bedeutung des »Religions­ edikts« vgl. Stangneth, Kants schädliche Schriften. S. o.

»Es soll, wie Sie sehen, nach Ihrer schönen Zeichnung verfertigt sein«, schreibt Herz 1795 an Gottfried Schadow, »und ist, wie jedes Auge sieht, in der Tat nur zu sehr nach derselben geraten. Ich habe weder eine so hohe Stirn, noch einen so dicken Kopf, noch eine so schöne Nase, noch eine so finstere Miene … Es ärgert mich, mich nun dreimal in Kupfer gestochen und nicht ein einziges Mal getroffen zu sehen. Wahrlich mein Gesicht muß ein sehr originelles oder ein gar sehr gemeines sein …«

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beispiellose Karriere von Marcus Herz: Friedrich Wilhelm II. ernennt ihn 1787 zum Professor für Philosophie auf Lebenszeit mit ordentlichem Gehalt. Herz erhält eine jährliche Pension von fünfhundert Taler und damit mehr als doppelt so viel wie Friedrich Schiller für seine Geschichtsprofessur in Jena. Das entsprach dem Jahresverdienst eines besseren Handwerksmeisters. Aber natürlich ging es nicht um das Geld. Die Bezüge als waldeckischer Leibarzt und Hofrat, das bescheidene Direktorengehalt von der jüdischen Gemeinde und die deutlich höheren Arzthonorare vor allem für die vielen Anfragen von Auswärtigen erlaubten Herz und seiner Frau eine bequeme Haushaltsführung. Die Professur war vor allem, wie natürlich niemandem entging, »eine Anstellung, wie sie vorher noch niemals einem seiner Glaubensgenossen zu Teil geworden war«78, also eine Sensation, hinter der man die helfende Hand von Zedlitz vermutete. Dass der erste Jude, der überhaupt diesen Titel tragen darf, ein Kantianer ist, befeuert bis heute Spekulationen um die angeblich jüdisch geprägte Aufklärung im Unterschied zur deutschen Kultur. Johann Georg Zimmermann, einst ein gefeierter Arzt, den auch Mendelssohn zu Rate zog, dann unter dem Eindruck der Französischen Revolution ein Aufklärungshasser mit paranoiden Zügen, bezeichnet schließlich 1790 die gesamte aufgeklärte Philosophie unmissverständlich als »berlinische Aufklärungssynagoge«.79 78  Gottlieb Krause (1881). S. o., S. 204. 79  Zimmermann verwendet diese Formulierung öfter, zuerst aber meines Wissens in den Fragmenten über Friedrich den Großen zur Geschichte seines Lebens, seiner Regierung und seines Charakters. Von dem Ritter von Zimmermann, Königlichen Leibarzt und Hofrath in Hannover, der Academien der Wissenschaften in Petersburg und Berlin, der Gesellschaften der Aerzte in Paris, London, Edinburgh und Coppenhagen, und der Societaet der Wissenschaften in Göttingen Mitglied. Frankfurt a. M. und Leipzig 1790. Band 3, S. 189. – Der Bruch zwischen den Aufklärern und Zimmermann hatte nicht unwesentlich damit zu tun, dass sein erstes Buch über Friedrich II. mit sehr steilen Thesen über die sexuelle Orientierung des Königs daherkam und in Grund und Boden verrissen worden war. Auch darum feiert Zimmermann als einer der Wenigen das Religionsedikt von 1788.

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Dass die Buchverkäufe zurückgehen, muss Herz nicht bekümmern. Nur sein Versuch, 1792 Mitglied der königlichen Akademie der Wissenschaften zu werden, scheitert wesentlich daran, dass der König sich nicht auch noch dazu durchringen kann, die Akademie erstmals für Juden zu öffnen und dafür die Satzung zu ändern.80 Aber ansonsten stehen ihm die Türen offen. Herz ist längst Mitglied der Helvetischen Gesellschaft correspondierender Aerzte und Wundärzte, ein gern gesehener Gast in verschiedenen Runden, seine Beiträge sind in Zeitschriften willkommen, und als Arzt ist Herz gefragter denn je. Wenn er seine Stimme erhebt, um vor einer neuen Behandlungsmethode zu warnen, dann haben die Beiträge gehöriges Gewicht, so wie in der zu Beginn des 19. Jahrhunderts hart geführten Debatte um Nutzen und Schaden der Impfung, in der Herz einen kritischen Standpunkt vertritt, weil er die aus seiner Sicht übereilten Versuche am Menschen nicht gutheißen kann und in ungewohnt scharfem Ton eine moralische Debatte darüber fordert, weil bei derartigen Experimenten vorher geklärt werden müsse, was medizinische Forschung darf und was nicht. Menschen sind keine Steine und auch keine Maschinen: »Jeder einzelne Mensch, den wir zu behandeln haben«, schreibt er im Aufsatz über Therapietheorien bei Lungenschwindsucht, ist »höchster Endzweck, wir dürfen ihn nie als Etwas seiner Gattung untergeordnetes betrachten, nichts berechtigt uns, ihn aufzuopfern, oder nur zu vernachläßigen und wenn die Erhaltung des ganzen Geschlechts davon abhinge.«81 Selbstverständlich spricht hier nicht nur der 80  Auch Moses Mendelssohn war durch Friedrich II. abgelehnt worden, aber im Unterschied zu Herz hatte Mendelssohn sich nicht selber beworben, sondern war vorgeschlagen worden. Dominique Bourel, Moses Mendelssohn, Markus Herz und die Akademie der Wissenschaften zu Berlin. In: Mendelssohn Studien IV, 1979, S. 223–234. Ders., Die verweigerte Aufnahme des Markus Herz in die Berliner Akademie der Wissenschaften. In: Bulletin des Leo Baeck Instituts 67, 1984, S. 3–13. 81  Ueber den Gebrauch des Wasserfenchelsaamens in der Lungenschwindsucht (1796). S. 47. (PhMA, S. 49.) – Die Rechtsprechung der Zeit folgt dem Einspruch von Herz. Vgl. Verordnung im Reichs-Anzeiger von 1801, II, Nr.  222.

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Zeitzeuge Herz, der genau weiß, dass eine wissenshungrige Forschung für Menschenversuche immer die Schwächsten opfert. Hier spricht dann doch vor allem der rigoristische Kantianer. Gern wäre er noch einmal nach Königsberg gefahren, um Kant wiederzusehen, und weiß doch, dass daraus nichts mehr werden wird. »Ich muß mich an der Erinnerung der fernen Jahre laben, die ich mit und bei ihm zugebracht habe«, schreibt er Ende 1796 an Michael Friedländer nach Königsberg, »so wie ein alter erschöpfter Wollüstling sein nagendes ohnmächtiges Gefühl durch die Bilder seiner jugendlichen Genüsse zu besänftigen sucht.«82 Es beglückt ihn aber zu wissen, dass sein Lehrer und Freund noch lebt. Dass Kant ihn überleben wird, konnte zu diesem Zeitpunkt niemand ahnen. Von dem Tod seines Experimentalphilosophen sollte er dennoch nichts mehr erfahren. 1797 nötigt ihn das Alter, die Vorlesungstätigkeit einzustellen, und als Herz 1803 überraschend stirbt, hat Kant seine körperliche und geistige Kraft so weit verloren, dass er oft nicht einmal mehr seine Hausgefährten erkennt. Erst ein Jahr später ist dieses erschütternde Siechtum vorbei. Marcus Herz hat bei aller Sehnsucht nach Königsberg offensichtlich in Berlin sein Glück gefunden. Vor allem aber wird er inzwischen gesucht. Ihm und seiner Frau begegnen zu dürfen, eine seiner Vorlesungen zu hören und vielleicht sogar ein Gespräch mit Herz zu führen, gehört zu den Erlebnissen, für die mancher eigens nach Berlin reist. Auch der spitzfedrige Altertumsforscher Karl August Böttiger suchte ihn 1797 während seines Berlin-Besuchs auf. Im Unterschied zu Juden im Allgemeinen kann er von Herz und seiner Frau nur Gutes berichten: »An dem wackern Herz möchte auch der scharfsinnigste Juden­ späher keine Spur seiner Abstammung entdecken. Er ist kleiner untersetzter Statur, hat ungemein sprechende Augen und ein re82  Herz an Michael Friedländer, 31. Dezember 1796. 3 Seiten. Original verschollen. Abschrift in: Lessings Bücher- und Handschriftensammlung. Berlin 1914–16, Zweiter Band, S. 102.

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dendes, fast mimisches Mienenspiel, drückt sich sehr fließend, ­bestimmt und treffend aus, ohne nach Witz zu haschen, den er weit weniger sucht als findet, kleidet gern seine Beobachtungen und Tadel über andere in kleine Anekdoten und Geschichtchen ein, wovon die Anwendung auf den gegenwärtigen Fall von selbst in die Augen springt, und hat ein sehr frohmütiges, nichts weniger als satyrisches und kaustisches Lachen. Er ist gewiß einer der tätigsten Menschen in Berlin als Arzt und Gelehrter. Andere Ärzte rollen bei einer weit weniger ausgebreiteten Praxis beständig in einer Kutsche herum, und diese zu besitzen ist gewöhnlich das erste Ziel eines jungen berliner Arztes. – Er durchläuft die große Stadt beständig zu Fuße. Im Sommer wohnt seine Frau in der Mitte des Tiergartens. Da bringt Herz die Morgen und Abende zu und hat daher schon darum alle Tage eine halbe Meile zu laufen. Rechnet man dazu die häufigen Besuche der Fremden, die er alle mit großer Bereitwilligkeit aufnimmt, Korrespondenz, Schriftstellerei, Vorlesungen usw., so begreift man kaum, wie dieser rastlos tätige Mann nicht von Geschäften erdrückt wird und immer noch Zeit übrig hat, die jüngsten Blüten in jeder Literatur zu brechen und wieder in seine Gespräche und Vorlesungen zu verpflanzen. Freilich kommt ihm dabei seine alles Neue sogleich prüfende und durchschauende Frau und der Vorzug großer Städte, durch Fremden­ besuch sogleich alles Neue zu erfahren, sehr zu statten.«

Besonders beeindruckt ist Böttiger aber von den Vorlesungen: »Er gehört ohne Widerrede zu den besten Dozenten, die ich je gehört habe.«83 Diesem Fremdenbesuch verdanken wir auch den einzigen Hinweis auf den nächsten großen Buchplan: »Herz arbeitet schon lange an einer philosophischen und psychologischen Abhandlung über den moralischen Ekel, den er als den Gegensatz des Mitleids betrachtet wissen will.« Marcus Herz starb völlig überraschend am 19. Januar 1803 zwei Tage 83  K. W. Böttiger (Hrsg.), Literarische Zustände und Zeitgenossen. In Schilderungen aus Karl Aug. Böttiger’s handschriftlichem Nachlasse. Erstes Bändchen. Leipzig 1838, S. 104–105 und 108.

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nach seinem 56. Geburtstag an einem Schlaganfall. Niemand hat seine Manuskripte aufbewahrt. Mit Herz starb auch der Doppelsalon, und das Leben von Henriette Herz veränderte sich schlagartig. Zwar hatte ihr Mann Kapitalanlagen und sie erhielt neben den Erträgen auch eine Pension, aber das hätte niemals ausgereicht, weiterhin die Mittel für einen Salon auf diesem Niveau aufzubringen. Wenige Jahre später erging es Henriette außerdem wie so vielen Preußen: Die französische Besatzung zog Kapitalanlagen ein, und wenn Renten wie auch die Witwenkasse überhaupt gezahlt wurden, dann reduziert und unregelmäßig. Aber die Finanzen waren selbstverständlich nicht der Hauptgrund dafür, dass der Salon nicht weitergeführt wurde. Henriette war eine alleinlebende Frau, ein solches Unternehmen wäre also nicht schicklich gewesen. An Angeboten zu heiraten fehlt es ebenso wenig wie an Möglichkeiten, als Erzieherin zu arbeiten. Schon zur Zeit ihrer Hochzeit konnte Henriette mehrere Sprachen, und ihr Mann unterstützte sie darin, Sprachkenntnisse zu sammeln wie andere Frauen Schmuck. Französisch, Spanisch, Italienisch, Hebräisch, Latein, Griechisch – ihr Englisch war so gut, dass sie ­sogar zwei Reiseberichte übersetzt hatte. Dazu kamen Kenntnisse in Sanskrit, Schwedisch, Türkisch und Malaiisch. Es fehlte also weder an Expertise noch an Fähigkeiten. Aber Henriette Herz hatte nie die Not, sich nach einer dauerhaften Beschäftigung umzusehen, unternahm viele Reisen und suchte sogar Goethe auf, der ihrer schwärmerischen Vorstellung natürlich nicht entsprach. Dank ihrer Ehe war sie das freie und eigenständige Leben gewöhnt. Früher hat man in solchen Fällen gern gesagt, dass ein Mann »seine Frau zu oft sich selbst überlassen« hat. Heute setzt sich die Einsicht durch, dass sich genau das Gleichberechtigung nennt, weil es zumindest einige Frauen gibt, die durchaus etwas mit sich allein anfangen können und wollen. Marcus Herz nannte seine Frau »die Geliebte meines Herzens«84 und ließ sie gerade darum allein Gesellschaften ge84  Psychologische Beschreibung seiner eigenen Krankheit von Herrn D.

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ben und aufsuchen. Er verlangte von ihr auch nicht, nach jüdischem Brauch das Haar zu bedecken, und erlaubte sogar, dass man seine Frau in voller Schönheit malte. Obwohl ihr Mann die Eifersucht kannte, ließ er seine umschwärmte Frau nichts davon spüren.85 Nur weil sein Beruf ihm nicht gestattete, länger aus Berlin fort zu sein, sollte seine Frau auch darunter nicht zu leiden haben. Marcus schickte Henriette allein auf Reisen. Sie sollte Halle und seine Freunde kennenlernen und kam auch sonst erstaunlich herum. In ihren Erinnerungen berichtet Henriette nicht ohne Kränkung, dass ihr Mann sie nach der Hochzeit noch lange »wie ein Kind« behandelt habe und auch später nicht die Begabung zu der alles überwältigenden Leidenschaft zeigte, mit der sie gern begehrt worden wäre. Da sie aber nun einmal als Kind verheiratet worden ist, kann man ihm diese Zurückhaltung gar nicht hoch genug anrechnen, zumal er als Arzt in seinem Text Über den falschen Schwindel, »auch durch die Erfahrung hinreichend belehrt«, die Überzeugung vertritt, dass Lustunterdrückung für Mann und Frau gleichermaßen ungesund ist. Henriette Herz starb 1847 im Alter von 83 Jahren und wurde auf dem Friedhof der Jerusalems- und Neuen Kirchgemeinde vor dem Halleschen Tor beigesetzt, weil sie sich nach dem Tod ihrer Mutter hatte taufen lassen. Die Grabstätte mit dem großen schwarz-goldenen Kreuz ist heute ein Ehrengrab der Stadt Berlin. Das fünf Kilometer entfernte Grab ihres ManMarkus Herz an Herrn D. J.[oël] in Königsberg. In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde I, 1783. S. 44–73. Nachdruck 1986. S. 121–142. Hier S. 132. 85  Das kann man in den Erinnerungen von Henriette Herz nachlesen. Während der Wahnvorstellungen, die Herz in seiner schweren Krankheit entwickelt und von denen Marcus Herz auch im Versuch über den Schwindel berichtet, überschüttet er seine Frau mit Vorwürfen und verbittet sich in einem Eifersuchtsanfall ihre Anwesenheit im Krankenzimmer. Nach der Krankheit sprechen beide darüber, ebenso offen, wie Henriette ihrem Mann auch von Werbungsversuchen ihrer Freunde erzählt. Sowohl Henriette als auch ihr Mann berichten übereinstimmend, dass ihm seine Vorhaltungen zutiefst peinlich waren, auch wenn Herz den Inhalt der Vorwürfe in den beiden Berichten über den Krankheitsverlauf nicht der Öffentlichkeit preisgibt.

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nes wurde zusammen mit dem Moses Mendelssohns von der Gestapo zerstört, die den Jüdischen Friedhof in Berlin Mitte 1943 restlos vernichtete. Wer im Leben das Glück hatte, von einem so großen Philosophen und einer noch schöneren Frau geliebt zu werden, könnte zweifellos eine Ewigkeit darüber lächeln, wenn es die Nachwelt anders halten will. David Friedländer allerdings verging jedes Lachen, als er 1804 die Biographie von Ludwig Ernst Borowski über Immanuel Kant las, die auch noch mit dem Prädikat »Von Kant selbst genau revidiert und berichtigt« für sich warb. Borowski, wie alle zeitgenössischen Kant-Biographen ein Theologe, schrieb tatsächlich etwas ganz Erstaunliches: »Einst war ich eben bei ihm, da ihm Marcus Herz eine Schrift über den Schwindel zuschickte, vor der Kants Name stand. Kaum hatte er den Titel angesehen und dabei geäußert, daß er vom Schwindel frei sei, als er dem Diener auch schon befahl, es zu seinen übrigen Büchern (…) zu tragen. Sicher hat er die Zueignungsschrift nie gelesen, obwohl er aus Herzens Briefen wußte, daß sie da hinter dem Titelblatt stand.«86 Das Thema wäre also für den großen Philosophen nicht von Interesse gewesen, außerdem habe Kant es eben nicht gemocht, wenn irgendwelche Schüler seinen Namen in ihre Bücher druckten, erzählt der Zeitzeuge. »Kant sagte es wohl nie laut, daß diese durch die Anreihung ihrer Namen an den seinigen im Grund nur – sich selbst und nicht ihn beehren wollten; aber willkommen waren sie ihm nie.« Friedländers zornige Richtigstellung erscheint 1805 in der Neuen Berlinischen Monatsschrift unter dem Titel Kant und Herz. »Eine lächerliche Unwahrheit!«, schimpft er und stellt minutiös Fakten dagegen. Diese Chronik einer Freundschaft konnte aber nicht verhindern, dass Borowskis Darstellung bis heute als Quelle heran­gezogen wird, wenn es um die Wirkungsgeschichte des 86  Ludwig Ernst Borowski, Darstellung des Lebens und Charakters Immanuel Kants. Königsberg 1804. Zitiert nach: Felix Groß (Hrsg.), Immanuel Kant. Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen. Die Biographien von L. E. Borowski, R. B. Jachmann und A. Ch. Wasianski. Berlin 1912, Neudruck Darmstadt 1993. Beide Zitate S. 63.

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Versuchs über den Schwindel geht, als müsste man die Verlässlichkeit eines Biographen nicht jeweils genau überprüfen. Denn natürlich hätte zu allen Zeiten ein Blick in die Briefe und Bücher von Herz für einen Anfangsverdacht gereicht. Da Borowski ausdrücklich erwähnt, dass es sich um eine öffentliche Widmung gehandelt haben soll, kann keine handschriftliche Zueignung gemeint gewesen sein. In der Widmungsfrage habe dieser Biograph sich offenbar »geirrt«, schreibt Friedländer vorsichtig. Tatsache ist, dass keines der Bücher von Marcus Herz seinem Freund in Königsberg gewidmet ist, nicht einmal die Betrachtungen aus der spekulativen Weltweisheit, also sein direkt über Kant geschriebenes Werk. Eine persönliche Widmung findet sich sehr selten. Seine Dissertation ist »amico suo« Marcus Jakob Marx zugedacht, einem Arzt ebenfalls jüdischer Herkunft, der vor ihm in Halle studiert hatte und erfolgreich in Hannover praktizierte. Die Briefe an Aerzte sind seinem Lehrer Goldhagen in Halle gewidmet. Die intimste Widmung steht in der medizinischen Enzyklopädie von 1782, die Herz den beiden engen Freunden zueignet, die ihm während seiner schweren Krankheit zum Jahreswechsel 1780/1781 zur Seite standen: Christian Gottlieb Selle, Arzt und späterer Leibarzt dreier Könige, und Johann Christian Friedrich Voitus87, der es vom Feldscher zum bewunderten Chirurg und Wundarzt gebracht hatte, der außerdem Chirurgen ausbildete und als herausragender Geburtshelfer galt. Selle und Voitus arbeiteten beide an der Charité und waren eng befreundet. Die anderen Bücher von Herz hingegen beginnen mit Widmungsschreiben an die adeligen Förderer. Außerdem reicht ein Blick auf die kurzen Überlegungen, die Kant selber zum Schwindel anstellt, um daran zu zweifeln, dass Kant das 87  Der in der Literatur meist zu findende Name Johann Christoph Friedrich Voitus ist falsch, wie sich der Biographie entnehmen lässt, die 1787 anlässlich seines frühen Todes im Archiv für die Geburtshülfe, Frauenzimmerund neugeborene Kinder-Krankheiten erschien. ( Jena 1787, Seite 154–166). Da der Text von seinem engsten Freund Christian Gottlieb Selle stammt, der ihn den »Freund meines Herzens und de[n] Gesellschafter meines Kopfes« nennt, können wir darauf vertrauen, dass er es besser wusste.

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Buch seines Freundes nicht gelesen haben soll.88 Es stellt sich also die Frage, warum ein Kirchenmann so waghalsig den eigenen Ruf riskiert, um die Bedeutung von Marcus Herz für Immanuel Kant bis zur Unkenntlichkeit herunterzuschreiben, denn natürlich gab es in Königsberg und Berlin auch nach dem Tod von Herz und Kant noch genug Zeugen aus der Zeit, als sich ein angehender Professor einen jüdischen Studenten zum Beistand bei seiner Prüfung gewünscht hatte. Die große Anteilnahme, die Kant am Werdegang seines Freundes nahm, ließ auch keineswegs nach. Selbst wenn man berücksichtigt, dass Borowski in den Sechzigerjahren Feldprediger und darum wenig in Königsberg war, konnte ihm zu keinem Zeitpunkt entgangen sein, dass Marcus Herz nicht irgendein Student war und schon gar keiner, der es nötig gehabt hätte, sich mit Kants Namen wichtig zu machen. Andererseits hatte er offensichtlich auch kein Pro­blem damit zu verschweigen, dass Kant nur einen kleinen Teil des Biographie-Manuskripts tatsächlich zu lesen bekommen hatte. Als die Bibliothek Kants zur Versteigerung kam, fehlten neben vielen Briefen auch alle Bücher von Marcus Herz außer der Doktorarbeit, dem ersten Band der Briefe an Aerzte von 1777 und der zweiten Auflage des Versuchs über den Geschmack.89 Das Gerücht, dass Herz ein mehr oder minder unerwünschtes Kant-Anhängsel war und man diesen Autor nicht lesen 88  Auf signifikante Ähnlichkeiten der Äußerungen Kants zum Schwindel hat Rebekka Ladewig hingewiesen und auch die Unterschiede zu Herz herausgearbeitet. Dies., Augenschwindel. Nachbilder und die Experimentalisierung des Schwindels um 1800. In: Werner Busch und Carolin Meister (Hrsg.), Nachbilder. Das Gedächtnis des Auges in Kunst und Wissenschaft. Berlin und Zürich 2011. S. 107–126. Und dies., Schwindel. Eine Epistemologie der Orientierung, Tübingen 2016. S. 147  ff. 89  Kant hatte testamentarisch verfügt, dass sein »ganzer Büchervorrath« an Johann Friedrich Gensichen, seinen Professorenkollegen, gehen sollte. Gensichen verwarte die Bücher von Kant getrennt von seinen auf, wobei natürlich nicht auszuschließen ist, dass doch mal etwas verstellt worden ist. Dass aber 1808 so viele der späteren Bücher von Marcus Herz fehlten, als Kants und Gensichens Bibliotheken getrennt erfasst wurden, um die Bücher zu versteigern, ist doch bemerkenswert. Immerhin war das erst vier Jahre nach Kants Tod.

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müsse, hielt sich trotz des Protestes von David Friedländer hartnäckig. Im nationalen Taumel des frühen 19. Jahrhunderts mit dem aufkommenden Antisemitismus, den Saul Ascher so unübertrefflich »Germanomanie« genannt hat, wurde die Aufklärung schnellstmöglich historisiert. In den Erinnerungen, die Henriette Herz 1818 in Rom zu schreiben begann, kommt ihr Mann nur am Rande vor, und seine Frau gibt sich auch offensichtlich Mühe, die Aufmerksamkeit für ihr eigenes Leben und Lieben nicht durch die allzu genaue Schilderung der tiefen Zuneigung zu schmälern, die sie einmal für ihn empfunden hatte. Nur der Briefwechsel mit dem »schweigenden Kant« war selbstverständlich viel zu bemerkenswert, als dass Herz ganz hätte vergessen werden können. Aber sogar E. Flatow, der (oder die90) Herz immerhin 1928 als den »Vorkämpfer der bewußten Psychotherapie«, also als direkten Vorläufer Sigmund Freuds anpreist, sagt den Lesern auf mageren zwei Seiten vor allem immer wieder, dass von den Büchern, die Marcus Herz geschrieben hat, »nichts weiter übrigbleibt als der gute Wille« und »ein geistreiches Kuriosum«: »Als Philosoph zwar ein glänzender Vermittler der Ideen anderer, hat er nichts eigenes geschaffen«, was zumindest die Frage aufwerfen würde, wie »nichts eigenes« ein Kuriosum sein kann.91 Es brauchte den antisemitischen Exzess der Nationalsozialisten, um sich auch der jüdischen Aufklärer mit gutem und manchmal auch nur Wiedergutmachungs-Willen zu erinnern. Der Anspruch, möglichst viel zu wollen, führt oft dazu, dass sogar in Biographien nur wenig vom Menschen, aber viel von großen historischen Bögen und noch größeren Thesen zur Geschichte die Rede ist.92 Erst seit wenigen Jahren 90  Leider ist es mir bisher nicht gelungen den Vornamen des Verfassers mehrerer Beiträge für die Deutsche Medizinische Wochenschrift herauszufinden. Auch der Thieme-Verlag, bei dem die Zeitschrift erscheint, konnte dazu bisher nichts Näheres mitteilen. 91  E. Flatow, Markus Herz, ein Vorkämpfer der bewußten Psychotherapie vor 150 Jahren. In: Deutsche Medizinische Wochenschrift 1928, 29, S. 1220–1221. 92  Eine sehr eindrückliche Übersicht über die Rezeptionsgeschichte gibt Christoph Maria Leder in seinem fleißigen und über die Grenzen seines eth-

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ist ein Interesse daran zu bemerken, die Gedanken von Marcus Herz gerade aus dem interdisziplinären Ansatz heraus fruchtbar zu machen.93 Nichts ist einfacher als das, denn das Großartige an philosophischen Texten ist doch, dass in ihnen das Denken eines Menschen so bewahrt ist, als wäre es erst gestern aufgeschrieben worden. Historisch Bedingtes findet sich unvermeidlich in allem, was wir tun. Aber wer Philosophie auch als die Wissenschaft des konstruktiven Lesens begreift, wird schnell herausfinden, warum Immanuel Kant dem Glück für diesen Gesellschafter seines Denkens so dankbar war. nologischen Interesses hinaus lesenswerten Buch Die Grenzgänge des Marcus Herz (2007), s. o. S. 14–18. Dass die erste wenigstens etwas längere Monographie über Herz, nämlich die 74 Seiten lange Dissertation von Brigitte Ibing aus dem Jahr 1984, nie in den Druck kam, ist bezeichnend. Der Versuch, Herz im Kontext der Judenemanzipation als Beispiel gelungener Befreiung zu verstehen, hängt wesentlich von der These ab, dass der Assimilationsprozess als innere Befreiung aus dem Ghettoleben zu verstehen ist, also jede Biographie vornehmlich der Beweis für die Möglichkeit diese vermeintlichen Wegs zur vollwertigen Bürgerexistenz ist. Vgl. Brigitte Ibing, Marcus Herz, Arzt und Weltweiser im Berlin der Aufklärung. Lebens- und Werkbeschreibung. Dissertation. Münster 1984. Erfahrungsgemäß kommen bei noch größer angelegten Geschichtsdarstellungen nicht nur die biographischen Teile zu kurz. Sie lösen vor allem Debatten über die Kontextualisierung aus, die zwar ihre Berechtigung haben, aber doch nicht zur gemeinsamen Auseinandersetzung mit einem Denker führen. Vgl. Martin Davies, Identity or History. Marcus Herz and the End of Enlightenment. Detroit 1995. Dazu die Rezension von ­Johan van der Zande in: Central European History 29, 1996, S. 585–587. 93  Neben Aufsätzen aus Interesse an der Wissenschaftsgeschichte wird insbesondere bei der Frage nach dem Zusammenhang von Krankheitsbeschreibung und Literatur, also zur Ästhetik des Krankenberichte, gern auf Herz zurückgegriffen, der schließlich auch einen Versuch über den Geschmack geschrieben hat und tatsächlich ein großes Talent für Dramaturgie beweist. Äußerst selten sind Versuche, Herz als Philosophen zu lesen. Insbesondere ist hier eine bemerkenswerte Dissertation zu nennen: Martina Kliem, Das Zeit-Wissen medizinisch-psychologischer Fallgeschichten um 1800. Epistemische Schreibweisen bei Marcus Herz, Christian Heinrich Spieß und Heinrich von Kleist. Dissertation, Ludwig-Maximilians-Universität München 2017. Zu Herz insb. S. 135–213.

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Wer im 21. Jahrhundert den Versuch über den Schwindel nur in der Absicht liest, seine konkreten Kenntnisse der Pathologie zu erweitern und eine Therapie zu finden, kann nur enttäuscht werden. Auch die Lektüre zur Bestätigung der Überlegenheit des heutigen Wissens lohnt sicherlich den Aufwand nicht. Wer aber bereit ist, den gewohnten Denkweg der Einzeldisziplin zu verlassen und den Schwindel als philosophisches Problem ernst nehmen will, wird dabei Fragen entdecken, die bis heute keineswegs durchdacht, geschweige denn beantwortet sind. Denn auch wenn wir beispielsweise viel mehr über die organischen Ursachen mancher Schwindelerfahrung wissen, ist noch lange nicht erklärt, warum der menschliche Geist als Reaktion auf ein körperliches Ungleichgewicht genau die Vorstellungen hervorbringt, die er hervorbringt, und keine anderen. Der Vorschlag, den Marcus Herz 1786 vorlegte, ist ebenso originell, wie er revolutionär sein könnte, wenn man seine Gedanken aufnähme: Was wäre, wenn der Einfluss des Denkens auf den Körper wesentlich mit der Zeiterfahrung im Denken zu tun hat? Ist es gar nicht in erster Linie das, was wir denken, sondern die Rhythmik unserer gedanklichen Zuwendung zu uns und zur Welt, mit der wir die Manifestation des Vorgestellten beeinflussen, so dass das entscheidende Problem für das Verständnis des Zusammenhangs von Mechanismus und Organismus, also auch der menschlichen Existenz, nicht Sein und Zeit, sondern Denken und Zeit heißt? Und muss nicht jede von uns rekonstruierte Intelligenz so lange unvermeidlich künstlich bleiben, wie wir die Dynamik der Erkenntnisvermögen nicht besser verstanden haben? Das Buch über den Schwindel ist der Versuch, Erkenntnistheorie auf der Grundlage der Erfahrung mit einer Illusion des Erlebens zu ergründen, die dem Menschen die Orientierungsfähigkeit nimmt und damit die Möglichkeit zum aufrechten Gang. Keiner, der ernsthaft darüber nachdenken will, was der Mensch wissen kann, wird an den Fragen von Marcus Herz vorbeikommen, ganz gleich, ob man sich selber eher zu den Experimentalphilosophen oder zu den Seelenumseglern zählt.

T E X TG E S TA LT U N D M AT E R I A L

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iese Edition des Versuchs über den Schwindel folgt der von Herz überarbeiteten zweiten Auflage von 1791 aus dem Verlag der Vossischen Buchhandlung in Berlin. Marcus Herz verwendet eine für das 18. Jahrhundert ungewöhnliche Orthographie, die aus unserer Sicht erstaunlich modern wirkt. Für diese Ausgabe wurde auch darum sehr behutsam geglättet, und das auch nur, um das Lesen zu erleichtern. So entfällt durchweg das h aus dem th, das y wurde durch das i ersetzt (also bei statt bey), ergänzt wurde, wenn es dem heutigen Gebrauch entspricht, ein e hinter i usw. Der Lautstand wurde nicht verändert. Auch auf das Ändern der Getrennt- und Zusammenschreibung wurde konsequent verzichtet. Eigenheiten des Autors bleiben grundsätzlich unangetastet, um Wortspiele kenntlich zu lassen. Die Zeichensetzung folgt getreu dem Original, weil meiner Meinung nach Eingriffe in die Zeichensetzung eines Philosophen immer die Gefahr mit sich bringen, Denkbögen und die nicht zuletzt von Herz besonders betonte Denkrhythmik zu verfälschen und dem Leser im schlimmsten Fall ganz vorzuenthalten. Die der zweiten Auflage schon 1791 beigegebene Corri­genda-­Liste von M ­ arcus Herz wurde eingepflegt. Offensichtliche Druckfehler wie fehlende Punkte, Schlussklammern, verschriebene Namen und dergleichen, von denen es verglichen mit anderen Drucken der Zeit ungewöhnlich wenige gibt, wurden stillschweigend korrigiert. Diese Ausgabe enthält außer dem Versuch über den Schwindel zwei Beigaben, die Herz einige Jahre nach der zweiten Auflage in Zeitschriften veröffentlicht und ausdrücklich als Ergänzungen zu seinem Buch verstanden hat. Über den falschen Schwindel erschien 1797 als Aufsatz im Journal der practischen Arzneykunde und Wundarzneykunde. Der kleine Abschnitt unter dem Titel Etwas über Raum und Zeit, als Momente des Assoziation entstand offenbar 1798 anlässlich einer Diskussion über den

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Textgestalt und Material

Sechsten Abschnitt des Versuchs über den Schwindel, die sich an einem Gesellschaftsabend ergab. Herz schrieb den hier abgedruckten Text für den Neuen Teutschen Merkur. Auch diese Texte wurden nach denselben Regeln wie der Haupttext ediert. Das der Einleitung beigegebene Verzeichnis der Veröffentlichungen von Marcus Herz erscheint mit dem Wunsch auf Vollständigkeit. Da es sich dabei immer um ein heikles Unterfangen handelt, wenn der Autor in unterschiedlichsten Zeitschriften und vor allem auch unter Pseudonym publiziert hat, freuen sich Herausgeber und Verlag über jeden Nachweis weiterer Titel. Um den Zugang zur Debatte der Zeit zu erleichtern, sind die wichtigsten Rezensionen zu den jeweiligen Büchern ebenfalls verzeichnet. Rezensionen und Aufsätze werden nicht unterteilt, weil sie sich auch nicht immer klar voneinander abgrenzen lassen. Alle Ergänzungen des Herausgebers im Text stehen in [eckigen Klammern] oder in Anmerkungen, die nur dazu dienen sollen, die vielen Namen aufzuschlüsseln, die uns heute nicht mehr selbstverständlich sind, und Übersetzungshilfen zu bieten. Lateinische Originalzitate, die Herz als Beleg für seine eige­ nen Übersetzungen anführt, werden nicht noch einmal übersetzt. Abweichungen zwischen Erst- und Zweitauflage werden nur dort erwähnt, wo sie inhaltlich bedeutsam sind. Alle dieser Edition beigegebenen Abbildungen zeigen mit einer Ausnahme Drucke aus Privatbesitz. Stellvertretend für alle meine Antiquare sei Fritz-Dieter Söhn aus Marburg und Martin Fach aus Ober­ursel für die Hilfe bei der Suche nach den außergewöhnlich gut erhaltenen Büchern und Kupferstichen gedankt. Prof. Dr. Axel Helmstädter, Präsident der Inter­natio­ nalen Gesellschaft für Geschichte der Pharmazie und Lehrer an der Universität Frankfurt am Main, hat großzügig geholfen, das Rezept von Marcus Herz zu entschlüsseln. Dr. med. Herwig Finkeldey, Anästhesist und Intensivmediziner mit einem gar nicht hoch genug zu schätzenden Hang zu literarischen Spekulationen, hat sich freundlicherweise überreden lassen, alle berechtigten Vorbehalte gegenüber einer Diagnose anhand

Textgestalt und Material

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von historischen Krankheitsberichten beiseite zu lassen und sich das »Nervenfieber« von Marcus Herz genauer angesehen. Willi Winkler, meinem unermüdlichen Erstleser, gebührt mehr als Dank für unverzichtbare Vorschläge und das außerordentliche Lektorat. Diese Edition wäre nicht zustande gekommen, wenn sich der Meiner Verlag, also Manfred Meiner und ­Marcel Simon-­Gadhof, nicht zu dem Wagnis durchgerungen hätten, den vergessenen Text eines unter­schätzten Autors in die Philosophische Bibliothek aufzunehmen und mich nach achtzehn Jahren mit viel Geduld einen weiteren Band dieser schönen Reihe betreuen zu lassen. Dass die Herstellung auch diesmal wieder in den bewährten Händen von Jens-Sören Mann lag, war ein besonderes Geschenk. Ohne den Arzt Marcus Herz aber und seinen Therapievorschlag wäre dieser Band vermutlich nie fertig geworden. Bad Pyrmont im Juni 2018

bettina stangneth

SCHRIFTENVERZEICHNIS in chronologischer Reihenfolge

Bücher Betrachtungen aus der spekulativen Weltweisheit. Königsberg 1771. Rezensionen:  – Göttingische Gelehrte Anzeigen 104, 31. August 1771, S. 892– 895.  – Breslauische Nachrichten von Schriften und Schriftstellern 52, 28. Dezember 1771. S. 411–412.  – Allgemeine Deutsche Bibliothek 20, 1773. S. 227–229. Neuausgabe: Betrachtungen aus der spekulativen Weltweisheit, hrsg. von Elfriede Conrad, Heinrich P. Delfosse und Birgit Nehren, Hamburg 1990. Philosophische Bibliothek Band 424. Freymüthiges Kaffegespräch zwoer jüdischen Zuschauerinnen über den Juden Pinkus, oder über den Geschmack eines gewissen Parterrs. Berlin 1771. Rezension:  – Christian Heinrich Schmid, Theaterchronik. Gießen 1779. S. 84–93. Neuausgabe: Gunnar Och, »Freymüthiges Kaffegespräch Zwoer Jüdischen Zuschauerinnen über den Juden Pinkus.« Eine Theaterkritik von Marcus Herz. In: Lessing Yearbook 20, 1988. S. 61–86. De varia naturae energia in morbis acutis atque chronicis. Auctor Marcus Herz Berolinensis. Halle 1774. (Dissertation.) Versuch über den Geschmack und die Ursachen seiner Verschiedenheit. Leipzig und Mietau 1776. Zweite vermehrte und verbesserte Auflage. Berlin 1790.

Schriftenverzeichnis

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Rezension:  – Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste 22, 1778. S. 255–289. Rezensionen zur zweiten Auflage:  – Karl Philipp Moritz, Über des Herrn Professor Herz Versuch über den Geschmack. An Herrn Salomon Maimon. In: Annalen der Akademie der Künste und mechanischen Wissenschaften zu Berlin. Berlin 1791. S. 72–78.  – Salomon Maimon, Schreiben des Herrn Salomon Maimon an den Herausgeber. In: Annalen der Akademie der Künste und mechanischen Wissenschaften zu Berlin. Berlin 1791. S. 78–85.  – Neuausgabe beider Reaktionen in: Karl Philipp Moritz, Werke, hrsg. von Horst Günther. Frankfurt a. M. 1981. Band II. S. 604–606 und S. 923–927. Briefe an Aerzte. Erste Sammlung. Mietau 1777. Zweyte Auflage. Berlin 1784. Als Herausgeber und Übersetzer: Manasseh Ben Israel Rettung der Juden. Aus dem Englischen übersetzt. Nebst einer Vorrede von Moses Mendelssohn. Als ein Anhang zu des Hm. Kriegsraths Dohm Abhandlung: Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden. Berlin und Stettin 1782. Grundriß aller medicinischen Wissenschaften. Berlin, 1782.1 Rezensionen:  – Neue Beiträge zur Natur- und Arzenei-Wissenschaft II, 1783. S. 173–189.  – Allgemeine Deutsche Bibliothek 53, 1783. S. 394–340. 1  Der gelegentlich Marcus Herz für dasselbe Jahr zugeschriebene Buchtitel Grundriß der Arzneiwissenschaft dürfte auf eine falsche Rückübersetzung oder die Verwechslung mit dem gleichnamigen Buch von Henry Home Kames bzw. dessen deutscher Übersetzung aus dem Jahr 1771 zurückgehen. Es handelt sich keineswegs um ein Buch von Herz. Auch der bisweilen zu findende Titel Grundriß der medizinischen Wissenschaften ist schlicht falsch.

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Schriftenverzeichnis

Briefe an Aerzte. Zweyte Sammlung. Berlin 1784. Versuch über den Schwindel. Berlin 1786. Zweyte umgeänderte und vermehrte Auflage. Berlin 1791. Nachdruck der zweiten Auflage ohne Widmungsschreiben: Wien 1817. In Kommission bey Aloys Doll. Niederländische Übersetzung: Proeve over de Hoofdzwijmel of de Duizeligheid. Harderwijck 1791 (bei Johannes van Kasteel). Rezension:  – Allgemeine Deutsche Bibliothek 73, 1787. S. 119–124. Grundlage zu meinen Vorlesungen über die Experimentalphysik. Berlin 1787. Über die frühe Beerdigung der Juden. An die Herausgeber des he­ brä­ischen Sammlers. Berlin 1787. Zweyte verbesserte und vermehrte Auflage. Berlin 1788. Niederländische Übersetzung: Aan de Uitgeevers van de Hebreeuwschen Verzamelaar. Over de vroegtydige Begraaving van de Jooden. Graavenhaage 1788. Hebräische Übersetzung: ‫המכונה מארקוס ערץ אל מחברי המאסף‬ ‫מכתב האדון מרדכי‬/. Mikhtav ha-adon Mordekhai ha-mekhune Markus Herts ‚el mehabre ha-me’asef. (Brief des Herrn Mordekhai, bekannt als Marcus Herz, an die Herausgeber des Ha-Me’assef. Mit Isaac Euchel.) Berlin 1789. D. Marcus Herz an den D. Dohmeyer, Leibarzt des Prinzen A ­ ugust von England über die Brutalimpfung und deren Vergleichung mit der humanen. Zweiter, verbesserter Abdruck. Berlin 1801. (Aus dem u. g. Beitrag für das Journal der practischen Arzneykunde und Wundarzneykunde hervorgegangener Einzeldruck.) (Mit Jakob Ezechiel Aronsson) Rechtfertigung der Schutzblatternoder Kuhpockenimpfung gegen die Einwendungen des … Marcus Herz und des … Berlin 1801.

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Kleinere Schriften und Rezensionen Rezension: Leonard Euler, Briefe an eine deutsche Prinzessin über verschiedene Gegenstände aus der Physik und Philosophie. Aus dem Französischen übersetzt. Leipzig 1769. In: Königsberger gelehrte und politische Zeitung 1769 oder 1770. – Keiner der beiden Jahrgänge der Zeitung des Königsberger Buchhändlers Johann Jakob Kanter konnte bis heute wieder aufgefunden werden. Von weiteren Beiträgen, die Herz für die Zeitung verfasst haben soll, wissen wir auch darum nichts Weiteres. Rezension unter dem Pseudonym »Z.«: D. Ernst Platners, der Arzeneykunst Professors in Leipzig, Anthropologie für A ­ erzte und Weltweise. Erster Theil. Dyckische Buchhandlung, Leipzig 1772. 8. 292 Seiten. In: Allgemeine Deutsche Bibliothek 20, 1773. S. 25– 51. Nachdruck in PhMA 1997. S. u. Ueber die Widerspüche in der menschlichen Natur. In: Der Teutsche Merkur 1, 1773, S. 144–163. Rezension: J. C. Hennings’ Geschichte von den Seelen der Menschen und Thiere, pragmatisch entworfen. In: Allgemeine Deutsche Bibliothek 26, 1775. S. 326–342. Rezension: Gift und Gegengift, oder leichte und sichere Mittel, mit welchen man solchen Personen zu Hülfe kommen kann, die entweder aus Unwissenheit oder aus Unvorsichtigkeit giftige Kräuter und Wurzeln gegessen. In: Allgemeine Deutsche Bibliothek 29, 1776. S. 487–488. Rezension: Hugo Smiths kurzer Inbegriff der heutigen practischen Arzneykunst. In: Allgemeine Deutsche Bibliothek 31, 1777. S. 463– 464. Rezension: B. L. Tralles’ De usu vesicantium in febribus acutis. In: Allgemeine Deutsche Bibliothek 31, 1777. S. 474–475.

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Schriftenverzeichnis

Rezension: M. Hißmanns Geschichte der Lehre von der Association der Ideen. In: Allgemeine Deutsche Bibliothek 31, 1777. S. 504–508. Appollodorus und Philonus, ein Gespräch der Immaterialität der Seele betreffend. In: Der Teutsche Merkur 1, 1778. S. 238–248. Medicinische Bemerkungen. In: Neue Beiträge zur Natur- und Arzenei-Wissenschaft, hrsg. von C. G. Selle, der Arzenei-Wissenschaft Doktor und Professor und Arzt des Charité Hauses zu Berlin. 3 Theile. August Mylius, Berlin 1782–1786. Band 1, 1782. S. 123–136. Als (vorgeblicher) Übersetzer: Tägliches Gebet eines Arztes bevor er seine Kranken besucht – Aus der hebräischen Handschrift eines berühmten jüdischen Arztes in Egypten aus dem zwölften Jahrhundert. In: Deutsches Museum 1783. S. 43–45. Wiederabdruck: Medicinisch-chirurgische Zeitung 81, 1798. S. 61– 64. Hebräische Fassung abgedruckt in: Ha-Me’assef 1790. S. 242– 244. (Hebräisch.) Psychologische Beschreibung seiner eigenen Krankheit von Herrn D. Markus Herz an Herrn D. J.[oël] in Königsberg. In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde I, 1783. S. 44–73. Nachdruck hrsg. von Petra und Uwe Nettelbeck. Nördlingen 1986. S. 121–142. Die Wallfahrt zum Monddoktor in Berlin. In: Berlinische Monatshefte I, 1783. S. 368–385. Neudruck in PhMA 1997. S. u. Auseinandersetzung einiger Begriffe aus der Materia medika. In: Neue Beiträge zur Natur- und Arzneiwissenschaft, 2, 1783. S. 190– 201. Ueber die analogische Schlußart. In: Berlinische Monatsschrift IV, 1784. S. 246–251.

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Bericht über die Krankheit und den Tod von Moses Mendelssohn in: Moses Mendelssohn an die Freunde Lessings. Ein Anhang zu Herrn Jacobis Briefwechsel über die Lehre des Spinoza. Herausgegeben von Johann Jakob Engel. Berlin 1786. S. XII– XXII. Wirkung des Denkvermögens auf die Sprache. In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde 8, 1791, 2. S. 1–6. Nachdruck hrsg. von Petra und Uwe Nettelbeck. Nördlingen 1986. S. 91–95. Fragment aus des Herrn Professor Herz Schrift über den Schwindel. In: Magazin für Erfahrungsseelenkunde 9, 1792, 1. S. 97–103. Nachdruck hrsg. von Petra und Uwe Nettelbeck. Nördlingen 1986. S. 76–80. Karl Phil. Moritz. An den Herausgeber des Nekrologs. In: Friedrich Schlichtegroll, Supplement-Band des Nekrologs für die Jahre 1790, 91, 92 und 93, rückständige Biographien, Zusätze und Register enthaltend. Gotha 1798. S. 182–218. Hier: Nekrolog 1793. II. 169. S. 200–217. Ueber den Gebrauch des Wasserfenchelsaamens in der Lungenschwindsucht. In: Journal der practischen Arzneykunde und Wundarzneykunde 2, 1796. S. 3–75. Gekürzter Neudruck in PhMA 1997. S. u. Ueber den falschen Schwindel. In: Journal der practischen Arzneykunde und Wundarzneykunde 3, 1797. S. 389–432. In der Digitalen Sammlung der Bayerischen Staatsbibliothek: https://app. digitale-sammlungen.de/bookshelf/bsb10087141. Schnelle Heilung einer Gelbsucht. Eine wichtige semiotische Beobachtung. Unerwarteter Ausgang einer Krankheit. In: Journal der practischen Arzneykunde und Wundarzneykunde 3, 1797. S. 595– 605.

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Schriftenverzeichnis

An die Herausgeber des neuen Journals der Erfindungen, Theorien und Widersprüche in der Natur- und Arzneywissenschaft. In: Allgemeine Literatur-Zeitung 1, 1798. S. 224. Etwas Psychologisch-Medizinisches. Moriz Krankengeschichte. In: Journal der practischen Arzneykunde und Wundarzneykunde 5, 1798 u. ö. S. 259–321. (In der Digitalen Sammlung der Bayerischen Staatsbibliothek verwirrenderweise eingeordnet als Band 1797.5: https://app.digitale-sammlungen.de/bookshelf/ bsb10087143.) Diverse Neudrucke im Kontext der Moritz-Forschung. Nachdruck in PhMA 1997. S. u. Fragment aus einer Abendunterhaltung in der Feßlerschen Mittwochsgesellschaft: 1. Der überlistigte Tod, ein jüdisches Mährchen. In: Der neue Teutsche Merkur 2, 1798. S. 305–311. Nachdruck in PhMA 1997. Fortsetzung der Fragmente: 1. Der Narr und der Bastart, eine Fabel; 2. Etwas über Raum und Zeit als Momente der Association. In: Der neue Teutsche Merkur 3, 1798. S. 3–10. Nachdruck in PhMA 1997. S. u. Fragmente aus der Abendunterhaltung in der Feßlerschen Mittwochsgesellschaft: Fortsetzung einer Erzählung des Herrn Hofraths Lichtenberg. 1. Eine Flasche mit der Aufschrift: Der mimische Frosch. 2. Die Kontrabandiere. In: Der neue Teutsche Merkur 3, 1798. S. 215–222. Nachdruck in PhMA 1997. Urtheil des Hrn Prof. Herz über die beiden vorigen Aufsätze. In: Neue Berlinische Monatsschrift 1799. S. 413–416. [Anlass ist der Abdruck von zwei alten Gutachten des Leibarztes von Königin Sophia Charlotta über deren Tod 1705.] D. Marcus Herz an den D. Dohmeyer, Leibarzt des Prinzen ­August von England über die Brutalimpfung und deren Verglei-

Schriftenverzeichnis

LXXXI

chung mit der humanen. In: Journal der practischen Arzneykunde und Wundarzneykunde 12, 1801. S. 1–109. Rezension:  – Allgemeine Literatur-Zeitung, Jena, III, S. 264–266 (14.–16. September 1801), S. 601–620. Ein Stück Selbstbiographie und Krankheitsgeschichte. Unvoll­endet, aus den letzten Wochen seines Lebens, 1802–1803. 8 Seiten 80. Mit Kürzungen gedruckt in: Carl Robert Lessings Bücher- und Handschriftensammlung, hg. von ihrem jetzigen Eigentümer Gotthold Lessing, 3 Bände. Berlin 1914–1916, H – Marcus Herz, pp. 100–103, Nummer 1899. – Die Originalhandschrift muss bedauerlicherweise als verloren gelten. Neuausgabe von fünf teils gekürzten Aufsätzen (zitiert als PhMA): Martin L. Davies (Hrsg.), Marcus Herz. Philosophisch-medizinische Aufsätze. St. Ingbert 1997.

M A RC U S H E R Z Versuch über den Schwindel

M ARCUS HERZ , d. A. D. Arztes am Lazareth der jüdischen Gemeinde zu Berlin, K. Pr. Prof. der Philosophie, Hochf. Waldecks. Hofraths und Leibarztes,

VERSUCH über den SCHWINDEL . •••••

Quamquam igitur multa sint, ad ipsas artes proprie non pertinentia, tamen eas adjuvant, excitando artificis ingenium. Itaque ista quoque naturae rerum contemplatio, quamvis non faciat medicum, aptiorem tamen medicinae reddit. CELSUS .1

••••••• Zweite umgeänderte und vermehrte Auflage. Berlin, 1791. in der Vossischen Buchhandlung.

III

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Dem Durchlauchtigsten Fürsten und Herrn

HERRN FRIEDRICH regierendem Fürsten in Waldeck, Grafen zu Pyrmont und Rappoltstein, Herrn zu Hohenack und Geroldseck am Wassigen &c. &c.

V–VIII

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DURCHLAUCHTIGSTER FÜRST, GNÄDIGSTER FÜRST UND HERR, Das gnädige Zutrauen, welches Ew. Hochfürstl. Durchlaucht mir öffentlich zu bezeigen geruhet haben, hat von zu vielen Seiten auf mich gewirkt, als daß es nicht bei jedem wichtigen und guten Werke, das ich unter  |  nehme, meine Kräfte anspornen und meinen Eifer vervielfachten sollte. Aufmunterung von einem Für­ sten, den sein Geist, sein Herz, sein Edelmut, seine Erhabenheit über Vorurteile der Fürstlichen Hoheit würdig machen würden, wenn nicht schon die Geburt sie ihm erteilt hätte, kann auch dem Uneitelsten unmöglich anders als schmeichelhaft sein: und auch nur unter diesen Umständen kann den denkenden Menschen der Beifall eines Großen großer Beifall dünken. | Ich glaube daher Ewr. Hochfürstl. Durchlaucht den größten Teil folgender medizinisch-philosophischen Schrift im eigentlichen Sinne zueignen zu können; da das mühsame Unternehmen ihrer Ausarbeitung, bei meinen vielen vom Wege der Spekulation so weit abliegenden praktischen Geschäften, durch Dero gnädigstes aufforderndes Zutrauen mir nicht wenig erleichtert worden ist. Wie glücklich würde ich mich schätzen, wenn Ew. Hochfürstl. Durchlaucht gegenwärtigen | Aufsatz, der nur für eine kleine ausgesuchte Klasse von Lesern abgefaßt ist, Höchstdero Aufmerksamkeit nicht ganz unwürdig fänden! Ich ersterbe mit der tiefsten Ehrfurcht Ewr. Hochfürstl. Durchlaucht Berlin, den 20. Januar 1786. untertänigster, gehorsamster Marcus Herz. |

IX–XI

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VO R BE R I C H T Z U R Z W E I T E N AU F L AG E .

D

ieser Versuch erschien zuerst im Jahre 1786; und gerade die vorteilhafte Aufmerksamkeit, welche er damals auf sich zog, hat die meinige auf seine mannichfaltigen Lücken erregt und mich zu einer beinahe völligen Umarbeitung desselben bestimmt. Wenn die Stimme des Publikums im Nachdruck ihrer Entscheidung, wie ein Hebräischer Weiser sagt, der Stimme der Allmacht gleicht; so gleicht sie in der Art ihrer Entscheidung der Stimme der Allgüte. Mit Nachsicht gegen mancherlei Gebrechen schätzt sie ein Ganzes wegen einiger Vollkommen  |  heit die es hat. Aber eben diese Nachsicht muß einen jeden, die Wahrheit und fein Werk liebenden, Schriftsteller aufmuntern, sich ­ihrer immer ­weniger bedürftig zu machen. Die Hauptveränderungen, die ich, außerdem, daß ich die Form gänzlich umgeschaffen, mit gegenwärtigem Versuche vorgenommen habe, bestehen in Zusätzen von wichtigen psychologischen Beobachtungen, die sich zur Bestätigung mancher Sätze durchgängig zerstreuet finden; ferner, in der ausführlicheren Entwickelung verschiedener Lehren, die ich in der ersten Ausgabe nur berührte, wohin vorzüglich die Lehre von den mate­ riellen Ideen gehört; und endlich in der vollständigern Bearbeitung des dritten und vierten Hauptstückes von den Ursachen und der Heil­art des Schwindels. Diese | letzte hat mich auf eine besondere ätiologische Untersuchung geleitet, welche eine neue vielleicht nicht unfruchtbare Einteilung der Krankheitsursachen betrifft. Über den Wert derselben erwarte ich das Urteil meiner philosophischen ächten Nebenkünstler, für welche allein die ganze Schrift und besonders das dritte Hauptstück abgefaßt ist. Im vierten Hauptstücke habe ich mich bei der Kur des Schwindels länger verweilt, als es bei der ersten Ausgabe dieser Schrift in meinem Plane lag. Damals hielt ich es für überflüssig, denen Ärzten, die ich mir als meine Leser gedacht hatte, jenen

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Vorbericht zur zweiten Auflage

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Schulbrei, der in allen Kompendien und so genannten praktischen Systemen schon bis zum Ekel vorgesetzt wird, von neuem aufzutischen. Die Anweisung zum eigentlichen überall so leicht erlernbaren Kurieren einer Krankheit | dünkte mich etwas Entbehrliches, nachdem ich ihr Wesen und ihre mannichfaltigen Ursachen (aus welchen ihre Behandlungsart sich von selbst ergibt) so umständlich auseinander gesetzt hatte. Und, die Wahrheit zu gestehen, es dünkt mich noch eben so; aber ich konnte das innige Bemitleiden einiger gutmütigen Rezensenten und Doktoren, die es so herzlich bedauerten, daß ich meine wenigen Talente nicht auf das bloße Kurierwerk verwende, nicht ganz ­ruhig ertragen, und habe daher, so viel ich vermochte, i­hrem Verlangen Genüge zu leisten gesucht. |

[Die Seiten XIII –XXII enthalten das paraphrasierende Inhalts­ verzeichnis, wie es auch vor die jeweiligen Kapitel gestellt ist.]

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E R S T E S H AU P TS T Ü C K . EINLEITUNG.

Notwendige Kultur der Seelenlehre in der Arzneikunst — Verbindung der Seele mit jedem Teile des Körpers, und vorzüglich mit den Nerven — In Krankheiten aller Arten kann man durch künstliche Seelenveränderungen vielen Nutzen stiften — Beispiele von Heilung körperlicher Übel durch Gemütsbewegungen — Ein sehr merkwürdiges von der Heilung eines auszehrenden Fiebers durch Ankündigung des Todes — Eine Beobachtung des Verfassers bei Gelegenheit seiner eigenen Krankheit, welche den wichtigen Einfluß der Ideen auf die Krisis dartut — Ursache, warum es uns bis jetzt seltner gelingt, den Körper durch die Seele, als diese durch jenen zu heilen — Das Studium der Psychologie ist dem Arzte nicht unerheblicher, als das Studium mancher andern Hilfswissenschaft  — Die empirische Psychologie ist ein Teil der Naturlehre, nicht der Metaphysik — Was die Philosophie ist — Unbillige Verachtung derselben bei dem großen Haufen der Ärzte — Die menschliche Seele ist so gut ein Gegenstand der Physik, wie der Körper, und gründliche Kenntnis derselben dem Arzte unentbehrlich — Krankheiten können ihren ­Ursprung in der Seele, im Körper, und in beiden zugleich haben — Zu der letzten Art gehört der Schwindel, dessen Wesen bisher nicht sorgfältig genug aus­ einander­gesetzt worden ist.

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ie Arzneikunst hat zu unsern Zeiten unstreitig einen merklich hohen Grad von Vollkommenheit erreicht. Dennoch ist eine Seite an ihr, von welcher ihre sehr nötige Kultur vorzüglich vernachlässigt wird; nämlich die, wo sie an die Seelenlehre grenzt. Wenn irgend zwei Gegenstände in gegenseitiger Verbindung stehen und ihre Veränderungen einander wechselsweise mitteilen, so sind es Seele und Körper. Der Wohlstand des einen kann nie ohne die Gesundheit des andern Statt finden; so wie immer der widernatürliche Zustand eines jeden von

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Erstes Hauptstück

2–4

ihnen, wenn nicht die Folge, doch die Ursache von der Widernatürlichkeit des andern ist. Wollen wir die Seelenkrankheiten heben, welche eine so große Strecke in dem Gebiete der Kunst einnehmen: so müssen wir unsere Zuflucht zu den Veränderungen des Körpers nehmen, von dessen Zustande sie gewöhnlich abhangen; und ob wir gleich die meisten körperlichen Übel ohne Rücksicht auf die Seele bloß durch mechanische Mittel heilen: so zeigen doch Vernunft und Erfahrung, daß | es nicht wenige Fälle gibt, in welchen man wider Unordnungen des Körpers schlechterdings nichts ausrichten kann, wenn man seine Kur nicht zunächst auf die Seele richtet. Am augenscheinlichsten ist dies letztere der Fall bei den sogenannten Nervenkrankheiten. Zwar steht die Seele mit jedem, festen oder flüßigen, Teilchen des Körpers in genauer Verbindung *); zwar sind die Erfahrungen hinlänglich bekannt, daß Gemütsbewegungen den Blutumlauf, im Ganzen so wohl, als in einzelnen Teilen, verstärken oder schwächen, die Absonderungen und Ausleerungen vermehren oder vermindern, die Beschaffenheit und Gestalt der Säfte und der festen Teile und sogar die Farbe der Haare | verändern: allein ihre unmittelbare Verknüpfung findet doch bloß mit den Nerven Statt. Nur vermittelst dieser erstreckt sich ihr Einfluß auf alle andere Teile, verliert sich aber, sobald jene aufgehoben wird; denn wenn der Nerve zwischen dem Gehirne und einem entfernten Teile zerschnitten oder unterbunden ist, so ist alles Mitteilen der Ver­ände­ rungen zwischen diesem und der Seele gänzlich unterbrochen. Daher gelingt es uns nicht selten, Krankheiten, die u­ nmittelbar *) Ipsa denique Mens ac Corpus, res plurimorum judiciis natura dissimillimae, quando in unum coëunt hominem, nexu tam arcto intimoque sociantur, ut in sese invicem penetrasse, st, si Chemicorum more hic loqui licet, se mutuo veluti solvisse diceres: ita, dum vita viget, ubicunque Mens est, Corpus est; Mens, ubi Corpus; nec ulla fere hominis particula indicari potest, in qua non una et Mentis et Corporis aliquid, atque adeo utriusque mixtura, anim­advertatur. GAUBII2 sermones de regimine mentis quod Medicorum est. P. 2. [Hieronymus David Gaub, Sermo Academicus de Regimine Mentis quod Medicorum Est. Leiden 1747.]3

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Einleitung

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in den Nerven erscheinen und gemeiniglich unter dem Namen Krämpfe bekannt sind, durch künstliche Veränderungen in der Seele zu heben, indem wir in ihr neue Gemütsbewegungen zu erregen oder gegenwärtige zu besänftigen, die Aufmerksamkeit auf gewisse Gegenstände zu heften oder von i­hnen abzulenken, manche Vorstellungen zu erhalten, und andere zu verdunkeln suchen. Eben so, und zwar noch häufiger, gelingt es uns, die Heilung eigentlicher Seelenkrankheiten, des Wahnsinnes, Aberwitzes, der Schwermut, Schlafsucht, Schlaflosigkeit, Gedächtnisschwä | che u. s. w. dadurch zu bewirken, daß wir körperliche Mittel auf die Nerven anwenden, und bald einen Gegen­stand, der sie in ihrer Verrichtung hindert, aus dem Wege räumen, bald ­einen neuen Reiz in ihnen er­regen, oder auch sie gegen einen bereits vorhandenen abstumpfen. Wenn man nun bedenkt, wie wenige Krankheiten, hitzige so wohl als langwierige, es gibt, in denen die Nerven, wenn sie auch nicht immer die Ursache derselben enthalten, nicht wenigstens symptomatisch mit leiden und den Zustand des Kranken erschweren; so ist schon im voraus zu vermuten, daß man in Krankheiten aller Art durch künstliche Seelenveränderungen, wenn man sie gehörig und den Zufällen angemessen zu erregen versteht, sehr vielen Nutzen schaffen, wo nicht gar zuweilen die ganze Kur vollenden könne: und die auffallenden Beispiele in den Schriften der Ärzte, daß der Zufall durch Gemütsveränderungen die Heilung solcher körperlichen Übel zu Stande gebracht, die ganz und gar nicht zu den eigentlichen Nerven  |  krank­heiten gehören, bestätigen diese Vermutung vollkommen. Mead 4 erzählt von einer Frauensperson, die nach verschiedenen langwierigen Krankheiten in eine mit einem heftigen Marasmus der Glieder verbundene Bauchwassersucht verfiel, wider welche man alle Mittel vergebens anwandte, daß sie plötzlich wahnsinnig ward, und darauf ihr Körper wieder Kräfte erhielt, der Umfang des Unterleibes abnahm, sie wieder Arzneimittel vertragen konnte und nach einigen Monaten Gesundheit und Vernunft wieder erlangte. Eben so erzählt er von einer andern Frauensperson, daß sie nach einem Blutspeien ein auszehren-

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Erstes Hauptstück

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des Fieber mit eitrichtem Auswurfe, erschöpfenden Schweißen und allen Anzeigen eines nahen Todes bekam. Sie fing an, um das Heil ihrer Seele bekümmert zu werden; ihre Einbildungskraft stellte ihr die schrecklichsten Bilder der zukünftigen Strafen vor; sie wurde wahnsinnig: sogleich ließen alle Zufälle nach, und man hielt sie für völlig geheilt. Aber so wie der Wahnsinn abnahm, stellte sich das Fieber mit allen Zufällen wieder ein. – | Pechlin5 sah einen betagten Mann, der eine mit einem schleichenden Fieber verbundene Gelbsucht hatte. Sie widerstand a­ llen Heilungsarten, ward aber durch plötzliche Freude über die Geburt eines Sohnes sehr schnell gehoben. – Conring6 wurde durch das Vergnügen sich mit Meibom7 zu unterreden, von einem dreitägigen Fieber befreiet[.] – Von den Heilkräften des Zorns gibt es die merkwürdigsten Erfahrungen. Man hat durch denselben Gicht und Lähmungen, viertägige und langwierige Fieber heilen sehen, und der weise Hippokrates8 riet ­einer Frau, die sich zur Zeit einer Teurung durch die Nahrung von schlechten Hülsenfrüchten Schmerzen in dem Knie und große Schwäche in den Unterschenkeln zugezogen hatte, sich zu erzürnen. Der Schrecken heilt, wie Tissot9 und mehrere gesehen haben, Wechselfieber, und die Furcht soll ehedem in Curland ein sehr gebräuchliches Mittel gegen dreitägige Fieber gewesen sein. Durch den Schrecken ist eine verrenkte Schulter und ein veralteter Bruch, desgleichen eine Lähmung die vierzig Jahre gedauert hatte, ge | heilt worden; und Smellie10 bemerkt, daß die Furcht bei Geburten zuweilen allen Schmerz wegnehme. Bei der Einnahme von Sardes, erzählt Herodot11, ging ein gewisser Perser auf den ihm unbekannten Krösus los, und war eben im Begriff, ihn zu töten. Sein sprachloser Sohn schrie, als er die ­Gefahr seines Vaters sah, auf einmal überlaut: Soldat, töte den Krösus nicht! Diese Worte waren die ersten, welche er in seinem Leben aussprach, und er behielt von diesem Augenblick an den Gebrauch seiner Sprachwerkzeuge auf immer: In dem hiesigen Charitéhause befand sich, eines chronischen Ausschlages wegen, ein Mädchen, das bereits vor einem Jahre nach einem heftigen Schrecken eine plötzliche Hemmung des monatlichen

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Einleitung

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Flusses erlitten, und die Sprache gänzlich verloren hatte. Es verließ, von einem natürlichen Bedürfnisse getrieben, um Mitternacht die Stube, erschrak im Vorhaus über ein Gespenst-Bild seiner Phantasie, rief aus vollem Halse um Hilfe, und erlangte auf der Stelle wieder die geläufigste Sprache. Diesen Vorfall erzählte mir | das Mädchen selbst den Tag nachher in Gegenwart des Herrn Professors Selle12 und des pensionierten Charité-­ Chirurgus Herrn Lohmeier13, welcher dessen Wahrheit bestätigte.  – Das Lachen ist von sehr guter Wirkung auf die Lungen und auf die Verdauungswerkzeuge. Es hat oft Übelkeiten, Magenschmerzen und Koliken gehoben, die kein anderes Mittel heilen konnte, und es ist überhaupt, weil es die Tätigkeit der Muskeln und die Geschwindigkeit des Blutumlaufs vermehrt, von vortrefflichem Einflusse auf die ganze tierische Maschine. Tissot hat sich der Erregung desselben durch den Kützel sehr oft mit gutem Erfolge bei blassen, magern und schwachen Kindern bedient, um die bevorstehende englische Krankheit zu verhüten. Zuweilen, sagt er, »sind zehn bis zwölf mit dieser Übung hin­gebrachte Tage hinreichend, die Gesichtsbildung der Kinder sehr merklich zu ändern; sie erhalten mehr Farbe, und sehen ­belebter und stärker aus *).« Man, hat übrigens noch viele merkwürdige Erfah | rungen, daß durch ein plötzliches Lachen die schwierigsten Entbindungen leicht von statten gegangen, Lungen- und Lebergeschwüre sich geöffnet und ihren Eiter ergossen, und Sterbende wieder ins Leben zurückgekehrt sind. Doch ich mag mich bei den auffallenden Beispielen, wo der Zufall hartnäckige und gefährliche Krankheiten, durch Gemütsbewegungen gehoben hat, nicht länger verweilen; in des großen Tissots vortrefflichem Werke über die Nerven, aus dem verschiedene der oben angeführten Fälle entlehnt sind, findet man ihrer eine große Menge gesammelt und mit wahrem philosophischen Scharfsinne beleuchtet *) Von den Nerven. §. 137. [Samuel Auguste André David Tissot, Abhandlung über die Nerven und deren Krankheiten. Deutsch von Johann Christian Gottlieb Ackermann. Leipzig 1781.]

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Erstes Hauptstück

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und beurteilt. Ich glaube, daß es keinen Arzt von einigem Beobachtungsgeiste an täglicher Erfahrung von dem großen Einflusse fehlen kann, welchen angenehme oder unangenehme, ­fixierte oder zerstreuete Vorstellungen auf das Absonderungsund Ausleerungsgeschäft des Körpers, und vorzüglich auf die Ökonomie des Unterleibes haben. | Die willkürlich so wohl als unwillkürlich auf einen Gegenstand geheftete Aufmerksamkeit unterdrückt oft das ­Gefühl des heftigsten Schmerzes, und mit diesem das Fieber und dessen übrige widernatürliche Folgen. Man weiß, daß ein Italienischer Missetäter, der durch die grausamste Folter nicht zum Geständnis gebracht werden konnte, und sie ohne die geringste Ver­zuckung aushielt, während derselben immer rief: io ti veddo!14 Er ward frei gesprochen. Als man ihn nach der Bedeutung seines Ausrufs fragte, antwortete er: Der Galgen. Die lebhafte Anschauung dieser schrecklichen Folge seines Geständnisses erstumpfte in ihm allen Schmerz. – Die wütendsten Martern der Migräne verlieren sich, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, oft unvermerkt während einer interessanten Unterhaltung mit einem Freunde, welche die Aufmerksamkeit leicht und sanft ­beschäftigt, ohne sie anzustrengen; da hingegen von der einen Seite eine zu starke Anstrengung derselben, und von der andern der völlige Mangel eines sie erregenden Gegen  |  standes, die eigentliche Quelle der langen Weile, eben diese Krankheit in ­einem beträchtlichen Grade hervorbringt. – Auf Reisen, wo zum Teil beständig abwechselnde neue Gegenstände die Aufmerksamkeit des Menschen von seinem eigenen Zustande abwenden, zum Teil das Erkranken mit so vieler Beschwerlichkeit in der Vorstellung erscheint, wird man in der Tat selten krank. Geringe Widernatürlichkeiten des Körpers, die den empfindlichen Menschen, wenn er zu Hause wäre, über den Haufen würfen, werden unterweges kaum von ihm bemerkt und verschwinden oft wirklich ohne alle nachteilige Folgen, wiewohl sie zuweilen auch mit desto größerer Wut hervorbrechen, sobald er vom Wagen steigt. – Es ist erstaunlich, wie viel die Seele über den mit ihr so heterogen scheinenden Körper vermag. Sie kann

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es bis zur Herrschaft über die unwillkürlichsten seiner Bewegungen und Bedürfnisse bringen. Man weiß, daß während wichtiger Geistesbeschäftigungen das stärkste Purgiermittel seine Wirkung versagt, und man | kann durch festen kraftvollen Vorsatz nicht nur Krankheitsgefühle unterdrücken, sondern zuweilen auch Krankheiten aus dem Wege räumen. Ich sehe täglich mit Verwunderung, wie gemeine, minder verzärtelte Personen es sich vornehmen, Anwandlungen von einem Fieber zu trotzen, sich, nach ihrem Ausdrucke, nicht gefangen zu geben, und wie oft es ihnen wirklich gelingt, das Fieber zurück zu weisen und sich aufrecht zu erhalten. Sie hätten unfehlbar dessen regelmäßigen Fortgang erdulden müssen, wenn sie im Anfange nach­ gegeben hätten! Und doch ist die willkürlich gelenkte Aufmerksamkeit bei weitem nicht von solchem Einfluß auf den körperlichen Zustand, wie die durch heftige Gemütsbewegungen hin und her gerissene. In der ungestümsten aller Leidenschaften, in der auflodernden Begierde nach Rache, in welcher der Mensch sich, so zu sagen, seiner Ichheit entäußert und mit seinem ganzen Wesen in den Gegenstand der Rache hineinwütet, bleiben die schrecklichsten Schmerzen ungefühlt, die gefährlich  |  sten Zerrüttungen des Körpers unbemerkt, und während des Taumels auch ohne nachteilige Folgen. Am auffallendsten, aber nicht minder wahr ist es, daß in diesem Gemütszustande selbst der Tod zuweilen auf eine Zeitlang zurückgehalten wird. Man hat Beispiele, daß Helden mit zerschmetterten Gliedern, gefähr­ lichen Wunden und tödlichen Verblutungen, ohne ihren Zustand zu merken, den Kampf fortgesetzt und erst zu Ende der Schlacht sich haben verbinden lassen, oder auch hingefallen und gestorben sind. Muley Moluck nahm, da er bereits in den letzten Zügen war, noch seine Kräfte zusammen, besiegte seinen Feind, rettete seinen Kindern den Thron, und starb *). *) Man erlaube mir die Geschichte dieses überrömischen Heldenmutes aus dem Engl. Zuschauer B. 5. hier abzuschreiben: Als der König von Portugal, Don Sebastian, in das Land des Kaisers von Marokko, Muley Moluck,

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Ich habe einen | Mann gekannt, der an einem bösartigen Gallenfieber starb, und dessen bereits auf den Lippen schwebender Geist noch vier und zwanzig Stunden länger bloß dadurch zurück gehalten ward, daß eine Freundin ihm alle Viertelstunden ins Ohr rief: sein Feind, mit dem er kurz vor der Krankheit ­einen hefti  |  gen Streit gehabt, sei seines Amtes entsetzt worden. Der zwischen Furcht und Hoffnung schwankende Zustand der Seele ist von der widrigsten Wirkung auf den Körper, die zuweilen bloß dadurch gehoben und in eine heilsame verwandelt wird, daß man den Kranken jeder guten Aussicht beraubt und ihm alle Hoffnung benimmt. Das sichere Unglück schlägt das Gemüt nieder, und bringt es mit der Zeit zur Ruhe; das zweifelhafte erhält es in einem rastlosen Wanken und einer dem Körper höchst verderblichen Lebhaftigkeit. Davon sah ich einst in meiner Praxis ein merkwürdiges Beispiel, das ich hier anfüheingefallen war, um ihn vom Throne zu stürzen und seinem Neffen die Krone aufzusetzen, lag Moluck an einer tödlichen Krankheit nieder, von welcher er wußte, daß sie unheilbar sei. Gleichwohl bereitete er sich zum Empfang eines so furchtbaren Feindes. Er war wirklich so todkrank, daß er nicht einmal den Tag, an | welchem das letzte entscheidende Treffen geliefert ward, zu Ende zu leben erwartete. Da er aber wußte, was für gefährliche Folgen es für seine Kinder, und sein Volk haben würde, wenn er eher stürbe, als er den Krieg geendigt hätte: so gab er seinen Generalen Befehl, wenn er während des Treffens sterben sollte, seinen Tod vor der Armee zu verbergen, und noch immer zu der Sänfte, worin er sich tragen ließ, hinzureiten, als ob sie, wie gewöhnlich, seine Befehle erhielten. Ehe nun die Schlacht anfing, ließ er sich in einer offenen Sänfte durch alle Glieder der Armee, wie sie in Schlachtordnung aufmarschiert stand, herumtragen, und ermunterte sie, für Religion und Vaterland tapfer zu fechten. Da hernach die Seinigen zu weichen anfingen, sprang er, ob er gleich fast schon in den letzten Zügen lag, aus der Sänfte, brachte sein Heer in Ordnung, und führte es zu einem neuen Angriff an, der sich denn mit einem vollkommenen Siege über seine Feinde endigte. Kaum hatte er seine Leute zum Schlagen gebracht, als er sich, ganz erschöpft, wieder in seine Sänfte tragen ließ. Hier legte er den Finger auf den Mund, um den umstehenden Generalen anzudeuten, daß sie schweigen sollten, und verschied einige Augenblicke darauf in dieser Stellung. [Der Zuschauer. Aus dem Englischen übersetzt. 9 Bände. Leipzig: Bernhard Christoph Breitkopf, 1739–1744 und 1749–1751.]

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ren will, wiewohl ich mir dessen ausführlichere Beschreibung auf eine andere Gelegenheit vorbehalte.15 Ich hatte einen jungen sehr lebhaften Mann an einem Lungengeschwür zu heilen, das bereits mit einem anhaltenden heftigen Fieber, aussetzendem Pulse und eitrichtem Auswurfe verbunden war. Mit aller angewandten Mühe konnte ich meinen Endzweck, die Fieber­be | wegungen um Etwas zu mildern, doch nicht erreichen. Ich merkte endlich, daß sie vorzüglich von der Unruhe lebhaft unterhalten wurden, in welche die Gemütsschwankungen zwischen der tröstlichen Hoffnung, die ich als Mensch und Arzt dem Kranken machte, von der einen Seite, und zwischen seinem eigenen Gefühle der nagenden Krankheit, von der andern, ihn versetzten. Nun entschloß ich mich zu einem harten Mittel, um ihn mit Gewalt aus einem Zustande zu reißen, der ihn sicher binnen einigen Wochen aufgerieben haben würde. Eines Morgens kam ich zu ihm, da er eben einigen Freunden seine verzweiflungsvolle Verfassung vortobte, und kündigte ihm mit einer kalten ernsthaften Miene den gewissen Tod an. Ich habe bis vor einigen Tagen, sagte ich, noch immer geglaubt, der Krankheit eine günstigere Wendung geben zu können; aber leider, ist sie stärker als alle menschliche Kunst. Es ist nun so weit mit Ihnen gekommen, setzte ich hinzu, daß sie ohne allen Anschein von Rettung verloren sind. Die Säfte sind ganz | in Fäulnis übergegangen, die Lungen zereitert, und in dem Herzen hat sich ein fürchterlicher Polyp gebildet. Alle Hoffnung ist nun verschwunden; binnen zehn Tagen unterliegen Sie. Hierauf ermahnte ich ihn, sich als ein Weiser gefaßt zu machen, und den Vorschriften genau zu folgen, die ich ihm erteilte und die bloß die Absicht hätten, ihm seinen Zustand erträglicher zu machen und den Übergang zum Tode zu erleichtern. Diese ungewöhnliche Anrede eines Arztes und Freundes tat sogleich die auffallendste Wirkung. Nach einigen ungestümen, aber natürlichen Aufregungen des Gemüts ward mein Kranker still, niedergeschlagen, traurig. Des Abends war der Puls regelmäßiger, die Nacht ruhiger als eine der vorigen, und den folgenden Tag das Fieber gelinder. So besserten sich, indes der Kranke meine Verordnungen auf das strengste

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befolgte, und anhaltend auf Wiederherstellung resignierte, alle Umstände zusehends. Von Tage zu Tage wurde der Atem freier, die fieberhaften Zufälle nahmen ab, die Kräfte zu, | verminderte sich der Auswurf. Nach drei Wochen war der Kranke hergestellt. Er hat seitdem verschiedene große Reisen gemacht, und lebt noch jetzt nach einer ansehnlichen Reihe von Jahren in dem Genusse einer ziemlichen Gesundheit. Es ereignet sich ferner öfters, daß in hitzigen Krankheiten eine einzige verdrüßliche Idee sich der Seele des Leidenden gegen seinen Willen aufdrängt und ihn unruhig und schlaflos erhält. Desgleichen kann ein einziger, weder von dem Arzte noch von den Anwesenden bemerkter Gegenstand in dem Zimmer des Kranken auf dessen Gemüt solche Wirkung tun, daß er, indem er der kranken Phantasie unter dem fürchterlichsten und schrecklichsten Bilde erscheint, das Fieber vergrößert, Irreden hervorbringt und die erwünschte Krisis verzögert, oder gar die Wanderung des Krankheitsstoffes nach einem edlern Teile hin verursacht. Aus den vielen Beobachtungen, die ich hierüber anführen könnte, will ich eine einzige ausheben, die mir äußerst wichtig ist, so wohl, weil | ich sie an mir selbst gemacht, als weil ich in der Tat viel aus ihr gelernt habe. Vor einigen Jahren lag ich unter der Besorgung meines Freundes des berühmten Selle und noch mehrerer vortrefflichen Ärzte an einem sehr bösartigen Fieber16 krank, während dessen ich siebenzehn ganzer Tage schlaflos und in einem fast beständigen Irreden zubrachte. Ich hatte einige tödliche Ohnmachten und einmal einen Anfall vom Tetano, aus welchem ich durch den Gebrauch des Weines wieder erweckt wurde. Aber aller Mühe und Sorgfalt meiner Ärzte ungeachtet, konnte das Fieber weder zu irgend einer Krisis, noch zum mindesten Nachlaß gebracht werden. Die ununterbrochene Lebhaftigkeit der Vorstellungen erhielt meinen Körper in beständiger Unruhe, und das Fieber immer auf demselben Grade. Am meisten quälte meine Phantasie mich mit dem herrschenden Gedanken, daß ich mich nicht in meinem Hause befände, sondern von meinen Feinden – und dafür hielt ich alle Anwesende – in den Straßen und überall an den unangenehm­

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sten | Örtern als Kranker im Bette herumgeführt würde. Das Zimmer worin ich lag, und welches nicht mein gewöhnliches Schlafgemach war, hielt ich nicht für das meinige, und bat daher beständig, man möchte mich, zur Überzeugung daß ich wirklich zu Hause sei, in das benachbarte bringen, wobei ich zugleich versicherte, daß ich alsdann einschlafen und mich bessern würde; aber mein Wunsch ward mir aus zu großer Bedenklichkeit verweigert, und meine rastlose Einbildung fuhr fort, mich mit den schrecklichsten Bildern zu quälen. Endlich am siebenzehnten Tage, da die Ärzte alle Hoffnung zu meiner Genesung aufgaben und nichts mehr verderben zu können dachten, willigten sie dar­ ein, daß man mich mit dem Bette in die andere Stube brächte. Kaum war ich einige Minuten da, als alles in mir ruhig ward, und ich in einen Schlaf verfiel, der acht Stunden anhielt, und während dessen ein Absatz der Krankheitsmaterie in die Mundhöhle erfolgte. Ich erwachte, und war genesen. – Die ausführliche Geschichte dieser sehr merk  |  würdigen Krankheit habe ich bereits anderwärts beschrieben*), und daselbst die wahrscheinlichen Entstehungsgründe meiner Phantasien und die Art ihres Ganges weitläuftig aus einander gesetzt. Hier wollte ich nur so viel davon anführen, als nötig ist, um anschaulich zu zeigen, von welchem erheblichen Einflusse der Zustand der Seele auf den Gang einer Krankheit ist, die keinesweges ihren Sitz unmittelbar in den Nerven hat, wenigstens nicht als eigentliche Nervenkrankheit erscheint; und wie sehr der Arzt bisweilen auf das Spiel der Vorstellungen Rücksicht nehmen muß, wenn er nicht alle seine körperliche Mittel vergeblich verschwenden will: denn ich bin noch bis jetzt überzeugt, daß, wenn man mir meinen Wunsch, in das andere Zimmer gebracht zu werden, früher gewährt hätte, der allgemeine Krampf, der von der herrschenden unangenehmen Idee beständig genährt ward und die Natur in ihrer Geschäftigkeit die Krankheitsmaterie auszuwerfen so zu *) Moritz, Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. [Als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte. Hrsg. von Karl Philipp Moritz und Salomon Maimon. Band 9. Berlin 1792.]

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sagen band, früher gehoben sein | und das Fieber überhaupt zeitiger aufgehört haben würde. Es ist wohl der Mühe nicht ganz unwert, zu untersuchen, woher es kommt, daß es uns bis jetzt noch immer eher gelingt, durch Veränderungen im Körper Seelenkrankheiten zu heilen, als umgekehrt durch vorsetzliche Veränderungen der Vorstellungen in der Seele den widernatürlichen Zustand des Körpers zu heben? So viel ist sicher, in der Verschiedenheit des Grades von Einfluß, den Seele und Körper auf einander haben, kann es nicht liegen; denn ihre Verknüpfung ist völlig wechselseitig, und folglich müssen ihre Veränderungen einander vollkommen entsprechend sein; so wie sie es auch wirklich sind. Wenn der Zorn den Umlauf des Blutes beschleunigt, so bringt wiederum dessen schnellere Bewegung, so wie die Vollblütigkeit überhaupt, die Geneigtheit zum Zorne hervor. Durch Verminderung des Blutes oder durch temperierende Mittel können wir die Zornmütigkeit heben; und durch Entfernung der Gegenstände des Zorns oder Besänftigung des Ge  |  müts das Blut in Ruhe setzen. Anhaltende Traurigkeit und Niedergeschlagenheit macht das Blut dick, zähe und träge; und eben diese Beschaffenheit des Blutes hat jenen Gemütszustand zur Folge. Wir heben diesen durch Verdünnung des Bluts und Verstärkung seiner Tätigkeit auf die Gefäße; und jene durch Zerstreuungen und Aufheiterung des Gemüts. – Die Neigung zum Erbrechen aus Überfüllung des Magens erregt die Empfindung des Ekels; der Ekel, der durch den Anblick widriger Gegenstände entsteht, erregt die Neigung zum Erbrechen. – Und so gibt es der Fälle noch eine Menge, in welchen wir uns der Gemütsveränderungen mit völliger Sicherheit und vielem Nutzen, bedienen könnten, um Ausleerungen und Absonderungen zu befördern oder zu hemmen, und selbst die Beschaffenheit der festen und flüßigen Teile zu verbessern. Allein die Hindernisse bei dieser psychischen Kurart laufen, wie mich dünkt, auf folgende hinaus: Erstlich, daß wir die Natur der Neigungen und Leidenschaften überhaupt, und den Grad ihres | Einflusses auf die körperlichen Veränderungen, der jedem individuellen Subjekt besonders eigen ist, nicht genau kennen; und

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zweitens, daß es, wenn wir Beides auch kennten, uns an einem intensiven Maaß und Gewichte fehlt, durch das wir den Grad jedes Affekts, dessen wir uns als Mittel bedienen wollten, genau bestimmen könnten, um weder eine zu starke noch eine ganz widrige Wirkung hervorzubringen. Es ist allerdings eine der wichtigsten Schwierigkeiten, daß wir diese moralischen Mittel nicht quentchen- oder granweise, wie die physischen, anzuwenden im Stande sind, und daß die Gemütsbestandteile, welche in Ansehung ihrer Bildung und Verbindung so sehr von Erziehung und andern nicht zu berechnenden Umständen abhangen, unter einzelnen Menschen weit verschiedenförmiger und abwechselnder sind, als die Bestandteile des Körpers. Wir können daher überhaupt nur unabgemessene Alterationen erregen, die, zu stark oder zu schwach, in jedem einzelnen Falle vielleicht zu heftige, zu geringe oder völlig unvor  |  hergesehene Wirkungen hervorbringen, und also dem vorgesetzten Endzweck sehr wenig entsprechen, wenn nicht gar widersprechen. Aber so viel ergibt sich doch aus dem Vorhergehenden, daß die Kenntnis der menschlichen Seele dem Arzt äußerst erheblich, und das Studium der Psychologie ihm eben so unentbehrlich und wohl noch unentbehrlicher sein muß, als das Studium mancher andern Wissenschaft, die an das Gebiet der Kunst grenzt, und die wir zuweilen mit so vieler Emsigkeit bearbeiten. Daß ein Arzt der Kultur der Botanik und Chemie zu seiner Bildung notwendig bedarf, ist eine ausgemachte Sache; und doch lehren diese Wissenschaften ihn bloß die Instrumente kennen, durch welche er wirkt; die Seelenlehre hingegen verschafft ihm, eben so wie die Anatomie, die Kenntnis eines Gegenstandes, in welchem er Veränderungen hervorzubringen hat, und durch welchen er sehr oft Veränderungen hervorbringen kann *). Gleich | wohl werden jene erwähnten Wissenschaften *) Tametsi vero non adeo ad universum Hominem, sed ad Corpus modo humanum omnis ista curatio medica pro | prie spectat; cum tamen spectet Corpus, quod animum sibi tam arcte conjunctum habet, et quod prope nullo non tempore vi istius conjunctionis et agit in conjugem suum, et ab hoc vicissim afficitur: pot­

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nicht nur oberflächlich, in so fern sie Hilfsdisziplinen der Heilkunst sind, erlernt, sondern nicht selten von den Ärzten bis auf einen solchen Grad betrieben, der weit außerhalb der Grenzen ihrer Kunst fällt, und auf welchem sie zwar Teile der Naturlehre überhaupt ausmachen, aber auf das eigentliche Ausübungsgeschäft gar keinen Einfluß haben. Hingegen ist es von der andern Seite | noch niemanden eingefallen, der Lehre von der menschlichen Seele, wenigstens dem Teile derselben, der sich ganz auf Erfahrung gründet, unter den Hilfswissenschaften der Arzneikunst eine Stelle einzuräumen; und ich weiß zum voraus, daß man es vielleicht gar lächerlich finden würde, wenn ich in e­ iner wohl eingerichteten medizinischen Schule, neben dem Lehrer der Körperzerschneidung, einen Lehrer der Seelenzergliederung forderte! Ich weiß nicht, woher es kommt, daß man die Erfahrungs-­ Psychologie aus dem Gebiete der Naturlehre, wohin sie eigentlich gehört, weggenommen, um sie in den Bezirk der Metaphysik, die bloß mit Vernunfterkenntnissen a priori sich beschäftigen soll, zu versetzen, und sie dadurch in den Ruf eines Teils der eigentlich sogenannten Philosophie gebracht hat? einer Wissenschaft, die leider zu unsern Zeiten, nicht nur wie zu allen Zeiten bei Schwärmern und beim Pöbel, in Verachtung steht, sondern auch von dem großen Haufen der Gelehrten und Künstler mit | einer Art von Abscheu und Widerwillen angesehen wird! est igitur Medicus cogitatione quidem illud ab animo abstrahere, atque seorsum contemplari, ut idearum compositione minus confundatur. At si in ipsa etiam artis suae exercitatione, ubi cum Homine, ut est, rem habet, omnem soli Corpori operam suam addixerit, nulla unquam Animi habita ratione: nae saepiuscule in curando parum felix aut scopo suo prorsus excidet, aut partem tamen eorum, quae ad hunc pertinent, praetermittet. Inest enim in ista societate atque consensu, qui inter Hominis partes intercedit, permagna agendi vis, qua sese mutuo non afficere duntaxat, sed etiam in alium atque alium statum transferre valeant; ut ideo frequentissime in Animo causa sit, quam obrem Corpori sano male, aut ­aegro melius fiat; Corpusque vicissim haud raro aegritudinem Animi et producat, et natas sanet. GAUB I. c. p. 33. [H. D. Gaub, Sermo Academicus de Regimine Mentis quod Medicorum Est. Leiden 1747.]17

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Ich kenne Ärzte – und wem fehlt es an Gelegenheit ihres gleichen zu kennen? – die sich ohne Scheu öffentlich etwas darauf zu gute tun, daß sie nicht Philosophen sind, d. i. daß sie über die Art ihres Verfahrens nicht philosophieren, und mit einer der Unwissenheit immer gewöhnlichen inneren Zufriedenheit über diejenigen höhnisch lächeln, welche glauben: man müsse selbst in der Heilkunst bei seinem Tun und Lassen nicht die bloße Empirie, sondern die Vernunft zu Rate ziehen. – Man hält gewöhnlich, wie es scheint, die Philosophie für eine Wissenschaft, die, wie jede andre, den Endzweck hat, uns gewisse brauchbare Resultate zu lehren; und da man nun findet, daß es ihren Resultaten so sehr an praktischer Anwendbarkeit im gemeinen Leben fehlt, so verwirft man sie gänzlich als eine Sammlung unnützer Grübeleien, als eine Beschäftigung müßiger Köpfe. Allein im Grunde unterscheidet sich die Philosophie in Ansehung des Nutzens eben dadurch von allen andern Wis  |  senschaften, daß sie mehr uns Anleitung gibt, wie wir durch Nachdenken auf Resultate aller Art kommen sollen, als daß sie uns selbst ­eigene bestimmte Resultate vorlegt; mehr die Vernunft zum richtigen Gebrauch bildet, als der schon gebildeten Vernunft neue Erkenntnisse verschafft. Kurz sie erstreckt sich, um mich logisch auszudrücken, mehr auf die Form, als auf die Materie des ­Denkens *). | *) »Ist denn der eigentliche Hauptzweck des philosophischen Unterrichts der«, sagt einer unserer ersten philosophischen Köpfe und angenehmsten Schriftsteller, »daß man das Gedächtnis fülle, oder der, daß man den Scharfsinn erhöhe? Der Schüler der Philosophie ist ein junger Künstler, nicht ein angehender Kaufmann, und der philosophische Hörsaal ist ein Übungsnicht ein Marktplatz, wo Waren verhandelt werden. Alles, was man daraus mitnehmen soll, ist Fertigkeit in der Kunst zu entwickeln. Oder, wie ich einst einem Freunde diesen Einwurf beantwortete: der junge Schüler der Philosophie ist ein angehender Virtuose, und die Akademie sein Italien. Er reist nicht hin, um Musikstücke einzukaufen; das überläßt er Breitkopf, dem Notenhändler; er reist hin, um berühmte Meister zu hören, und Geschmack und Manier zu bilden. Dieses und jenes vortreffliche Stück sucht er freilich zu erhaschen; aber wenn er auch keines erhascht, oder wenn ihm auch sein

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Von dieser Seite betrachtet, verdient die Philosophie allerdings – oder man müsste der Vernunft allen Wert absprechen – den Rang der ersten aller Wissenschaften, indem sie sich über alle erstreckt, so wie über alle Künste, alle Handwerke, alle Geschäftigkeit des vernünftigen Menschen überhaupt. Man sieht es wohl jedem Kunstwerke19 an, ob des Meisters Hand von philosophischem Geiste geleitet worden ist; und gerade der Arzt soll in der Anwendung seiner so wichtigen, so verwickelten, so viele Seelenkräfte erfordernden Kunst der Leitung der kultivierten Vernunft, soll des Philosophierens entbehren können *)? Wahrlich, so hat weder Hippokrates noch irgend ein großer Arzt nach ihm, den wir noch als Wohltäter der Menschen nennen, gedacht! Quare colligere oportet, | sagt jener, et sapientiam ad Medicinam traducere, et Medicinam ad sapientiam. M ­ edicus enim philosophus Deo aequalis habetur **). Aber, ich wiederhole es noch einmal: man mag über die spekulative Philosophie denken, wie man will – die Psychologie gehört nicht zu ihrem Gebiete, sondern macht einen eben so wesent­lichen Teil der Naturlehre aus, wie die Wissenschaft von den Körpern. Ihre Grundsätze sind eben so aus der Erfahrung hergenommen, wie die Grundsätze der Körperlehre, und die Eigen­schaften der Seele werden eben so durch Anschauung verCoffre mit Musikalien auf den Alpen verloren geht, so hat er darum nicht den Zweck seiner Reise verfehlt«. Engels Theorie der Dichtungsarten. Vorrede S. XVIII. [ Johann Jakob Engel, Anfangsgründe einer Theorie der Dichtungs­ arten. Berlin und Stettin 1783.]18  *) Etiamsi igitur quaestio de Facultatibus Mentis humanae, harumque guber­natio ad Philosophos unice proprieque pertinere videatur; animadvertitis tamen, partem ejus aliquam a foro Medico non parum quoque alienam esse, ut cum negare quis possit, Medicis convenire, philosophandum Medicis esse negare non possit. GAUB. 1. c. p. 6. [H. D. Gaub, Sermo Academicus de Regimine Mentis quod Medicorum Est. Leiden 1747.]20 **) HIPPOC. [Liber] de decenti habitu. – [Hippokrates, raffend zitiert: Warum sollten wir nicht [[aus dem Original zu ergänzen wäre: den Schluß ziehen]] und die Weisheit mit der Medizin verbinden, und die Medizin mit der Weisheit. Der wahre philosophische Arzt gleicht einem Gott.]

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mittelst des innern Sinnes erkannt, wie die Eigenschaften der Körper durch Anschauung der äußern Sinne. Es bleibt mir daher freilich unerklärbar, warum die Naturbeschreiber auf die Beobachtung der Windungen und Schnörkel an den Schnecken­ häusern, deren Bewohner sie gar nicht kennen, der Strahlenzahl der Fische, oder auch selbst der Triebe der Tiere mehr Sorgfalt verwenden, als auf die | Beobachtung der Neigungen, Fähigkeiten und Triebe der menschlichen Seele, wo ihnen doch die tägliche Erfahrung an sich selbst sowohl, als an andern, so reichen Stoff darbietet? Aber dieser Inkonsequenz der Menschen ungeachtet, kann dennoch der Arzt, dem das Studium der Natur überhaupt so unentbehrlich ist, diesen besondern Naturgegenstand, der in das Getriebe seiner Kunst so wesentlich eingreift, auf keine Weise vernachlässigen *). Gesetzt aber auch, die Seelenlehre hätte keinen unmittelbaren Einfluß auf die eigentliche Ausübung der Kunst, und böte keine Stoffe zu Heilformeln dar, wonach der große Haufe der Ärzte gewöhnlich den Wert jeder Wissenschaft beurteilt: so bleibt das Studium derselben dennoch dem Arzt von großer Erheblichkeit; erstlich, weil ihm eigentliche See  |  lenkrankheiten zu behandeln obliegen, deren Erkenntnis oft eben so fein und verwickelt ist, wie die Erkenntnis mancher Krankheit des Körpers; und zweitens, weil die Seelenlehre nicht selten dazu dient, selbst Krankheiten des Körpers oder deren Symptome vollständig zu erklären: ein Umstand, der, wie ich denke, jedem Arzte wichtig sein muß, dem es nicht völlig gleichgültig ist, ob er sein Geschäft als Künstler, oder als Handwerker betreibe. Überdies sind nicht alle Krankheiten von der Art, daß sie nebst ihren Zufällen ent*) Quodsi itaque, que Mentes Hominum vera sapientia ac virtute imbuere student, praeter cetera cogitare etiam debent de impedimentis aut adjumentis, quae varia Corporis constitutio adferre potest: haud dispar ratio exigit, ut illi quoque, quorum officium est Corpus humanum ad sanitatem dirigere, quid Animi in illud potestas addere aut apponere suis conatibus valeat, diligenter considerent. GAUB 1. c. p. 5. [H. D. Gaub, Sermo Academicus de Regimine Mentis quod Medicorum Est. Leiden 1747.]21

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weder bloß im Körper, oder bloß in der Seele ihren Ursprung nehmen können; sondern es gibt auch Krankheiten von zweifelhafter und vermischter Natur, die, nach Verschiedenheit der Umstände, so wohl in jedem von ihnen allein, als in beiden zugleich ihre Quelle zu haben scheinen, und bei deren gründlicher Behandlung allerdings auf die bestimmte Entscheidung sehr viel ankommt, wogegen wir unsere Kur zu richten haben. Offenbar beruhet aber diese Entscheidung bloß auf der genauen Erkenntnis | beider Zustände, des Körpers sowohl, als der Seele. Unter den Krankheiten der letzten Klasse nimmt der Schwindel eine vorzügliche Stelle ein. Sehr oft macht er eine eigene Krankheit für sich aus; er erscheint aber auch häufig als Symptom bei verschiedenen andern Krankheiten. Bisweilen ist er idiopathisch im Gehirne; nicht selten aber hat er auch seine wirkende Ursache bloß in dem widernatürlichen Zustande der Seele. So wichtig nun diese Verschiedenheit ist, so wenig finde ich dennoch, daß die medizinischen Schriftsteller besondere Rücksicht darauf genommen, oder daß sie der Natur dieses Zufalles überhaupt bis zu seiner ersten Quelle nachgespürt haben. Sie bleiben fast alle bei dessen körperlichen Erscheinungen stehen, die sie entweder von einem Fehler des Auges, oder von einer ersonnenen Bewegung der Lebensgeister im Gehirne herleiten. Ich glaube daher keine vergebliche Arbeit zu unternehmen, wenn ich in folgenden Untersuchungen das Wesen des Schwindels bis zu seinem Ursprunge ver  |  folge; und, wie ich mir schmeichele, werde ich hinreichend dartun, daß er bloß in einem widernatürlichen Gange der Ideen besteht, also eigentlich eine Krankheit der Seele ist, deren gelegentliche Ursache aber so wohl unmittelbar in ihr als im Körper sein kann, welcher, vermöge seiner Verknüpfung mit derselben, die Folge der Ideen widernatürlich verändern und dadurch alle Erscheinungen des Schwindels hervorzubringen vermag. |

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E R S T E R A B S C H N I T T.

Das Wesen der menschlichen Seele besteht in Vorstellungen — Unter­ schied zwischen Vorstellen und sich vorstellen — Vorstellen ist in der Seele nichts Leidendes, sondern ein tätiges Principium — Verschiedener Grad der Tätigkeit und Lebhaftigkeit der Vorstellungen in der Seele.

U

m die Natur des Schwindels auseinander zu setzen, müssen wir einige Schritte in die Psychologie tun. Das ganze Wesen der menschlichen Seele besteht in Vorstellungen. Alle ihre Fähigkeiten und Äußerungen müssen, so wie die Eigenschaften jedes andern Dinges, auf dessen Wesen, auf dieses ihr Grundvermögen, Vorstellungen zu haben, zurück gebracht werden können. Wille, Verstand, Einbildung, Gedächtnis u. s. w. sind nichts als verschiedene | Modifikationen dieser Hauptfähigkeit, sich Dinge vorzustellen. Wir können es übrigens als eine zu unserm Endzweck gleichgültige Untersuchung an­ sehen, ob dieses sich Vorstellende selbst wieder nur eine Eigenschaft des Körpers oder eine besondere Substanz, und im letztern Falle, eine zusammengesetzte oder einfache Substanz sei. Eben so ist die genaue Bestimmung der Art, wie dieses sich Vorstellende mit dem Körper verknüpft ist, gegenwärtig von keinem Einflusse. Es mag auf eine physische, harmonische, göttliche, oder gar noch nicht ersonnene Weise geschehen. – Das alles sind Spekulationen, die, so äußerst interessant sie dem Wahrheitsforscher überhaupt sein mögen, zu weit außer dem Gebiete des Arztes liegen, als daß dasjenige, was er etwa aus ihnen zu seinem Behufe herbei holen wollte, auf etwas mehr als auf Spitzfindigkeiten und zwecklose Grübeleien hinauslaufen könnte. – Stahl 22 mit seinem Kopfe wäre der erste Arzt der Welt gewesen, wenn sein Genie an der Anwendung ähnlicher Untersuchungen auf prakti  |  sche Systeme weniger Gefallen gefunden hätte!

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Erstes Hauptstück

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Aber dieses ist von merklicher Erheblichkeit, und kann wegen der richtigen Beurteilung des Folgenden nicht füglich übergangen werden: Man muß sich dieses Vorstellungsvermögen nicht, wie von vielen irriger Weise geschieht, als eine bloß leidende Fähigkeit denken, wobei die Seele sich nur müßig verhält, und die Eindrücke, die von innen oder von den äußern Gegenständen in ihr hervorgebracht werden, aufnimmt, ohne ­dadurch zur Äuße­rung einer Selbsttätigkeit auf dieselbe bestimmt zu werden. Offenbar hat zu diesem Irrtum die vernachlässigte Unterscheidung der beiden Begriffe, vorstellen und sich vorstellen, Gelegenheit gegeben. Vorstellen heisst nur: den nächsten Grund enthalten, daß etwas von einem belebten Wesen empfunden, ­gedacht, begriffen werden kann. Auf diese Weise hat der Spiegel Vorstellungen, und ist ein vorstellendes Ding; denn er enthält den Grund, daß sichtbare auf ihn strahlende Gegenstände von sehenden Ge  |  schöpfen empfunden werden können. So stellt j­ edes andere empfind- und denkbare Ding Etwas vor, und ist an sich eine Vorstellung; denn es macht den Grund aus, daß es empfunden und gedacht werden kann: es enthält dasjenige, was in dem Vorstellungsgeschäfte des Menschen den Stoff darbietet, an welchem das sich vorstellende Wesen seine Tätigkeit ausübt. Aber dieses empfindende, denkende und sich vorstellende Wesen selbst liegt ganz außer der Vorstellung. Daher kann das Vorstellen einen bloß leidenden Grund haben, so wie z. B. beim Wachse der Mangel des Zusammenhanges und des Widerstandes der Grund von der Vorstellung der Eindrücke ist, die in ihm gemacht werden. Bei dem sich vorstellen hingegen fällt beides zusammen, der Grund des Gedenk- oder Empfindbaren und das Denkende oder Empfindende selbst; und dieses muß allerdings etwas Tätiges sein: denn diese Tätigkeit allein, welche, wie Herr Reinhold23 so lichtvoll auseinander setzt, in der Verbindung der Mannichfaltigkeit zur Einheit be  |  steht, macht, daß eine Vorstellung in dem sich Vorstellenden die seinige wird, da sie ohne dieselbe, wie das Bild auf einem zurückwerfenden Körper, bloß eine Vorstellung für Andere sein konnte. – Wir mögen also die Seele noch so körperlich nehmen, die Vorstellungen

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Erster Abschnitt

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in ihr als Eindrücke, und sie selbst in Ansehung derselben als leidend betrachten; so müssen wir doch endlich (wenn wir sie auch wiederum uns bloß als einen Grund gedenken, daß äußere Wesen diese ihre Eindrücke sich vorstellen können) auf irgend ein tätiges Principium kommen, welches diese Vorstellungen sich vorstellt; denn widrigenfalls hätten wir lauter Vorstellungen die nicht vorgestellt werden, und wir würden also im Grunde sonst nichts gewonnen haben, als daß wir dieses tätige Wesen um einige Schritte weiter hinausgeschoben hätten. – Diese in einer medizinischen Schrift so fremde Untersuchung wird freilich nicht den Zimmermannen24 und den Sellen, den Platnern25 und Metzgern26, den Reimarussen27 und den Marcarden28, aber doch wohl manchem | Doktor von der allstündlichen Mache, zu subtil scheinen; allein das Resultat derselben, die wirkliche Tätigkeit der Seele bei jeder ihrer Vorstellungen, ist mir zu meinem Endzwecke unentbehrlich, und ich kann nicht dafür, daß die ewigen Wahrheiten so oft aus der Tiefe heraufgeholt sein wollen, und nicht überall zum Ergreifen obenauf schwimmen! Diese Tätigkeit bei den Vorstellungen wendet die Seele auf eine einzelne oder auf mehrere an. Da aber ihre Kraft eine endliche ist, so kann sie dieselbe nicht auf verschiedene zu gleicher Zeit richten, ohne auf jede besonders in einem verhältnismäßigen Grade minder wirksam zu sein. Sie muß folglich bei mehreren Vorstellungen, wenn sie von einiger merklichen Lebhaftigkeit sein sollen, der Reihe nach von einer zur andern fort­rücken, und bei jeder einzelnen ihre Kraft von neuem anstrengen. Es ergibt sich zwar von selbst, daß, je anhaltender die Tätigkeit auf eine einzige, oder, welches einerlei ist, je öfter sie auf dieselbe wiederholt wird, die Aufmerksamkeit desto größer, die | Vorstellung desto klarer und lebhafter sein muß; aber dennoch erstreckt sich dieses Verhältnis nicht bis ins Unendliche, sondern gilt nur bis auf einen gewissen Grad, der den Punkt der vollständigsten Fassung bei den Vorstellungen ausmacht, so wie es bei den fallenden Körpern einen Punkt der vollständigsten Geschwindigkeit gibt, über welchen hinaus sie keinen Zuwachs gewinnt: und wenn, das Anhalten oder die Wiederholung der

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Erstes Hauptstück

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Tätig­keit diesen Punkt überschreitet, so wird, wie die Erfahrung lehrt, die Aufmerksamkeit, statt zuzunehmen, in eben dem Verhältnisse geschwächt, die Vorstellung schwindend und dunkler. Wenn wir zu lange ununterbrochen über eine Sache denken, die nicht durch Darbietung verschiedener Seiten die Seele immer von neuem reizt, so verliert sie sich allmählich in uns, bis sie endlich der Aufmerksamkeit ganz entwischt. Eben so ist es mit der zu oft wiederholten Tätigkeit. Man weiß, wie sehr die zur Gewohnheit gewordene Beschäftigung mit einem Gegenstande das Bewußtsein seiner Vorstellung und | die Aufmerksamkeit auf dieselbe zu schwächen im Stande ist. Überhaupt verhält es sich mit der Seelenkraft, wie mit jeder körperlichen: sie wirkt immer nur, in so fern ihr widerstanden wird, und erschlafft, wenn der Gegenstand nicht hinreichenden Stoff besitzt, sie zur Tätigkeit anzuspornen. |

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Z W E I T E R A B S C H N I T T.

Verhalten der Seele bei einer Reihe von Vorstellungen — Zu schnelle und zu langsame Folge derselben aufeinander — Weile — Unterschied der Weile von der Verweilung — Ein zur Klarheit der Vorstellungen erforderliches bestimmtes Maaß der Weile.

W

enn die Seele sich mit einer Reihe von Vorstellungen beschäftigt, und ihre Kraft auf eine nach der andern anwendet, so kann es, wie aus dem Vorhergehenden sich ergibt, in Ansehung der Klarheit jeder einzelnen sowohl, als der ganzen Reihe, nicht gleichgültig sein, mit welcher Schnelligkeit diese in der Seele vorübergeht; ob nämlich die Zeit zwischen den Vorstellungen groß oder klein, und ob die Dauer der Tätigkeit auf jede insbesondere lang oder kurz ist. Denn, gibt es, wie ich schon erwähnt habe, bei jeder einzelnen Vorstellung ­einen bestimmt  |  ten vollständigsten Fassungspunkt, über und unter welchem sie an Klarheit und Lebhaftigkeit verliert; so muß auch einer jeden ganzen Reihe von Vorstellungen ein solcher höch­ ster Punkt eigen sein, der die Abstandsgrenze einer jeden von der andern bestimmt, in welchem die Klarheit aller die voll­ kommenste ist, und inner- oder außerhalb dessen sie verhältnismäßig abnimmt. Die Seele muß, wenn sie sich eine ganze Reihe von Gegenständen gehörig klar und distinkt vorstellen soll, jeden einzeln gehörig beschauen, umfassen, in ein gewisses Fach bringen, und dann ihre Kraft von neuem auf den folgenden anstrengen. Rücken nun die Gegenstände zu schnell nach ein­ ander fort, so wird sie in ihrer Tätigkeit überrascht und zu dem Folgenden hingerissen, ohne entweder auf den vorhergehenden vollständig gewirkt, oder nach der vollständigsten Wirkung ihre Kraft zur neuen Anstrengung gehörig gesammelt zu haben. Geschieht hingegen von der andern Seite dieses Fort­rücken zu langsam, so muß die Aufmerk  |  samkeit auf jeden einzelnen Gegenstand erschlaffen, und dessen Vorstellung bei Erscheinung

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Erstes Hauptstück

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des folgenden, da die Seele von neuem ihre Kraft in Tätigkeit setzt, bereits verloschen oder sehr verdunkelt, und die ganze Reihe von Vorstellungen also nur auf eine dunkle Weise in der Seele gegenwärtig sein. – Ich werde in der Folge, zur Bezeichnung dieses Abstandes zwischen dem Punkte der vollständigsten Fassung einer Vorstellung, und dem Anfange der Aufmerksamkeit auf die folgende mich des Wortes Weile bedienen: eines Wortes, zu dem ich in wenigen andern mir bekannten Sprachen ein entsprechenderes finde, das mit größerer Energie den damit verbundenen Begriff darstellt, das aber, um allem Mißverstande auszuweichen, den es erregen kann und sogar bei einem sehr scharfsinnigen Manne *) wirklich erregt hat, von der Verweilung unterschieden werden muß. Diese bezeichnet bloß die Zeit, welche angewandt wird, um es bei jeder einzelnen Vorstellung | bis zum vollständigsten Fassungspunkte zu bringen, und hängt überhaupt von keinem bestimmten Gesetze ab, sondern ist sowohl bei verschiedenen Menschen nach der Größe ­ihrer Seelenkräfte und ihres Fassungsvermögens, als auch bei jedem einzelnen nach seinem jedesmaligen Gemütszustande und nach der Wichtigkeit der Vorstellung bald länger, bald kürzer. Unter der Weile hingegen verstehe ich diejenige Zeit, deren die Seele gleichsam zur Erholung bedarf, um nach dem Augenblicke der vollständigsten Fassung einer Vorstellung, ihre Kraft auf die unmittelbar folgende von neuem anzustrengen. Und diese Weile ist allerdings, wenigstens bei jedem einzelnen Menschen, bestimmtern Gesetzen unterworfen, deren Entwickelung der G ­ egenstand folgender Untersuchung sein wird. So viel ergibt sich also aus dem Vorhergehenden, daß in jeder Reihe von Vorstellungen, (ohne welche, wie wohl ausgemacht ist, die Seele nie sein kann,) wenn sie ihre vollkommene Klarheit haben | soll, die Weile weder zu groß noch zu klein sein darf, d. i. die Vorstellungen dürfen einander weder zu sehr überraschen,

*) Kausch Apologien. Erste Sammlung, fünftes Heft. [ Johann Joseph Kausch, Herausgeber der Apologien. Leipzig 1787.]29

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Zweiter Abschnitt

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noch zu sehr von einander abstehen, sondern müssen gerade in die erforderliche Abstandsleiter hineinpassen. Eine Wahrheit, die man dem großen Seelenbeobachter Locke30 zu danken hat,*) die er aber bloß als Beobachtung hingeworfen, ohne sie aus den ersten Grundgesetzen der Seele herzuleiten. Auch erinnere ich mich nicht, außer bei Home31 in seinen vortrefflichen Grund­sätzen der Kritik, bei einem spätern Psychologen irgend eine ­Anwendung dieser so fruchtbaren Lehre gelesen zu haben. |

*) Vom menschlichen Verstande. B. 2. H. 14. S. 7–11. [ John Locke, Versuch über den menschlichen Verstand: 14. Hauptstück. Von der Dauer, und ihren einfachen Zufälligkeiten.]

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D R I T T E R A B S C H N I T T.

Verschiedenes Maaß der zur vollkommenen Klarheit der Vorstellungen erforderlichen Weile — Verschiedenheit derselben nach der absoluten Beschaffenheit der Vorstellungen — Bei angenehmen und unangenehmen Vorstellungen — Vergleichung verschiedener Sinnesvorstellung in Rücksicht auf ihre erforderliche Weile.

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as Maaß der zur vollkommensten Klarheit erforderlichen Weile in einer Reihe von Vorstellungen ist nicht in allen Fällen und unter allen Umständen dasselbe; sondern sowohl nach der Beschaffenheit der Vorstellungen, als des sich Vorstellenden verschieden. Jene betrifft wiederum entweder den absoluten Wert jeder einzelnen Vorstellung, oder das Verhältnis, in welchem sie gegen die übrigen in der Reihe, oder gegen das vorstellende Subjekt steht. Wir betrachten | hier zuerst die Verschiedenheit der Weile, welche aus dem innern Gehalte der ­Vorstellungen an sich entspringt. Je wichtiger, fruchtbarer, lebhafter und interessanter jede einzelne Vorstellung in der Reihe ist, eine desto längere Verweilung und desto größere Anstrengung heischt sie, um gefaßt zu werden. Desto größer muß daher auch die Weile sein, deren die Seele bedarf, in der Anstrengung nachzulassen, und ihre Kraft auf die folgenden Vorstellungen in Tätigkeit zu setzen. Eben so umgekehrt: Vorstellungen von minderer Erheblichkeit, schwächerem Eindrucke, kleinerem Umfange und geringerem Inter­esse werden von der Seele leichter umfaßt, setzen sie in geringere Tätigkeit, bedürfen folglich einer kürzeren Verweilung, und der Übergang von ihnen zu andern Vorstellungen geschieht bequemer und schneller; d. i. die Weile ist kleiner. Die Seele kann eine Reihe abgezogener metaphysischer Begriffe bei weitem nicht so schnell durchlaufen, wie eine ebenso große Beförderungsliste in der Zeitung, oder, wie | eine Muschelreihe in einem Naturalienzimmer. Für die angenehmen Empfindun-

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Dritter Abschnitt

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gen, wenn sie nicht überaus heftig oder überraschend sind, hat die Seele eine leichte Empfänglichkeit; sie überläßt sich ihnen gänzlich ohne viele, Anstrengung, und wird von nichts in der Anwendung ihrer Tätigkeit unterbrochen, da der gegenwärtige Augen­blick des Genusses ihr nicht erlaubt, auf damit verbundne Nebengegenstände auszuschweifen. Daher durchläuft sie eine solche Reihe von angenehmen Vorstellungen mit vieler Schnelligkeit, und die Zeit (deren Länge wir gewöhnlich nach dem Maße der Weile bestimmen) verschwindet ihr während dessen unvermerkt. Die unangenehmen Empfindungen hingegen drängen sich der Seele auf; sie muß die Kraft auf deren Vorstellung um so mehr anstrengen, weil sie immer durch das Verlangen nach der Befreiung von derselben abgezogen wird. Jedes gegenwärtige Leiden ist ferner mit einer Menge Nebenvorstellungen, von der bessern oder schlimmern Vergangenheit und Zukunft, geschwän  |  gert, die in Eins zusammenfließen und mit vereinigtem Gewichte die Seele drücken; und daher ist ihr Fortgang in einer Reihe von unangenehmen Vorstellungen langsam und schwerfällig; es werden wegen der starken Anstrengung bei jeder einzelnen beträchtliche Zwischenpausen erfordert; die Zeit wird lang und schleppend. Eben so ist es mit den Leidenschaften und Gemütsbewegungen. Bei einigen, bei den angenehmen und vermischten, wird die Seele von einer Menge Vorstellungen, die mit ihrem Gegenstande in der entferntsten Verbindung stehen, abwechselnd bestürmt, und von einer zur andern mit erstaunlicher Schnelligkeit fortgerissen; bei den unangenehmen und widrigen hingegen brütet sie mit Beharrlichkeit über einer einzigen, und ist kaum mit der äußersten Mühe von der gegenwärtigen Verweilung zum Übergange zu einer andern Nebenvorstellung zu bringen. – Und dieses verschiedenen Ganges der Vorstellungen bedienen sich die Nachahmerinnen der Natur, die schönen Künste, mit sehr glücklichem Erfolge, | um Empfindungen und Leidenschaften auszudrücken und zu erregen. Sie verbinden die angenehmen mit schnellen fortströmenden, und die unangenehmen mit langsamen zögernden ­Tönen oder Bewegungen.

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Erstes Hauptstück

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Unter den sinnlichen Empfindungen findet sich hier ein merklicher Unterschied. Die Vorstellungen der sogenannten niedrigen Sinne, des Geruches, Geschmackes und Gefühls sind von starkem Eindrucke; sie scheinen, wenn sie gefaßt werden sollen, mehr Anstrengung zu erfordern, und die Seele mehr zu ermüden, die daher nur mit langsamen Schritten von einer zur andern übergehen kann. Jeder Geruch oder Geschmack bleibt noch eine lange Zeit nach dem Augenblick des körperlichen Eindruckes in der Seele zurück, und eine ganze Reihe auf ein­ ander folgender Vorstellungen dieser Sinne kann in ihr nur bei langer Zwischenruhe klar gefaßt und unterschieden werden. Die Vorstellungen, der höheren Sinne hingegen, des Gesichtes und Gehörs, sind von flüchtigerer Art. Ihre Eindrücke sind sehr leicht; | sie scheinen nur die Oberfläche der Seele zu berühren, und verschwinden mit der Gegenwart des Gegenstandes. Die Seele bedarf wenig Anstrengung sie zu fassen, und kann bei der kleinsten Weile, d. i. mit der größten Schnelligkeit, eine ganze Reihe ihrer Vorstellungen durchlaufen. – Doch hat hierin das Gehör einen merklichen Vorzug vor dem Gesichte. Und ob schon die Erschütterungen und Eindrücke der Luft weit gröber und stärker sein müssen, als die Erschütterungen des Äthers oder der Lichtmaterie: so lehrt doch die Erfahrung, daß die Vorstellungen von jenen weit flüchtiger und vorübergehender sind, als die Vorstellungen von diesen. Das Gesicht kann zwar ihrer mehrere zu gleicher Zeit umfassen, als das Gehör; aber bei einer Folge von Vorstellungen verhält es sich umgekehrt: wir können während derselben Reihe von Augenblicken eine weit größere Menge Schälle als Bilder fassen und unterscheiden, und jeder Mensch kann geschwinder hören als lesen. Es wird schwerlich eine Stimme oder irgend ein künstliches Instrument | geben, welches im Stande wäre, eine Folge von Tönen mit solcher Schnelligkeit vorzutragen, daß die Seele sie nicht immer noch deutlich von einander unterscheiden sollte; da hingegen eine Reihe Farben, die mit der mäßigsten Geschwindigkeit dem Auge vorübergeführt wird, in einander fällt und eine verwirrte Vorstellung erregt. Die Töne sind abstechender, und

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Dritter Abschnitt

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ihre Vorstellungen verschwinden mit dem Augenblick der Wirkung; jede Farbe oder jedes Bild hingegen scheint gleichsam wie der dröhnende und schleppende Laut einer Orgel noch eine Zeitlang in der Seele nachzuschwingen, wenn der körperliche Eindruck bereits aufgehört hat. Dies gehört vielleicht mit zu den wichtigsten Ursachen, derentwegen der bis jetzt noch nicht ausgeführte Vorschlag zu einem Farbenklavier auf immer unausführbar bleiben möchte. Es wird zur Wirkung der Harmonie durchaus erfordert, daß die Vorstellungen, deren leichtes Verhältnis gegen einander in der Wahrnehmung Vergnügen gewährt, distinkt und klar in der Seele gegenwärtig sind, damit sie | sich dieselben mit abstechendem Bewußtsein vorhalten, und mit Schnelligkeit von einer zur andern übergehen kann, um das daraus resultierende Verhältnis zu empfinden. Dies kann aber so wenig alsdann geschehen, wenn diese relativen Vorstellungen zu sehr in einander fallen, und nicht gehörig von einander unterschieden werden können, als wenn sie in solchen großen Abständen auf einander folgen, daß die Seele nicht mit der erforderlichen Leichtigkeit von einer zur andern fortschreiten kann, um sie in ihrer beinahe ­gleichzeitigen Gegenwart gegen einander zu vergleichen, und das daraus entspringende Verhältnis wahrzunehmen. Das Gehör hat folglich in Ansehung der schnellen Folge der Vorstellungen einen Vorzug vor allen übrigen Sinnen, und dies mag wohl kein unerheblicher Mitgrund sein, weshalb die Menschen von jeher das Hörbare zu Sprachzeichen gewählt haben. Es ist sehr natürlich, daß man mit dem Gefühle des Bedürfnisses, sich durch Zeichen Kenntnisse zu erwerben und mitzuteilen, solche zu wählen | gesucht hat, die dem Geist in seiner Geschäftigkeit die wenigsten Hindernisse machen, und vermittelst deren er in der kürzesten Zeit die größte Menge von Vorstellungen fassen und mitteilen kann: und hierzu waren allerdings die hörbaren die bequemsten. Daher kommt es, daß, obschon zufolge der Geschichte, die Menschen auf dem langsamen Wege der Bilderschrift zur Buchstabenschrift gelangten, dennoch zu keiner Zeit Menschen entdeckt worden

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Erstes Hauptstück

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sind, die sich statt der lautenden bloß einer Bildersprache bedient hätten. Worauf übrigens diese Verschiedenheit unter den Sinnen ­beruhe, getraue ich mir nicht zu bestimmen; denn da das Wesen aller sinnlichen Empfindungen an sich ganz von einerlei Art ist: so muß sie wahrscheinlicher Weise auf dem Wege gefunden werden, auf welchem die Eindrücke zur Seele gelangen, in der Lage, in dem Verhältnisse gegen das Gehirn oder auch in der innern Beschaffenheit, die vielleicht den Nerven jedes Sinnenorgans eigentümlich ist; lauter Umstände, in Ansehung deren wir gerade nur die eingeschränk  |  teste Erkenntnis haben. Doch so viel ist offenbar, daß diese Verschiedenheit der sinnlichen Eindrücke, wie alle Anstalten der Natur, ihren Absichten am weisesten entspricht. Die niedrigen Sinne sind Organe des Genusses, welche die Natur dem Menschen bloß zur Erhaltung seines Körpers gab, um ihn zu dem, was zu seiner und seines Geschlechtes Fortdauer notwendig ist, durch Lust zu locken und durch Unlust zu treiben, und jeder ausschweifende Gebrauch derselben zielt auf den Untergang seiner Maschine. Es war ihr daher mehr darum zu tun, diesen sinnlichen Eindrücken einen eingeschränktern Umfang und dafür eine desto größere Stärke und Dauer zu erteilen, als sie schnell in ihrem Gange, aber von vorübergehender Wirkung sein zu lassen. Sie mußten von der einen Seite hinreichendes Gewicht haben, den Menschen zu diesen unentbehrlichen Handlungen zu bestimmen, ohne ihm von der andern Seite die Fähigkeit zum Genusse, einer übergroßen Mannichfaltigkeit zu lassen. Was hülfe es ihm, wenn er in einer Minute eine | unzählige Menge von Arten des Geruches, des Geschmackes oder eines jeden andern sinnlichen Kützels zu unterscheiden im Stande wäre? Sein Körper würde dadurch nicht dauerhafter, und seine Geisteskräfte nicht erweitert werden! – Der Endzweck der edlern Sinne hingegen ist die Vermehrung und Verbesserung des Vorrats unserer Kenntnisse, die bestimmungsmäßigste Ausdehnung der Seelenkräfte; und die Natur konnte diese ihre Endabsicht nicht besser erreichen, als dadurch, daß sie den Eindrücken derselben eine so geringe

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Dritter Abschnitt

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Nachwirkung gab, daß die Seele eine große Menge von ihnen in einer kurzen Zeit mit der klarsten Unterscheidung zu umfassen im Stande ist. |

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V I E RT E R A B S C H N I T T.

Verschiedenheit der Weile zwischen den Vorstellungen, welche von ­ihren verschiedenen Verhältnissen gegen einander abhängt. — Er­ stens das Verhältnis der Einerleiheit und Verschiedenheit — Begriff der Fertigkeit — Was Anstrengung der Vorstellungskraft heißt?

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er zweite objektivische Grund von der längern oder kürzern Dauer der Weile, welche zur vollkommensten Klarheit bei einer Reihe von Vorstellungen erfordert wird, beruhet auf ihrer relativen Beschaffenheit oder ihrem gegenseitigen Verhältnisse gegen einander. Jede Vorstellung einer Menge ist in der Seele, wegen der erforderlichen wiederholten Anstrengung ihrer Kraft, immer mit einer größern oder geringern Schwierigkeit verbunden. Nun gibt es aber gewisse Verhältnisse, welche den Vorstellungen unter einander oder in Beziehung auf die Seele eigen | sind, wodurch diese Schwierigkeit verringert wird, indem sie der Seele den Übergang von einer zur andern erleichtern, und den Grad ihrer Anstrengung vermindern; andere wiederum, welche das Entgegengesetzte verursachen, den Übergang schwieriger, und der Seele eine größere Anstrengung notwendig machen. Jene müssen also das Fortschreiten von einer Vorstellung zur andern beschleunigen und die Weile verkleinern; diese, das Fortschreiten verzögern und die Weile verlängern. Dahin gehört erstlich: das Verhältnis der Einerleiheit und der Verschiedenheit. Eine Menge Gegenstände, die einander gleich sind, wird von der Seele leichter gefaßt, als eine eben solche Menge verschiedener Gegenstände. Sie durchläuft eine Reihe gleich großer und gleich gekleideter Soldaten schneller, als eine andere Reihe Menschen von verschiedener Größe und Kleidung; schneller eine Reihe auf gleiche Weise möblierter Zimmer, oder eine Reihe Gemälde die von einerlei Inhalt, lauter Landschaften, Kon  |  terfeye oder historische Abbildungen sind, als eine Folge von verschiedentlich gezierten Zimmern, oder von

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Vierter Abschnitt

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Gemälden verschiedener Gegenstände. Einerlei Vorstellungen sind bloß Wiederholungen der nämlichen Wirkungsweise der Kraft; jede öftere Wiederholung aber erzeugt, wie die Erfahrung lehrt, bei allen körperlichen Veränderungen eine Fertigkeit; folglich auch bei derjenigen Veränderung des Gehirns und der Nerven, die mit der Ausübung des Vorstellungsvermögens als notwendige Bedingung verbunden ist, wodurch also mittelbar diese Ausübung selbst erleichtert werden muß. Es ist aber auch, wie mich dünkt, einigermaßen leicht zu begreifen, wie selbst ohne den Einfluß dieser körperlichen Fertigkeit, die wiederholte Anwendung einer und derselben Kraft auf eine und dieselbe Weise unmittelbar in der Seele eben so wohl eine Fertigkeit erzeugen müsse, als die Anwendung jeder physischen Kraft im Körper. Man darf nur erwägen, daß, die Vorstellungskraft auf einen Gegenstand anstrengen, im Grunde nichts anders heißt, | als, die Aufmerksamkeit auf denselben vergrößern: Denn, es wäre eine offenbare Ungereimtheit, sich von dem entlehnten körperlichen Ausdrucke Anstrengen irren zu lassen, und der Meinung zu sein, daß wir durch Willkür irgend einer Seelenkraft einen neuen Grad erteilen könnten, den sie vorher nicht hatte, etwa wie wir in einer Saite den Grad ihrer Schnellkraft durch Anspannen vermehren. Der Unterschied ist in die Augen fallend. Hier ist es Naturgesetz, welches sich auf Räumlichkeit bezieht: daß die Anziehungskraft der zusammenhangenden Teile in einem elastischen Körper desto mehr zunimmt, je mehr diese bis auf einen gewissen Grad der Trennung nahe gebracht werden; dort ist weder ein solches Gesetz noch irgend ein Mittel denkbar, wodurch wir nach Gefallen in die Kraft einen Zuwachs aus Nichts hineinschaffen könnten. – Alles was wir daher bei dem Vorstellungsgeschäfte willkürlich vermögen, besteht bloß darin, daß wir den Grad von Kraft, den wir wirklich besitzen, in der vollständigsten Tätigkeit auf den Gegenstand erhalten, indem | wir diesen durch Verstärkung der Aufmerksamkeit, der Einwirkung der Kraft nicht entwischen lassen. Aber selbst dieses Verstärken der Aufmerksamkeit vermögen wir nicht geradezu, sondern bloß mittelbar, indem wir die Tätigkeit der Kraft von

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andern gleichzeitigen Vorstellungen, die sich ihr von außen her oder durch die Assoziation aufdringen, vermittelst des Abstraktionsvermögens abwenden, und sie folglich ganz unzerstreuet auf den einzigen vorhabenden Gegenstand gerichtet lassen. Die Vorstellungskraft verhält sich, um mich deutlicher auszudrücken, nicht wie ein ursprünglich elektrischer Körper, dessen Ausströmen wir nach Gefallen durch stärkeres Reiben vermehren können, sondern wie der elektrische Strom eines bereits geriebenen Körpers, dessen Einfluß auf einen bestimmten Gegenstand wir bloß dadurch verstärken können, daß wir die fremden ableitenden Körper aus seiner Nachbarschaft entfernen. Daraus ergibt sich leicht, daß, je mehr Interesse die Vorstellungskraft an einem Gegenstande findet, und je mehr dieser ihre Wirkung auf | sich zu ziehen vermag, es der Seele desto weniger Mühe kosten muß, die fremden Vorstellungen von der Teilnahme an derselben abzuhalten. Desto größer ist also die Aufmerksamkeit, desto geringer die Anstrengung. Die gegenwärtige inter­ essante Vorstellung verhält sich in diesem Falle, um bei meinem vorigen Gleichnisse zu bleiben, in Ansehung der auf sie gerichteten Tätigkeit, gegen die übrigen Vorstellungen, wie ein spitziger vollkommener Leiter gegen stumpfe unvollkommen leitende Nebenkörper, welche die Elektrizität nur sehr wenig berauben. Das Interesse einer Vorstellung beruhet aber auf der Menge mit ihr verbundner Nebenvorstellungen, welche sie, zufolge des Assoziationsgesetzes, leichter in der Seele hervorbringen, und auch länger gegenwärtig erhalten. Wiederum also, je größer diese Menge ist, desto weniger Anstrengung heischt die Hauptvorstellung, um die Aufmerksamkeit auf sich zu erhalten. Da nun eben in dieser geringen erforderlichen Anstrengung zu einer Handlung das Wesen der Fertigkeit in Ansehung derselben besteht; so | ist es offenbar, daß die öftere Wiederholung von einerlei Vorstellung, wodurch sie immer mit mehreren und verschiedenen andern gleichzeitigen Vorstellungen in Verbindung gebracht wird, in der Seele eine Fertigkeit erzeugen, und ihr den Übergang zu derselben erleichtern muß. |

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F Ü N F T E R A B S C H N I T T.

Das zweite Verhältnis der Vorstellungen unter einander: Ähnlichkeit und Abstechung — Verschiedene Lebhaftigkeit der ähnlichen und abstechenden Vorstellungen — Mutmaßliche Erklärung einiger psychologischen Erscheinungen aus dieser Verschiedenheit — Notwendige Unterscheidung der Lebhaftigkeit und der leichten Faßlichkeit der Vorstellungen — Erläuterung der Bedingungen, unter welchen Ähnlichkeit und Abstechung Gefallen erregen — Einfluß der Ähnlichkeit und Abstechung auf das Gefühl der Seele von eigenem Glück und Unglück.

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as zweite Verhältnis der Vorstellungen unter einander, welches ihre Weile verlängert oder verkürzt, ist das Verhältnis der Ähnlichkeit und Abstechung. Ähnliche Vorstellungen durchläuft die Seele schnell, abstechende langsam. Und dieses ist, wie man leicht einsehen kann, eine Folge von der eben erwähnten Wirkung der Einerleiheit und Verschiedenheit. Ähnliche Vorstellungen haben | immer mit einander etwas Gemeinschaftliches, und sind daher in so fern einerlei. Wenn nun die Seele völlig einerlei Dinge wegen der erlangten Fertigkeit schnell durchläuft, so muß sie ähnliche wenigstens mit einer partiellen Geschwindigkeit durchlaufen. Unähnliche Dinge beschleunigen und verzögern den Gang der Seele gar nicht; abstechende hingegen, wenn sonst kein andres Assoziationsverhältnis unter ihnen Statt hat *), halten ihn | auf; denn es fehlt hier der Seele nicht

*) Die Unachtsamkeit auf diese Bedingung hat bei Einigen den Irrtum in der Lehre von der Assoziation veranlaßt, den Kontrast gleichfalls als ein Mittel anzusehen, welches den Gang der Seele von einer Vorstellung zur andern erleichtere. »Ein anderes Assoziationsgesetz, sagt Beatties (moral. Abhandlungen Th. I. S. 156.) ist der Kontrast oder Widerspruch;« und er beruft sich auf den leichten Übergang der Seele selbst im Schlafe zu den Ideen von Essen, Trinken und Erwärmen, wenn uns hungert, durstet oder friert; zur Vorstellung des vergangenen Wohlstandes und Glanzes einer Stadt beim Anblick

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nur jenes Erleichterungsmittel, die Wiederholung der Einerleiheit und die dadurch erlangte Fertigkeit, sondern sie muß sogar ihre Anstrengung noch verdoppeln, um die Eine Vorstellung zu fassen, und die andere gänz  |  lich zu unterdrücken, weil sonst ihrer Ruinen u. s. w.  Allein, nicht zu erwähnen, daß die Art, wie der Kontrast eine Verbindung zwischen Vorstellungen stiften kann, im voraus schlechterdings, unbegreiflich ist; so zeigt der Augenschein klar, daß in allen den Beispielen, die man zur Bestätigung dieses Satzes aufstellt, nicht der Kontrast an sich, sondern ein anderes Nebenverhältnis, das sich zwischen den kontrastierenden Gegenständen findet, das | 70 | aber mit dem Kontrast selbst genau zusammenhängt, die Seele von einem zum andern leitet. Der Zustand des Hungers, Durstes, Frierens, enthält an sich nichts Positives, sondern besteht eigentlich in dem peinlichen Verlangen nach dem entgegengesetzten Zustande, nach der Vorstellung des Essens, Trinkens und der Wärme. Der Ehrsüchtige entwirft sich während des kränkenden Gefühls einer erlittenen Erniedrigung ein Bild von ehrenvollem Ansehen, dessen er sich eben ver­lustig sieht; so wie der Brünstige ein Bild von einem Gegenstande, nach dessen Genuß er eben lechzt. Wenn ich an meinen gelähmten Fuß denke, so ist dieses in meinem Gemüte nichts anders, als die Vorstellung von dem Mangel seiner Brauchbarkeit zum Gehen, von dem Bilde des raschen Umherwandelns, das ich alle Augenblick aufheben muß; und überhaupt besteht der Zustand jedes dringenden Bedürfnisses, dessen Befriedigung wir von Natur oder aus der Erfahrung kennen, in nichts, als in dem sehnlichsten Verlangen nach diesem Befriedigungsmittel. – Eben so führt die Anschauung von Ruinen einer verwüsteten Stadt nicht erst die Vorstellung ihres ehemaligen Zustandes in der Seele herbei, sondern sie ist unmittelbar in der Anschauung enthalten, sobald die zertrümmerten Gegenstände als Überbleibsel eben dieses ehemaligen Zustandes von uns gedacht werden, sobald die ganze Vorstellung uns | 71 | als der Anblick einer Verwüstung erscheint. – Man sieht, daß in allen diesen von Beatties angeführten Fällen die Seele nicht durch die Macht des Kon­ trastes von einer Vorstellung zu der entgegengesetzten geleitet wird, sondern durch das Verhältnis der Kausalität, oder vielmehr der Identität, das sich zwischen ihnen findet; denn es liegt unmittelbar in dem Begriffe der Verwüstung die Vorstellung dessen das vorher unverwüstet war, in dem Gefühle des Hungers (nicht in so fern er körperlicher Schmerz überhaupt, sondern nagendes Bedürfnis zu essen ist) die Vorstellung des Essens, und so in jeder Begierde, in jeder Empfindung eines Mangels, die Vorstellung des ersehnten, des mangelnden Gegenstandes. Daher kommt es auch, daß zwischen solchen abstechenden Vorstellungen, die sonst in keiner Verbindung unter einander stehen, die Seele keinesweges einen bequemen Übergang findet. Niemanden fällt z. B.

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Fünfter Abschnitt

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die beiden entgegengesetzten Vorstellungen einander aufheben, oder in eine dritte verwirrte übergehen würden. Daher fasset die Seele mit Leichtigkeit eine Ton- oder Farbenleiter, | in welcher die Töne oder Farben in stetigem Fortgange auf einander beim Anblick der weißen Farbe die Vorstellung der schwarzen ein, beim Geschmack des Sauren das Süße, oder bei dem Anschauen einer schönen Person eine häßliche. Jede dieser Vorstellungen macht hier ein Ganzes für sich; keine derselben ist mit der entgegengesetzten geschwängert; hier ist nicht Widerspruch, sondern reiner Kontrast, welcher sich der Seele in ihrem Fortschreiten mehr wie ein Hindernis, als wie ein leitendes Mittel darbietet. | 72 | Was meine Behauptung vollends bestätigt, ist, wie mich dünkt, folgende entscheidende Bemerkung: daß selbst in den oben angeführten Beispielen von Entgegensetzungen, zwischen welchen ein leichter Übergang der Seele Statt hat, dieser doch immer nur einseitig ist, immer von der beraubenden Vorstellung zu der füllenden, nie umgekehrt von dieser zu jener geschieht: vom Zustande des Hungers zur Vorstellung des Essen, vom Bilde der Zerstörung zum Bilde der Vollständigkeit, vom Gefühle des Mangels zur Anschauung des genügenden Gegenstandes; aber nie drängt sich der Seele bei einer guten Mahlzeit die Vorstellung des Hungers auf, nie beim Anblick einer schönen Stadt die Abbildung ihrer Zerstörung, nie in dem Zustande jeder Sättigung der Gedanke des Bedürfnisses, so sehr auch diese Gegenvorstellung den gegenwärtigen Genuß erhöhen würde! – Läge nun die Verbindung zweier abstechenden Vorstellungen in dem Kontrast an sich; so müsste auch der leichte Übergang der Seele zwischen ihnen wechselseitig sein, so wie er es zwischen denen ist, deren Verbindung auf einem der übrigen Assoziationsverhältnisse beruhet. Ein Beweis also, daß dasjenige, was die Seele in den erwähnten Fällen hinüberleitet, nicht in der Entgegensetzung besteht; sondern darin, daß kein Mangel überhaupt eine Vorstellung ausmachen kann, außer in so fern die Vorstellung seiner entgegengesetzten Wirklichkeit als aufgehoben gedacht wird; da hingegen die Vorstellung einer Realität etwas Positives ist und keinesweges ihren entgegengesetzten Mangel in sich schließt. | 73 | Diese Bemerkung ist selbst dem scharfsinnigen Hume zwar nicht ganz aber doch größtenteils entgangen. »So ist, sagt er, (über die menschliche Natur, von L. H. Jacob S. 39.) z. B. der Kontrast oder der Widerstreit ebenfalls ein Grund der Verknüpfung der Begriffe; aber vielleicht kann er doch als etwas, das aus der Verursachung und der Ähnlichkeit zusammengesetzt ist, betrachtet werden. Wenn sich zwei Objekte widerstreiten, so hebt das eine das andere auf; das heißt: es ist die Ursache seiner Vernichtung; und der Begriff von der Vernichtung eines Dinges schließt den Begriff seiner ehemaligen Existenz mit in sich.« – Diesem zufolge müßte, wie ich schon erwähnt habe, aller Erfahrung

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folgen; aber mit Schwierigkeit eine solche, in welcher die | Zwischentöne oder Zwischenfarben fehlen, und die gegenwärtigen unter einander abstechen. | Ich muß hier noch einmal wiederholen, was ich schon im Anfange bemerkt habe, nämlich daß die Lebhaftigkeit der Vorstellungen mit der Anstrengung zur Aufmerksamkeit, und diese mit dem leichtern oder schwierigern Übergange von einer zur andern in genauem Verhältnis steht. Je leichter dieser der Seele wird, d. i. je weniger Anstrengung sie bedarf, um die Mitwirkung anderer ableitenden Vorstellungen zurück zu halten; desto geringer ist ihre Tätigkeit bei den gegenwärtigen Vorstellungen, und desto schwächer die Lebhaftigkeit derselben, da die Erhaltung der Aufmerksamkeit auf sie die Seele so wenig in Bewegung setzt. Ist aber der Übergang schwer, so fühlt die Seele sich in größerer Tätigkeit, und die Lebhaftigkeit der Vorstellungen muß wegen der angestrengten Aufmerksamkeit, die sie erfordern, stärker sein. Daraus sieht man also, wie einerlei und ähnliche Vorstellungen nur wenig Lebhaftigkeit haben können, verschiedene, lebhafter, und einander entgegengesetzte, welche wegen ihres Widerstreits den höchsten Grad | von Anstrengung erfordern, am lebhaftesten sein müssen. – Die Bestätigung dieser Verschiedenheit durch die Erfahrung bedarf zuwider, der leichte Übergang der Seele zwischen widerstreitenden Vorstellungen wechselseitig sein; denn jede derselben hebt im Grunde das Dasein der andren auf. Man sieht aber auch, daß der Englische Weltweise das Wesen des Widerspruches nach der Analysis der spekulativen Vernunft sehr unpassend aus der Ontologie in die Seelenlehre überträgt, indem es hier nicht auf den Einfluß ankommt, den das Setzen eines Objekts auf die Existenz eines andern hat, sondern auf die Notwendigkeit, daß die Seele beim Vorstellen der Existenz des einen auf die Vorstellung der Existenz des andern überhaupt Rücksicht nehmen muß; und in so fern scheint es ausgemacht, daß sie zwar das non a nicht denken kann, ohne zugleich die Vorstellung des existierenden a zu haben; wohl aber das a, ohne die Vorstellung von dessen Nichtsein damit zu verbinden. [ James Beattie, Moralische und kritische Abhandlungen. Aus dem Englischen. Göttingen 1789. David Hume, Über die menschliche Natur. Aus dem Englischen übersetzt von Ludwig Heinrich Jakob. Halle 1790.]32

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keines außerordentlichen Beobachtungsgeistes. Wer gewohnt ist, auf sein Inneres nur einige Aufmerksamkeit zu wenden, hat oft Gelegenheit zu bemerken, in welchem behaglichen Zustande die Seele sich befindet, wenn sie zwischen einer Menge gleicher oder ähnlicher Gegenstände von einem zum andern gemächlich fortgleitet; und in welcher Verlegenheit und Unbehaglichkeit, wenn ihr kontrastierende Dinge aufstoßen. Auf diesem Unterschiede scheint mir auch zum Teil das Gefallen und Mißfallen an tausenderlei Dingen im gemeinen ­Leben, sogar an den Kleidungsstücken in Ansehung ihrer Farben, zu beruhen. Farben die gegen einander sehr abstechen, als weiß und schwarz, rot und grün, u. s. w. werden von der Seele mit Schwierigkeit gefaßt, erfordern Anstrengung, machen folglich die Vorstellung lebhaft, und verstärken die Aufmerksamkeit. Daher mißfallen diese Zusammensetzungen | in der Anschauung, wenn sie mit Vorsatz in den Kleidungen angebracht sind. Es liegt in der Natur des Menschen, daß ihm bei seinen Nebenmenschen alles emsige Bestreben Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, Widerwillen erregt. Wahre Vorzüge und Verdienste, die von selbst hervorstechen, erwecken in jedem gutgearteten Gemüte, in welchem Neid und Eifersucht nicht das Wort führen, in der Anschauung Vergnügen; denn es ist Grundgesetz in der menschlichen Seele, daß die Wahrnehmung der Vollkommenheit ihr Lust gewährt: Aber wer durch nichtsbedeutende Kleinigkeiten die Achtsamkeit der Nebenmenschen an sich zu reißen sucht, beleidigt das einem jeden eingepflanzte Gefühl der Selbstliebe, und wird dafür mit verächtlichem Unwillen oder gar mit Verlachung bestraft. Indes ist es doch auch gewiß, daß diese mehr oder minder gereizte Aufmerksamkeit allein keinesweges hinreicht, alle Erscheinungen des Gefallens und Mißfallens bei den Kleiderfarben zu erklären, sondern daß hierbei noch verschiedene dunkle Urteile in der | Seele zum Grunde liegen, die eine genaue Entwickelung verdienen; so ist z. B. der Anblick eines weißen Kleides mit schwarzen Knöpfen erträglich, und der eines schwarzen Kleides mit weißen Knöpfen widrig oder lächerlich; so beleidigt ein rotes Kleid mit schwarzen Aufschlä-

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gen das Auge weniger, als ein schwarzes mit roten Aufschlägen; so kleidet ein dunkelblauer Rock mit einer hellroten Weste nicht übel, da ein hellroter Rock mit einer blauen Weste abgeschmackt und fast unausstehlich ist, u. d. m. Es scheinen hier, wie gesagt, in der Seele dunkle Urteile, und zwar über die Vermischung der Farben, in wie fern nämlich durch das Ineinanderfallen zweier eine dritte reine oder schmutzige entspringt, zu entstehen, wornach ihr Gefühl von Lust oder Unlust bestimmt wird, deren Auseinandersetzung aber nicht hieher gehört. Man muß bei den Vorstellungen die Leichtigkeit, mit welcher sie gefaßt werden, und die Lebhaftigkeit, mit welcher sie, wenn sie gefaßt worden, in der Seele gegenwärtig | sind, sorgfältig von einander unterscheiden. Beide sind Vollkommenheiten, nach denen die Seele strebt, und die ihr als Eigenschaften der Vorstellungen in der Anschauung Vergnügen erregen. Jene erscheint ihr als ein bequemes Mittel, den Vorrat ihrer Erkenntnisse zu vermehren, und ihre Kraft, um mich so auszudrücken, der Ausdehnung nach zu vergrößern; durch diese werden ihre Erkenntnisse verbessert, und ihre Kraft dem Grade nach verstärkt; und der Schluß des sonst scharfsinnigen Beatties: »wäre Widerspruch oder Kontrast nicht ein natürliches Band zwischen zweien Ideen, so würde er in Werken der Einbildungskraft für uns weniger ergötzend sein;« *) ist daher falsch; denn die Ergötzung entspringt aus einer andern Quelle: aus der Lebhaftigkeit der Vorstellungen. Gleichwohl sind beide Arten Vollkommenheiten von ganz entgegengesetzter Beschaffenheit; denn, wie ich schon erwähnt habe, je leichter die Seele zu einer Vorstellung geleitet wird, desto weniger Anstrengung erfordert diese, desto min | der lebhaft ­erscheint sie; und so umgekehrt: je schwieriger der Übergang ist, einer desto größern Tätigkeit ­bedarf die Seele, um die Vorstellung zu fassen; aber sie faßt sie desto stärker und lebhafter. Und eben dieser Entgegensetzung wegen bleibt jede dieser beiden Beschaffenheiten nur in so fern *) Moral. und krit. Abhandlung. Th. I. S. 158. [ James Beattie, Moralische und kritische Abhandlungen. Aus dem Englischen. Göttingen 1789.]

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Fünfter Abschnitt

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Vollkommenheit, als die andere nicht zu sehr dadurch verliert, und nur innerhalb dieser Schranken erregt sie in der Wahrnehmung Vergnügen. Daher das Gefallen, welches die Seele überhaupt an Ähnlichkeit und Abstechung hat; daher aber auch, wie Home richtig bemerkt, dieses Gefallen nur bei der Entdeckung einer Ähnlichkeit zwischen verschiedenen, und einer Abstechung zwischen ähnlichen Gegenständen *) Statt hat. Die Bemerkung einer neuen Einerleiheit bei Gegenständen, die einander ohnedies schon sehr ähnlich sind, kann der Seele so wenig Vergnügen gewähren, als die Entdeckung eines neuen Widerstreits zwischen Gegenständen, die ohnedies schon große Verschiedenheit haben. Im ersten | Falle wird die Aufmerksamkeit durch die Anschauung der größern Übereinstimmung in einem noch größern Grade geschwächt, und die leichte Faßlichkeit zu sehr auf Kosten der Lebhaftigkeit vergrößert; und so wird im letzten Falle durch die hinzugekommene Entgegensetzung die Lebhaftigkeit der Vorstellungen vermehrt, aber der Übergang zwischen ihnen zu schwierig gemacht. Daher kommt es, daß zwar unsere Urteile und Gemütsbewegungen überhaupt durch die Vergleichung ihrer Gegenstände mit andern ähnlichen oder entgegengesetzten verändert werden, weil die Vorstellung derselben dadurch an Lebhaftigkeit zu- oder abnimmt; aber doch nur unter der Bedingung, daß diese Gegenstände, welche gegen einander verglichen werden, weder in der Einerleiheit noch in der Verschiedenheit einen gewissen Grad überschreiten, weil widrigenfalls der Übergang zwischen ihnen entweder zu leicht ist, und daher die Vergleichung selbst ohne merkliche Wirkung auf das Gemüt bleibt; oder so schwierig ist, daß wiederum bei der Haupt  |  vorstellung diejenige, die mit ihr verglichen werden soll, nicht zugleich in das Gemüt herbeigeführt, oder nicht in Beziehung auf sie betrachtet wird. In beiden Fällen kann die Hauptvorstellung in Ansehung ihrer Lebhaftigkeit keine Veränderung leiden. So *) Grundsätz. der Kritik, L. B. S. 370. [Henry »Heinrich« Home, Grundsätze der Kritik. Aus dem Englischen übersetzt von Johann Nikolaus Meinhard. Leipzig 1772.]

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Erstes Hauptstück

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wird zwar das Urteil über die Größe eines Menschen verfälscht, und er scheint uns größer als er wirklich ist, wenn er zur Seite eines andern kleinen Menschen, keinesweges aber wenn er neben einem kleinen Insekt vorgestellt wird. Der Übergang zwischen den beiden Gegenständen ist im letztern Falle zu schwer, als daß die Seele beide Größen unter einem Begriff fassen und sie gegen einander in Vergleichung bringen sollte. Selbst zur Seite eines zarten Kindes gewinnt, wegen der übrigen zu großen Verschiedenheit in Ansehung des Alters, die Größe eines Riesen nichts in unserer Vorstellung; wohl aber wenn er neben ­einen Zwerg gestellt wird, dessen Körper ein mit ihm gleiches Alter verrät, und noch mehr, wenn sie gar beide einerlei Kleidung haben. Auf gleiche Weise | gewinnt die Schönheit eines jungen Frauenzimmers nicht viel durch die Gesellschaft eines alten zusammengeschrumpften Weibes; wohl aber durch die Nachbarschaft einer andern jungen, aber häßlichen Person. Das angenehme, so wie das unangenehme Gefühl unsers Zustandes wird, wie bekannt, durch dessen Vergleichung mit dem nämlichen oder entgegengesetzten Zustande Anderer, so wie mit unserm eigenen vorhergegangenen, stärker oder schwächer; aber nur alsdann, wenn bei der Entgegensetzung zwischen beiden zu vergleichenden Gegenständen das erwähnte Verhältnis der Ähnlichkeit Statt findet. Mein Glück oder Unglück wird mir nur dann empfindlicher, wenn derjenige, dessen Zustand anders ist, im Ganzen einen großen Grad von Ähnlichkeit mit mir hat. Ich fühle beim Anblick eines Prinzen, der im Überflusse taumelt, meinen dürftigen und kümmerlichen Zustand nicht lebhafter; wohl aber beim Anblick eines glücklichern Menschen, der mit mir auf derselben Bahn läuft, mit mir | einerlei Talente besitzt und wenigstens keine gegründetere Ansprüche auf die Gunst des Schicksals hat als ich. Eben so wird bei einem mächtigen Fürsten die Vorstellung seiner glücklichen Verfassung lebhafter, wenn er einen kleinern minder mächtigen neben sich, keinesweges aber, wenn er einen Bettler auf der Straße sieht. Von der andern Seite, wenn das Gefühl unsers eigenen Leidens durch die Vorstellung eben desselben bei einem Andern

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Fünfter Abschnitt

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gemildert wird, so geschieht es auch nur alsdann, wenn dieser Andere weder in dem Verhältnisse einer zu großen Verschiedenheit, noch in dem einer zu großen Gleichheit mit uns stellt. Der Schmerz über den Verlust meines einzigen Sohnes wird durch die Vorstellung, daß einen andern mir unbekannten, Größeren oder Geringeren, ein gleiches Schicksal betroffen habe, nicht kleiner; und eben so wenig wird er vermindert, wenn dieser Andere mir zu ähnlich, wenn er mein Bruder, mit mir in gleicher Lage, von gleicher Denkungsart und Empfindlichkeit ist. In dem letzten Falle | ist der Übergang zu der andern Vorstellung zu leicht, und ihr Reiz zu geringe, um die Aufmerksamkeit der Seele von der Vorstellung ihres eigenen Zustandes abzuwenden; so wie im ersten Falle der Übergang zu schwierig ist, als daß die Seele ihre so interessante Hauptidee verlassen sollte, um sie mit der andern in Vergleichung zu bringen. |

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Drittes Verhältnis der Vorstellungen gegen einander: Ordnung und Unordnung — Viertes Verhältnis derselben gegen die Seele: Seltenheit, Neuheit und Gewöhnlichkeit — Eine wichtige Bemerkung über den Einfluß der Gewohnheit auf den Gang der Ideen.

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ie dritte relative Beschaffenheit einer Menge von Vorstellungen, welche den Gang der Seele zwischen ihnen erleichtert oder erschwert, ist das Verhältnis der Ordnung und Unordnung. Vorstellungen, die nach einer gewissen Regel beisammen sind, oder auf einander folgen, sind der Seele leicht zu fassen, und werden schnell von ihr durchlaufen; bei einer völligen Regellosigkeit geschieht das Gegenteil. Ein Haufe über einander liegender Bücher verursacht in der Vorstellung eine Schwierigkeit, indem die Seele nur mit Mühe und vorzüglicher Anstrengung von einem | Buche zum andern übergehen kann; werden sie aber nach ihrem Format, Inhalt oder Band in verschiedene Fächer gebracht, so umfaßt die Seele sie in einem Augenblick. Eben so verschieden ist die Vorstellung, einer Menge von Menschen, die auf einem Marktplatze unter einander laufen, und einer gleichen Menge, wenn sie in einer wohlgeordneten Prozession vorübergeht. Der Grund dieser Verschiedenheit ist derselbe, wie bei den vorigen Verhältnissen. Unter Dingen in einer Ordnung gibt es eine gemeinschaftliche Regel, nach der sie geordnet sind, welche in jedem und in dessen Vorstellung sich findet; sie besitzen daher eine partielle Einerleiheit, welche in der Seele bei ihrem Fortgange in der Reihe eine Fertigkeit erzeugt. So ist z. B. mit der Vorstellung eines jeden Buches in e­ iner wohlgeordneten Bibliothek die Vorstellung seines Formats, ­Inhalts oder Bandes, als der Bestimmungsgrund des Faches, wohin es gehört, verbunden; mit der Vorstellung eines jeden Soldaten in wohlgemusterten Gliedern, die Bestimmung, nach welcher er, zufolge | der Ordnungsregel, in diesem und in keinem a­ ndern Gliede ste-

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Sechster Abschnitt

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hen muß, u. s. w. Diese gleichförmigen Bestimmungen fehlen bei Mengen ohne Ordnung, und die Dinge, aus welchen sie bestehen, machen ganz verschiedene Einzelnheiten aus, zwischen denen jenes Erleichterungsmittel der Seele auf ihrem Fortgange, die Wiederholung von einerlei Vorstellung, nicht Statt findet. Zu der Ordnung überhaupt gehört noch ferner die Vollkommenheit, die Harmonie und Symmetrie, welche alle besondere Arten von Ordnung sind, die den Fortgang der Seele beschleunigen; indem bei allen die Regel der Übereinstimmung der Mannichfaltigkeit zur Einheit zum Grunde liegt. Eben so kann man die Verwandtschaft der Vorstellungen der Zeit und dem Raume nach dahin rechnen; da Raum und Zeit im Grunde nichts anders sind, als eine Art von Ordnung in der Seele, nach welcher allein es ihr möglich ist, sich die Dinge sinnlich, d. i. neben und nach einander, vorzustellen. | Die vierte Relation, welche auf den Fortgang der Seele und die Größe der Weile wichtigen Einfluß hat, ist die der Seltenheit, Neuheit und Gewöhnlichkeit, welche, wie man sieht, keine Verhältnisse der Vorstellungen gegen einander, sondern Beziehungen derselben auf die Seele selbst sind. Nichts ist natürlicher, als daß die Seele in Ansehung solcher Vorstellungen, die sie zu verschiedenen Zeiten schon oft gehabt, eine Fertigkeit besitzt, und zu ihrer Hervorbringung wenig Anstrengung bedarf. Man weiß, wie wenig Mühe gewohnte Vorstellungen der Seele ko­ sten, da sie sich wider Willen und ohne alles klare Bewußtsein ihr aufdrängen, und sogar ein merklicher Grad von Gewalt erfordert wird, um sie vorsetzlicher Weise zu entfernen. Die Gewohnheit ist es, welche die Eine von den Mondflecken auf die Vorstellung einer verliebten Unterredung, und den Andern auf die eines Kirchturms führt, so wie sie überhaupt es oft ist, welche den Menschen zu Handlungen hinreißt, und ihm Gesinnungen aufzwingt, denen sein Wille mit aller Macht | vergeblich widerstrebt. Ein Beweis, daß der Fortgang der Seele zwischen gewohnten Ideen sehr schnell und mit vieler Leichtigkeit geschieht, ohne daß sie eine merkliche Anstrengung auf sie zu verwenden nötig hat; und zwar, weil die Gewohnheit die öf-

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tere Wiederholung voraussetzt, und diese, wie ich oben erwähnt habe, die Vorstellungen mit einer Menge anderer in Verbindung setzt, welche von selbst die Richtung der Kraft auf sie unabgewandt erhält. Mit dem Grade der Seltenheit hingegen muß sich diese Fertigkeit vermindern, die Anstrengung der Aufmerksamkeit vergrößert, und folglich der Fortgang der Seele verzögert werden. »Alte Ideen, sagt ein Englischer Weltweiser, sind alte Freunde; wir gehen zu ihnen ohne Umstände, ohne Schwierigkeit. Neue Ideen sind neue Bekanntschaften, die aufgesucht werden müssen, und die wir niemals als mit einigen Zurüstungen wiedersehen können.« – Darauf beruhet auch die Lebhaftigkeit, mit welcher das Neue, als der höchste Grad der Seltenheit, auf uns wirkt; denn alles dasjenige | wirkt lebhaft, auf dessen Vorstellung viel Tätigkeit angewendet werden muß. Noch Eins muß ich hier erwähnen. Die Macht der Gewohnheit erstreckt sich nicht bloß auf die Vorstellungen selbst, sondern auch auf die verschiedenen Arten Fortgänge der Seele zwischen denselben. Sie macht in ihr die Fertigkeit zu einer desselben größer als zur andern. Ich erkläre mich. Wir haben bis jetzt einige Umstände angeführt, welche der Seele den Übergang von einer Vorstellung zur andern erleichtern. Nun können aber diese Umstände zuweilen einander entgegen stehen. Die Vorstellung a z. B. kann mit einer Reihe Vorstellungen b. c. d. e. als gleichzeitige, mit f. g. h. i. als gleichörtliche, mit k. l. m. n. als ähnliche u. s. w. verbunden sein. In diesem Falle durchläuft die Seele nicht mit einer gleichen Leichtigkeit alle diese Reihen, sondern die Gewohnheit gibt hierin den Ausschlag; und je nachdem die Seele diese oder jene Art von Fortgang öfter wiederholt hat, wird sie diese oder jene Reihe schneller durchlaufen[.] – Diese Anmerkung | ist von großer Erheblichkeit, indem sich daraus die Verschiedenheit der Köpfe und der leichten Faßlichkeit ­einer Wissenschaft vor einer andern bei verschiedenen Menschen erklären läßt *). Gewohnte Fortgänge, kann man s­ agen, *) Der eine Mensch hängt seine Gedanken am meisten durch Ähnlichkeiten zusammen; das erste was ihm bei jeder Sache einfällt, ist eine ähn-

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sind bekannte Straßen, die wir | auch mit verbundenen Augen durchwandern können; seltne Fortgänge sind fremde Wege, auf denen wir uns nur mit Mühe und sorgfältigem Nachfragen zu finden wissen. |

liche, die er vordem gesehen hat. Ein anderer fällt auf nichts so geschwind, als auf die Ursachen oder die Folgen. Dies ist zum Teil das Werk der Natur. Aber das Studium einer gewissen Wissenschaft, oder die Übung in einer gewissen Beschäftigung kann eben sowohl machen, daß diejenige Art Fortschreitung der Ideen, welche in dieser Wissenschaft, oder bei dieser Arbeit herrscht, dem Menschen vorzüglich geläufig und ein allgemeines herrschendes Principium seiner Assoziation wird.33 Ein Mathematiker wird alle seine Begriffe in solche Ordnung zu setzen suchen, wie die Sätze seiner Wissenschaft sie zu haben pflegen; und diejenigen Verhältnisse der Ideen am leichtesten entdecken, die mit den Verhältnissen von Größen, Zahlen und Figuren eine Ähnlichkeit haben. Ein Algebrist wird noch weiter gehen: er wird sich die Verhältnisse der Größen selbst lieber unter der Gestalt krummer Linien als durch allgemeine Sätze vorstellen. Ein Mensch, der nichts als Dichter gelesen hat, schreibt und redet am liebsten figürlich. Überhaupt jedes Menschen Schreibart, d. h. seine Art die Ideen zusammen zu hängen, wird durch die Schriftsteller gebildet, die er am fleißigsten studiert. S. Versuch über das Genie von A. Gerard. S. 153. [Alexander Gerard, Versuch über das Genie. Aus dem Englischen übersetzt von Christian Garve. Leipzig 1776.]34

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Fünfte Relation der Vorstellungen gegen einander: Das Kausalverhältnis — Zwiefacher Grund von dem Einflusse desselben auf den Fortgang der Seele — Anhänglichkeit der Seele am Kausalverhältnis, und auffallende Richtung, welche dadurch den Gemütsbewegungen erteilt wird — Erklärung einiger merkwürdigen psychologischen Erscheinungen — Ursprung vieler Vorurteile aus der Anhänglichkeit am Vernunftgebrauch — Einfluß der Wichtigkeit und Menge der Ursachen auf die Empfindung — Verschiedenheit des Ganges der Seele vom Grunde zur Folge, und von der Folge zum Grunde — Eine daraus folgende psychologische Erscheinung, die Home falsch erklärt — Irrige Verwechselung der Begriffe von Grund und Folge mit den Begriffen von früher und später in der Zeit, und eine daraus erklärbare Menge von Erscheinungen in der Seele.

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ie wichtigste Beziehung der Vorstellungen auf einander, welche auf den Gang der Seele in einer Reihe derselben den meisten Einfluß hat, ist die Kausalbeziehung. Der Fortgang der Seele ist fast nirgends leichter als zwischen Vorstellungen, die sich gegen einander | wie Grund und Folge, oder Ursache und Wirkung, verhalten; und zwar erstlich wegen der Einerleiheit, die sich bei denselben findet. Sobald wir uns Etwas als e­ inen Grund gedenken, stellen wir uns dessen Wirkung zugleich als einen Teil von ihm mit vor: der Übergang ist daher, von einem Ganzen zu seinem Teile, zwischen welchen eine partielle Einerleiheit Statt findet. So gedenken wir uns z. B. bei dem Ansehen des Feuers zugleich auch dieses mit als eine Eigenschaft, daß es unserm Körper bei der Berührung eine schmerzhafte Empfindung verursacht; beim Anblick des Schnees, daß er Kälte macht; bei der Vorstellung eines Menschen, den wir als Vater betrachten, die Vorstellung von seinem Sohne *) u. s. w. *) Doch sind hier beim Kausalverhältnisse, wie überall, die übrigen gleich-

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Es ist also hier eine bloße Wiederholung einer Vorstellung, die wir kurz vorher als einen | Teil in einer andern gedacht haben; wir stellen uns nur explicite vor, was wir vorher implicite gedacht haben. Zweitens, wegen der Fertigkeit, welche die Seele in dieser Art von Übergang besitzt. Das ganze Wesen der Vernunft besteht im Schließen, d. i. eine Folge aus einem Grunde herzuleiten, wenn wir wissen, daß sie in demselben enthalten ist, oder zu entwickeln, wenn wir sie vorher in ihn hineingelegt; und so bald wir von Jugend auf unsere Vernunft zu gebrauchen anfangen, wird die Seele in dieser Art von Fortgang nach Leitung des Kausalverhältnisses geübt, der ihr daher immer der leichteste sein muß. Von diesem letzten Umstande besonders rührt die übergroße Anhänglichkeit her, welche die Seele überhaupt an Kausalitätsverbindung hat, so wie die Richtung, welche diese unsern Gemütsbewegungen in verschiedenen Fällen gibt. Alles Gute, was wir genießen, ist uns weit angenehmer, wenn wir einen Gegenstand als Ursache erkennen, der es uns erteilt, als wenn wir es dem nackten Zufalle | zuschreiben müssen. Niemand würde, wenn die Wahl bei ihm stände, die Erlangung eines großen Vermögens, nicht lieber seinen eigenen Verdiensten, oder dem ­guten Willen eines Andern, wenn nur dieser nicht zu große Ansprüche auf Verbindlichkeit dafür machte, als dem bloßen Ungefähr zu danken haben. Was der kalte Zufall, das Spiel uns gibt, gewährt zwar als Genuß oder als Genußmittel Lust; aber wer auf sein Gefühl einige Aufmerksamkeit wendet, wird dennoch in dieser Lust eine Lücke, eine Leerheit entdecken, die bei jeder andern Art desselben Genusses durch das deutliche Bewußtsein der Ursache ausgefüllt wird. Ich bin daher immer eben so geneigt gewesen, den Ursprung des Begriffes einer Gottheit unter den Menschen der Sehnsucht ihres Gefühls nach einem wollenden Urheber des Guten und Angenehmen, dessen sie überall um zeitigen Verhältnisse der Vorstellungen nicht ohne Einfluß auf die Richtung des Ideenganges. Die Vorstellung des Vaters führt uns leichter auf die seines Sohnes; die Vorstellung der Mutter leichter auf die ihrer Tochter. Dies macht das Verhältnis der Ähnlichkeit.

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sich her froh wurden, zuzuschreiben, als ihn mit verschiedenen Weltweisen aus dem durch Unglücksfälle und stürmende Naturempörungen gebängten Gemüte entstehen zulassen. Es gibt, nächst | dem Gefühle das auf das Wohltun selbst folgt, kein süßeres, kein den ganzen innern Menschen durchdringenderes, als dasjenige, welches mit der lebhaften Anerkennung der Ursache verbunden ist, durch deren Willen wir Gutes erlangen. Dieses Gefühl der Dankbarkeit hat die große Folge, daß von der einen Seite die Erregung desselben ein mächtiger Reiz zur Verbreitung guter Taten ist, und daß es von der andern Seite das niederdrückende mit dem Bedürfnisse Wohltaten zu empfangen verknüpfte Gefühl von Selbstschwäche und demütigender Abhängigkeit mildert, und den Genuß des Empfangenen erhöhet und veredelt. Es dünkt den Menschen, als vergelte er durch dieses Überfließen seiner Empfindung gegen den Wohltäter diesem seine Handlung, und als könne er wohl noch auf Gegenschuld Anspruch machen. Es gibt daher auch für den Menschen von Empfindung, nach dem Gefühl der erlittenen Undankbarkeit, schwerlich ein kränkenderes, als das Gefühl verachteter zurückgestoßener Dankbarkeit. – Kein Wunder also, wenn | das Menschengeschlecht schon im frühern Alter, überfüllt vom Genuß einer erquickenden Sonne, lachender Fluren, rieselnder Bäche und tausend anderer Annehmlichkeiten welche die Natur ihm aufdrang, zu der Vorstellung eines Wesens hingerissen ward, das ihm alle diese Freuden vorsetzlich zuströmte, und gegen das es durch Herzensergießung dem mächtigen Triebe zur Dankbarkeit Genüge leisten konnte. Indessen sehnen wir uns bei dem Erleiden einer Unannehmlichkeit gleichfalls nach der Vorstellung irgend einer Ursache, und haschen sie oft aus den Wolken, um nur nicht das bloße Ungefähr die Schuld tragen zu lassen. Im hohen Grade des Rachgefühls vergreifen wir uns, wenn wir unsere Wut an der unmittelbaren Ursache der erlittenen Kränkung nicht auslassen können, an den unschuldig­ sten und so gar an leblosen Gegenständen, die mit jener in der entferntsten Verwandtschaft stehen. Wir zerreißen Cinna den Poeten35, weil er mit dem verräterischen Konsul einerlei Na-

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men führt. – Wenn uns Etwas verloren gegangen ist, | so kränkt uns oft die Unwissenheit der Art, wie wir darum gekommen sind, mehr, als der Verlust der Sache selbst. Wenn uns ein Unfall begegnet und wir dessen Ursache auf nichts schieben können, so hassen wir zuweilen den Ort, das Haus und nicht selten die Stadt, wo er sich zugetragen hat, gleichsam als wären diese Schuld daran. Überall erkünstelt sich das Gemüt lieber eine Ursache, als daß es sich zu der unerträglichen Vorstellung bequemt, ein Ball in den Händen des bloßen Zufalles zu sein. Daher die Vorurteile, die man so oft selbst bei den vernünftigsten Leuten in Spielen wahrnimmt, deren Ausgang bloß von dem so genannten Zufalle entschieden wird: bald ist der Ort auf dem sie sitzen, bald der Nachbar der neben oder hinter ihnen steht, die Ursache ihres Glückes oder Unglückes; bald werden sie von ­einem Kartenblatte vorzüglich gehaßt, bald in Gunst genommen, und tausend solcher Behauptungen mehr, deren Ungereimtheit sie selbst bei kaltem Gemüte gar wohl einsehen. Und doch bin ich überzeugt, | daß ein großer Teil der Annehmlichkeit solcher Spiele, die Gewinngierde abgerechnet, gerade auf diesen kleinen Vorurteilen beruhet. Der Mensch ist wahrlich zu sehr vernünftiges Geschöpf, ist zu sehr an den Vernunftgang zwischen Ursache und Wirkung gewöhnt, als daß er sich in irgend einer Handlung ganz der Leitung des Ungefährs sollte überlassen, und mit Vergnügen überlassen können. Aber eben diese außerordentliche Anhänglichkeit der Seele an Vorstellungen der Kausalitätsverbindung ist nicht bloß beim Spiele, sondern selbst in den ernstlichsten Angelegenheiten des Lebens, die ergiebigste Quelle der ungereimtesten Vorurteile und des gröbsten Aberglaubens. Worauf sonst beruhen beide mehr, als auf falschen Verbindungen von Ursache und Wirkung? Eine Tischgesellschaft von dreizehn Personen, oder ein umgeschüttetes Salzfaß sieht man irrig als die Ursache oder als die Folge eines zu erwartenden Unglückes an; das Schreyen ­einer Eule als ein natürliches Zeichen, also als eine | Folge eines bevorstehenden Todes; die Geburten einer kränkelnden Einbildung als die Wirkungen äußerer Gegenstände, u. s. w. Immer ist

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es der Fall, daß zwischen zwei Begebenheiten, die in gar keiner oder in der zufälligsten Verwandtschaft unter einander stehen, eine Kausalverknüpfung gedacht wird. Wäre dieses Verbindungsgeschäft zwischen Grund und Folge der Seele minder geläufig, so würde sie sich bei mancher Begebenheit mit dem bloßen Bewußtsein ihrer Gegenwart begnügen, und mit Ruhe die spätere Einsicht ihrer wahren Ursache abwarten; aber die Gewohnheit dringt ihr diesen ursachlichen Ideengang so sehr als Bedürfnis auf, daß sie sich überall, wo sie ihn vermißt, in einer Unbehaglichkeit fühlt, und daß sie, um sich aus dieser zu reißen, lieber den läppischsten Hirngespinsten auf diesem Gange nachschwebt, als daß sie sich an der Hand der schwerfälligen Untersuchung auf ihm allmählich leiten lassen sollte. – So führt der zu dringende und übereilte Gebrauch des Vernunft­ gesetzes selbst zu den vernunftwidrigsten Folgen! | Das Leiden Vieler, sagt ein Hebräisches Sprichwort, ist ein halber Trost. So ungesellig auch dieser Satz scheint, so ist er dennoch wahr und in der menschlichen Natur gegründet. Was Viele zugleich befällt, scheint uns eine allgemeine notwendige Ursache zu haben, der wir uns willig unterwerfen; da wir hingegen dasjenige, was uns allein betrifft, mehr einem Zufall ähnlich glauben, besonders wenn, mehrere unter eben den Umständen von dem Übel befreiet geblieben sind. Noch mehr: bloß durch die Wichtigkeit oder Menge der Ursachen einer widrigen Begebenheit wird die unangenehme Empfindung gemildert. Wenn wir eine Lustpartie, von der wir uns viel Vergnügen versprechen, auf eine gewisse Zeit bestimmt haben, und sie dadurch rückgängig gemacht wird, daß jemand aus der Gesellschaft die Neigung dazu verloren hat; so erregt es in uns Verdruß und Mißvergnügen. Ist es Krankheit, die ihn davon abhält, so ist die Unlust geringer; noch geringer, wenn Mehrere in der Gesellschaft verhindert werden | daran Teil zu nehmen; und sie verliert sich gänzlich, wenn zugleich an dem bestimmten Tage schlimmes Wetter eingefallen ist. Wir trösten uns gewöhnlich damit: es hätte ohnedies nichts daraus werden können. Im Grunde ist doch der eigentliche Gegenstand der Unlust, die Entbehrung des erwarteten

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Vergnügens, in allen erwähnten Fällen derselbe; gleichwohl wird die Empfindung durch die Verschiedenheit der Ursache, auf die wir immer Rücksicht nehmen, so verschiedentlich geändert! Dies im Vorbeigehen. Der Übergang vom Grunde zur Folge wird aus oben angeführten Gründen der Seele leicht, und daher ist die Vorstellung der letzten in ihr minder lebhaft. Der entgegengesetzte Gang hingegen von einer gegenwärtigen Folge zu einem uns bekannten Grunde wird der Seele schwieriger, und ist mit mehr Anstrengung verbunden. Die Empfindung der Liebe, des Hasses, der Dankbarkeit, der Rache gegen eine Person trägt die Seele sehr leicht auf ihre Kinder, aber nicht auf ihre Eltern über. Wir | hassen den Sohn unsers Feindes, und sind voll erkenntlichen Gefühls gegen den Abkömmling unsers Wohltäters; aber Beider Väter sind uns gleichgültige Gegenstände: d. i. die Kinder erregen bei der Anschauung die Vorstellung ihrer Väter samt dem was sie uns haben genießen oder leiden lassen; die Anschauung der Väter aber erweckt nicht eben diese Vorstellung in ihrer ganzen Fülle von ihren Kindern. Ein Beweis also, daß bei der Vorstellung des Kindes die des Vaters mit mehr Lebhaftigkeit in uns entsteht, als die Vorstellung des Kindes, wenn die des Vaters in uns gegenwärtig ist. – Wenn nun, wie ich hinreichend gezeigt habe, der Grad der Lebhaftigkeit einer Vorstellung von dem Grade der Anstrengung, welchen sie der Seele kostet, und dieser wiederum von dem leichtern oder schwierigern Übergange zu ihr abhängt; so ist es offenbar, daß der Übergang von der Vorstellung des Vaters auf die seines Kindes der Seele leichter werden muß, als der entgegengesetzte von der Vorstellung des Kindes zu der des Vaters. | Ich muß mich wundern, daß Home, der zuerst diese Bemerkung von der verschiedenen Fortpflanzung der Empfindung zwischen Eltern und Kindern, und noch mehrere ähnliche gemacht und diese Erscheinungen so scharfsinnig aus einander gesetzt, doch den wichtigsten Umstand, worauf es hier ankommt, nämlich den Grad der Lebhaftigkeit, so ganz übersehen hat. Er leitet diese Erscheinungen bloß von der größern oder geringern Leichtigkeit des Überganges der Seele von einer Vorstellung zur

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andern her. »Darum, sagt er, dehnt sich die Dankbarkeit gegen einen Wohltäter leicht aus seine Kinder, aber nicht so leicht auf seine Eltern aus, weil der Übergang der Neigungen, zufolge der Ordnung der Natur, leichter abwärts als aufwärts geht.« *) Es ist aber in die Augen fallend, | daß daraus gerade die entgegengesetzte Erscheinung folgen müßte: so oft ich den Vater meines Wohltäters erblickte, so müßte, wegen des leichten Naturgemäßen Ganges in meiner Seele, die Vorstellung seines Kindes, meines Wohltäters, leicht rege werden; hingegen würde bei der Anschauung des Kindes, wegen des Naturwidrigen Aufwärtsganges, die Seele nur mit Schwierigkeit auf die Vorstellung seines Vaters, meines Wohltäters, kommen. Der erste müßte also unserer Empfindung weit interessanter sein, als der letztere: das Gefühl der Dankbarkeit müßte sich weit leichter an die Vorstellung des Vaters als an die des Kindes anhängen; allein wenn man bedenkt, daß die Neigung zur Dankbarkeit auf der Lebhaftigkeit der Vorstellung von den empfangenen Wohltaten beruhet, und diese im umgekehrten Verhältnisse mit der Leichtigkeit des Fortgan  |  ges der Seele steht; so ist es klar, daß sie sich eben darum auf den Vater nicht erstreckt, weil die Seele von dessen Vorstellung zur Vorstellung der von seinem Kinde empfangenen Wohltaten zu leicht übergeht, und diese daher keine große Lebhaftigkeit in ihr erhält; daß sie sich aber deswegen auf das Kind ausdehnt, weil die Seele bei der Vorstellung desselben mit einiger Schwierigkeit zurück zur Vorstellung des Vaters und seiner erzeigten Wohltaten übergeht, die daher, wenn sie einmal erregt *) Die Empfindung der Ordnung hat Einfluß auf die Mitteilung der Leidenschaften. Es ist eine gemeine Beobachtung, daß die Neigung eines Menschen zu seinen Eltern nicht so stark ist, wie zu seinen Kindern. Die Ordnung der Natur, indem man sich zu Kindern herabläßt, erleichtert den Übergang der Neigung. Wenn man, | dieser Ordnung zuwider, zu den Eltern aufwärts steigt, so wird dadurch der Übergang schwerer. Die Dankbarkeit gegen einen Wohltäter dehnt sich leicht auf seine Kinder, aber nicht so leicht auf seine ­Eltern aus. Home Grundsätze der Kritik, I. B. S. 96. [Henry »Heinrich« Home, Grundsätze der Kritik. Aus dem Englischen übersetzt von Johann Nikolaus Meinhard. Leipzig 1772.

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ist, mit einem großen Grade von Lebhaftigkeit in der Seele erscheint. Diese Verschiedenheit des Fortganges der Seele vom Grunde zur Folge, und von der Folge zum Grunde, erstreckt sich noch weiter. Da wir bei der Gegenwart von Ursache und Wirkung in der Natur immer wahrnehmen, daß jene sich der Zeit nach früher uns darbietet als diese; so verbinden oder verwechseln wir gar mit ihnen diese Begriffe von früher und später, und der Fortgang der Seele nimmt in Ansehung der Zeit eben diese Verschiedenheit an, wie bei Grund und Folge. | Wir gehen bei allen Arten von Vorstellungen leichter und schneller von einer vorhergegangenen zu der darauffolgenden über, als umgekehrt von der folgenden zu der vorhergegangenen. Es ist eine sehr bekannte Erfahrung, daß, wenn man sich eines entfallenen Verses wieder erinnern will, man die unmittelbar vorhergehenden Zeilen in Gedanken durchläuft, um dadurch auf jenen gebracht zu werden; niemals sucht man diesen Endzweck auf die entgegengesetzte Weise, durch die lebhafte Vorstellung der auf ihn folgenden Zeilen, zu erlangen. Man würde ihn auch sicher auf diesem Rückwege nicht erreichen. Alles Heruntersteigen geht in der Seele wie beim Körper mit Bequemlichkeit und leicht vor sich; alles Heraufsteigen erfordert Anstrengung, und geschieht mit Schwierigkeit. Es ist eine merkwürdige psychologische Erscheinung, die Hume irgendwo bemerkt, daß es uns weit schwieriger wird, eine unendliche Reihe ohne Anfang, als ohne Ende zu denken. Die Metaphysik zeigt es klar, daß die Möglichkeit einer Welt, die von jeher war, | nicht geringer ist, als die einer solchen, welche in aller Zukunft fortdauern wird; und doch wird jeder, wenn er bloß seinen gesunden Verstand zu Rate zieht, gar bald bemerken, daß es ihm weit schwieriger wird, sich jene vorzustellen, als diese. Wenn wir von dem gegenwärtigen Augenblicke ausgehen, so steigen wir ganz gemächlich mit dem noch zu dauernden Alter der Welt von Jahrhunderten zu Tausenden, Hunderttausenden, Millionen von Jahren und so immer weiter hinunter. Wenn wir aber von dem gegenwärtigen Zeitpunkt an mit eben diesen Hunderttausenden und Millionen Jahren im-

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mer rückwärts in die Höhe steigen sollen, so fühlen wir eine Art von Unbehaglichkeit, Schwierigkeit, und endlich ein gewisses Etwas, das uns weiter zu gehen hindert, und so zu sagen zwingt, irgendwo Halt zu machen. Darauf scheint auch der große Wert mit zu beruhen, den der Mensch überhaupt auf die Zukunft legt. Jeder Mensch ist begieriger zu wissen, was geschehen wird, als was geschehen ist. Jeder würde lieber nach | tausend Jahren noch einmal aufleben, um ein Zeitgenosse von den Folgen zu werden, als vor tausend Jahren gelebt haben wollen, um ein Augenzeuge von den Gründen des gegenwärtigen Weltzustandes gewesen zu sein. – Glück und Unglück bestimmen wir immer nach dem Ausgange. Niemand ist vor seinem Ende glücklich zu preisen: ist eine gewöhnliche Maxime. Ein Jahr Elend ist nur Ein Jahr Elend; und doch wird der Wert eines ganzen menschlichen Lebens so sehr von der Stelle bestimmt, welche dieses Jahr in demselben einnimmt! und doch würde es niemand, wenn das Schicksal es ihm auferlegte und dessen Versetzung ihm anheim stellte, das letzte in seinem Leben sein lassen! Niemand wird nicht lieber sechzig Jahre in Elend zubringen und dafür die letzten zehn auf dem Gipfel des Glückes stehen, als umgekehrt die ersten des Schicksals Günstling, und die letzten in Elend versunken sein wollen. Das Übel, das wir einmal in der Welt überstehen müssen, wollen wir immer gern bald überstehen; und wir alle, nicht bloß die Kinder, versparen im  |  mer gern den besten Bissen bis zuletzt. – In unsern Reden und Briefen suchen wir immer auf das Ende den größten Nachdruck zu legen. In launichten geistreichen Gesellschaften pflegt nicht selten die Stunde des Aufbruches die unterhaltendste zu sein. Jeder strebt mit dem witzigsten Einfall seinen Abschied zu zieren; und die schlechten Schauspieler legen es nur zu oft darauf an, gerade durch einen glänzenden und rauschenden Abgang von der Bühne sich das Händeklatschen der Zuschauer zu erwerben. Es ist wunderbar, daß zuweilen eine ganze Reihe von Begebenheiten bloß nach der letzten auf unsere Empfindung wirkt. Karls des Fünften merkwürdiges Leben, das, wie Schiller36 sagt,

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Siebenter Abschnitt

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der Geschichte auf viele Jahrhunderte ihre Richtung vorzeichnete, erscheint uns als Ganzes kraftlos und läppisch, da es sich in einem albernen Fastnachtsspiel endigt; so wie die Riesen­taten DES KÖNIGS durch seine letzte, die Stiftung des Fürstenbundes, an Würde und Größe einen erstaunlichen Zuwachs erlangen: Aber noch wun  |  derbarer ist es, daß wir sogar den sittlichen Wert eines Menschen nach diesem Zeitverhältnisse bestimmen. Sechzig Jahre in Schwelgerei und Bosheit verlebt, werden vergessen, wenn nur die letzten fromm und gottselig zugebracht werden; und eben so viele Jahre Tugend bleiben ungeschätzt, wenn die letzten unsittlich waren. Ein einziges Jahr hat oft, weil es das letzte war, dem Gottlosesten und Boshaftesten die Stelle eines Heiligen verschafft, und einen Andern, seines vieljährigen tugendhaften Wandels ungeachtet, zum verhaßtesten und verächtlichsten Gegenstande heruntergesetzt. Wahrlich eine sonderbare Art von moralischer Schätzung, deren Ungereimtheit der gesunden Vernunft in die Augen leuchtet, und die vor dem Richterstuhle des Allgerechten und Allweisen unmöglich Statt findet! Aber so ist es; der Mensch ist ein wallendes Geschöpf im großen rastlosen Zeitmeere. Von dem Strome fortgerissen, richtet er ununterbrochen seine Augen auf das Künftige, und läßt den Wert des Ge | genwärtigen und Vergangenen seiner Aufmerksamkeit entwischen! Alle erwähnte Erscheinungen beruhen darauf, daß der Rückgang von der Folge zum Grunde der Seele schwierig ist, und zwar aus Ursachen, die denen entgegengesetzt sind, welche den Fortgang vom Grunde zur Folge in ihr befördern: Erstlich, weil jede Folge, in so fern sie Folge ist, von kleinerm Inhalte ist als ihr Grund, und die Seele in diesem mehr vorfindet, als sie in jener sich gedacht; da sie hingegen beim Gange vom Grunde zur Folge bloß von einem Ganzen zu einem in demselben schon vorgestellten Teile steigt, wo ihre Tätigkeit durch die Wiederholung vermöge der daraus entspringenden Fertigkeit erleichtert wird. Zweitens, weil die Seele in Ansehung dieses Ganges an sich nicht die Fertigkeit hat, als in Ansehung des entgegengesetzten. Es ist nur die Sache des kultivierten, im Nachdenken vorzüglich ge-

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übten Verstandes, sich um die Gründe der Dinge in der Welt zu bekümmern und sie überall aufzusuchen; der ganz rohe Verstand begnügt sich | bloß mit dem Gegenwärtigen, und der gemeine praktische sieht nur auf dessen Folgen. Es sei eine seltene Erscheinung am Himmel: der Wilde wird sie anstaunen, der ­gemeine gesittete Mensch auf ihre Folgen und Deutung denken; nur der Weltweise wird ängstlich ihrer Ursache nachforschen. |

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AC H T E R A B S C H N I T T.

Anwendung der Lehre von dem verschiedenen Fortgange der Seele zwischen gegebenen Vorstellungen aus ihren Fortgang zwischen nicht gegebenen — Alle Verwandtschaftsarten der Vorstellungen sind Ableitungen der einzigen, der Einerleiheit und Verschiedenheit — Das ganze Assoziationsgesetz ist kein oberstes in der Seele, sondern beruhet auf dem Gesetze der Fertigkeit — Wiederholung und nähere Erläuterung der bisher vorgetragenen Lehre von der Weile — Verschiedenheit in der Erwerbung einer Fertigkeit bei körperlichen Bewegungen und bei Vorstellungen.

I

ch konnte im vorigen Abschnitte deshalb nicht umhin, mich bei verschiedenen Untersuchungen länger zu verweilen, als es vielleicht mein eigentlicher Endzweck erforderte, weil sie auf die Lehre von der Verbindung und Vergesellschaftung der Begriffe, die Grundlehre der ganzen Psychologie, vom ausgebreitetsten Nutzen sind. Denn obschon meine Absicht bloß war, das Verhalten der Seele | in Ansehung verschiedener Reihen von Vorstellungen zu erwägen, die ihr von den äußern Gegenständen dargeboten werden; so sieht man doch, wie leicht die Anwendung auf ihr Verfahren bei solchen Vorstellungen gemacht werden kann, die ihr nicht gegeben sind, sondern zu denen sie selbst aus eigenem Tätigkeitstriebe übergehet. Ist es ausgemacht, daß die Seele eine Reihe gegenwärtiger Dinge, die einander gleich, ähnlich oder sonst verwandt sind, schneller durchläuft, als wenn sie sich ungleich, unähnlich sind oder in keiner sonstigen Verwandtschaft stehen; so muß sie auch, wenn sie sich von ihrem natürlichen Gange weder vorsetzlich ablenkt, noch durch Eindrücke äußerer Gegenstände weggerissen wird, von jeder Vorstellung, die in ihr entspringt, eher zu einer solchen geleitet werden, die mit dieser in einem der erwähnten Verhältnisse steht, zu welcher also ihr Übergang der leichteste ist, als zu einer andern, die mit der gegenwärtigen gar nicht verwandt ist und zu

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deren Übergang sie mehr Anstrengung bedarf. Das | heißt also: Die beständig tätige Kraft der Seele geht, sich selbst überlassen, immer diejenige Reihe von Vorstellungen durch, die sie wegen ihrer Vergesellschaftung am schnellsten durchlaufen kann. Alle Schriftsteller, von Locke bis auf Hißmann37, welche über die Lehre von den vergesellschafteten Begriffen Untersuchungen angestellt, haben sich damit begnügt, den Umstand gleichsam als ein oberstes Grundgesetz in der menschlichen Seele zu bemerken: daß sie immer von einer Vorstellung zu einer andern mit ihr verwandten fortrückt; und durch Beobachtung alle die besonderen Arten von Verwandtschaften, welche die Seele in ihrem Gange bestimmen, auseinander zu setzen. Freilich ist es ihnen auch gelungen, sehr richtige und fruchtbare Folgen daraus herzuleiten; allein um die fernere Entwickelung des Ursprunges von diesem Gesetze scheint sich niemand bekümmert zu haben. Ich erinnere mich nicht, daß ich irgendwo eine Untersuchung über den Grund gefunden hätte, warum die Seele demselben unterworfen ist? | wie so sie von der Vorstellung a. gerade zu der mit dieser verwandten b. und nicht zu einer ganz fremden c. schreitet? – Und doch ist dieses warum? dieses wie so? in dem gegenwärtigen Falle nicht leicht zu beantworten, wenn man anders diese Frage überhaupt gelten lassen, und das Gesetz nicht als ein höchstes nicht ferner herleitbares annehmen will, wodurch freilich immer der Faden einer jeden Untersuchung abgerissen wird. *) – Man erwäge nur, daß jede | Vorstellung für *) Gerard sagt ausdrücklich, daß die Fortschreitung unserer Ideen nach gewissen Verhältnissen nicht von unserm Bewußtsein und unserer Vorstellung dieser Verhältnisse herkommt, sondern von einem Gesetze unserer Natur, nach welchem wir instinktmäßig handeln. (Vom Genie. S. 144.) Eben so D. Hume. »Das ist also,« sagt er, nachdem er das Gesetz der Assoziation und deren verschiedene Arten vorgetragen hat«, eine Art von Anziehungskraft, die in der Verstandeswelt nicht weniger außerordentliche Wirkungen hervorbringt, als in der körperlichen Natur, und die sich hier in eben so vielen als mannichfaltigen Gestalten zeigt. Ihre Wirkungen sind allenthalben sichtbar; aber was ihre Ursachen anbetrifft, so sind sie größtenteils unbekannt, und müssen in den ursprünglichen Eigenschaften der menschlichen Natur gesucht

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sich immer eine eigene abgesonderte Tätigkeit in der Seele ausmacht, und daß folglich gar nicht einzusehen ist, wie zwei Dinge a. und b. dadurch, daß ein gewisses Verhältnis zwischen ihnen Statt hat wenn sie neben oder nach einander vorgestellt werden, die Tätigkeit der Seele bestimmen, sie sich wirklich nach einander vorzustellen. – Was auch a. und b. mit allen ihren Verhältnissen an und für sich sein mögen – in der Seele und für die Seele sind sie nichts als Vorstellun | gen; wie kann nun der Grund ihrer Vorstellung von ihrer Vorstellung hergenommen werden? Wenn, um mich deutlicher zu machen, die Seele jetzt die Vorstellung a. (z. B. einen Garten) hat, so folgt in ihr nach dem Gesetze der Assoziation die Vorstellung b., (die in demselben gehaltene Unter­redung mit einem Freunde) weil diese der Zeit nach mit jenem verwandt ist: Allein diese Verwandtschaft, welche die Seele zu der zweiten Vorstellung bestimmen soll, ist doch selbst auch eine Vorstellung, die erst in der Seele gegenwärtig sein muß, um auf sie als Bestimmungsgrund zu wirken. Gleichwohl ist sie nicht eher in der Seele, als bis diese zweite Vorstellung b. selbst wirklich erregt ist; indem Verwandtschaft ein Verhältnisresultat ist, das erst aus der Vorstellung beiwerden, welche zu entfalten, ich mir nicht anmaße. Es wird von einem wahren Philosophen nichts mehr gefordert, als daß er sein ungezähmtes Verlangen, in die Ur | sachen zu forschen, einzuschränken wisse, und daß er sich, wenn er seinen Satz durch eine hinlängliche Menge Erfahrungen befestigt hat, dabei begnüge, wenn er sieht, daß eine weitere Untersuchung ihn auf dunkle und ungewisse Spekulationen führen werde. In diesem Falle wird er seine Bemühung weit besser auf die Untersuchung der Wirkungen als der Ursachen dieser Principien wenden.« Über die menschliche Natur. I. B. S. 42. Ich räume den Satz willig ein, daß es zum wahren Philosophen gehört, seinem Forschungsgeiste Grenzen zu setzen, wenn er einsieht, daß fernere Unter­suchung ihn auf Gebiete führt, die außer den Schranken seiner Vernunft liegen; aber auf eben diesem Einsehen beruhet gerade das Wesen der Philosophie; so wie es hingegen ohne dasselbe, gerade das Wesen der Unphilosophie ausmacht, aus träger Bescheidenheit bei jeder etwas schwierigen Unter­suchung eine Grenze für unsere Vernunft abzustecken. [David Hume, Über die menschliche Natur. Aus dem Englischen übersetzt von Ludwig Heinrich Jakob. Halle 1790.]

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der Verwandten neben einander entspringt. Die Vorstellung bestimmt also die Seele, ehe sie noch gar eine Vorstellung in der Seele ist! Man verfällt hier offenbar in einen unvermeidlichen Zirkel; denn man muß annehmen, die Seele habe eine Vorstellung von der Vorstellung | die sie haben wird! – Ich weiß, man sagt gewöhnlich: die vergesellschafteten Vorstellungen führen, ziehen einander herbei; allein man muß nicht vergessen, daß dieses einander Herbeiführen und Ziehen bloß figürliche aus der Körperwelt entlehnte Ausdrücke sind, die hier keinesweges im eigentlichen Sinne genommen werden können. Auf welche Art ziehen diese Vorstellungen einander herbei? Sie sind doch nicht etwa vermittelst einer Schnur so an einander geheftet, daß sie, wie eine Reihe hölzerner Figuren in einem optischen Kasten, oder wie die Schattenbilder auf einer Wand, der anschauenden Seele vorüberziehen? denn wo ist hier die Schnur? wo die Wand? wer ist der Zieher? Offenbar ist hier Zieher und Wand einerlei. Beides ist die Seele, zu der von jeder Vorstellung, so zu sagen, eine besondere Schnur läuft, an welcher sie nach Gefallen herbeigezogen werden kann; und wenn hier ein Herbeiführen der Vorstellungen Statt findet, so kann es bloß durch die Seele selbst geschehen, d. i.: jede Vorstellung, sobald sie gegen  |  wärtig ist, muß in der Seele eine solche Veränderung wirken, wodurch sie auf eine dunkle Weise bestimmt wird, den darauf folgenden Augenblick eine andere in sich zu erwecken, an welcher wir hernach eine Verwandtschaft mit der vorigen bemerken; und diese Veränderung kann, wie ich gezeigt habe, keine andere sein, als eine der Seele erteilte Fertigkeit, ihre Kraft von neuem zur Erweckung einer gewissen Vorstellung in Tätigkeit zu setzen.

••• Die ganze bisher vorgetragene Lehre läuft, also, um sie kurz zusammen zu fassen, darauf hinaus: Erstens, Vorstellungen haben, ist in der Seele kein leidender, sondern ein tätiger Zustand, eine Anstrengung ihrer Grundkraft. Diese Anstrengung kann dem Grade nach verschieden sein, und diesem entspricht der Grad

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der Lebhaftigkeit der Vorstellungen. Zweitens, zu jeder Kraftäußerung wird eine gewisse Zeit erfordert, welche die Seele auf die Vorstellung verwenden muß. Verweilt sie sich bei ihr zu wenig, so kann die Vorstel  |  lung nicht gehörig umfaßt werden, und sie bleibt unvollständig und undeutlich; verweilt sie sich zu lange, so wird die Anstrengung in der Seele, und mit dieser die Lebhaftigkeit der Vorstellung, vermindert. Drittens, die Pause zwischen verschiedenen Vorstellungen, welche die Seele durchläuft, macht die Weile aus, während welcher man sich die Seele nicht als völlig müßig, sondern als allmählich übergehend von einer Vorstellung zur andern denken muß, indem sie gradweise die Tätigkeit auf die vorhergehende nachläßt, und von neuem auf die folgende ihre Kraft äußert. Diese Weile muß gleichfalls, wie die Verweilung, ihr bestimmtes Maaß haben, und sie steht mit dieser in einem genauen Verhältnis. Ist sie zu kurz, so fällt die neue Tätigkeit mit der noch unvollendeten vorhergehenden in einander, und die Vorstellungen werden verwirrt; ist sie zu lang, so nimmt die Lebhaftigkeit jeder einzelnen Vorstellung eben darum ab, weil die Seele sich zu lange bei ihr verweilt. Viertens, das erforderliche Maaß der Weile ist nicht bei jeder Reihe Vorstellungen | dasselbe, sondern größer oder kleiner: erstlich nach der absoluten Beschaffenheit der Vorstellungen selbst; je interessanter und anziehender jede einzelne ist, je mehr Anstrengung sie also bedarf, desto länger muß sich die Seele bei ihr verweilen, und desto größer die Erholungszeit oder die Weile sein; zweitens, nach der relativen Beschaffenheit der Vorstellungen, d. i. nach dem geringern oder größern Grade von Einerleiheit, welcher zwischen ihnen Statt hat; und der Grund dieses Verhältnisses beruhet auf der Fertigkeit, welche jede Kraftäußerung auf der Stelle in der Seele erzeugt, dieselbe Tätigkeit mit minderer Anstrengung und folglich unter kleinerer Weile zu wiederholen. Fünftens endlich ist diese Einerleiheit entweder eine totale oder eine partielle. Zu der letztern gehören die Ähnlichkeit, die Ordnung, das Kausalverhältnis, u. s. w. Je größer nun diese Einerleiheit ist, desto größer ist die Fertigkeit, desto leichter und schneller der Übergang, aber auch desto geringer die Lebhaftigkeit der

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Vorstellungen; je kleiner hingegen die Einerleiheit, desto |schwächer wird die Fertigkeit, desto größer ist die Weile desto schwieriger und mit mehr Anstrengung geschieht der Übergang zwischen den Vorstellungen, aber desto lebhafter sind sie selbst. – So verhält sich die Seele in Ansehung ihres Fortganges bei gegebenen Vorstellungen, und eben die erwähnten Verhältnisse müssen den Grund ausmachen, nach welchem sie sich von selbst beim Fortschreiten unter verschiedenen Reihen nicht gegebener Vorstellungen bestimmt; woraus sich ergibt, daß das Gesetz von den vergesellschafteten Ideen kein ursprüngliches, sondern bloß ein von dem Gesetze der Fertigkeit abgeleitetes ist. Folgendes muß ich noch hinzufügen: Man muß sich nicht wundern, daß die Fertigkeit der Seele bei den Vorstellungen, im Vergleich mit der Fertigkeit bei den körperlichen Bewegungen, so äußerst schnell erworben wird. Die Muskelbewegungen geschehen viel zu schwerfällig und zu langsam auf einander, als daß eine einzige von merklichem Einflusse auf die Erleichterung der unmittelbar darauf folgenden sollte sein kön  |  nen; nur durch die öftere Wiederholung werden die Fasern allmählich nachgiebiger, und die Nervenkanäle vielleicht mehr erweitert, so, daß jene dem Willen geschwinder gehorchen, und diese dem Andrange des Nervensaftes weniger widerstehen. Und dennoch kann man bemerken, daß wenn eine neue und schwere Bewegung, z. B. ein Triller oder sonst eine Manier auf dem Klavier, mit vermehrter Anstrengung unmittelbar wiederholt wird, sie weit besser gelingt, als wenn eine lange Zeit dazwischen verfließt, weil im erstern Falle, wie es scheint, bei der Wiederholung die Biegsamkeit der Fasern und die Erweiterung der Kanäle noch nicht völlig nachgelassen haben. Die Vorstellungen hingegen folgen ungemein schnell auf einander; ihr Organ ist, wenn ich mich so körperlich ausdrücken darf, unendlich feiner, und fähiger, in jede Falte, die eine Veränderung in ihm hervorbringt, sich zu schmiegen, und mit Leichtigkeit dieselbe zu wiederholtenmalen aufzunehmen. |

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N E U N T E R A B S C H N I T T.

Einfluß der verschiedenen absoluten Beschaffenheit des Subjektes auf den Gang der Vorstellungen — Verschiedenheit der körperlichen Fertigkeiten unter den Menschen, und leichte Erklärung derselben — Schwierigere Erklärung dieser Verschiedenheit bei den Seelenfertigkeiten — Sie muß von der mit der Seelenwirkung notwendig verbundenen Gehirnveränderung hergeleitet werden — Zwei merkwürdige Krankheitsgeschichten — Abhängigkeit der Gehirnveränderung und der Weile von dem Umlaufe des Blutes — Verschiedener Gang der Vorstellungen bei phlegmatischen und hitzigen Temperamenten — In der Jugend und im Alter — Gang der Vorstellungen bei verschiedenen Arten von Verrückung — Kurze Wiederholung der vorgetragenen Sätze.

W

ir haben bisher den Einfluß betrachtet, welchen die Vorstellungen an sich und ihre Verhältnisse sowohl gegen ein­ander, als gegen das vorstellende Subjekt, auf den schnellern oder langsamern Fortgang der Seele haben; es gibt aber noch einen andern nicht minder wichtigen, der von der verschiedenen absolu  |  ten Beschaffenheit des vorstellenden Subjektes selbst herrührt, und dessen Auseinandersetzung von vieler Erheblichkeit ist. Es läßt sich nicht leugnen, und die tägliche Erfahrung bestätigt es, daß selbst die Fähigkeit, eine Fertigkeit zu erlangen, und eine und dieselbe Reihe von Vorstellungen mit Schnelligkeit zu durchlaufen, nicht unter allen Menschen in einem gleichen Grade Statt hat. Eine und dieselbe Reihe mathematischer Begriffe und Sätze, eine und dieselbe Reihe ­neben ein­ander befindlicher Gemälde oder Naturalien wird von Menschen erstaunlich schnell durchdacht und auf das klarste gefaßt; ein Ande­rer aber muß lange Zeit zubringen, um allmählich ein Stück nach dem andern, eine Idee nach der andern in sein Vorstellungsvermögen fest einzusetzen. Und zwar hängt dieses nicht immer von Gewohnheit oder Übung ab; sondern man merkt diese Verschie-

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denheit oft bei Menschen, die eine völlig gleiche Erziehung genossen haben, bei den zartesten Kindern, die man zum ersten male mit gewissen Gegenständen beschäftigt; und man schließt | daher gewöhnlich mit Recht auf die Anlagen, Köpfe und Genies. Nicht minder verschieden ist der Gang der Seele bei einem und demselben Menschen nach seinem Zustande des Gemüts und des Körpers. Bei gehöriger Gesundheit, heiterem Gemüte und fröhlicher Laune verspürt man einen Zufluß von Vorstellungen, deren man sich nicht erwehren kann, und man durchläuft sie mit Klarheit und Leichtigkeit; bei kränklicher Leibesbeschaffenheit, trübem Gemüte und verdrießlicher Laune gehet nichts gehörig von Statten: man rückt in der Reihe Vorstellungen, die man angefangen hat, nicht weiter; man kommt bei dem festesten Vorsatz fortzuschreiten, nicht aus der Stelle. Wer in einer fremden Sprache nicht sehr geübt ist, kann zuweilen bei einer gewissen Stimmung des Gemüts und des Körpers, sich mit ziemlicher Geläufigkeit darin unterhalten; bei einer andern Stimmung aber fühlt er Zunge und Einbildung wie gelähmt, und sie versagen ihm die bekanntesten Ausdrücke. Alle Seelenfähigkeiten sind dem Launen- und Gemüts  |  wechsel unterworfen; vorzüglich aber der Witz, der eigentlich in der Fertigkeit ähnliche Vorstellungen zu verfolgen besteht. Die Gegenwart einer widrigen verhaßten Person, ein düsterer bezogener Himmel, ein drückendes Lüftchen außer oder in dem Körper, verwandeln oft den witzreichsten Gesellschafter in eine fade abgeschmackte Figur. Bei den körperlichen Fertigkeiten ist die Verschiedenheit unter den Menschen erstaunlich groß und sehr gewöhnlich. Nichts ist häufiger, als die Erscheinung einer Fertigkeit bei manchen Menschen in gewissen Leibesübungen, im Tanzen, Spielen, Fechten oder in sonst etwas, die von Andern gar nicht erworben werden kann. Es ist bekannt, daß einige Menschen schon in der Jugend eine Gewandtheit und Behendigkeit in gewissen körperlichen Verrichtungen äußern, welche Andere durch die anhaltendste Übung und den größten Fleiß in ihrem ganzen Leben nicht erlangen können. Ich kannte einen Knaben, der dem

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Unter­richte, den man seiner jüngern Schwester im Klavierspielen gab, zu  |  weilen mit beiwohnte, und bloß durch das Absehen und Nachahmen sich eine solche Fertigkeit in dieser Kunst erwarb, daß man ihm nun allgemein eine Stelle unter den ersten Virtuosen einräumt; ich selbst habe sehr viel Zeit und Mühe auf die Erlernung des Klavierspielern verwendet, und habe es nie von meinen Fingern erlangen können, daß sie mit einiger Geschwindigkeit oder Zierlichkeit das leichteste Stück durchspielten. – Und diese Fertigkeit erstreckt sich selten auf den Gebrauch aller körperlichen Teile, sondern meistens nur auf die Bewegung einiger. Der geschickteste Tänzer ist oft nicht im Stande, einen Triller oder sonst eine Manier auf dem Klavier hervorzubringen, und der größte Musiker nicht, einen Entrechat oder eine Pirouette mit Dexterität und Delikatesse zu machen. Die Erklärung der unmittelbaren Ursache dieser körperlichen Verschiedenheit hat wenig Schwierigkeit. Sie liegt unstreitig in der Organisation oder Beschaffenheit der festen Teile, der Muskelfasern oder der Nervenäste, | die in verschiedenen Teilen und in denselben Teilen bei verschiedenen Menschen so sehr von einander abweichen; denn es kommt hier alles, wie ich bereits anderwärts auseinander gesetzt habe *), auf den Grad des Widerstandes an, der dem Einflusse des Nervensaftes in ­einen gewissen Teil geleistet wird. Je geringer jener ist; mit desto mehr Leichtigkeit geschieht dieser, mit desto weniger Anstrengung und größerer Schnelligkeit kann einerlei Bewegung wiederholt werden. In Ansehung der Vorstellungen hingegen ist der Grund dieser verschiedenen Fähigkeit eine Fertigkeit zu erlangen, unter verschiedenen Menschen nicht eben so leicht einzusehen. Die Seele ist eine einfache Substanz, bei der sich weder Ausdehnung noch Erweiterung, weder Widerstand noch Nachgiebigkeit im eigentlichen Verstande denken läßt. Ihr Wesen besteht bloß in der einfachen Ausübung ihrer Vorstellungskraft, die nur immer*) Briefe an Ärzte, zweite Sammlung, B. an Zimmermann. [Marcus Herz, Briefe an Aerzte. Zweyte Sammlung. Berlin 1784.]

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fort wiederholt wird. Wenn es nun einmal ein Gesetz bei der Seele überhaupt | ist, daß durch die öftere Anwendung dieser Kraft auf einerlei Gegenstand die Wiederholung immer mehr und mehr erleichtert wird; so müßte dieses von jeder Seele in gleichem Grade gelten, und es ist nicht zu begreifen, worauf hier die Verschiedenheit unter verschiedenen Menschen beruhen sollte? warum bei Einem diese Erleichterung in einem größern, und bei einem Andern in einem geringem Grade Statt fände? Selbst angenommen, daß diese Kraft ursprünglich schon in ihrem Keime den Menschen in verschiedenem Grade erteilt ist, so folgt daraus doch keinesweges der verschiedene Einfluß jeder einzelnen Äußerung derselben auf ihre folgende. Das Verhältnis zwischen beiden in Ansehung der daraus entspringenden Fertigkeit müßte doch notwendig immer dasselbe bleiben, so wie alle fallende Körper dem nämlichen Gesetze von der Zunahme ihrer Gewalt im Quadratverhältnisse ihrer Fallzeiten unterworfen sind, die ursprüngliche Kraft mit welcher sie zu fallen angefangen, mag groß oder klein sein! | Da uns nun die unmittelbare Ursache dieser Verschiedenheit in der Seele fehlt, so müssen wir zu einer mittelbaren unsere Zuflucht nehmen, und sie in dem mit der Seele verknüpften Körper suchen. Wir müssen annehmen (und dies können wir beinahe mit demonstrativischer Gewißheit) daß jede Veränderung in der Seele, d. i. jede Äußerung ihrer Kraft, nur unter der Bedingung einer entsprechenden Veränderung im Körper geschehen kann, und zwar in demjenigen Teile des Körpers, mit welchem ihre Verbindung die nächste ist: in dem Gehirne und in den Nerven. Ich wage es nicht, die Art dieser körperlichen Veränderung genau zu bestimmen; genug, es muß eine vorgehen, und es ist nur höchstwahrscheinlich, daß sie in einer Bewegung des Nervensaftes bestehet. Diese Bewegung kann aber nicht immer dieselbe sein, sondern muß, wie dieses aus dem Begriffe der Verbindung folgt, der Kraftäußerung der Seele entsprechen und bei jeder verschiedenen Vorstellung eine andere sein. Bei jeder Vorstellung A. in der Seele muß | im Gehirne die Bewegung a.  entstehen; bei jeder Vorstellung B. die Bewegung b. u. s. w.

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So auch umgekehrt: wenn durch körperliche Ursachen die Bewegung a. oder b. im Gehirne hervorgebracht wird, so muß in der Seele die Vorstellung A. oder B. darauf erfolgen. Sobald aber diese Bewegungen im Gehirne nicht entstehen können, so können die denselben entsprechenden Vorstellungen in der Seele, so lange sie mit dem Körper in Verbindung ist, nicht Statt haben. Bei den sinnlichen Empfindungen lehrt dies der Augenschein; denn diese sind offenbar nichts anders, als gewisse Vorstellungen, welche auf die ihnen entsprechenden Veränderungen im Gehirne entstehen, und welche aufhören, wenn diese Ver­änderungen wegen Verletzung der Organen nicht vor sich gehen können. Aber außer diesen offenbaren sinnlichen Eindrücken und Organen kann es noch eine unendliche Menge von weniger anschaulichen Ursachen im Körper geben, die gewisse Veränderungen im Gehirne hervorbringen, welche gewisse ihnen entsprechende Vorstellungen in | der Seele erregen und von diesen wieder erregt werden; so wie die Abwesenheit dieser ­körperlichen Ursachen den Mangel dieser Veränderungen, und zugleich dieser Vorstellungen, zur Folge haben kann. Wenn also das Gehirn aus irgend einer Ursache der zu einer gewissen Vorstellung erforderlichen Veränderung unfähig ist: so kann auch die Seele diese Vorstellung nicht haben, da ihr jene unumgänglich notwendige Bedingung fehlt; so wie im entgegengesetzten Falle, wenn es der Vorstellung an hinreichender Wirksamkeit gebricht, die entsprechende Gehirnveränderung zu erregen, sie selbst sowohl, als diese Veränderung im Gehirne mit allen von ihr ­abhangenden Muskelbewegungen, unterbleiben müssen *). *) Zur Bestätigung dieser letzteren Behauptung will ich zwei Krankheitsgeschichten anführen, die ich bereits in Moritzens Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (B. 8. St. 2.) eingerückt habe. Ich rechne darauf, daß meine Leser mir die wörtliche Wiederholung derselben hier zu gut halten werden. – »Im August 1785 besuchte ich einen Offizier von der Artillerie, einen Mann von vierzig Jahren, der, wie man mir erzählte, seit einem Jahre, nach vorhergegangenem Erkälten und gehabtem Ärger, an der Zunge, | 137 | den Händen und den Füßen völlig gelähmt war. Er ward von einem unserer guten Ärzte allhier

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Man sieht hieraus, welch | eine wichtige Mitursache die verschiedene Organisation der feinsten Teilchen im Gehirne von den verschiedenen Genies und Seelenfähigkeiten überhaupt sein kann, so wie die Ursache der nicht seltenen Erscheinung behandelt, der mich hinzu rief, um Einrichtung zu einer elektrischen Kur zu treffen. Dies geschah: und so sah ich den Kranken bis im folgenden Jahre nicht wieder, da er mich meines Beistandes halber zu sich kommen ließ, weil sein Arzt ihn verlassen hatte. Ich fand ihn so weit hergestellt, daß er die Füße vollkommen und auch die Hände einigermaßen brauchen konnte; aber in Ansehung der | 138 | Sprache fiel mir folgende merkwürdige Erscheinung auf. Er war schlechterdings nicht im Stande, irgend ein Wort deutlich und vernehmlich hervorzubringen, weder von selbst aus eigenem Triebe, noch wenn man ihm die Worte laut und langsam vorsagte. Er strengte sich äußerst heftig an, die Zunge und die übrigen Sprachwerkzeuge in Bewegung zu setzen, konnte aber nie etwas Andres als ein unverständliches Gemurre hervorbringen, das ihm sehr viel Mühe machte, und sich dann mit einem tiefen Seufzer endigte, Hingegen konnte er sehr fertig lesen. Hielt man ihm ein Buch oder etwas Geschriebenes vor, so las er geschwind und deutlich, und man konnte dann kaum einen Fehler an seinen Sprachorganen bemerken. Nahm man ihm aber die vorgehaltene Schrift weg, so war er wieder nicht im Stande, die vorigen Worte auszusprechen. Diesen Versuch wiederholte ich sehr oft in Gegenwart seiner Frau und verschiedener andren Personen. Der Erfolg war immer derselbe. Ich weiß mir von dieser merkwürdigen psychologischen Erscheinung keine andere Erklärung zu geben, als folgende: Um unsere Sprachwerkzeuge zur Hervorbringung eines Wortes in Bewegung zu setzen, ist es notwendig, daß dessen Vorstellung, sie mag nun von selbst, oder durch äußere Veranlassung in uns entstehen, vorher in unserer Seele gegenwärtig sei, welche alsdann unsere Willkür rege macht, und sie bestimmt, in die Nerven der Sprachmuskeln den Nervensaft gerade so hin zu bewegen, wie es die Aussprache des ihr entsprechenden Wortes erfordert. | 139 | Diese Vorstellung muß einen gewissen Grad von Stärke haben, um die Willkür in diese Tätigkeit zu versetzen. Überschreitet sie denselben, so wirkt sie zu lebhaft, und es entsteht ein geschwindes undeutliches Plaudern oder auch ein Stottern. Erreicht sie ihn nicht, so ist sie unvermögend, die Wirkung überhaupt hervorzubringen; die Willkür wird alsdann zwar in einer Art von Bestreben sein, den Nervensaft in Bewegung zu setzen: aber da der Reiz der Vorstellung zu schwach ist; so wird es auch bloß bei dem unfruchtbaren Bestreben bleiben, ohne daß ein wirkliches Sprechen darauf erfolgt.

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Neunter Abschnitt

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von verlornen Seelenkräften bei Quetschungen und Verletzungen des Gehirns. – Es muß aber von diesen Veränderungen im Gehirne allerdings gelten, was oben von den körperlichen Bewegungen überhaupt erwähnt worden ist; daß sie, je öfter sie wieEs ergibt sich hieraus sehr leicht, daß dieser erforderliche Grad der Vorstellung nicht unter allen Umständen derselbe sein kann, sondern nach der verschiedenen Beschaffenheit der Sprachorgane verschieden sein muß. Je nachdem diese reizbarer und beweglicher, oder stumpfer und unbeweglicher sind, wird er kleiner oder größer sein müssen. Wenn also ihre Nerven sich in einem widernatürlichen Zustande befinden, und dem gewöhnlichen Einströmen des Nervensaftes zu großen Widerstand leisten; oder wenn deren Muskeln eine so geringe Reizbarkeit haben, daß der gewöhnliche Einfluß des ­Saftes in ihre Nerven in ihnen keine Zusammenziehung hervorzubringen vermag: so muß die Tätigkeit der Willkür desto größer, ihre Anstrengung, und folglich die Vorstellung, die sie zu dieser Anstrengung spornt, desto stärker sein; und so umgekehrt. Die Wirksamkeit einer Vorstellung hängt aber von zwei Ursachen ab: von ihrer Lebhaftigkeit, und von ihrer Dauer. Was die erstere betrifft, so kommt diese hier nicht in Betrachtung, da es in Ansehung ihrer keine we | 140 | sentliche Verschiedenheit unter den verschiedenen sinnlichen Vorstellungen gibt; und bis auf einen gewissen Grad, der in schmerzhaftes Gefühl übergeht, kann eine jede bald lebhafter bald stumpfer sein, als die übrigen. In Ansehung der letztern aber findet sich ein merklicher Unterschied zwischen den verschiedenen sinnlichen Eindrücken, und also auch zwischen ihren Vorstellungen. Vorzüglich ist er zwischen den Vorstellungen des Gesichts und des Gehörs auffallend. Offenbar sind jene von weit längerer Dauer, als diese. Die Vorstellung gewisser Wörter z. B. welche den empfangenen Eindruck derselben durch das Gehör begleitet, sie mag auch noch so unmitmittelbar[!] darauf folgen, ist doch immer in der Dauer nur Erinnerung. Der Schall ist vorüber, und den Augenblick darauf muß die erregte Vorstellung sich durch sich selbst, vermittelst der Erinnerung des gehabten Eindruckes, erhalten; hingegen bei anhaltendem Sehen auf einen Gegenstand ist die ­Ursache, welche die Vorstellung unterhält, ununterbrochen gegenwärtig. Und gesetzt auch, daß derselbe Laut oft hinter einander wiederholt wird, so entstehen daraus doch immer nur viele besondere einzelne Eindrücke, die bei weitem keine solche anhaltende stetige Vorstellung in dem Gemüte hervorbringen, wie die ununterbrochene Strahleinwirkung eines sichtbaren Gegen­standes. Im erstern Falle muß also die Macht der Vorstellung geringer, und folglich

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derholt werden, desto leichter vor sich gehen, indem durch den öftern Eindrang des bewegenden Saftes die Kanäle immer weiter und nachgiebiger werden; und eben dies muß folglich auch mittelbar von den Vorstellungen gelten, | welche diesen Veränderungen im Gehirne entsprechen: sie müssen desto schneller auf einan | der folgen, je größer die Leichtigkeit ist, mit der diese hervorgebracht werden. | Wir können nunmehr von dieser Betrachtung leicht die Anwendung auf die subjekti | ve Ursache machen, welche auf den Fortgang der Vorstellungen überhaupt, oder auf | die Weile, ihre Wirkung auf die Willkür schwächer sein, als im letztern. Dies ist wahrscheinlich mit eine Ursache, weshalb die Vorstellungen des Gesichts überhaupt fester in der Seele haften, als die Vorstellungen | 141 | des Gehörs, und weshalb wir uns an ein einmal gesehenes Bild noch lange Zeit leichter zurück erinnern, als an eine einmal gehörte Melodie. Nun waren bei unserm Kranken die Sprachwerkzeuge offenbar in einem geringen Grade gelähmt, wodurch sie freilich nicht aller Beweglichkeit beraubt, aber doch in einen geschwächten, minder reizbaren Zustand versetzt wurden, und sie konnten nur von einer stärkern Vorstellung und angestrengteren Kraft der Willkür in Tätigkeit gesetzt werden, welche zwar von der anhaltenden Wirkung eines Gesichts, aber nicht von der verschwindenden eines Gehörgegenstandes erlangt werden konnten. Vor kurzem ist mir noch ein ähnlicher Fall bei einer jungen aus Gram melancholischen Dame vorgekommen. Weder das dringendste Bitten, noch die heftigsten Drohungen, waren im Stande, einen artikulierten Ton von ihr heraus zu bringen. Hielt man ihr aber einen Brief oder ein gedrucktes Blatt vor, und ersuchte sie, es zu lesen; so tat sie es mit der größten Fertigkeit eines gesunden Menschen. Bei ihr waren die Sprachwerkzeuge im natürlichen Zustande; aber wahrscheinlich ward durch die brütende Aufmerksamkeit auf ihren Lieblingsgegenstand die gewöhnliche Wirkung jeder andern Vorstellung so sehr geschwächt, daß sie nicht hinreichte, den Willen in die Tätigkeit zu setzen, welche zum Bewegen des Nervensaftes in die Sprachorgane erfordert wird. Da nun, wie ich schon erwähnt habe, die Vorstellungen des Sehens, wegen der anhaltenden Gegenwart ihrer Ursache, dauerhafter und stärker sind, als die Vorstellungen des Hörens; so ergibt sich von selbst, warum jene und nicht diese sie zum Sprechen bewegen konnten. [Marcus Herz: Wirkung des Denkvermögens auf die Sprache. In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, Band 8, 1791, S. 1–6.]

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bei verschiedenen Menschen von so großem Einfluß ist. Denn, noch einmal: die den Vorstellungen entsprechenden Veränderungen im Gehirne können in nichts anderem bestehen, als in Bewegung, und zwar wahrscheinlicherweise in Bewegung einer vom Blute abgesonderten Flüßigkeit, die man gewöhnlich den Nervensaft nennt, innerhalb gewisser Kanäle. Wenn nun die Beschaffenheit dieser Absonderung oder dieser Kanäle bei verschiedenen Menschen, oder auch bei einem und demselben, unter verschiedenen Umständen sich verschieden verhält; so ist es offenbar, daß in eben diesem Verhältnisse die Vorstellungen, welche mit diesen Bewegungen verbunden sind, gleichfalls verschieden sein müssen. Ist die Absonderung häufig und sind die Kanäle nachgiebig; so muß der Zufluß des Nervensaftes schneller geschehen und folglich auch der Gang der Vorstellungen geschwinder sein. Ist jene hingegen sparsam und leisten diese zu viel Widerstand; so kann die Bewegung nur langsam sein, und auch die Vorstellungen kön | nen nur in großen Pausen auf einander folgen. Und dies wird von der täglichen Erfahrung in der Tat bestätigt. Alle Bewegungen und Absonderungen der Säfte im tierischen Körper richten sich nach dem Umlauf ihres allgemeinen Urstoffes, des Blutes. Jede Absonderung ist desto stärker, je geschwinder das Blut bewegt wird, oder je stärker sein Hinfluß nach dem Werkzeuge dieser Absonderung ist. Eben dies gilt auch von dem Nervensafte: je stärker der Umlauf des Blutes überhaupt oder dessen Hindrang nach dem Gehirne ist, in desto größerer Menge muß er abgesondert und mit desto größerer Schnelligkeit bewegt werden. Und gerade in diesen Fällen lehrt die Erfahrung, daß die Vorstellungen geschwinder als gewöhnlich auf einander folgen. Im Zustand einer heftigen Leidenschaft oder der Berauschung, da das Blut schnell umher getrieben wird, ist in der Seele ein beständiges Schweben und Schwinden der Vorstellungen, so daß sie nicht an einer einzigen lange haften kann. In der Fieberhitze weichen die Ideen von | ihrem gewöhnlichen Gange ab, und die Seele springt mit einer erstaunlichen Schnelligkeit von einer zur andern über, wenn auch nur die schwächste Verbindung zwischen

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ihnen ist. Dasselbe bemerkt man auch bei Rasenden; und eben die Erscheinung zeigt sich auch, wenn zwar die Bewegung des Blutes im Ganzen nicht vermehrt ist, aber aus gewissen Ursachen bloß eine zu große Menge desselben nach dem Kopfe gehet, oder dessen Abfluß vom Kopfe verhindert wird, wie dieses bei der Gegenwart verschiedener Reize im Magen und in den Gedärmen, oder in andern mit dem Gehirne sympathisierenden Teilen, bei Krämpfen und Zuschnürungen der Gefäße im Unterleibe, und bei Erstickenden der Fall ist. Unter allen diesen Umständen kann die Seele sich bei keiner einzigen Idee lange verweilen, sondern sie durchläuft ganze Reihen Vorstellungen mit der äußersten Lebhaftigkeit und Schnelligkeit. Von der andern Seite muß der Fortgang der Ideen bei allgemeinen Schwächen und Erschlaffungen gleichfalls sehr geschwind sein, wenn sie mit einem übereil | ten Blutumlaufe verbunden sind, wie z. B. bei Sterbenden, wo die Reizbarkeit des Herzens so stark ist, daß man die Pulsschläge kaum zählen kann, und die festen Teile zugleich den höchsten Grad der Erschlaffung haben. Hier fehlt es den Nervenkanälen an Gewalt, dem eindringenden Nervensafte zu widerstehen; und da dessen Absonderung häufig ist, so muß er schnell durch die Kanäle fortrücken, und in eben diesem Verhältnisse müssen auch die Vorstellungen auf einander folgen. Aber außer diesen widernatürlichen Umständen gibt es auch natürliche, die wegen ihrer Verschiedenheit unter den Menschen einen verschiedenen Gang der Vorstellungen unter ihnen ver­ ursachen. Bei kalten phlegmatischen Personen ist, wie der Puls es deutlich zeigt, der Umlauf des Blutes im Körper träge und langsam; alle Absonderungen und folglich auch die des Nervensaftes, gehen zaudernd von statten: daher das Schleppende in ihren Verrichtungen und Bewegungen, daher auch der langsame Fortgang der Ideen in ihrer | Seele. Jeder Eindruck ist in ihr von Macht und Dauer, und sie kann sich nicht ohne Mühe von ihm los machen und zu einer neuen Vorstellung übergehen. Bei hitzigen Temperamenten ist der Umlauf des Blutes schnell; die Nervenflüßigkeit, so wie alle übrige Säfte, wird in großer Menge abgesondert und geschwind bewegt; daher die Behendigkeit in

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Neunter Abschnitt

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ihren Bewegungen, und der rasche Fortgang ihrer Vorstellungen. Der immer rege Trieb nach neuen Kraft­äußerungen findet hier wenig Schwierigkeit zu überwinden, und wird von der schnellen Bewegung des Nervensaftes unterhalten und immer mehr belebt, so daß die Seele mit der äußersten Geschwindigkeit von einer Vorstellung zur andern forteilen kann. In der Jugend sind die Gefäße nachgiebiger, das Herz reizbarer und der Umlauf des Blutes geschwinder; daher die Munterkeit und die Neigung zur Abwechselung in diesem Alter. Mit leichter Mühe fliegt die Seele von einer Vorstellung zur andern. Dazu kommt noch, daß, außer dem allgemeinen | verstärktern Umlaufe im ganzen Körper, in der Jugend der Trieb des Blutes verhältnismäßig mehr nach dem Gehirne geht, und daß daher der Nervensaft in größerer Menge und geschwinder abgesondert wird. Im Alter ist der Umlauf des Blutes im Ganzen träger, und dessen Richtung verhältnisweise mehr nach den untern Teilen, die Reizbarkeit des Herzens geringe, und der Widerstand der Gefäße hartnäckiger; alle Absonderungen geschehen langsam, und eben so rücken auch die Vorstellungen auf einander fort. Daher die Beharrlichkeit der Alten bei gewohnten Vorstellungen, daher ihre Anhänglichkeit an das Einerlei. Auf dem erwähnten Zusammenhange zwischen dem Absonderungsgeschäft und dem Gange der Vorstellungen beruhet auch die Natur der verschiedenen Arten von Verrückung: derjenigen nämlich, in welcher die Kranken bei keiner einzigen Idee sich eine Zeitlang verweilen können, sondern von e­ iner jeden, die in ihnen entsteht, rastlos zu andern und wieder andern, welche keine | oder nur die schwächste unmerklichste Verbindung unter einander haben, fortgerissen werden, woraus alsdann die sinnlosesten Verbindungen und die ungereimtesten Vergleichungen der Vorstellungen entspringen; (eine Klasse von Krankheiten, die, wie Haller38 sagt, sich von dem niedrigsten Grade des dichterischen Genies bis zu den heftigen Rasenden der Tollhäuser erstreckt): ferner derjenigen, bei welcher im Gegenteil die Kranken an einer einzigen Idee so sehr haften, daß kein Übergang zu einer andern für sie Reiz hat, außer in so fern

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sie mit der Hauptvorstellung, über welcher sie beständig brüten, in der engsten Verbindung ist. Diese Klasse umfaßt den geringsten Grad der Traurigkeit, und die tiefste Melancholie. Die nächste Ursache der erstern Art besteht in einer zu schnellen Bewegung des Blutes nach dem Gehirne, so wie die entfernte in allem, was durch irgend einen Reiz diese verstärkte Bewegung verursachen kann, z. B. der Gebrauch hitziger Getränke, genommene Gifte, Affekten, unterdrückte Blutausleerungen, Würmer, u. s. w. | denn je mehr Blut nach dem Gehirne geht, desto häufiger und schneller ist die Absonderung des Nervensaftes, und folglich desto reißender der Strom der Ideen. Daher beruhet auch ihre Kur auf der Entfernung jener reizerregenden Ursache, auf der Herunterstimmung der Lebenskräfte, auf der Abwendung des Hinflusses vom Gehirne, und auf der verminderten Absonderung des Nervensaftes. – Die nächste Ursache der zweiten Art hingegen besteht in der zu langsamen Blutbewegung im Gehirne und der dadurch verzögerten und verminderten Absonderung des Nervensaftes, von welcher der schleppende und langsame Fortgang der Ideen abhängt. Daher ist ihre Heilmethode der vorigen entgegengesetzt: Man sucht die Reizbarkeit der Nerven zu erhöhen, und den Blutumlauf so wohl im ganzen Körper, als in den obern Teilen besonders, lebhafter zu machen. Dies sind die wichtigsten Umstände, worauf es bei dem verschiedenen Verhalten der Seele in Ansehung der anhaltenden Ausübung ihrer Vorstellungskraft ankommt: Eine Lehre | welche die Grundlage der ganzen Psychologie ausmacht, so wie das oben erwähnte Lockische Gesetz, von welchem ich ausging, eine der fruchtbarsten Entdeckungen ist, aus welcher sich die auffallendsten Erscheinungen erklären lassen, zu deren weitläufigen Auseinandersetzung hier aber der Ort nicht ist. Meine ganze gegenwärtige Absicht, da ich es zu entwickeln suchte, und auf seine Angrenzung an andere psychologische Gesetze Rücksicht nahm, war bloß, mir den Weg zu der Anwendung desselben auf den Einfluß zu bahnen, den es wechselsweise auf die Veränderungen des Körpers äußert und von denselben erleidet; und

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dazu sind, wie mich dünkt, folgende aus dem Obigen sich ergebende Sätze hinreichend: Erstlich: die Seele muß bei jeder Äußerung ihrer Tätigkeit, bei jeder Vorstellung, eine entsprechende Veränderung im Körper, d. i. eine Bewegung des Nervensaftes in dem Gehirne, hervorbringen. | Zweitens: je leichter diese Bewegung vor sich geht, mit desto mehr Schnelligkeit geschieht die Kraftäußerung. Drittens: sie geht leichter vor sich, wenn sie öfters wiederholt wird, oder wenn die Absonderung des Nervensaftes und dessen Bewegung im Gehirne ohnedies schon in einem verstärktern Grade geschieht. Viertens: der Grad der Absonderung und Bewegung des Nervensaftes richtet sich, wie die Absonderung und Bewegung aller übrigen Säfte, nach dem Umlaufe des Blutes, nach dessen Vorrat in dem Absonderungswerkzeuge, und nach der widerstehenden oder nachgiebigen Beschaffenheit des Werkzeuges selbst. Fünftens: es hängt aber von dem Grade der Anstrengung, welche jede einzelne Vorstellung der Seele kostet, ihr schneller oder langsamer Fortgang zur folgenden Vorstellung, oder die Weile, ab. Sechstens: es muß folglich auch diese nach den erwähnten Umständen sich richten; je schneller der Blutlauf ist und je nachgiebiger die Absonderungswerkzeuge sind, desto | geschwinder muß die Seele von einer Vorstellung zur andern übergehen können; und eben so umgekehrt. Siebentens: diese Umstände sind aber, wie wir gesehen haben, unter den Menschen überhaupt, und bei jedem einzelnen unter manchen Bedingungen verschieden; daher muß zwar ein bestimmter Fortgang der Vorstellungen jedem Menschen eigen­tümlich, aber nach Verschiedenheit der Umstände auch der Abweichung von seinem gewöhnlichen Maße unterworfen sein. – Den eigentümlichen werde ich in der Folge immer den natürlichen, den abweichenden, den widernatürlichen nennen. Es versteht sich übrigens ohne mein Erinnern, daß diese Begriffe

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bloß als Beziehungsbegriffe anzusehen sind, da das, was bei dem einen Menschen ein natürlicher Fortgang ist, bei dem andern sehr leicht ein widernatürlicher sein kann. |

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Z W E I T E S H AU P TS T Ü C K . E R S T E R A B S C H N I T T.

Zustand der Seele bei dem natürlichen Fortgange der Ideen — Der zu langsame Ideengang erregt Langeweile — Langeweile eine mächtige Triebfeder zur Verzweiflung — Beispiele von Langeweile erregenden Gegenständen — Welche Menschen, welches Temperament, Alter, Geschlecht und Volk der Langeweile mehr oder weniger unterworfen ist? — Einfluß der Laune und der Gemütsbewegungen auf die Empfindung der Langenweile.

W

enn die Reihe von Vorstellungen im Menschen in dem ihm natürlichen Fortgange vorüberrückt, so befindet sich die Seele in einem freien und behaglichen Zustande: das Spiel ihrer Tätigkeit gehet still und ruhig vor sich, wie alle Geschäfte in der Ökonomie des Körpers, wenn er sich in seiner natürlichen | Verfassung befindet. Die Seele hat von diesem abwechselnden Anstrengen und Nachlassen ihrer Kraft so wenig besonderes Gefühl, wie von der Bewegung des Herzens, der Gedärme, oder auch von den zur Gewohnheit gewordenen willkürlichen Muskelbewegungen, wenn sie in einem gehörigen, der ganzen Einrichtung des Körpers angemessenen Grade vor sich gehen; sobald aber der Fortgang der Vorstellungen auf eine widernatürliche Weise geschieht, und die Seele bei jeder einzelnen entweder zu lange aufgehalten, oder zu schnell von ihr fortgerissen wird: so befindet sie sich, wie bei den widernatürlich trägen oder schnellen körperlichen Verrichtungen, in einem gewaltsamen unbehaglichen Zustande, und wird bald in eine unangenehme widrige, bald auf eine kurze Zeit in eine angenehme lebhafte, und bald in eine verworrene Empfindung gesetzt. Wenn die Reihe von Vorstellungen in einem Menschen langsamer fortrückt, als es sein natürlicher Fortgang erfordert, so fühlt seine Seele sich träge und eingeengt. Indem | von der

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­ inen Seite ihre Kraft durch den immer regen VervollkommE nungstrieb zu größerer Ausdehnung angespornt wird, und von der andern Seite wegen der zu sparsam sich darbietenden Menge von Vorstellungen es an Stoff fehlt, auf welchen die Kraft ihre Tätigkeit äußern kann: so entstehet in der Seele das Gefühl einer Leerheit, einer bangen Sehnsucht, das wir im Deutschen sehr nachdrücklich durch Langeweile bezeichnen; eine Empfindung, die, wie ich bei einer andern Gelegenheit zu zeigen mir vorbehalte, mit der Empfindung des Ekels in genauer Verwandtschaft stehet, und von solcher Macht ist, daß ihre Wirkung auf die Seele der Wirkung der unangenehmsten Empfindungen oft gleich kommt, und sie bisweilen übertrifft. Sie macht mißmutig, traurig, schläfrig, erregt manches physische Leiden, und ist, wenn sie lange anhält, im Stande, was selbst das größte, körperliche Übel nur selten vermag, in der Seele eine Verachtung und einen Abscheu gegen ihr eigenes Wesen zu erwecken, und sie zu dem Entschlusse zu verleiten, die Ver | nichtung ihrem Dasein vorzuziehen *). Daher gibt es auf den Listen der Selbstmörder so wenige, die aus bloßen körperlichen Schmerzen, und so viele, die lediglich aus Überdruß gegen das Leben, weil es *) Zimmermann gibt in seinem Buche von der Einsamkeit eine vortreffliche Beschreibung von der Langenweile: »Langeweile, sagt er, ist eine Pest, der man in Gesellschaft zu entgehen sucht, und die manchen Unglücklichen nirgends schwerer befällt, als in Gesellschaft. Sie ist ein Versinken der Seele in Leerheit, eine Vernichtung aller unserer Wirksamkeit und aller unserer Kräfte, eine allmächtige Schwerigkeit, Trägheit, Müdigkeit, Schläfrigkeit und Unlust; und, welches das schlimmste von allen ist, eine oft mit der größten Höflichkeit an uns | ausgeübte Meuchelmörderei unsers Verstandes und jeder angenehmen Empfindung. Alles Hervorstreben in irgend einem Menschen, das ganze Triebwerk seines Geistes und seines Herzens, wird durch Langeweile, die er hat, oder die man ihm macht, zerdrückt und gehemmt. Durch Langeweile verstummet und vergeht man in bunter Reihe an der prächtigsten Tafel; und indem man ohnmächtig seine Ohren nach allem hinstreckt und allem Preis gibt, was man hört, kommt man eben dadurch selbst um alle Gedanken.« 1. Teil, S. 34. [ Johann Georg Zimmermann, Über die Einsamkeit. Frankfurt und Leipzig 1783.]

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ihrer nach Tätigkeit strebenden Kraft zu wenig Gegenstände darbot, in Verzweiflung gerieten. Aller körperliche Schmerz schränkt, so lange er währt, die Kraft der Seele selbst in ihrer Tätigkeit nicht ein, sondern erhält sie vielmehr noch lebhafter und wirksamer, und gibt nur dem Vorstellungsvermögen eine andere gewaltsame Richtung. Wenn ich an einem Teile des Körpers gepeinigt werde, so bin ich freilich während der Zeit außer Stande, mich mit Gegenständen der Freund | schaft, des guten Geschmackes oder sonst wissenschaftlichen Inhalts zu beschäftigen, indem alle meine Vorstellungen nach dem einzigen Orte des Leidens, wie nach einem gemeinschaftlichen Brennpunkte, sich hindrängen; aber eben dieses Leiden erhält die Grundkraft der Seele in der größten Geschäftigkeit, um ihm zu widerstehen, bis sie ihm allmählich wirklich widerstehet, sein herbes Gefühl abstumpft, und die Seele wiederum die Freiheit erlangt, ihre Fähigkeiten auf andere Gegenstände zu lenken. Wenn hingegen die Seele sich alles dessen, worauf sie ihre Kraft anwenden kann, beraubt fühlt, ohne daß ihr Tätigkeitstrieb in gleichem Verhältnisse heruntergestimmt wird; so verliert | sie zugleich das Gefühl von dem innern Wert ihres ganzen Lebens, und gerät in den Zustand der Verzweifelung. Wenn übermäßig Reiche, deren ungebildeter Geist die große Kunst reichselig zu leben nicht versteht, und keine höhere und edlere Beschäftigung kennt, der Lüste bis zur Übersättigung genossen, und jeden ihrer Wünsche ohne merkliche Mühe in Erfüllung bringen können; so verschwindet endlich in ihnen der glückliche Trieb zum Wünschen selbst; ihre Seele sehnt sich dunkel nach Gegenständen, die ihrer Kraft hinreichenden Widerstand leisten können, und dieses vergebliche Sehnen erfüllt ihnen ihr schales Leben mit Überdruß und Langerweile, und bringt sie, wie die Geschichte lehrt, nicht selten zu jenem kühnen oder vielmehr feigen Entschlusse, sich dessen zu berauben. Alles also, was den Gang der Vorstellungen in der Seele unter ihrem natürlichen Maße verzögert, verursacht Langeweile. Ein einförmiger Spaziergang oder Reiseweg, auf welchem sich keine abwechselnde Mannichfaltigkeit dar | bietet; eine Gesell-

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schaft, in welcher Kleinigkeiten und nichtsbedeutende Dinge mit vielem Aufheben und Gepränge abgehandelt werden, erregen Langeweile: und zwar deswegen, weil die Kraft der Seele immerfort gereizt und zur Tätigkeit bei Gegenständen aufgefordert wird, die ihrem Werte nach viel zu langsam auf einander folgen. Ich kann mich auf meiner Stube vielleicht Monate lang hinter einander mit Behaglichkeit aufhalten, ob ich gleich immer dieselben Gegenstände um mich habe; denn ich kann die Reihe meiner Vorstellungen nach Gefallen lenken, wohin ich will: es ist hier nichts, was sie in ihrem Laufe zurück hält; bei einem Spaziergange hingegen, den ich um mich zu zerstreuen unternehme, ist es eben mein Vorsatz, auf die sich darbietenden Gegenstände aufmerksam zu sein: meine Kraft ist auf sie, gerichtet; und wenn sie dann von geringer Erheblichkeit sind, und dennoch sehr langsam auf einander folgen, so verursacht die zu große Lücke zwischen den Vorstellungen die Empfindung der Langenweile. Eben so gehet öfters durch je | des Menschen, auch des Weisesten, Kopf eine Reihe unwichtiger Kleinigkeiten und kindischer Torheiten; allein sie fährt mit Schnelligkeit vorüber, und wenn sie zu lange verzögert, so steht es in seiner Gewalt, sie abzubrechen, und seine Kraft auf eine andere wichtigere Reihe zu lenken. Dies findet aber in einer Gesellschaft nicht Statt, wo diese langweiligen Vorstellungen sich unwillkürlich durch die Sinne uns aufdringen, und wir gezwungen werden, das Über­ gewicht unserer Kraft über deren Gegenstand zu fühlen *). | *) Es läßt sich daraus auch sehr leicht erklären, warum öfters Menschen, die der lebhaftesten Tätigkeit gewohnt sind, wenn es ihnen an Gegenständen fehlt, die sie hinreichend beschäftigen, lieber ganz müßig gehen, als ihre Kräfte auf nichtsbedeutende, sie nicht genug interessierende Dinge, die aber dennoch nur langsam verrichtet werden können, anwenden. Der geringe Reiz, mit welchem diese auf sie wirken, macht das Spiel ihrer Vorstellungen rege, hemmt aber zugleich den schnellen Lauf ihres natürlichen Fortganges; und dies verursacht Ermüdung und Überdruß. Wer will nicht lieber auf seiner Stube hungern, als mit gereizter Eßlust an einem wohlbesetzten Tische sich befinden, wo ihm nur eine halbe Sättigung verstattet wird? – Mir ist daher das gar nicht auffallend, was Tacitus in den Sitten unserer Vorfahren so selt-

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Auf eine gleiche Weise ermüdet nichts so sehr, wie der langsame und schleppende Vortrag eines Lehrers oder Schriftstellers, der jeden kleinen Begriff durch einen Umschweif von Worten von sich gibt, und jeden geringfügigen sehr leicht faßlichen Satz durch einen Schwall von Beispielen zu erläutern sucht. Der Zuhörer oder Leser von Geist wird dabei unruhig und schläft ein, oder muß viele Anstrengung verwenden, um seine Aufmerksamkeit zu erhalten. – Nichts ist im gemeinen Leben lästiger und unerträglicher, als die Unterredung mit solchen langweiligen Personen, die in einem schleppen | den zähen Tone jedes nichtsbedeutende Geschichtchen so sehr in die Länge ziehen, und dabei jeden, auch den kleinsten Umstand mit der sorgfältigsten Ausführlichkeit vortragen. Sie verursachen dem Zuhörer oft einen ängstlichen Schweiß, und man sehnt sich ihrer los zu werden, wie ein Gefangener nach seiner Freiheit. Die Empfindung der Langenweile kann aber, wie aus dem Obigen sich leicht ergibt, bei verschiedenen Menschen nicht sam | 161 | und widersprechend findet: daß eben dieses Volk, das ganz dem Kriege lebte, ihn überall aufsuchte, und Hunger, Durst, Wunden und die beschwerlichsten Ungemächlichkeiten verachtete, so lange es einen Feind gegen sich hatte, dennoch außer dem Kriege seine Zeit lieber in Schwelgen und Müßiggang, als mit den langsamen, seinen Geist nicht genug unterhaltenden, häuslichen und ländlichen Beschäftigungen zubrachte. Hier sind seine Worte. »Will aber ihr Vaterland zu lange in Ruhe und Frieden erliegen, dann begeben sich die meisten edlen Jünglinge auswärts zu Kriegführenden Nationen; denn dies Volk liebt nicht Ruhe, und sucht Ruhm in Gefahr. – Man beredet sie leichter, Feinde herauszufordern, und sich Wunden zu holen, als zum Ackerbau und zur Land | wirtschaft. Es däucht ihnen so gar träge und nichtswürdig, dasjenige durch Schweiß zu erwerben, was mit Blut erkauft werden kann. Außer Kriegszeit jagen sie viel, gehen aber noch öfter müßig, und ergeben sich dem Schlafe und dem Schmause. In solcher Untätigkeit überläßt der tapferste Kriegesmann die Sorge für Haus und Hof den Weibesbildern, den Greisen oder andern schwächlichen Leuten seiner Familie; er bekümmert sich um nichts. Seltsamer Widerspruch der Natur, daß ein und eben dieselben Menschen die Trägheit so lieb haben, und doch die Ruhe hassen!« [Tacitus,] Von den Sitten der alten Deutschen, aus dem Lateinischen. Leipzig, 1779. S. 45–48.39

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unter einerlei Umständen Statt haben; denn da sie bloß in dem Fortgange der Vorstellungen besteht, der im Verhältnis gegen deren natür | lichen Gang zu langsam geschieht, so muß sie selbst nach der Verschiedenheit dieses natürlichen unter den Menschen verschieden sein. Derselbe Fortgang einer Reihe von Vorstellungen kann und muß dem einen ein natürlicher, dem andern ein widernatürlich langsamer, und dem dritten ein widernatürlich schneller sein, je nachdem er mit dem Eigentümlichen eines jeden übereinstimmt, oder von ihm abweicht. Sanguinische Personen, bei denen der Fortgang der Vorstellungen sehr geschwind ist, sind sehr leicht der Langenweile ausgesetzt. Alle ihre Vergnügungen und Zerstreuungen müssen rauschend und vorübergehend, und ihre Beschäftigungen schnell abwechselnd sein, wenn sie ihnen nicht bald Überdruß verursachen sollen. Daher ihr Leichtsinn, ihre Flüchtigkeit und Unbeständigkeit in Handlungen sowohl als in Empfindungen. Jede Vorstellung macht auf sie nur einen augenblicklichen Eindruck: sie werden mit dem Strome der Ideen immer weiter gerissen; und wenn sie sich wider Willen bei einer einzigen aufhalten müssen, so ist es ihnen unerträglich: | sie werden, ungeduldig, und vergehen vor Langeweile. – Bei phlegmatischen Personen ist der Fortgang der Vorstellungen ihrem Umlaufe der Säfte entsprechend: langsam und träge. Die Eindrücke auf sie sind nicht lebhaft, aber tief und von langer Dauer. Sie können sich lange bei jeder einzelnen Vorstellung verweilen, weil sie von keinem raschen Triebe noch abwechselnder Tätigkeit beunruhigt werden. Jede Kleinigkeit ist hinreichend, sie zu beschäftigen. Ihr Anblick und gesellschaftlicher Umgang erregen Langeweile, eben darum weil sie selbst diese selten haben. Dieselbe Verschiedenheit findet sich bei dem verschiedenen Alter. Die Jugend, bei der, wie ich schon oben erwähnte, die Vorstellungen schnell hinter einander folgen, ist sehr zur Langenweile geneigt. Sie wird leicht ungeduldig, wenn sie von einem Gegenstande einige Zeit aufgehalten wird; daher ihre Abneigung gegen Beschäftigungen, welche angestrengtes Nach­denken und dauernden Fleiß erfordern. Am liebsten gibt sie sich | mit

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muntern und leichten Dingen ab, die ihre Aufmerksamkeit nicht lange fesseln, und von denen sie die größte Menge in der kürzesten Zeit umfassen kann; und wenn sie bei einem einzigen länger als gewöhnlich mit Lust aushalten soll, so muß es etwas sein, das stark auf sie wirkt und ihr äußerst interessant ist: Daher ihr Wohlgefallen an großen, wunderbaren, neuen, rührenden und schrecklichen Szenen, und der Vorzug, den sie gemeiniglich den erschütternden Trauerspielen vor ruhigen mit dem richtigsten Geschmacke bearbeiteten Lustspielen gibt. Es muß bei ihr Alles heftig sein, wenn es dem fortreißenden Strome ihrer Ideen Einhalt tun soll. Im reifern Alter ist die natürliche Weile groß, die Vorstellungen folgen in ihm aus dem oben erwähnten Gründen langsam aufeinander, und die Greise wissen selten mehr ­etwas von Langerweile. Sie können von den geringfügigsten Begebenheiten mit der größten Weitläufigkeit schwatzen hören und selbst schwatzen; denn da sie von ihrem innern Vorstellungstriebe nicht übereilt werden, so ist ihnen | jeder Gegenstand interessant genug, sich dabei aufzuhalten, und sie lieben in allen Geschäften und Wissenschaften mehr das Ruhige, Gesetzte, Geschmacksrichtige, als das Flüchtige und Stürmische: mehr den langsamen, gesunden Verstand, als den schnellen Witz. Nicht minder merkt man diese Verschiedenheit unter den beiden Geschlechtern. Das weibliche ist offenbar der Langenweile weit weniger unterworfen, als das männliche. Die Ursache davon mag zum Teil in dem Körperbau liegen, indem vielleicht bei jenem weniger Blut nach dem Gehirne geht, der Nervensaft in geringerer Menge und träger abgesondert wird, und daher auch der natürliche Gang der Vorstellungen langsamer ist, als bei diesem; großenteils kann dies aber auch bloß auf der Erziehungsart beruhen, die gewöhnlich darauf angelegt ist, daß gewisse Vorstellungen mit mehr Interesse auf das weibliche Geschlecht wirken müssen, als auf das männliche. Dieselbe Reihe von Vorstellungen, die bei diesem wegen ihrer Geringfügigkeit schnell in der Seele vorüberfährt, muß | bei jenem allmählich fortrücken, weil jedes einzelne Glied derselben ihm wichtiger ist,

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und seine Aufmerksamkeit stärker an sich zieht. Daher kommt es, daß in Zusammenkünften von Frauenzimmern so selten Langeweile empfunden wird. Es gebricht ihnen nie an Unterhaltungen; jede Kleinigkeit bietet ihnen hinreichenden Stoff dar, sich stundenlang mit dem wärmsten Eifer darüber zu unterreden. Die männlichen Gesellschaften plagt dies Übel nur zu häufig, und man muß in Vergleich mit jenen zuweilen erstaunen, wenn man eine Menge vernünftiger Männer beisammen sieht, unter denen, weil sie gegenseitig durch unwichtige Unterhaltungen einander Langeweile zu verursachen fürchten, so oft eine ­anhaltende und allgemeine Stille entsteht. Überhaupt ist es wahr, daß, die physische Verschiedenheit bei Seite gesetzt, der Mensch, je gesitteter und gebildeter er ist, und je mehr er seine Geisteskräfte geübt hat, desto mehr der Langenweile ausgesetzt ist; denn da vermöge seines durch Übung erweiterten Ausdehnungstriebes gewisse Vor | stellungen ihm gewöhnlich und geläufig werden, und andere wegen ihrer Unwichtigkeit seine Kraft nicht hinreichend beschäftigen: so muß der Gang der Vorstellungen bei ihm sehr schnell geschehen, und jede Folge von Ideen, die diesem Gange nicht entspricht, Langeweile erregen. Bei rohen unkultivierten Menschen hingegen ist der Trieb zur Ausdehnung ihrer Kraft aus Mangel an Übung sehr eingeschränkt, und jeder fremde ungewohnte Gegenstand ist ihnen interessant und wichtig genug, ihre Aufmerksamkeit lange auf sich zu halten. Daher ist der natürliche Fortgang der Ideen bei ihnen träge, und sie können von keiner Reihe langsam auf einander folgender Vorstellungen so leicht in die Empfindung der Langenweile versetzt werden *). | Kein Wilder kennt *) »Verständige Köpfe«, sagt Zimmermann, »haben in großer Gesellschaft Langeweile aus Ekel vor allem, was leere Köpfe ausgießen; überhaupt aus Ekel vor allem, was lang und leer und auf keine Weise wissenswert ist, nicht interessiert, nichts zu denken gibt, nicht rührt, nicht gefällt. Leere Köpfe laben sich an Leerheit; verständigen Köpfen vergeht Sehen und Hören, Geist und Leben bei unaufhaltsamen männlichem und weiblichem Schnickschnack. Ein guter und heiterer Kopf ist gesellig, | weil er sehr leicht Herr wird über jeden Schwätzer; ein guter und trübseliger Kopf ist ungesellig, weil er wohl

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diese Empfindung. Wenn er von der Jagd zurückkehrt, seinen Hunger gestillt hat und sonst von keinem körperlichen Bedürfnisse abgerufen wird, so sitzt er, die Hände im Schoße, Tagelang am Ufer seines Flusses, die Augen stier auf die fortströmenden Wellen geheftet, ohne in seinem Gemüte die mindeste Ungeduld oder Unruhe zu fühlen. Aber außer den erwähnten natürlichen Verschiedenheiten unter den Menschen, die von der Beschaffenheit des Körpers oder von der Kultur des Geistes ihren Ursprung haben, können auch vorübergehende widernatürliche Umstände bei jedem einzelnen Menschen seinen eigentümlichen Fortgang der Vorstel | lungen verändern, beschleunigen oder verzögern, und folglich ihn zu gewissen Zeiten der Empfindung der Langenweile mehr oder weniger fähig machen. Nichts ist gewöhnlicher, als daß man zu manchen Zeiten die plagendste Langeweile bei solchen Beschäftigungen oder Vorstellungen fühlt, mit denen man sich zu einer andern Zeit die Weile auf die behaglichste und angenehmste Weise verkürzt. Der arbeitsamste und geistreichste Mann, wenn er den Tag auf körperliche oder Geistes­anstrengung verwendet, bringt den Abend mit Spielen, Romanenlesen und nichtsbedeutenden Tändeleien auf die vergnügteste Art hin. Des Morgens früh würde er bei diesen Beschäftigungen vielleicht keine Minute aushalten können. Bei übler Laune und verdrüßlicher Gemüts­beschaffenheit stirbt man oft vor Langerweile in einer Gesellschaft, in der man sich bei munterm und fröhlichem Gemüte herrlich ergötzt. So gar die heitere oder trübe Witterung bringt durch ihre Wirkung auf empfindliche Körper eine gleiche merkliche Verschiedenheit her | vor; und noch größer ist von dieser Seite der Einfluß der Neigungen und Leidenschafweiß, daß er vor jedem unklugen Schwätzer die Segel streichen muß. Kleine Geister haben in so fern nie Langeweile, weil sie allenthalben Menschen ihres gleichen finden: Geister, die an Wenigem kleben, mit erbärmlicher dünner Kost sich behelfen, und also auf der Stelle mit ihnen einhaken«. Über die Einsamkeit, I. Teil S. 37. [ Johann Georg Zimmermann, Über die Einsamkeit. Frankfurt und Leipzig 1783.]

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ten. Bei einer Person, die wir lieben und schätzen, verschwindet uns die Zeit; die gleichgültigsten Dinge die sie vorbringt, sind uns interessant genug, um unsern natürlichen Ideengang ihrer Folge anzupassen; an einer verhaßten und verächtlichen Person hingegen mißfällt uns alles: ihre witzigsten Einfälle, ihre interessantesten Erzählungen lassen uns kalt, ohne Teilnahme, und erregen uns Langeweile. – Die Ursache aller dieser Erscheinungen ist, wie man leicht einsieht, die, daß entweder unter gewissen körperlichen Umständen, wegen vermehrten oder verminderten Zuflusses nach dem Gehirne, der Gang der Ideen wirklich widernatürlich befördert oder verzögert wird, und folglich die Weile zwischen den Vorstellungen uns größer oder kleiner erscheint; oder daß der Fortgang unserer Ideen zwar derselbe bleibt, aber der Wert der Vorstellungen selbst für uns veränderlich ist, und bei gewissen Gemütsverfassungen ein Gegenstand uns interessanter | und wichtiger, oder uninteressanter und unwichtiger als gewöhnlich vorkommt, so daß die Seele bald eine längere bald eine kürzere Zeit ohne Überdruß ihre Aufmerksamkeit auf ihn heften kann, und also eine längere oder kürzere Weile empfinden muß. |

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Z W E I T E R A B S C H N I T T.

Der widernatürlich schnelle Fortgang der Ideen erregt Schwindel — Eigentümlicher Charakter des Schwindels — Erklärung und allgemeine Sätze über die Natur des Schwindels.

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ir haben bis jetzt den Zustand betrachtet, in welchem die Seele sich befindet, wenn die Vorstellungen, die sich ihr darbieten, langsamer auf einander folgen, als der natürliche Ideen­gang in ihr es erfordert. Nun müssen wir den entgegengesetzten Fall in Erwägung ziehen, wenn die Folge der Vorstellungen im Verhältnis mit dem natürlichen Ideengange zu schnell geschieht. Offenbar muß die Seele alsdann zu einer widernatürlich kleinen Weile gezwungen, und eben deswegen in einen entgegengesetzten gewaltsamen Zustand gesetzt werden. Es wird nämlich ihre Kraft durch die Übereilung der Vorstellungen zu sehr | angestrengt, und von jeder einzelnen, ehe sie noch ihre Tätigkeit auf dieselbe vollendet hat, fort und zu der folgenden hin gerissen. Daraus entstehet in der Seele, so lange diese Abweichung von der natürlichen Weile nur gering ist, ein merklicher Grad von Lebhaftigkeit: sie fühlt sich munter und tätig, wie bei dem Anfang einer Berauschung; steigt die Abweichung aber bis zu einem ansehnlichen Grade, oder hält überhaupt die ganze Reihe von Vorstellungen eine ungewöhnlich lange Zeit an: so ermüdet die Kraft; jede einzelne Vorstellung verliert ihre Klarheit und Lebhaftigkeit, und wegen ihrer zu geschwinden Folge fallen sie alle in einander: die Seele unterscheidet sie nicht mehr deutlich, sondern stellt sie sich als ein verworrenes Ganze vor, in dem weder Ordnung noch faßliche Abstechung der Teile sich findet; und endlich gerät sie selbst in den Zustand der Verwirrung: einen Zustand, der eigentlich den Schwindel ausmacht. Die Empfindung des Schwindels wird wohl Wenigen nicht aus eigener Erfahrung be | kannt sein, und eine geringe Aufmerksamkeit auf diesen Zustand bestätigt augenscheinlich das

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erwähnte Gefühl von Verwirrung. Man merkt offenbar einen unaufhaltbaren Strom von Vorstellungen auf sich zudrängen, die von den Gegenständen außer der Seele oder von ihrer eigenen Einbildungskraft hervorgebracht werden, und schnell der Reihe nach fortlaufen oder gleichsam wie in einem Strudel sich bewegen. Alle Mühe die man sich gibt, von diesen Vorstellungen eine heraus zu heben, oder eine völlig fremde herbei zu rufen, um seine Aufmerksamkeit besonders auf sie zu heften, ist vergebens; jede einzelne, die unter der Menge empor zu streben anfängt, wird augenblicklich von den übrigen verdrängt, bis sie endlich alle sich in einander verwirren und die Seele selbst in einen taumelhaften Zustand ihres Bewußtseins hinreißen. Dies Letztere ist ein dem Schwindel ganz eigener Charakter, indem bei jeder andern Art von Verwirrung der Begriffe, die aus Unordnung entstehet, die Seele das Vermögen behält, ihre Aufmerksamkeit von die | sen völlig ab, und mit dem deutlichsten Bewußtsein auf andere Gegenstände hin zu lenken; bei derjenigen hingegen, welche aus der zu schnellen Folge der Vorstellungen entspringt, wird die ganze Seele in einen gleichen verwirrten Zustand gesetzt, so daß sie keine ihrer Tätigkeiten, selbst diejenige nicht welche zur Aufrechthaltung ihres Körpers erfordert wird, gehörig auszuüben im Stande ist. Wir können also, um eine genaue Erklärung vom Schwindel zu geben, sagen; er ist derjenige Zustand der Verwirrung, in welchem die Seele sich wegen der zu schnellen Folge ihrer Vorstellungen befindet. Nunmehr können wir aus der obigen Theorie von dem Gange der Vorstellungen, im Gegensatze der Langenweile, einige allgemeine Sätze über die Natur des Schwindels herleiten, die zur Erklärung verschiedener Erscheinungen und Zufälle bei demselben in der Folge sehr fruchtbar sein werden. 1) Je größer die natürliche Weile bei einem Menschen ist: desto größer ist dessen Geneigtheit zum Schwindel; und | so umgekehrt: je kleiner jene, desto geringer diese; denn die schnelle Folge der Vorstellungen ist bloß etwas Relatives, das sich auf die natürliche Folge derselben bei jedem einzelnen Menschen bezieht.

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Zweiter Abschnitt

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2) Je empfindlicher das Nervensystem ist, je leichter die Nerven von geringfügigen Gegenständen verändert und in Tätigkeit gesetzt werden: desto leichter ist die Entstehung des Schwindels, da die Gelegenheit zu dessen Erzeugung sich um so häufiger darbietet; und so umgekehrt. 3) Unter die Vorstellungen der äußern Sinne, welche den Schwindel erregen, gehören bloß die der höhern Sinne: des Gesichts und Gehörs. Die Vorstellungen der niedrigen Sinne, obgleich ihre Eindrücke, wie in der Folge erhellen wird, mittelbar eine sehr wirksame Ursache des Schwindels werden können, sind dennoch an sich zu wenig unter einander abstechend, und bilden. daher, | wenn sie mit einiger Geschwindigkeit aus einander folgen, nicht mehr eine Menge verworrener Vorstellungen, sondern gehen in eine einzige vermischte über – Und unter den beiden höheren Sinnen selbst ist das Gesicht am vorzüglichsten geschickt, durch seine Vorstellungen den Schwindel hervorzubringen, indem die natürliche Weile zwischen ihnen größer ist, als zwischen den Vorstellungen des Gehörs. 4) Der Schwindel hat eine schnelle Absonderung des Nervensaftes, und einen verstärkteren Zufluß des Blutes nach dem Gehirne zur Folge, so wie er selbst von der zu schnellen Absonderung des Nervensaftes und des vermehrten Hinflusses nach dem Gehirne hervorgebracht wird. Beides ist eine notwendige Folge der Verknüpfung zwischen der Tätigkeit der Seele und der Funktion des Gehirns. 5) Wenn das Gehirn und die Nerven sich in dem Zustande der Abspannung oder Erschlaffung befinden, und dem Ein- | drange des Nervensaftes nicht gehörigen Widerstand lei­sten können, so muß dessen Absonderung schneller geschehen, und einen Schwindel verursachen, welches sowohl von der Erfahrung vollkommen bestätigt wird, als durch meine oben berührte Theorie von der Empfindung und der Bewegung sich erklären läßt. |

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D R I T T E R A B S C H N I T T.

Symptomen des Schwindels — Boerhaave’s Meinung von der Natur des Schwindels — Meinung des Willis — Zakutus — Platters — Ettmüllers — Allgemeine Falschheit in allen diesen Erklärungsarten.

D

ie Zufälle, durch welche die Gegenwart des Schwindels sich äußert, sind folgende: Erstens, die Erscheinung der ruhenden Gegenstände, als wären sie in der geschwindesten Bewegung; und zwar scheinen sie sich entweder im Kreise zu bewegen, oder von der Höhe herunter zu fallen, oder (welches Boerhaave40 für schlimmer hält) aus der Tiefe in die Höhe zu steigen *). | Zweitens, die Veränderung der Farbe an den Gegenständen, welche bald grün, bald bläulich, bald Regenbogenähnlich erscheinen, verbunden mit dem Schweben grüner flammichter Streifen vor den Augen. Bei der Pest ist eins der ersten Symptomen eine Art von Schwindel, in welchem den Kranken die schönsten Farben vor den Augen flimmern und die Wand mit Streifen bedeckt erscheint. Drittens, das Unvermögen der Muskeln. den Körper sicher zu tragen, welches schon einen höhern Grad des Schwindels anzeigt. Die Kranken fangen an zu zweifeln, ob sie sich aufrecht halten können; sie zittern, wanken und befürchten in tiefe Abgründe zu stürzen. Viertens, das Doppeltsehen einzelner Gegenstände, worauf die Kranken gewöhnlich zu fallen anfangen.

*) Von dieser Erscheinung hat die Krankheit ihren Griechischen Namen δεινος oder δινας. Δινος hieß bei den Griechen ein gewisser Tanz im Kreise. Die Lateinische Benennung vertigo, kommt wahrscheinlich von vertere, umkehren, her. Die Deutsche ist die nachdrücklichste, und scheint von Schwinden hergenommen zu sein, indem die Gegenstände so schnell vorüberfahren, gleichsam als wenn sie verschwänden.

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Dritter Abschnitt

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Fünftens, bei Zunahme der Krankheit, Ekel und Erbrechen; ein Sausen, Gesumse, ein unangenehmes Zischen und Geräusch vor den Ohren, als, wenn man | einen mit Macht herunter­ stürzenden Strom hörte. Sechstens, die Verdunkelung des Gesichts. Siebentens, das wirkliche Fallen: ein Zustand, der mit Beraubung aller äußern und oft auch aller innern Sinne, mit Unbeweglichkeit, mit Verlust der meisten Seelengeschäfte, des Bewußtseins und des Erinnerungsvermögens, und bisweilen sogar mit dem Aufhören der Pulsschläge verbunden ist. Die Kranken geben kein Zeichen der Empfindung von sich, und sagen beim Erwachen, daß sie in dem Augenblicke des Niedersinkens alles, was um sie her vorging, verworren gehört haben. Achtens, endigt sich der Schwindel, besonders im letzten Falle, in eine Ohnmacht, während welcher Empfindung, Bewegung und die natürliche Wärme den Kranken verlassen und er einem Toden ähnlich ohne merkliches Atemholen liegt. Auf diesen Zustand erfolgt dann entweder der Tod, oder er gehet, wie es öfters geschieht, in einen Schlagfluß, in eine partielle Lähmung, oder | in die fallende Sucht über. Zuweilen aber ist der Anfall mit einem gewaltsamen unwillkürlichen wechselseitigen Zusammenschlagen der Muskeln verbunden, oder die Kranken liegen in einem tiefen Schlafe, schnarchen, schäumen, schwitzen, und stehen endlich völlig gesund wieder auf. Die Erklärung aller dieser Erscheinungen hat den Ärzten nicht wenig zu schaffen gemacht. So viel ist gewiß, und dies sahen auch fast alle ein, daß der nächste Sitz des ganzen Übels im Gehirne oder vielmehr im Nervenursprunge, dem gemeinschaftlichen Empfindungsorgan (Sensorium commune) ist. »Diese Krankheit, sagt Boerhaave, ist niemals ohne Verletzung des Gesichts, denn die ruhigen Gegenstände erscheinen in Bewegung und mit falschen Farben. Das Auge selbst wird angegriffen, indem dessen Achse oder die Netzhaut eine Veränderung leidet; dies zeigt die Verdunkelung, das Doppeltsehen eines einzigen Gegenstandes, oder das einfache Sehen zweier Gegenstände. Das Gehör leidet; dies zeigt die Vorstellung vom | Geräusche,

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Zweites Hauptstück

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Zischen und von andern falschen Schallarten. Alle Muskeln wanken; es entstehet ein Zittern, eine Schwäche, Furcht zu fallen, und das wirkliche Fallen: Ein Beweis, daß das allgemeine Sensorium in dem eigentlichen Wirkungsorte der Seele angegriffen ist« *). Willis41 nimmt den Schwindel für eine widernatürliche Veränderung der Lebensgeister. »Diese, sagt er, werden im Gehirnmarke, wo sie ihre Quelle haben, haufenweise oder nur in geringer Menge angegriffen; werden entweder durch eine fremdartige Beimischung elastisch und arten in unordentliche stürmische Bewegungen aus, wie in der fallenden Sucht, | oder werden unterdrückt und aller Bewegung beraubt, wie im Schlagflusse. Wenn sie aber zu gleicher Zeit auf verschiedene Art leiden; so daß ihre Bewegungen zum Teil widernatürlich verändert, zum Teil unterdrückt zu sein scheinen; so entstehet der Schwindel. Der Schwindel ist ihm der Zufall, in welchem die sichtbaren Gegenstände sich herum zu drehen scheinen, und die Personen, welche ihm unterworfen *) Quaero nunc porro, quaenam sit sedes hujus mali? id est, quaenam pars in corpore affecta sit, quando ille morbus adest, et quae iterum liberetur, quando recedit? Respondeo, sedem illam esse in sensorio communi; non dico causam integram, sed ultimam affectionem, quando vertigo infestat, esse in hoc loco. Probo hoc sequenti modo: nunquam fit ille morbus sine affectione visus, cujus organum perturbatur; afficitur enim in motu, quippe omnia obiecta videntur semper rotari; hinc organa visus eadem ratione se habent, ac si obiecta moverentur ante oculum: afficitur in colore, nam colores apparent coeruleovirides, et distinguuntur tamen objecta, nec totum obiectum confuse circumvertitur, sed distincte | cernitur; afficitur ipse oculus, sive fiat mutatio axis visus, vel oculi, vel retinae, nam apparet visus geminatus, suntque vel duo foci, vel duo obiecta in uno foco; ultimo terminatur in tenebras, quae est mera visus affectio. Afficitur etiam auditus, nam conquerentur de tinnitu, sibilo, bombo; de murmure aquae quasi ex alto labentis in corpus elasticum, et de fremitu maris ad aures quasi appellentis. Hoc ipsum docet vacillatio, tremor, resolutio, lapsus; afficitur ergo etiam illa pars, quae affectionibus animi inservit; et quia omnes musculi vacillant, hinc afficitur sensorium commune in parte impetum faciente. PRAELECT. ACAD. DE MORB. NERVOR . P. 480. [Herman Boerhaave, Praelectiones acad. de morbis nervorum. Frankfurt und Leipzig 1761.]

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Dritter Abschnitt

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sind, eine Verwirrung der Lebensgeister im Gehirn verspüren, gleichsam als wenn diese in die Nerven nicht gehörig einflößen; daher das Sehungs- und Bewegungs | vermögen bisweilen wankt, so daß die Kranken umfallen, und nicht selten mit Finsternis umgeben werden. In diesem Anfalle wird die Einbildung und der Sensus communis betrogen, indem man von den ruhigen Gegenständen glaubt, daß sie sich bewegen; das Urteilsvermögen hingegen bleibt unhintergangen, denn wir erkennen dabei unsern Irrtum, und wissen ihn zu gleicher Zeit der Unordnung der Lebensgeister zuzuschreiben. Wir wissen gleich, daß die im Gehirne befindlichen Geister von ihrem gewöhnlichen Ausströmen abweichen, und ihr Bewegungs- und Empfindungsgeschäft nicht gehörig verrichten« *). |

*) Super hoc imprimis advertatur, spirituum haec loca incolentium quandoque turmas, seu potius acies ingentes, quandoque item manipulos exiguos affici: deinde eosdem, sive plurimi simul, sive pauci tantum afficiantur, vela copula heterogeneae elasticos fieri, proindeque in motus inordinatos, seu velut explosivos, uti in paraxysmo epileptico, adigi; vel eclipsin passos, prout in Apoplexia, motu omni privari. De priori spirituum diathesi spasmodica satis fuse olim differuimus, atque de morbo Attonito inferius tractabimus. In praesenti autem de pathemate quodam, ad partes has spectante, scil. vertigine, in qua spirituum manipuli quidam afficiuntur, | eorumque motus partim perverti, partim supprimi videntur, dicemus. – De nominibus, quibus vertigo insigniri solet, parum soliciti, naturam, seu rationem ejus formalem, ad hunc modum describimus: scil. Vertigo est affectio, in qua obiecta visibilia circumrotari videntur sentiuntque affecti perturbationem, seu confusionem spirituum animalium in cerebro, ut nervos non rite unfluant: quaere facultates visivae et locomotivae saepe aliquatenus vacillant, ut laborantes corruant, et non raro a tenebris obfuscentur. In hujus paroxysmo observandum est, quod imaginatio, et sensus communis quodammodo decipiuntur, dum objecta quiescentia moveri credunt, indicium vero rationale constat, nam errorem nostrum intelligimus, atque fallaciam istam spirituum animalium inordinationi statim adscribimus: quippe spiritus intra cerebrum scatentes, a solita irradiatione desciscere atque motus et sensationis munia, durante paroxysmo, non rite perficere, plane advertimus. OPER. TOM. II. p. 184. [Thomas Willis, Opera Omnia: Cum Elenchis Rerum Et Indicibus necessariis. Lyon 1681.]

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Zweites Hauptstück

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Zakutus42 *) unterscheidet den Schwindel schlechtweg, von dem Schwindel mit Gesichtsverdunkelung. »Bei jenem scheinen bloß der Kopf und die äußern Gegenstände sich zu bewegen, ohne daß das Gesicht dabei leidet; bei diesem ist zugleich eine Verdun | kelung des Gesichts, und der Mensch ist unvermö*) Vertigo etiam clausis oculis ingruit, et symptoma quoddam est depravatae imaginationis, judicantis moveri quiescentia, sed laesa, corruptave imaginatio visionem non interturbat, ut patet in phreniticis et maniacis; neque in illa sita est causa erroris in videndo. Insufficienter igitur in vertiginis definitione jungitur tenebrositas hebetudoque visus. Denique cur fiet error, et titu|batio in visu, si oculus constat, medium et visibile? – Dic: Aliquid supra vertiginem addit scotomia, visus nempe obscuritatem, et tenebras, ideoque non solum imaginationis, sed et visus simul dicitur symptoma; vertigo imaginationis solius: fiunt autem prout mali causa in capite aut solum residet, vel in oculos simul inclinat. Atqui in vertigine caput et adstantia circumagi duntaxat videntur; in scotomia simul cum capitis circumversione tenebricosa fit visio. – Nec vero cum quibusdam putes, in scotomia, erroris in videndo seu depravatae visionis causam in phantasia locari; cum enim non in ea, sed in oculo efficiatur visio, ibidem vitium situm esse credendum, et in praecipua illius parte, crystalloide nimirum, vel quia animali spiritu illustratus non est, vel quia flatuosus vapor inordinata molitione praeditus ante eum observatur, ac proinde destruitur non nunquam repente visio, aliquando errat, et titubat. – Junge, quod spiritus humores turbulento et inaequali motu in his affectibus moventur, vel in cavitatibus, aut venis, aut arteriis cerebri. Quare hic motus in causa est, | ut rerum visibilium species in spiritu receptae repraesententur facultati imaginatrici, velut si emanarent a rebus quae moventur: nam omne quod recipitur, per modum recipientis recipitur, et necesse est (ut inquit AVIC.) ad hoc, ut de re visibili judicium feratur, res visas moveri, aut oculum, aut spiritum animalem; nam cum sentiens movetur, mutantur opposita, sicuti cum moventur sensata, sentiens mutatur. – Cum judicium fiat de rebus, non solum prout ipsae sunt, sed secundum modum quo recipiuntur, ut visibile judicetur motum, perinde erit ipsum, atque videns moveri, quod et ex Aristotele constat, III. de Anima passim, et manifesto experimento. Si enim quidpiam uno tantum oculo spectemus, et eo repente clauso, altero inspiciamus, falire dicitur illud, et situm mutare, propterea quod mutatus est oculus videns. Sic et navigantium oculis quiescens littus creditur discedere, quia recedit visus. Quoniam vero in vertigine spiritus visorius, qui non medium in visione, sed agens est et instrumentum, circumvolvitur, nihil mirum si visa itidem in orbem ferri existimentur. OPER. TOM. II. p. 243, &c. [Abraham Zakutus Lusitanus, Opera Omnia. Den Haag 1643.]

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Dritter Abschnitt

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gend sich aufrecht zu erhalten. Jenes ist ein Fehler der Einbildung, und entstehet auch bei verschlossenen Augen; dieses, ein Fehler des Gesichtssinnes, und zwar, wie er glaubt, ein Fehler seines vorzüglichsten Teils, der Linse, wenn diese nämlich von den Lebensgeistern nicht genug erleuchtet ist, oder wenn vor ihr ein Dunst beobachtet wird. – In diesem Zufalle werden die Säfte und die | Geister auf eine unordentliche verworrene Weise in den Höhlungen, Blut- und Pulsadern des Gehirns bewegt; daher die in demselben von den sichtbaren Gegenständen aufgenommenen Eindrücke (species) der Einbildungskraft so vorgestellt werden, als wenn sie von wirklich sich bewegenden Dingen herkämen; denn alles was aufgenommen wird, richtet sich nach der Beschaffenheit dessen, worin es aufgenommen wird. – Da schwind | lichte Personen ohne äußere wirkende Ursache bloß durch den Anblick eines sich drehenden Menschen oder Rades gleich vom Schwindel befallen werden, so scheint es offenbar, daß die Ursache dieses Zufalles nichts anders ist, als eine ungleiche und unordentliche Bewegung so wohl der Säfte überhaupt, als der Geister im Gehirne. – »Wenn die Lebensgeister« fährt er fort »bloß als ein Medium zur Aufnahme der Erscheinungen und Bilder anzusehen wären, so ließe sich die Erscheinung des Schwindels aus denselben nicht gut erklären; denn bei andern Mediis verhält es sich nicht so: wenn z. B. die Luft sich stark bewegt, so erscheinen deswegen die ruhigen Gegenstände dennoch nicht in Bewegung; die Geister sind aber nicht bloß Media, sondern die eigentlichen tätigen Instrumente des Sehens: und daher ist es kein Wunder, daß man ihre Veränderungen zu den Gegenständen hinüberträgt; denn es ist im Grunde einerlei, ob das Sichtbare oder das Sehende sich bewegt. Woher sonst scheint den zu Schiffe Fahrenden das Ufer sich | zu entfernen? woher das Springen eines Gegenstandes, den man mit einem, und gleich darauf mit dem andern Auge ansieht?« – Auch Platter43 setzt die Ursache des Schwindels in eine kreisförmige Bewegung der Lebensgeister, in welche sie entweder durch dieselbe Bewegung des ganzen Körpers, oder durch die äußern sich drehenden Gegenstände, oder durch innere Ursa-

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Zweites Hauptstück

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chen, vorzüglich durch Dünste, welche von irgend einem Teile des Körpers aufsteigen und die Geister in unordentliche Bewegung bringen, gesetzt werden *). Ettmüller44  **) leugnet, daß die Ursache des Schwindels in einem Herumdrehen der Le | bensgeister im Gehirne bestehe; und behauptet, daß sie sich im Auge selbst befindet. »Wir sehen nicht mit dem Gehirne, sagt er, sondern mit dem Auge: der Fehler muß also in diesem Organ liegen: eben so wie die Wahrnehmung von Wölkchen, Fliegen, Fäden u. s. w. welche in der Luft zu sein scheinen und gleichwohl nirgends als im Auge selbst, nämlich in seiner wäßrichten Feuchtigkeit, ihren Sitz haben«. Er stellt sich vor, daß in der gläsernen Feuchtigkeit nahe am Netzhäutchen eine Kreisbewegung geschehe, und alsdann müssen die Gegenstände selbst sich zu drehen scheinen, so wie sie es schei | nen, wenn ein Spiegel gedrehet wird. Eben diese unordentliche Bewegung der Lebensgeister findet, seiner Meinung nach, nicht nur im Auge Statt, sondern erstreckt sich zu *) Praxeos medic. tom. I. p. 175 etc. [Felix Platter, Praxeos medicae opus. 3 Bände. Basel 1602–1608.] **) Causam vertiginis vulgo rotationem spirituum animalium in cerebro existimant, quod autem falsum est; in oculis etenim sit ista rotatio, s. motus iste inordinatus, qui vertiginem infert. Nam visui res gyrari apparent. In organo ergo visionis necessario erit vitium, cum in cerebro non videamus. Nemo sane concipere potest, quomodo spiritus in cerebro gyratus vel rotatus apparere faciat res rotari extra oculum. Vertigo scil. fit in organo vivendi, non in vidente ipso, uti neque in objecto viso, sed tantum in medio. Organum vero hoc est oculus. Porro quando oculis videntur observari nubeculae et floc|culi, muscae etc. hae ipsae res videntur esse in aëre, cum tamen revera sint in oculo, in specie in ejusdem humore aqueo. Unde dum res extra gyrari videntur, hoc sit in oculo, non extra oculum, vel in cerebro vel objecto externo. – Totum hoc negotium apposito simili illustrat P. I. FABER in sua PATHOLOGIA desumpto a speculo, quod speculum dum commovetur, universa objecta simul moveri videntur, et si in gyrum rotatur speculum, etiam ipsa objecta circumvoluta apparent. Simili ratione, si et in oculo, in specie post humorem aqueum in humore vitreo prope retinam fiat talis gyratio, quid mirum si etiam vertiginiis affectio in corpore apparere videatur, etc. OPER. OMN. p. 428. [Michael Ettmüller, Opera Omnia. Hrsg. v. Georg Franck von Franckenau. Frankfurt a. M. 1688.]

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Dritter Abschnitt

109

weilen auch auf das Gehör: daher das Brausen und das Klingen der Ohren, die mit dem Schwindel oft verbunden sind; und wenn dieser in einem hohen Grade Statt findet, erstreckt sich jene unordentliche Bewegung bis auf alle Muskeln, und erregt Zuckun­gen. »Doch, setzt er hinzu, nicht daß das Herumdrehen der Geister selbst in den Augen den Schwindel und in den Ohren das Brausen hervorbringt; sondern die Geister affizier bloß diese Organen auf eine solche Weise, als wie sie von den äußern Gegenständen affiziert werden möchten, wenn sie sich wirklich so verhielten.« Die weitere Untersuchung dieser Materie überläßt er den Theoretikern. Und so könnte ich, wenn ich nicht unnütze Weitläuftigkeit vermeiden wollte, noch eine Menge Schriftsteller aus diesem und den vorigen Jahrhunderten anführen, deren Meinungen insgesamt darauf hinauslaufen, daß | die Ursache des Schwindels in gewissen unordentlichen Bewegungen der Lebensgeister im Gehirne bestehe. Und bei dieser unbestimmten allgemeinen Ursache blieben sie bei Erklärung der meisten physischen Symptomen dieser Krankheit stehen, so wie wir leider nur zu oft bei Untersuchungen über Nervenkrankheiten und Nerven­zufälle bei einer solchen unbestimmten Erklärungsart stehen bleiben müssen. Aber damit begnügten sie sich nicht, wenn von den auffallenden Veränderungen, welche die Vorstellungen beim Schwindel leiden, Rechenschaft gegeben werden sollte, z. B. von der Erscheinung des Wankens und der Kreisbewegung der ruhenden Gegenstände, der falschen Vorstellung ihrer Farben, der Furcht zu fallen, der Empfindung des Geräusches, u. s. w. Um diese zu erklären, schien es ihnen nicht hinreichend, sich bloß auf eine gewisse allgemeine Unordnung in der Bewegung der Lebens­geister zu berufen; sondern sie hielten es für nötig, eine Art von Unordnung genau zu bestimmen, die mit jenen äußern Erscheinungen | einigermaßen analogisch wäre; und so sind zu diesem Behufe die ungereimtesten Hypothesen ausgedacht worden, deren ich in der Folge noch Erwähnung tun werde. Zwar scheint das Bedürfnis einer solchen auf Analogie beruhenden Erklärungsart durch den Umstand einigermaßen

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Zweites Hauptstück

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gerecht­fertigt zu werden, daß eben diese Veränderungen in der Vorstellung, welche Folgen des Schwindels sind, bisweilen auch die Ursache desselben werden können. Entstehen z. B. beim Schwindel aus körperlichen Ursachen die Erscheinung ruhiger Gegenstände in schneller kreisförmiger Bewegung, das Wanken und die Furcht zu fallen; so entstehet im Gegenteil auch bei der natürlichsten Beschaffenheit des Körpers, aus der wirklichen Anschauung schneller im Kreise sich bewegender Gegenstände, aus dem wirklichen Wanken und aus der Furcht von ­einer Höhe herab zu stürzen, das körperliche Gefühl des Schwindels samt allen seinen übrigen Zufällen. Hat der höhere Grad des Schwindels die Ohnmacht zur Folge; so ist hingegen der Schwindel der erste | Grad jeder anfangenden Ohnmacht. Dieses scheint, wie gesagt, da nun einmal jede Seelenwirkung mit einer ihr eigenen Bewegung der Lebensgeister verbunden ist, die Mutmaßung zu bestätigen, daß diese innere Bewegung mit der wirklichen oder mit der als wirklich vorgestellten Bewegung der äußern Gegenstände, in der Anschauung eine völlig gleiche Erscheinung darbiete, das ist, daß die äußere Bewegung der Gegenstände durch ihre Wirkung die Lebensgeister in eine vollkommen ähnliche Bewegung versetze, wodurch der Schwindel verursacht wird; und daß diese Bewegung der Lebensgeister, wenn sie aus innern Ursachen entstehet, die äußern Gegenstände in der nämlichen Bewegung vorstelle. – Allein man muß bedenken, daß es der Fälle mehr gibt, wo wirkliche äußere Veränderungen innere hervorbringen, und wiederum die bloße Vorstellung derselben von eben diesen innern hervorgebracht wird, ohne daß irgend eine analogische Veränderung zwischen dem Verhalten der Gegenstände und der Bewegung der Lebensgeister Statt | findet. Die Anschauung ekelhafter Gegenstände erregt Übelkeit und Erbrechen; Übelkeit und Erbrechen aus innern körperlichen Ursachen erregen das Gefühl des Ekels gegen ­äußere Gegenstände: die Anschauung fürchterlicher Gegenstände verursacht Zittern, Blässe, Rückgang des Blutes nach den innern Teilen u. s. w.; und wenn eben diese Zufälle im Körper aus Krämpfen, Nervenschwäche oder sonstigen Ursachen entstehen, so erscheinen

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Dritter Abschnitt

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ä­ ußere Gegenstände fürchterlich, die es außerdem nicht sind. Nun ist es doch offenbar, daß die Widrigkeit eines Gegenstandes und die krampfhafte unregelmäßige Bewegung des Magens, oder die Vorstellung eines drohenden Übels und die Bewegung des Blutes ganz heterogene Dinge sind, zwischen denen sich schlechterdings keine anschauliche Gleichförmigkeit denken läßt; und doch bringen sie sich wechselsweise hervor! Ein Beweis, daß wir hier mit unserm Erklären nicht weiter kommen können, daß wir von dieser Seite auf jene äußerste Grenze zwischen Körper und Seele stoßen, die dem menschlichen | Verstande, so nahe er auch von Beider Gebiete an dieselbe dringen mag, auf immer unübersteigbar, und über welche es uns immer unmöglich bleiben wird, die Produkte des einen in das andere hinüber zu führen. |

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V I E RT E R A B S C H N I T T.

Widerlegung der angeführten Erklärungen von dem Schwindel aus der analogischen Bewegung der Lebensgeister.

D

ie Hypothese zur mechanischen Erklärung des Schwindels, aus welche alle oben erwähnte Schriftsteller verfielen, ist im Grunde diese: daß die Lebensgeister im Gehirne ihre gewöhnliche Bewegungsart verlassen, und sich im Kreise herumdrehen. »Das ganze sichtbare Hemisphärium, sagt Willis, scheint sich zu drehen, weil dessen Eindruck auf Geister geschieht, die selbst in Kreisbewegung sind.« Eben dieser Meinung ist Avicenna45, und, wie aus den oben angeführten Stellen sich ergibt, auch Platter und Zakutus. »Die Lebensgeister befinden sich im Gehirne, behauptet Willis, wie Wasser oder verdichtete Dünste, die in einem Gefäße enthalten sind, und zugleich mit demselben herumgedrehet | werden« *). Und eben so drückt

*) Horum ratio, nämlich der schwindlichten Zufälle beim Anblick sich drehender Gegenstände, est, non quod deceptio visus oculis primo inducitur, et postea ad quodam tempus continuatur: quippe affectus iste a corporis circula­ tione producitur, sive oculis intuemur, sive nictamus; at vero hujus apparationis causa omnine dependet a fluxili spirituum animalium substantia. Quippe spiritus intra cerebrum scatentes, non secus habent ac aqua, aut densa vaporum congeries phialae inclusa, quae una cum vase continente circumagitur et facto semel vortice, etiam vase quiescente, morum istum aliquandiu continuare per­ sistit: pari etiam modo, quando hominis corpus circumgyratur, spiritus cerebri incolae, ab ist capitis, tanquam vasis continentis, circumductione, in motus tornatilies, ac velut spirales aguntus; cumque proterea solito influxu et directo jubare nervos irradiare nequeant, hinc una cum visibilium rotatione, saepe scotomia et pedum vacillatio inducuntur. Hemisphaerium visibile rotari videtur, quia spiritus speciem excipientes circulariter moventur, quare siquidem sensibilis impresso recipitur per modum recipientis prout spiritus, ita objecta, in orbem moveri videbuntur. OPER. TOM. II. p 185. [Thomas Willis, Opera Omnia: Cum Elenchis Rerum Et Indicibus necessariis. Lyon 1681.]

200–202

Vierter Abschnitt

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sich Zakutus aus: »Es verhält sich mit den Geistern, wie mit einer feinen Flüßigkeit in einem geschüttelten Gefäße, die folglich so wohl durch äußere Ursachen, als durch die kreisförmige Bewegung des Körpers selbst, in eine gleiche Bewegung gesetzt werden;« *) und so glau | ben sie nicht nur den Grund von der Erscheinung der äußern Gegenstände in Kreisbewegung, sondern auch, wie wir in der Folge sehen werden, von der Entstehungsart des Schwindels aus den mannichfaltigen innerlichen und äußerlichen Ursachen entdeckt zu h ­ aben. Ich glaube der Mühe überhoben sein zu können, alle psychologische Ungereimtheiten dieser Meinung weitläuftig aus einander zu setzen; nur einiges Auffallende erlaube man mir dawider anzuführen: Erstens befinden sich die Lebensgeister, oder der in unserer Sprache so genannte Nervensaft, im Gehirne nicht in einem weiten Behältnisse, wie etwa der Urin in der Blase oder die Speisen im Magen; sondern sie sind, wie das Blut oder der Milchsaft, in ihren eigentümlichen Kanälen, den Nerven, enthalten, durch welche sie ganz genau nach jedem Orte ihrer Verrichtung im Körper hinbewegt werden, und innerhalb deren kein Hin- und Herschwanken Statt hat. Die Nerven selbst | aber sind unmittelbare Fortsetzungen des Gehirnmarks. Zweitens ist es gar nicht einzusehen, warum dieser feine, dünne, höchstbewegliche Nervensaft, wenn er sich anders wirklich in einer so geräumigen Höhle, als die Meinung der erwähnten Ärzte voraus zu setzen scheint, aufhielte, gerade die Kreisbewegung des Körpers mit annehmen, und nicht jeder andern Bewegung des Kopfes gleichfalls folgen sollte? Er müsste sich immer nach jeder Gegend hinbewegen und sich da anhäufen, wohin diese gerichtet wäre, nach dem Vorder- oder nach dem Hinterhaupte, nach der rechten oder nach der linken Seite; und allen diesen verschiedenen Lagen und Richtungen gemäß, müssten dann auch die äußern Gegenstände erscheinen. Wenn der *) l. c. [Abraham Zakutus Lusitanus, Opera Omnia. Den Haag 1643.]

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Zweites Hauptstück

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Kopf sich nach vorn hin bewegt, so müßten die sichtbaren Gegenstände sich immer zu entfernen, und wenn er in der Rücklingsbewegung ist, sich zu nähern scheinen. Drittens, die Lebensgeister müssen in den sinnlichen Orga­ nen so wohl, als in jedem | Teile des Körpers, beständig gegenwärtig sein. Dies folgt aus der beständigen Empfindlichkeit und Beweglichkeit dieser Teile im natürlichen Zustande, welche ohne ihre Gegenwart nicht Statt finden könnten; sie können folglich auch so wenig, wie jeder andere Saft im menschlichen Körper, daselbst in einer beharrlichen Ruhe sich aufhalten, sondern müssen im Zustande der beständigen Bewegung nach allen beweglichen und empfindlichen Teilen hin sein, so wie ihr Organ, das Gehirn, ununterbrochen mit ihrer Absonderung beschäftigt sein muß. Wenn nun die Eindrücke der äußern Gegenstände in der Erscheinung nach dem örtlichen Verhalten dieser Lebensgeister sich richten, wenn, wie Zakutus sich ausdrückt, alles was aufgenommen wird, sich nach der Weise dessen richtet, worin es aufgenommen wird; so folgt, daß die äußern Gegenstände uns niemals als ruhig erscheinen können, sondern daß wir sie uns immer in Bewegung vorstellen müssen, so wie das Mittel, durch welches wir sie uns vorstellen, in der Tat ­immer in Bewegung ist. | Viertens, das ganze Dasein dieser Lebensgeister erkennen wir weder durch sinnliche Anschauung, noch durch sonstige Erfahrung, sondern nehmen es bloß wegen der Gegenwart gewisser zylindrischen Teile im Körper, die wir für gefäßartig halten, als höchst wahrscheinlich an. Es wäre also etwas völlig Willkürliches, das aus dem erwähnten Grunde gar nicht folgt, wenn wir diesen gemutmaßten Lebensgeistern auch außer diesen Kanälen, einen weiten Raum im Gehirne, in welchem sie sich umherschütteln lassen, als einen Aufenthalt anweisen wollten. Und außerdem lehrt die Erfahrung auch, daß die Nerven nicht Kanäle sind, deren offene Mündungen sich nach einem Behältnisse im Gehirne hinwenden, wie etwa die Harnkanäle in den Nieren oder die Gallengänge in der Leber; sondern man sieht sie bloß als stetige Fortsätze aus dem Gehirnmarke kommen. Es ist hier

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Vierter Abschnitt

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nirgends ein Anfang, der eine bereitete und ergossene Flüßigkeit aus einem Behältnisse aufnimmt. | Fünftens endlich, ist eine solche widernatürliche Bewegung des Nervensaftes mit dem Verhalten der meisten übrigen Säfte in unserm Körper ganz unanalogisch. Die Feuchtigkeiten im Auge, die Galle in der Blase, die Milch in ihrem Behälter werden keinesweges durch die verschiedenen Drehungen und Wendungen des Körpers von ihrer bestimmten Richtung innerhalb ihrer eigentümlichen Gefäße abgebracht. Verschiedene widernatürliche Lagen des Körpers können die Absonderungskanäle drücken, die Absonderung selbst verhindern, und den Saft zwingen, sich einen andern Weg zu bahnen; aber so lange seinem Einflusse in die Kanäle kein Hindernis in den Weg gelegt wird, gehet er ungestört seinen bestimmungsmäßigen Gang fort. Zu langsame Bewegungen des Körpers können einen Absonderungssaft verderben, sein Verhältnis gegen seine Kanäle aufheben und daher seinen Fortgang in dieselben hemmen. Es können ferner zu geschwinde Bewegungen des Körpers in jeder Richtung machen, daß eine abgesonderte | Flüßigkeit, das Blut z. B., aus ihren weiten Kanälen in die mit ihnen verbundenen engern, ihr nicht anpassenden Äste hineingedrängt wird und daselbst in Stockung gerät; sie können auch eine Absonderung selbst befördern, vergrößern und beschleunigen, aber immer nur in ihren eigentümlichen Behältern. Kein Laufen, Reiten, Springen, Herumdrehen kann eine abzusondernde Flüßigkeit ihren Absonderungsgefäßen abwendig machen und ihr eine fremdartige Bewegung erteilen. – Es liegt in diesem tief verborgenen Absonderungsgeschäft etwas unerklärbares, vermöge dessen jeder Saft, der seine gehörige Zubereitung erhalten hat, eine gewisse Tendenz nach den ihm eigentümlichen Gefäßen äußert, die nur alsdann unterdrückt werden kann, wenn durch eine Ausartung des Saftes, oder durch widernatürliche Beschaffenheit der Gefäße, das Verhältnis zwischen beiden aufgehoben wird, die aber, so lange dieses ungestört bleibt, ungehindert fortdauert, eben so wie die Tendenz der entgegengesetzten Pole zweier Magneten ge | gen einander nicht verändert wird, so lange sie sich in

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Zweites Hauptstück

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derselben Entfernung von einander befinden. Und eben dies gielt wahrscheinlicherweise von dem Nervensafte gleichfalls: Es muß ein gewisser Anziehungstrieb zwischen demselben in dem Orte seiner Absonderung und den Nervenkanälen sein, welcher durch keine Bewegung aufgehoben werden kann, die nicht eins von beiden besonders, sondern das ganze Gehirn betrifft, und durch die das Verhältnis zwischen beiden dennoch immer unverändert dasselbe bleibt; eben so wenig wie die erwähnte Tendenz zweier Magnete dadurch eine Veränderung leidet, wenn der Ort, auf welchem beide sich befinden, auf verschiedene Weise bewegt wird, ohne daß man ihre Stellung gegen einander verändert. |

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208 | 209

F Ü N F T E R A B S C H N I T T.

Irriger Grund der mechanischen Erklärungsart der Seelenveränderungen aus analogischen körperlichen: die Verwechslung der Grund­eigen­ schaften mit den abgeleiteten — Auseinandersetzung beider Arten — Die vernachlässigte Unterscheidung beider führt zum Materialismus oder in die unauflösbarste Verwirrung — Daraus entspringende falsche Idee von der bildlichen Anschauung der Eindrücke in der Seele  — Ein neuerer scharfsinniger Arzt, der einst diese Idee hatte und noch nicht ganz davon zurückgekommen ist — Irrige Vorstellung von dem gegenwärtigen Vorrat der dunkeln Begriffe in der Seele und der materiellen Ideen im Gehirne — Art wie nach des Verfassers System beides gedacht werden muß — Beides läuft auf erworbene Fertigkeiten hinaus — Platner nimmt den Begriff der Fertigkeit nicht in dem reinsten Sinne, wie der Verfasser — Scheinbare Schwierigkeit beim Sehen — Zwischen den Kraftäußerungen der Seele und des Körpers findet keine Analogie Statt, und der Übergang beider Wirkungen in einander liegt außer den Grenzen menschlicher Einsicht.

D

ie bisher angeführten Gründe sind, wie mich dünkt, hinreichend, die Ungereimtheit der Hypothese zu zeigen, welche die erwähn | ten Schriftsteller der Natur des Schwindels und seinen Zufällen anzuzwingen sich bestreben. Aber es drängt sich an diese Untersuchung eine andere von der äußersten Wichtigkeit, die ich nicht übergehen kann, da sie die Entwickelung eines Gegenstandes betrifft, der ohne bestimmte Beziehung auf unsere Hypothese, schon an sich nicht nur die Quelle mehrerer ähnlichen Irrtümer in vergangenen Jahrhunderten war, sondern zuweilen auch noch Philosophen und Ärzte im achtzehnten zu unnützen Grübeleien und falschen Systemen veranlaßt. Ich meine die Auseinandersetzung des irrigen Grundes, welcher überhaupt zu der mechanischen Erklärungsart des Seelenwirkungen aus analogischen körperlichen Veränderungen verleitet. Dieser läuft, wie ich glaube, ganz darauf hin-

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Zweites Hauptstück

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aus: daß man die Grenze zwischen den Einwirkungen der äußern Gegenstände und ihren Erscheinungen in der Vorstellung nicht genugsam beobachtet, oder ihre so genannten ursprünglichen Eigen­schaften von den abgeleiteten nicht sorgfältig unterscheidet. – Ich muß mich hierbei | einige Augenblicke verweilen. ­Etwas anders ist die Wirkung der äußern Dinge auf unsere Organen, unsere Nervenfäden oder unsren Nervensaft; etwas anders die Wirkung dieser auf unser Vorstellungsprincipium, die Seele. Jenes ist die Wirkung eines Körpers auf einen andern, wo der Gegenstand, welcher wirkt, und der, welcher die Wirkung empfängt, wo Tätigkeit und Leiden gänzlich einartig sind; dieses, die Wirkung eines Körpers auf ein einfaches nicht anschaubares Wesen, das mit dem Körper ganz ungleichartig ist, und auf eine völlig andere Weise als dieser, von uns erkannt wird. Dort bestehet die Wirkung in einem Mitteilen und Fortpflanzen derselben Beschaffenheit, der Bewegung, vom tätigen Gegenstand in den leidenden, die in jenem offenbar, so wie in allen Übergängen körperlicher Bewegungen, um so viel abnimmt, als sie in diesem zunimmt; hier läßt sich weder ein Mitteilen, noch ein Fortpflanzen denken, sondern auf die körperliche Veränderung unserer Organe, die in einer erlittenen Erschütterung bestehet, folgt in der | Seele eine dieser Erschütterung ganz fremdartige Veränderung, die auch durch ihre Gegenwart jene um nichts verringerte. Es ist dieselbe Bewegung, die wir aus einer Kugel in die andere, auf welche sie stößt übergehen sehen; aber was in der Seele entsteht, Vorstellung einer Farbe oder eines Schalles, hat nicht die mindeste Ähnlichkeit mit der vorhergegangenen Erschütterung unserer Netz- oder Trommelhaut; und wir sehen die Verwandtschaft zwischen diesem Grunde und dieser Folge so wenig ein, daß wir nicht nur ohne Erfahrung dieselbe nie im voraus würden vermutet haben, sondern daß wir sie auch noch jetzt als eine vom Schöpfer willkürlich veranstaltete betrachten müssen, und daß es uns gar nicht auffallen könnte, wenn er an dieselben Organenerschütterungen andere Vorstellungen, andere Erscheinungen gekettet hätte, die mit jenen ganz heterogen wären. Für uns bleibt diese einmal wirkliche Verbindung

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Fünfter Abschnitt

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gewisser Vorstellungen mit gewissen Organenerschütterungen (ob sie gleich, wie alles andere in der Natur, notwendig gegründet | sein muß) dennoch eine vom Urheber willkürlich gestiftete; für uns kann sie nichts anders als den Schein einer zufälligen Einrichtung haben. – Folglich ist jene Wirkung auf unsere Organen eine Eigen­schaft des äußern tätigen Gegenstandes selbst, indem sie etwas ist, das aus demselben in den leidenden übergeht: also, eine Grundeigenschaft; hingegen die Wirkung der Organe auf unser Vorstellungsvermögen ist etwas, von welchem weder in dem äußern Gegenstande, noch in diesen Organen selbst, das mindeste Identische oder Ähnliche sich findet: also keine Eigenschaft des Gegenstandes; sondern diese Vorstellungen und Erscheinungen in der Seele, da sie jene Grundeigenschaften (die Veränderungen in unsern Organen) nur als notwendige Bedingungen ihrer Entstehung voraussetzen, sind bloß als durch diese entstandene, von ihnen abgeleitete Eigenschaften anzusehen, oder, wie Locke sie nennt, Beschaffenheiten der zweiten Art, (qualitates ­secundariae). Diese beiden Arten von Eigenschaften erfordern die genaueste Unterscheidung von | einander, die man nicht, ohne sich entweder zu dem gröbsten Materialismus zu bekennen oder sonst in die größte Verwirrung zu geraten, vernachlässigen kann. Wenn man die abgeleiteten Eigenschaften, die Vorstellungen in unserer Seele, für Grundeigenschaften hält, die sich in den äußern Gegenständen befinden; so muß man entweder voraussetzen, daß dieselben Veränderungen, welche unsere Nerven von diesen äußern Gegenständen erleiden, so wie sie sind, wieder in die Seele übergehen: (und alsdann muß diese als etwas Zusammengesetztes betrachtet werden; denn diese Veränderungen sind nichts anderes, und können nichts anderes sein, als Ortsveränderungen, Bewegungen, die nur in einem zusammengesetzten Wesen Statt haben können); oder man muß unvermerkt annehmen, – und dies ist der Fall am häufigsten – daß die Bewegung der Nerven oder des Nervensaftes im Gehirne nicht das letzte Materielle in jedem Empfindungsgeschäfte sei, worauf unmittelbar durch eine uns unerklärbare Einrichtung in der Seele

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Zweites Hauptstück

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die Vorstellung | entstehe; sondern, daß die Seele sich da im Gehirne als eine zweite organische Substanz aufhalte, und das körperliche Spiel der Nerven, die Bewegung des Saftes im Sehe-Geruchs-Geschmacks-Gehör- und Gefühlsnerven (welche man sich auch unter den Namen materieller Ideen als im Gehirne bleibend denkt) wiederum erst bildlich anschaue, darauf eine diesem Bilde ähnliche Vorstellung in sich hervorbringe, die alsdann diese oder jene Farbe, diesen oder jenen Schall, u. s. w. ausmache. Man sieht aber offenbar, daß erstlich dadurch zur Auflösung der Schwierigkeit, die in der Verbindung zweier so heterogener Dinge, wie Vorstellung und Bewegung, so sehr auffällt, gar nichts gewonnen wird; denn die Kluft zwischen der bildlichen Anschauung in der Seele und dem Entstehen der Vorstellungen ist völlig eben dieselbe, die sich zwischen der Bewegung des Nervensaftes und den unmittelbar darauf folgenden Vorstellungen findet: es bleiben immer ganz heterogene Dinge; und daß man zweitens dem Materialismus dennoch nicht ausweichen kann, | da in jedem Dinge, welches einer bildlichen Anschauung fähig sein soll, eine Abbildung des Angeschaueten Statt haben muß, die doch bloß in einem zusammengesetzten Wesen gedacht werden kann. Ich habe gesagt, die erwähnte Meinung von der bildlichen Anschauung der Seele komme am häufigsten vor; und ich will einige Beispiele von physiologischen Schwierigkeiten und Irrtümern anführen, bei welchen bloß diese zum Grunde liegt. – Aus der Idee der Verknüpfung zwischen Seele und Körper, zum Teil auch aus der Erfahrung, ergibt sich, daß die Veränderungen beider immer wechselseitig sind, und einander begleiten. Daraus schloß man mit Recht, daß jede Bewegung, welche das Gehirn vermittelst der Organen von den äußern Gegenständen erhält, in der Seele eine Veränderung ihres Zustandes erregt, deren sie sich bald mehr, bald minder klar bewußt ist; so wie, umgekehrt, auf jede Vorstellung in der Seele eine bald größere, bald kleinere Bewegung im Gehirne und dem Nervensysteme erfolgt. | Da ferner die Seele das Vermögen hat, nicht zwar ganz neue Vorstellungen, wohl aber einmal gehabte, ohne alle

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Fünfter Abschnitt

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Veranlassung von äußern Gegenständen, nach dem Gesetze der Ideenassoziation wieder hervorzubringen: so konnte man wieder mit Recht schließen, daß keine Vorstellung, die einmal in der Seele gegenwärtig war, ohne alle hinterlassene Spuren aus derselben verschwindet; sondern daß sie, wie bereits oben auseinander gesetzt worden ist, ihr eine Fertigkeit hinterläßt, sie bei Gelegenheit anderer mit ihr verwandter Vorstellungen leicht wieder hervorzurufen: eben so, daß die, einer gehabten Vorstellung entsprechende Bewegung im Gehirne, wahrscheinlich auch wegen der erworbenen körperlichen Fertigkeit, gleichfalls mit mehr Leichtigkeit von der Seele hervorgebracht werden kann. Und dabei hätte man es in der Untersuchung über die wechselseitige Wirkung zwischen Seele und Körper bewenden lassen sollen; aber man ging weiter, und, anstatt dabei stehen zu bleiben, daß durch einmal gehabte Vorstellungen und Bewegun | gen der Seele die Fertigkeit erwachse, beide wieder rege zu machen, nahm man an, daß alle Vorstellungen, welche die Seele je gehabt, in ihr beständig gegenwärtig wären. Man betrachtete diese gleichsam als ein räumliches Behältnis, in welchem sich eine Niederlage aller gehabten Ideen befinde, zu deren Gegenwart nur das Licht des Bewußtseins fehle, um klar und deutlich hervorzuscheinen; so daß, wenn dieses einmal über sie verbreitet würde, die Seele den ganzen ungeheuren Vorrat aller in ihrem Leben gehabten Vorstellungen anschauend vor sich haben müßte. – Und man bedachte nicht, daß gegenwärtig sein, in einer einfachen Substanz nichts anders heißt, als: in sie wirken; und wirken in eine einfache S ­ ubstanz, nichts anders als: Vorstellungen hervorbringen; und vorstellen, nichts anders als: wissen, daß das vorgestellte vorhanden ist. Wo dieses Wissen fehlt, ist keine Vorstellung, keine Wirkung, folglich keine Gegenwart *). Eben *) Cicero46 drückt sich hierüber bei der Gelegenheit, da er von der göttlichen Natur der göttlichen Seele spricht, und das Wun|derbare des Gedächtnisses, so wie der übrigen Kräfte, auseinandersetzt, vortrefflich aus: Quid igitur? utrum capacitatem aliquam in animo putamus esse, quo tamquam in aliquod vas ea quae meminimus, infundantur? absurdum id quidem; qui enim

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Zweites Hauptstück

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so nahm | man an, daß die körperlichen Veränderungen, welche durch die Wirkung äußerer Gegenstände oder durch Vorstellungen von Seiten der Seele in dem Gehirne hervorgebracht werden, unvergänglich in demselben bleiben; und diesen Eindrücken, d. i. diesen Erhöhungen und Vertiefungen oder Biegungen, gab man die unschickliche Benennung materieller Ideen, die von dem ersten Augenblicke ihrer Entstehung an, als ein Vorrath, daselbst aufbehalten werden, und eben so viele Tasten ausmachen, welche die Seele so oft berührt, als sie diese oder jene einmal schon gehabte Vorstellung wieder in, sich erregen will *) – | Eine Lehre, die sich auf jene mechanische Theorie der fundus aut quae talis animi figura intellige potest? aut imprimi quasi ceram animum putamus, et memoriam esse signatarum rerum in mente vestigia? quae possunt verborum, quae rerum ipsarum esse vestigia? quae possunt verborum quae rerum ipsarum esse vestigia? quae porro tam imensa magnitudo, quae illa tam multa possit effingere? TUSC. QUAEST. L. 1. [Cicero, Tusculanae dispu­ tationes.]47 *) Unter denen, die sich seit Cartesius48 die seltsame Vorstellung von der bildlichen Gegenwart der Ideen im Gehirne, und der Notwendigkeit daß die Seele, um äußere, | 219 | Eindrücke zum empfinden, sie daselbst anschaue, gemacht haben, gehörte einst sogar einer unserer scharfsinnigsten Köpfe, Hr.  Professor Platner, der in der Folge allmählich, aber doch nur beinahe, ganz von dieser Meinung zurück gekommen ist. Im Jahre 1767 sagt er in seiner Dissertation: De vi corporis in memoria Spc. I. cerebri in apprehendis et retinendis ideis officium sistens §. XV. Rerum externarum, quae sensu haustae sunt, simulacra, in cerebri medullem imprimi dicimus. Si autem in hanc ipsam medullam omnis sensus terminatur, si porro animus hac lege cum substantia medullari conjunctus est, ut omnes mutationes quae illi inferantur, perpetuo ante oculos quasi habeat, quid his ipsis imaginibus ad declarandum na| 220 |turam idearum aptius poterit cogitari? Erit itaque idea nihil aliud, quam animi quaedam actio interna, qua illas in medulla cerebri imagines materiales arripit, et inde suas sibi imagines sine materia effingit. u. s. w. In dem darauf folgenden §. führt er unter den Gründen, welche jene Behauptung bestätigen sollen, auch folgendes an: Convulsiones vehementiores sensum tollunt et praesentium et praeteritarum rerum. His enim et omnium nervorum et fibrarum medullarium imprimis violentis contractionibus aufertur illa, quam supra dixi, ad sentiendum requiri, ab impedimento vacuitas, h. e. imagines illae, quas animus con­templari debet, quoniam impressae sunt ipsi substantiae medullari his motibus ita agitan-

Fünfter Abschnitt

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tur, ut semper effugiant aciem animi intuentis. Im §. XVIII. heißt es: Species ergo rerum et imagines, ab organis in hunc finem mirifice constitutis hauriuntur, et fluidi nervei beneficio ad sensum communem vel cerebri medullam feruntur, in qua tamen, haec rerum simulacra non statim, postquam ab animo arrepta fuerunt, evanescunt, sed vel solidi vel fluidi quodam motu in medullam imprimuntur, ut animo has notiones iam olim acceptas quaerenti semper pateant. Et in hoc memoriae imprimis cernitur officium, de quo iam uberius erit exponendum. Est vero memoria, uti supra dictum fuit, facultas animi interna, idearum olim perceptarum relicta in cerebro vestigia denuo sibi repraesentandi atque contemplandi. Duo itaque ad memoriam requiruntur. Primo ut notionum quaedam simulacra in cerebro remaneant; deinde, ut animus factas has | 221 | in cerebro impressiones arripere possit et sine concretione intueri. – Nunc hoc mihi maxime incumbere sentio, ut has ipsas imaginies, in cerebri medulla depictas, servari osten­dam etc.49 Überhaupt kann man sich über die bildlichanschauliche Darstellung der Organenerschütterung im Gehirne nicht bestimmter ausdrücken, als in dieser Probeschrift überall geschieht, und ich will meine Leser, welche sich etwa selbst hiervon überzeugen wollen, deshalb bloß auf den vierzehnten Paragraph verweisen. In der Anthropologie für Ärzte and Weltweise, die 1772 erschien, hält Hr. Platner jene mit so vielem Nachdruck verteidigte Behauptung von der Abbildung der Gegenstände im Gehirn, nur noch für möglich. »So wenig es wahrscheinlich oder interessant zu entscheiden ist; (sagt er §. 236.) so wäre es doch möglich, daß die Impressionen im Gehirnmarke den Gegenständen körperlich ähnlich sein könnten. Die Impressionen der Gesichtsgegenstände wären Bilder im Kleinen, wie das Bild im Auge. Die Impressionen des Schalles wären eine Bewegung der Lebensgeister im Gehirnmarke, die der Bewegung der Luft in der Atmosphäre ähnlich wäre, so wie es die Bewegung der Luft in dem Innersten des Ohres ist. Die Impressionen des Geruchs, der Geschmacks und des Gefühls, müßten darin bestehen, daß die Lebensgeister im Gehirnmarke die nämliche Art der Bewegung und des Reizes machten, welche die Körper durch ihre Berührung auf den Organen selbst gemacht hatten. Ferner bei der Lehre vom Gedächtnisse §. 388. heißt es: Also sind die Gedächtnisimpressionen im Gehirnmarke nichts anders, als die letzte Wirkung der Bewegung der Lebensgeister, welche von den sinnlichen | 222 | Werkzeugen durch die Nerven nach dem Gehirne fortgepflanzt wird. Es sind also von allen unsern Ideen solche Impressionen im Gehirne. Man wendet wider diese Hypothese ein: Die Unmöglichkeit, daß eine so ungeheure Menge von Impressionen im Gehirnmarke aufbehalten werden könnte. Antw. 1) Das Gehirn ist bei dem Menschen nach Verhältnis größer, als bei allen Tieren. 2) Das Gehirn wird durch die Biegungen der markichten Fasern, die man vorzüglich bei dem Menschen wahrnimmt, unendlich vergrößert. 3) Die Impressionen können ganz klein sein. Z. B. Die innern Impressionen der

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Zweites Hauptstück

Gesichts­objekte können sich verhalten zu dem Bilde im Auge, wie das Bild im Auge zu der Größe des Objekts. – Einige finden in dieser Hypothese etwas Unglaubliches, vielleicht gar etwas Lächerliches und Unphilosophisches. Es ist aber unstreitig, daß alle Erklärungen feiner und verborgener Wirkungen diesem Vorwurfe ausgesetzt sind, wenn sie auch beinahe so gut als gewiß sind. Beispiele gibt die Chemie. Die Abbildung des Objekts auf dem Nervenhäutchen im Auge würde eine eben so unglaubliche und vielleicht lächerliche Hypothese sein, wenn wir nicht die offenbare Erfahrung davon hätten« u. s. w. Endlich in der neuen Ausgabe der Anthropologie 1790 erklärt der V. selbst jene Hypothese von den bildlichen Abdrücken im Gehirne für unmöglich und lächerlich. »Die durch Erschütterung des Nervengeistes aus den Nerven des Sinneswerkzeuges nach dem Gehirn fortgepflanzte Bewegung des äußern Eindrucks (heißt es §. 374.) ist die materielle Idee der sinnlichen Vorstellung. Die materiellen Ideen der sinnlichen Vorstel | 223 | lungen sind also nicht Figuren, Bilder, Eindrücke im Gehirnmark, sondern lebendige Bewegungen des Nervengeistes in den Gehirnfiebern, welche jedesmal von dem äußern Eindrucke, d. h. von der Rührung der Nerven des Sinneswerkzeuges, entstehen und abhangen.« Desgleichen §. 389. »Daß die materiellen Ideen des Gedächtnisses etwas anders, als Bewegfertigkeiten der Gehirnfiebern, daß sie Figuren, Bilder, Eindrücke in der Substanz des Gehirnmarks sein sollten, ist physisch unmöglich. Die Vorstellungen, die man sich seit Cartesens Zeiten von diesen materiellen Ideen erlaubt hat, sind wirklich zum Teil lächerlich.« Indessen scheint mir Hr. Platner noch immer sich selbst nicht gleich zu bleiben, und seine ehemalige Lieblingsmeinung doch nur zum Teil aufgegeben zu haben. Im Grunde enthält die Behauptung von den bildlichen Abdrücken der äußern Gegenstände im Gehirne nicht viel mehr Ungereimtes, als die von eben diesen bildlichen Abdrücken in den Nerven der sinnlichen Organen; (denn modeln sich die Gegenstände einmal durch ihren Stoß in dem Nervensaft im Kleinen ab, warum sollen diese Modelle sich nicht wiederum durch ihre Fortpflanzung in dem Gehirne abmodeln?) und der letzteren Behauptung scheint er doch mit vieler Wärme zugetan zu sein. »Es ist nicht allein aus der Analogie des Auges, sagt er §. 344. sondern auch aus unmittelbaren physischen Gründen wahrscheinlich, daß der äußere Eindruck in den Werkzeugen aller Sinnen, eine verkleinerte Darstellung des Gegenstandes sei. Unter dem Gegenstande wird hier alles begriffen, was unmittelbar, oder mittelbar in die Nerven wirkt; nicht allein körperliche Subjekte, sondern auch ihre vor­ überge| 224 |hende Tätigkeiten, z. B. Auflösungen, Ausdünstungen, überhaupt Bewegungen, u. s. w. Auf dem hintern Grunde der Netzhaut, welche nichts anders als der verbreitete Sehnerve selbst ist, geschieht offenbar eine verkleinerte Abbildung der vorschwebenden Gestalten, Farben, Bewegungen und anderer sichtbarer Eigenschaften und Verhältnisse der Körper, mittelst des Lichts und

Fünfter Abschnitt

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seiner Strahlen. – So scheinen in dem Labyrinthe, mittelst des darin befindlichen Wassers, die Erschütterungen oder Luftbewegungen des äußerlichen Schallkreises, im Kleinen wiederholt und nachgeahmt und die letzte Erschütterung den Gehörnerven mitgeteilt zu werden. Ein Körper ist riechbar, wenn in ihm entwickelte Bestandteile tätig sind, und sich durch ihre Tätigkeit aus der Oberfläche desselben empor­heben, und ausdünsten. Diese ausdünstenden Teilchen also, drücken die Art und den Grad der Tätigkeit aus, welche in den Bestandteilen des Körpers selbst vorhanden ist. Wenn demnach diese ausdünstenden Teilchen die Geruchhaut treffen, so scheint es, daß, gleichwie sie selbst die Art und den Grad der Tätigkeit ausdrücken, welche in den Bestandteilen des riechbaren Körpers ist; sie in den Geruchnerven, oder vielmehr in dem Nervengeist, eine ähnliche Tätigkeit erwecken. Eben so scheint sich in den Nerven des Geschmackwerkzeuges, nachdem die Auflösung des schmackhaften Körpers durch die Zungensäfte geschehen ist, die Art und der Grad der Tätigkeit, welche in den Bestandteilen selbst wirkt, abzudrücken. | 225 | So ist also in dem Werkzeuge des Geschmacks, wie in dem Werkzeuge des Geruchs, der äußere Eindruck eine verkleinerte, nach­ahmende Darstellung des Gegenstandes. – Mittelst des Gefühls vernehmen wir im Grunde nichts anders, als verschiedene Arten und Grade des Zusammenhangs unter den Elementen der Körper. Darauf beruhen sowohl alle feinere Gefühleindrücke in den Fingern, von fest und flüßig, dicht und locker, dick und dünn, hart und weich, glatt und rau u. s. w. als auch die größeren Eindrücke dieses Sinnes, in andern äußerlichen und innerlichen Nerven. Wahrscheinlicherweise werden die Nerven durch den berührten Körper in dieselbe Art und in denselben Grad von Tätigkeit versetzt, welche in den Elementen des berührten Körpers ist, und worauf die Art und der Grad ihrer gegenseitigen Wirksamkeit und ihres daher entstehenden Zusammenhangs beruhen. Denn Dichtigkeit und Lockerheit, Festigkeit und Flüßigkeit u. s. w. sind doch nichts anders in den Körpern, als Erscheinungen der gegenseitigen Wirksamkeit und des daher entstehenden Zusammenhangs ihrer Elemente.« Ich muß gestehen, daß ich Herrn Platners gewöhnlichen Scharfsinn hier gänzlich vermiße. Zwar kenne ich die unmittelbaren physischen Gründe nicht, welche, wie er sagt, die verkleinerte Darstellung der Gegenstände in den Werkzeugen aller Sinne wahrscheinlich machen sollen; aber dies sehe ich doch sehr wohl ein, daß der Schluß aus der Analogie des Auges sicher der unbündigste ist: denn, ohne einmal zu erwägen, daß die Heterogenität zwischen den Geschäften der Sinne überhaupt keine Analogie unter ihnen verstattet; so ist besonders die verklei | 226 | nerte Darstellung des Gegenstandes auf dem Organ eine dem Gesichtssinne eigentümliche, nur ihm eigentümlich sein könnende Eigenschaft, von der auf keinen andern Sinn die Anwendung gemacht werden kann. Die Netzhaut ist eine glatte, ausgespannte, mit einem schwarzen Hintergründe versehene, undurchsichtige Fläche, von welcher die

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Zweites Hauptstück

Strahlen, zufolge ihres Gesetzes, so wie von jedem andern Körper dieser Art, nach der Richtung ihres Auffallens wider zurückgeworfen werden. Da nun bildliche Erscheinung eines Gegenstandes nichts anders heißt, als Vorstellung desselben, in so fern sie durch dessen auf eine gewisse Weise geordnete Strahlen in der Seele erregt wird: so ist es sehr natürlich, daß das Bild des Gegenstandes einem zweiten Auge, welches diese Netzhaut vor sich hat, auf derselben erscheinen muß; denn die von derselben zurückgeworfenen Strahlen befinden sich in derselben Ordnung, wie die ursprünglichen, und müssen daher dieselbe Vorstellung erregen. Für dieses zweite Auge ist die Wirkung des Urgegenstandes und die seines Eindruckes auf der Netzhaut einerlei, indem seine eigene Netzhaut von beiden wieder auf einerlei Weise verändert wird; und auch nur in so fern kann man sagen, daß auf (nicht einmal in) dem Seh­ organ die Gegenstände sich im Kleinen abbilden. Für die Seele selbst hingegen, auf und in welche nicht wieder die Strahlen des Gegenstandes von der Netzhaut hingeführt werden, ist die Veränderung der Netzhaut ihres eigenen Körpers nicht Bild, sondern bloß eine gewisse Nervenaffektion, die in ihr eine Veränderung hervorbringt, welche, wir Bild nennen; und ich finde es ganz und gar nicht unwahrscheinlich, daß, wenn es übrigens mit der Ökonomie des Auges sich nur vertrüge, | 227 | die Netzhaut ein schlaffer, durchsichtiger oder alle Strahlen verschluckender Körper sein könnte, auf welchem gar keine anschauliche Darstellung Statt hätte, und daß die Seele dennoch durch deren Affektion dieselbe bildliche Vorstellung von dem Gegenstande haben würde. – Was aber die übrigen Sinne betrifft, deren Wirkungsmittel keinem solchen Gesetze der Zurückwerfung folgen, so ist bei ihnen eine verkleinerte Darstellung ihrer Gegenstände schlechterdings undenkbar. Denn wem sollten sie sich eigentlich verkleinert darstellen? Nicht der unmittelbar empfindenden Seele; für sie gibt es durchaus keine Darstellung, die wieder durch sinnliche Organen wahrgenommen werden muß: alle Darstellung außer ihr überhaupt ist eigentlich ihr Geschöpf, das Werk ihrer Kraft, wozu sie bloß durch die Nervenaffektion dieses oder jenes Sinnes bestimmt, getrieben oder veranlaßt wird; ihr selbst kann von ihren eigenen Sinnen nichts zur Anschauung dargestellt werden: Nicht einem andern empfindsamen Wesen, welches diese affizierte Organen sich vorstellt; denn der Eindruck, den diese von ihren Gegenständen erhalten, ist nicht von zurückwirkender Art, wie bei dem Gesichtsorgan. Der durch die Ausdünstung riechbarer Körper veränderte Nervensaft in der Schneiderschen Haut wird dadurch nicht selbst wieder riechbar; und wenn er es würde, so würde er seine eigene Beschaffenheit, nicht die Beschaffenheit seines auf ihn wirkenden Gegenstandes darstellen. Eben dies gilt von dem Geschmacke. Bei dem Gefühle ist sogar der Schein offenbar wider die nachahmende verkleinerte Darstellung; denn die Erhabenheit eines gefühlten Körpers bringt in den Nerven eine Vertiefung, und die | 228 | Vertiefung

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Fünfter Abschnitt

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Empfindung und Bewegung von beständigen Hin- und Herlaufen des Nervensaftes in den Kanälen gründet, welche eben so unphilosophisch ausgedacht, als unzureichend zur Erklärung aller Erscheinungen ist; da nach der meinigen (welche mir noch eine Erhöhung hervor. Bei dem Gehör ist es allerdings wahrscheinlich, daß die Luftbebungen, vermittelst der Trommel und der kleinen Knöchelchen, bis in das Wasser in dem labyrinthischen Gange sich fortpflanzen; aber dieses eine verkleinerte Darstellung des Gegenstandes nennen, heißt offenbar mit den Worten, wenn nicht gar mit den Begriffen, spielen: denn dieses Wasser ist eigentlich nicht das Organ des Gehörs selbst, sondern nur das Mittel, durch welches der Eindruck zunächst dem Gehörnerven erteilt wird; und wenn hier in Rücksicht auf die Darstellung des Gegenstandes mit dem Sinne des Gesichts eine Analogie Statt haben sollte, so müßte der Nerve selbst oder dessen Saft eine solche Bewegung annehmen, daß er die ihn umgebende Luft wieder in Erschütterung setzte, und in einem andern Ohre wieder einen Schall erregte, so wie die Netzhaut in einem andern Auge ein Bild aufstellt. – Indessen ist diese ganze kleinliche nachahmende Darstellung in den Organen oder auch in dem Gehirne an sich, ein viel zu kleinlicher Gegenstand, als daß er der ernstlichen Untersuchung eines Mannes, wie Herr Platner, würdig sein sollte. Nur in so fern verdient er einige Erwägung, als man mit ihm den unrich | 229| tigen Begriff von der Tätigkeit der Seele bei ihrem Vorstellungs­ geschäfte verknüpft, d. i. in so fern man diese Darstellung für notwendig hält, um der Seele zum Vorbilde oder auch nur zum anschaulichen Zeichen zu dienen, wenn sie in sich eine Vorstellung voll den äußern Gegenständen hervorbringen will. – Und daß Hr. Platner sich von dieser unreinen, nicht ganz unmaterialistischen Idee noch nicht völlig befreiet hat, sieht man aus verschiedenen Stellen in seiner Neuen Anthropologie, wo er §. 374. die materiellen Ideen der sinnlichen Vorstellungen als fortgepflanzte äußere Eindrücke der Nerven angibt, welche doch seiner Meinung nach verkleinerte Darstellungen der Gegenstände sind; wo er ferner §. 376. die Bewegungen der Gehirnfibern, welche die materiellen Ideen der sinnlichen Vorstellungen ausmachen, für lebendige Bewegungen hält; wo er endlich überall den materiellen Ideen eine so genaue bestimmte Rolle bei den Seelengeschäften anweist, daß er sogar §. 595. aus ihren entgegengesetzten Direktionen im Gehirne die physische Unmöglichkeit etwas Widersprechendes zu denken, zu erklären sucht. [Ernst Platner, De vi corporis in memoria specimen primum, cerebri in apprehendendis et retinendis ideis officium sistens. Leipzig 1767. Und: Anthropologie für Ärzte and Weltweise, Leipzig 1772]

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Zweites Hauptstück

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immer als die einzige wahrscheinliche vorkommt) das Empfinden keinesweges auf einem unmittelbaren Hinführen der Eindrücke von den äußern Gegenständen nach dem Gehirne, sondern bloß auf dem Wahrnehmen des durch die Eindrücke erregten Hindernisses in der Bewegung des Nervensaftes | beruhet *): – Eine Lehre, deren Ungereimtheit in die Augen fällt, so bald man | bedenkt, daß von diesen verschiedenen Figuren und Abdrücken nie einige Spuren in | irgend einem Gehirne entdeckt worden sind, und daß diese Formen notwendig einander | durchkreuzen und zerstören müßten; der unzähligen andern Schwierigkeiten nicht zu | erwähnen, die Herr Reimarus so vortrefflich auseinander gesetzt hat **). Folgendes muß ich noch hinzufügen: Wenn ich die Gegenwart der Vorstellungen | in der Seele auf das Bewußtsein derselben einschränke, so möchte ich um vieles nicht | so mißverstanden werden, als wenn ich das Dasein solcher Veränderungen in der Seele, | denen das lebhafte Bewußtsein fehlt, völlig leugnete. Es kann niemand mehr als ich überzeugt sein, daß der Zustand der Dunkelheit in der Seele, wie ihn Wolff 50 nennt, die Quelle von dem größten Teil ihrer Tätigkeiten ist. Nur ist es mir bedenklich anzunehmen, daß dieser Zustand in einem wirklichen Vorrat aller ehedem gehabten Vor | stellungen bestehe; denn die Gegenwart der Vorstellungen, als Vorstellungen, kann nicht örtlich in der Seele gedacht werden, in Ansehung deren sie bloß ein müßiger Behälter ist; sondern sie sind nur in so fern gegenwärtig, als sie die Seele hat, d. i. in so fern sie die Tätigkeit ihrer Kräfte auf dieselben anwendet: und diesem zufolge müsste man be | haupten, (welches allerdings schwer einzuräumen ist) daß die Seele ununterbrochen jeden Augenblick auf die ganze unendliche Menge von Vorstellungen, die sie während ihrer ganzen Existenz gehabt, ohne Bewußtsein ihre Kräfte verwende; denn  *) S. Brief an Ärzte, zweite Samml. B. an Zimmermann. [Marcus Herz, Briefe an Aerzte. Zweyte Sammlung. Berlin 1784.] **) Götting.[isches] Magazin der Wissenschaften und Litteratur, I. Jahrg. 4. und 6. Stück. [1780.]

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sobald sie nur eine einzige auf einen Augen­blick ihrer Tätigkeit entläßt, so hört diese auf gegenwärtig zu sein, und verschwindet auf immer aus dem gesamten Vorrate. – Nach meiner Theo­ rie beruhet dieser Zustand der Dunkelheit bloß auf erworbenen Fertigkeiten. Jede Vorstellung, die einmal da war, hinterläßt in der Seele eine größere oder geringere Fertigkeit, sie bei irgend einer Veranlassung mit Leichtigkeit wieder in sich zu erregen. Da nun, wie ich oben auseinandergesetzt, die Lebhaftigkeit der Vorstellungen dem Grade der Aufmerksamkeit und der Anstrengung, welchen die Seele auf sie anwenden muß, entspricht; so muß die Lebhaftigkeit der Vorstellungen, in Ansehung deren die Seele eine Fertigkeit hat, bei deren Wiedererregung nur geringe sein, und unmerklich werden, wenn | diese Fertigkeit sehr groß ist. Je öfter nun eine gewisse Vorstellung wiederholt wird, oder mit je mehr Lebhaftigkeit sie einmal gegenwärtig war; mit desto größerer Fertigkeit und desto geringerm Bewußtsein wird sie wieder in der Seele erregt. Daher die Menge von Wirkungen, welche die Seele ohne merkliches Bewußtsein unter dem Scheine unwillkürlicher Verrichtungen in dem Körper hervorbringt, und welche, mit Stahl’s Anhängern zu reden, wahrscheinlicherweise einst mit lebhafter Deutlichkeit von ihr gewirkt worden, und nur durch die öftere Wiederholung zu ihren dunkeln Geschäften übergegangen sind; daher auch die Menge Urteile, welche sie bei Gelegenheit der sinnlichen Empfindungen auf eine dunkle Weise fällt, und die so oft irrig für Teile der Sensation gehalten werden. – Der Zustand der Dunkelheit ist also der Zustand der Fertigkeiten, welche die Seele besitzt, Vorstellungen mit dem geringsten Grade von Anstrengung und Lebhaftigkeit in sich zu erregen. Die Gegenwart dieser Fertigkeiten aber ist der Seele kei | nesweges gleichgültig, sondern allerdings mit reellen Veränderungen ihres Zustandes verbunden; ob es sich gleich schwer einsehen läßt, worin diese Veränderungen in einer einfachen Substanz eigentlich bestehen, da bei dieser weder Biegsamkeit noch Schlaffheit gedacht werden kann, wie bei körperlichen Teilen, die in Ansehung gewisser Bewegungen eine Fertigkeit besitzen.

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Und eben so wünschte ich von Seiten des Gehirns in Ansehung der so genannten materiellen Ideen verstanden zu werden. Zu leugnen ist es nun einmal nicht, daß vermöge der allgemeinen Verbindung der Seele mit dem Körper, und deren näheren mit dem Gehirne, jede Veränderung in ihr von einer andern in diesem begleitet wird; zu leugnen ist es nicht, daß diese begleitende Veränderung in nichts anderm als in Ortveränderung bestehen kann; zu leugnen ist es ferner nicht, daß keine solche Veränderung ohne Folgen für das Gehirn geschieht, d. i. ohne daß dessen Zustand in der Zukunft anders ist, als er ohne sie gewesen sein würde; oder mit noch | andern Worten: ohne daß ein unendlicher Verstand aus dem jedesmaligen Zustande des Gehirns ihre ehemalige Gegenwart erkennen kann; und in so fern kann man allerdings sagen, daß jede Veränderung des Gehirns, und folglich auch jede Vorstellung, Spuren in demselben zurück lasse. Nur leugne ich, daß diese Spuren in Erhöhungen, Vertiefungen oder lebendigen Bewegungen bestehen, welche verschiedener Richtungen fähig sind, und daß sie überhaupt der Seele sinnlich anschaubare Merkmale ihres Ursprunges ausmachen; vielmehr läuft meiner Meinung nach ihr ganzes Wesen bloß auf erworbene Fertigkeiten hinaus. Durch jede Veränderung, welche das Gehirn oder ein Teil desselben durch äußere Gegenstände oder durch Vorstellungen erhält, erlangt es die Fähigkeit, dieselbe Veränderung bei ähnlichen Veranlassungen mit mehr Leichtigkeit anzunehmen; und je öfter die Veränderung wiederholt wird, desto größer wird diese Fähigkeit. Will man nun die ganze ungeheure Menge von erworbenen Fertigkeiten in einem ausgewachsenen Ge | hirne dessen Vorrat von materiellen Ideen nennen, so habe ich nichts dawider; nur vergesse man nicht, daß bloße Fähigkeit an sich etwas Unsinnliches ist, und nur, wenn sie durch irgend eine Ursache in Ausübung gesetzt worden, durch ihre Folgen kennbar wird, und daß es daher ungereimt ist, unter diesen materiellen Ideen fortdauernde Bewegungen, bild­liche Darstellungen der Gegenstände oder auch Eindrücke überhaupt sich zu gedenken, oder gar vollends so weit zu gehen, und die Verschiedenheit der feinsten Seelenkräfte, der Neigungen

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Fünfter Abschnitt

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und Temperamente, nach den in die Sinne fallenden Beschaffenheiten des Gehirns, nach seiner Größe oder Kleinheit, Trockenheit oder Feuchtheit, nach der Härte oder Weichheit seiner Fasern u. s. w. bestimmen zu wollen. – Nach meiner schon öfters erwähnten Theorie findet überhaupt kein Gehirneindruck bei den sinnlichen Empfindungen Statt; indem das Wesen dieser nicht in einem bis ins Gehirn fortgepflanzten Stoffe der ­äußern Gegenstände, sondern bloß darin besteht, daß die | anhaltende Tätigkeit des Gehirns, den Nervensaft abzusondern und in die Nervenkanäle fortzustoßen, durch die Zusammendrückung oder Verengerung eines dieser Kanäle vermittelst der Berührung eines äußern Gegenstandes, gehemmt, unterbrochen oder erschwert wird; so wie von Seiten der Seele die Empfindungsvorstellung nichts anders ist, als die Wahrnehmung dieser Hemmung, Unterbrechung oder Erschwernis der ausübenden Gehirntätigkeit. Da nun im Grunde dies alles auf einen körperlichen Widerstand hinausläuft, der dem Gehirn in seinem Bestreben geleistet wird; so muß allerdings dadurch irgend eine körperliche Veränderung in demselben hervorgebracht werden, die zwar mit dem äußern Eindruck verschwindet, in Ansehung deren aber das Gehirn eine Fertigkeit erlangt, d. i. eine Fähigkeit, bei wiederholten Eindrücken von derselben Art dem Widerstande leichter nachzugeben, und die Veränderung mit weniger Schwierigkeit anzunehmen. – Bei den Erinnerungsideen gehabter Empfindungen, bei den Vorstellungen | der Phantasie erweckt die Seele wahrscheinlich diejenigen Veränderungen im Gehirne, welche sonst der wirklich empfundene Widerstand in demselben erregt hat, nur verschieden in Ansehung des Grades der Stärke. Was hingegen die reinen Anschauungen, oder die vernünftigen Vorstellungen, welche ganz und gar nicht sinnlicher Herkunft sind, betrifft: so weiß ich mir freilich keinen bestimmten Begriff von der Art zu machen, wie sie im Gehirn eine Veränderung hervorbringen; aber daß sie irgend eine hervorbringen, dafür bürgt mir die Verbindung zwischen Seele und Körper, so wie die Analogie von der allgemeinen Natur aller Kräfte dafür, daß das Gehirn in Ansehung dieser Veränderung durch die

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Zweites Hauptstück

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Wiederholung gleichfalls eine Fertigkeit erlangt. – Also nichts von Eindrücken, von lebendigen Bewegungen, von Spuren, welche im Gehirn von den gehabten Veränderungen zurückbleiben, und irgend einem äußern sinnlichen Wesen, am wenigsten aber der von allen sinnlichen Organen entblößten Seele, sinnlich anschaubar sein können. | Diese Vorstellungsart von den materiellen Ideen scheint mir, so wie ihre Quelle, mein System von der Empfindung und Bewegung, von nicht unfruchtbaren Folgen zu sein, so wenig ich auch bemerkt, daß Physiologen auf dasselbe Rücksicht genommen haben; und ich muß den von meinen Lesern, für den die genauere Prüfung dieser Lehre einiges Interesse hat, auf meinen Brief an Zimmermann verweisen *). | *) Ich sehe mit nicht wenig geschmeichelter Eigenliebe, daß Herr Platner diese meine Meinung von den materiellen Ideen, (daß sie nämlich bloß in erworbenen Fertigkeiten des Gehirns bestehen), welche ich schon in der ersten Ausgabe gegenwärtiger Schrift 1786 äußerte, in seiner Neuen Anthropologie 1790 mit so vieler Wärme sich zu Nutzen macht, und dadurch von der in seinen früheren Schriften durchaus herrschenden, in der Tat sehr mechanischen Vorstellungsart von den materiellen Ideen zurückgekommen ist. Überall in dem ganzen Werke sind ihm nun materielle Ideen und Bewegfertigkeiten gleichbedeutende Wörter, und in verschiedenen Stellen sagt er ausdrücklich, daß die materiellen Ideen nichts anders sind als Bewegfertigkeiten, mittelst welcher die ehemaligen Bewegungen der Gehirnfibern wieder erneuert werden. Gleichwohl tut es mir leid, nirgends zu finden, daß er fleh über das Wesen der Fertigkeit überhaupt, und der im gegenwärtigen Falle besonders, einigermaßen deutlich erklärt hätte; auch scheint er mir noch immer | den Begriff der Fertigkeit nicht in dem reinsten Sinne zu nehmen: sonst könnte er unmöglich den materiellen Ideen bestimmte Direktionen zueignen, und aus deren Entgegensetzung §. 595. die Unmöglichkeit sich etwas Widersprechendes zu denken, herleiten. Fertigkeit und Richtung, welche heterogene Begriffe! – sonst könnte er unmöglich §. 588. u. s. f. die reinsten Operationen und Zustände der Seele, als Glauben, Zweifeln, Überzeugung, Furcht, Hoffnung, Fröhlichkeit, Betrübnis, u. s. w. aus der Beschaffenheit der materiellen Ideen und der Stärke oder Schwäche der Hirnmasse so bestimmt herleiten; könnte z. B. unmöglich §.589. sagen: »Überzeugung des Gefühls von historischen und philosophischen Vorstellungen, wird in dem Maße geschwind bewirkt, in welchem die Ursachen vorhanden sind, welche der materiellen Idee der Vorstellungen jene Be-

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Fünfter Abschnitt

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Ich kehre nun zurück. Der Grund dieser irrigen Vorstellungen von der Gegenwart gehabter Ideen in der Seele und in dem Gehirne liegt offenbar darin, daß man den oben erwähnten Unter­schied zwischen den Grundeigenschaften und den abgeleiteten aus den Augen setzte, und daher die an sich unerforschliche Wirkungsart zwischen Körper und Seele sich so verständlich zu ma | chen suchte, daß man von Seiten dieser eine wahre Fortpflanzung ihrer Vorstellungen ins Gehirn durch eine reelle Verwandlung derselben in Gehirneindrücke, und umgekehrt, von Seiten, des Körpers einen wirklichen Übergang der bildlichen Abdrücke von. den äußern Gegenständen in das Gehirn, und von diesem wieder in die Seele sich dachte, so, daß man, gleich wie jene unter dem Namen materieller | Ideen bekannt sind, diesen die nicht unschicklichere Benennung idealischer Abdrücke beilegen könnte. Daher konnte man von diesen stimmtheit und Festigkeit bloß durch einen gewissen Grad der physischen Stärke erteilen können«. Festigkeit der Fertigkeit, welche heterogene Zusammenstellung! Endlich konnte er sonst unmöglich §. 283. mit Herrn Unzer51, der auch von Bewegfertigkeiten spricht, aus denselben die Erschei | nungen herleiten, daß nach dem Tode eines Tiers, nicht bloß in den tierischen sondern auch in den willkürlichen Muskeln noch Bewegungen Statt haben können, und hinzusetzen: man könne, um die Ausgabe von der Möglichkeit dieser Erscheinung zu lösen, nichts natürlicheres wünschen. Man erwäge nur, daß, Fertigkeit bloß ein abgezogener Begriff ist, der die größere Leichtigkeit bedeutet, vermöge deren eine Bewegung aus einer geringern wirkenden Ursache entstehen kann, wobei immer das Dasein einer wirkenden Ursache vorausgesetzt wird. Wie kann aber die Leichtigkeit der Wirkung als ihre Ursache angesehen werden? Man sieht, daß Herr Platner, wie Herr Unzer, sich unter der Fertigkeit immer ein wirkliches in dem Körper vorhandenes tätiges Principium denkt, wovon ich mir freilich keinen Begriff machen kann, so wenig wie, unter dieser Voraus­setzung, von der Natürlichkeit der Auflösung jener Aufgabe; denn die Hauptfrage bleibt im Grunde doch unbeantwortet: welches ist die nach dem Tode zurückbleibende Kraft, die schon in einem geringen Grade fähig ist, die Bewegung in den Muskeln zu erregen? [Ernst Platner, Neue Anthropologie für Aerzte und Weltweise: mit besonderer Rücksicht auf Physiologie, Pathologie, Moralphilosophie und Aesthetik. Leipzig 1790.]

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Zweites Hauptstück

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den anklebenden körperlichen Ursprung nicht ganz entfernen, und bildete sich eine Art von räumlichem Aufhalten der Ideen in der Seele; so wie man bei jenen das ursprüngliche Geistige unvermerkt mit unterschieben, und die Möglichkeit einer ideellen Gegenwart körperlicher Eindrücke im Gehirne sich denken muß, wenn man anders mit dem geringsten Grade von Wahrscheinlichkeit den beständigen Aufenthalt einer solchen fast unendlichen Menge von Empfindungen und Vorstellungen, als ein ganzes Menschenleben in sich faßt, in demselben behaupten will. Bei dieser irrigen Meinung liegt, wie man nach genauer Erwägung sieht, vorzüglich dieses zum Grunde, daß, wenn durch die gegenwärtigen Einwirkungen äußerer Gegenstände, oder durch das Erinnern vergangener Wirkungen, Vorstellungen entstehen sollen, die im Gehirne entstehenden oder aufbehaltenen Eindrücke in die Seele bildlich übergehen, oder, welches | einerlei ist; von ihr angeschauet, und dann zu Vorstellungen umgeschaffen werden; *) und daß, wenn im umgekehrten Falle, *)Planer und deutlicher kann man diese auffallende Meinung nicht ausdrücken, als es einst Herr Platner in der oben erwähnten Dissertation tat, wovon er freilich wohl allem Vermuten nach größtenteils zurückgekommen sein wird. Um sich einer gehabten Vorstellung wieder zu erinnern, muß die Seele, seiner damaligen Idee nach, das ganze Gehirnmark durchlaufen und so lange suchen, bis sie das Zeichen der verlangten Vorstellung auffindet. Hier ist die ganze Stelle. »XXI. Dum in memoriam revocare conamur ideam vel perceptionem, quae nos fugit, variae nobis in mentem redeunt repraesentationes, quam longe diversae ab ilia quam desideramus. Animus porro ut reperiat hanc ideam, infinitam rerum multitudinem secum repetit, ordinesque idearum perlustrat. In quo labore, si per aliquod tempus occupatus fuit, sponte nec interdum nobis inopinatis, sese offert illa idea, quam quaerebamus. Quid itaque non intelligit, mentem, in hoc exemplo, totam cerebri medullam quasi peragrare omnesque ideas mate | riales vel notas attente perlustrare? quo eam tandem reperiat, quae desiderabatur, atque recognoscat. e. g. Nomen quaero illius Anatomici, qui vasa lymphatica valuulosa primus descripserit. Hoc teneo, illum fuisse magnum Anatomicum. Eorum itaque imprimis nomina animo mecum recognosco, qui Anatome prae ceteris incaluerunt: RUYSCHII, LANCISTI, DIEMBROECKII, MAGNETI, COWPERI, NUCKII, PECQUETII nomina in mentem red­ eunt. Nondum tamen repeto Anatomicos, quotquot cognoverim: ita tandem non

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Fünfter Abschnitt

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auf die willkürlichen Vorstellungen der Seele eine Bewegung im Körper entstehen soll, dieselben in das Gehirn sich fortpflanzen, und da in solche anschaubare Formen übergehen müssen, welche entsprechende Abdrücke von der abgezweckten Bewegung ausmachen; indem, ohne dieses, die Seele sich in der Folge an | diese Bewegung und die dabei gehabte Vorstellung nicht wieder erinnern könnte. Am auffallendsten ist die Schwierigkeit, zu welcher der erwähnte Irrtum führt, bei der Untersuchung über die sinnlichen Vorstellungen. Es ist aus den Gesetzen der Physik bekannt, daß die Sichtbarkeit der Gegenstände auf das Abprallen der auf sie fallenden oder auf das Ausfließen ihrer eigentümlichen Strahlen und deren Berührung der Netzhaut | beruhet; desgleichen, daß aus dem Grade der Lebhaftigkeit, mit welchem diese Berührung geschieht, aus dem Grade der Brechung, welche die Strahlen erleiden, aus der Größe des Raumes, welchen die beiden äußersten Strahlen des Gegenstandes auf der Netzhaut einschließen, und aus den verschiedenen Verhältnissen der Strahlenwirkungen auf dieser Haut, die Vorstellungen von Größe, Figur, Farbe, Stellung und Entfernung des Gegenstandes entstehen. Die Erfahrung lehrt ferner, daß von jedem Gegenstande der gesehen wird, auf der Netzhaut der Abdruck eines ihm ähnlichen Bildes sich findet, nur mit dem umgekehrten Verhältnisse in Ansehung der Stellung, so, daß die rechte Seite des Gegenstandes im Abdrucke zur linken, die linke zur rechten, das Obere unten und das Untere oben erscheint. – Wie es nun zugehet, daß ein äußerer Gegenstand, dessen Vorstellung doch nur vermittelst des Netzhautbildes in die Seele gebracht wird, dennoch von diepotest aliter fieri, quin veniam ad FABRICIUM AB AQUAPENDENTE . Qua de re a vero propius existimo, animum in hujus nominis reperiendi necessitate, relictis ceteris impressionibus, quibus alia nomina insigniantur, Anatomicorum praesertim nomina, quocunque demum modo in medulla denotata perlustrare, donec ad illud tandem accedat, quod desideret.« [Ernst Platner, De vi corporis in memoria specimen primum, cerebri in apprehendendis et retinendis ideis officium sistens. Leipzig 1767.]52

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Zweites Hauptstück

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ser ganz anders als eben dieses Bild vorgestellt wird? wie es zugehet, | daß wir einen Baum mit den Blättern nach oben und mit der Wurzel nach unten erblicken, da doch dessen Bild auf der Netzhaut umgekehrt erscheint? Dies ist eine Aufgabe, deren Auflösung verschiedene Weltweise für ziemlich schwierig halten. ­Elliot53 *) glaubt, daß von den, seiner Meinung nach, korrespondierenden Fibern diejenigen, die in beide Augen auf der rechten Seite liegen, in dem Gehirne zusammen kommen, und sich in dem kleinen Gehirnmark linker Hand, so wie die von der linken Seite der Augen rechter Hand, endigen; desgleichen die untern und obern Fibern der Netzhaut beider Augen in die entgegengesetzten Punkte der markichten Schenkel des kleinen Gehirns laufen, so, daß sie sich kreuzen und eine umgekehrte Lage erhalten; und Herr Platner **), der zwar diese Elliotsche Hypothese als auf zu groben Begriffen von den materiellen Ideen gegründet ansieht, hält dennoch die Berkleyische54 Erklärung des geraden Sehens bei der Verkehrtheit des Augen | bildes, aus dem Zusammenhang der Gefühlsvorstellung mit den Vorstellungen des Gesichts, für die wahrscheinlichste. Das Verkehrtsehen muß ihm doch also eine schwierige Erscheinung sein, wenn er glaubt, daß es einer so gekünstelten Erklärung, oder nur einer Erklärung überhaupt bedarf ***)! Selbst ein Reimarus wußte sich nicht anders herauszuhelfen, als durch die Annahme einer uns angebornen Fertigkeit, einer eingepflanzten Richtung der Sehekraft auf einen bestimmten Gegenstand die Strahlen zurück in den Ort

 *) Physiologische Betrachtungen über die Sinne. S. 4. [ John Elliott: Physiologische Beobachtungen über die Sinne besonders über das Gesicht und Gehör. Aus dem Englischen von C. L. Ludwig. Leipzig 1785.] **) N. A. §. 385. [Ernst Platner, Neue Anthropologie für Aerzte und Weltweise: mit besonderer Rücksicht auf Physiologie, Pathologie, Moralphilosophie und Aesthetik. Leipzig 1790.] ***) Auch dieses bestätigt meine obige Behauptung, daß Herr Platner noch immer den Begriff von der Fertigkeit nicht in dem reinsten Sinne nimmt, da er die Ähnlichkeit des Eindruckes mit dem äußern Gegenstande als so wichtig für die Vorstellung der Seele ansieht.

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Fünfter Abschnitt

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ihres Ausflusses zu setzen *); ja, es ist noch nicht lange, daß eine berühmte Akademie es der Mühe nicht unwert hielt, die Auflösung jener Aufgabe für einen ansehnlichen Preis öffentlich zu fordern und sogar durch entscheidende Versuche wissen zu wollen, ob | es sich mit diesem Verkehrtsehen bei den Tieren eben so wie bei dem Menschen verhalte! Und doch beruhet diese ganze scheinbare Schwierigkeit, (denn im Grunde ist sie keine, da die Begriffe von Stellung und Lage eines Gegenstandes bloß Verhältnisbegriffe in Beziehung auf andere sichtbare Gegenstände sind, und folglich das Verhältnis doch immer dasselbe bleibt, sobald die Stellung und die Lage aller umgekehrt erscheinen), bloß aus dem unrichtigen Begriff von dem Übergange, der körperlichen Wirkung in die Seele. Das Bild der Netzhaut verursacht freilich eine von dem Urbilde verschiedene Sensation in Ansehung der Stellung der Teile: was bei dem einen oben oder rechts erscheint, erscheint bei dem andern unten oder links, und so umgekehrt; aber um diese verschiedenen Sensationen gegen einander zu vergleichen, ist es notwendig, daß beide gleichartig gemacht, so zu sagen unter einer­lei Nenner gebracht werden; d. i. man muß beide Bilder in so fern betrachten, als sie ihre Wir | kung auf einerlei Organ, wieder auf den Sinn des Gesichts, äußern. Wenn beide Bilder wieder gesehen werden, ihre Strahlen wieder auf eine Netzhaut fließen, so erscheinen beider Stellungen entgegengesetzt; und wie dieses geschieht, ist aus der den Strahlen eigentümlichen Richtung leicht zu erklären. Gesetzt aber, daß beide Bilder auf zwei verschiedene ungleichartige Organe wirken, so könnte zwischen ihnen, als völlig ungleichartigen Gegenständen, in Ansehung ihrer Wirkung so wenig eine Vergleichung, ein Übereinkommen oder eine Entgegensetzung bestimmt werden, als zwischen der roten Farbe und dem süßen Geschmacke, dem Violengeruche und *) Über die tierischen Kunsttriebe. [Hermann Samuel Reimarus, Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere, hauptsächlich über ihre Kunsttriebe. Zum Erkenntniss des Zusammenhanges der Welt, des Schöpfers und unser selbst. Hamburg 1760. 2. Auflage 1762.]

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Zweites Hauptstück

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dem Gefühle einer Nässe. Und wenn vollends eins von den Bildern eine körperliche Wirkung auf ein Organ äußerte, und das andere gar auf keinen körperlichen Gegenstand wirkte, sondern unmittelbar eine Veränderung in dem Vorstellungsvermögen verursachte, so könnte eine Vergleichung unter ihren Wirkungen um desto weniger Statt finden, da die Heterogenität zwischen | körperlicher Veränderung und Vorstellung weit größer ist, als die zwischen den Empfindungen verschiedener Sinne. – Die erwähnte Erscheinung also, daß wir uns einen äußern Gegenstand in einer andern Lage vorstellen, als dessen Bild auf unserm Netzhäutchen hat, kann nur in dem Falle für uns schwer einzusehen sein, wenn man sich dieses Bild wieder als ein für unsere Seele sichtbares Bild gedenkt, wenn man glaubt, daß dessen Strahlen sich in ihr wieder bis auf ein Netzhäutchen fortpflanzen, nach denen wir uns den äußern Gegenstand vorstellen. Da aber beim Sehen das Bild auf der Netzhaut das letzte in der Reihe körperlicher Wirkungen ist, und nicht von der Seele wieder gesehen wird, sondern in dieselbe eine mit allem Körperlichen ganz heterogene Veränderung, eine Vorstellung, hervorbringt; so sind offenbar dessen Wirkung und die Wirkung des äußern Gegenstandes, das Netzhautbild selbst, unter einander nicht der mindesten Vergleichung fähig. – Es bleibt uns also freilich unbegreiflich, wie eine körper | liche Abbildung auf der Netzhaut so etwas Fremdartiges wie Vorstellung wirken kann; aber es ist eine zwiefache Ungereimtheit, etwas an sich Unbegreifliches durch eine weit unbegreiflichere Erklärung begreiflich machen zu wollen. Und im Grunde ist die Unbegreiflichkeit in dem gegenwärtigen Falle nichts besonderes: es ist die allgemeine, die sich überhaupt bei allen sinnlichen Vorstellungen findet; denn läßt es sich wohl klärer einsehen, wie der Stoß eines so oder anders gebrochenen Strahls auf die Netzhaut die Vorstellung von roter oder grüner Farbe, wie Stöße auf die Wärzchen der Schneiderschen Haut Vorstellungen vom Geruche hervorbringen? – Es ist also in der Tat auffallend, daß man gerade hier bei der Vorstellung von der Lage und Stellung eines Gegenstandes die ewigen Schranken menschlicher Erkenntnis übersieht,

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Fünfter Abschnitt

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und, indem man es versucht einen Fuß über die Grenze zu setzen, sich über dies aufstoßende Hindernis wundert, das doch aus unzähligen andern Fällen schon bekannt sein müßte! | Und eben diese irrige Meinung von dem Übergange der Nervenwirkung in die Seele scheint offenbar in unserm Falle der Grund von der falschen Erklärungsart der Erscheinungen des Schwindels zu sein; denn, kann die Seele keine Vorstellung von den äußern Körpern und ihren Veränderungen haben, ­außer indem sie deren Abdrücke im Gehirne oder Nervensafte anschauet, in ihnen liest: so müssen notwendig von diesen Körpern und ihren wirklichen Veränderungen treue Abbildungen im Gehirne sich befinden; und wenn in der Seele dennoch Vorstellungen von äußern körperlichen Veränderungen entstehen, die äußer­ lich nicht wirklich vorhanden sind, so müssen aus innern Ursachen Abdrücke dieser Veränderungen im Gehirn entstanden sein, Nachbilder ohne Urbilder, welche die Seele anschauet, und alsdann außer sich zu den Gegenständen hinübertragt. Wenn also Körper in gewissen Bewegungen erscheinen, so müssen im Gehirne, oder vielmehr in den Lebensgeistern, dieselben Bewegungen gegenwärtig sein; und wenn wirklich ruhende | Körper in Kreisbewegung erscheinen, so muß aus irgend einer Ursache eine gleiche Kreisbewegung in den Lebensgeistern vorgehen, die von der Seele angeschauet, und fälschlich als wirklich in den ­äußern Körpern vorgestellt wird. Bei genauer Erwägung aber sieht man, daß hier zwischen den Kraftäußerungen des Körpers und der Seele gar keine Analogie Statt findet; und wir mögen in Ansehung der nächsten unmittelbarsten Verbindung der Seele mit dem Körper noch so mechanischsubtil schwärmen; mögen mit Herrn Platner *) einer Qintessenz des Nervensafts Feinheit und Adel und nähere Verwandtschaft mit dem Seelenwesen erteilen, um sie zum geistigen Organ der Seele zu erheben, in welches sie allzunächst wirkt, *) N. A. B. I. Abschn. VIII. IX. [Ernst Platner, Neue Anthropologie für ­Aerzte und Weltweise: mit besonderer Rücksicht auf Physiologie, Pathologie, Moralphilosophie und Aesthetik. Leipzig 1790.]

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Zweites Hauptstück

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von welchem sie allzunächst Vorstellungen erhält, mit welchem sie von Anfang der Schöpfung her vereinigt war und es immer bleiben wird: der eigentliche Übergang der Wirkungen der einen Art in die Wirkungen der andern wird von uns doch nie ein | gesehen werden können, indem die Erfahrung uns in Ansehung dieses Punkts gänzlich ununterrichtet läßt, und die Vernunft hierüber nichts bestimmen kann, so wie sie es nie im Stande ist, wo jene ihr nicht die ersten Data dazu an die Hand gibt. Die Erfahrung lehrt uns die mannichfaltigen Veränderungen, welche die äußern Gegenstände in unserm Körper hervorbringen, und die Vernunft bringt aus der Vergleichung derselben unter einander gewisse bestimmte allgemeine Gesetze heraus. Eben dies tut sie von Seiten der Seele aus der Beobachtung ihrer Kräfte und der Art ihres Verhaltens unter verschiedenen Umständen. Die Erfahrung lehrt, daß auf gewisse Veränderungen in dem Körper gewisse Veränderungen in der Seele entstehen, und so umgekehrt. Die Vernunft kann nun durch die analogische Vergleichung der körperlichen Veränderungen, aus den völlig bekannten die Seelenveränderungen der zum Teil unbekannten, und wiederum aus den völlig bekannten Seelenveränderungen die körperlichen Folgen der nicht ganz bekannten im | voraus bestimmen. Wenn auf die körperliche Wirkung a. die Veränderung c. in der Seele entstehet, und b. mit a. einerlei oder ihr ähnlich ist; so können wir von b. eben dieselbe Veränderung c. oder eine ähnliche erwarten: Aber immer kann dieser Schluß nur unter gleichartigen Wirkungen gelten, von einer Seelenwirkung auf die andere, von einer körperlichen auf die andere; keinesweges aber unter ungleichartigen; das ist: es läßt sich nicht von einer unbekannten körperlichen Wirkung eine ihr minde­ sten ähnliche Folge in der Seele, oder umgekehrt, im voraus bestimmen, indem hier zwischen Grund und Folge schlechterdings keine Analogie zu denken ist. Mann kann daher z. B. aus dem Anblick eines rauhen oder stachlichten Körpers, wenn man einen ähnlichen schon einmal durch das Gefühl empfunden hat, die Vorstellung, die er beim Anfühlen in der Seele hervorbringen wird, wohl vermuten; keinesweges aber, wenn wir diese Vor-

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Fünfter Abschnitt

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stellung nicht schon irgend einmal durch das Gefühl gehabt haben: so wie der Blinde aus allen | Beschreibungen der Strahlen sich dennoch keinen Begriff von den Vorstellungen machen kann, die sie erregen, wenn sie auf die Netzhaut stoßen; da zwischen der Vorstellung des Stechens oder Reibens und des Eindruckes einer Spitze oder rauhen Oberfläche, zwischen der Vorstellung einer Farbe und des Druckes einer feinen Materie auf den ausgespannten Sehenerven nicht die geringste Ähnlichkeit Statt findet. – Und nun genug von dieser psychologischen Subtilität, die man mir, wie ich hoffe, zu gut halten wird, da sie mir zu wichtig war, als daß ich ihre Grenze hätte vorübergehen können, ohne eine kleine Streiferei in ihr Gebiet zu machen. Zudem können diejenigen, denen Untersuchungen dieser Art nicht behagen, diese füglich ganz überschlagen, ohne am Zusammenhange des Vortrages etwas zu verlieren. |

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S E C H S T E R A B S C H N I T T.

Erklärung des Symptoms, daß ruhende Gegenstände beim Schwindel so erscheinen als wären sie in einer Kreisbewegung — Die Seele verwechselt unter gewissen Umständen die verschiedenen Ursachen einer Wirkung — desgleichen Veränderungen die von innern Ursachen entstanden sind mit Wirkungen äußerer Gegenstände — Daraus erklärbare psychologische Erscheinungen.

I

ch kehre nunmehr zurück zu der Erklärung der Symptomen, welche dem Schwindel eigen sind. Die Vorstellung der ruhigen Gegenstände, als wenn sie in einer Kreisbewegung wären, scheint mir bloß von einer Falschheit im Urteilen herzurühren, welche bei Unterscheidung der Einbildungen von den sinnlichen Empfindungen überall in der Seele häufig vorkommt. Es ist etwas sehr Gewöhnliches, daß sie die Wirkung einer Empfindung für die Wirkung einer andern hält, | wenn diese ihr bekannter als jene ist; und man kann es fast als einen allgemeinen Satz annehmen, daß, wenn Vorstellungen die Folgen zweier verschiedenen Ursachen sein können, die Seele immer geneigt ist, sie derjenigen zuzuschreiben, die am öftesten vorkommt, oder deren Vorstellung wenigstens ihr am geläufigsten ist. Darauf beruhen, wie aus der Psychologie bekannt ist, alle Arten von Sinnentrug. Wenn wir zwischen zwei über einander geschlagenen Fingern, dem Mittelfinger und dem Zeigefinger, eine Kugel wälzen, so entsteht in der Seele die Vorstellung von der Gegenwart zweier Kugeln; und die Ursache kann keine andere sein, als die, daß hier zwei entgegengesetzte Seiten, die rechte des Mittel- und die linke des Zeigefingers, zu gleicher Zeit affiziert werden, und ein Gefühl verursachen, dessen die Seele nur bei der wirklichen Gegenwart zweier Kugeln gewohnt ist. – Der Mond und die Sterne erscheinen uns durch das beste Fernglas zwar größer, aber nie, so wie andere Gegenstände, um so näher, ob wir gleich | überall in unsern Gesichtsurteilen die Entfernung aus der Größe

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Sechster Abschnitt

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bestimmen, indem beide durch ein und eben dasselbe Merkmal (den Winkel welchen die äußersten Strahlen auf der Netzhaut machen) kennbar sind. Und die Ursache ist wahrscheinlich die: daß wir aus Erfahrung wissen, jenes Gestirn behalte in An­sehung unserer Entfernung seinen Standpunkt immer, und rücke uns so wenig näher, wie wir ihm. Die Seele nimmt daher die Wirkung des erkünstelten größeren Winkels seiner Strahlen auf der Netzhaut eher für die Folge seiner Größe, als seiner Nahheit; bei den andern Gegenständen auf der Erdfläche hingegen ist ihr die Vorstellung von der Veränderung der Entfernung zwischen ihnen und uns sehr geläufig: sie können uns, und wir ihnen, alle Augenblick näher kommen, und die Seele beurteilt also deren größern Winkel als eine Wirkung ihrer Annäherung. Sie erscheinen daher durch das Fernglas nicht größer, aber näher. – Die scheinbare Größe des Mondes, wenn er am Horizont ist, die scheinbare Entfernung der | kleinen und wenig beleuchteten Dinge, der scheinbare Ort der in einem dichtern oder dünnern Medium gesehenen Gegenstände und die unzähligen übrigen Scheinarten, deren die Künstler sich so häufig bedienen, um unsere Sinne mit Vorsatz zu täuschen, beruhen bloß darauf, daß mit diesen Dingen gewisse Umstände in Verbindung stehen, welche der Seele als Wirkungen einer solchen wirklichen Größe, Entfernung, Richtung, u. s. w. bekannt sind, ob sie gleich in den gegenwärtigen Fällen aus andern Quellen ihren Ursprung haben. – Noch gewöhnlicher aber ist es der Seele, daß sie Veränderungen, die durch ihre eigene Tätigkeit oder durch innere körperliche Veränderungen in ihr entstehen, zu äußern Gegenständen hinüberträgt, und sie für Eindrücke hält, die von wirklich gegenwärtigen äußern Körpern in ihr hervorgebracht werden, wenn sie nicht durch andere wahre sinnliche Eindrücke von diesem Irrtume überführt wird; denn alle Veränderungen in der Seele, aus welcher Ursache sie auch entstehen, aus den Eindrü | cken äußerer Gegenstände, aus innern körperlichen Bewegungen oder aus willkürlicher Tätigkeit, sind immer nichts anders als Vorstellungen; und es kann jede sinnliche Vorstellung aus allen drei Ursachen entspringen. Ein gegen-

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Zweites Hauptstück

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wärtiges Stück Scharlach erregt die Vorstellung der roten Farbe; eben dies tut zuweilen die Wallung des Bluts und dessen Zufluß nach dem Kopfe, desgleichen die willkürliche Anwendung der Einbildungskraft; und die Seele unterscheidet diesen verschiedenen Ursprung bloß durch den verschiedenen Grad von Lebhaftigkeit, welchen die Vorstellung hat, oder durch Hilfe der übrigen Sinne, welche die wirkliche Gegenwart der äußern Dinge bestätigen oder nicht. Sobald der Seele diese Unterscheidungszeichen fehlen; sobald eine ihr ursprüngliche oder durch innere körperliche Veränderungen in ihr entstandene Vorstellung einen hohen Grad von Lebhaftigkeit hat, und die übrigen Sinne sie hierüber ununterrichtet lassen: so ist sie immer geneigt, dieselbe für eine Folge von der Einwirkung äußerer Ge | genstände, und daher für wirkliche Empfindung zu halten, indem dieser Ursprung der Vorstellungen ihr am häufigsten vorkommt. Daher die Realisierung der Vorstellungen im Traume, da ihre Lebhabftigkeit, wegen Mangel an wirklichen sinnlichen Eindrücken, ungeschwächt bleibt; daher die Visionen, in denen die angestrengte Aufmerksamkeit auf eine Einbildung ihre Lebhaftigkeit bis zur Verdunkelung der sinnlichen Eindrücke verstärkt; daher endlich die Phantasien bei körperlicher Unordnung in Fiebern verschiedener Arten, wo durch eine Anhäufung des Blutes, oder durch gewisse Reize im Gehirne, die Nerven dieses oder jenes Organs so verändert werden, daß sie innere Vorstellungen desselben mit der Lebhaftigkeit wirklicher Empfindungen in der Seele erwecken. Nun bestehet, nach meiner obigen Auseinandersetzung, der Schwindel in einer zu schnellen Folge der Vorstellungen auf­ ein­ander. Diese kann, wie wir nachher sehen werden, entweder ursprünglich in der Seele entstehen und die Veränderung im Gehirne, die | schnelle Bewegung des Nervensaftes, zur Folge ­haben; oder auch von Seiten des Körpers ihren Ursprung nehmen, und aus der beförderten Bewegung des Nervensaftes entspringen. Und im letztern Falle kann diese schnellere Bewegung wiederum so wohl aus innern Widernatürlichkeiten des Körpers als durch die wirklichen Einwirkungen äußerer Gegen-

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Sechster Abschnitt

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stände entstehen, deren Gegenwart schnell auf einander folgt. Da aber dieses letzte, die wirklich schnell auf einander folgende Wirkung äußerer Gegenstände, allerdings am häufigsten vorkommt; so ist die Seele auch geneigt, diese als die allgemeine Ursache jeder zu geschwinden Folge von Vorstellungen die in ihr entsteht, anzusehen, und sie überall als äußerlich wirklich sich zu gedenken; d. i. sobald in der Seele die Vorstellungen, aus welcher Ursache es auch sei, in einer widernatürlich kurzen Weile auf einander folgen, so entwirft sie sich das Bild der Gegenstände, die gerade zu der Zeit ihre Organe affizieren, nicht als fortwährend, sondern als schnell auf einander folgend. | Die aus einander folgenden äußern Wirkungen entstehen ferner entweder aus den Tätigkeiten verschiedener mit einander abwechselnden Gegenstände, oder aus der Tätigkeit eines und eben desselben Gegenstandes, der bloß zu wiederholtenmalen seine Kraft erneuert. Im erstern Falle entsteht in der Seele die Vorstellung einer unbestimmten auf einander folgenden Mannichfaltigkeit; im letztern Falle, die Vorstellung eines einzigen Gegenstandes, der mit jedem Augenblicke verschwindet und in dem darauf folgenden mit seiner Wirkung wieder zum Vorschein kommt. Dieses kann aber nicht anders Statt finden, als wenn der Gegenstand beständig seinen Ort verändert, in Bewegung ist, und zwar in einer solchen, daß mit jedem Augenblick sein Eindruck vollendet wird, und unmittelbar darauf wieder anfängt; ein Umstand, der keiner Art von Bewegung eigen ist, außer derjenigen die im Kreise um das Organ selbst geschieht, da bei jeder andern Richtung, die ein sich bewegender Körper nimmt, seine Wirkung auf das Auge niemals | plötzlich abgebrochen und wieder erneuert wird, sondern durch dessen Näherung oder Entfernung allmählich zu- oder abnimmt. Entsteht nun zu einer Zeit, da kein äußerer Gegenstand auf das Gesicht wirkt, z. B. bei verschlossenen Augen, aus innern Ursachen ein Schwindel, d. i. wird die Zeitfolge der Vorstellungen in der Seele widernatürlich beschleunigt; so entstehet in ihr die Empfindung einer wirbelnden Bewegung, ohne daß sie sich der sich bewegenden Gegenstände klar bewußt ist: eine Empfindung, die man ge-

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Zweites Hauptstück

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wöhnlich durch Verwirrung, Beneblung ausdrückt. Ist aber das Gesichtsorgan gerade auf einen Gegenstand gerichtet, so hört dessen Eindruck auf permanent zu scheinen, und erregt in der Seele die Vorstellung der beständigen Wiederholung dieses Eindruckes, und muß sich selbst also ihr in einer Kreisbewegung darstellen. |

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S I E BE N T E R A B S C H N I T T.

Erklärung des Sausens als Symptom des Schwindels — Ursachen, warum die Seele den zu schnellen Fortgang der Vorstellungen leichter für eine Folge von sichtbaren als von hörbaren Eindrücken hält — Erklärung des Doppeltsehens und der Erscheinung falscher Farben beim Schwindel. — Ursachen, warum der Sinnentrug bei der zu Schnellen Folge der Ideen sich nur auf die höheren Sinne erstreckt — Verschiedenheit der Erinnerungsfähigkeit in Ansehung der Vorstellungen verschiedener Sinne — Diese beruhet auf dem verschiedenen Interesse dieser Vorstellungen — Erklärung einer psychologischen Erscheinung.

W

as bei den sichtbaren Gegenständen Ortveränderung, Bewegung ist, ist bei den hörbaren Zeitveränderung, eine Reihe auf einander folgender Schälle; und die Kreisbewegung dort, ist hier öftere Wiederholung eines und desselben Schalles, die, wenn sie widernatürlich schnell bei sehr kleiner Weile geschieht, und wenn die Schälle an sich nicht sehr klingend und vernehmlich sind, die Em | pfindung eines dumpfen Geräusches in der Seele erregt, das unter dem Namen des Sausens, Sumsens oder Brausens bekannt ist. Die Seele gelangt, ohne wirkliche Gegenwart äußerer Schälle, bloß durch innere Ursachen des Schwindels, zu der Vorstellung des Brausens auf eben dem Wege, auf welchem sie zu der Vorstellung der Kreisbewegung gelangt, nämlich vermöge ihrer Geneigtheit überhaupt, lebhafte Vorstellungen vielmehr gewohnten äußern Einwirkungen, als innern Ursachen zuzuschreiben, und daher auch die vermehrte Schnelligkeit der Vorstellungen den schnellen Eindrücken auf die äußeren Organe zuzueignen. Aber freilich hält sie dieselben leichter für eine Folge von sichtbaren, als von hörbaren Eindrücken; und zwar: erstlich, weil überhaupt Bewegungen häufiger in der Natur vorkommen, als Schälle, und besonders Kreisbewegungen der Gegenstände häufiger, als schnelle Wiederholungen einerlei Schalles, und der Seele der Übergang zu solchen Er-

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Zweites Hauptstück

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scheinungen, die sich am öftesten ereignen und ihr am ge | wöhnlichsten sind, leichter wird, als zu seltenen und ihr weniger gewöhnlichen. Zweitens, weil, wie ich oben erwähnt habe, in Ansehung des Schalles die natürliche Weile an sich kürzer ist, und die hörbaren Vorstellungen an sich schneller auf einander folgen, ohne daß sie in Verwirrung geraten, und ohne daß die Seele in ihrer Tätigkeit einige Unbehaglichkeit bemerkt. Wenn nun während des Schwindels die Vorstellungen auf eine gewaltsame Weise fortgerissen werden, und die Seele sich in einem widernatürlichen Zustande fühlt, so ist es sehr begreiflich, daß sie diesen vorzüglich von solchen äußern Veränderungen herleitet, durch deren schnelle Folge ihre natürliche Weile am leichte­ sten in Unordnung gesetzt wird, und bei welcher sie am meisten einen Zwang in ihrer Kraftäußerung spürt, wie dieses bei den sichtbaren Veränderungen der Fall ist. Endlich drittens, macht die Unterstützung, welche die Sinne einander leisten, hier einen wichtigen Unterschied. Es ist weit gewöhnlicher, daß die Gegenstände, die einen Schall von | sich geben, zugleich gesehen, als daß diejenigen, die sich bewegen, zugleich gehört werden. Da nun jeder Trug in Ansehung eines Gegenstandes desto leichter Statt findet, von je wenigern Nebensinnen dieser Gegenstand zugleich erkannt und untersucht werden kann; so muß es auch der Seele leichter werden, sich Bewegungen, als Schälle, vorzustellen, wo keine sind, indem bei diesen der Irrtum dadurch einigermaßen aufgehoben wird, daß kein sichtbarer Gegenstand wahrzunehmen ist, welcher diese Schalle hervorbringt, bei jenen hingegen nichts ist, was die Seele auf den Trug in ihrer Vorstellung aufmerksam machen kann. Nur dann, wenn der Fortgang der Vorstellungen übermäßig geschwind wird, so, daß, er selbst die natürliche Schnelligkeit der Gehörvorstellungen übertrifft, so, daß das Gesicht die Gegenstände nicht mehr deutlich unterscheiden kann, d. i. wenn der Schwindel einen sehr hohen Grad erlangt hat; so kann der Betrug in der Seele sich selbst bis auf das Gehör erstrecken, und eine falsche Vorstellung des Schalles, als | ein Brausen, in ihr entstehen. Daher rechnen Boerhaave und alle übrige Beobachter, die Empfindung des Sausens nicht

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Siebenter Abschnitt

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zu den ersten Zufällen des Schwindels, sondern zu denen, welche sich dann ereignen, wenn er schon bis zu einem ansehnlichen Grade gestiegen ist, und bereits Verdunklung des Gesichts, Ekel, Erbrechen, u. s. w. da sind. Das Doppeltsehen der Gegenstände ist wahrscheinlicher Weise eine Folge von der unordentlichen Bewegung des Nervensaftes. Es ist ausgemacht, daß die einfache Erscheinung eines Gegenstandes, der mit beiden Augen gesehen wird, bloß von der gleichen Wirkung, welche er auf beide Organe macht, abhängt, indem es ein allgemeines Gesetz bei der Seele überhaupt ist, daß völlig gleiche Sensationen in einander übergehen und eine einzige ganze darstellen, woher es denn auch kommt, daß man einen Gegenstand in der Tat zwiefach sieht, so bald man die Achse eines Auges vorsetzlich verschiebt, und dadurch die Sensationen in beiden Augen verschieden macht. Nun kann es nicht | fehlen, daß nicht, bei der großen Schnelligkeit der Vorstellungen und der damit verbundenen übereilten Bewegung des Nervensaftes, dessen Einfluß in die beiden Sehenerven einiger­ maßen auf eine ungleichmäßige Weise geschieht; es müssen folglich die Eindrücke, welche beide von den Gegenständen erhalten, oder vielmehr, nach meiner anderwärts aus einander ­gesetzten Theorie der Empfindung *), der Widerstand, den beide diesen Eindrücken leisten, und die dadurch entstehenden Sensationen verschieden sein, und, das Doppeltsehen notwendig zur Folge haben. Die falsche Erscheinung der Farben hingegen läßt sich, bei unserer eingeschränkten Kenntnis von der Natur derselben überhaupt, schwerer erklären. Vielleicht ist sie eine mechanische Folge von der zu schnellen Bewegung des Nervensaftes, wodurch den Sehenerven eine Modifikation erteilt wird, die sie gewöhnlich von diesen vorgestellten Farben, der bläulichen und grünen, erhalten; | vielleicht ist sie das Resultat verschiedener Farben, welche in der Vorstellung der schnellen Folge ih*) Briefe an Ärzte, fünfter Brief. [Marcus Herz, Briefe an Aerzte. Zweyte Sammlung. Berlin 1784.]

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Zweites Hauptstück

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rer Gegenstände vermischt werden, wie denn in der Tat bei der schnellen Kreisbewegung verschiedenfarbiger Gegenstände, die Erscheinung einer einzigen vermischten, die oft einer regen­ bogenichten ähnlich ist, entsteht; vielleicht – Doch wie gesagt, die Lehre von den Farben ist mit zu vieler Dunkelheit umgeben, als daß ich es wagen sollte, hierüber etwas Bestimmtes vor­ zubringen. Die Ursachen, warum beim schnellen Fortgange der Vorstellungen aus innern Veränderungen der Sinnentrug sich gerade auf das Gesicht und das Gehör, und niemals auf einen der übrigen Sinne erstreckt, sind sehr leicht einzusehen, wenn man bedenkt: daß die Eindrücke der niedern Sinne in der Natur selten oder gar nicht mit Schnelligkeit auf einander folgen, und daß die Seele ihrer minder gewohnt ist, und daher nicht mit Leichtigkeit zu ihnen übergehet; daß ferner, wie ich schon oben erwähnt habe, selbst die einzelnen Eindrücke des Geschmacks, Geruchs | und Gefühls von der Seele mit Schwierigkeit gefaßt werden. Wenn daher verschiedene Arten derselben schnell auf einander folgen, so gehen sie in einen einzigen vermischten Eindruck über, und die Seele erhält keine Vorstellung e­ iner folgenden Mannichfaltigkeit, sondern einer einzigen aus allen diesen Eindrücken vermischten Sensation; so machen z. B. das Süße, Saure, Bittere, Herbe, wenn sie geschwind auf einander folgen, keine Reihe schnell abwechselnder Eindrücke in der Seele, sondern einen aus allen vieren zusammen gesetzten; (welches auch vom Geruche und Gefühle gilt;) und daß endlich das Erinnerungs- so wie das Einbildungsvermögen überhaupt in Ansehung der Gegenstände höherer Sinne weit stärker und lebhafter ist, als in Ansehung der Gegenstände der niedern Sinne. Wir können uns mit weit mehr Leichtigkeit und Lebhaftigkeit einmal empfundene Farben und Töne wieder in der Erinnerung vorstellen, als empfundene Gerüche, Gefühle und Geschmacksarten. Wir erinnern uns oft mit der größten Klarheit, die der wirklichen Empfin | dung nur wenig nachgibt, gesehener Gegenstände oder gehörter Melodien aus unserer frühesten Jugend; aber niemand kann sich den Geruch einer Viole, den

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Siebenter Abschnitt

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­ eschmack der Säure oder das Nagende eines Schmerzes, so oft G er sie auch in seinem Leben empfunden hat, in seinem Gedächtnisse oder in seiner Einbildung mit einem Grade der Klarheit hervorrufen, welcher der wirklichen Empfindung nur im mindesten nahe käme. Der große philosophische Arzt Cullen macht die richtige Bemerkung, daß wir nie Geruchssensationen träumen; und wenn ich mich nicht irre, so gilt eben dies von der Geschmacksempfindung. Wenn die Einbildung uns im Schlafe an die köstlichste Tafel setzt, so erregt sie in uns doch nie die lebhafte Geschmacksvorstellung irgend eines Gerichts, so wie sie uns Bilder vorzeigt, oder Töne vernehmen läßt. – Es ist also sehr natürlich, daß, wenn die Seele einmal innere Veränderungen auf eine trügliche Weise äußeren Empfindungen zuschreibt, sie sich leichter solche vorstellt, deren Erinnerung und Vorbildung ihr ohnedies geläufiger sind, als | solche, die sie bei der größten Anstrengung auf keine klare Weise in sich erwecken kann. Worauf übrigens diese Verschiedenheit des Erinnerungs- und Bildungsvermögens bei den verschiedenen Sinnenarten eigentlich beruhet, ist eine Untersuchung, die nicht hieher gehört. Wahrscheinlicher Weise rührt sie von der verschiedenen Verbindung her, in welcher die Empfindungen mit andern Vorstellungen stehen. Es ist aus der Psychologie bekannt, daß das Erinnerungs-, so wie das Bildungsgeschäft von dem Gesetze der Assoziation abhängt. Mit je mehreren Vorstellungen eine Empfindung in Verbindung steht, desto interessanter ist sie, und desto leichter wird sie in der Seele wieder hervorgerufen, indem es alsdann eine größere Menge Ideenreihen gibt, durch welche sie auf dieselbe geleitet wird. Eben so wird durch diese Menge Nebenideen die Vorstellung der Empfindung mit stärkerem Nachdruck und größerer Lebhaftigkeit der Seele vergegenwärtigt. So ist es z. B. eine bekannte Erfahrung, daß wir, besonders Mannspersonen, unser | eigenes Gesicht sehr wenig kennen, ob wir es gleich zuverlässig öfter vermittelst des Spiegels gesehen haben, als das Gesicht anderer Menschen, das zuweilen nach einem einmaligen Anblick nie aus unserer Einbildung verschwindet. Die Ursache ist, weil dieses uns nie ein lediges An-

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Zweites Hauptstück

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schauen gewährt, sondern immer mit einer Menge deutlicher oder dunkler Vergleichungen und physiognomischer Urteile über Charakter, Gesinnungen, Geistesfähigkeiten, u. s. w. in der Seele verbunden ist. Diese verstärken den Eindruck, und sind in der Folge eben so viele Mittel, den Gegenstand von neuem leicht und lebhaft vorzubilden. Dem Anblick unsers eigenen Gesichtes hingegen fehlen alle diese Nebenverbindungen; wir stellen bei demselben weder Vergleichungen noch Reflexionen über unser Inneres an; das Bild schwebt ganz isoliert in der Seele, und verschwindet mit dem Eindrucke. Unter Frauenzimmern, denen ihr Gesicht ein wichtiges Studium ist, das alle ihre Seelenkräfte in Beschäftigung setzt, findet man daher in der | Tat viele, die es sich bis auf den sanftesten Bug, bis auf das kleinste Fältchen lebhaft vorstellen können. – Nun sind die Gegenstände der höheren Sinne überhaupt weit interessanter, als die Gegenstände der niedrigen. Jedes Bild oder jedes Tonganze ist mit einer Menge Nebenvorstellungen wesentlich verbunden; es werden dadurch Gemütsbewegungen, Urteile und Vergleichungen in der Seele rege gemacht, die, so oft sie in der Seele von neuem entstehen, dieselbe auf jene Vorstellungen zurückführen. Hingegen sind die Geschmacks-, Geruchs-, und Gefühls-Sensationen von allen wichtigen Nebenvorstellungen ganz entblößt, und nur mit solchen verbunden, mit denen sie in einem schwachen Verhältnisse stehen, im Verhältnisse der Zeit oder des Orts, welche sie überdies wegen ihrer eigenen Stärke, mit der sie auf die Seele wirken, und sie ganz einnehmen, in einem merklichen Grade verdunkeln. Es fehlt also der Seele, sobald diese Empfindungen vorüber sind, an den erheblichsten Hilfsmitteln, auf deren Vorstellung geleitet zu werden. |

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AC H T E R A B S C H N I T T.

Erklärung des Erbrechens, Ekels, der Furcht zu fallen, des wirklichen Fallens und der übrigen Symptome des Schwindels.

D

as Erbrechen und dessen Vorgänger, der Ekel, ist, wie ich bereits bei einer andern Gelegenheit auseinander gesetzt habe *), eine Folge von dem Mißverhältnisse zwischen der Tätigkeit der länglichten, zirkelförmigen und schiefen Muskelfasern des Magens. Die regelmäßige oder unregelmäßige Tätigkeit dieser Fasern hängt aber, so wie die Tätigkeit der Muskeln überhaupt, von den mit ihnen verbundenen Nerven und der Bewegung des Saftes in denselben ab. Daher sind Ekel und Erbrechen so gewöhnliche Zufälle bei den so genannten Nervenkrankheiten aller Art, wo bald durch einen Reiz, bald | durch Krämpfe, bald durch Schwäche die Bewegung des Nervensaftes unordentlich, und dessen Einfluß in verschiedene Teile des Körpers unregelmäßig geschieht. Wenn nun bei der zu schnellen Folge von Vorstellungen, wie es beim Schwindel der Fall ist, die Absonderung des Nervensaftes im Gehirne gleichfalls beschleunigt wird; so muß dessen Einfluß in die Nerven übereilt, und natürlicher Weise dessen verhältnismäßige Verbreitung in den verschiedenen Teilen, worauf der Wohlstand der ganzen körperlichen Ökonomie vorzüglich beruhet, unterbrochen werden. Daß aber diese Unordnung ihre nachteilige Wirkungen eher auf den Magen, als auf die übrigen Teile des Körpers äußert, kann niemanden auffallen, dem aus pathologischen Erscheinungen die vorzügliche Übereinstimmung (Consensus) zwischen dem Magen und dem Gehirne bekannt ist. Per Ekel und das Erbrechen bei Kopfwunden, und die widernatürlichen Gehirnzufälle bei

*) Briefe an Ärzte, erster Brief. [Marcus Herz, Briefe an Aerzte. Zweyte Sammlung. Berlin 1784.]

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Zweites Hauptstück

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übeler Beschaffenheit des Magens, sind Dinge, welche die tägliche Erfahrung lehrt. | Eben diesem Mißverhältnisse in dem Einflusse der Lebensgeister ist auch die Furcht zu fallen und das wirkliche Fallen beim Schwindel zuzuschreiben. Wir erhalten uns aufrecht bloß durch das Gleichgewicht, in welchem die Gegenwirkungen der antigonistischen Muskeln sich befinden, oder in welches wir sie willkürlich zu setzen suchen. Sobald aber die Wirkung des ­einen Gegenmuskels im Verhältnis mit dem andern widernatürlich verstärkt oder geschwächt wird; so wird das Gleichgewicht aufgehoben, und der Körper muß auf der Seite fallen, wo die Tätigkeit am geringsten ist. Dieses Gleichgewicht hängt aber von dem verhältnismäßigen Einflusse des Nervensaftes in die Antigonisten ab, und muß folglich unterbrochen werden, sobald dieser gestört wird. Da nun bei dem Schwindel die Absonderung des Nervensaftes mit übereilter Schnelligkeit geschieht, so muß dessen Einfluß, so wie in alle Teile überhaupt, auch in diejenigen Muskeln, die zur Aufrechthaltung des Körpers dienen, unregelmäßig geschehen, und nachdem er bald in den ­einen | bald in den andern dieser sich entgegengesetzten Muskeln stärker oder schwächer ist, muß der Schwerpunkt bald auf diese bald auf jene Seite hinausweichen, der ganze Körper in ein Wanken geraten, die Furcht zu fallen entstehen, und, wenn die Abweichungen des Schwerpunkts sehr groß sind, oder sehr schnell auf einander folgen, ein wirkliches Fallen erfolgen *). | *) Ich finde in einer Hallischen Dissertation (Vertiginis genesin publ. defend. E. C EICHNER 1758) eine Erklärung dieser Erscheinung, der es ganz und gar nicht an Scharfsinn fehlt. Hier ist sie: § V. Illud jam exponendum restat, undenam sub hac rotatione voluntaria metus lapsus oriatur, imo praesertim in debilioribus, si per longius tempus eandem continuarint, ipse lapsus sequatur. Quod mihi quidem inde contingere videtur, quia sub circulari hoc motu, axis visionis, ad objecta opposita visibilia continuatus, vix in eodem semper plano horizontals movetur; sed nunc magis versus terram inclinatur, nunc vero magis elevatur, ita ut distantia extremi punclti axis, versus objecta producti, a terra versus hanc quidem regionem major sit, versus illam vero minor. Cumque anima hujus motus oculi sui, quo visionis axis jam deprimitur, jam elevatur, ob attentionem

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Achter Abschnitt

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Man muß aber auch den Umstand in Erwägung ziehen, daß außer dem aufgehobenen Gleichgewichte, der Nervensaft, so wie alle übrige Säfte, durch die zu häufige Absonderung vermindert und endlich erschöpft wird; | und da auf dem Vorrat ad objecta, sibi non sit conseia: hinc denuo fallitur, ut sibi persuadeat, planum, in quo corpus per circulum incedit, hic elevatum, illic vero depressum esse; vel, quod idem est, corpus incedere in piano inclinate. | 280 | Quoniam vero legem illam, per longam experientiam, probe novit, quod in plano inclinato corpus incedere, vel eidem insistere non possit in recto ad planum istud situ, quia tunc centrum gravitatis non intra pedes caderet, adeoque corpus in terram procideret; sed quod incedere debeat in situ, ad planum inclinatum, obliquo ut centrum gravitatis intra pedes retineatur: hinc, quia corpus plano inclinato, adeoque centrum gravitatis alterius pedis extremitati cuidam tantum insistere credit, transferre hoc cen­ trum conatur in medium intra pedes spatium, ut corpus fussicienter suffulciatur; quo ipso tamen revera centrum hoc extra basin, quam pedes constituunt, transfertur, ut adeo corpus vacillet, imo tamdem concidat. – Freilich ist es schade, daß dies Erklärung nur alsdann Statt findet, wenn der Schwindel von einer wirklichen Kreisbewegung des Körpers entsteht; da aber dieselbe Erscheinung bei jeder Art Schwindel, auch wenn er von innern Ursachen herkommt, und der Körper völlig in Ruhe ist, sich ereignet: so steht man wohl, daß diese Erklärung nicht hinreicht, sondern daß man sie weiter hinauf in dem Absonderungsgeschäfte des Nervensaftes selbst suchen muß. – Übrigens scheinen mir auch die beiden Anmerkungen, die der V. hinzufügt, wichtig genug, hier angeführt zu werden: Schol, I. Praeterea facile quivis intelliget, effectus yoluntariae hujus rotationis, sensationem scilicet illam gravativam in capite, | 281 | perceptionem rotationis perdurantem et vacillationem differre pro diversis circumstantiis, sub quibus ­motus hicce instituitur; v. g. pro majore minoreve illius, qui in gyrum vertitur, robore; pro celeritate motus, er magnitudine diametri istius circuli, qui incedendo describitur. Quo celerior enim iste est motus, et in quo arctioribus sit limitibus, seu quo minor circulus describitur; eo plures in oculo breuiori tempore pinguntur imagines, eo celerius quaevis radiorum incidentium actiones sese excipiunt, eo minus distincte quaelibet in retinae fibrillis, earumque spiritibus, a radiis facta impressio propagari potest, eo confusiores in anima oriuntur ideae, adeoque eo major atque gravior hujus rotationis est effectus. – Schol. 2. Num fortasse et illud ad ingratam sensationem et vacillationem corporis sub rotatione et post eandem aliquid confert, quod aequilibrium virium motricium tollatur? Siquidem alter pes majorem, alter vero minorem circulum deseribit, adeoque in motu prioris plures, posterioris vero pauciores vires spiritusque consumuntur, quod alias sub consueto motu corporis voluntaria fieri non solet. Num et major sub rotatione humorum sit affluxus? Spirituum affluxus ad retinam, utique major esse debet. Num vero

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Zweites Hauptstück

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des­selben das ganze Empfindungs- und Bewegungsgeschäft beruhet, so muß aus dessen Mangel so wohl eine Schwäche in den Muskeln entstehen, wodurch sie | zur Unterstützung der Last des Körpers unfähig werden, als auch eine Untätigkeit in den sinnlichen Werkzeugen, ferner eine gänzliche Verdunkelung des Gesichts, der Verlust der übrigen Sinne, des Bewußtseins, zuweilen auch Ohnmacht und Schlagfluß. |

etiam aliae partes nervosae simul irritantur, quae tactui tantum inseruiunt, et majorem humorum affluxum versus anteriorem capitis partem invitare possent? [Ernst Christian Eichner, Dissertatio inauguralis medica de Genesi Vertiginis. Halle 1758.]55

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D R I T T E S H AU P TS T Ü C K . E R S T E R A B S C H N I T T.

Entwickelung der allgemeinen Einteilung der Krankheitsursachen in wirkende, prädisponierende, nächste und gelegentliche — Einteilung der gelegentlichen in wirkende und disponierende — Einteilung der Krankheiten in verschiedene Klassen nach der verschiedenen Beschaffenheit ihrer gelegentlichen Ursachen, in wie fern sie innere oder äußere sind — Wichtigkeit dieser Einteilung in Absicht auf die verschiedene Behandlungsart der Krankheiten, und auf die Erklärung ihrer Erscheinungen — Bestätigendes Beispiel von den Pocken.

I

ch habe bisher das Wesen und die Zufälle des Schwindels aus einander gesetzt, und gehe nun zu der Untersuchung seiner Ursachen: einer Untersuchung, die überall in dem Geschäfte des Arztes bei weitem das wichtigste ausmacht. Aber man erlaube mir, zum Be | huf einiger folgenden nicht ganz unerheblichen Betrachtungen, eine allgemeine Einteilung der Krankheitsursache überhaupt in diesem Abschnitte voranzuschicken. Jede Veränderung in der Körper-, so wie in der Geisterwelt, setzt zwei notwendige Bedingungen voraus: die Gegenwart einer Tätigkeit, und die Gegenwart eines Leidens; d. i. einer Kraft, welche den Gegenstand aus seinem vorigen Zustand in einen andern versetzt, und einer Fähigkeit des Gegenstandes, in diesen neuen Zustand übergehen zu können. Dieselbe Kraft welche im Wachse einen Eindruck hervorbringt, kann es nicht in einem Steine, weil diesem die Fähigkeit zur Annahme der Wirkung, nämlich die Weichheit, fehlt. Es muß also bei jeder Veränderung eine Tätigkeits- und eine Empfänglichkeitsursache, eine causa activitatis und eine causa receptivitatis, vorhanden sein. Eben dies gilt von jeder widernatürlichen Veränderung des menschlichen Körpers. Es muß bei jeder Krankheit eine Ursache gegenwärtig sein, welche den Körper in den | widernatür-

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Drittes Hauptstück

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lichen Zustand setzt, und eine andere, welche ihn zu der Annahme desselben fähig macht. Ohne jene bleibt er in seiner natür­lichen Verfassung, und ohne diese ist jene ohne Wirkung. So ist z. B. derselbe Grad von Umlauf und Druck des Blutes in den Lungen, der bei einem Menschen ein Blutspeien erregt, nicht im Stande, aus jedem andern gefäßigen Teile des Körpers von mehr Dichtheit und Festigkeit, oder aus den Lungen jedes andern Menschen, einen Blutfluß hervorzubringen. Es muß in den Lungen eine Anlage dazu, eine verhältnismäßige Schwäche in ihren Gefäßen sein, welche sie fähig macht, dem Drucke nachzugeben, und sie zwingt, dem andringenden Blute durch Erweiterung ihrer Mündungen oder durch Zerreißung ihrer Stämme freien Lauf zu lassen. So teilen sich contagiöse Krankheiten nicht allen Menschen ohne Ausnahme mit, sondern nur denjenigen, bei denen Mischung und Beschaffenheit der Säfte die Aufnahme des Giftes begünstigen. Daher ist das Leiden von epidemischen Seuchen nicht all | gemein; daher mißrät das Ein­ impfen der Pocken öfters. Diese beiden erwähnten Ursachen sind in den Schulen unter den Namen wirkender (causa efficiens) und vorbereitender (causa praedisponens) bekannt. Jene ist die Tätigkeits- diese, die Empfänglichkeitsursache; und beiden zusammen gibt man die Benennung der nächsten Ursache, (causa proxima morbi). Da aber diese nächste Ursache selbst wieder ihre Ursache hat, so setzt die vollständigere Vernunftgemäßheit des Heilgeschäfts noch die Kenntnis derselben bei dem Arzte voraus, damit er im Falle, wenn eine von beiden nächsten Ursachen im Körper vorhanden ist, das Hinzustoßen der andern, und folglich den Ausbruch der Krankheit, verhindern, und im Falle, daß beide bereits gegenwärtig sind, dasjenige wegräumen könne, was ihre Wirkung unterhält und die Krankheit immerfort vergrößert. Nun sieht man leicht, daß diese Ursachsursachen wieder ihre Ursachen, und diese wieder die ihrigen, und so immer weiter haben | müssen. Man nennt daher diese ganze heraufsteigende Reihe von Ursachen schlechtweg entfernte Ursachen (causae remotae). Nur derjenigen, welche der nächsten unmittelbar vor-

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Erster Abschnitt

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hergehet und gewöhnlich die Aufmerksamkeit des Arztes am mei­sten erfordert, hat man die besondere Benennung gelegentliche Ursache (causa occasionalis) beigelegt. Es versteht sich nun von selbst, daß, da die nächste Ursache aus einer wirkenden und ­einer prädisponierenden zusammengesetzt ist, es auch eine zwiefache gelegentliche geben muß; eine gelegentliche wirkende und eine gelegentliche prädisponierende. So ist, um mein voriges Beispiel zu behalten, bei dem Blutspeien die nächste wirkende Ursache ein zu starker Druck des Blutes auf die Lungengefäße. Die Ursache dieses Druckes kann ein zu heftiger Blutumlauf sein; dieser kann wieder von fieberhaften Bewegungen, diese von angehäuften Unreinigkeiten in den ersten Wegen, diese von geschwächter Verdauungskraft u. s. w. abhangen, welche zusammen die Reihe der entfernten wirkenden Ursachen ausma | chen, unter denen der zu starke Druck des Blutes die gelegentliche wirkende ist. Eben so ist die disponierende Ursache dieser Krankheit eine nach Verhältnis zu große Schwäche der Lungengefäße. Diese kann eine Folge von der allgemeinen Schwäche der festen Teile, diese von der zu starken Ausdehnung ihrer Fasern, diese von angehäuften Feuchtigkeiten, diese von unterdrückten Ausleerungen, diese von Krämpfen u. s. w. sein. In dieser Reihe entfernter disponierender Ursachen ist die Schwäche der Lungengefäße die gelegentliche disponierende. Diese Einteilung führt mich auf die Betrachtung einer Verschiedenheit unter den Krankheitsursachen, die, wegen ihres wichtigen Einflusses auf die vernünftige Kurart, in der Aithiologie nicht unbemerkt bleiben sollte, so wenig ihrer auch in den Lehrbüchern besonders Erwähnung geschieht. Ich meine die Verschiedenheit in Ansehung der Gegenwart dieser Ursachen, innerhalb oder außerhalb des Körpers. | So viel ist gewiß, die nächste Ursache, die wirkende sowohl als die disponierende, muß beständig innerhalb des Körpers sein, indem die Veränderungen, aus welchen beide bestehen, notwendig unmittelbar den Körper betreffen müssen, wenn die durch sie entstehende Krankheit sich als Erscheinung darbieten soll.

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Drittes Hauptstück

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Was hingegen die gelegentlichen Ursachen, die wirkende so wie die disponierende, betrifft; so können entweder beide in der Beschaffenheit des Körpers selbst gegründet, und folglich innerliche, oder Folgen von äußern Veränderungen und daher äußerliche sein. Es kann aber auch die wirkende eine innere und die disponierende eine äußere, oder auch umgekehrt, jene eine ­äußere, und diese eine innere sein. Dies macht den Grund aus, die Krankheiten, nach der Verschiedenheit ihrer gelegentlichen Ursachen, in vier verschiedene Klassen einzuteilen. Der sogenannte Marasmus des Alters, oder diejenige Krankheit, welche natürlicherweise dem zeitigen Ende des menschlichen Lebens | unmittelbar vorhergehet, gehört zu der ersten Klasse, deren beide gelegentliche Ursachen innere sind. Unsere festen Teile sind dem allgemeinen Gesetze aller Körper unterworfen, durch die anhaltende Bewegung und Reibung allmählig abgenutzt zu werden. Die Feuchtigkeit zwischen ihren Bestandteilen verfliegt; dadurch müssen diese näher zusammenrücken, die Gefäße steif, unbiegsam und folglich zur Bewegung und zum Forttriebe der in ihnen enthaltenen Säfte untauglich werden. Da aber von diesen der Wohlstand und die Fortdauer unserer ganzen Maschine abhängt; so ist es leicht begreiflich, daß die Funktionen aller Art sich immer mehr und mehr verschlimmern und die Lebenskräfte überhaupt abnehmen müssen. Hier ist die ganze gelegentliche Ursache keine Folge einer außerkörperlichen Veränderung, sondern sie entstehet von der notwendigen Einrichtung unsers Körpers: und zwar die wirkende von der Tätigkeit der flüßigen Teile, welche durch ihre anhaltende Wirkung auf die festen sie endlich abreiben und widernatürlich verän | dern; die disponierende aber, von der allgemeinen Eigenschaft der festen, durch anhaltende Wirkung und Gegenwirkung ihre natürliche Fähigkeit zu verlieren. – Dahin gehören auch, außer dem eigentlichen Marasmus, alle diejenige Zufälle, denen das hohe Alter ausgesetzt ist, als z. B. Schlagflüsse, Lähmungen, Ohnmachten, Schlafsucht, Schlaflosigkeit, u. s. w. Diese pflegen öfters ohne irgend eine äußere Veranlassung bloß als eine Folge der natürlichen vom Alter unzertrenn-

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lichen Schwäche sich einzufinden. – Zu dieser ersten Klasse kann man ferner den größten Teil derjenigen Krankheiten zählen, die, zufolge der innern Einrichtung der Maschine, mit der Abänderung der Jahre, mit der Verschiedenheit des Geschlechts und des Temperaments notwendig verknüpft sind; wir z. B. die Schmerzen der Kinder beim Zahnen, die Zufälle bei dem Ausbruche und dem Aufhören der monatlichen Reinigung, die Geburtswehen, u. s. w. Diese, obgleich ein allzuheftiger Grad derselben allerdings eine äußere gelegentliche Ursache voraussetzt, | welche die nächste dieses stärkern Grades in dem Körper hervorbringt, gehören dennoch in eingeschränkterem Maße zu den notwendigen Veränderungen, denen der Körper vermöge seines Baues und der Beschaffenheit seiner Teile unterworfen sein muß; wiewohl sie doch unstreitig, selbst im geringsten Grade, insofern sie immer mit Schmerzen oder unvollständiger Ausübung der Funktionen verbunden sind, für Krankheiten gehalten werden müssen. Die zweite Klasse, wo beide gelegentliche Ursachen äußere sind, begreift die häufigsten und gefährlichsten Krankheiten unter sich. Aber da gewöhnlich die Gegenwart der nächsten dispo­ nierenden Ursache im Körper der Zeit nach für früher, als die Gegenwart der nächsten wirkenden (welche gleichsam in einem Augenblick durch ihr Hinzukommen die Krankheit hervorbringt) gehalten wird: so nehmen die Ärzte zwar gemeiniglich insofern auf jene Rücksicht, als sie sich eine längere oder kürzere Zeit vor dieser in dem Körper befunden, indem die Schwierigkeit | sie zu heben mit diesem Umstande offenbar in einem genauen Verhältnisse stehet; weniger aber auf die Art ihres Ursprunges, in wie fern er ein innerlicher oder ein äußerlicher, d. h. in wie fern die gelegentliche disponierende Ursache selbst eine innere oder eine äußere ist. Und dennoch ist auch diese Rücksicht zur Kenntnis der verschiedenen Arten Krankheiten zu behandlen, der gründlichen und der palliativen, öfters von vieler Erheblichkeit. Denn der wesentliche Unterschied beider beruhet, wie ich in der Folge zeigen werde, lediglich auf der mehr oder minder gründlichen Wegräumung der nächsten Ursache,

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und es ist in die Augen fallend, daß diese keine geringe Abänderung leiden muß, nachdem die gelegentliche, wirkende so wohl als disponierende, bloß eine äußere, oder eine innere ist. – Ein Beispiel von dieser Klasse Krankheiten kann wieder das Blutspeien geben, wenn nämlich dessen disponierende Ursache (die Schwäche der Lungen) weder eine angeborne absolute, noch eine relative im Verhältnis mit dem hinzugekom | menen verstärkten Blutumlauf ist, sondern wenn durch irgend eine äußere Ursache, z. B. das Einatmen einer unelastischen Luft oder schädlicher Dünste, die Lungen und ihre Gefäße eine absolute Schwäche bekommen haben, wodurch sie unvermögend geworden sind, dem durch äußere Ursachen vermehrten Antriebe des Blutes Widerstand zu leisten, und demselben, sobald er sich einfindet, nachgeben müssen. Es ist leicht einzusehen, daß in den meisten Fällen, welche zu dieser Klasse gehören, die disponierende Ursache schon vorher, ehe noch die wirkende hinzukommt, selbst als eine eigene wirkende einer andern Krankheit in dem Körper gegenwärtig sein muß. So muß z. B. in dem oben erwähnten Falle die absolute Schwäche der Lungen, wenn gleich noch kein verstärkter Antrieb des Blutes vorhanden ist der eine Zerreißung ihrer Gefäße hervorbringt, für sich andere widernatürliche Zufälle ­erregen, die unter dem Namen anderer Krankheiten erscheinen. Denn ist anders der natürliche Zufluß des Blutes nach | diesen Teilen, nachdem diese absolute Schwäche in ihnen entstand, unverändert geblieben; so kann es nicht fehlen, es müssen Kurzatmigkeit und Engbrüstigkeit sich einfinden, es müssen notwendig, da die Lungen nicht genugsam gegenwirken können, Verstopfungen in den Gefäßen entstehen, die nachher dem freien Durchgange des Blutes Hindernisse in den Weg legen. Gesetzt aber, daß zu gleicher Zeit der natürliche Hinfluß des Blutes nach diesen Teilen verhältnismäßig abgenommen hat, so wird er, wenn nicht zugleich die Menge des Blutes im Ganzen vermindert worden, nach einem andern Orte desto stärker sein müssen, und daselbst entweder widernatürliche Ausleerungen oder Stockungen in den Gefäßen, Entzündungen, Geschwülste u. s. w. hervor-

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bringen. Und so verhält es sich fast überall, sobald die disponierende Ursache von außen entstehet. Sie mag auf einmal in einem merklichen Grade entspringen oder allmählig bis zu einer ansehnlichen Höhe heranwachsen; so muß sie selbst die wirkende Ursache solcher Krankheiten | werden, deren disponierende Ursache bereits im Körper vorhanden war. Es ist unmöglich, daß, sobald das Gleichgewicht zwischen Wirkung und Gegenwirkung, Bewegung und Ruhe, Anhäufungen und Ausleerungen im, menschlichen Körper von einer Seite aufgehoben wird, in der ganzen Maschine keine Unordnung entstehen sollte. Zu der dritten Klasse gehören diejenigen Krankheiten, ­deren gelegentliche wirkende Ursache zwar eine äußere, aber von der Art oder in dem Grade ist, daß sie, um wirksam sein zu können, keine besondere widernatürliche Anlage im Körper, sondern bloß seine natürliche Beschaffenheit als disponierende Ursache voraussetzt, und daher ihre Wirkung ohne Unterschied in jedem menschlichen Körper hervorbringt. Dahin gehören alle äußerliche gewaltsame Verletzungen. Diese laufen alle auf die Trennung des Stetigen hinaus, und erfordern daher keine andere Disposition, als die Gegenwart der Stetigkeit und die Fähigkeit getrennt zu werden, beides Eigenschaften, welche die Teile des | menschlichen Körpers, um ihre bestimmte Funktionen gehörig verrichten zu können, notwendig besitzen müssen. Von der Art sind ebenfalls die Krankheiten, welche durch die Wirkung korrosiver Körper in dem Magen und den Gedärmen entstehen. Es ist zu dem Geschäfte dieser Teile unumgänglich notwendig, daß sie durchaus mit einer empfindsamen Nervenhaut bekleidet sind; sie besitzen daher eine natürliche innere Disposition, von ätzenden Körpern angegriffen zu werden und allen Folgen unterworfen zu sein, welche ein heftiger Reiz solcher empfindlichen Teile nach sich ziehen muß. Dahin gehören ferner die epidemischen Krankheiten, welche von einem ansteckenden Miasma, zu dessen Aufnahme die Säfte aller Menschen schon von Natur disponiert sind, abhangen, und wider welche daher die Abhaltung der wirkenden Ursache, nämlich der Ansteckung, das einzige Vorbauungsmittel ist.

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Ich mag aber nicht so verstanden werden, als behauptete ich: bei dieser Klasse von Krankheiten sei die besondere Disposition | einzelner Menschen von gar keinem Einflusse; dies wäre wider alle Wahrscheinlichkeit und Erfahrung, indem die Disposition, welche die wirkende Ursache begünstigt, zwar eine natürliche Beschaffenheit des Körpers, aber doch dem Grade nach bei verschiedenen Menschen einer großen Verschiedenheit fähig ist. Es müssen also bei ihnen auch die Folgen einer und derselben wirkenden Ursache in Ansehung der Heftigkeit sehr verschieden sein. So kann z. B. ein leichter Druck von außen bei einem Menschen, der mit festen Fasern und guten Säften versehen ist, bisweilen nur einen geringen Schmerz, und bei einem andern von mürben festen Teilen und scorbutischer Leibesbeschaffenheit Geschwülste, Austretungen und Blutflüsse verursachen. Auch die Zufälle epidemischer fauler Krankheiten sind bei denen heftiger, und mit gefährlichern Umständen verbunden, deren Säfte ohnedies schon eine Neigung zur Fäulnis haben. Der Charakter dieser Klasse bestehet also darin, daß die einzelnen Dispositionen zwar auf den schwächern oder | stärkern Grad der Zufälle, aber nicht auf deren Dasein überhaupt von Einfluß sind, indem dieses, vermöge der allgemeinen natürlichen Disposition, immer eine unfehlbare Folge der wirkenden Ursache ist. Die katarrhalischen Zufälle, denen Viele bei schnellem Wetterwechsel unterworfen sind, haben ihre disponierende Ursache in der subtilen und reizbaren Beschaffenheit, welche den Einsaugungs- und Ausdünstungsgefäßchen überhaupt eigen ist, vermittelst deren sie sich leicht zusammenziehen, ihre enthaltene Feuchtigkeiten in Stockung geraten, und entzündungsartige Fieber erregen. Gleichwohl sind sie von so verschiedener Wirkung, daß derselbe Grad von Erkältung bei Einigen nur eine mäßige Veränderung hervorbringt, bei Andern aber, welche schlaffere und empfindlichere Gefäße haben, und von denen man zu sagen pflegt, daß sie zu Flüßen geneigt sind, die erschrecklichsten Übel erzeugt. Was die vierte Klasse von Krankheiten betrifft, bei welchen die gelegentliche wir | kende Ursache eine innere ist, und die gelegentliche disponierende von außen hinzukommt; so fällt diese

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Erster Abschnitt

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mit der vorhergehenden zusammen. Denn obgleich der unterscheidende Charakter der disponierenden Ursache darin bestehet, daß sie die Wirkung nicht eigentlich hervorbringt, sondern nur dem Körper die Fähigkeit erteilt, die Wirkung einer andern Ursache anzunehmen; so pflegt man doch mit dem Begriffe derselben auch den Umstand zu verbinden, daß sie schon vorher, ehe die wirkende Ursache eintritt, im Körper gegenwärtig sei, und man nimmt daher sie selbst für die wirkende, sobald sie erst auf die eigentlich wirkende folgt und mit ihrer Erscheinung die Krankheit unmittelbar entstehet. Ich wähle wieder das Blutspeien zum Beispiel. Gesetzt, daß ein junger Mensch, bei welchem schon von Natur eine größere Menge Blut nach den oberen Teilen hingehet, durch irgend eine äußere Ursache, z. B. durch den Aufenthalt in einer feuchten erschlaffenden Luft, Blut auswirft; so bleibt doch immer in genauem Ver | stande der verstärkte Antrieb des Blutes nach den Lungen die wirkende Ursache, und die erlittene Erschlaffung, welche die Lungen bloß der Fähigkeit beraubt, jenem Antriebe zu widerstehen, die dispo­ nierende. Gleichwohl wird die letzte gewöhnlich für die wirkende, und die heftige Bewegung des Blutes, als eine mit dem Alter des Kranken verbundene natürliche. Beschaffenheit, für die disponierende angesehen. – In der Tat ist auch in Ansehung der Kurmethode diese Klasse von Krankheiten von der vorigen wenig verschieden; und man kann in den meisten Fällen derselben, ohne einen merklichen Fehler zu begehen, die hinzukommende Ursache als die wirkende, und die bereits vorhandene als die disponierende behandeln. Diese bisher vorgetragene Einteilung der gelegentlichen Ursachen, so sehr sie auch den Schein einer leeren Spekulation an sich tragen mag, ist dennoch in Ansehung der verschiedenen Kurart, der gründlichen und palliativen, worauf wahrlich nicht wenig ankommt, von der äußersten Erheblichkeit, | welches ich bei einer andern Gelegenheit ausführlicher zu zeigen, mir vorbehalte. Und wenn sie auch eine bloße Spekulation wäre, so ist sie doch sicher keine leere. Die genaue Charakterkenntnis der Ursachen gibt oft die klärsten Aufschlüsse über das Wesen der

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Drittes Hauptstück

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Krankheiten selbst, so wie die mangelhafte Unterscheidung derselben nicht selten die Erklärung der Krankheiten und ihrer verwickelten Symptome äußerst schwierig macht. Ich will zur Bestätigung des eben Erwähnten, unter vielen Beispielen, die Pocken wählen. Diese Krankheit hat, so wie mehrere ähnliche, das Besondere, daß von der einen Seite ein eigenes Miasma bei ihr zum Grunde liegt, welches durch die Ansteckung, und zwar bloß durch diese, sich von einem Menschen zum andern mittelbar oder unmittelbar fortpflanzt. Dies zeigt die Erfahrung, indem man durch Einpfropfung des Pockengiftes die Krankheit vorsetzlich erregen und sich vor derselben durch Vermeidung der Ansteckung bewahren kann, und indem es ganze Völkerschaften gibt, die sich vermit | telst dieser Vorsicht, bis in die spätesten Zeiten vor derselben bewahrt haben. Aber von der andern Seite ist diese Krankheit auch eine epidemische, und die Fortpflanzung der Ansteckung selbst hängt von der Beschaffenheit der Luft ab, indem sie zu gewissen Zeiten erstaunliche Schritte macht, und sich fast über alle Menschen, welche der Infektion ausgesetzt sind, zu andern Zeiten aber nur über die wenigsten erstreckt. Die Pocken scheinen also eine zwiefache gelegentliche wirkende Ursache zu haben. – Die Erfahrung lehrt ferner, daß sie, so wie jede andere Krankheit, eine disponierende Ursache voraussetzen, die aber nicht, wie viele glauben, eine natürliche angeborne im Körper beständig gegenwärtige ist, sondern eine solche, die zur gelegentlichen eine äußere hat; denn es gibt keine Ansteckung, die völlig allgemein wäre. Kinder, welche die Krankheit noch nicht gehabt haben, sind oft mit blatternden Personen im genauesten Umgange, und bleiben verschont; man hat blatternde Schwangere gesehen, deren Geburten, und blattern | de Geburten, deren Mutter unangesteckt blieben; die wütendste Epidemie läßt doch manche unangegriffen, und selbst die Einpfropfung ist zuweilen, obgleich freilich seltner als jede andere Ansteckung, ohne Erfolg. – Das Bedürfnis zu erklären, was jede der erwähnten gelegentlichen wirkenden Ursachen, der Luft und des Miasmas, zu der Verbreitung der Krankheit beitrage; ob die Wirkung einer jeden sich auf die andere Ursache

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selbst erstrecke, oder ob beide ihre Wirkung, und zwar zu gleicher Zeit, auf den Menschen äußern müssen – dies Bedürfnis, sage ich, hat mancherlei Hypothesen veranlaßt, durch welche die Schwierigkeiten bei den Erscheinungen in dieser Krankheit dennoch bei weitem nicht gehoben werden. Der berühmte Vogel 56, um nur Eine dieser Hypothesen anzuführen, ist der Meinung, daß die Beschaffenheit der Luft auf das Miasma wirke. Man hat allerdings Ursache zu glauben, sagt er, daß ein gewisser Zustand der Luft die ansteckende Materie zu gewissen Zeiten vorzüglich wirksam mache, und daß daher die Pocken zu einer Zeit | mehr, als zur andern, um sich greifen und epidemisch werden *). Allein erstlich scheint die verschiedene Beschaffenheit der Luft nur auf den ersten größern oder geringern Grad der Wirksamkeit, nicht auf die größere oder geringere Verbreitung des Miasmas von Einfluß sein zu können. Durch die Veränderung, welche das Gift von der Luft erleidet, kann es bös- oder gut­artiger werden, und in der Krankheit, die es erregt, gefährlichere oder minder gefährliche Zufälle hervorbringen; aber es ist nicht einzusehen, wie dadurch seine Fortpflanzung von einem Menschen zum andern, im mindesten befördert oder eingeschränkt werden könne, wenn man anders nicht gegen alle Erfahrung annehmen will, daß es eben durch die Fortpflanzung von dem Grade seiner Wirksamkeit immer mehr verliere. Zweitens ist dadurch die Frage ganz und gar nicht beantwortet: warum die epidemische Blatterkrankheit von der einen Seite öfters so weit um sich greift, und von der andern doch nie völlig allgemein ist? Denn es | bleibt immer die Schwierigkeit: ist die zur Krankheit erforderliche Disposition eine natürliche angeborne, folglich ihre gelegentliche Ursache eine innere; so müßte jede Epidemie, da die Luft das Miasma sehr wirksam gemacht, durchaus allgemein sein und schlechterdings Keinen, sobald er sich der Ansteckung aussetzt, übergehen können. Ist aber die gelegentliche disponie*) Dessen Handbuch, 3. Teil. S. 8. [Samuel Gottlieb von Vogel, Handbuch der practischen Arzneywissenschaft zum Gebrauche für angehende Aerzte. Dritter Teil. Stendal 1788.]

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Drittes Hauptstück

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rende Ursache eine äußere; so ist die große Verbreitung einer Epidemie aus der großen Wirksamkeit der Luft nicht begreiflich, da diese sich bloß auf die gelegentliche wirkende Ursache, auf das Miasma erstreckt, und folglich alle nicht disponierte Menschen der Ansteckung nicht unterworfen sein können! Dazu kommt noch ein Umstand, welcher die Erscheinungen bei dieser Krankheit noch mehr verwirrt. Es lehren nämlich sichere Beobachtungen in verschiedenen Ländern, daß die wütenden Blatterepidemien sehr genau fünf-, sechs-, sieben- und mehrjährige Perioden beobachten, und daß in der Zwischenzeit die Krankheit sich zwar sporadisch | einfindet, aber sich nie durch leichte Ansteckung verbreitet. Dieser periodische Gang kann natürlicherweise keiner andern Ursache, als der Luft zugeschrieben werden, deren abgemessenen Wechsel die Erfahrung uns in vielen andern Fällen zeigt. Wiederum also, wenn der Einfluß der Luft sich bloß auf die Wirksamkeit des Miasmas erstreckte; so könnte ihre periodische Abwechselung nur die verschiedene Beschaffenheit der Krankheit, ihre Gut- oder Bös­artigkeit, keinesweges aber den Grad ihrer Verbreitung betreffen. Wie kann die Veränderung der Luft machen, daß dasselbe Gift, welches zu allen Zeiten in einigen Menschen die Krankheit erregt, sie doch zu gewissen nur in vielen Andern, und zu gewissen nur in Wenigen hervorbringt? Dennoch beruhet, wie mich dünkt, die ganze Schwierigkeit in diesem Falle darauf, daß man den Charakter der gelegentlichen Ursachen verkennt, die disponierende für eine innere, und bloß die wirkende für eine äußere hält, und folglich die Krankheit für | eine aus der angegebenen dritten Klasse hält. Nach dieser Voraussetzung sieht man sich, da die Gegenwart beider äußern Ursachen, eines Miasmas und einer gewissen Beschaffenheit der Luft, zur Entstehung der Krankheit so offenbar notwendig ist, allerdings gezwungen, beide für gelegentliche wirkende anzunehmen und eine der andern unterzuordnen, nämlich die Wirksamkeit des Miasmas der Veränderung der Luft. Mir kommt es wahrscheinlicher vor, daß diese Krankheit zu der zweiten Klasse gehört, deren beide gelegentliche Ursachen

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Erster Abschnitt

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äußere sind: und zwar die wirkende, das Miasma; die disponierende, die Beschaffenheit der Luft. Von der Wirksamkeit der letzteren hängt die größere oder geringere Ansteckungsfähigkeit des ersteren ab. Hat sie einen hohen Grad, so wird das Miasma seine Wirkung auf die mittelbarste Weise, durch Ausdünstung, Berührung der Kleidungsstücke u. s. w. äußern; hat sie einen geringen, so wird es nur alsdann die Krankheit erregen, wenn es mit den Säften inniglicher vermischt, d. i. wenn | der Eiter unmittelbar durch Berührung eines vom Oberhäutchen entblößten Teiles, oder durch die Einpfropfung, in die einsaugenden Gefäße gebracht wird. Es versteht sich aber auch, daß die gelegentliche disponierende Ursache, folglich auch die disponierende, gänzlich fehlen oder in einem so geringen Grade da sein kann, daß selbst die unmittelbarste Vermischung des Eiters durch die Einpfropfung ohne Wirkung bleibt, obgleich, der Erfahrung zufolge, dieses zu den seltensten Fällen gehört, wenn der Mensch nicht schon einmal die Blattern gehabt hat. – Gesetzt also, die Luft besäße zwar diese zu den Blattern disponierende Beschaffenheit in einem geringen Grade beständig, aber in einem sehr hohen nur zuweilen, so wird die Krankheit auch nur zuweilen epidemisch sein können, wenn nämlich die disponierende Wirkung der Luft sehr stark ist; außerdem wird sie sich nur sporadisch einfinden und sich bloß durch die unmittelbarste Ansteckung fortpflanzen. Daß übrigens diese Beschaffenheit der Luft, die wir so wenig, als irgend | eine andere Beschaffenheit in der Natur, kennen, gerade zu bestimmten abgemessenen Zeiten eine größere Wirksamkeit äußert, ist freilich unerklärbar, aber nicht unerklärbarer, als andere Luftkonstitutionen, die gleichfalls ihre genaue periodische Abwechselung beobachten. Wenn man nun erwägt, daß jede gelegentliche disponierende Ursache, welche von außen kommt, zu gleicher Zeit als eine wirkende anzusehen ist, indem sie durch Erteilung der Disposition notwendig in dem Körper eine Veränderung hervorbringen muß; so sieht man, daß sie selbst um diese Wirkung äußern zu können, wieder eine Disposition voraussetzt, diese wieder eine andere, und so fort, bis wir endlich auf eine innere natürli-

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Drittes Hauptstück

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che kommen, die dem Körper angeboren ist und ihm nicht von ­außen her erteilt werden darf. Von dem Grade dieser letzten muß der Grad der Empfänglichkeit der äußeren disponierenden Veränderung, und folglich auch die Tätigkeit der wirkenden Ursache, abhangen. | Angenommen also, daß in unserm Falle diese letzte innere Dis­ position allen Menschen, aber in verschiedenem Grade, eigen ist; so wird diesem Grade die Empfänglichkeit der Blatterdisposition von außen durch die Luft, und dieser wiederum die leichtere oder schwierigere Fortpflanzung der wirkenden Ursache entsprechen. Es werden folglich die Blattern, sobald nur ihr Miasma gegenwärtig ist, zu allen Zeiten einzelne Menschen befallen, deren innere Disposition dazu so stark ist, daß schon die beständige geringe disponierende Beschaffenheit der Luft sie der Empfänglichkeit der Krankheit fähig macht. Diejenigen, deren innere Disposition gering ist, werden verschont bleiben, außer, wenn das Pockengift unmittelbar durch die Einpfropfung mit ihren Säften vermischt wird, weil alsdann die geringe disponierende Veränderung der Luft schon hinreicht, sie zur Empfänglichkeit der Krankheit fähig zu machen. Hat hingegen die disponierende Beschaffenheit der Luft einen hohen Grad, so werden selbst diejenigen, deren in | nere Disposition sehr gering ist, auf die mittelbarste Weise von dem Miasma angesteckt werden, und bloß einige wenige von der schwächsten Disposition zu der Ansteckung unfähig sein; d. i. die Krankheit wird sich epidemisch zeigen. – Die innere Disposition kann bei einem Menschen in frühern Jahren schwach sein, und mit den natürlichen Veränderungen des Alters oder der Lebensart einen größern Grad erlangen, und ihn alsdann erst zur Empfänglichkeit der disponierenden Luftveränderung und der Ansteckung fähig machen. – Es läßt sich ferner als möglich denken, daß diese zu den Pocken disponierende Beschaffenheit in manchen Gegenden der Luft gänzlich fehle, oder, wenn sie auch einmal da gewesen, durch uns unbekannte Revolutionen wieder verloren gegangen sei. In diesen Gegenden wird sich das Pockengift auf keine Weise fort-

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Erster Abschnitt

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pflanzen können, welches vielleicht in Cayenne der Fall ist, wo man die Pocken bis auf diese Stunde nicht kennt, und wo sie, ob sie gleich 1766 durch Mohrensklaven dahin ka | men, doch keine schlimme Folgen hatten und sich nicht weiter ausbreiteten. – Und so lassen sich, wie mich dünkt, die meisten schwierigen Erscheinungen bei der Pockenkrankheit am natürlichsten erklären. Selbst von der, daß der Mensch nur Einmal im Leben der Ansteckung unterworfen ist, läßt sich wenigstens die Möglichkeit einer Erklärung denken, weil wir, wenn wir das Wesen der erwähnten innern und äußern Disposition kennten, vielleicht einsehen würden, wie jene, nach der einmal erlittenen Veränderung, durch diese auf immer in dem Körper aufgehoben werde. Was ich bisher von den Pocken gesagt habe, läßt sich auf jede contagiöse Krankheit anwenden, die zugleich den Charakter einer epidemischen mit sich führt. Überall erstreckt sich der Einfluß der Luft bloß auf die Disposition zur Empfänglichkeit des Contagiums, und setzt immer eine innere Disposition zur Empfänglichkeit ihrer disponierenden Veränderung voraus, von deren Verschiedenheit des Grades es herrührt, daß nie | alle der Ansteckung ausgesetzte Menschen der Wirksamkeit derselben unterworfen sind. Dies gilt selbst von der Pest, und ich habe es nie begriffen, wie Stoll 57 diese Krankheit, bloß deshalb, weil ihre Ansteckung nicht allgemein ist, aus der Klasse der epidemischen gänzlich verweisen konnte. – Doch genug hiervon. Ich betrachte nun die verschiedenen Ursachen des Schwindels. |

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Z W E I T E R A B S C H N I T T.

Disponierende Ursache des Schwindels — Sie ist ursprünglich in der Seele oder im Körper — Im ersten Falle bestehet sie in einer natürlichen langen Weile — Im letzten Falle, erstlich in einer natürlichen langsamen Absonderung des Nervensaftes; zweitens in einer großen Empfindlichkeit und Schwäche des Nervensystems; drittens in einer zu starken Anhäufung des Blutes im Kopfe.

D

ie disponierende Ursache des Schwindels ist diejenige Beschaffenheit, welche verursacht, daß auf eine Beschleunigung des Ideenfortganges oder der Absonderung des Nervensaftes eine Verwirrung in den Vorstellungen, und die oben erwähnten Zufälle des Schwindels entstehen. Diese ist, so wie jede disponierende Ursache, immer eine innere, und, in sofern sie überhaupt den Körper zur Empfänglichkeit des Schwindels fähig macht, auch eine allen Menschen natürliche; denn, zufolge des allgemeinen Gesetzes ist in jedem | Menschen das Maaß zur Weile bei der Folge seiner Vorstellungen genau bestimmt, das eben den disponierenden Grund zur Entstehung des Schwindels enthält, wenn nämlich durch eine wirkende Ursache diese Weile zu sehr verkürzt wird. Die gelegentliche disponierende Ursache hingegen kann in dem Falle so wohl eine äussere als eine innere sein, wenn nämlich selbst auf eine im Verhältnis mit dem natürlichen Maße sehr wenig beschleunigte Folge der Vorstellungen oder Absonderung des Nervensaftes der Schwindel dennoch entsteht: so wie man vielleicht überhaupt annehmen kann, daß in der natürlichen Verfassung eines jeden Menschen zu den meisten Krankheiten eine innere disponierende und gelegentliche disponierende Ursache liegt, sobald ihre wirkende in einem ansehnlichen Grade ihre Tätigkeit äußert; und daß bloß die verhältnismäßige Leichtigkeit, mit welcher eine geringe Ursache sie hervorbringen kann, eine besondere äußere oder innere gele-

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Zweiter Abschnitt

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gentliche Ursache voraussetzt, welche die disponierende widernatürlich verstärkt. | Die innere disponierende Ursache des Schwindels ist entweder ursprünglich in der Seele oder im Körper, und in beiden Fällen entweder eine natürliche, oder durch eine äußere gelegent­ liche Ursache erlangte widernatürliche Beschaffenheit derselben. Von Seiten der Seele bestehet sie in einer ihr eigentümlichen langen Weile. Wenn der natürliche Fortgang der Vorstellungen sehr langsam geschieht, so kann jede Reihe Ideen, die sich in ­einer mäßig geschwinden Folge aufdrängt, einen Schwindel erregen; so wie umgekehrt, falls die eigentümliche Weile der Seele kurz, und die natürliche Folge ihrer Ideen sehr schnell ist, der Gang der Vorstellungen mit überaus großer Geschwindigkeit geschehen muß, wenn durch ihn der verwirrte Zustand des Schwindels entstehen soll. Von Seiten des Körpers bestehet die disponierende Ursache: Erstlich in einer natürlichen langsamen Absonderung des Nervensaftes. Je mehr der Körper an einen langsamen Gang dieser Verrichtung gewöhnt ist, desto leichter muß die|selbe und der ihr entsprechende Gang der Vorstellungen durch schnell auf einander folgende Eindrücke in Unordnung gebracht werden; und so umgekehrt, je schneller dieses Geschäft im natürlichen Zustande geschieht. Zweitens in der großen Empfindlichkeit und Schwäche des Nervensystems überhaupt. Wir bedienen uns bei den Nerven, so wenig wir auch ihre innere Beschaffenheit kennen, gewöhnlich der entlehnten Ausdrücke Stärke und Schwäche, bloß in Rücksicht auf die Wirkungen derjenigen Teile, mit denen sie verbunden sind, und von deren Tätigkeit sie als die Ursachen angesehen werden. Einen Muskel, der viele Kraft auszuüben, vielen Widerstand zu leisten vermag, nennen wir stark, und im entgegengesetzten Falle schwach; und eben so den Nerven der zu ihm gehet und von welchem die Größe seiner Wirksamkeit abhängt. Auf gleiche Weise ist ein bloß zum Empfinden bestimmter Nerve stark oder schwach, je nachdem er sich schwerer oder leichter von den äußern Gegenständen verändern läßt.

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Drittes Hauptstück

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Je starker er ist, desto | mehr Widerstand leistet er den ­äußern Eindrücken; desto wichtiger müssen diese sein, wenn sie in ihm eine Veränderung hervorbringen, d. i. eine Empfindung erregen sollen. Je schwächer hingegen ein Nerve bis auf einen gewissen Grad ist, desto empfänglicher gegen die äußern Eindrücke, desto empfindlicher muß er sein. Wenn also das ganze Nervensystem samt dem Gehirne von schwacher und empfindlicher Beschaffenheit ist, so muß der Nervensaft von den Eindrücken leicht in Bewegung gesetzt und von schnellen Eindrücken leicht zur schnellen Absonderung bestimmt und in Unordnung gebracht werden. – Man vergesse aber nicht, daß diese disponierende Ursache eine widernatürliche sein und eine äußere gelegentliche voraussetzen muß; denn wenn die Empfindlichkeit des Nervensystems eine dem Menschen natürliche Beschaffenheit ist, so kann sie nicht ohne entgegengesetzten Einfluß auf das Maaß seiner natürlichen Weile bleiben. Diese muß alsdann immer klein, die gewöhnliche Folge seiner Ideen schnell | sein, und die große Empfindlichkeit selbst den Grund zur Gegendisposition des Schwindels enthalten. Wenn sie hingegen eine äußere ist und bloß einen vorübergehenden widernatürlichen Zustand in dem Körper hervorbringt, so läßt sie das natürliche Maaß der Weile unverändert, erzeugt eine große Empfänglichkeit schneller und leichter Eindrücke und disponiert dadurch, sobald diese gegenwärtig sind, zum Schwindel. Drittens endlich in einer starken Anhäufung des Blutes im Kopfe. Der Nervensaft nimmt, so wie alle übrige Säfte des Körpers, seinen Ursprung aus der allgemeinen Quelle, dem Blute. Die Rinde des Gehirns bestehet offenbar aus Gefäßen; von ihr ist die markige Substanz eine Fortsetzung, so wie es von dieser wieder die Nerven sind; und die Flüßigkeit, die sich in diesen ­bewegt, muß, wie alle übrige des Körpers, aus den Blutgefäßen unmittelbar oder mittelbar herkommen. Es ist aber ein allgemeines Gesetz bei dem ganzen Absonderungsgeschäfte, daß, je größer der Zufluß des Blutes nach einem | Absonderungswerkzeuge ist, die Absonderung desto reichlicher und schneller geschieht. Dies lehrt die Erfahrung überall. Bei dem allgemeinen

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Zweiter Abschnitt

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Hindrange des Blutes nach dem Umkreise des Körpers entstehet ein Schweiß; nach den Augen, ein vermehrter Tränenfluß; nach den weiblichen Geburtsteilen, ein vermehrter monatlicher Fluß, u. s. w. Ja, die Wirkung aller in unserer Kunst so genannten specifischen Absonderungsmittel bestehet größtenteils darin, daß sie das Blut in Bewegung setzen und dessen Richtung vorzüglich nach einem gewissen Absonderungsorgan hin bestimmen. Wenn daher das Blut sich widernatürlich im Gehirne anhäuft, so muß die Absonderung des Nervensaftes in größerer Menge geschehen und, bei der geringsten äußerlichen oder inner­lichen körper­lichen Ursache, dessen Einfluß in die Nerven beschleunigt werden und ein Schwindel entstehen. – Es gilt aber eben dies, was ich oben bei der zu großen Empfindlichkeit des Nervensystems angemerkt habe, auch hier: nämlich, daß diese Blutanhäufung ein | widernatürlicher Zustand sein und eine ­äußere gelegentliche Ursache haben muß; denn, wenn sie bei einem Menschen eine anhaltende natürliche Beschaffenheit ist, und von einer beständigen innern gelegentlichen Ursache herrührt, so wird sie gerade der Grund, die Entstehung des Schwindels in ihm zu erschweren, indem mit dieser Anhäufung alsdann auch eine natürliche kurze Weile und eine entsprechende schnelle Ideenfolge verbunden ist. Die wirkende Ursache muß folglich die Weile in einem sehr hohen Grade verkürzen, wenn sie die Erscheinungen des Schwindels hervorbringen soll. |

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D R I T T E R A B S C H N I T T.

Gelegentliche disponierende Ursachen des Schwindels — Innere und äußere — Zu jenen gehören erstlich das Alter, zweitens das Geschlecht — Zu diesen, erstlich die vermehrte Reizbarkeit der Nerven, zweitens die Vollblütigkeit.

D

ie gelegentlichen zum Schwindel disponierenden Ursachen sind entweder innere oder äußere. Zu jenen gehören: Erstlich, das Alter. In der Jugend ist, wie ich bereits oben erwähnt habe, der natürliche Fortgang der Ideen sehr schnell; im hohen Alter langsam. Die Folge einer Reihe von Vorstellungen muß daher eine sehr große widernatürliche Schnelligkeit haben, wenn sie bei jenem, und bedarf nur einer geringen, wenn sie bei diesem einen Schwindel erregen soll. Dazu kommt noch die dem verschiedenen Ideenfortgange entsprechende verschiedene körperliche Beschaffenheit in | diesen beiden Altern. In der Jugend ist die Bewegung des Blutes überhaupt sehr schnell, und es gehet ein unverhältnismäßig großer Teil desselben nach dem Gehirne; es wird also viel Nervensaft und geschwinder abgesondert, welches von der natürlichen größern Reizbarkeit der Nerven und der Fasern überhaupt beständig unterhalten wird. Im hohen Alter ist der Blutumlauf im Ganzen langsamer, so wie dessen Richtung mehr nach den untern Teilen; und die Absonderung des Nervensaftes, welche durch die natürliche Steifheit der Nervenfasern noch mehr verzögert wird, gehet träger und in geringerer Menge von Statten. Daher kommt es, daß alte Personen so sehr, und junge so wenig zum Schwindel geneigt sind, und daß diese, ob sie gleich wegen der größern Reizbarkeit ihrer Nerven eine sehr große Empfänglichkeit in Ansehung der Nervenkrankheiten überhaupt haben, dennoch bei gegenwärtigen wirkenden Ursachen des Schwindels, weit weniger demselben unterworfen sind, als jene. Es ist bekannt, daß Kinder viel länger und mit | mehr Leichtigkeit eine schnelle Kreisbewegung ihres

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Dritter Abschnitt

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Körpers ertragen können, ohne dadurch in Schwindel zu geraten, als Erwachsene. Ich erinnere mich, daß ich einmal auf einem öffentlichen Schauplatz ein fünfjähriges Kind gesehen habe, das sich zwölf Minuten lang mit einer überaus großen Schnelligkeit im Kreise bewegte und dann auf einen Wink des Schauspielers plötzlich still und feste stand. Zweitens, das Geschlecht. Das weibliche Geschlecht ist dem Schwindel, so wie den Nervenkrankheiten überhaupt, weit häufiger ausgesetzt, als das männliche. Sein Nervensystem ist, in Vergleich mit dem männlichen, schwächer und gegen äußere Eindrücke nachgiebiger, und sein natürlicher Fortgang der Ideen, sei es eine Folge der Erziehung oder anderer körperlichen Umstände, dennoch träger und langsamer. Daher kommt es, daß bei ihm, sowohl auf die geringste innerliche Unordnung, wodurch die Absonderung des Nervensaftes in einem kleinen Grade befördert, als auf die Wirkung | äußerer Ursachen, wodurch die Ideenfolge im mindesten beschleunigt wird, ein Schwindel entstehet. Es ist aber bei ihm auch die Anzahl von gelegentlichen wirkenden Ursachen des Schwindels, die größtenteils von dessen Constitution und von besondern ihm eigentümlichen Veränderungen herrühren, sehr häufig; doch davon in der Folge. Zu den äußern gelegentlichen disponierenden Ursachen gehören: Erstlich, die vermehrte Reizbarkeit der Nerven. Bei zarten Personen von sehr beweglichen und reizbaren Nerven ist jeder äußere Eindruck von mächtiger Wirkung. Die Erfahrung zeigt offenbar, daß bei Personen, welche durch Krankheit geschwächt oder mit einer natürlichen Schwäche geboren sind, die geringste Gemütsbewegung oder die mindeste körperliche Erschütterung eine Wallung des Blutes und ein Herzklopfen verursacht, welches bloß von den geschwächten Nerven herrührt, die den Eindrücken nicht genug widerstehen und sehr leicht in Erschütterung und Zusammenschnürungen geraten. Ist | nun diese übermäßige Reizbarkeit eine natürliche, den Nerven angeborne Beschaffenheit; so sind gewöhnlich eine natürliche schnellere Absonderung des Nervensaftes und ein natürlicher geschwinder

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Drittes Hauptstück

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Fortgang der Ideen damit verbunden, und sie enthält den Gegengrund zur Disposition des Schwindels; ist sie aber eine widernatürlich erlangte, so müssen, wenn entweder verschiedene Eindrücke von außen, oder aus innern Ursachen eine Reihe Vorstellungen mit einer mäßigen Geschwindigkeit auf einander folgen, die Nerven sehr leicht gereizt, die Absonderung des Nervensaftes beschleunigt und ein Schwindel erregt werden. Daher bei hypochondrischen und hysterischen Personen die große Geneigtheit zum Schwindel, in welchen sie bei der mindesten Unordnung im Körper oder bei dem geringsten Affekte verfallen. So gibt es, wie Stoll bemerkt, unter den Mönchen vorzüglich viele, welche wegen des Schwindels und der Furcht zu fallen nicht im Stande sind, auf einem erhöheten Orte zu predigen | oder ihr geistliches Amt zu verrichten. *) Daher ferner die Dis­ position zum Schwindel bei Genesenden, nach einem starken Blutverluste jeder Art, und zuweilen nach einem starken Verluste der Milch. Wenn schwächliche und magere Personen, sagt Stoll, deren Reinigung gewöhnlich sparsam und blaß ist, durch das Säugen zu viel Milch verlieren, so verfallen sie in ein kleines unbestimmtes Fieber, klagen über schweres Atem­holen, Trocknis, Zusammenschnüren und rheumatische Schmerzen zwischen den Schultern, wobei der Kopf sehr schwindlicht ist. Sie werden bei guter Eßlust und Verdauung immer magerer, und verfallen endlich in eine Menge hysterischer Übel **). Am stärksten zeigt sich die übergroße Reizbarkeit der Nerven, samt der von ihr abhangenden Disposition zum Schwindel, bei dem unmäßigen Samenverluste durch das gräuelhafte menschheitswidrige Laster der Selbstbefleckung. Ich hatte einst einen jungen Menschen zu besor | gen, der sich durch diese abscheuliche Ausschweifung eine solche Nervenschwäche zugezogen, daß er zuletzt nie drei Minuten hinter einander mit einiger Geschwindigkeit und mäßigem Nachdrucke sprechen hören konnte, ohne  *) Praelect. in diversos morb. chronicos p. 332. [Maximilian Stoll, Praelec­tio­ nes in Diversos Morbos Chronicos. Wien 1789.] **) Ibid. p. 334.

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Dritter Abschnitt

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in einen schwindlichten Zustand zu geraten, da er denn aus Furcht zu fallen, sich setzen oder an einem benachbarten Gegenstande fest halten mußte. Zweitens die Vollblütigkeit. Wenn die Gefäße überall im Körper auf eine gleichmäßige Weise mit einem Überflusse von ­gutem Blute angefüllt sind, so bleibt der Widerstand, den die Gefäße dem Andrange desselben leisten, allenthalben gleich, und man empfindet bloß eine allgemeine vermehrte oder unterdrückte Bewegung aller Säfte, eine Schwere und Müdigkeit im ganzen Körper u. s. w. Sobald aber dieses Verhältnis in Ansehung des Widerstandes in den Gefäßen dadurch aufgehoben wird, daß in einigen ein neuer Reiz hinzukommt, oder aus verschiedenen Ursachen eine Erschlaffung und Nachgiebigkeit entstehet, so erfolgt in ihnen | ein beschleunigter Zufluß, und es entstehen Schmerzen, Austretungen, vermehrte Absonderungen, Ausflüsse u. s. w. Wenn also bei dem Zustande der Voll­ blütigkeit durch äußere oder innere Reize das Gehirn, und besonders die gemeinschaftliche Empfindungsstelle (sensorium commune) angegriffen wird; so muß der Zufluß des Blutes dahin leicht vermehrt, die Absonderung des Nervensaftes beschleunigt, und folglich die Zufälle des Schwindels hervorgebracht werden. Die Vollblütigkeit kann auch nur eine partielle sein, wenn nämlich die Menge Blut im ganzen Körper nicht zu groß ist, aber ein unverhältnismäßig großer Teil desselben nach dem Gehirne geht. In diesem Falle kann sie, wie bereits oben erwähnt worden ist, sowohl die disponierende Ursache selbst ausmachen, als die gelegentliche disponierende werden, wenn sie nämlich durch einen zu starken Druck eine Betäubung des Gehirns, und eine Verzögerung in der Absonderung des Nervensaftes hervorbringt, wodurch alsdann eine hinzukommende mäßig schnelle | Folge von Ideen einen Schwindel erregt. Sie kann aber auch die gelegentliche wirkende sein, wenn eine partielle Schwäche des Gehirns schon vorher gegenwärtig ist, und sie durch einen gemäßigten Druck dasselbe reizt, und dadurch die Absonderung des Nervensaftes beschleunigt. |

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V I E RT E R A B S C H N I T T.

Einteilung der gelegentlichen wirkenden Ursachen in physische und psychische — in idiopathische und consensuelle — Zu jenen gehören Verletzungen des Kopfes, Vollblütigieit, Inanition, Schärfen verschiedener Art — Zu diesen, widernatürliche Beschaffenheit der ersten Wege, der Eingeweide des Unterleibes, flüchtige durch den Geruch oder das Verschlucken wirkende Reizarten.

I

ch komme nun zur Betrachtung der gelegentlichen wirkenden Ursachen des Schwindels, welche in einem hohen Grade die Krankheit in jedem Menschen hervorbringen, da, wie ich schon erwähnt habe, eine geringe Disposition zu derselben einem j­eden natürlich ist; in minderm Grade aber bloß bei denen, in welchen sich eine der angeführten besondern disponierenden Ursachen befindet. Die nächste wirkende Ursache des Schwindels bestehet, nach der obigen Auseinandersetzung, in zwei verschiedenen widernatür | lichen Veränderungen, die einander entsprechen und sich wechselsweise hervorbringen, nämlich in einem zu schnellen Fortgange der Vorstellungen, und in einer zu sehr beschleunigten Bewegung des Nervensaftes im Gehirne. Es muß folglich auch eine zwiefache Klasse von gelegentlichen wirkenden Ursachen geben: solche welche unmittelbar den Fortgang der Vorstellungen, und solche welche unmittelbar die Bewegung des Nervensaftes verändern, psychische und physische. Die physischen haben ihren Sitz entweder ursprünglich im Gehirne oder in einem entfernten, aber mit dem Gehirne in näherer Verbindung stehenden Teile des Körpers, wodurch dasselbe nur mittelbar angegriffen wird; d. i. der Schwindel ist von Seiten seiner physischen Ursache entweder idiopatisch oder consensuell. Zu jenen gehören: Erstens, gewaltsame Erschütterungen und Verwundungen

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Vierter Abschnitt

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des Kopfes, blutige, eitrige oder seröse Anhäufungen im Gehirne, die von unterdrückten oder unterbliebenen Aus | leerungen ihren Ursprung haben. Durch alles dieses kann das Gehirn sehr gereizt, die Absonderung des Nervensaftes über das Maaß der natürlichen Weile beschleunigt und der Schwindel erregt werden. Ferner heftige Krankheiten des Kopfes, als Gehirn­ entzündung, Schlagflüsse, Konvulsionen u. s. w. Bei diesen pflegt der Schwindel gewöhnlich der letzte Zufall zu sein, mit dem sie samt dem Leben des Kranken ihr Ende erreichen. Zweitens die Vollblütigkeit, besonders die partielle des Gehirns, die, wie ich schon erwähnt habe, wenn sie entweder bloß den Vorrat zur Absonderung des Nervensaftes vermehrt oder das Gehirn zu schnellerer Absonderung reizt, ohne durch einen zu starken Druck dieselbe zu hemmen, bei schon vorhandener Disposition den Schwindel erregt. Diese partielle Vollblütigkeit ist zuweilen eine vorübergehende, die bloß von der Stellung des Kopfes herrührt, und bringt alsdann einen vorübergehenden Schwindel hervor. Daher die Erscheinung bei Personen von zärtlichen Nerven und Gefäßen; die, wie Whytt58 be | merkt *), wenn sie den Kopf niederbücken und plötzlich wieder aufheben, von einem Schwindel befallen werden, bei dem sich mannichmal Neigung zu einer Ohnmacht befindet. Drittens, die Inanition. Wenn die Gefäße zu wenig Blut enthalten, so können sie sich nicht gehörig ausdehnen und weder dem Gehirne noch den Nerven den Ton geben, der erfordert wird um dem Einströmen des Nervensaftes, oder der Wirkung der Gegenstände auf sie, den verhältnismäßigen Widerstand zu leisten. Die Absonderung des Nervensaftes, und folglich der Gang der Vorstellungen, gehet alsdann, besonders im Anfange wenn die Entleerung plötzlich geschieht, geschwinder als gewöhnlich vor sich, und es erfolgt ein Schwindel. Daher der Schwindel bei starken Aderlässen oder sonstigen natürlichen und widernatürlichen Blutflüssen, wenn sie plötzlich und in *) Sämmtliche Schriften. S. 462. [Robert Whytt, Sämmtliche zur praktischen Arzneykunst gehörige Schriften. Aus dem Englischen. Leipzig 1771.]

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Drittes Hauptstück

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großer Menge entstehen; desgleichen bei starken Samenergießungen und heftigen | Durchfällen, wo durch die schnelle Erschlaffung der untern Teile des Körpers das Blut in zu großer Menge vom Gehirne abfließt; ferner bei Wasserabzapfungen in der Bauchwassersucht, da die vorher zusammengedrückten Gefäße des Unterleibes auf einmal erweitert werden und das Blut aus den obern Teilen schnell in sie hineinströmt. Viertens, Schärfen aller Art, die in dem Blute oder in der ganzen Masse der Säfte sich aufhalten und dem Gehirne und dessen Nerven einen unmittelbaren Reiz erteilen; daher der venerische Schwindel, den Astruc, meiner Meinung nach, fälschlich von der vermehrten Pulsation der Netzhautgefäße her leitet; daher sind ferner, nach Willis Bemerkung, diejenigen, welche e­ inen eingewurzelten Skorbut haben, größtenteils dem Schwindel unterworfen, wiewohl bei diesen außer dem Reize, Austretungen und Durchfressungen der kleinen Gefäßchen im Gehirne eine Mitursache sein können. Auch gibt es einen rheumatischen Schwindel, der von einer im Blute zirkulierenden rheumatischen Materie | herrührt, welche gewöhnlich periodenweise das Gehirn angreift und schwindlichte Zufälle erregt. Dies erfahren Diejenigen häufig, welche der Migräne unterworfen sind, die, wie ich nunmehr fest überzeugt bin, sehr oft rheumatischen Ursprunges ist. Es befällt sie bei einer plötzlichen Veränderung der Luft, besonders wenn sie heiterer wird und der Barometer ­einen höheren Stand nimmt, ein Funkeln vor den Augen. Die Gegenstände erscheinen ihnen doppelt, vielfarbig, wankend, und sie selbst sind gezwungen, sich an irgend etwas fest zu halten, um nicht zu fallen. Dieser Zustand dauert gewöhnlich nur einige Minuten lang in seiner größten Heftigkeit, verschwindet dann in einem Augenblick, und unmittelbar darauf stellt sich das stärkste halbe Kopfweh ein. Zu den consensuellen Arten des Schwindels gehören diejenigen Fälle, wo die gelegentliche wirkende Ursache ihre Veränderung nicht unmittelbar in dem Gehirne, sondern in einem entfernten Teile des Körpers hat, der vermittelst der Nerven mit | dem Gehirn in genauer Verbindung stehet. Also:

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Vierter Abschnitt

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Erstlich, die widernatürliche Beschaffenheit der ersten Wege, da, wie bekannt, die Verbindung oder die so genannte Sympathie zwischen diesen und dem Gehirne außerordentlich groß ist. Die bloße Überfüllung des Magens drückt und dehnt seine Nerven, und erteilt ihnen einen Reiz, der sich bis ins Gehirn fortpflanzt; drückt ferner seine Blutgefäße zusammen, treibt das Blut nach seinen beiden Mündungen, die dadurch krampfhaft zusammengezogen werden und dem Inhalte den Ausgang versperren, so daß er in Fäulnis übergeht und wiederum die Nerven reizt *). Bestehet nun vollends diese Überladung in schwer zu verdauenden Dingen, schleimichten, fetten, ranzigen Unreinigkeiten: so werden die Nerven um so stärker angegriffen; ihr Reiz teilt sich dem Gehirne desto heftiger mit, und erregt unter andern Kopfzufällen den Schwindel. Diese Art Schwindel ist die häufigste, und findet sich | fast beständig in Begleitung eines drückenden Kopfschmerzes im Anfange der hitzigen Krankheiten. Eben ein solcher Reiz wird dem Gehirne durch die Schärfe der Magensäfte erteilt; daher der Schwindel, den ein langes Hungern erregt. Auf eben die Weise, auf einen unmittelbaren und dem Gehirne bloß mitgeteilten Reiz der Nerven und der Gefäße des Magens, entstehet der Schwindel von dem überrnäßigen Genusse geistiger Getränke, von genommenen giftigen Mitteln, als Schierling, Eisenhüttlein, Belladonna, u. s. w. und von Galle, oder auch von Eiter der sich aus einem benachbarten Geschwüre in den Magen ergossen hat, wie Boerhaave eines solchen Falles erwähnt, da ein Kaufmann wegen eines Eitersackes in der Leber sehr häufigem Schwindel unterworfen war **). Nicht minder können Würmer und fremdartige Körper überhaupt, die sich im Magen aufhalten, oder auch bloße Winde, die ihn | ausdehnen und dessen Mündungen krampfhaft zusammenziehen, ­einen Schwindel verursachen.  *) Boerh. de morb. nerv. p. 495. [Herman Boerhaave, Praelectiones acad. de morbis nervorum. Frankfurt und Leipzig 1761.] **) Ibid. p. 494.

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Drittes Hauptstück

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Zweitens, stehen, außer dem Magen, der ganze Darmkanal, die Eingeweide des Unterleibes, und vorzüglich die Mutter in besonderer Verbindung mit dem Gehirne. Daher der bei hypo­ chondrischen und hysterischen Personen, vorzüglich bei denen die an einem unregelmäßigen Güldenenaderfluß leiden, gewöhnliche Schwindel, der einen verjährten Infarktus oder eine Schwäche der Mutternerven zum Grunde hat; daher ferner der Schwindel, der sich bei manchen Frauenspersonen vor und während der monatlichen Reinigung einfindet; der von Blähungen, welche die Nerven und Gefäße der Gedärme gewaltsam dehnen; von Würmern aller Art, welche die Gedärme reizen, und endlich von Steinen während ihres Durchganges durch enge Kanäle. – Ich kannte einen mit Nierenstein und Grieß behafteten Mann, welcher jedesmal aus einem Schwindel, der ihn plötzlich überfiel und einige Minuten | anhielt, sicher wußte, daß Grieß durch die Harnkanäle ging. Drittens, flüchtige Reizarten, die durch den Geruch oder das Einatmen Veränderungen in verschiedenen Teilen hervorbringen, welche mittelbar das Gehirn angreifen; wie z. B. der Geruch verschiedener Gifte, oder des scharfen Tabaks bei Personen, die dessen nicht gewohnt sind; der Kohlendunst, welcher zuweilen sogar den Schlagfluß erregen kann, und zwar so wohl deswegen, weil er die Elastizität der Luft vermindert, die Re­ spiration ängstlicher, den Abfluß des Blutes vom Kopfe schwierig macht und dessen Anhäufung im Gehirne befördert, als weil mit demselben das empyrevmatische Öl der Kohlen entwickelt, verbreitet, mit der Luft vermischt und durch das Einatmen, desgleichen mit dem verschluckten Speichel in den Körper gebracht wird. (Dieses Öl besitzt nämlich eine narkotische, betäubende Kraft, und treibt das Blut nach dem Kopfe.) Dahin gehören ferner die Ausdünstungen von dem Kalke in frisch geweißten Zimmern, und von gährendem | Moste, welche gleichfalls die Luft der Elastizität berauben, ein schwieriges Atmen und einen verzögerten Abfluß des Blutes vom Kopfe verursachen. |

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F Ü N F T E R A B S C H N I T T.

Psychische gelegentliche wirkende Ursachen — Erstens, die Anschauung einer Kreisbewegung — Schwierigkeit in der Erklärung des Schwindels aus dieser Ursache — Willis, Zakutus, Platters, Ettmüllers, Hofmanns und Sauvagens falsche Erklärungsart — Die Erklärung des V. aus der mit der Kreisbewegung verbundenen schnellen Abwechselung der Vorstellungen — Schwindel durch das Rückwärtsfahren — Zweitens, die Wahrnehmung einer schnellen Folge von Tönen — Warum die niedrigen Sinne die physische, aber nie die psychische Ursache des Schwindels ausmachen? — Drittens, Gemütsbewegungen, besonders die Furcht zu fallen — Gemütszustand bei der Furcht, und daraus erklärbare psychologische Erscheinungen — Die übrigen Gemütsbewegungen erregen den Schwindel durch unmittelbare Wirkung auf den Körper, und gehören zur Klasse der physischen Ursachen.

Z

u den psychischen gelegentlichen wirkenden Ursachen zähle ich so wohl alle Unordnung in dem Gebrauche der Seelenkräfte und Gemütsbewegungen, als auch die Eindrücke der sinnlichen Empfindungen, besonders der | höheren, des Gesichts und Gehörs. Zwar ist die Wirkung von diesen zunächst auf die Nerven und die Absonderung ihres Saftes gerichtet; aber doch habe ich wahrscheinliche Gründe zu behaupten, daß diese körperliche Veränderung nicht die unmittelbare Ursache des Schwindels sein kann: denn erstlich ist sie bei weitem nicht so wichtig wie diejenige, welche durch die Wirkung der andern gröbern Sinne in den Nerven hervorgebracht wird und dennoch keinen Schwindel zur Folge hat; und zweitens wäre es nach dieser Voraussetzung gar nicht einzusehen, warum die Gesichtsgegenstände nur alsdann einen Schwindel verursachen, wenn eine Mannichfaltigkeit derselben schnell wechselt, oder ein einziger so vor dem Auge vorüberfährt, daß er alle Augenblicke verschwindet und wieder von neuem erscheint und seine Ge-

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Drittes Hauptstück

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genwart schnell abwechselt, wie dieses z. B. bei einer Kreisbewegung der Fall ist? denn da, nach meiner öfters erwähnten Theo­ rie der Empfindung, die vermehrte körperliche Wirkung der sinnlichen Gegenstände doch einzig und | allein darin besteht, daß der Nervensaft schneller und stärker in seiner Bewegung nach dem Organe gehindert wird; so müßte, in welcher Richtung auch der Gegenstand seine Bewegung nähme, die Folge dieselbe sein, und eben so wohl ein Schwindel entstehen, wenn ein sichtbarer Gegenstand sich mit Geschwindigkeit gegen das Auge hin und zurück, als wenn er sich in jeder andern Richtung bewegte. Da dieses sich aber nicht so verhält, so muß notwendig in den durch den bewegten Gegenstand verursachten Vorstellungen eine Veränderung vorgehen, die nach der Richtung, in welcher er sich bewegt, verschieden ist und von der unmittelbar die Gegenwart des Schwindels abhängt. Es gehören also dahin: Erstlich, die Gesichtseindrücke, welche die Kreisbewegung eines oder mehrerer Gegenstände verursacht. Der aufmerksame Anblick sich bewegender Mühlenflügel, eines sich drehenden Rades, eines vorüberfließenden Stromes, des wirbelnden Schnees u. s. w. erregt, wenn er anhaltend ist, eine Verwir | rung in den Vorstellungen und einen Schwindel mit allen seinen Folgen. Eben dies geschieht, wenn die Gegenstände um uns ruhen, wir selbst aber mit offenen oder auch verschlossenen Augen uns im Kreise drehen; und zwar desto eher, je kleiner der Zirkel ist, innerhalb dessen wir uns bewegen. So bekannt und häufig diese Erscheinung ist, so läßt sie sich doch nur mit großer Schwierigkeit erklären. Die Eindrücke der Gegenstände auf unsere Netzhaut sind an sich selbst in allen Fällen dieselben; unsere Nerven werden von jedem einzelnen Eindrucke weder lebhafter noch schwächer erschüttert, der Gegenstand mag in Ruhe oder in Bewegung sein, die Bewegung mag in einer parallelen Richtung mit unsern Augen, in einer geraden, dem Auge sich nahenden oder sich davon entfernenden, oder in einem Kreise geschehen. Folglich müßte auch jede anhaltende Vorstellung eines Eindruckes an sich eben dieselbe sein,

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Fünfter Abschnitt

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in welcher Richtung auch dieser von dem Gegenstande in das Auge käme, wenn nur der Grad der Entfernung keine Ver | schiedenheit in dessen Stärke oder Schwäche machte; und dennoch ist der Schwindel die Folge keiner andern Bewegung als derjenigen, die im Kreise, oder wenigstens kreisförmig, geschieht. Die oben erwähnten Schriftsteller, welche die nächste Ursache des Schwindels allgemein in eine mit den Erscheinungen analoge widernatürliche Beschaffenheit des Körpers, der Lebensgeister, des Gehirns oder des Auges selbst setzen, werden mit der Erklärung dieser Erscheinung gar bald fertig, indem sie das Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung nach Gefallen umkehren, und die Vorstellung des Herumdrehens der Gegenstände bald als eine Folge, bald als einen Grund dieser widernatürlichen Beschaffenheit ansehen, je nachdem ihre Gegenwart früher oder später als diese ist. »Beim langen Herumdrehen«, sagt Willis*), »scheinen alle Gegenstände, so wohl während desselben als nachher, sich im Kreise zu drehen; man fällt darauf zu Boden, und spürt selbst mit | verschlossenen Augen gleichsam einen Strudel oder ein Mühlrad im Gehirne. Die Ursache dieses Truges ist nicht etwa, daß die ersten Eindrücke im Auge noch fortdauern; (denn der Zufall kann auch von Seiten des Körpers den Anfang nehmen, wenn er sich im Kreise drehet, wir mögen dabei die Augen offen oder verschlossen halten); sondern sie liegt in der flüßigen Beschaffenheit der Lebensgeister. Diese«, sagt er, »befinden sich im Gehirne, wie Wasser oder verdichtete Dünste, die in einem Gefäße enthalten sind, zugleich mit demselben herumgedrehet werden, und ihre Bewegung noch fortsetzen, wenn auch das Gefäß hernach wieder in Ruhe ist. So werden die Geister während des Herumdrehens in kreisförmige Bewegungen gesetzt, da sie alsdann in die Nerven nicht gehörig einfließen können, und verursachen mit dem scheinbaren Umdrehen der sichtbaren Dinge öfters ein Wanken der Füße«. *) Am angeführten Orte.

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Drittes Hauptstück

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»Die innere Ursache des Schwindels«, sagt Zakutus *), »ist die unordentliche Be | wegung der Lebensgeister im Gehirne; zu den äußerlichen Ursachen gehören verschiedene, als: die kreisförmige Bewegung des Körpers, wobei die Geister mit dem Körper eine gleiche Bewegung annehmen und sie auch noch behalten, wenn jener schon ruhet; der Fall von einer Höhe, wobei sich die Bewegung der Lebensgeister, nach Avicenna, wie die zitternde oder wellenförmige Bewegung des Wassers, wenn es geschlagen wird, verhält; ferner das Fahren in einem Wagen oder zu Schiffe, die Erschütterung einer Sänfte, wobei der Körper nach verschiedenen Richtungen hin und her bewegt wird; der Anblick solcher Dinge, welche sich im Kreise ungleich oder mit einiger Heftigkeit bewegen, wie ein Mühlrad, der Lauf der Pferde, der Sturz fließender Wasser, der Strudel der Ströme. Zur Ursache gibt Avicenna folgende an: weil bei dem Anblick der erwähnten Dinge ihre Vorstellung sich in der Seele befe­ stigt, da denn die Einbildung die natürliche Kraft zwingt, die Säfte und die Geister unordent | lich in Bewegung zu setzen; denn die natürlichen Kräfte pflegen nach deren Wink zu wirken. Eben so«, setzt Zakutus hinzu, »wie die bloße Gegenwart eines häßlichen und abscheulichen Gegenstandes Ekel und Erbrechen verursacht, oder bei dem Anblick eines schädlichen und schrecklichenGegenstandes, wegen der Furcht, die Gei­ster von den äußern Teilen nach innen gehen; eben so folgt auf den Anblick eines »sich bewegenden Rades die Einbildung des Herumdrehens, und auf diese das Herumdrehen der Säfte und Gei­ ster, nach der erwähnten Lehre, daß die natürlichen Handlungen des Körpers auf die Einbildung folgen«. Man sieht also, daß dieser Schriftsteller, ob er gleich von der einen Seite dem Anschauen einer Kreisbewegung die unmittelbare Wirkung einer widernatürlichen Veränderung in den Vorstellungen als Folge zuschreibt, doch keinesweges dabei stehen bleibt, diese wider­natürliche Veränderung als die unmittelbare Ursache des Schwindels anzusehen; sondern vielmehr kommt | er darauf *) Am angeführten Orte.

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Fünfter Abschnitt

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hin­aus, daß diese erst die unmittelbare Ursache von einer körperlichen Veränderung, (nämlich von der widernatürlichen Bewegung der Lebensgeister) sei, die mit der äußern Bewegung des Körpers analogisch ist, und daß hierin die unmittelbare Ursache des Schwindels bestehe. Platters und Ettmüllers Meinung habe ich bereits oben angeführt. Der erstere setzt die Ursache des Schwindels in eine Kreisbewegung der Lebensgeister; der letztere, in eine Veränderung des Auges selbst. So sagt auch Aëtius59, daß die Augen dessen, der eine drehende Bewegung anschauet, sich selbst gleichfalls im Zirkel bewegen, und daß sie alsdann die Lebensgeister in die nämliche Bewegung setzen. Hofmann60 *) hält den Schwindel ebenfalls für einen organischen Fehler des Auges, und nimmt diesen Umstand gleich mit in die Definition. »Der Schwindel« sagt er, »ist die Empfindung des Herumdrehens und Fallens mit oder ohne Niedersinken des Körpers, wel | che von einem Drucke der Sehenerven im Gehirne und dem davon abhangenden Einflusse des Nervensaftes in die Netzhaut ihren Ursprung hat«. Er bestätigt dieses durch die Struktur dieser Nerven und die Leichenöffnungen, welche zeigen, daß bei schwindlichten Personen oder Tieren etwas Fremdartiges im Gehirne gefunden wird, welches wahrscheinlich die Sehenerven gedrückt hat. Daraus erklärt er nun die entfernten Ursachen des Schwindels, nämlich die Trunkenheit, die Vollblütigkeit, wäßrichte Anhäufungen, Reiz in den ersten Wegen, u. s. w. – Wie aber bloße Ideen, wie die Anschauung eines sich drehenden Gegenstandes oder das Herabsehen in eine Tiefe, diesen Zufall hervorbringen können, da unter allen diesen Umständen die Gesichtsnerven ungedruckt bleiben? das übergeht er. »Quare nec de hac, sagt er, nec de ea quae per vectionem in navi aut corporis rotationem inducitur, tamquam non morbosa, nobis nullus est sermo«;61 gleichsam als käme es darauf an, ob er davon sprechen wolle oder nicht! gleichsam als | wenn *) Syst. rat. Tom IV. p. 83. [Friedrich Hoffmann, Medicina rationalis systematica. Band 4. Halle 1729.]

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Drittes Hauptstück

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nicht bei jeder Erklärung eines Gattungsbegriffes auf alle darunter e­ nthaltene Arten notwendig Rücksicht genommen werden müßte! Sauvage62 *) nimmt einen Gesichts- und einen Gefühlsschwindel an. Unter jenem versteht er die Vorstellung der sichtbaren Gegenstände mit falschen Farben; unter diesem, die trügerische Vorstellung von bewegenden Körpern selbst mit verschlossenen Augen, so wie es schwindlichten Personen oft vorkommt, als wenn das Bett worin sie liegen, sich bald rechts bald links biege und einstürzen wolle. Beide leitet er indessen vom Sinne des Gefühls her, in so fern nämlich die Gesichtsnerven bei starken oder ungewöhnlichen Veränderungen zugleich Empfindung des Gefühls erregen. Zur Erklärung des Schwindels nebst dessen Symptomen und Ursachen nimmt er drei Hypothesen, wie er sie nennt, an: Erstlich die Neigung der Krystalllinse auf die rechte oder linke Seite, welche entstehet, wenn | die Fasern des Sternbändchens durch Krämpfe aus ihrem natürlichen Gleichgewichte kommen; Zweitens, eine ungewöhnliche Bewegungsart der Blutkügelchen in den netzförmigen Gefäßchen der Retina, als z. B. rückwärts aus den Venen in die Arterien, wodurch eine neue Empfindung in der Seele erweckt wird; Drittens endlich, eine Hin- und Herbewegung des ganzen Augapfels um den Sehenerven, ohne daß die Seele sich dieser Bewegung bewußt ist. Der Gesichtsschwindel kann nun, seiner Meinung nach, aus allen dreien Ursachen entstehen, der Schwindel des Gefühls aber, da er bei verschlossenen Augen Statt findet, bloß von dem ungewöhnlichen Rücklaufe des Blutes in den Gefäßen. Den Schwindel, der durch das Herumdrehen im Kreise oder durch den Anblick sich drehender Gegenstände entstehet, leitet er davon her, daß durch diese Bewegung das Blut nach der Seite, wohin das Drehen geschieht, einen Rückweg aus den Pulsäderchen in die Stämme nimmt. | *) Nosol. Tom. III. p. I. pag. 237. [François Boissier de Sauvages de Lacroix, Nosologia methodica sistens morborum classes, genera et species, juxta Sydenhami mentem et Botanicorum ordinem. Amsterdam 1763.]

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Fünfter Abschnitt

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Ich mag hier weder alle wirkliche Entstehungsarten und Erscheinungen des Schwindels verfolgen, um ihre Erklärbarkeit aus den erwähnten Hypothesen zu prüfen, noch über die physiologische Richtigkeit des Blutrückganges, der Bewegung des Augapfels oder der Linse Untersuchungen anstellen. So viel sieht man, daß Sauvage die nächste Ursache des Schwindels einzig und allein in das Organ des Gesichts, oder wenigstens bloß in die Veränderung der Gesichtsnerven setzt; daß Er, dessen gewöhnliche Weise es sonst ist, ins Unendliche zu klassifizieren und bei jeder Krankheit die kleinste Verschiedenheit in An­sehung ihres Ursprunges zu einem charakteristischen Merkmal eines besondern Geschlechts oder einer besondern Unterart derselben zu machen, gleichwohl hier eine der wichtigsten Arten von Schwindel übergehet: diejenige nämlich, welche ihren Ursprung ganz und gar nicht in einer körperlichen Veränderung, sondern bloß in den zusammengehäuften und zu schnell auf ein­ander folgenden Vorstellungen hat, deren Wirklich | keit doch wahrlich so wenig, als deren Möglichkeit, in Zweifel gezogen werden kann; und daß er endlich durch allerlei Krümmungen seinen Weg nimmt, und die offenbarsten Fälle dieser Art, wie z. B. den Schwindel durch die Kreisbewegung, lieber aus den mit der Seelenveränderung bloß verbundenen körperlichen, als aus jener unmittelbar herleitet. – So abgeneigt sind oft selbst die scharfsinnigsten Ärzte, in die Natur der Seele einzudringen und aus der Verletzung ihrer Gesetze verschiedene widernatürliche körperliche Erscheinungen zu erklären! Nach meiner bisher entwickelten Theorie sind die Zufälle des Schwindels eine sehr natürliche Folge vom Anblick einer Kreisbewegung, und eine unmittelbare von dem widernatürlichen Zustande der Seele. Wenn die Vorstellungen in der Seele plötzlich ohne allmähligen Übergang mit einander abwechseln und schneller auf einander folgen, als es der natürlichen Weile eines Menschen angemessen ist; so wird die Seele zu geschwind von jeder einzelnen zu der folgenden fortge | rissen, als daß sie die gehörige Aufmerksamkeit auf Eine besonders anwenden und sie mit der erforderlichen Klarheit und Deutlichkeit um-

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Drittes Hauptstück

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fassen könnte. Die Vorstellungen fallen daher in einander, und das Grundvermögen der Seele selbst, die Vorstellungskraft, gerät in den Zustand der Verwirrung. – Nun ist dieses bei der Anschauung einer Kreisbewegung, oder bei der eigenen Kreisbewegung des Körpers selbst, offenbar der Fall. Die Gegenstände erscheinen plötzlich ohne allmählige Vorbereitung, und so wie sie ihren Eindruck auf die Netzhaut hervorgebracht haben, verschwinden sie plötzlich, und wiederholen ihn von neuem. Bei jeder andern Bewegung der Gegenstände oder des Körpers, die mit den Augen in gerader Linie geschieht, entstehen und vergehen die Vorstellungen der Eindrücke auf eine allmählige Weise. Der Gegenstand, der sich dem Auge nähert, äußert schon in der Entfernung eine schwache Wirkung auf die Netzhaut und eine entsprechende Vorstellung in der Seele, die mit der größern Annäherung an Lebhaf | tigkeit immer zunehmen; eben so nehmen Eindruck und Vorstellung an Lebhaftigkeit allmählig ab, wenn der nahe Gegenstand sich in gerader Linie vom Auge entfernt. Bei der Kreisbewegung hingegen fällt diese Stetigkeit in der Wirkung des Gegenstandes weg; denn so wie er bei dem Durchmesser des Sterns vorüber ist, springt er von der Netzhaut ab, und bevor noch die Seele die Vorstellung seines Eindruckes klar und deutlich gefaßt hat, entstehet schon ein neuer Eindruck mit einer neuen Vorstellung, die mit der ersten zusammenfällt und im Ganzen eine Verwirrung verursacht. Daher erregt auch zuweilen eine sehr schnelle Bewegung der Gegen­ stände, selbst wenn sie nicht im Kreise, sondern in paralleler Richtung mit dem Auge geschieht, wie z. B. die wallende Bewegung einer Flamme, gleichfalls einen Schwindel; denn, da die Hornhaut so wohl, als die Netzhaut, Ausschnitte einer Kugel sind, und da es, wie aus der Physiologie bekannt ist, auf der letzteren nur Eine empfindliche Stelle gibt, auf welcher die auffallenden Strahlen Vorstellun | gen erregen: so muß der abgebrochene schnelle Eintritt neuer Strahlen in diese Stelle allerdings eine Verwirrung in den Vorstellungen hervorbringen. Daß der Schwindel mit allen seinen Zufällen beim Herumdrehen des Körpers erfolgt, selbst alsdann wenn es mit ver-

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Fünfter Abschnitt

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schlossenen Augen geschieht, beweist keinesweges, daß seine unmittelbare Ursache, in einer widernatürlichen Bewegung des Nervensaftes bestehet; sondern dies ist eine natürliche Folge der Vorstellungen, welche gewöhnlich das Herumdrehen begleiten, eben so wie die bloße Vorstellung abwesender widriger Dinge wirklichen Ekel und Erbrechen hervorbringt; eben so wie die bloße Vorstellung fürchterlicher Dinge, wenn sie lebhaft ist, diese Dinge wirklich sichtbar macht und alle Folgen ihrer wirklichen Gegenwart verursacht *); eben so endlich wie die Seele im Schlafe von | gewissen dunkeln körperlichen Gefühlen zu Vorstellungen übergehet, welche gewöhnlich die Folgen dieser Gefühle zu sein pflegen, und hernach die Wirkungen dieser Vorstellungen in der Tat fühlt. Es folgt nämlich alles dieses aus dem einmal ausgemachten Gesetze, daß die Seele von jeder Vorstellung einer Ursache sehr leicht zu der Vorstellung derjenigen Wirkung übergeht, die gewöhnlich mit dieser Ursache verbunden zu sein pflegt; und je lebhafter die Vorstellung dieser ist, desto lebhafter ist bei ihr auch die Vorstellung jener. Da es nun eine sehr gewöhnliche Wirkung von dem Herumdrehen des Körpers ist, daß die sichtbaren Gegenstände schnell und plötzlich mit einander abwechseln: so entstehet in der Seele die Vorstellung dieser Abwechslung bei der Kreisbewegung des Körpers, selbst wenn sie mit verschlossenen Augen oder im Dunkeln geschieht; und mit ihr der Schwindel nebst allen seinen Zufällen. Es wäre der Mühe wert, mit einem Blindgebornen den Versuch anzustellen, um zu erfahren, ob die | schnelle Kreisbewegung seines Körpers ihm gleichfalls einen Schwindel verursachte? Ich er­innere mich nicht, irgend eine solche Erfahrung gelesen zu haben; indessen a priori zu urteilen, glaube ich schwerlich, daß bei ihm ein Schwindel entstehen wird, da die Abwechselung der sichtbaren Gegenstände nie in seiner Vorstellung als eine Folge dieser körperlichen Bewegung gewesen ist.

*) Es ist etwas Bekanntes, daß man sich nicht fürchtet, weil man Gespen­ ster sieht, sondern daß man sie sieht, weil man sich vor ihnen fürchtet.

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Drittes Hauptstück

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Mit den schwindlichten Zufällen, denen verschiedene Menschen beim Rückwärtsfahren unterworfen sind, verhält es sich eben so, wie mit denen, welche aus der Kreisbewegung des Körpers oder der äußern Gegenstände entstehen. Da die Gegenstände in diesem Falle nicht wie beim Vorwärtsfahren von der Entfernung sich immer gradweise nähern, und ihren Eindruck auf das Auge nur allmählig stärker und lebhafter machen; sondern immer plötzlich unvorbereitet von der Seite auf die Netzhaut fallen: so muß diese Abwechselung der Eindrücke, wenn sie schnell geschieht, allerdings diejenige Art von Verwirrung in den Vorstel | lungen erregen, die eine Folge von der zu kurzen Weile oder dem zu schnellen Gange der Ideenreihe ist, und zwar dem eben entwickelten Gesetze in der Seele gemäß, selbst wenn sie keine Eindrücke von wirklichen sichtbaren Gegenständen empfindet, sondern nur auf deren Vorstellung durch einen falschen Schluß von Ursache auf Wirkung geleitet wird. Daher die Entstehung des Schwindels beim Rückwärtsfahren, sogar wenn es im Finstern oder mit verschlossenen Augen geschieht. – Indessen setzt doch die Geneigtheit zum Schwindel beim Rückwärtsfahren eine besondere widernatürliche Anlage voraus, und ist unter den Menschen bei weitem nicht so allgemein, wie diejenige, welche mit der wirklichen Kreisbewegung des Körpers oder der sichtbaren Gegenstände verbunden ist. Die meisten Menschen können das Fahren in jeder Richtung ohne die geringste Anwandlung vom Schwindel vertragen; es gibt andere, die derselben nur in verschlossenen Wagen, nicht in offenen, unterworfen sind, und | noch andere, die selbst beim Vorwärtsfahren in verschlossenen Wagen davon befallen werden, weil alsdann die Empfindung der allmählig sich nähernden Gegenstände durch die vordere Hälfte des Wagens allerdings verhindert wird, und die Eindrücke plötzlich, obschon nicht so plötzlich wie auf dem Rücksitze, geschehen. Alles dieses hängt von der eigentümlichen Disposition des Körpers, von der Beschaffenheit des Nervensystems, von der Richtung des Blutes nach dem Kopfe, und von der Gewohnheit ab.

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Fünfter Abschnitt

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Zweitens, die Wahrnehmung einer Menge von Schällen, die mit einer großen Geschwindigkeit und in einer widernatürlichen sehr kurzen Weile auf einander folgen. Diese Ursache aber ist weit seltner, als die von der Folge der Gesichtsgegenstände; auch sind ihre schwindlichten Folgen bei weitem nicht so wichtig, wie bei dieser. Ich habe schon oben, da ich den Unterschied zwischen den sinnlichen Empfindungen in Erwägung zog, erwähnt, daß unsere natürliche Weile bei der Folge der Gehörgegenstände viel | kürzer ist, als bei der Folge der Gesichtsgegenstände. Die Geschwindigkeit der ersteren muß also überaus groß sein, wenn ihre Weile die natürliche an Kürze übertreffen soll; da aber der Gang unserer Gesichtsvorstellungen natürlich langsamer geschieht, so kann schon eine mäßige Schnelligkeit derselben ihn übereilen, und durch die Verwirrung in den Vorstellungen einen Schwindel verursachen. Nur dann wenn die Disposition zum Schwindel sehr stark ist, kann selbst eine Schallfolge von mäßiger Geschwindigkeit denselben erregen. Ich kannte einen Mann, den ganz Deutschland nicht minder kannte und bewunderte63, dessen Körper zu Blutanhäufungen in dem Kopfe gebauet war und der einst durch anhaltendes Anstrengen seiner Seelenkräfte sich eine übergroße Nervenschwäche zugezogen hatte, während welcher er die Unterredungen eines gewissen Freundes, der eine große Redseligkeit besaß und immer mit vieler Lebhaftigkeit und Schnelligkeit einen Strom von Worten von sich gab, nicht einige Minu | ten aushalten konnte, ohne auf der Stelle einen schwindlichten Anfall zu erleiden. – Daß aber auch ohne besondere widernatürliche Disposition jedes Geräusch wenigstens eine leichte schwindelartige Empfindung hervorbringt, lehrt, bei einer geringen Aufmerksamkeit auf sich selbst, einen jeden sein eigenes Gefühl. Die Geneigtheit zum Schlafen beim anhaltenden Geräusche eines Wasserfalles oder beim einförmigen Getöse einer Mühle, zeigt offenbar eine Art von Betäubung an, die einem geringen Grade der Trunkenheit sehr nahe kommt. Was die übrigen Sinne, den Geruch, den Geschmack und das Gefühl betrifft, so machen sie zwar häufig die physische,

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Drittes Hauptstück

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aber niemals die psychische wirkende Ursache des Schwindels aus; d. i. es können zwar ihre Eindrücke, aber nicht ihre Vorstellungen einen Schwindel erregen. Flüchtige durchdringende Ausdünstungen, Dinge von übelm ekelhaften Geruche bringen durch ihren Reiz in den Geruchsnerven bei einem jeden, und bei hysterischen Personen vorzüglich, | Ekel, Erbrechen, Ohnmacht und Schwindel hervor; eben dies geschieht durch Dinge, welche den Magen und die Gedärme reizen, die, wie ich bereits oben erwähnt habe, in so genauer Verbindung mit dem Gehirne stehen. Beim Gefühl geschieht ein gleiches durch heftige Schmerzen; aber in allen diesen Fällen ist der Schwindel bloß körperlichen Ursprunges, bloß eine Folge des Reizes, den die Nerven dem Gehirne mitteilen, wodurch zugleich die Absonderung des Nervensaftes beschleunigt wird; keinesweges aber eine unmittelbare Folge des beschleunigten Ganges der Vorstellungen, und er entstehet daher bei den Gegenständen der niedern Sinne nicht wie bei den höheren auf die bloße schnelle Folge einer Mannichfaltigkeit, sondern nur wenn ihre Eindrücke von vorzüglicher Wirkung auf die Nerven sind. Die Ursache dieser Verschiedenheit habe ich oben aus einander gesetzt. Sie bestehet nämlich darin, daß die Eindrücke der niedrigen Sinne an sich zu stark sind, und jede ihrer Vorstellungen nicht, wie bei | den höheren Sinnen, gleich mit der Entfernung des Gegenstandes verschwindet, sondern immer noch eine Zeitlang in der Seele fortdauert; und wenn daher verschiedene mit Geschwindigkeit auf einander folgen, so fallen sie in einander und machen eine einzige vermischte aus. Drittens, Gemütsbewegungen, und zwar solche, bei denen eine Menge Vorstellungen mit Schnelligkeit durch die Seele gehet, wodurch sie in einem wankenden Zustande zwischen der Hauptvorstellung und den mit ihr verwandten oder ihr entgegengesetzten erhalten wird. Vorzüglich findet dieses bei der Furcht Statt, wenn von der einen Seite die Anschauung des fürchterlichen Gegenstandes die Vorstellung desselben und aller seiner Folgen stark und lebhaft macht, und von der andern Seite Vorstellungen der Hoffnung und Sicherheit minder lebhaft entge-

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Fünfter Abschnitt

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gen wirken. Die Seele wird alsdann durch diese von der Hauptvorstellung alle Augenblick weggelenkt, und gleich darauf durch die Anschauung wieder zu derselben hingerissen. | Dadurch gewinnt diese so sehr an Lebhaftigkeit, daß sie, wie die Erfahrung lehrt, öfters der wirklichen leidenden Empfindung des gefürchteten Übels nichts nachgibt, mit ihr verwechselt wird, und bisweilen von noch mächtigerer Wirkung als diese selbst ist. Daher die Bangigkeit und Beklemmung ungeübter Menschen bei der Gegenwart einer Kanone die eben abgebrannt werden soll, wenn sie gleich durch ihre Stellung aufs deutlichste von ihrer Sicherheit überzeugt sind; daher die augenblickliche Empfindung von der Folter, welche das Zahn­ausreißen verursacht sobald der Zahnarzt in die Stube tritt, und welche öfters die vorhergegangenen gräßlichen Zahnschmerzen auf der Stelle verscheucht; daher die leichte Empfänglichkeit empfindlicher Personen für ansteckende Krankheiten, wenn die Anschauung derselben mit Furcht und Abscheu verbunden ist, wie dieses vorzüglich bei krampfhaften Anfällen geschieht, deren Anblick in einem hohen Grade widrig und abscheulich ist; daher kann die lebhafte | fürchterliche Vorstellung eines noch größern Übels wiederum diese Empfindung unterdrücken, wie solches die bekannte Boerhaavische Geschichte von der allgemeinen Nervenkrankheit der Kinder zu Harlem offenbar zeigt; daher können wir keinen Engbrüstigen atmen sehen und keinen Keichhusten anhören, ohne gleichsam selbst mit schwer zu atmen oder eine Art von Beklemmung zu fühlen, u. s. w. Alles dieses gründet sich auf die Übermacht, welche die Anschauung, wenn sie mit Furcht verbunden ist, über die deutliche Vorstellung des Gegenteils hat, und zwar, wie Mendelssohn es erklärt, weil bei der Furcht eine Menge dunkler Begriffe gegenwärtig ist, die in Ansehung des Einflusses auf den Willen durch ihre Schnelligkeit das aufheben, was die entgegengesetzten deutlichen durch ihre Lebhaftigkeit wirken. – Und darauf gründet sich auch in unserm Falle die Erscheinung des Schwindels beim Anblick einer unabsehlichen Tiefe oder beim Herunterblicken von einer großen Höhe, welches zu erklären | die Schriftsteller so schwer finden. Die

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Drittes Hauptstück

370–372

erste Vorstellung beim Anblick eines so entfernten Raumes unter uns ist die des Herunterfallens, verbunden mit allen fürchterlichen Nebenvorstellungen, als: die Lebensgefahr, die Zerschmetterung, Zerbrechungen und Schmerzen an verschiedenen Teilen des Körpers, der Luftmangel beim Atemholen, das Hineinstürzen in eine unbekannte Tiefe, u. s. w. Alles dieses durchkreuzt die Seele, und erhält die Vorstellung des Fallens in sich lebhaft; da hingegen von der andern Seite die Vorstellung von dem Nichtfallen eine einzige deutliche, auf der vernünftigen Überzeugung von der Sicherheit des Ortes beruhende und mit keiner Nebenvorstellung verbundene Erkenntnis ist. Die Anschauung der Gefahr oder die Furcht bleibt daher herrschend, und die Vorstellung des Herunterfallens mit allen Folgen gewinnt durch die entgegengesetzte schwächere (der Sicherheit) an Lebhaftigkeit. Da nun bei jeder Furcht eine Vorempfindung der bevorstehenden Gefahr ist; |so muß auch hier das Gefühl des Fallens, Wankens, und das damit verbundne Drehen der Gegenstände in der Seele entstehen. Nur die Gewohnheit kann, so wie überall bei der Furcht, dieses entgegengesetzte Gefühl unter­drücken, wie die Erfahrung es bei denen Arbeitern, welche in einer großen Höhe ihr Gewerbe treiben, offenbar zeigt; und die Ursache ist leicht einzusehen, indem durch die Gewohnheit die Überzeugung von der Sicherheit, in der man sich befindet, aufhört eine bloße deutliche Erkenntnis zu sein, und selbst eine Anschauung wird. Außer der Furcht, und zwar dieser einzigen Art, wo das Her­ unterfallen der eigentliche Gegenstand derselben ist, gibt es keine Gemütsbewegung, die unmittelbar durch Veränderung in dem Gange der Vorstellung einen Schwindel verursacht. Selbst das Erschrecken, das mit der Furcht so nahe verwandt ist und, wie die Erfahrung lehrt, sehr oft einen Schwindel hervorbringt, erregt ihn doch nur mittelbar durch die kör | perliche Veränderung die es wirkt, indem es nämlich den freien Umlauf der Säfte stört, das Blut nach den innern Teilen treibt und Anhäufungen desselben im Gehirne macht, wodurch dieses gedrückt und der Einfluß des Nervensaftes unterbrochen oder in Un-

372–374

Fünfter Abschnitt

199

ordnung gebracht wird. Daher die verschiedenen Nervenkrankheiten, als die fallende Sucht, die Starrsucht, die Ohnmachten, welche ihn zu begleiten pflegen, und sogar der Schlagfluß, der nicht selten unmittelbar darauf erfolgt. Finden nun jene Wirkungen in einem geringen Grade Statt, und werden das Sensorium commune oder die Nerven durch die zu starke Anhäufung des Blutes zu schnellern Bewegungen ihres Saftes gereizt, so muß notwendig der Schwindel entstehen; unmittelbar aber kann das Schrecken den Gang der Vorstellungen nicht beschleunigen, indem dessen Wirkung von der Seite betrachtet, zufolge der Erfahrung gerade die entgegengesetzte ist. Der ganze Fortgang der Ideenreihe scheint durch den plötzlichen Anblick | der Gefahr unterbrochen, und die Seele vielmehr in einen Zustand des Nichtbewußtseins und der Untätigkeit gesetzt zu werden. – Eben dies gilt von den übrigen Furchtarten und den Gemütsbewegungen überhaupt. Die Furcht vor einem verfolgenden Feinde, vor einem elenden Gefängnisse oder vor der Nachricht eines bevorstehenden Unglückes, erweckt gleichfalls zum öftern einen Schwindel; aber dieser Schwindel ist größtenteils eine Folge von der mechanischen Wirkung der Furcht auf den Körper, indem jede Furcht die äußern Hautgefäße zusammenzieht, das Blut nach den innern Teilen drängt und Anhäufungen im Gehirne macht. Auch von Zorn, Traurigkeit, Verdruß, Eifersucht, Heimwehe, verunglückter Liebe, unmäßigen nächtlichen Geistesanstrengungen, u. s. w. sieht man zuweilen den Schwindel entstehen; aber sie alle wirken, wie bekannt, unmittelbar auf das System der Gefäße oder der Nerven, beschleunigen den Blut­umlauf bald, und verzögern ihn bald, oder setzen auch | unmittelbar die Nerven selbst in einen widernatürlichen Zustand, wodurch der Einfluß des Nervensaftes gleichfalls widernatürlich verändert wird. Daher pflegen der Wahnsinn, der Schlagfluß, die Krämpfe so häufig die Folgen derselben zu sein; und wie man hieraus sieht, gehört in. diesen Fällen die gelegentliche wirkende Ursache des Schwindels größtenteils zu der physischen Klasse. |

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375 | 376

V I E RT E S H AU P TS T Ü C K . E R S T E R A B S C H N I T T.

Auseinandersetzung der Begriffe: vollständige und unvollständige, gründliche und Scheinkur überhaupt — Erläuterndes Beispiel von der Kur des Schlagflusses — Fälle wo das Beharren auf die gründliche Kur höchst kunstwidrig wäre — Besonderer Fall, wo man sich an die Scheinkur halten muß, wenn nämlich die erste wirkende Ursache nicht mehr gegenwärtig ist — Dieses findet sich häufig bei den Nervenkrankheiten — Die Nerven sind nachgiebiger gegen die Gewohnheit, als jeder andere Teil des Körpers — selbst im gesunden Zustande  — Unsere Heilart bei den Nervenkrankheiten ist größtenteils empirisch und palliativ — Beweis aus der Anwendungsart der Nervenmittel — Sie sind aber auch einer gründlichen Kur fähig.

D

ie Kur des Schwindels zerfällt, wie die Kur jeder andern Krankheit, in die vollständige und unvollständige, in die gründliche und die Scheinkur. Gründlich ist jede Kur, | die nicht geradezu gegen die erscheinenden Zufälle, welche die zufälligen oder auch wesentlichen Symptome der Krankheit ausmachen, sondern gegen deren Ursache gerichtet ist, und desto gründlicher, gegen eine je höhere in der Reihe der entfernten Ursachen sie angewendet wird. Da nun eine jede Krankheit eine zwiefache Reihe von Ursachen hat: eine wirkende und eine prädisponierende; so ist wiederum die Kur entweder gegen beide, oder nur gegen Eine gerichtet. Im erstern Falle ist sie eine vollständige gründliche, im letztern, eine unvollständige. Es kann ferner jede nächste Ursache von der Art sein, daß sie nur so lange im Körper wirkt, als ihre Ursache (die gelegentliche) gegenwärtig ist, und daß sie mit dieser zugleich aufhört; sie kann aber auch zuweilen fortdauern, obgleich die gelegentliche, die sie hervorgebracht hat, nicht mehr vorhanden ist. Wir heben daher bei der gründlichen Kur die nächste Krankheitsursache, entweder in-

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Viertes Hauptstück

376–379

dem wir sie selbst, oder indem wir diejenige die ihr unmittelbar vorhergeht, | nämlich ihre gelegentliche, aus dem Wege räumen. Diese Verschiedenheiten in den Kurmethoden werden am augenscheinlichsten durch die Behandlung der verschiedenen Arten von Schlagflüssen erläutert. Wenn von einem zu starken Zuflusse des Blutes nach den obern Teilen die Gefäße des Gehirns zu sehr angefüllt und ausgedehnt, und dessen Nerven so gedrückt werden, daß das Empfindungs- und Bewegungsgeschäft zum Teil unterbrochen wird, und die Lebensverrichtungen nur schwerfällig von Statten gehen; so entsteht die leichteste Art von Schlagfluß, die dem heilenden Arzte die wenigste Schwierigkeit macht. Hier ist die nächste wirkende Ursache der verhinderte Hin- und Rückfluß des Nervensaftes, und die gelegentliche, die allzustarke Anhäufung des Blutes in den Hirn­ gefäßen. Die erste dauert aber nur so lange, als die zweite gegenwärtig ist; und sobald wir den Zufluß des Blutes von den obern Teilen ableiten, wird auch der Druck auf die Nerven geho | ben. Es läuft folglich alle Tätigkeit des Arztes in diesem Falle entweder auf allgemeine Ausleerungen, oder bloß auf Ableitungen nach entgegengesetzten Teilen hinaus; daher verrichten Aderlässe, Brech- und Purgiermittel, Dämpfe, Bäder, blasenziehende Mittel u. s. w. die ganze Kur. Wollte man es versuchen, ohne auf die gelegentliche wirkende Ursache Rücksicht zu nehmen, bloß die nächste wegzuschaffen, so würde man in der Tat, wenn dieses auch zu bewerkstelligen wäre, sehr wenig damit ausrichten; denn so lange der Hinfluß des Blutes nach dem Gehirne dauert, wird auch der Druck auf dasselbe und auf die Nerven immer von neuem wieder hervorgebracht. – Gesetzt aber, die Gewalt des zudringenden Blutes wäre so stark, daß es bereits Stockungen oder gar Zerreißungen in den Hirngefäßen zuwege gebracht hätte, und dadurch Austretungen entstanden wären, welche die Nerven drückten und den freien Durchgang des Saftes in ihnen aufhöben: so ist es in die Augen fallend, daß zwar durch die Ableitung des | Zuflusses von dem Gehirne der fernere Wachstum des Übels verhütet wird, weil sonst die Ergießungen immer zunehmen und die Stockungen immer hartnäckiger wer-

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Erster Abschnitt

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den müssen, je größer und heftiger der Antrieb des Blutes ist; allein die nächste Ursache selbst kann dadurch nicht weg­geschafft werden: denn diese (der Druck des bereits ausgetretenen Blutes) dauert noch fort, wenn auch diejenige, welche sie hervorgebracht hat, gänzlich aufhört. Wenn wir also in diesem Falle die nächste Ursache heben wollen, so müssen unsere Mittel geradezu wider sie selbst, wider die Austretungen und Stockungen gerichtet sein; d. i. wir müssen suchen, die Zerteilung der stockenden Materie und die Einsaugung der ausgetretenen zu befördern. – In beiden erwähnten Fällen hätten wir nun die wirkende Ursache wirklich gehoben, wenn anders die angewandten Mittel hinreichend waren, den Trieb des Blutes von dem Gehirne abzuwenden, oder die Stockungen und Austretungen aus dem Gehirne zu entfernen; aber nur die wirkende Ursache, nicht | die disponierende: denn, wenn die Gefäße des Gehirns einmal durch eben diesen starken Hinfluß oder durch andere Ursachen eine solche Schwäche bekommen haben, daß sie sich von dem hindrängenden Blute leicht ausdehnen oder zerreißen lassen, so bedarf es nur der geringsten Wiederholung der Gelegenheitsursache, um die wirkende mit der ganzen Krankheit wiederum von neuem hervorzubringen. Wir hätten also im Grunde zwar diesen einzelnen Anfall des Schlagflusses gehoben, aber nicht den Zustand des Schlagflusses (status apoplecticus), nicht die ganze Krankheit; und unsere Kur wäre nur eine unvollständige. Wenn wir sie zur vollständigen machen wollen, müssen wir dem Systeme der Gefäße und der Nerven eine Stärke zu erteilen suchen, wodurch der Ausbruch eines neuen Anfalles verhindert wird; d. i. wir müssen die disponierende Ursache gleichfalls aus dem Wege räumen. Die Palliativkur unterscheidet sich von der gründlichen darin, daß sie keine von beiden Ursachen hebt, sondern nur die Äußerung | ihrer Wirkung verhindert. Sie läßt jene unverändert im Körper, und setzt bloß der Erscheinung der Zufälle einen Widerstand entgegen, (wie z. B. bei der Unterdrückung der Wechselfieber durch heftige zusammenziehende Mittel), ohne vorher den Krankheitsstoff in den ersten Wegen aufgelöst und ausge-

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Viertes Hauptstück

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führt oder die Verstopfung der Eingeweide gehoben zu haben. Es kann nicht fehlen, daß diese Kur nur von kurzer Dauer sein muß; indem die wirkende Ursache entweder von selbst größer wird, den Widerstand überwindet und die Krankheit von neuem hervorbringt, oder ihre Beschaffenheit verändert, auf einen andern Teil des Körpers, wo die Kunst ihr weniger Hindernis entgegengesetzt hat, ihre Wirkung äußert und Zufälle von anderer Art hervorbringt, die fast allemal hartnäckiger und gefährlicher sind, als die erste ursprüngliche Krankheit. Die Erfahrung lehrt dieses täglich bei zu früher Unterdrückung der Wechselfieber, bei Zurücktreibung der gichtischen Materie, der Krätze oder anderer Ausschläge u. s. w. | Aber ob es gleich die Sache des vernünftigen Arztes ist, überall die gründliche, und, wo möglich, die vollständige Kurmethode anzuwenden, und ob er sich gleich eigentlich hierdurch von dem gemeinen Empiriker unterscheidet; so gibt es dennoch Fälle, wo das strenge Beharren auf Tilgung der nächsten Ursache höchst kunstwidrig wäre, und wo ohne den größten Nachteil des Kranken die Palliativkur nicht vernachlässigt werden kann. Zu diesen Fällen gehören: Erstlich, wenn Lebensgefahr die Palliativkur dringend macht, wie z. B. bei den bös­arti­ gen Wechselfiebern, deren Anfälle mit schlagflüssigen, schlafsüchtigen oder andern Nervenzufällen verbunden sind, und die man, wie Werlhof 64 lehrt, ohne Rücksicht auf ihre Ursache, auf der Stelle durch die Chinarinde unterdrücken muß. Zweitens, wenn Zuckungen oder andre Nervenzufälle wegen heftiger Schmerzen zu befürchten sind, als bei heftigen podagrischen, Kolik- oder Stein-Anfällen, wo die Vernunft befiehlt, durch betäubende Mittel die Anfälle zu unterdrücken, bis es in der Zwischenzeit der Kunst | gelingt, die ganze Krankheitsursache aus dem Wege zu räumen. Drittens, wenn die nächste Ursache nicht mehr zu heben und die Krankheit an sich unheilbar ist, wie bei einem hohen Grade der Schwindsucht, wo man bloß palliativ verfahren muß, um die Heftigkeit des Fiebers zu unterdrücken und die Kräfte des Kranken zu unterstützen. Viertens endlich, wenn die bloße Palliativkur die gründliche nachahmt, und alle

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Erster Abschnitt

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nachteilige Folgen der Krankheit hebt, welches vorzüglich bei der Anwendung äußerer Mittel zuweilen Statt findet, z. B. bei der Anwendung der Bänder bei Brüchen, oder der Kränzchen bei Muttervorfällen. Es gelingt, wie bekannt, nicht selten, daß während dieser künstlichen Palliativkur die Natur eine gründ­ liche zu Stande bringt. Indes gibt es außer den erwähnten Fällen noch einen, in welchem auf die Palliativkur vorzüglich Rücksicht genommen werden muß, und welcher vielleicht in der gewöhnlichen Praxis von den allzuschwierigen gründlichen Ärzten am meisten über­sehen | wird; wenn nämlich die nächste wirkende Ursache, welche zuerst die Krankheit hervorbrachte, gar nicht mehr gegenwärtig ist und die Krankheit gleichwohl noch fortdauert, oder wenn sie allenfalls noch gegenwärtig ist, ohne daß die Fortdauer der Krankheit noch von ihr abhängt. Es ist bekannt, daß die Anfälle der Wechselfieber öfters noch eine Zeitlang, wiewohl schwächer, wiederkommen, ob man gleich ihre Ursache aus den er­ sten Wegen oder aus einem verletzten Eingeweide völlig weg­ geräumt hat; und die Anwendung der Chinarinde in diesen Fiebern überhaupt ist fast allemal wie eine Palliativkur anzusehen, obschon es uns eben nicht zu häufig gelingt, ohne dieselbe bloß durch auflösende und ausleerende Mittel sie zu heben. So können zurückgetretene Ausschläge oder kritische Absetzungen eines Krankheitsstoffes Lähmungen, Blindheit, Engbrüstigkeit, Wassersucht u. s. w. hervorbringen, welche Jahre lang anhalten, nachdem diese Krankheitsmaterie schon aus dem Körper verdünstet, in gute Säfte verwandelt worden, oder wenig | stens eine ganz andere Beschaffenheit angenommen hat. Wer sich hier zu ängstlich an die gründliche Kur halten und, anstatt die Krankheit geradezu durch entgegengesetzte Mittel zu heilen oder zu unterdrücken, immer noch ihre vorige nächste Ursache (die zurückbehaltene Materie) wegzuräumen suchen wollte: der würde nicht nur, gleich einem der eine durch ein Licht entstandene Feuersbrunst durch Auslöschung des Lichtes löschen wollte, seinen Endzweck verfehlen; sondern durch die häufige Anwendung auflösender und ableitender Mittel den Kranken immer mehr

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Viertes Hauptstück

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schwächen und seine Zufälle verschlimmern. – Ich habe einst so ein auffallendes Beispiel von allzuängstlicher vernünftiger Kurart unter Händen gehabt. Es ward ein Mann nach meinem Lazarette gebracht; der vor zehn Jahren krätzig gewesen war, und sich, um das Übel schnell los zu werden, ohne alle Vorbereitung mit e­ iner Schwefelsalbe geschmiert hatte. Die Krätze trat damals zurück, und er bekam eine Engbrüstigkeit, die durch spanische Fliegenpflaster | und Aderlässe glücklich gehoben wurde. Unmittelbar darauf stellten sich alle vier oder fünf Wochen leichte spastische Zufälle in den Händen bei ihm ein, die er aber, weil er ein herumstreichendes Leben führte und sie ihn in seinem Gewerbe nicht störten, nicht achtete; bis ein Jahr vorher ein junger Arzt, der noch ganz warm aus der Schule kam und noch voll von den gründlichen Kathederkuren war, ihm versprach, ihn radicaliter zu kurieren. Er suchte, nach dem Beispiele des seligen M ­ uzells65, durch Einimpfung die Krätze bei ihm wieder hervorzubringen; aber es gelang nicht. Darauf ließ er ihn starke blutreinigende Dekokte, Schwefel und Quecksilber in großer Menge nehmen, um die Krätzmaterie, wenn sie nicht heraus­ gebracht werden könne, zu verbessern und das Blut zu reinigen; allein der Kranke ward nach vierwöchentlichem Gebrauche dieser Mittel äußerst hinfällig und geschwächt, und die leichten Zuckungen verwandelten sich in die heftig­sten Krämpfe, denen er noch bis zu der Zeit, da er ins Lazarett kam, täglich unterworfen | war. Ich ließ die blutreinigenden Mittel wegsetzen, verordnete an deren Stelle stärkende, die ich mit krampfstillenden, besonders mit den Zinkblumen verband; und der Mann verließ nach sechs Wochen das Lazarett völlig gesund. Und freilich ereignet sich dieses Fortdauern der Zufälle nach Entfernung ihrer vorhergegangenen nächsten Ursache, bei den Nervenkrankheiten überhaupt am häufigsten. Kein Teil unsers Körpers ist gegen die Gewohnheit so nachgiebig, wie die Nerven. Ein einziger mäßigstarker Eindruck ist oft im Stande, sie, besonders wenn sie im mindesten von widernatürlicher Beschaffenheit sind, ganz umzustimmen und ihnen auf immer eine andere Wendung in ihren Verrichtungen zu geben, oder wenig­

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Erster Abschnitt

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stens eine solche Disposition zu erteilen, daß sie nicht nur bei der Wiederholung desselben Eindruckes, sondern auch schon bei einem ihm nur ähnlichen, in eben den Zustand geraten. – So verhält es sich nicht mit den übrigen Werkzeugen des Körpers und ihren Verrichtungen. Man | kann sich zu wiederholtenmalen durch Überladung des Magens ein Erbrechen oder durch Erkältung einen Durchfall zugezogen haben, ohne daß, nach Entfernung der Ursache, weder der Magen noch die Gedärme eine Neigung zu diesen Zufallen übrig behalten. Es ist etwas sehr gewöhnliches, daß gewisse Teile die heftigsten und hartnäckig­ sten Entzündungen erleiden und nach deren Zerteilung nicht die mindeste Anlage zu demselben Zufalle behalten und selbst bei der wiederholten Gegenwart derselben Ursache, ihm nicht unterworfen sind; ja, es gibt, wie bekannt, gewisse widernatürliche Veränderungen, denen verschiedene Teile unsers Körpers schlechterdings nur ein einzigesmal ausgesetzt, und welche zum zweitenmal anzunehmen sie auf keine Weise fähig sind, als z. B. die pocken- und masernartige Beschaffenheit der Säfte. Hingegen ist von der andern Seite nichts gewöhnlicher, als daß ein einziger durch Schrecken, Furcht, Ärger, oder einen sonstigen Fehler in der Lebensart entstandener krampfhafter Anfall den Nerven | eine solche Empfänglichkeit gegen denselben erteilt, daß bei der mindesten Veranlassung eines Fehlers in den so genannten nicht natürlichen Dingen, wobei sie eine Mitveränderung leiden, der Anfall von neuem erregt wird. Noch mehr. Die Macht der Gewohnheit über die Nerven ist so groß, daß diese, selbst in gesundem Zustande, in Ansehung der Zeit und des Ortes ihrer natürlichen Verrichtungen, von derselben sehr leicht unvorsetzlich bestimmt werden. Es ist eine bekannte Erfahrung, daß, wenn man nur einigemale hinter einander zu einer gewissen Zeit Nahrung zu sich genommen, sich schlafen gelegt oder aufwecken lassen, man zu derselben Zeit immer wieder das Bedürfnis der Nahrung und des Schlafes fühlt, und von selbst erwacht. Wenn man zu einer bestimmten Stunde oder an einem bestimmten Orte gewisse Bedürfnisse verschiedenemale befriedigt hat, so werden mit Herannäherung

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Viertes Hauptstück

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dieser Stunde oder dieses Ortes eben die Bedürfnisse lebhafter, und der Reiz sie zu befriedigen drin | gender. Dieses geschieht freilich durch die Vergesellschaftung der Vorstellungen, indem, die Vorstellungen von Zeit und Ort, selbst wenn sie dunkel in der Seele sind, die mit ihnen verbundene Vorstellung von den Bedürfnissen und ihrer Befriedigung rege machen; aber es ist doch ein auffallender Beweis von der leichten Stimmbarkeit der Nerven, die in ihren Verrichtungen, wenn sie einigemal auf eine gewisse Weise geschehen, von dunkeln Vorstellungen, die nur die schwächste Verwandtschaftsart von Zeit und Raum mit ein­ ander haben, zu Bewegungen einer gewissen Art determiniert werden. Von dieser Leichtigkeit, mit welcher die Nerven eine widernatürliche Disposition annehmen, verbunden mit unsrer mangelhaften Kenntnis von ihrer Beschaffenheit überhaupt, rührt es her, wie ich schon anderwärts bemerkt habe, daß wir in Ansehung der Kur ihrer Krankheiten größtenteils empirisch und palliativ verfahren: empirisch; weil wir weder ihre natürliche Beschaffenheit, noch ihre Abweichung von derselben im widernatürlichen | Zustande kennen, um auf eine vernünftige Weise im voraus einzusehen, wie dieselbe durch dieses oder jenes Mittel verändert werden wird: palliativ; weil die Ursache der Nervenzufälle, besonders wenn sie schon eine Zeitlang gedauert haben, öfters nicht mehr im Körper gegenwärtig ist, und wir also, da die Kur nicht gerade gegen dieselbe gerichtet werden kann, bloß durch Mittel, deren Wirksamkeit wir aus der Erfahrung kennen, die Zufälle selbst zu unterdrücken, den uns unbekannten widernatürlichen Zustand der Nerven zu heben, und diese wiederum in den uns gleichfalls unbekannten natürlichen Zustand zu setzen suchen müssen. So verhält es sich in der Tat bei unserer Kur der meisten Nervenkrankheiten. Das Bibergeil, der Asant, der Bisam, das Dippelsche Öl, das Cajaputöl u. s. w. deren wir uns mit so vielem Nutzen gegen dieselben bedienen, haben dieses mit einander g­ emein, daß sie flüchtige durchdringende Teile besitzen, wodurch sie den Umlauf des Blutes beschleunigen; und vermöge der Ana-

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Erster Abschnitt

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logie | sollten wir in diese gemeinschaftliche Eigenschaft die gemeinschaftliche Wirkung setzen, die sie auf die Nerven äußern. Indessen bietet uns die Erfahrung andere Mittel dar, welche dieselbe Eigenschaft haben, ohne doch eben die Wirkung auf die Nerven hervorzubringen. Die Aloë, die Niesewurz, der Safran u. d. m. befördern den Blutumlauf zuverlässig in einem eben so starken Grade, wie die erwähnten Mittel; gleichwohl äußern sie keine Wirkung, zufolge deren sie zu der Klasse von Nervenmitteln gezählt werden könnten. Hingegen die Zinkblumen (ein Mittel, welches auf das System der Gefäße von gar keinem Einflusse zu sein scheint, und in seinen Bestandteilen mit den angeführten Nervenmitteln nicht die mindeste Ähnlichkeit hat) verdienen dessen ungeachtet, in Ansehung ihrer Wirkung, eine vorzügliche Stelle unter jenen Mitteln, und ich habe durch sie eingewurzelte anhaltende Krämpfe geheilt, die keinem andern bekannten Mittel weichen wollten. Ich weiß, daß man sagt: die Heilkräfte der Zinkblumen beruhen auf ihrer ab | sorbierenden Fähigkeit, und sie sind nur in denen Fällen wirksam, wo eine Säure in den ersten Wegen die Ursache der Krämpfe ist; allein auch dem widersprechen meine Erfahrungen. Ich habe sie in Fällen, wo nicht der mindeste Verdacht einer vorhandenen Säure zugegen war, vom größten Nutzen gefunden; auch sehe ich nicht ein, warum sie hierin einen so auffallenden Vorzug vor andern Mitteln haben sollten, welche die Säure weit stärker verschlucken, wie z. B. das Weinsteinsalz? – Und endlich ist die Wirksamkeit aller dieser Mittel überhaupt so unbestimmt, so regellos, daß man bei ihrer Anwendung in jedem einzelnen Falle eigentlich nicht weiß, an welches unter ihnen man sich vorzüglich halten soll, sondern daß man blindlings zugreifen und eins nach dem andern versuchen muß, bis man gerade dasjenige trifft, welches diesem individuellen Falle angemessen ist. Ich habe Nervenkrankheiten von völlig ähnlicher Art bei völlig ähnlichen, Personen unter Händen gehabt, von denen ich die eine nur mit dem Cajaputöl heilen | konnte, die andere bloß den Zinkblumen weichen wollte, bei der dritten aber mit nichts als mit dem Baldrian etwas auszurichten war, u. s. w. Ich hatte

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Viertes Hauptstück

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sie alle gehoben, ohne daß ich mir von meinem Verfahren und dessen Verschiedenheit Rechenschaft zu geben wußte. Eben das, glaube ich, wird jeder Arzt erfahren, der öfters Gelegenheit hat, Nervenkrankheiten zu behandeln. Man sieht also, daß von dieser Seite in unserer Kunst noch eine Dunkelheit herrscht, welche sie ganz bis zur Empirie heruntersetzt, und welche macht, daß wir nicht einmal nach eigentlichen Erfahrungen, sondern bloß nach dem was wir verschiedenemale gesehen, unser Verfahren einrichten müssen, d. i. daß wir im genauesten Verstande nur palliativ zu handeln vermögend sind. – Indes müssen und können wir uns mit der Palliativ­ kur vollkommen begnügen: müssen; da wir keine Hoffnung haben, jene Dunkelheit, die sich auf unsere mangelhafte Kenntnis der Nervenbeschaffenheit gründet, jemals | zerstreuet zu sehen; können; da wegen der erwähnten Leichtigkeit der Nerven, in ­einem einmal angenommenen widernatürlichen Zustande zu beharren, (wenn gleich die Ursache, die sie darin versetzt hat, aus dem Körper entfernt ist) die Palliativkur mit der gründlichen fast in gleichen Schritten geht, und man nichts mehr bedarf, als ihnen in ihrer Wirkungsart auf irgend eine Weise eine andere Richtung zu geben, und sie aus diesem Zustande in ihren natürlichen zurückzubringen. Aber freilich gilt dies nicht durchaus von jedem Falle bei der Kur der Nervenkrankheiten, sondern nur alsdann, wenn, wie ich schon erwähnt habe, die erste wirkende Ursache nicht mehr im Körper vorhanden ist, oder wenigstens die Fortdauer der Zufälle nicht mehr von ihr abhängt, und wir daher bloß die Veränderung der Nervenbeschaffenheit an sich zum Gegenstand haben. Wenn aber die Krankheit noch nicht lange gedauert hat und ihre erste wirkende Ursache noch immer im Körper | gegenwärtig ist und sie zu unterhalten fortfährt: so verstehet es sich von selbst, daß wir bei ihr die gründliche Kur eben so gut anwenden können, wie bei jeder andern Krankheit, indem wir diese Ursache aus dem Körper zu entfernen suchen. So heben wir täglich auf eine gründliche Weise Nervenzufälle dadurch, daß wir die ersten Wege von gallichten und schleimichten Un-

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Erster Abschnitt

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reinigkeiten befreien, aus dem Darmkanale Würmer abführen, den Durchbruch der Zähne befördern, unterdrückte Blutflüsse wieder herstellen, Schmerzen lindern, u. s. w. |

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Z W E I T E R A B S C H N I T T.

Auseinandersetzung der Umstände, unter welchen der Schwindel ­einer vollständigen gründlichen Kur fähig ist — Systematische Einteilung des Schwindels nach Verschiedenheit seiner wirkenden Ursache, und dessen verschiedene Kurart.

W

as ich im vorigen Abschnitte von den Nervenkrankheiten überhaupt gesagt habe, gilt von dem Schwindel, als einer der vorzüglichsten dieser Klasse, gleichfalls. Er kann Symptom einer andern Krankheit oder Folge einer äußern gelegentlichen Ursache sein, von deren Gegenwart er beständig unterhalten wird; er kann aber auch bloß von der veränderten Modi­fika­tion des Gehirns und des Nervensystems abhängen, die entweder eine innere natürliche ist, oder von einer fremden widernatürlichen Ursache herrührt, die nicht mehr in dem Körper ge | genwärtig ist, deren Wirkung aber, wie bei Nervenkrankheiten der Fall häufig Statt findet, dennoch fortdauert. Und danach wird die Verschiedenheit der Kurart, die man anwenden muß, sich richten. Ist die disponierende Ursache ursprünglich in der Seele, das heißt, ist der natürliche Fortgang der Vorstellungen bei einem Menschen langsam; so findet zwar eine gründliche Kur des Schwindels, aber keine vollständige Statt. Wir können bloß die wirkende Ursache, welche gegenwärtig den Gang der Vorstellungen zu sehr beschleunigt, aus dem Wege räumen, aber nicht die Disposition; so wie man überhaupt bei der ganzen oben erwähnten dritten Klasse von Krankheiten deren gelegentliche dispo­nierende Ursache eine innere natürliche ist, keine vollständige Kur anwenden kann. Eben so wenig läßt sich daher bei dieser Krankheit eine vollständige Kur denken, wenn gleich die disponierende Ursache ursprünglich im Körper liegt, sobald nur die gelegentliche disponierende eine innere natür | liche ist, wie z. B. das hohe ­Alter oder

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Zweiter Abschnitt

213

das weibliche Geschlecht. Der mit diesen Umständen verbundene langsame Gang der Vorstellungen kann durch kein Mittel verändert werden, ohne daß der Körper in einen gewaltsamen widernatürlichen Zustand gesetzt wird, welcher die Quelle anderer gefährlicherer Krankheiten werden kann. Ist hingegen die gelegentliche disponierende Ursache eine ­äußere, so können wir allerdings die Disposition heben und eine vollständige Kur zu Stande bringen. Ich habe oben diese äußeren gelegentlichen Ursachen auf folgende beide Umstände zurückzubringen gesucht: auf die vermehrte Reizbarkeit, und auf die totale oder partielle Vollblütigkeit. Jene können wir durch krampfstillende, besänftigende, narkotische Mittel verringern, wenn sie unmittelbar in den Nerven ihren Grund hat; durch stärkende Mittel, als, kalte Bäder, Chinarinde, Eisen und eine angemessene Diät, wenn sie von Schwäche herrührt, wie dieses z. B. bei Genesenden der Fall ist; und durch Entfer | nung des reizenden Stoffes aus dem Körper durch Auflösungen und Ausleerungen, wenn von ihm die Wirkung abhängt, wie solches im hypochondrischen Zustande, wo ein Infarktus in den Eingeweiden zum Grunde liegt, geschiehet, u. s. w. Diese, heben wir durch Verminderung der ganzen Blutmasse oder durch Ableitung derselben von den obern Teilen. Von Seiten der nächsten wirkenden Ursache hingegen, ist der Schwindel, er mag idiopathisch oder consensuell sein, aller­ dings einer radicalen Kur fähig, sobald nur diese Ursache erkannt wird und die Kunst ihrer mächtig ist, indem sie, wie aus der obigen Auseinandersetzung erhellt, nie eine innere natürliche sein kann, weil sie sonst gerade den Grund zur Gegendisposition des Schwindels enthalten würde. Die Verschiedenheit dieser gelegentlichen wirkenden Ursache macht nun die Grundlage zur Einteilung des Schwindels in verschiedene Klassen aus, deren ich kürzlich erwähnen will. | 1. Vertiso traumatica. Ich begreife darunter den Schwindel, der von jeder topischen äußern oder innern Verletzung des Kopfes herrührt, sie mag in einer bloßen Erschütterung desselben durch einen Stoß oder Fall, in Verwundungen und Knochen-

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Viertes Hauptstück

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zersplitterungen, in dem Aufenthalte fremdartiger reizender oder drückender Körper im Gehirne, z. B. Verhärtungen, ausgetretenem Wasser oder Blute u. s. w. bestehen. Die Kur ist hier dieselbe wie bei den übrigen Krankheiten, welche aus eben der Ursache entspringen, als Krämpfe, Schlafsucht, Kopfschmerzen, Schlagfluß u. d. m. Sie läuft größtenteils auf die Anwendung topischer zerteilender Umschläge, einsaugungsbefördernder, ableitender, ausführender, auflösender, blutvermindernder Mittel und auf die chirurgische Hilfe hinaus. Die Kenntnis dieser Ursache ist zuweilen sehr leicht, wenn sie nämlich offenbar in die Augen fällt; außerdem aber öfters sehr schwierig, indem es nicht selten an allen deutlichen Zeichen von dem innern Zustande des Gehirnes fehlt. | 2. Vertigo plethorica. Diese Art von Schwindel ist die häufigste, so wie deren Ursache aus dem Pulse, der Constitution, dem Ansehen, den Augen, dem Atemholen, dem Gefühle von Schwere im Körper u. s. w. am kennbarsten. Auch ist es ein wichtiges Merkmal der vorhandenen Vollblütigkeit, wenn, wie Sauvage bemerkt, die schwindlichten Personen sich des Morgens während der Nüchternheit und einer starken Leibesübung leichter, als nach der Mahlzeit und während der körperlichen Ruhe, befinden. Die Vollblütigkeit kann, wie ich schon oben erwähnte, entweder eine totale sein, wenn überhaupt die Masse des Blutes im Körper zu groß ist, oder eine partielle, wenn bloß eine zu große Menge desselben nach dem Gehirne geht. Sie kann ferner sowohl aus einer positiven Ursache entstehen, (wenn nämlich vermöge der angebornen Constitution oder einer zu reichhaltigen Diät zu viel Blut im Körper erzeugt wird) als aus einer negativen, wenn natürliche oder angewöhnte Blutausleerungen unterblieben | sind, z. B. versäumtes Aderlassen, dessen man zu einer gewissen Zeit gewohnt ist, unterdrückte monatliche Reinigung oder Hamorrhoidalausleerung, ausgebliebenes Nasenbluten u. s. w. Zu den Ursachen der partiellen Vollblütigkeit gehört auch die Insolation, oder der Aufenthalt in der heißen Sonne mit bloßem Kopfe, wodurch das Blut nicht nur in grö-

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Zweiter Abschnitt

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ßerer Menge nach dem Gehirne gezogen, sondern auch daselbst durch die Hitze ausgedehnt wird. Man weiß, daß daraus häufig Hirnentzündung und Schlagfluß, und, wenn die Erhitzung in einem geringern Grade geschieht, schwindlichte Zufälle entstehen. Eben so entstehet zuweilen eine partielle Vollblütigkeit im Gehirne, als eine Ursache des Schwindels, durch eine allzuheftige körperliche Bewegung, besonders wenn das Gehirn ohnedies schon eine unverhältnismäßige Schwäche hat und zu Anhäufungen geneigt ist. Die allgemeine Kurmethode dieser Art von Schwindel ist die antiphlogistische, und bestehet, wie hinreichend bekannt ist, in | Blutverringerung, im Gebrauch des Salpeters und gelinder Abführungen, im kühlen Verhalten und in einer vegetabilischen Diät. Die besondere Anwendung dieser Kur muß sich nach der Verschiedenheit der individuellen Ursache richten, welche die Vollblütigkeit erzeugt hat. Ist diese eine totale und entsteht aus einer positiven Ursache, so machen Aderlässe das Hauptmittel aus, und zwar hängt dann nicht sehr viel davon ab, aus welchem Orte das Blut gelassen wird, sondern es kommt hier alles auf die Blutverminderung im Ganzen und auf das strengste antiphlogistische Verhalten an. Ist sie aber eine partielle und gehet bloß eine zu große Blutmenge nach dem Gehirne, so sind allerdings die derivierenden Aderlässe am Fuße die besten. Man muß aber mit denselben überhaupt in diesem Falle äußerst behutsam zu Werke gehen, und sie mehr als ein palliatives Mittel anwenden, um eine schnelle Ableitung hervorzubringen und den Hirngefäßen Zeit zu verschaffen, daß sie sich zusammenziehen und ihren Tonum wieder er | langen können, als um die eigentliche Ursache der Krankheit aus dem Körper wegzuräumen; denn außerdem, daß, wenn eine relative Schwäche dieser Gefäße die Ursache der größern Blutanhäufung in denselben ist, durch die allgemeine Verminderung des Blutes diese Schwäche noch größer werden muß, so wird wenigstens durch dieselbe nichts gewonnen, indem die verhältnismäßige Schwäche der Gefäße bei geringerer Blutmenge dennoch immer dieselbe bleibt, und sie immer im Verhältnis mit den übrigen Teilen des Körpers zu viel Blut in

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Viertes Hauptstück

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sich aufnehmen müssen. – Man muß übrigens milchlaue Fußbäder und antiphlogistische Laxiermittel anwenden und auf die erhabene Lage des Kopfes vorzüglich sehen. Ist die Blutanhäufung im Gehirn eine Folge von unterdrückter monatlicher Reinigung, so muß man bei der ganzen Kur auf die Beförderung derselben besonders Rücksicht nehmen. Die Blutausleerung muß am Fuße geschehen, wodurch man den doppelten Endzweck erreicht, daß man die | Hirngefäße entleert, und dem Blute die Richtung nach den untern Gefäßen erteilt. Dieses letzten Umstandes wegen halte ich es auch für ratsamer, mehrere kleinere Aderlässe, als einen einzigen großen, anzustellen. Durch jene erlangt der Blutlauf die Neigung nach den untern Teilen allmählig und weit sicherer, als durch diese. Man muß hier wiederum mit der Blutverminderung besonders vorsichtig sein, und nicht jeden Schwindel, so wenig wie jede andere Krankheit des Kopfes, neben welchem eine Unterdrückung der monatlichen Reinigung sich findet, für eine Folge der Blutanhäufung im Gehirne ansehen, die durch dessen Entleerung gehoben werden kann; denn, wenn dieser Mangel des monatlichen Flusses und der Schwindel, wie dieses nicht selten der Fall ist, gemeinschaftlich von der Verstopfung eines Eingeweides im Unterleibe, von einer Verschleimung der Säfte oder von Schwäche und Krämpfen abhangen, so müssen beide durch die Verminderung des Blutes im Körper allerdings vermehrt werden. – Es ist | ohnedies in der praktischen Beurteilung der Krankheiten fast kein Erschleichungsfehler so häufig, wie der, daß man zwei Erscheinungen, die sich als Nebenfolgen einer gemeinschaftlichen dritten Ursache verhalten, unter einander für Ursache und Wirkung ansieht und durch Entfernung jener diese zu heben glaubt. In unserm gegenwärtigen Falle würde dieser Fehler offenbar von den nachteiligsten Folgen sein. Außer den Aderlässen beruhet die Hauptkur dieser Art von Schwindel darauf, daß man den monatlichen Fluß auf eine gelinde und angemessene Weise zu befördern sucht, und bald spanische Fliegenpflaster an die Waden, bald auflösende Gummata, bald krampfstillende, bald eröffnende, bald stärkende und aro-

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Zweiter Abschnitt

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matische Mittel anwendet, je nachdem die Ursache seines Mangels in einer Kakochymie, in Krämpfen, in hartnäckigen Verstopfungen oder in Schwache bestehet. Der Gebrauch der hitzigen so genannten emenagogischen Mittel, als der Aloe, der Niesewurz, des Safrans u. s. w. ist, so wie er | überall die strengste Vorsicht erfordert, in unserm Falle am wenigsten ratsam, indem diese Mittel, wenn das Hindernis in den Muttergefäßen unüberwindlich ist, bloß das Blut in heftige Bewegung setzen, es durch andere Öffnungen, wo der Widerstand geringer ist, hinaus treiben und vorzüglich die schwindlichten Zufälle in schlagflüssige verwandeln können. Sie sind daher immer schädlich, sobald sie nicht heilsam sind. Wenn aber offenbare Naturneigungen zum Ausbruche des Flusses, als Schwere in den Füßen, Lenden- und Rückschmerzen u. s. w. gegenwärtig sind, alsdann haben lauliche ganze oder Fußbäder, mäßige körperliche Bewegung, besonders Reiten, Bähungen und gelinde aromatische Mittel, außerordentlichen Nutzen. Einen Teeaufguß von der Färberröthe habe ich sehr häufig mit dem besten Erfolg gebraucht; von der Elektrizität aber nie Wirkung gesehen. Bei unterdrücktem Hämorrhoidalflusse tun gleichfalls mit Vorsicht angestellte Aderlässe am Fuße, laue Bäder und mäßige Be | wegung sehr vieles zu dessen Beförderung, wenn anders nicht alle Naturneigung zu demselben gänzlich verschwunden ist; ferner auflösende Gummata, Antimonialseife, bittere Ex­ trakte, Bähungen und Blutigel am Mastdarme. Von vorzüglicher Wirkung aber ist der innere Gebrauch des Schwefels, um, wenn auch nicht immer den Fluß wieder in Gang zu bringen, wenigstens die Zufälle, welche seine Unterdrückung verursacht, sicher zu heben. 3. Vertigo ab inanitione. Auf welche Weise der Mangel an Kräften überhaupt und die plötzliche Entleerung des Gehirns den Schwindel erregen, habe ich bereits oben auseinander gesetzt. Die Kur dieser Art von Schwindel ist die entgegengesetzte von der vorhergehenden. Man muß suchen, den Körper auf eine den Verdauungskräften angemessene Weise mit nahrhaften Teilen zu versehen, und durch stärkende Mittel ihm den erforder-

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lichen Ton zu erteilen, damit er die genossene Nahrung gehörig assimilieren könne. Dahin gehören lauliche aro | matische und Stahlbäder, die bei Zunahme der Kräfte in kalte verwandelt werden können, kalte Aufgüsse von Chinarinde, Eisen, bittere die Verdauungskräfte unterstützende Extrakte, nahrhafte schleimichte Speisen und Getränke, eine Fleischdiät, Salep, Chocolate, Sago u. s. w. Es versteht sich aber, daß man, so lange die Ursache der Inanition noch vorhanden ist, gegen sie erst seine Kur richten muß. Bestehet sie in zu starken Blutflüssen aus der Nase, aus den Hamorrhoidal- oder Muttergefäßen, so sind zusammenziehende Mittel, als Alaun, Catechuerde, Kino­tinktur und zuweilen Opiate, desgleichen mineralische Säuren in großer Menge, und kalte Umschläge am zuträglichsten. Sind erschöpfende Durchfälle, die nicht etwa von reizenden Unreinigkeiten der ersten Wege unterhalten werden, die Ursache; so werden diese durch schleimichte Klystiere aus Stärke, durch den Genuß schleimichter Nahrung, durch Salep, isländisches Moos, Opiate und anhaltende Mittel gehoben, unter welchen die Arnicawurzel, zu einem halben bis gan | zen Quentchen alle vier Stunden, das vorzüglichste und fast unfehlbar ist. Am schwierigsten läßt sich, wie Stoll sagt, diese Art Schwindel heben, wenn die Inanition von einem Samenverluste durch die Selbstbefleckung entstehet, indem alle Nervenmittel nicht hinreichen, den Kranken von dem gewohnten Laster abzubringen, da ihm die Gelegenheit zu dessen Ausübung so leicht und immer gegenwärtig ist *). Außer dem | Gebrauche kalter Bäder und des E ­ isens müssen hier moralische Mittel das meiste tun. *) Ich kann mich nicht enthalten, die ganze vortreffliche Stelle, welche die Denkungsart dieses wahrhaft philosophischen Arztes in ein so schönes Licht setzt, hier abzuschreiben: Jactura nimia seminis gravissimos et saepe insanabiles vertigines facit, tune praecipue, ubi semen turpissimo vitio, quod vinculum illud, quo sexus sexui jungitur, divellit, et licitae veneris taedium ingenerat, manustupratione scilicet effunditur. Alia occasione de morbis ex manustupratione oriri solitis agemus. Id notasse modo sufficiat, morbos ex hac impura scaturigine ortos out nunquam, aut vix curari, tum quod ipsa medicatio ob affectum systema nerveum difficilis sit, cum etiam, quod qui semel pravo huic operi insueverint, ra-

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Zweiter Abschnitt

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4. Vertigo stomachica. Nächst dem Schwindel aus Vollblütigkeit, ist dieser der häufigste, und findet sich gewöhnlich im Anfange hitziger Krankheiten, verbunden mit einem drückenden Kopfschmerz. Seine Kennzeichen sind die bekannten gastrischen: Ekel, Schmerzen in der Kardie, Neigung zum Erbrechen, wirkliches Erbrechen, Aufstoßen, belegte Zunge, übler Geschmack, schlechter | Geruch aus dem Munde, gespanntes Epigastrium u. s. w. Dennoch muß die Beurteilung dieser Art von Schwindel aus Vergleichung mehrerer von den erwähnten Zufällen mit Vorsicht geschehen; indem einige derselben, wie z. B. Ekel und Erbrechen, sich öfters nicht als Ursache, sondern vielmehr als Folge des Schwindels von jeder andern Art einfinden, so wie sie die gewöhnlichen Begleiter fast aller übrigen heftigen Zufälle des Kopfes sind. Es ist aber leicht einzusehen, welcher Nachteil durch die Behandlung aus dem Verkennen dieses Umstandes entstehen muß. Die Kurart dieses Schwindels ist die gewöhnliche antigastri­ sche, deren weitläuftige Auseinandersetzung ich hier überhoben sein zu können glaube. Man sucht die in den ersten ­Wegen befindlichen Kruditäten durch auflösende Mittel beweglich zu rissime eidem in perpetuum valedicant, et occasionem iterandae caussae morbificae sibi semper praesentem habeant. Illud quoque hic adhuc addam, curam nuniquam a sola pharmacia inchoandam esse; etenim tanta est nervorum per iteratos actus irritabilitas, mobilitas, ενμεταβεσια tanta, idearum allicientium vivacitas tanta, | tam prompta actionum huc pertinentium successio, ut medicamentorum roborantium nervinorumque usus multum impar sit, quin irritabilitatem ipsam, quae corrigenda esset, vi sua nervina irritent magis. Hinc, nisi totus animus, cogi­tandi ratio, tota philosophia immutetur, ut aliis ideis, aliis moralitatis principiis imbuatur et omnino penetretur, nisi quodam quasi enthusiasmo abreptus animus in contraria tendat, in curandis a manustupratione morbis actum ages. Patet, quam necessarium sit, tum in multis aliis morbis, tum maxime in hoc, ut medicus, dum corpori medicinam facit, animum simul aegrotantis philosophando sanet. Cum hic philosophiam medico necessariam assero, non illam superficiariam, levidensem, et res quam maxime serias ridere, non discutere natam intelligo, sed quae a levitate et ab ignoranti superstitione ex aequo remota ad rerum examen accingitur. Praelect. in divers. morb. chronicos. p. 333. [Maximilian Stoll, Praelectiones in Diversos Morbos Chronicos. Wien 1789.]66

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Viertes Hauptstück

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machen, ihre Turgescenz zu befördern und sie von oben oder unten abzuführen. Freilich muß man hier, wie überall bei der gastrischen Heilart, auf die besondere Beschaffenheit der Unrei | nigkeiten in der Wahl der Mittel vorzüglich Rücksicht nehmen, und nach deren Verschiedenheit den Salmiak, andere Mittelsalze, Spiesglaszubereitungen, saure oder auch laugenhafte Salze anwenden, wenn, wie dieses zuweilen geschieht, eine Säure im Magen die Ursache des Schwindels ist. Whytt erzählt, daß ein Frauen­zimmer, welches sehr von Säure im Magen beschwert wurde, wenn dieselbe stärker als gewöhnlich war, alle Sachen undeutlich und wie mit einem dicken Rauch oder Nebel bedeckt sah, und von diesem Zufalle nicht eher befreiet wurde, als bis Kreide, Krebsaugen, Kalkwasser, Magnesia, Brech- und bittere Mittel die Säure in seinem Magen meistens gedämpft hatten. Eben so erzählt er von einem andern Kranken, dessen ­Augen, wenn sein Magen sehr mit Säure und Blähungen beschwert war, öfters so sehr empfindlich wurden, daß, wenn er auf eine Sache von dunkelroter Farbe mit unverwandten ­Augen sahe, oder plötzlich aus einem starken Lichte in ein dunkles Zimmer, oder aus dem letztern in | den Sonnenschein kam, dieses einen Schwindel und Schmerz über den ­Augen, eine Verdunkelung des Gesichts, und gallichtes Erbrechen ver­ursachte *). Während des Anfalles, wenn Unreinigkeiten obschon noch ohne Turgescenz im Magen sind, ist zuweilen ein gelindes Brechmittel, auf einmal oder in kleinen Gaben, sehr zuträglich, und hebt den Anfall auf der Stelle. Doch darf es nicht ohne alle Vorsicht gegeben werden, indem der Reiz des Magens und die anhaltenden fruchtlosen Bemühungen zum Erbrechen den Hindrang des Blutes nach dem Gehirne vergrößern und dessen Abfluß erschweren, wie dies aus dem roten Gesichte und den tränenden Augen während dieser Anstrengung offenbar zu erkennen ist. Man muß daher bei dem mindesten Scheinverdacht einer gegenwärtigen Vollblütigkeit das Brechmittel unterlassen. Hin­gegen *) Sämmtl. Schriften S. 463. [Robert Whytt, Sämmtliche zur praktischen Arzneykunst gehörige Schriften. Aus dem Englischen. Leipzig 1771.]

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Zweiter Abschnitt

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sind in diesem Falle ausleerende Klistiere, die man mit Asa fötida versetzen kann, nie nachteilig, und, wegen der Ab | leitung, die sie verursachen, immer höchst nützlich. Um i­hrer Wirkung gewiß zu sein, rate ich zu den nie fehlenden Essigklistieren, die wegen ihrer kühlenden und krampfstillenden Eigen­schaft hier am rechten Orte sind. Ich rechne zu dieser Klasse auch den Schwindel vom Genusse spirituöser Getränke, welche das Blut ausdehnen und ­berau­schen, wie z. B. des Weines, Branntweines, Bieres oder auch des Opiums, (vertigo ab ebrietate.) Der Anfall wird durch vieles Wassertrinken, durch Essig und Erbrechen gehoben, die Radikalkur aber besteht einzig und allein in der Enthaltung. Es gibt indes, wie Stoll bemerkt, so genannte Säufer, denen der Genuß geistiger Getränke und eine geringe Berauschung durch die Gewohnheit zum Wohlbefinden und zur Aufrechthaltung ihres Körpers unentbehrlich geworden ist, so daß sie mit Enthaltung von denselben Kräfte und Schlaf verlieren, Erschlaffung in allen Gliedern fühlen, und schwindlicht werden. Diese muß man von dem Gebrauche solcher | Getränke nie auf einmal entwöhnen wollen. Eben dies gilt von den starken Tabaksrauchern und Schnupfern. Es gehört ferner dahin der Schwindel der aus zu leerem Magen entsteht (vertigo ab inedia.) Er ist, so wie Kopfschmerzen, Ohnmachten und jede andere Krankheit des Kopfes, ein häufiger Zufall der Fastenden, und entspringt sowohl aus der allgemeinen Schwäche, welche dem Körper durch Mangel an Nahrung erwächst, als aus dem Reize, den die Nerven des Magens durch die Schärfe seiner Säfte erleiden und der sich bis zum Gehirne fortpflanzt. Er wird durch schleimichte einwickelnde Mittel und frische Nahrung gehoben. 5. Vertigo verminosa. Würmer aller Art, die sich in den er­sten Wegen aufhalten, bringen durch ihren Reiz einen Schwindel hervor, dessen gründliche Kur in der anthelmintischen besteht. Schwieriger läßt dieser Schwindel sich heilen, wenn der Aufenthalt der Würmer nicht in den ersten Wegen, sondern in andern Teilen des Körpers ist, | z. B. in der Höhle des Stirn­knochens.

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Viertes Hauptstück

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Ich hatte einst einen solchen Fall unter Händen, und das Übel wäre unheilbar geblieben, wenn nicht durch vieles Herauf­ziehen heißer Dämpfe endlich einige Maden durch die Nase abgegangen wären. 6. Vertigo ab acrimonia. Wie eine allgemeine Schärfe der Säfte, oder eine besondere, welche ihren Ort verlassen und sich auf das Gehirn oder einen andern mit demselben verbundenen nervichten Teil geworfen, durch ihren Reiz einen Schwindel erregen kann, ist leicht einzusehen. Die Verschiedenheit der Schärfe, zu deren Annahme unsere Säfte fähig sind, macht nun den Grund zur Einteilung dieser Schwindelgattung in verschiedene Unterarten aus; nämlich: I. Vertigo catarrhalis, wo durch Erkältung die seinen Schleimgefäße der obern Teile zusammengezogen werden, die abzusondernde Feuchtigkeit in Stockung gerät, scharf wird, das Gehirn reizt, und, nebst einem drückenden Kopfschmerz, einen |Schwindel erregt. Die Kur besteht in dem Gebrauche kühlender, die Ausdünstung befördernder Mittel, zu denen vorzüglich der Mindererische Geist mit Salpeter und eine große Menge von Oxymel gehören; ferner in der Anwendung erweichender Bahungen aus Fliederblumen und Milch, spanischer Fliegenpflaster zwischen den Schultern, und, wenn der Puls hart und voll ist, in einem starken Aderlaß. II. Vertigo rheumatica. Ist eine rheumatische Schärfe die Ursache des Schwindels, sie mag ihren beständigen festen Sitz im Gehirne haben, oder wandernder Art sein und sich von e­ inem andern Orte auf dasselbe geworfen haben; so sind, wie bei dem Rheumatismus überhaupt, stärkere Diaphoretica, als Camphor, flüchtige Salze in Verbindung mit Guaiac, ganze Bäder und spanische Fliegen die vorzüglichsten Mittel. Die Wirksamkeit folgender Formul kenne ich aus vielfältiger Erfahrung: Rc.67 G. Guaiac. ℥ jj solv. in Ω. Minderer. ℥V. . dep. ℥ jj. ∇. flor. Sambuc. Oxym. simpl. āā ℥ jjj. M. D. S. Alle 2 | Stunden eine halbe Tasse. Es versteht sich, daß man, wenn der mindeste Verdacht von inflammatorischem Zustande vorhanden ist, statt dieser Methode erst die antiphlogistische anwenden, starke Aderlässe anstellen

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Zweiter Abschnitt

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und den Salpeter in großer Menge geben muß. Ist das Übel sehr hartnäckig und will auf anhaltendes Schwitzen nicht weichen; ist es chronisch, oder hält es, wie dieses besonders bei rheumatischen Kopfkrankheiten nicht selten geschieht, bestimmte Perioden: so ist eine Auflösung des Guaiaharzes vermittelst des Eigelben ein fast zuverlässiges Mittel. Diese lasse ich in der Menge nehmen, daß täglich zwei bis drei gelinde Stuhlgänge darauf erfolgen, und ich finde diese Auflösung des Harzes weit besser als diejenige, welche vermittelst des arabischen Gummi verfertigt wird, indem das letztere (wenigstens weiß ich es mir nicht anders zu erklären) vermöge seiner schleimichten Beschaffenheit die Wirksamkeit des Harzes sehr einschränkt. Das erste aller antirheumatischen Mittel bleibt indes das lauwarme Bad von gemei | nem Wasser, in welchem venetianische Seife aufgelöst ist; vorzüglich aber das Bad zu Freienwalde68. Diese inländische Quelle wird von uns, eben darum weil sie bei uns ist, bei weitem nicht nach ihren Tugenden geschätzt, und es fehlt wahrscheinlich zu ihrer größern Aufnahme nichts, als daß sie sich im Auslande befände und das Hinbegeben zu ihr mit mehr Unbequemlichkeiten verbunden wäre. Ich habe von ihr die erstaunlichsten Wirkungen in eingewurzelten Rheumatismen gesehen, an denen die Kunst sich Jahre lang vergeblich erschöpft hatte. Unter der Menge von rheumatischen Kranken, die sie jährlich besuchen, verlassen viele sie ganz geheilt, und sehr wenige ohne Erleichterung. Unter allen Mitteln, die mir bekannt sind, gibt es meiner Meinung nach keins, das einen gegründetern Anspruch auf die Benennung eines Specifikums machen kann, als eben dieses Bad gegen alle Krankheiten, die aus einer im Körper befindlichen rheumatischen Materie ihren Ursprung haben. Aber freilich erstreckt sich seine Wirksamkeit bloß | auf Krankheiten rheumatischen Ursprunges. In allen andern Arten tut es nichts, wenigstens nicht mehr als jedes gemeine warme Bad. Mehr muß man auch von seinen Kräften nicht verlangen, und nur die Unwissenheit kann es geringe achten, weil es ihren unweisen Forderungen, alle Lähmungen, Fallsuchten, Wahnsinnigkeiten und hypochondrische Übel (aus welcher Ursache sie auch entstehen

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Viertes Hauptstück

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mögen) zu heilen, kein Genüge leistet. Es ist das Schicksal der sogenannten Gesundbrunnen, so wie manches andern vortrefflichen Mittels, daß man ihnen die bestimmungswidrigsten Wirkungen zumutet, und, wenn sie diese nicht tun, allen Wert abspricht. Es gereicht schon der Kunst zu keiner sonderlichen Ehre, daß wir nicht selten zu Specificis unsere Zuflucht nehmen müssen; aber vollends aus Specificis Panaceen machen, ist immer das Werk des vernunftlosen Haufens, der selbst nicht unter­scheiden kann und natürlicherweise jede Kunst gern bis zur Entbehrlichkeit aller Unterscheidung herabgewürdigt h ­ aben möchte. | III. Vertigo arthritica. Wenn eine gichtische Materie die Gelenke verläßt, sich auf das Gehirn wirft und einen Schwindel erregt, so ist dieser von der gefährlichsten Art, und erfordert die wirksamsten und schleunigsten Mittel. Denn es ist, wie Boerhaave sagt *), leicht einzusehen, welche Zerstörungen eine Materie, die Knochen in Kalk verwandeln kann, in der weichen markigen Masse des Gehirns hervorbringen muß, Man muß daher zu schnell ableitenden Mitteln schreiten, zu spanischen Fliegenpflastern auf den Waden und im Nacken, Sinapismen unter den Fußsohlen, Bädern, warmen Umschlägen auf dem Teile welchen die Gichtmaterie vorher eingenommen, Purgiermitteln, Aderlässen und heftigen Schweißmitteln. IV. Vertigo a scabie retropulsa. Eine übelbehandelte und unzeitig zurückgetriebene Krätze kann die ganze Masse des Blutes verderben, mit ihrer Schärfe das Gehirn und die Nerven angreifen und einen Schwindel | verursachen. Ist es nicht lange her, daß die Zurücktreibung geschah, so gelingt es zuweilen, durch warme Bäder, innern Gebrauch des Schwefels und durch Inoculation, die Krätze wieder nach der Haut zu locken; ist das Übel aber eingewurzelt, und die Krätzmaterie mit den Säften des Körpers inniglicher vermischt, so bleibt jene Mühe größtenteils vergeblich, und man muß, nach der gewöhnlichen alterierenden Methode, durch Dekokte, Quecksilberzubereitungen und eine gehörige Diät die ganze Masse der Säfte zu verbessern suchen. *) Am angef. Orte S. 519.

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Zweiter Abschnitt

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Dahin gehört auch der Schwindel, welcher von zurückgetretenen Flechten, zugegangenen Geschwüren, Fontanellen u. s. w. entsteht; diesen muß man wiederum durch ableitende Mittel, künstliche Geschwüre und Ausflüsse, als Haarseile und Fontanellen, heben. Der venerische Schwindel wird durch die gründliche Kur der Hauptkrankheit geheilt. 7. Vertigo hypochondriaca. Unter dem Heere von hypo­ chondrischen und hysterischen | Zufällen ist der vorübergehende Schwindel einer der gewöhnlichsten, und hat mit allen übrigen den gemeinschaftlichen Ursprung vom Reize der Abdominalnerven, von Blähungen, von Kruditäten und gehemmtem Blutumlauf in den Eingeweiden des Unterleibes. – Die einzelnen Anfälle sind selten mit Gefahr verbunden, und, durch eröffnende blähungstreibende Klistiere, gelinde mit krampfstillenden versetzte abführende Mittel, und Umschläge von Weinessig palliativ leicht zu heben. Oft verschwinden sie augenblicklich auf einige Tropfen vom Liquor anodynus, welche das Aufstoßen befördern. Die gründliche Heilung hingegen beruhet freilich auf der Totalkur des ganzen Übels, deren Auseinandersetzung mich hier zu weit führen würde, und die, wenigstens meiner bisherigen Erfahrung zufolge, nur auf Eine Weise bisweilen zu erreichen ist: durch den Gebrauch der Kampfischen Visceralklistiere. 8. Vertigo a causa psychica. Ich begreife unter dieser Klasse so wohl den Schwindel, welcher aus den oben erwähnten Gesichts- | und Gehöreindrücken entsteht und bei Sauvage unter dem Namen vertigo fugax, acccidentalis vorkommt, als den welcher in unmäßigen Geistesanstrengungen und gewissen Gemütsbewegungen seinen Grund hat. Jener ist vorübergehend, so wie die äußere wirkende Ursache aufhört, und bedarf kaum der Hilfe des Arztes; dieser bedarf ihrer allerdings, und sie ist, da sie größtenteils nur moralisch sein kann, mit den größten Schwierigkeiten verbunden, so wie es leider, aus den in der Einleitung angegebenen Gründen, alle unmittelbare psychische Kurarten sind. Es fehlt uns nicht minder an Instrumenten, den Zustand

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Viertes Hauptstück

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der Seele geradezu zu verändern, als an Geschicklichkeit, dieselben zu handhaben. Alles was ich daher über die Kur dieses Schwindels sagen kann, fällt in das Allgemeine. Man muß das nächtliche Studieren und die Geistesanstrengung vermeiden, sich auf dem Lande zu zerstreuen und den Körper durch leichte Bewegung, mäßige Arbeiten, durch nahrhafte Diät und Chinarinde zu stärken suchen. Bei Gemütsbe | wegungen muß man alle Mühe anwenden, die Aufmerksamkeit von deren Gegenstand durch Zerstreuung ab, und auf entgegengesetzte Vorstellungen hin zu lenken. – Aber wie dieses auszuführen ist, darüber lassen sich keine bestimmte Vorschriften geben. Weisheit, Kenntnis von der menschlichen Seele überhaupt, und von dem Gemüte des einzelnen Kranken insbesondere, müssen den Arzt in jedem speciellen Falle leiten. Hier ist es vorzüglich, wo die beiden großen Wohltäterinnen des Menschengeschlechts, die Philosophie und die Heilwissenschaft, Hand in Hand sich vereinigen müssen, um der leidenden Menschheit zu Hilfe zu kommen. |

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D R I T T E R A B S C H N I T T.

Bedürfnis der empirischen Kurart des Schwindels — Mangel an eigentlichen Specificis wider den Schwindel — Einige Schein-Specifika, die im Grunde rationelle Mittel sind — Kur des idiopathischen Schwindels — Gegenreize — Ableitungen — Erschlaffungen — Stärkung und Alteration — Unter den innerlichen empirischen Mitteln kennt der Verfasser keine bessere, als den Baldrian und den Pyrmonter Brunnen — Erfahrung von der guten Wirkung des letztern, wenn er mit laulicher Milch getrunken wird — Schluß.

I

ch habe im vorigen Abschnitte die Kur des Schwindels betrachtet, in wie fern sie eine vernünftige und gründliche sein kann, d. i. in wie fern der Schwindel durch Wegräumung der noch gegenwärtigen wirkenden Ursachen gehoben wird. Wenn aber die wirkende Ursache nicht mehr im Körper vorhanden ist und das Gehirn bloß durch ihre ehemalige Gegenwart eine solche Beschaffenheit erlangt hat, daß die Absonderung des Nervensaftes darin und die ihr entsprechende | Folge von Ideen wider­natürlich schnell geschehen und daher der Schwindel entsteht; so müssen wir allerdings unsere Kur geradezu wider diese Beschaffenheit richten. Und da uns die Natur des Gehirns eben so fremd ist, wie die Natur der Nerven überhaupt; so kann in diesem Falle unsere Kurart, so wie unter gewissen Umständen in allen andern Nervenkrankheiten, bloß empirisch und palliativ sein, obschon hier wiederum die Palliativkur mit der gründlichen in gleichen Schritten geht. Aber freilich findet sich von dieser Seite eine ansehnliche Lücke. Wir haben keine solche Specifika gegen den Schwindel insbesondere, als wir gegen die Nervenkrankheiten überhaupt besitzen. Die meisten von den letztern, die man unter der Benennung Nervina kennt, sind hitzig, flüchtig und reizend. Sie bewirken in den Nerven Alterationen, indem sie entweder durch die Vermehrung der Tätigkeit in den Blutgefäßen, oder

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Viertes Hauptstück

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vielleicht durch das Hineindringen ihrer flüchtigsten Teilchen in die feinsten Kanälchen der Nerven selbst, in denselben befindliche | Stockungen welche das Nervengeschäft in Unordnung bringen, auflösen und heben. Es kann auch sein, daß sie den Nerven auf eine besondere Weise einen stärkern Reiz erteilen, der nur von anderer Art als derjenige ist, welcher sie zu den widernatürlichen Bewegungen bestimmt, und diesen eben dadurch unterdrückt. – Aber eben diese Wirkungen würden in Ansehung des Schwindels von den nachteiligsten Folgen sein, indem so wohl durch den beförderten Blutumlauf, als durch den verstärkten Reiz, die Absonderung des Nervensaftes und die ihr entsprechende Folge der Vorstellungen, noch mehr beschleunigt werden. Hier wären gerade die entgegengesetzten Mittel, kühlende, besänftigende und erschlaffende, an ihrem Orte. Allein den Namen Specifika können dennoch auch diese auf keine Weise verdienen, da durch sie wiederum die allgemeine Schwäche des Körpers befördert wird, die, wie ich oben bereits erwähnt habe, gleichfalls eine Ursache des Schwindels sein kann. | Es gibt einige Mittel, die, weil sie sich öfters im Schwindel nützlich zeigen, einigermaßen für Specifika gegen denselben gehalten werden, wie z. B. der Senf and die Cubeben; sie sind es aber nicht, sondern gehören in der Tat zu der Klasse von ratio­ nellen Mitteln, deren Wirkung sich nur wider gewisse in dem Körper vorhandene Ursachen äußert. Von der Wirksamkeit des Senfs im Schwindel hat der Herr Hofrath Fritze69 *) einige auffallende Erfahrungen gemacht, und auch ich habe dergleichen gehabt, aber vorzüglich bei alten Leuten, deren Lebensart ihre Verdauungskräfte überschritt und wo ein in dem trägen Magen erzeugter Schleim die Ursache des Schwindels war; denn das frische Senfpulver ist ein bitteres scharfes Mittel, das einen Reiz in dem ganzen Körper verbreitet und besonders geschickt ist, den Schleim zu zerteilen und die Tätigkeit der Magenfasern zu verstärken. Bei jungen Personen hingegen oder in jedem Falle, *) Medicinische Annalen 1. B. S. 369. [ Johann Friedrich Fritze, Annalen des klinischen Instituts zu Berlin. Berlin 1791–94.]

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Dritter Abschnitt

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wo gerade eine zu große | Tätigkeit in dem Systeme der Gefäße die Ursache des Schwindels ist, würde der Senf ihn noch vermehren. Ja, ich möchte sogar selbst in bloßer Magenschwäche dessen Gebrauch nicht anraten, wenn der Grund derselben auf einer vorhandenen Säure beruhen, indem der an sich wenig beißende Senf, wie bekannt, durch die Vermischung mit einer Säure eine heftige Schärfe erlangt, und folglich, so wie auf der äußern Haut, im Magen eine Entzündung und ein starkes Fieber erregen kann. – Eben dies gilt von den Cubeben. Wo Schwäche und Trägheit der Gedärme Blähungen erzeugen, welche Krämpfe und Nervenreize verursachen, von denen der Schwindel abhängt: da könnten sie, wie jedes andere Gewürz, als erwärmendes, erweckendes und blähungtreibendes Mittel sehr heilsam sein; sobald aber der mindeste Verdacht von Vollblüthigkeit oder von zu starker Tätigkeit in dem Systeme der Blutgefäße vorhanden ist, müssen sie durch ihre erhitzende Bestandteile die Wallung, und mit dieser den Schwindel vermehren. | Zum Glück sind beim Schwindel die Fälle am seltensten, wo er nicht symptomatisch wäre, nicht von einem andern, widernatürlichen Zustande des Körpers, dessen Gegenwart sich durch andere Erscheinungen offenbart, abhinge, und also keiner gründlichen Kur durch Wegräumung dieser Ursache fähig wäre. Wenn er aber in der Tat idiopathisch ist und seine Quelle in der vermehrten Absonderungstätigkeit des Gehirns hat, ohne daß wir von dieser vermehrten Tätigkeit selbst irgendwo im Körper eine Ursache entdecken können; so müssen wir allerdings unsere Zuflucht zu empirischen Mitteln nehmen, die ich ­darum empirisch nenne, weil wir, wie ich schon öfters erwähnt habe, weder mit der natürlichen, noch mit der widernatürlichen inneren Beschaffenheit des Gehirns und der Nerven genugsam bekannt sind, um auf eine vernunftmäßige Weise diese in jene verwandeln zu können. Wir wissen bloß, daß durch einen Reiz die Nerven zur Tätigkeit angespornt werden, und müssen uns damit begnügen, | auch im Gehirne irgend eine kränkliche Reizbarkeit vorauszusetzen, und wider diese überhaupt unsere Behandlung­sart einzurichten.

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Viertes Hauptstück

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Dies geschieht: Erstlich, durch Gegenreize. Wir erregen in der Nachbarschaft des Gehirns einen künstlichen Reiz, und heben dadurch seinen widernatürlichen. Die Erfahrung bewährt diese Methode in vielen andern Fällen, wo wir einen Reiz in edlern Teilen dadurch besänftigen, daß wir in andern mit ihnen verbundenen, einen neuen hervorbringen. Zweitens, durch Ableitungen. Wenn auch die Ursache des Reizes offenbar nicht in einer übermäßigen Ansammlung von Feuchtigkeiten im Gehirne besteht, so können wir ihn dennoch öfters dadurch heben, daß wir selbst den natürlichen Hinfluß der Säfte vermindern und die Absonderungstätigkeit des Gehirns eine Zeitlang unter das natürliche Maaß heruntersetzen, bis es allmählig wieder den Grad erlangt, welcher dem gehörigen Fortgange der Ideen angemessen ist. Wir können uns zu diesem End | zwecke der gelinden Abführungen, der künstlichen Geschwüre und der lauen Fußbäder bedienen. Nur muß alles dieses mit der äußersten Vorsicht angewendet werden. Die Ausleerungen dürfen nicht zu stark sein, weil sonst durch die zu große Verminderung der Säfte überhaupt und ihres Einflusses in das Gehirn, entweder eine zu große allgemeine Schwäche des ganzen Körpers, oder des Gehirns insbesondere, und durch diese eine neue Ursache zur Vermehrung des Reizes hervorgebracht werden kann; denn je schwächer eine Nerven- oder Gehirnfaser ist, desto weniger Widerstand kann sie jedem leichten Eindrucke von außen oder von innen leisten, d. i. desto reizbarer ist sie gegen denselben. Die Fußbäder dürfen nur eine mäßige Lauigkeit haben. Ihr Grad der Wärme muß bloß hinreichen die Gefäße der untern Gliedmassen zu erweitern, damit sie mehr Säfte, als im natürlichen Zustande, aufnehmen und eben so viel den Hirngefäßen entziehen können, ohne daß die Wärme auf die Säfte selbst wirkt und sie übermäßig ausdehnt; | widrigenfalls wird ihr Umlauf im Ganzen stärker, es entstehen Wallungen, die Gefäße des Gehirns schwellen mehr an, und es erfolgt ein neuer Reiz. Aus eben der Ursache darf man sich nicht lange in dem Fußbade verweilen, weil sonst die Wirkung der

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Dritter Abschnitt

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Wärme sich bis auf die Säfte erstreckt, und allmählig die ganze Masse des Blutes, die in weniger Zeit ganz durch die untern Gefäße ihren Gang nimmt, erhitzt und ausgedehnt wird. Dies sind überhaupt zwei Vorsichtsregeln, die man bei dem Gebrauche der Fußbäder in jedem Falle beobachten muß, und von deren Vernachlässigung es herrührt, daß man bei der Anwendung dieses Mittels so oft seinen Endzweck verfehlt, und daß empfindliche Personen dadurch nicht selten heftige Wallungen, Blutflüsse, Ohnmachten und schwindlichte Zufälle erleiden. Drittens, durch Erschlaffung. Die Natur der kränklichen Reizbarkeit, die Ursache, daß die Nerven überhaupt bisweilen bei den geringfügigsten Eindrücken ihre Geschäfte unordentlich verrichten und in Aufruhr gera | ten, wird von den Ärzten sehr oft verkannt, und diese Reizbarkeit dann zum größten Nachteil des Kranken mit stärkenden und zusammenziehenden Mitteln behandelt. Herr Marcard, der diesen Gegenstand mit seiner ihm eigenen Deutlichkeit und mit Scharfsinn vortrefflich auseinander gesetzt hat, bemerkt sehr richtig, der Mißbrauch des Wortes Schwäche sei die Ursache dieses fehlerhaften Verfahrens. »Wo Schwäche ist«, sagt er, »schließt mancher, da ist der Tonus verloren, da muß man also zusammenziehende Mittel gebrauchen, um zu stärken, und um den Tonus wieder herzustellen. Aber hiermit schießt man erschrecklich weit vom Ziele; und nicht allein das, sondern man schadet auch oft dadurch unsäglich. Der ganze Fehler liegt in dem Mißbrauche des Wortes Schwäche. Es gibt eine Schlaffheit der Fasern des Körpers, in welcher sie ihre Geschäfte nicht vollbringen können, und die man mit Recht Schwäche nennt. Sie kann eine Ursache vieler Krankheiten sein, und ich habe da | von im dritten Kapitel dieses Buches gehandelt. Bei dieser Schwäche bekommen augenscheinlich die zusammenziehenden Arzeneien gut, die China, das Eisen, die kalten Bäder, die bittren Arzeneien. Nun aber hat man diesen Begriff auf die Nerven angewandt, und die Beweglichkeit, Zärtlichkeit und unordentliche Wirkung der Empfindungswerkzeuge Schwäche genannt, die Ursache davon in ih-

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rem verlornen Tonus gesetzt, und deswegen zusammenziehende Mittel gebraucht. Aber leicht bewegte und gereizte Nerven sind nicht erschlaffte Fibern; wenn dieses eine Schwäche ist, so ist es eine Schwäche ihrer Art, und keine fibra laxa, die freilich neben der so genannten Nervenschwäche sein kann, aber gar nicht immer dabei ist. Daher aber sieht man so vielfältig die unangenehmsten Folgen von einer Behandlung, die auf jenen Grundsätzen beruhet. Es ist noch immer die Frage, ob die zusammenziehenden Mittel wirklich nervenstärkend sind. Die Fibern können sie anspannen, und den | Organen mehr Schnellkraft und Tätigkeit geben, daher in vielen Fällen sehr heilsam sein; ob sie aber wirklich Nerven stärken, das lasse ich unausgemacht. Zum wenigsten sieht man oft genug, daß die armen Kranken durch die wohlgemeinte Kur aus dem Regen in die Traufe geführt werden. Die stärkenden und anstrammenden Mittel wirken oft wie ein Reiz bei empfindlichen Personen, und wenn sie nicht neue Übel verursachen, so vermehren sie doch die alten. Vielmal habe ich Krämpfe und grausame Angst auf den indiskreten Gebrauch stärkender Mittel gesehen; von kalten Bädern zur Unzeit sah ich Konvulsionen vor meinen Augen, und ich habe nicht zu viel gesagt, wenn ich irgendwo behauptete: man könne manchen sehr schwachen Hypochondristen zur Verzweiflung treiben bloß durch hartnäckig fortgesetzten Gebrauch stärkender Mittel. – Der Schluß aus allem, was ich bisher gesagt,« fährt Herr Marcard fort, nachdem er diesen Gegenstand noch von verschiedenen andern Seiten | betrachtet hat, ist dieser: »Man soll diejenige Schwäche, oder, eigentlicher und richtiger zu reden, diejenige widernatürliche Beschaffenheit der Nerven, welche man Beweglichkeit, Reizbarkeit und Empfindlichkeit nennt, nicht allemal und geradezu mit den gewöhnlichen stärkenden Mitteln angreifen. Vielmehr soll man jeder Krankheit, von der sie den Grund ausmacht, durch beruhigende, herabspannende Dinge beizukommen suchen, die aber von der Art sein müssen, daß sie nicht auf einer andern Seite, oder in der Folge, noch größere Bewegungen und Veränderungen im Körper hervor-

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bringen.« *) – Was von der allgemeinen kränklichen Reizbarkeit der Nerven überhaupt gilt, ist leicht auf die besondern des Gehirns anzuwenden, welche die Ursache des Schwindels, und gleichfalls die Folge einer eignen Art von Schwäche sein kann, die vielleicht von einer zu großen Rigidität der Gehirnfasern ihren Ur | sprung hat, und daher durch stärkende und zusammenziehende Mittel vielmehr befördert, als gehoben wird. Hin­gegen können durch den Gebrauch erschlaffender Dinge die Gehirnfasern erweicht, ihre Spannung heruntergesetzt, und ihre Reizbarkeit gemildert werden. Es gehören hieher die laulichen Bäder, erweichende Klistiere, schleimichte und kühlende Nahrung, zuweilen Aderlässe u. s. w. Aber freilich erfordert auch die Anwendung dieser Methode ihre Behutsamkeit, damit nicht von der andern Seite eben dadurch dem ganzen Körper samt dem Gehirne in der Tat eine zu große Schwäche erteilt und eine neue Ursache des Schwindels erzeugt werde. Viertem endlich, durch stärkende und alterierende Mittel. Obgleich die Reizbarkeit des Gehirns, wie ich so eben erwähnt habe, von einer Schwäche eigener Art herrühren kann, welche durch den Gebrauch stärkenkender[!] und zusammenziehender Dinge befördert wird; so ist dies doch nicht immer der Fall, sondern es läßt sich in dem Gehirne, | so wie in jedem andern Teile des Körpers, auch eine solche Schwäche gedenken, die in der Tat von erschlafften Fasern, denen es an Tonus fehlt, ihren Ursprung hat. Und in diesem Falle ist der Gebrauch stärkender und zusammenziehender Mittel, allgemeiner oder örtlicher, allerdings vom wichtigsten Nutzen. Wir können uns zu dem Ende der Chinarinde, des Eisens, der ganzen kalten Bäder oder auch nur der kalten Umschläge um dem Kopf bedienen, wodurch die Teilchen der Fasern näher an einander gerückt werden und ihr Tonus überhaupt wieder hergestellt wird. – Es kann aber auch diese kränkliche Reizbarkeit von dem Tonus der Fasern ganz unabhängig und bloß eine Folge der Gewohn*) Beschreibung von Pyrmont, zweiter Band, 3tes Buch, 7tes Cap. [Heinrich Matthias Marcard, Beschreibung von Pyrmont. Leipzig 1784.]

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heit sein, in welche vormals irgend eine widernatürliche, itzt aber nicht mehr gegenwärtige Ursache im Körper das Gehirn versetzt, so wie dieses bei Nervenzufällen überhaupt sehr oft geschieht. In diesem Falle ist es klar, daß wir weder mit stärkenden noch mit erschlaffenden Arzeneien etwas ausrichten können; vielmehr müssen | wir unser Augenmerk vorzüglich darauf wenden, durch irgend eine schnelle Alteration das Gehirn aus dieser widernatürlichen Tätigkeit zu reißen, und es bis zur natürlichen herunter zu stimmen. Zu diesem Ende kenne ich keine wirksameren Mittel, als wiederum kalte örtliche Umschläge und die Elektrizität. Indes darf die Anwendung dieser Mittel auch nur mit der reifsten Beurteilung und der äußersten Vorsicht geschehen; denn außerdem, daß bei dem Gebrauche derselben eben die Schwierigkeit Statt hat, deren ich in der Einleitung bei dem Gebrauche psychischer Mittel erwähnte, (nämlich daß man ihre gehörige Dosis in jedem einzelnen Falle im voraus nicht genau bestimmen kann) muß man noch bedenken, daß wir im Grunde einen Zustand abändern wollen, dessen Natur wir nicht kennen, um einen andern an dessen Stelle zu ­setzen, der uns eben so unbekannt ist. Von den innern Mitteln, die geradezu gegen den Schwindel, nicht gegen irgend eine offenbare Ursache desselben angewandt | werden können, weiß ich wenigstens aus eigener Erfahrung keine zu empfehlen, außer die Baldrianwurzel und den Pyrmonter Brunnen. Der Baldrian hat sich mir immer unter allen so genannten specifischen Nervenmitteln, welche zu versuchen ich sehr häufig Gelegenheit gehabt habe, am wirksamsten gezeigt. Ich weiß mir freilich von dieser seiner vorzüglichen Kraft auf keine vernünftige Weise Rechenschaft zu geben; aber erfahren habe ich es, daß er mich bei den wichtigsten Nervenzufällen am seltensten verlassen hat, wenn er nämlich von gehöriger Güte war, und nicht etwa in einer dünnen Abkochung, oder in Pulver skrupelweise, sondern zu drei bis vier Loth täglich, und anhaltend, gebraucht wurde. Auch habe ich nie, wenn er seine Wirkung versagte, die mindeste nachteilige Folge von ihm bemerkt. Eben so habe ich ihn verschiedenemal mit außerordentlichem

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Nutzen gegen schwindlichte Anfälle angewandt, wo ich keine deutliche Anzeige hatte, irgend einen widernatürlichen Zustand in dem Körper zu heben oder zu verändern. Bei hysterischen Personen ist der Schwindel bis | weilen der beschwerlichste und hartnäckigste Zufall, gegen den ich den Baldrian äußerst wirksam finde. Daß ich den Pyrmonter Brunnen gegen den Schwindel empfehle, wird vielleicht manchen Lesern auffallen, da er, wie bekannt, wenn er nicht mit gehöriger Vorsicht gebraucht wird, durch seine flüchtigen Teile den Kopf einnimmt, und sogar selbst schwindlichte Zufälle erregt; allein man muß bedenken, daß auf die gehörige Vorsicht alles ankommt. Allmählig, bei gelinder Bewegung, reinem Magen und affektenfreier Seele getrunken, hat er nie diese nachteilige Eingenommenheit des Kopfes zur Folge; im Gegenteil sieht man, daß er, wenn sonst keine Unordnungen im Körper sind, die dem Gebrauche desselben entgegen stehen, den Kopf freier, heiterer und aufgelegter macht; ja, ich habe den Brunnen öfters sogar im Winter in der Stube unter gewissen Einschränkungen gegen verschiedene Schwächen brauchen lassen, und hatte vollkommen erfahren, ehe Herr Marcard es noch sagte: »daß eine solche Winterkur nicht so etwas Unerhebliches | ist, als es beim ersten Anblick scheinen möchte, wenn sie lange genug fortgesetzt wird« *). Aber ich habe dabei nie bemerkt, daß der Kopf davon angegriffen ward. Besonders ist es mir auf die Weise gelungen, einige Personen völlig wieder herzustellen, die an einer überaus großen vieljährigen Magenschwäche litten, mit der es endlich so weit kam, daß der Magen schlechterdings nichts Genossenes bei sich behalten konnte, und gegen die man alle andere Heilarten vergebens versucht hatte. Ich selbst bin seit meinen ersten Studienjahren mit der Migräne behaftet, die sich alle zwei oder drei Wochen einstellt, und mich vier und zwanzig Stunden lang foltert. Ich habe in einer Reihe von achtzehn Jahren alle ersinnliche Mit*) Beschr. von Pyrm. B. 4. Cap. 2. S. 274. [Heinrich Matthias Marcard, Beschrei­bung von Pyrmont. Leipzig 1784.]

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tel gebraucht, und nichts damit ausgerichtet. Aber da ich einige Sommer drei Wochen lang den Pyr­monter Brunnen in einem Garten trank, habe ich nicht nur immer eine lange Zeit nachher die herrlichste Erleichterung davon verspürt, sondern auch verschiedenemal den Anfall selbst, der gewöhnlich | des Morgens beim Aufstehn seinen Anfang nimmt, durch das Trinken des Brunnens unterdrückt. Wenn indes bei jemand die Reizbarkeit des Gehirnes übermäßig groß ist und offenbar durch den Brunnen verstärkt wird; so ist es das beste Mittel, ihm diese schädliche Wirkung zu benehmen, wenn man ihn in Vermischung mit warmer Milch trinken läßt, wodurch seine Schärfe eingewickelt wird, und er mit geringerem Reize auf die Magennerven und das mit ihnen verbundene Gehirn wirkt. Auch von der Vortrefflichkeit dieser Methode habe ich einst eine auffallende Erfahrung bei einem Manne gehabt, der seit vielen Jahren mit Nierensteinen, und zugleich mit häufigen schwindlichten Anfällen behaftet war, die mit jenen in keiner Verbindung standen und so heftig waren, daß sie ihm die Gegenstände bald halb, bald doppelt, bald ganz verschwindend vorstellten, und sich dann mit der heftigsten Migräne endigten. Dieser Mann besuchte alle Sommer die Pyrmonter Quelle, und bediente sich daselbst auf mein Anraten des Brunnens mit laulicher Milch; und nach jeder Kur ging nicht nur eine Menge Grieß ohne alle schmerz | hafte Empfindung von ihm ab, sondern er blieb auch gewöhnlich eine sehr lange Zeit nachher von diesen schrecklichen, den Schlagfluß drohenden Anfällen befreiet. Dies ist alles, was ich von der Kur des Schwindels zu sagen habe, wenn er idiopathisch ist, und nicht von dem Fehler irgend eines andern Teils im Körper abhängt, zu dem wir gelangen und durch dessen Veränderung wir ihn heben können. So wenig es auch ist, so hat doch, leider! die Erfahrung mich in Ansehung dieser Krankheit nichts weiter gelehrt. Überhaupt wäre es zu wünschen, daß Erfahrung einst unsere Einsichten in die Natur des Gehirns und der Nerven erweiterte! Es ist eine besonders auf Weisheit vermutlich gegründete Einrichtung des Schöpfers, daß die Vernunft, die Welten mißt und bis in das Wesen des

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Unendlichen dringt, gerade ihre eigene Wohnstätte und ihre unmittelbaren Werkzeuge am wenigsten kennt! – Jupiters Gehirn schloß sich zu schnell, als die Weisheit daraus entsprang!

ANHANG

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Ü BE R D E N FA L S C H E N S C H W I N D E L .

[Veröffentlicht in: Journal der practischen Arzneykunde und Wund­arzneykunde 3, 1797, S. 389–432.]

Z

u dem Mancherlei, das ich bei meiner ehemaligen Untersuchung des Schwindels *) nachzuholen habe, gehört die Betrachtung eines Zufalles, der zuweilen als Nebensymptom ­unter den übrigen dieser Krankheit sich findet; öfters aber nicht als bloßes Symptom derselben, sondern für sich allein, unbegleitet von den dem Schwindel eigentümlichen Erscheinen, als Hauptübel auftritt. Er macht daher in so fern eine eigne Art des Schwindels aus, den ich den falschen (vertigo spuria) nenne. Der unterscheidende Charakter dieser Krankheit ist, daß nicht alle Symptomen des Schwindels, selbst nicht die des ersten Gra | des, sondern nur einige derselben gegenwärtig sind, welche in der widernatürlichen Affektion des Gesichts bestehen, ohne daß das Bewußtsein noch der Hauptgang der Ideen dabei leidet, ohne daß sich die Gefahr des Umfallens noch die eigentliche scheinbare Kreisbewegung der Gegenstände dabei findet. Dieser Zufall des Sehorgans ist, daß ohne alle vorhergegangene merkbare Beschwerlichkeit, und bei zu demselben vorzüglich geneigten Personen nicht selten, gerade wenn sie sich am wohlsten und heitersten fühlen, plötzlich in einen der beiden äußern Augenwinkel eine sehr deutliche Empfindung von einer Spannung in den Augenliedern, verbunden mit einem Flimmern, entsteht, wobei alle Gegenstände, deren Strahlen von dieser Seite einfallen, in einer sehr schnellen, schwebenden Bewegung erscheinen, und eine Menge hellfarbiger Luftgestalten, die bald zirkel- bald schlangen- bald blitzförmig sind, im heftigsten Hin- und Herschwanken sich in dem leidenden Winkel des ­Auges darstellen. Der ganze übrige Teil des *) Versuch über den Schwindel. Berlin 1791.

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Auges bleibt dabei ungerührt, und die Gegenstände, die gegen diesen gerichtet sind, werden in ihrer natürlichen Lage vorgestellt. Diese Erschei | nung hält an, selbst wenn man das Auge verschließt, und es ist mir merkwürdig, daß ich sie nie an beiden Augen zugleich, sondern immer nur an e­ inem, auch nie an dem innern Winkel, sondern immer an dem äußeren beobachtet habe. Dieser Anfall, der weder den mindesten Schmerz verursacht, noch die höhern Seelenkräfte in ihren Funktionen stört, indem man mit einiger Anstrengung während desselben vollkommen klar und deutlich denken kann, erregt doch eine gewisse ängstliche Unruhe und drückt das Gemüt mit einer quälenden Unbehaglichkeit, die nur durch eigenes Gefühl vorstellbar ist, und durch keine Beschreibung anschaulich gemacht werden kann. Die Dauer des Zufalles, während welchem der Puls zusammengezogen ist, und merklich schnell schlägt, ist selten länger als einige Minuten, nach welchen das Schwanken und Schweben der Luftkörper allmählich nachläßt und alles zur Ruhe kommt. Unmittelbar darauf befindet sich entweder der Leidende, welches freilich am seltensten geschieht, vollkommen wohl ohne alle Beschwerde; oder es bleibt noch eine halbe bis ganze | Stunde eine Art von dumpfer Betäubung des Kopfes, verbunden mit einer leichten drückenden Empfindung in den Augen, wie in dem Zustande der Schläfrigkeit und Abspannung nach einer starken körperlichen Ermüdung oder übergroßen Geistesanstrengung zurück; oder es entsteht bei Personen, die dem halbseitigen Kopfwehe unterworfen sind, plötzlich auf der leidenden oder gesunden Seite eine äußerst heftige Migräne, welche kaum den Kopf aufrecht zu erhalten verstattet, nach eini­gen Stunden körperlicher und Geistesruhe allmählich nachläßt, oder auch nach der gewöhnlichen Weise dieses Übels auf einmal wieder verschwindet. Zuweilen endlich geht der Anfall in einen förmlichen bald geringen, bald mit allen fürchterlichen Symptomen verbundenen Schwindel über, welches besonders bei alten Personen und überhaupt bei solchen, welche zu demselben geneigt sind, geschieht. Und eben wegen dieses letz-

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ten Ausganges, welcher die nahe Verwandtschaft des Zufalles mit dem echten Schwinden anzeigt, sehe ich ihn vorzüglich als eine Abart desselben an, wiewohl er sich von demselben darin unterscheidet, daß ihm dessen eigentlicher Charakter, | der zu schnelle Fortgang der Ideen, fehlt, die wirklichen Gegenstände, außer denen, die in den äußern Augenwinkel fallen, während desselben ruhig und in ihrer natürlichen Lage erscheinen und er nicht das ganze Sehgeschäft sondern nur einen Teil des Gesichtsorgans angreift. Man könnte ihn daher auch den partiellen und den ­topischen Schwindel nennen. *) |

*) Ich kann die Richtigkeit dieser Beschreibung in ihren kleinsten Umständen aus eigner Erfahrung bestätigen. Ich habe selbst an diesem unangenehmen Zufall gelitten, in denen Jahren, wo ich noch häufigen Congestionen nach dem Kopf unterworfen war. Seit 3 bis 4 Jahren bin ich ganz frei davon.  – Alles, was ich nach der obigen meisterhaften Darstellung aus meiner Erfahrung beifügen kann, ist folgendes: Ich bekam den Zufall am häufigsten in den Perioden, wo ich des Nachts arbeitete, oder wenn rheumatische Constitution herrschte, zuweilen nach Indigestion besonders mit hitzigen Getränken verbunden, und allemal nach dem Genuß einer Art von Gebacknen, die aus bittern Mandeln, Zucker und Tragant oder andern Schleim bereitet war. – Ich hatte allemal die Empfindung dabei, als wenn ich die Gegenstände durch ein | schnell bewegtes Wasser oder durch eine von einer großen Glut erhitzten und gleichsam zitternden Luft sähe; aber immer fing diese Erscheinung vom äußern Augenwinkel an, und blieb zuweilen darin, zuweilen nahm sie den ganzen Gesichtskreis ein. – Sie dauerte eine oder auch 2–3 Stunden, hörete sodann plötzlich auf, es folgten einige Minuten völliges Wohlsein, und nun stellte sich jederzeit Migräne bald schwächer bald heftiger ein; doch war sie immer im Verhältnis zu dem vorhergehenden Augenzufall. – Meine besten Mittel waren Ruhe, eine Dose Magnesia 1/3 mit Cremor. Tart, 2/3, oder kleine Dosen Glaubers Salz, zuweilen Liquor anodynus, und das Waschen der Augen mit kaltem Wasser. Doch entstand einigemal der Kopfschmerz weit schneller und heftiger, als ich den Augenzufall durch kaltes Wasser plötzlich vertrieben hatte. – Eins der sichersten Hilfsmittel war der Genuß einiger Schüsseln warmer Suppe mit etwas farinösen (gerieben Brot, Grieß, Reis etc.), ein Mittel, das mir auch fast immer die Migräne kurierte. – Aber es kamen mir auch Fälle vor, wo nichts half, und ich das Ende geduldig abwarten mußte, wozu gewöhnlich ein zuletzt eintretender Schlummer verhalf.

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Ein diesem schwindelartigen Gesichtszufalle ähnlicher, ist ein anderer, welcher bloß | das Gehör betrifft. Es entsteht fast unter den nämlichen Umständen, wie bei jenem, in dazu disponierten Personen plötzlich, ohne alle scheinbare äußere Ver­anlassung, die Wahrnehmung gewisser Schalle, die bald in diesem bald in jenem Ohre, am meisten aber von einem bis zum andern gleichsam quer durch das Gehirn ziehend empfunden werden. Diese Schalle sind gewöhnlich entweder ein Gesumse wie das einer Biene, oder ein sehr hoher klingender Ton, wie der vom Anschlagen an eine gläserne Glocke, oder wie der vom Zerplatzen einer stark gespannten Saite, mit einem anhaltenden, allmählich schwächer werdenden Nachklange. Die ganze Dauer dieser Erscheinung pflegt gleichfalls nur einige Minuten zu sein, während welcher das Hören wirklicher Schalle einigermaßen geschwächt und undeutlich ist, der Ideengang in der Seele aber unverändert bleibt. Übrigens ist der Anfall weit weniger beschwerlich, als jener, welcher das Gesichtsorgan angreift, er läßt das Gemüt heiter und ohne alle Unbehaglichkeit, auch endigt er sich selten in einen echten Schwindel oder heftigen Kopfschmerz, sondern verschwindet gewöhnlich langsam ohne alle übeln Folgen, | und hinterläßt höchstens eine sehr geringe bald vorübergehende Betäubung. Er gehört also eigentlich nicht mit dem echten Schwindel zu einer Klasse, und ich berühre ihn hier nur, teils weil er in der Tat oft als zufälliges Symptom bei demselben erscheint, *) teils weil gerade diejenige ihm besonders unterworfen sind, welche zum Schwindel überhaupt und vorzüglich zu dem erwähnten topischen, welcher sich bloß in dem Augenwinkel äußert, eine Anlage haben. Die nächste wirkende Ursache dieses letzten ist, wie mich dünkt, ein widernatürlicher Reiz in den Fasern der innern Fläche der Augenlieder, der sie, und zwar vorzüglich in den ­äußern Winkeln, in eine krampfhafte Spannung oder in unendlich kleine Vibrationen setzt, wodurch der äußere Teil des Augapfels, den sie unmittelbar berühren, anhaltend gedrückt oder wech*) Versuch über den Schwindel S. 181.

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selsweise gespannt und erschlafft wird; daher die auf denselben fallenden Strahlen in einem schwankenden Zustande, und, so wie gewöhnlich während und unmittelbar nach ei | nem äußern Drucke des Auges, mit hellern Farben erscheinen. Es werden auch nach diesem, wie bekannt, Funken und allerhand glänzende Luftfiguren wahrgenommen. Die gelegentlichen Ursachen sind so mannichfaltig, als es der mannichfaltigen Reizquellen überhaupt gibt. Der Sitz derselben kann daher im Magen sein und zwar 1. in einem daselbst angehäuften Vorrat von Unreinigkeiten bestehen, welche die Nerven dieses Eingeweides nicht immerfort, sondern, wie dieses den meisten Reizarten und den gastrischen vorzüglich eigen ist, unterbrochen, auf gewisse Veranlassungen und nicht selten periodisch angreifen und diese Affektion den Augen mitteilen. 2. Ist nicht immer eine wirkliche Anhäufung von verdorbenen Masse die Ursache dieses gastrischen Reizes. Sehr oft ist dieser gerade eine Folge von Leerheit des Magens, indem dessen Nerven wegen Mangel an Nahrungsstoffen entweder von der Schärfe der Verdauungssäfte oder durch Reibung der Magenflächen widernatürlich gerührt werden. Die bloße Nüchternheit bringt auf diese Weise, wie bekannt, Schmerzen, Übelkeit, | Ohnmachten und selbst echten Schwindel hervor; Zufälle, die auf den Genuß einiger Bissen Brot oder eines Mundvoll Weines sogleich verschwinden. Es ist daher kein Wunder, daß, wie ich aus guter Erfahrung weiß, der falsche Schwindel Personen, deren Nervensystem eine vorzügliche Reizbarkeit besitzt, sehr häufig befällt, wenn es ihrem Magen an Stoffen fehlt, auf welche er seine Tätigkeit äußern kann. Sie sind ihm besonders des Vormittags unterworfen, und zwar zu der Zeit, da sie einige Nahrung zu sich nehmen gewohnt sind. 3. Kann der Reiz in den Gedärmen seinen Ursprung haben und von daselbst erzeugten Blähungen oder vorhandenen Würmern herrühren, desgleichen von hysterischen und Hämorrhoidalunordnungen, von verdorbener oder nach Ärger ergossener Galle, von Nieren oder Blasensteinen u. s. w.

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4. Kann er vom Blute entstehen, von dessen zu großer Menge oder zu heftiger Bewegung; daher auch von allen physischen und psychischen Erhitzungen, vom Zorne, Schrecken und allen heftigen Leidenschaften überhaupt; aber auch von der andern Seite, von zu großer Trägheit des Bluts und der | gewöhnlich davon abhängenden Muskel- und Nervenschwäche; daher auch von allen niederschlagenden und die Tätigkeit einengenden Gemütsbewegungen, als Kummer, Traurigkeit, starke Rührung u. s. w. In allen diesen Zuständen ist die Seele unfähig, ihre Kräfte in einer sanften Abwechselung auf mehrere Gegenstände zu verwenden, und ihre Einschränkung auf den einen, über welchem sie unabläßig brütet, wirkt als ein vorzügliches Reizmittel auf das Nervensystem, oder erteilt ihm eine so große Erregbarkeit, daß die geringste reizende Veranlassung den widernatürlichen Zufall hervorbringt; so wie bekanntermaßen auch umgekehrt eben diese Einschränkung zuweilen durch einen Überreiz das Nervensystem in einen völlig asthenischen Zustand zu versetzen und ihm alle Erregbarkeit zu rauben vermag. 5. Von dem Zustand der Zeugungsorgane. Der falsche Schwindel stellt sich oft nach häufigen Samenergießungen, natürlichen oder erkünstelten, ein. Die Erschlaffung des Nervensystems, eine Folge des Reizes, welcher in demselben gewaltsam erregt worden, erhöhet, wenn sie auf einem gewissen Grade sich befindet, dessen Reizempfänglichkeit | und setzt es bei der mindesten reizenden Veranlassung in widernatürliche Bewegung, wie wohl sie ihn zugleich der Fähigkeit beraubt sich in dem gereizten Zustande lange zu erhalten und nicht in größere Erschlaffung zu sinken. Über diesen gewissen Grad hinaus wirkt die Erschlaffung wieder asthenisch, und macht die Nerven gegen jeden weniger starken Reiz unerregbar. Daher die so entgegengesetzten Erscheinungen nach jenen übermäßigen, wollüstigen Ausschweifungen unter verschiedenen Umständen, daß zuweilen der geringste kaum fühlbare physische oder psychische Reiz die Zeugungsteile auf eine kurze Zeit in Zustand der Spannung setzt, und eine Ergießung des Samens oft so gar ohne alle vorhergegangene merkbare Spannung verursacht; und zuweilen

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wiederum diese Teile auf einer solchen Stufe der Unerregbarkeit sich befinden, daß sie des Reizes der gewöhnlichen Gegenstände der Wollust durchaus unempfänglich sind, und nur durch die üppigsten Verkünstelungen, Geburten der wüstesten Phantasie zu einem matten Aufleben gezwungen werden können. Dieses hängt bloß von dem verschiedenen Grad der Erschlaffung ab, so wie die | ser von dem verschiedenen Grade des Reizes ab, der sie zuwege gebracht. Auf gleiche Weise stärken Opium und Wein, in sehr geringer Menge genommen, Nerven und Gehirn, und setzen die Seelenkräfte in eine dauerhafte Tätigkeit; in etwas größerm Maße, erhöhen sie ihre Spannung, schärfen auf eine bald vorübergehende Zeit ihre Empfänglichkeit, machen den Gang der Ideen widernatürlich schnell, und das Spiel der Empfindung äußerst lebhaft, bis nach diesem kurzen Rausche eine merkliche Erschöpfung erfolgt; lähmen hingegen, wenn sie in zu großer Menge in den Körper gebracht werden, durch einen Überreiz, dessen tätige Kräfte und leidende Fähigkeiten, und setzen Nerven und Gehirn in einen asthenischen Zustand, der sie gegen die mächtigsten Reize unerregbar macht. – Von der andern Seite bin ich aber auch durch die Erfahrung hinreichend belehrt, daß der entgegengesetzte Fehler, die zu sparsame Entleerung des Samens bei dessen hinreichender Absonderung auf eine gleiche Weise die Nerven bis zu einem hohen Grade der Reizbarkeit stimmt und ihnen eine übergroße Geneigtheit zu allen sthenischen Zuständen überhaupt und so | auch zu dem falschen Schwindel erteilt. Wie diese Wirkung eigentlich erfolgt, sehe ich freilich nicht deutlich ein. Vielleicht, daß die anhaltende, langsame Einsaugung des einmal abgesonderten Samens und dessen Eintritt ins Blut, so wie der schnellere Rückgang der abgesonderten Milch aus den Brüsten der Wöchnerinnen oft die ganze Maschinerie in Aufruhr bringt und heftiges Fieber erregt, die Nerven bloß in einen Zustand der erhöhten Reizbarkeit versetzt und vorzüglich in dem Sehorgan eine ungewöhnliche Erregbarkeit verursacht! Ich sage vielleicht; denn auf mehr als ein Vielleicht läuft doch wohl schwerlich der größte Teil unserer Erklärungen der Erscheinungen, welche auf Nervenveränderungen

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erfolgen, hinaus, und besonders liegen die Aufschlüsse über den Einfluß der Absonderung, der Ausleerung und des Zurückhaltens dieses Zeugungssafts auf so vieles im tierischen Körper, auf die Stimme, den Haarwuchs, die Brüste, die Muskelkräfte, die Geistesheiterkeit, das Fettwerden u. s. w. für uns noch zu sehr im Dunkeln, als daß wir auf das gründliche Einsehen der Wirkungen, welche er in seinen verschiedenen Zuständen auf | diesen oder einen nervichten Teil des Körpers vor[z]üglich äußerst Anspruch machen können. – Aber so viel ist indessen gewiß, daß der Same mit dem Sehorgan in vorzüglicher Verbindung steht, und seine verschiedene Absonderung und Ausleerung auf keinen Sinn, das Gefühl ausgenommen, von solcher Wirkung sind, als auf das Gesicht. Die verschwendrische Ergießung desselben kann die Augen bis zur Blindheit schwächen, und schon dessen bedürfnismäßige Entleerung bringt in denselben, wenn gleich nicht immer eine ansehnliche Schwäche, doch gewöhnlich eine bald vorübergehende Erschlaffung in einem größern oder geringern Grade hervor, welche vermutlich eine Folge des großen Reizes ist, den dieses Organ bei allen Tieren während der vorhergegangenen Augenblicke des anstrengenden Genusses so offenbar leidet. Eben so wird dieser Sinn von der zu großen Anhäufung des Samens angegriffen. Im Zustande des Überflusses desselben verspürt man oft das Gefühl einer beunruhigenden Lästigkeit im ganzen Körper, so wie das einer beschwerlichen Trägheit in den Hirnfunktionen, und besonders einen stumpfen Druck auf die Sehnerven, der die Empfind | lichkeit des Netzhäutchens und der übrigen Teile des Auges so erhöht, daß sie selbst von jedem minder wichtigem Reize lebhaft affiziert und in unverhältnismäßige Bewegung gesetzt werden, welches alles nach einer, besonders mit moralischen Wohlbehagen verbundenen, sattsamen Samenausleerung auf der Stelle nachläßt. Man fühlt sich darauf, wie nach allen Genüssen, welche dem Bedürfnisse genau angemessen sind, leicht, frei, in allen Funktionen verjüngt und selbst das Sehgeschäft geschieht nach den ersten Augenblicken mit vermehrter Klarheit und Heiterkeit. Es kann daher nicht auffallend sein, daß der sthenische Zustand wäh-

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rend der Samen­fülle mit einer großen Geneigtheit zum falschen Schwindel verbunden ist, und dieser bei dem mindesten Reizanlaß wirklich entsteht. 6. Von äußern Ursachen, welche unmittelbar auf das Auge wirken, als eine sehr starke Erleuchtung, der man sich nach einem langen Aufenthalt im Finstern aussetzt, der Anblick ­eines dichtfallenden Schnees oder gewisser Feuerwerksfiguren, in welchen eine Menge heller Funken in Gestalt eines Wasserfalles sich ergießen, ein angestrengtes Beob | achten sehr kleiner Gegenstände, beißender Rauch, das Sehen auf bunte Flächen, welche aus gerad- oder krummlinichten Streifen oder kleinen Vierecken von sehr abstechenden Farben, die auf eine einförmige und regelmäßige Weise mit einander abwechseln, bestehen u. s. w. Die Erklärung dieser letzten Wirkungsart ist, wenn sie nicht aus einer psychischen Quelle geschöpft wird, nicht ohne alle Schwierigkeit. Eine Fläche von einer einförmigen, stetigen Farbe kann, wenn diese auch noch so hell und schreiend ist, das Auge allerdings sehr beleidigen, es zum Tränen reizen, so gar auf eine kurze Zeit blenden; aber nie bringt sie den erwähnten, schwindelartigen Zufall hervor, der entsteht, wenn die helle Farbe mit einer dunkeln abwechselt, und selbst die Abwechselung bleibt ohne nachteilige Wirkung, wenn sie nicht vielfach ist und auf eine einförmige, sehr regelmäßige Weise oft wiederholt wird. Besteht z. B. die Fläche aus wenigen alternierenden, breiten Streifen von roter und dunkelgrüner oder schwarzer Farbe, so wirkt sie auf das Auge, wegen des Kontrasts, mit vieler Lebhaftigkeit, und kann sogar Schmerzen verursa | chen; besteht sie aus einer Menge ordnungsloser untereinander geworfene Figuren von abstechenden Farben, so erregt sie, außer der Unlust in der Seele wegen der Anschauung der sinnlichen Unvollkommenheit, selbst in dem Auge ein physisches Gefühl von Widerwillen und lästiger Ermüdung, die seine Funktion auf eine kurze Zeit schwächt; aber in beiden Fällen erfolgt weder das Schwankende in dem Sehgeschäft, noch das beunruhigende, glänzende Flimmern, welches den Augen ein schmerzhaftes Beißen verur-

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sacht, und ihren Stern zusammenzieht, so, als wenn Staub oder blendende Sonnenstrahlen unmittelbar in dieselbe gekommen wären, noch der gewöhnlich gleich darauf sich einfindende falsche Schwindel nach der obigen Beschreibung. – Alles dieses entsteht hingegen, wenn die Fläche aus vielen schmalen, auf das regelmäßigste mit einander abwechselnden Streifen von einer sehr hellen und sehr dunkeln Farbe zusammengesetzt ist, diese Streifen mögen in geraden Linien neben oder, in konzentrischen Zirkeln ineinander laufen; oder wenn überhaupt die Fläche, statt mit Streifen, mit kleinen zirkelförmigen oder viereckichten Figuren bemalt ist, deren | jede aus einer roten und dunkelgrünen oder schwarzen Farbe zusammengesetzt ist. Menschen, die zum echten oder auch nur falschen Schwindel disponiert sind, können oft in Zimmern mit Fußdecken oder Wandbekleidungen dieser Art keine Minute aushalten. Nach meiner anderwärts entwickelten Meinung von der ­Natur des Schwindels läßt sich, wie mich dünkt, der Grund dieser Erscheinung ziemlich ungesucht angeben. Das Wesen des Schwindels besteht, dieser zufolge, in der zu kurzen Weile, d. i. in dem Fortrücken der Ideen, welches im Verhältnis mit dem, der Seele eigentümlichen Ideengang zu schnell geschieht. Nun kommt es, wenn diese schnelle Ideenfolge von Eindrücken äuße­ rer Gegenstände herrührt, darauf an, ob die Wirkung dieser von der Art ist, daß sie die natürliche Weile ganz aufhebt, und den Hauptgang der Vorstellungen in der Seele mit sich fortreißt, oder ob sie diesen unverändert läßt und bloß eine zu schnelle Nebenreihe von Vorstellungen macht, welche die Aufmerksamkeit der Seele nur zum Teil beschäftigt, ohne sie in dem Hauptgange ihrer Ideen zu stören. Im ersten Falle entsteht der echte Schwindel mit seinem ganzen | Gefolge von Symptomen; im letzten, der falsche, partielle, begleitet bloß von den Symptomen, welche sich auf den affizierten Sinn beziehen; und wenn dieser Sinn, wie in unserm Falle, das Auge ist, werden die Gesichtsgegenstände, besonders diejenigen, deren Wirkung auf den disponierten Teil desselben gerichtet ist, schwindelartige Erscheinungen erregen, ohne daß der Fortgang der übrigen Vorstellungen

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in der Seele in Ansehung seiner Schnelligkeit eine Veränderung leidet. Es ist übrigens nichts Seltnes, daß zwei Reihen Vorstellungen von sehr verschiedener Folgezeit zugleich ohne Verwirrung in der Seele sein können, wie dieses bei der Wahrnehmung der Harmonie und Disharmonie bei verschiedenen zugleich angegebenen Tönen und bei der gleichzeitigen Vorstellung der Tönenfolge des Diskants und Basses die Erfahrung offenbar zeigt. Es gehört ferner zum Wesen des Schwindels, welcher durch äußere Ursachen entsteht, daß die Eindrücke und die Vorstellungen, die sie erregen, wirklich eine abwechselnde Folge bilden, eine Mannichfaltigkeit durch unterbrochene Wiederholung ausmachen. Eine einzige, lang anhaltende Vorstellung, | wenn sie noch so lebhaft ist, kann das Organ heftig reizen, dasselbe so wie das Gemüt durch die Anstrengung ermüden, aber weniger einen Schwindel, als den entgegengesetzten Zustand, den der langen Weile, hervorbringen. Zu jenem wird durchaus erfordert, daß die Seele oft affiziert, in schnell aufeinanderfolgenden Augen­blicken immer von neuem in Tätigkeit gesetzt wird. Der Anblick eines ruhigen Zirkels erregt nichts Schwindelartiges; wohl aber der eines Körpers, welcher sich zirkelförmig schnell bewegt, wegen der durch die Vorstellung des leeren Raumes, den er durch sein Fortrücken hinterläßt, unterbrochenen und immer erneuerten Vorstellung seiner Gegenwart in einem andern Orte. So erregt ein Rad keinen Schwindel mehr, wenn es sich erst so schnell bewegt, daß es samt seinen Speichen wie eine Scheibe erscheint, sondern nur so lange, als die Speichen noch erkannt und durch ihre Abwechselung mit dem leeren Raume unterschieden werden können. Es ergibt sich aber, daß der Schwindel, da er von der zu kurzen Weile zwischen den Vorstellungen herrührt, desto leichter entsteht, je einförmiger oder ähnliche die Ge | genstände sind, welche diese Vorstellungen erregen, weil sie alsdann minder interessant und lebhaft sind, die Seele sich bei keinem lange aufhält und bei jeder Erneuerung des Eindruckes in eine neue Tätigkeit gesetzt wird. Sind hingegen die Gegenstände sehr verschieden, so sind ihre Eindrücke nicht so schnell vorüber-

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gehend, die Vorstellung eines jeden haftet wegen des Interesses ihrer Neuheit noch einigermaßen in der Seele, währen daß die folgende hinzukommt, und sie gehen oft in eine einzelne, vermischte Vorstellung über, in welcher überhaupt keine Folge Statt hat, und die auch nichts Schwindelartiges erregt. Der Anblick eines einzelnen Sonnenstrahls, durch welchen ein dunkler Stab schnell auf und ab bewegt wird, verursacht Schwindel; ein in seine Grundteile gespaltner Strahl gibt, wie bekannt, bei der schnellen Durchbewegung eines Kammes die einfache, stetige Vorstellung der weißen Farbe, ohne eine Spur von Schwindel zu hinterlassen. So, glaube ich, wird nicht so leicht der Schwindel erzeigt, wenn eine Menge ganz heterogener Gegenstände, Menschen, Tiere und leblose Körper von verschiedener Größe und Farbe sich schnell im | Zirkel bewegt, so leicht dieses bekanntermaßen geschieht, wenn diese Menge aus lauter gleichartigen Gegenständen, z. B. aus lauter gleich großen Menschen, die auch gleich gekleidet sind, besteht. Die Wiederholung eines und desselben Eindruckes erzeugt eine Fertigkeit, verkürzt dessen jedesmalige Dauer, und bewirkt in der Seele die zum Schwindel erforderliche, öftere Tätigkeit in zu kurzer Weile; die Mannichfaltigkeit hingegen läßt die Seele ohne Fertigkeit, macht die Eindrücke durch die Abstechung lebhafter und verlängert so die Gegenwart eines jeden einzelnen, daß seine Nachwirkung mit der Wirkung des folgenden in einander fällt und alle zusammen Eine stetige Vorstellung bilden. So ist es, wenn die Gegenstände, welche die ­Vorstellungen erregen, in Bewegung sind und ihre Eindrücke in schnellem Wechsel der Seele aufdringen; anders verhält es sich aber, wenn die Gegenstände selbst neben einander ruhig im Raume sich befinden und die Seele bei deren Anschauung von innen bestimmt wird ihre Eindrücke aufzunehmen und die erregten Vorstellungen in sich der Reiche nach auf einander folgen zu lassen. Hier kommt | es auf die Anzüglichkeit und das Interesse jeder einzelnen an, daß die Seele sich lange bei ihr aufhält und allmählich zu der benachbarten fortschreitet, oder mit Schnelligkeit zu dieser und so wieder zu der folgenden sich hinreißen läßt; denn

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die Gegenstände verschwinden hier nicht, wie im ersten Falle, einzeln, so wie sie ihren Eindruck gemacht; sondern sie bleiben alle zugleich innerhalb des Gesichtsfeldes und der Wechsel ihrer Wirkung beruht lediglich auf dem Wechsel der Aufmerksamkeit, welche die Seele bald auf diesen bald auf ­jenen in einem höhern Grade verwendet. Besteht daher die angeschauete Fläche aus einer einzigen Farbe, so erregt sie nur ­einen einzelnen Eindruck, eine einförmige Vorstellung, bei welcher die Seele sich ohne alle Abwechselung aufhält und gibt also gar keinen Grund zur Entstehung des Schwindels. Eben dieses ist der Fall, wenn zwar mehrer Farben gegenwärtig sind, die aber nicht gegen einander abstechen, sondern sich ähnlich sind und einen sanften Übergang unter einander verstatten, wie z. B. blaßgrün und hellblau, hoch und dunkelrot, dunkelbraun und schwarz. Die Seele wird hier in ihrer Aufmerksamkeit auf | eine einzige von der benachbarten zugleich wirkenden nicht gestört, sie kann dieselbe gemächlich von der einen zu der andern leiten und die Zwischenpausen nach Gefallen verlängern. Die Farben können aber auch wegen ihrer Ähnlichkeit in einander fallen und in der Seele eine einzige vermischte Vorstellung erregen. Sind hin­gegen die Farben sehr abstechend, als rot und grün oder schwarz, weiß und schwarz, braun und gelb u. s. w., so wird wegen der Lebhaftigkeit der Wirkung, die durch den Kontrast noch erhöht wird, die Hauptaufmerksamkeit auf eine Farbe in jedem Augen­blick von der Nebenfarbe, die zu gleicher Zeit in die Augen fällt, fortgerissen und dann wieder von dieser zu der folgenden, so, daß die Seele sich in Ansehung ihrer Gesichtsvorstellungen gleichsam in einem Zustand der Vibration befindet, zwischen welchen die Weile die kürzeste ist und den Grund zur Entstehung des Schwindels enthält. Das Fortrücken der Aufmerksamkeit von einer Farbe zu andern wird aber ungemein befördert durch die Regelmäßigkeit ihrer Folge. Man weiß, daß die Fähigkeit der Seele, viele Gegenstände zu durchlaufen, durch | nichts so sehr erleichtert wird, als durch die Ordnung ihres Beisammenseins; weil bei dieser immer eine Regel zum Grunde liegt, durch welche, wie ich in

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meinem Versuche über den Schwindel *) auseinandergesetzt, den Vorstellungen eine partielle Einerleiheit und der Seele eine Fertigkeit sie zu fassen erteilt wird. Wenn daher in unserm Falle die Farben auf der Fläche ganz planlos untereinander geworfen sind, so fehlt es an einem wirksamen Mittel, den Fortgang der Seele unter ihnen zu beschleunigen, und sie kann, wenn die Farben selbst ein verschiedenes Interesse für sie haben, bei einiger Anstrengung mit ihrer Aufmerksamkeit bei der einen länger, bei der andern kürzer sich verweilen. Dieses kann eine Art Verwirrung in die Vorstellung der ganzen Fläche bringen, ist aber wider die Natur des Schwindels, welcher eine gleichmäßige, kurze Weile zwischen den Vorstellungen voraussetzt, ist hingegen in dem Beisammensein der Farben auf der Fläche eine gewisse Norm, so wird der Gang ihrer Vorstellungen in der Seele durch die herrschende Regel sehr beschleu | nigt, jede einzelne führt in sich schon den Grund, daß die nach dieser Regel mit ihr verbundene sich der Seele aufdringt. Dieses zusammengenommen mit der vorausgesetzten Lebhaftigkeit, welche durch den Kontrast entsteht, entrückt alle Augenblicke der Seele die gegenwärtige Vorstellung, und schiebt ihr die folgende mit Schnelligkeit vor, verkürzt also um so mehr die Weile und erzeugt bei vorhandener Disposition den sogenannten falschen Schwindel. Daß übrigens die farbigten Figuren auf der Fläche, um den falschen Schwindel hervorzubringen, aus schmalen Streifen bestehen oder überhaupt von kleinem Umfange sein müssen, ergibt sich von selbst, indem es bloß darauf ankommt, daß deren viele innerhalb des Gesichtsfeldes fallen und zu gleicher Zeit auf das Auge wirken. Denn noch einmal. da hier nicht die Gegenstände selbst in Bewegung sind, und einer nach dem andern sich der Anschauung darstellt, sondern die Seele sich selbst bestimmend die Reihe derselben durchläuft, um ihre Eindrücke aufzunehmen, so muß, wenn sie dieses schneller, als ihr natürlicher Ideengang fordert, tun soll, während daß ihre Aufmerksamkeit auf | einen gerichtet ist, der Reiz der folgenden schon *) S. 83.

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gegenwärtig sein, um sie auf diese zu ziehen; und dieser Reiz ist nichts anders, als die gleichzeitige Wirkung der Gegenstände auf das Auge und das regelmäßige Verhältnis, in welchem sie untereinander stehen. Gesetzt also, die Figuren wären von dem Umfange, daß deren nicht mehrere zugleich in das Auge fallen könnten, so fehlte es gänzlich an dem Reize, welcher die Aufmerksamkeit von einer ab und zu einer andern hinlenkte, und die Seele könnte sich, ohne in ihrem natürlichen Ideengang gestört zu werden, bei einer jeden nach Willkür aufhalten und ihrer eigentümlichen Weile gemäß zu den übrigen fortrücken, und es wäre nicht abzusehen, wie auf diese Weise ein schwindelartiger Zufallen entstehen könnte. 7. Endlich ist dieser Reiz, so viel mich die Beobachtung gelehrt, am häufigsten rheumatischer Art. Dieses bestätigen folgende Umstände: Erstens, fast auf keine Krankheit ist der Einfluß der Witterung so wichtig und so schnell, als auf den erwähnten falschen Schwindel, und zwar am meisten ihr plötzlicher Übergang aus einem feuchten, er | schlaffenden Zustande in einem trockenen, zusammenziehenden. Ich kenne viele Personen, die diesem Zufalle unterworfen sind, (und ich selbst war es auch einst) welche ihn aus dem veränderten Stand des Barometers, so wie umgekehrt aus dem Eintritt des Zufalles, das baldige Steigen des Schwermessers, mit ziemlicher Gewißheit voraussagen. Diesen vorzüglichen Witterungseinfluß aber halte ich für eine rheumatische Eigentümlichkeit. – Nicht etwa, daß ich die große Einwirkung der Konstitution und der Luft auf alle Krankheiten ohne Ausnahme verkenne oder gar leugne; nur in der Art dieser Einwirkung glaube ich ein charakteristisches Unterscheidungszeichen der Natur der rheumatischen Krankheiten zu finden. Wenn die herrschende Konstitution gallichtg, faulicht, schleimigt oder entzündungsartig, wenn die Luft warm oder kalt, trocken oder feucht, mehr oder minder elastisch ist, so nehmen sowohl die Krankheiten, die bereits im Gange sind, als diejenigen, welche erst entstehen, ein dieser Konstitution und Luftbeschaffenheit angemessenes Wesen an. Dieselbe Ursache, die

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in dem einen Striche Landes oder in dem einen Jahre ein reines Ent | zündungsfieber erregt, bringt in einem andern Lande oder in einem andern Jahre vorherrschender gallichter Konstitution ein reines gastrisches, und in einem dritten ein einfaches, catar­rhatisches hervor. Es werden jezo keinem echten Arzte die Lehren Sydenhams70, Stolls und der Natur unbekannt sein, daß dieselbe Erklärung, welche im hohem Winter eine wahre Lungenentzündung erzeugt, im Sommer ein Schleimfieber und im Herbst die Ruhr erzeugen kann; daß dieselbe Überladung des Magens zu einer Jahreszeit ein einfaches Wechselfieber, zur andern ein Gallenfieber, zur dritten einen Blutfluß u. s. w. hervorbringt; allein in allen diesen Fällen erscheint die Luftbeschaffenheit bloß als disponierende Ursache, nicht als wirkende. Sie erzeugt eigentlich nicht die Krankheiten, sondern erteilt nur dem Körper, seinen festen oder flüßigen Teilen, eine eigene Modifikation, vermöge welcher auf die Einwirkungen der nämlichen Ursache ganz verschiedene Erscheinungen entstehen, die als ganz verschiedene Krankheiten auftreten:bei dem Rheumatism hingegen äußert sich die Luft mit ihrer zu gewissen Zeiten eigentümlichen Beschaffenheit als | wirkende Ursache, und bringt, vielleicht durch einen oberflächlichen Reiz der Hautnerven oder der innern Teile durch ihre Mischung mit den Säften beim Atemholen, vielleicht auf eine uns völlig unbekannte Weise, die sich auf Affinitätsverhältnisse gründet, die Anfälle unmittelbar hervor, so bald eine Disposition zu denselben in dem Körper vorhanden ist. Dieser Umstand scheint mir ein so wesentlicher Charakter der rheumatischen Krankheiten zu sein daß er allein mir hinreichend ist, sie von allen andern, selbst von der mit ihnen so verwandten, so analogen und so leicht zu verwechselnden gichtischen zu unterscheiden. Die eigentliche Gicht, unter welcher Gestalt sie auch erscheint, steht allerdings mit der Witterung und der Luftbeschaffenheit in sehr enger Verbindung; allein niemals macht sie ihre Anfälle bei Personen, die denselben unterworfen sind, so schnell den entstandenen Luftveränderungen entsprechend, ohne daß eine andere tätige Krankheitsursache dabei im Spiele wäre! Immer sind Fehler in der Diät

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oder im Verhalten vorgegangen, deren man sich auch gewöhnlich deutlich bewußt ist, welche beider zu den gichtischen Zufällen | disponierenden Luftbeschaffenheit dieselbe erregen. Man kann daher durch sorgfältige Vermeidung dieser Fehler selbst bei der Luft, welche der Gichterzeugung am gründlichsten ist, ihre Anfälle abhalten, und es ist nicht seltnes, Personen, die dieser Krankheit am häufigsten unterworfen sind und eine beständige Anlage zu derselben bei sich führen, gerade während einer sehr feuchten, kalten oder unbeständigen, schnell abwechselnden Witterung völlig gesund umher gehen zu sehen. So ist es nicht mit den eigentlichen rheumatischen Zufällen. Diejenigen, die vermöge ihres verstimmten Nervensystems zu denselben vorbereitet sind, können zwar vielen Ursachen, welche dieselben erregen, ausweichen, aber selbst durch das beste und vorsichtigste Verhalten nicht allen. Bei der strengsten Diät, beim sorgfältigsten Regime werden sie von denselben befallen; es werden ihnen während des Genusses des höchsten Wohlbefindens von Veränderungen in der Luft, die so gar zuweilen erst einige Zeit nachher merkbar werden, die schmerzhaftesten Empfindungen an diesen oder jenen Teil des Körpers im genauesten Verstande angeblasen. | Zweytens, der schnelle Eintritt und Wachstum des Anfalles. Er entsteht nicht allmählich und nimmt nicht Gradweise zu, wie gewöhnlich die meisten Krankheiten, sondern entspringt unerwartet ohne alle Vorempfindung, und befindet sich oft im ersten Augenblick auf keiner größten Höhe. Dieses ist aber gleichfalls ein auszeichnender Charakter der rheumatischen Zufälle. Die schmerzhaften sogenannten Gichtflüsse wandeln einen Teile des Körpers immer plötzlich an, nach einer Erkältung, nach einem gefaßten Luftzuge, und äußern ihre Wirkungen auf der Stelle im höchsten Grade, auf welchem sie denn entweder eine zeitlang unverändert bleiben und auf einmal verschwinden, oder allmählich abnehmen, anstatt daß die meisten andern krankhaften Zufälle durch Vorgefühle sich verkündigen und mit der stufenweisen Verbreitung ihrer nächsten Ursache im Körper nur allmählich auf das höchste steigen. Selbst

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die schmerzhaften Anfälle des Podagras oder der sonstartigen Gicht, machen, wie bekannt, ihre deutliche Stadien und nehmen nur gradweise zu. Es rührt auch von dieser eiligen, gleichsam oberflächlichen Wirksamkeit die so große | Wanderhaftigkeit her, welche diesen Flüssen eigen ist, indem nichts so häufig ist, als ihr schneller Ortwechsel und der Flug ihrer Schmerzen von einem Teile des Körpers nach einem andern, von den Zähnen nach den Ohren, von diesen nach dem Kopfe, nach den Armen, nach der Brust, nach den Augen, nach einem innern Teile des Unterleibes u. s. w. Dieser Umstand, zusammengenommen mit dem vorerwähnten, daß die Luftveränderung sich so schnell als wirkende Ursache äußert, ist es vorzüglich, was mich in meiner Meinung bestärkt, daß es keinen eigentlichen so genannten rheumatischen Stoff gibt, folglich der Rheumatism keine Krankheit mit Materie ist; sondern daß das Wesen dasselben in einer bloßen Nerven­ affektion besteht, und daß eine widernatürliche Disposition des Nervensystems vorhanden ist (deren Beschaffenheit uns freilich eben so unbekannt ist, als die Beschaffenheit der meisten Krankheitsdispositionen überhaupt) bei welcher die Luft unter einer gewissen Modifikation bloß durch ihre unmittelbare Berührung in den Nerven eines äußern oder innern Teils und der dadurch ent | stehenden neuen Affinitätsverhältnisse Schmerzen erregt, und überhaupt die Erscheinung des Rheumatismus hervorbringt. Denn es ist allerdings ein in die Augen fallender Unter­schied, ob irgend ein Stoff erst in die Ökonomie des Körpers aufgenommen, mit den Säften vermischt wird, ihnen eine verderbliche Beschaffenheit erteilt und entweder einen allgemeinen widernatürlichen Zustand erzeugt, oder von der tätigen Lebenskraft mit denselben herumgeführt und endlich in diesen oder jenen Ort abgesetzt wird; oder ob er, ohne erst in das innere tierische Triebwerk einzugreifen, auf irgend einen Teil unmittelbar seine Wirkung äußert und ihn wider­natürlich verändert. Im ersten Falle, wie z. B. bei der Wirkung der hitzigen und chronischen Ausschlagsstoffe und der Miasmen überhaupt, welche den Grund ansteckender und epidemischer Fieber über-

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haupt ausmachen, muß die Abweichung vom natürlichen Zustande, die in dem Körper erregt wird, stufenweise vor sich gehen und durch Schmerzen oder beschwerliche Gefühle von Unordnungen allmählich vorempfunden werden, ehe sie noch den Grad erreicht, auf welchem ihre Erscheinung den Namen der be | stimmten Krankheit erhält; im letzten Falle hingegen finden diese vorhergehende innere Veränderungen nicht Statt und die Wirkung muß in dem zunächst angegriffenen Teil plötzlich in dem Augen­blick der Affektion ganz erfolgen, so wie bei gewaltsamen Verletzungen durch äußere mechanische Ursachen. Und so verhält es sich in der Tat auch bei allen reinen Nervenkrankheiten und ist besonders auffallend, wenn sie von Gemütsbewegungen veranlaßt werden, Krämpfe, Ohnmachten, fallende Sucht, Lähmungen, Schlagfluß u. s. w. erfolgen gewöhnlich nach heftigem Schreck oder Ärger in demselben Augenblick oder unmittelbar darauf, anstatt daß Krankheiten anderer Art, in den Eingeweiden oder in den Säften, wenn sie aus denselben Ursachen entstehen, sich nur allmählich in dem Körper entwickeln, und oft erst nach einer sehr merklichen Zeit in ihrer vollen Stärke zum Vorschein kommen. Daß man mich aber nicht so mißverstehe, als behauptete ich: die rheumatische Ursache erzeuge keine Krankheit, die stufenweise und mit geringer Beschwerlichkeit im Körper um sich greifen, bis sie zu einem sehr | hohen Grade gelangen, auf welchem sie dann auch gewöhnlich der Kunst sie zu heben die meiste Schwierigkeit entgegensetzen! Niemand kann im voraus überzeugter und durch Erfahrung belehrter sein, als ich, daß wenigstens bei der seit einer so langen Reihe von Jahren herrschenden Konstitution, in welcher ich lebe und mein Wirkungskreis sich erstreckt, es nur wenig chronische Krankheiten gibt, an welchen der Rheumatismus nicht einen beträchtlichen Anteil hat. Alle mannichfaltige Krankheiten, die ihren Sitz offenbar in Unordnungen der Unterleibseingeweide haben, stehen größtenteils mit dem Rheumatism in einer so nahen Verbindung, daß man, ohne wider die Regeln der Wahrscheinlichkeit zu verstoßen, sie geradezu für Folgen desselben halten kann. So

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weit meine Beobachtung reicht, sind fast immer diejenigen, die an Verstopfungen oder augenscheinlichen Verhärtungen dieser Eingeweide, an verdorbener Verdauung, Blähungen, Hämor­ rhoidal­beschwerden u. s. w. leiden, zugleich zu den rheumatischen Zufällen sehr geneigt. Alle sind in Ansehung ihres Wohlbefindens vom Wetterwechsel in einem hohen Grade abhängig, alle den bekannten rheumatischen | Kopfschmerzen, Ohrenbrausen, Rückenwehe und dem abwechselnden Reißen in verschiedenen Teilen des Körpers unterworfen. Daraus ergibt sich, daß jene Unordnungen des Unterleibes entweder die disponierenden Ursachen des rheumatischen Übels ausmachen, indem sie durch ihre Gegenwart den Nerven die Fähigkeit erteilen, von den äußern wirkenden rheumatischen angegriffen zu werden; oder daß sie selbst rheumatischer Natur sind, und näher oder entfernter von einer rheumatischen Wurzel herstammen. Und das letzte bliebt wohl das wahrscheinlichste, wenn man bedenkt, daß die Kur jener hypochondrischen Hauptübel, die erleichternde sowohl als die gründliche, fast dieselbe, als die beim eigentlichen Rheumatism, uns gewöhnlich ist. Auflösen, gelinde ausleeren, erweichen, Hämorrhoidalfluß befördern, Ausdün­ stung unterhalten, Reiz mildern, ableiten u. s. w. sind die gemeinschaftlichen Anzeigen in beiden; und was die Indicate betrifft, so sind gerade diejenigen Mittel, welche unter uns vorzüglich im antirheumatischen Rufe stehen, zugleich diejenigen, welche sich in den Visceralkrankheiten sehr wirksam zeigen. Dahin gehö | ren der Guaiak, so wie anders auflösende Gummata, laue Bäder, Opium, Blutigel, Veränderung des Klimas, u. s. w. – Auch weiß ich, daß es, außer den Eingeweiden des Unterleibes, keinen Teil am menschlichen Körper gibt, der nicht allmählich wachsenden, härtnäckigen, chronischen Übeln unterworfen sein kann, die von einer rheumatischen Affektion ihren Ursprung herhaben. Anhaltende Kopfschmerzen, Gehör- und Gesichtsfehler, Brustbeschwerden aller Art, mancherlei Ausflüsse, Lähmung, Krämpfe unter verschiedenen Gestalten, Ausschläge, hitzige und langwierige Fieber, die alle während einer rheumatischen Konstitution aus einer einmaligen Erkältung entstan-

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den, sind Erscheinungen, die gewiß jedem praktischen Arzt sehr häufig vorkommen: aber in allen diesen Zufällen sind die Zerrüttungen nicht die nächsten unmittelbaren, sondern die entfernten Folgen der rheumatischen Affektion. Die erste Wirkung des uns unbekannten Rheuma ist immer auf die Nerven; haben diese einmal eine fehlerhafte Veränderung in einem merklichen Grade erlitten, so müssen, wegen des wichtigen oder | wohl gar alleinigen Einflusses ihrer Kraft auf alle Tätigkeiten in der tierischen Ökonomie, die Funktionen der Eingeweide, die gerade mit den angegriffenen Nerven in genauerer Verbindung stehen, besonders wenn sie bereits eine kränkliche Disposition haben, in Unordnung gebracht werden. Es müssen bald widernatürliche Erschlaffungen oder Zusammenziehungen entstehen, bald Ausleerungen gehemmt oder übermäßig befördert und bald Absonderungen verhindert, beschleunigt oder dem Abgesonderten selbst eine schädliche Beschaffenheit erteilt werden. Diese Unordnungen steigen alsdann, wenn ihnen nicht gleich im Anfange abgeholfen wird, unmerklich bis zu den hartnäckigsten Krankheiten, die freilich in ihren Erscheinungen nichts mehr Ähnliches mit den ursprünglichen rheumatischen darstellen, und wider welche man oft genug alle Mühen vergeblich anwendet, sie durch Umänderung oder Entfernung ihrer ersten Ursache, die gar nicht mehr im Körper ist, zu heben. Sie sind also mittelbare Wirkungen einer anfänglichen rheumatischen Affektion, haben nun ihren eigenen Stoff, der, durch diese gebil | det, sie unterhält, und auf den eigentlich die Tätigkeit der Kunst gerichtet sein muß ihn aufzulösen, und wegzuschaffen, wie wohl durch jene Affektion selbst kein besonderer Stoff geradezu erzeugt worden, sondern die Gegenwart ihres Grundes in dem Körper mit der augenblicklichen Verstimmung der Nerven, die er gestiftet, aufgehört hat. – Doch ich behalte mir die Ausführlichkeit dieser wichtigen Untersuchung über die Natur des Rheumatism auf eine andere Gelegenheit vor, und rechne auf die Nachsicht meiner Leser wegen einer Digression, deren Gegenstand mir sehr nahe am Herzen liegt, und von dem philosophischen Geiste, der jezo unter den bessern Ärzten Deutschlands herrschender zu

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werden anfängt, wohl eine sorgfältige Beachtung verdient. Ich gehe zurück. Was die Kur des falschen Schwindels, vorzüglich die vollständige, betrifft, habe ich nichts Erhebliches zu erwähnen. Ich kenne kein Specifikum wider diesen Zufall, das ihn ohne Rücksicht auf die Verschiedenheit seines Grundes auf immer zu heben im Stande ist. Dieses können wir nur auf eine ursach | liche Weise, zu welcher uns überall eine gute aetiologische Semiotik leiten muß. Den äußern und innern vermeidlichen Ursachen muß ausgewichen werden, und in Ansehung der unvermeidlichen muß die Disposition gehoben werden, so wie die Kur einer jeden Krankheit eine vollständige ist, wenn nur eine von beiden Ursachen, die wirkende oder die disponierende, aus dem Wege geräumt ist. Wird die Reizbarkeit des Nervensystems auf ihren gehörigen Grad gesetzt, wird der Blutmenge das richtige Maß erteilt, die Schärfe der Säfte gemildert, werden die Ausleerungen in ihrem natürlichen Gange erhalten und die Fehler der Eingeweide verbessert, so wird der Tätigkeit der äußern wirkenden Ursachen Einhalt getan, indem so wie dem ganzen System auch den Nerven des leidenden Teils der Augen die Rezeptivität der Einwirkungen genommen wird, und ich habe auf diese Weise mehrmals diesen Zufall zugleich mit der Wegschaffung der Neigung zum echten Schwindel und der Anlage zu rheumatischen Beschwerden gänzlich verschwinden sehen. | Die Palliativkur kann bloß durch eine örtliche Mittel­anwen­ dung verrichtet werden, und darin bestehen, daß die Reizbarkeit des leidenden Teils in ihre gehörige Schranken gebracht, also vermehrt oder vermindert wird, da sowohl in der zu schwachen, als in der zu starken Erregbarkeit der Grund des Übels liegen kann. Indessen ist es öfters in jedem einzelnen Anfalle, der ohnedies von viel zu kurzer Dauer ist, als daß verschiedenartige Mittel nacheinander versucht werden können, sehr schwierig, sich für eine der beiden entgegengesetzten Methoden zu bestimmen. Nicht selten leisten auch beide in einem und demselben Falle die verlangte Wirkung, da bei einer zu großen Erregbarkeit des leidenden Teils gerade durch die Anwendung

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eines Überreizes, um mich Brownisch71 auszudrücken, jener in eine indirekte Schwäche hinuntergesetzt wird, und bei einer gegenwärtigen indirekten Schwäche durch Milderung des Reizes die Erregbarkeit mehr gehoben wird. Diese topischen Mittel sind, soviel ich aus meiner Erfahrung weiß, Bähungen des Auges in eiskaltem Wasser, oder in laulicher | Milch, ferner der flüchtige Dunst des Salmiakgeistes, und endlich eine Auflösung von Opium in Rosenwasser, mit Quittenschleim versetzt. Das erste und letzte Mittel habe ich im Ganzen als die wirksamsten gefunden. Marcus Herz

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4 | 5

E T WA S Ü BE R R AU M U N D Z E I T, A L S M O M E N T E D E R A S S O Z I AT I O N.

[Veröffentlicht in: Fragmente aus einer Abendunterhaltung in der Feßlerschen Mittwochsgesellschaft. Fortsetzung. In: Der Teutsche Merkur 2, 9. Stück, 1798, S. 3–10. Hier S. 4–10.]

Z

u den Assoziationsmomenten, d. i. zu den Beschaffenheiten der Gegenstände, vermöge welcher die Seele auf ihrem Gange von der Vorstellung des Einen zu der Vorstellung des Andern geleitet wird, gehört, wie bekannt, die Ordnung, ihr Beisammen- oder Nacheinandersein nach einer gewissen Regel; so wie umgekehrt die Unordnung oder die Regellosigkeit den Fortgang der Seele unter mannichfaltigen Gegenständen erschwert. Es gründet sich darauf die Verwandtschaft, welche Vollkommenheit, Harmonie und Symmetrie unter mehreren Vorstellungen stiften, da diese Verhältnisbegriffe nichts anders ausdrücken, als die Existenz mehrerer Dinge nach der Regel der Übereinstimmung der Mannichfaltigkeit zur Einheit. | Die ausführlichere Auseinandersetzung dieses Gesetzes, so wie der Lehre von der Assoziation überhaupt, findet man unter andern auch im Herzischen Versuch über den Schwindel, *) und ich setze gegenwärtig nur folgendes hinzu: Zu den Verwandtschaften, welche aus der Ordnung entspringen, gehört auch diejenige, welche die Dinge von den sie begleitenden Vorstellungen des Raumes und der Zeit erhalten, die im Grunde nichts anders sind als eine Art von Ordnung in der Seele, nach welcher allein es ihr möglich ist, die Dinge sinnlich, d. i. neben oder nach einander anzuschauen. Raum und Zeit machen daher eine wichtige Verbindung zwischen Vorstellungen die unter ihrer Verwandtschaft stehen, und *) S. 85. u. s. w.

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5–7

man weiß, ohne daß ich der häufigen Beispiele erwähnen darf, wie sehr gleichörtliche und gleichzeitige Veränderungen und Begebenheiten sich einander in der Seele erhalten und erregen. Und in so fern befinden sie sich mit den übrigen Assoziationsmomenten, mit der Einerleiheit, der Ähnlichkeit, der Kausalität u. s. w. in einer Reihe. Hingegen unterscheiden sie sich vermöge der Eigentümlichkeit ihres Wesens dadurch, daß sie nicht, wie diese, bloß Verwandtschaftsmittel anderer Vorstellungen ausmachen, sondern zugleich selbst Gegenstände sind, welche für sich mit andern in Verwandtschaft treten, sie in der Seele herbeirufen und von denselben herbei gerufen werden. Denn | obschon Raum und Zeit nichts als gewisse Erkenntnisformen in unserer Seele sind, so betrachtet sie doch eben die sinnliche Erkenntnis, deren Form sie sind, als Anschauungen außer uns, und sieht sie irriger Weise als reelle Behälter an, in welchen die Gegenstände ihr Dasein haben. Und mehr bedarf es nicht, um sie zu Objekten zu machen, die mit den in ihnen existierenden Dingen verbunden sind und sich einander wechselsweise in der Vorstellung reproduzieren. Nicht nur zwei Personen, die ich an einem Orte oder zu einer Zeit gesprochen, bringen sich unter ein­ander vermittelst dieser Gemeinschaft in meiner Seele hervor, sondern selbst der Ort und die Zeit an sich erwecken die Vorstellung dieser Personen in mir. Bei dem Gedanken der Wolfenbütteler Bibliothek kann ich mich nie der Vorstellung von Lessing, und bei der Erinnerung an den siebenzehnten August nie der Vorstellung vom Tode des Königs erwehren. Raum und Zeit müssen daher in Ansehung des Assoziationsgeschäfts in zweifacher Rücksicht betrachtet werden, als Verwandtschaftsmittel und als verwandtbare Gegenstände. Zwischen diesen beiden Rücksichten gibt es eine sehr merkliche Verschiedenheit. Als Verwandtschaftsmittel ist die Zeit; viel wirksamer als der Raum, Wenn ich zu verschiedenen Zeiten an Einem Orte zwei Personen gesprochen oder zwei Begebenheiten beobachtet habe, so bringen diese sich deshalb nur | selten in meiner Seele einander hervor; hingegen Dinge, die zugleich, d. i. zu einer­lei Zeit, meine Aufmerksamkeit beschäftigt haben, erlan-

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gen dadurch eine stärkere Verkettung, und ich gehe sehr leicht von einem zum andern über. Die Menschen, die ein jeder das Jahr über auf seinem Zimmer sieht, so wie die Vorfälle, die sich während einer Reihe von Jahren in seiner Straße ereignen, stehen offenbar, wenn sonst kein Verwandtschaftsverhältnis zwischen ihnen Statt hat, außer wegen des ihnen gemeinschaftlichen Ortes, fast in gar keiner Verbindung unter einander. Keine von den gesehenen Personen, keiner von den sich ereigneten Vorfällen wird deshalb die Vorstellung von den andern in dem Gemüte aufregen. Die Gemeinschaft der Zeit aber ist schon von mächtigerm Einfluß auf die Reproduktion der Vorstellungen. Zu einer und derselben Zeit unternommene Handlungen oder sich zugetragene Begebenheiten, wenn sie auch in Ansehung des Ortes von noch so großer Verschiedenheit sind, als z. B. zwei aus der Feme erhaltene wichtige Nachrichten, treten in eine enge Verbindung zusammen, und zwar in eine desto engere, je weniger die Zeiten ihrer Gegenwart in der Seele von einander abstehen. Dinge die uns während einer und derselben Woche aufgestoßen, stehen in einer schwächern Verwandtschaft unter ein­ ander, als solche, die sich während eines und desselben Tages ist uns darstellen; diese in einer schwächern als solche, die wir in einer und derselben Stunde wahrnehmen, und solche die uns einmal zu | völlig gleicher Zeit gegenwärtig waren, bleiben oft, wenn sie nur überhaupt für unsere Aufmerksamkeit hinreichendes Interesse hatten, auf immer an einander gefesselt, so daß die Seele mit dem stärksten Abstraktionsvermögen a­ ußer Stand ist sie zu trennen, Und bloß auf diesem Bande der Gleichzeitigkeit beruht die Aneinanderhaftung der Wörter mit den Sachen welche sie bezeichnen, wenn sie auch sonst keine andere Verwandtschaft unter sich haben, als daß sie zu gleicher Zeit ein oder mehrere Male in der Seele übertragen worden sind. Eine Aneinanderhaftung, die es dem Menschen fast immer so äußerst schwierig macht, sich in der Sprache, deren er mächtig ist, ein Wort zu denken ohne zugleich den durch dasselbe angedeuteten Gegenstand, so wie diesen ohne das ihn bezeichnende Wort sich vorzustellen.

268

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8–10

Als verwandtbarer Gegenstand aber ist der Raum eine weit ergiebigere Reproduktionsquelle, in Ansehung der mit ihm in einem nahen Verhältnisse stehenden Dinge, als es die Zeit in Ansehung der mit ihr verwandten Gegenstände ist. Wieder­ anschau­ung eines Ortes erweckt mit den lebhaftesten Farben auch minder wichtige Vorstellungen, die wir in demselben von Personen, Unterredungen oder Begebenheiten einst gehabt, in der Seele, wenn sie anders überhaupt während ihrer Gegenwart einigermaßen unsere Aufmerksamkeit beschäftigt haben; die Zeit tut dieses in einem viel minderm Grade. Die | Vorstellung eines Gegenstandes, die durch sie in uns wieder rege gemacht werden soll, muß schon eine sehr interessante gewesen sein, muß mit Lebhaftigkeit erschienen und einen tiefen Eindruck hinterlassen haben. Mit den Vorstellungen von gewöhnlichem Schlage befindet sie sich nur in einer losen Verschleifung, die von dem schwächsten Ideenflusse, der dazwischen fährt, auf immer gelöst wird. Daher ist die Erinnerung an meinen verstorbenen Freund sicherer und stärker, wenn ich den Ort erblicke wo er starb, als wenn ich in dem Kalender den Tag sehe an welchem er starb. Und die Ursache dieser Verschiedenheit ist leicht einzusehen. Der Ort ist in der Anschauung eben derselbe, der er bei der Entstehung der Vorstellung war, der Zeit hingegen fehlt es an dieser Identität. Ihr Wesen besteht eben in einem beständigen Schwinden, und die Einerleiheit eines Tages mit einem andern verflossenen gründet sich bloß auf eine willkürlich raisonnierte Zeiteinteilung, die auf das Gemüt, so wie auf die Bestimmung des Ideenganges in der Seele, von keiner mächtigen Wirkung sein kann. Es ist daher nicht zu verwundern, daß die Ortsverwandtschaft überhaupt von so großem Einflusse auf den Gang und den Grad mancher Empfindung ist, wovon ich hier ein nicht ganz unmerkwürdiges Beispiel anführen will. Die Qualen der Sehnsucht nach abwesenden Geliebten, Freunden oder Kindern sind viel herber, wenn diese sich von uns, als wenn | wir uns von ihnen entfernt haben. Die geringfügigsten Gegenstände, mit denen sie in unserm Kreise in dem schwächsten Verhältnisse stan-

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den, und vorzüglich der Ort wo sie zu leben und zu weben pflegten, erregen alle Augenblicke in unserer Einbildung die Vorstellung ihrer Bilder von neuem, und erhalten im Gemüte den Trieb nach ihrem nähern Genusse immer lebhaft. Sind wir hingegen selbst abwesend, so entbehren wir nicht nur der Zurückgelassenen; sondern auch der mit ihrer Vorstellung verbundenen Dinge, welche dieselbe zu erwecken und erweckt, ihr eine beharrliche Gegenwart in unserer Seele zu erteilen vermögend sind. – Und aus eben dem Grunde ist, so widersprechend es auch im ersten Augenblicke scheint, umgekehrt, die Freude des Wider­sehens der geliebten Personen in uns größer, wenn wir nach unserer Heimat zu ihnen, als wenn sie zu uns zurückkehren, da im er­ sten Falle der Ort und die übrigen, mannigfaltigen mit ihnen in näherm Verhältnisse stehenden Gegenstände zugleich durch ihren Anblick uns überraschen und die Hauptempfindung ungemein verstärken; ein Zusatz von Wirkung, der dem Affekt ­abgeht, wenn dessen Gegenstand sich zu uns begibt.

A N M E R KU N G E N

1  »Obwohl es viele Dinge gibt, die nicht unmittelbar zu den Künsten gehören, so können sie diese doch voranbringen, indem sie den Geist des Künstlers anregen. Und so bringt auch die Betrachtung über die natürlichen Dinge, obwohl sie keinen Arzt macht, doch die Medizin voran. Aurelius Cornelius Celsus. De re medica (1. Jahrhundert), Buch I.« 2  Hieronymus David Gaub (1705–80), deutscher Arzt, Chemiker und Mediziner, Lieblingsschüler und Doktorand von Herman Boerhaave und erklärter Gegner von Georg Ernst Stahl. Professor für Chemie, dann Medizin in Leiden. Er wurde durch seinen Einsatz in Amsterdam zur Zeit der großen Epidemie von 1727 berühmt. Gaub nutzte erfolgreich Chlor als Desinfektionsmittel zur Eindämmung der Pest. Von den Niederlanden bis an den Zarenhof umworbener Arzt. 3  (Erste) Akademische Rede von der Leitung des Geistes, sofern sie ­Sache der Ärzte ist: Schließlich werden der Geist und der Körper, also Dinge, die nach dem allgemeinen Urteil von unterschiedlichster Natur sind, wenn sie im Menschen zu einem werden, durch eine so enge und intime Verbindung vergesellschaftet, dass man sagen kann, sie haben einander durchdrungen, und, wenn man es hier mit den Worten der Chemiker sagen darf, sie haben sich gleichsam ineinander aufgelöst: Es ist also, so lange das Leben dauert, wo immer der Körper ist, der Geist; und wo immer der Geist ist, der Körper; und es kann beinahe kein Teilchen des Menschen nachgewiesen werden, in dem nicht zugleich etwas von Geist und Körper, und also eine Mischung von beiden zu beobachten ist. 4  Richard Mead (1673–1754), englischer Arzt. 1759 erschienen Richardi Meads medizinische Erinnerungen und Lehren auch in deutscher Übersetzung von Gerhard Andreas Müller (Frankfurt a. M.). 5  Johann Nikolaus Pechlin (1646–1706), niederländisch-deutscher Mediziner. Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina (Halle) und der britischen Royal Society. 6  Hermann Conring (1606–1681), deutsch-dänischer, weitreichend gebildeter Publizist, Mediziner und Leibarzt von Christina, Königin von Schweden. Begründer der deutschen Rechtsgeschichte. 7  Heinrich Meibom (1638–1700), deutscher Gelehrter, Mediziner, Historiker und praktizierender Arzt. Neben seiner Professur für Me-

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dizin in Helmstedt erhielt Meibom außerdem eine Professur für Geschichte und Poesie. 8  Hippokrates von Kos (um 460–370 v. Chr.), griechischer Mediziner. Der berühmteste Arzt der Antike wird als Begründer der Medizinwissenschaft verehrt. 9  Samuel Auguste André David Tissot (1728–1797), Schweizer Arzt und einer der erfolgreichsten medizinischen Autoren seiner Zeit. Er verteidigte die von Marcus Herz kritisch beurteilte Pockenimpfung. Er ist nicht nur bis heute für seine Schrift gegen Selbstbefriedigung berüchtigt, sondern wurde in Anerkennung seiner frühen Studien zur Epilepsie zum Namensgeber einer Auszeichnung für besondere Verdienste in der Epilepsie-Forschung, der Tissot-Medaille. 10  William Smellie (1697–1763), schottischer Arzt, Geburtshelfer und Anatom. Smellie gilt als der Begründer der Geburtswissenschaft, stellte Regeln für den Gebrauch von Geburtszangen auf, mühte sich in der wissenschaftlichen Ausbildung von Hebammen und Ärzten für Geburtsmedizin und betreute in London Frauen aller Gesellschaftsschichten. Johann Christian Friedrich Voitus, der mit Herz befreundete Chefchirurg an der Charité, bemühte sich in dieser Tradition um eine Reform der Geburtshilfe in Berlin. Smellie war außerdem für seine innovativen Lehrmittel, lebensechte Modelle und illustrierte Bücher, ebenso berühmt wie für die mehrbändige Sammlung von medizinischen Fallgeschichten, die er mit Tobias Smollett herausgab. 11  Herodot von Halikarnassos (um 485–um 425 v. Chr.), der antike griechische Ethnologe, Geograph und Geschichtsschreiber. 12  Christian Gottlieb Selle (1748–1800), deutscher Mediziner und Philosoph, Freund und Kollege von Marcus Herz in Berlin. Selle hatte ebenfalls in Halle studiert und war an der Charité als Arzt angestellt. 1785 wurde er Nachfolger seines Freundes Friedrich Ludwig Hermann Muzel als Leibarzt am Königshof und behandelte Friedrich II. und beide Folgekönige. Im Unterschied zu Herz Mitglied der Akademie der Wissenschaften und erklärter Kant-Gegner. Selle beschrieb den Verlauf der Krankheit, die Herz beinahe niederstreckte. Vgl. auch Einleitung dieser Ausgabe. 13  Auch im Briefwechsel Kants erwähnter pensionierter Chirurgus, über den bisher aufgrund des sehr verbreiteten Namens nichts weiter bekannt ist. In den folgenden Jahrzehnten arbeiteten weitere Chirurgen dieses Namens an der Charité Berlin. 14  »Ich sehe Dich!«

Anmerkungen

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15  Gemeint ist Karl Philipp Moritz (1756–1793). Marcus Herz schrieb mehrfach über seinen wohl anstrengendsten Patienten, mit dem ihn und seine Frau eine tiefe Freundschaft verband und an dessen Magazin für Erfahrungsseelenkunde er sich von der Planungsphase an beteiligte. S. Einleitung dieser Ausgabe und den Aufsatz über den falschen Schwindel in diesem Band. Die angekündigte umfangreiche Arbeit zu diesem besonderen Fall von Schocktherapie veröffentlichte Herz erst nach dem Tod des Freundes: Etwas Psychologisch-Medizinisches. Moriz Krankengeschichte. In: Journal der practischen Arzneykunde und Wundarzneykunde 5, 1798, S. 259–321. 16  Großzügigerweise hat sich Dr. med. Herwig Finkeldey, Arzt in Berlin, überreden lassen, alle Vorbehalte gegenüber der Diagnose historischer Krankheitsberichte für einen Moment beiseite zu lassen und die Krankenberichte über das »Nervenfieber« von Marcus Herz aus der Sicht des modernen Mediziners zu interpretieren. Das Nervenfieber. Den Begriff »Nervenfieber« gebrauchten die Ärzte vor der Ära der naturwissenschaftlich orientierten Medizin, also vor dem Aufkommen von Zellularpathologie und Mikrobiologie, für eine schwere fieberhafte Erkrankung, deren hervorstechenstes Merkmal die Bewusstseinsein­ trübung war. Zwar weiß das Bilder-Conversations-Lexikon von Brockhaus bereits 1837 zu berichten, dass das in einem eigenständigen Artikel behandelte »Nervenfieber« sich »selten […] selbstständig« entwickelt, sondern häufiger »aus anderen Krankheiten, namentlich anderen Fiebern« hervorgeht. Auch die damaligen Ärzte wussten also bereits, dass es keinen gemeinsamen Ausgangspunkt für ein »Nervenfieber« gibt. Aber die Entität »Nervenfieber« als eigene Erkrankung, gewissermaßen als gemeinsame Endstrecke unterschiedlicher Anfänge, wird nicht in Frage gestellt. Heute weiß man, dass es eine eigenständige Erkrankung, die diesen Namen verdient, nicht gibt. Vielmehr ist der alte Begriff »Nervenfieber« eine Symptombeschreibung, wobei das Symptom der Bewusstseinsstörung sehr unterschiedliche Ursachen haben kann. Die häufigste Ursache einer Bewusstseinsstörung, die mit hohem Fieber zusammen auftritt, ist eine schwere Infektion. Dazu gehören virale oder bakterielle Lungenentzündungen, außerdem Typhus und Fleckfieber, die damals epidemisch auftraten. Auch die Influenza (eine virale Infektion der Atemwege) ist zu nennen und natürlich die Meningitis, bei der auch epileptische Anfälle zu erwarten wären, wie schon der Brockhaus-Arti-

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kel weiß. Eine weitere Ursache ist natürlich die Blutvergiftung an sich, die sog. Sepsis, die zu einer septischen Enzephalopathie führen kann. Diese Sepsis kann ihren Ausgang überall dort haben, wo Eitererreger einen sog. Fokus bilden. Einige dieser schweren Infektionen waren damals durchaus schon als ansteckend bekannt. Der Typhus hat das »Nervenfieber«-Symptom, die Bewusstseinstrübung, schon im Namen, denn das Wort Typhus bezeichnet nichts anderes als Nebel, in dem die verwirrten Erkrankten zu wandeln schienen. Auch die freie Übersetzung »umnebelter Geist« ist passend. Über den Typhus heißt es im Roman eines Lübecker Senatorensohnes: »Das Bewußtsein ist verdunkelt; Schlafsucht beherrscht den Kranken, und oft versinkt er, ohne wirklich zu schlafen, in eine bleierne Betäubung. Dazwischen erfüllen seine Irr-Reden, seine lauten, erregten Phantasien das Zimmer.« Besser kann man es nicht beschreiben. Der Pathologe Rudolf Virchow nannte auch noch die Epidemie 1847/48 in Schlesien Typhus, über die er seinen medizin-historisch berühmten Bericht verfasste. Aber es war doch eine andere Erkrankung, jene, die man ebenfalls als Lazarett-, Kerker-, Lagerfieber beschrieben hat. Auch diese Erkrankung geht mit Bewusstseinseintrübung und Hauterscheinungen einher, sie wird im Brockhaus von 1837 auch als eine Form des Nervenfiebers aufgeführt. Heute wissen wir, dass es sich um Fleckfieber handelt, das – Cave! – im Englischen immer noch Typhus heißt. Johann Gottlieb Fichte starb daran, nachdem er sich im Dezember 1813 bei seiner Frau angesteckt hatte. Diese hatte die Erkrankung, die sie selber überlebte, als Pflegekraft in einem Lazarett in Berlin übertragen bekommen, in dem die Verwundeten der Befreiungskriege gepflegt wurden. Fichte dürfte seine Frau selber dorthin expediert haben. Im vorliegenden Bericht über die Krankheit von Marcus Herz werden Symptome aufgeführt, die an beide Erkrankungen denken lassen, so das Nasenbluten (»Hie und da fließt ohne jede Veranlassung Blut aus der Nase«), und doch fehlen der Durchfall (nur einmal ist von e­ inem »stinkenden Stuhlgang« die Rede, aber das ist für Typhus zu wenig) und die Hauterscheinungen, oder wie es in Thomas Manns Buddenbrooks weiter heißt: die »fatalen roten Flecke auf der Brust und dem Bauche«. Außerdem ist Typhus mit einer relativen Bradycardie vergesellschaftet, es ist aber von Tachycardie die Rede. Hingegen werden Kopfschmerzen, Luftnot, später Beläge der Schleimhaut geschildert und neben der Bewustseinstrübung eine Amnesie für Teile des Krank-

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heitsverlaufs berichtet. Dazu kam hohes Fieber verbunden mit einem schnellen Herzschlag, eben der Tachycardie. Für mich liegt somit eine akute, hoch fieberhafte, in der Folge eventuell eine Hypoxämie auslösende Infektion des Respirationstraktes vor, möglicherweise eine Influenza. Ein Übergriff der Viren auf die Meningen im Sinne einer viralen Meningitis ist denkbar, aber eine so schwere Infektion des Atemtraktes bereitet auch ohne Meningitis Kopfschmerzen. Alle übrigen Symptome passen, vor allem die Bewusstseinsstörung, die der Erkrankte lebhaft, beinahe übergenau schildert. Er versucht sie zum gemeinen Delirio – den Begriff Delir gibt es bis heute! – abzugrenzen. Aber es ist genau das: ein Delir, als Folge einer septischen Überschwemmung von Entzündungsstoffen, möglicherweise eines Sauerstoffmangels und des Fiebers, also die berühmten »Fieberträume«, deren Überleben und deren Erinnerungen Kranke ein Leben lang nicht vergessen. Diese Erfahrung gibt es heute kaum noch, da die moderne Medizin dieses Erleben mittels Therapie verkürzt bzw. verhindert (auch wenn moderne Narkosewirkstoffe andere, nicht weniger sensationelle, innere Bilder generieren). Man kann sich das Durchwandern eines Delirs durchaus als Grundmuster der romantischen Krankheitssehnsucht vorstellen: Der Weg durch den Tod hindurch zum Leben, wobei das Überleben davon abhing, dass der Erkrankte vor der Sekundärinfektion seiner Lungen bewahrt blieb. Höchstwahrscheinlich hat Herz Glück gehabt, indem es nämlich nicht zu dieser gefürchteten Sekundärinfektion kam, die den Verlauf einer viralen Infektion auch heute noch so häufig fatal verlaufen lässt: die bakterielle Pneumonie, die eitrig-gangränöse Lungenentzündung, an der die meisten Opfer einer Influenzapandemie sterben. Dafür, dass Herz einfach Glück hatte, spricht vor allem, dass kein eitriger Auswurf (»es kam zu keinem kritischen Auswurf«) vorlag. Dass Christian Gottlieb Selle das Fehlen des Auswurfs bemerkenswert findet und zugleich darauf hinweist, dass es nicht zu einer »metastatischen Lungenaffektion« gekommen ist, zeigt, dass den damaligen Ärzten das Fatale der eitrigen Pneumonie auch ohne bakteriologische Kenntnisse sehr wohl bewusst war. Ist eine Influenza oder eine andere pulmonale Virusinfektion überstanden, dauert die Rekonvaleszenz noch einige Wochen an, eine ­Restitutio ad integrum aber ist die Regel. Und sie erfolgte ja auch im vorliegenden Fall.

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Anmerkungen

17  Obwohl aber alle medizinische Sorgfalt nicht auch auf den ganzen Menschen, sondern nur den menschlichen Körper ausgerichtet ist: so betrifft es doch einen Körper, der die Seele so eng mit sich verknüpft hat und nahezu jederzeit durch die Kraft dieser Verbindung sowohl auf das mit ihm Verknüpfte wirkt als auch von diesem wiederum angegriffen wird: Der Arzt kann nun zwar theoretisch einen solchen Körper von der Seele trennen und als ein Einzelnes betrachten, damit die Zusammensetzung der Begriffe ihn weniger verwirrt: Sobald er sich aber während der Ausübung seiner Kunst, bei der er es mit dem Menschen zu tun hat, wie er ist, ganz auf den Körper allein konzentriert, ohne dabei auch an die Seele zu denken; so wird er wahrlich mit der Heilung oft wenig Erfolg haben oder ganz scheitern oder wenigstens einen Teil davon vernachlässigen, der doch auch dazu gehört. Denn in dieser Verbindung und Korrespondenz, die zwischen den Teilen des Menschen besteht, ist eine sehr große Wirkungskraft, durch die sich die Teile nicht nur gegenseitig angreifen, sondern auch in den einen oder anderen Zustand versetzen können: sei es, dass die Ursache dafür, dass ein gesunder Körper krank ist oder dass der kranke besser wird, oft in der Seele liegt; sei es, dass umgekehrt der Körper nicht selten Krankheiten der Seele hervorbringt, aber auch entstandene Krankheiten heilt. 18  Johann Jakob Engel (1741–1802), Lehrer des Prinzen Friedrich Wilhelm (des späteren Friedrich Wilhelm III.), Denker und Schriftsteller in der Tradition von Gotthold Ephraim Lessing, unter Friedrich Wilhelm II. Direktor des Berliner Nationaltheaters und erfolgreicher Autor. Engel und Herz pflegten gesellschaftlichen Umgang. 19  Der Kunstbegriff im 18. Jahrhundert erlaubt grundsätzlich nicht den Kurzschluss auf die spätere Verengung der Bedeutung auf Kunst im Sinne der nichtfunktional verstandenen Ausdrucksweisen. Wenn Herz sich und Kollegen als Künstler bezeichnet, ist damit also auch nicht eine Selbstinszenierung gemeint, wie wir sie uns heute unter diesem Begriff vorstellen. Kunst bezeichnet hier jede als spezifisch menschlich verstandene Fähigkeit zum ideengeleiteten, also systematischen Gestalten der Welt. Der Arzt ist ein Arzneikünstler, weil er – so das Verständnis der Zeit – im Unterschied zum Chirurgen (dem Feldscher oder Wundarzt) kein bloßer Mechaniker ist. Das allein macht den Arzt aber nicht zum freien Künstler oder gar zum Selbstdarsteller. Medizin, das ist der Gedanke, ist kein bloßer Reparaturbetrieb, bei dem es reichte, einen losen Dachbalken wieder anzunageln, weil schon die Diagnostik, also das Erkennen des Defekts, einer Hypothesenbildung bedarf, ohne die kein anwendbares Verstehen zu erreichen ist. Die Grundlage die-

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ses weiten Kunstbegriffs ist bei Aristoteles zu suchen, nämlich in seiner Unterscheidung zwischen epistéme und téchne. Dieses Verständnis von Arznei- oder auch Heilkunst hat, worauf mich Willi Winkler hinwies, bis heute im Begriff des »Kunstfehlers« überlebt, der nur dem Arzt zugebilligt wird. 20  Obwohl nun die Untersuchung über die Vermögen des menschlichen Geistes und deren Steuerung einzig und wesentlich Sache der Philosophen zu sein scheinen; so wird man doch bemerken, dass ein Teil derselben gleichzeitig so wenig von den Aufgaben des Mediziners entfernt ist, dass man, wenn man die Zuständigkeit der Ärzte in Abrede stellen kann, auch gleich philosophierende Ärzte verneinen kann. 21  Wenn also diejenigen, die sich bemühen, den Geist der Menschen zu wahrer Weisheit und Tugend zu bringen, außer den übrigen Hindernissen und Hilfsmitteln auch die beachten müssen, die durch die verschiedene Beschaffenheit des Körpers gegeben sein kann: so erfordert es nach dem sehr ähnlichen Muster, dass auch diejenigen, deren Aufgabe es ist, den mensch­ lichen Körper zu Gesundheit zu leiten, fleißig beachten müssen, was die Seele in ihrer Macht bei diesem Bemühen stärken und was sie schwächen kann. 22  Georg Ernst Stahl (1659–1734), Mediziner, Chemiker und Metallurg mit einer Schwäche für Alchemie und den Animismus. Stahl war Professor für Medizin in Halle und lehrte unter dem Titel Theorie medica vera die unauflösliche Einheit von Körper und Seele gegen den verbreiteten Dualismus. Er vertrat seine Ansichten aber mit dem abschreckenden Dogmatismus, der mehr Gläubige als Schüler anzieht. Sein Einfluss auf die ärztliche Praxis in Berlin war nachhaltig, weil er als medizinischer Berater von Friedrich Wilhelm I. das Collegium medicochirurgicum übernahm. Die Anspielung von Herz bezieht sich ebenso auf Stahls abenteuerliche Heilmethoden als auch auf seine Neigung zur Massenproduktion unlesbarer Werke. Er hinterließ nicht nur kluge Überlegungen zur Psychosomatik und Empfehlungen zu für seine Zeit sanft zu nennenden Therapien, sondern weit über 200 Schriften, die mit »Spitzfindigkeiten und sinnlose Grübeleien« noch sehr charmant umschrieben sind. 23  Carl Leonhard Reinhold (1757–1823), in Wien geborener Schriftsteller und Philosoph. Seine Briefe über die Kantische Philosophie, die ihn nicht zuletzt durch Kants Lob berühmt machten, erschienen von 1786 bis 1789 im Neuen teutschen Merkur, der Literaturzeitschrift von Christoph Martin Wieland, mit dem Reinhold eine enge Freund-

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schaft verband und der ihn zum wesentlichen Redakteur der Zeitschrift machte. Marcus Herz, der auch zu den Autoren des Merkur gehörte, hat zweifellos auch eine freundliche Sympathiebekundung im Sinn, als er für die zweite Auflage diese sehr kleine Replik auf Reinholds 1789 erschienenen Versuch einer Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens einfügt. 24  Johann Georg Zimmermann (1728–1795), Schweizer Intellektueller, Arzt und Schriftsteller. Zimmermann gelang eine große Karriere, er wurde Mitglied in nahezu allen namhaften Wissenschaftsgesellschaften des 18. Jahrhunderts von München bis Sankt Petersburg. Der Leibarzt am Hannoverischen Hof wurde auch von Friedrich II. und von Moses Mendelssohn konsultiert. Marcus Herz kannte Zimmermann über Mendelssohn und zitiert ausführlich aus seinem eindrucksvollsten Werk Von der Einsamkeit (1784/85). Obwohl Zimmermann nach 1788 die literarische Öffentlichkeit durch seine Spekulationen über das Sexualleben Friedrichs II. empörte und sich schon 1790 seine Kehre zum radikalen Aufklärungs- und Judengegner abzeichnete, ließ ­Marcus Herz alle freundlichen Repliken auf Zimmermann der ersten Auflage unverändert. 25  Ernst Platner (1744–1818), deutscher Mediziner, Physiologe, der früh auf die Psychosomatik hinwies. Eine der ersten Veröffentlichungen von Marcus Herz ist eine unter Pseudonym verfasste Rezension von Platners Anthropologie für Ärzte und Weltweise (1772). Platner stand Moses Mendelssohn auch persönlich nah. Sein Einfluss auf Denker und Dichter des 18. Jahrhunderts kann kaum überschätzt werden. Er inspirierte den Kreis um Karl Philipp Moritz und das Magazin für Erfahrungsseelenkunde, dem sich auch Marcus Herz zugehörig fühlte. Die Kritik an Platner durchzieht das Werk von Herz. Platner seinerseits reagiert auf diese Kritik mit wesentlichen Korrekturen. Ein großer Teil der Ergänzungen zur zweiten Auflage der Schrift über den Schwindel ist der Auseinandersetzung mit Platners Neuer Anthropologie (1790) gewidmet. 26  Johann Daniel Metzger (1739–1805), deutscher Mediziner. Metzger war seit 1777 Professor für Medizin in Königsberg und machte sich als Forensiker einen Namen. Außerdem arbeitete er als Arzt für das Waisenhaus und das königliche Hospital. Wie Herz warb auch Metzger für Reformen der Bestattungsrituale und für die Installation von Leichenhäusern, um Lebendbestattungen zu verhüten. 27  Hermann Samuel Reimarus (1694–1768), Hamburger Orienta-

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list und Mitbegründer der Bibelkritik. Wie allen von Herz erwähnten Gelehrten gelangen Reimarus die bahnbrechenden Erfolge insbesondere durch seinen interdisziplinären Themenzugriff. Für die Leser von Marcus Herz stand der Name Reimarus vor allem für den sog. Fragmentistenstreit. Nachdem Lessing 1774 Schriften veröffentlicht hatte, die aus dem Nachlass von Reimarus stammten, wurde Reimarus als grundlegender Religionskritiker bekannt, der unter anderem die Bibel für ein Hindernis auf dem Weg zur allgemeinen Aufklärung hielt und ihre weitere Verbreitung am liebsten verboten hätte. Marcus Herz sympathisiert ebenso offen wie Immanuel Kant mit dem Gedanken der Histori­sierung der Religionen und mit dem Deismus. 28  Heinrich Matthias Marcard (1747–1817), deutscher Mediziner und Publizist. Marcus Herz vertraute auf die Heilwirkung des Brunnens von Pyrmont, wo Marcard monatsweise als Badearzt arbeitete und sehr werbewirksame Publikationen zu Pyrmont verfasste. Als Schüler und Freund Zimmermanns wurde auch aus dem moderaten Aufklärer Marcard einer der konservativen Vordenker, die nicht immer stilsicher gegen die Aufklärung polemisierten. Herz, wie Marcard gefördert vom Fürstenhaus Waldeck, erwähnt auch in der zweiten Auflage nichts davon, obwohl Marcard nur ein Jahr zuvor durch seinen Beitrag zu der Antiaufklärungs-Satire von August von Kotzebue einen lauten Skandal ausgelöst hatte, der seiner Karriere und seinem Ruf erheblich schadete. 29  Johann Joseph Kausch (1751–1825), deutscher Mediziner und Chirurg. Kausch und Herz waren zur gleichen Zeit in Halle. Kausch praktizierte in Wien, Breslau und Militsch mit großem Behandlungserfolg, der ihm staatliche Anerkennung einbrachte. Daneben machte er sich als Autor einen Namen, der sich auch zu Literatur, Ästhetik und Politik äußerte und außerdem die zu seiner Zeit heißbegehrten Reise­ berichte liefern konnte. Die Zeitschrift Apologien waren ein eigenes, aber kurzlebiges Publikationsprojekt. Herz ergänzt die Erwähnung von Kausch für die zweite Ausgabe, und zwar genau zu der Zeit, als Kausch im Gefängnis von Spandau saß, weil er durch kritische Berichte aus Schlesien, Böhmen und Polen in Ungnade gefallen war. Kausch wurde erst 1797 durch Friedrich Wilhelm III. rehabilitiert. 30  John Locke (1632–1704), der berühmte englische Philosoph, der wie Herz auch Arzt war. Herz hatte schon früh Berührung mit englischen Autoren, weil er Immanuel Kant in der Phase seiner größten Begeisterung für angelsächsisches Denken kennenlernte. Vgl. Einleitung dieser Ausgabe.

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31  Henry »Heinrich« Home Kames (1696–1782), schottischer Philosoph und Jurist. Elements of Critism (1762) war das populärste Buch des Beförderers der schottischen Aufklärung, der unter anderem David Hume, Adam Smith und James Boswell protegierte. 32  James Beattie (1735–1803), schottischer Philosoph und Dichter. Der prominente Vertreter der zeitgenössischen schottischen Aufklärung, der auch öffentlich vehement gegen die Sklaverei eintrat, brachte es in der deutschen Debatte zu einiger Bekanntheit, weil er den Versuch unternahm, David Hume und den Skeptizismus durch eine Theorie des Common Sense als einer angeborenen Instanz zu widerlegen. Die in der zweiten Auflage ergänzte Fußnote muss vor dem Hintergrund dieser Frage gelesen werden, denn die Auseinandersetzung wurde in den Achtzigerjahren auch auf dem Festland zunehmend erbittert geführt, nachdem die meisten Verehrer Immanuel Kants sich berufen fühlten, die Auffassung zu widerlegen, dass der große Vernunftkritiker seinerseits zu den Skeptikern gezählt werden könnte – eine Zuschreibung, die Kant selbst nicht gestört hat. Die Vertrautheit von Herz im Umgang mit englischen Philosophen geht auf seine ersten Jahre mit Kant zurück, der kurz vor ihrer Begegnung seinen Versuch den Begriff der negativen Größen in die Mathematik einzuführen (1763) veröffentlicht hatte, auf den Herz hier offensichtlich ebenfalls zurückgreift. 33  Diesen Gedanken der verschiedenen Forscherpersönlichkeiten entwickelt auch Kant in der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft, allerdings abweichend von Gerard, dessen Buch er ebenfalls gelesen hatte, auf der Grundlage der Präferenz eines Menschen für eine der drei denkbaren Schlussformen. 34  Alexander Gerard (1728–1795), schottischer Politiker und Philosoph. Sein Essay on Genius, der 1756 aus Anlass einer akademischen Preisfrage entstand, machte ihn in ganz Europa bekannt. 35  Bis heute ist ungeklärt, ob der Dichter Gaius Helvius Cinna und der gleichnamige Volkstribun und Caesar-Anhänger ein und dieselbe Person waren. Er wurde 44 v. Chr. auf der Trauerfeier für Caesar ermordet, weil man ihn seinerseits mit dem Prätor Lucius Cornelius Cinna verwechselte, der hier darum ein »verräterischer Konsul« genannt wird, weil er sich nicht vom Caesarenmord distanzieren wollte. 36  Friedrich Schiller (1759–1805), deutscher Schriftsteller. »Das merkwürdige Leben, das der Geschichte auf viele Jahrhunderte ihre Richtung vorzeichnete, endigte mit einem Fastnachtspiel.« Aus: Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Re-

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gierung. Erster Band. Leipzig 1788. Einleitung, S. 82. Schiller strich den betreffenden Absatz in späteren Ausgaben. – Mit Dank an den verläss­ lich kundigen Schillerianer Hartmut Finkeldey. 37  Michael Hißmann (1752–1784), deutscher Philosoph, Professor in Göttingen. Bezug hier: Psychologische Versuche. Ein Beytrag zur esoterischen Logik. Frankfurt und Leipzig 1777. 38  Albrecht von Haller (1708–1777), Schweizer Naturwissenschaftler, Mediziner, Anatom, Arzt und der Lieblingsdichter Immanuel Kants. Er hatte bei Boerhaave in Leiden studiert und unternahm lange Ausbildungsreisen nach England und Frankreich. Haller praktizierte in Bern und Göttingen, wo er auch den Lehrstuhl für Anatomie bekam. Er war nicht nur einer der fleißigsten Leichenpräparatoren seiner Zeit, sondern begründete auch die experimentelle Physiologie. Seine achtbändigen Elementa physiologiae corporis humani (1757–1766) gehörte weit über das 18. Jahrhundert hinaus zu den anerkannten Fachbüchern. 39  Publius Cornelius Tacitus (um 58–120), römischer Politiker und Historiker. Tacitus schrieb das bis in die Neuzeit sehr populäre Werk Germania, ohne je selber nach Germanien gereist zu sein. 40  Herman Boerhaave (1668–1738), niederländischer Biologe, Chemiker und Mediziner, der ein dualistisches Modell des Körpers lehrte. Demnach ist zwischen flüssig-bewegten und festen Bestandteilen zu unterscheiden. Während Organe weitgehend statisch sind und mechanisch betrachtet werden müssen, sind die Flüssigkeiten (Körper-, Nerven-, Verdauungssäfte etc.) in Bewegung. Sofern also kein klar zu erkennender organischer Schaden vorliegt, sind Krankheitsursachen in den Säften zu suchen. Das Collegium medico-chirurgicum, an dem Herz sich 1770 einschrieb und später selber Vorlesungen las, stand stark unter dem Einfluss von Boerhaaves Gedanken. S. auch Einleitung dieser Ausgabe. 41  Thomas Willis (1621–1675), englischer Mediziner und einer der ersten Begründer der Anatomie. Er prägte etliche bis heute gültige Begriffe wie »Neurologie«, »Neurophysiologie«, »Neuroanatomie« uvm. Willis lieferte die erste wissenschaftlich zu nennende Darstellung der Nerven und des Gehirns und widmete sich auch eingehend neurologischen oder in zeittypischer Vermischung von Moral, Sitten und Pathologie für neurologisch gehaltenen Krankheiten. Noch die Theorien zur Hysterie der folgenden Jahrhunderte gehen auf seinen Einfluss zurück. Der Mangel an Trennschärfe zwischen Beobachtung und Deutung, also der von Willis nicht bemerkte Einfluss des Sittlichkeitsver-

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ständnisses seiner Zeit auf seine Theorie eines Sensus Communis, gehört leider ebenfalls zu seinem folgenschweren Nachlass. 42  Abraham Zacuth oder Zacutus Lusitanus (1575–1642), Medizingeschichtler und Arzt. Zacutus stammte aus einer zwangskonvertierten portugiesisch-jüdischen Familie, studierte in Spanien Medizin und behandelte als Arzt auch den portugiesischen Hochadel. 1625 flüchtete er vor dem Antijudaismus nach Holland und legte seinen Geburtsnamen Manuel Alvares de Távora ab. Seine in Amsterdam erschienen medizinischen Fallgeschichten, aber insbesondere sein medizinhistorischer Zugriff boten noch im 18. Jahrhundert Lehrstoff in einem Medizinstudium, das wesentlich ein Bücher- und nicht Krankenstudium war. Gerade weil Herz nicht von Büchern, sondern vom Kranken aus denkt, kommt auch er an dem Nachweis seiner Grundausbildung nicht vorbei. 43  Felix Platter (1536–1614), Schweizer Mediziner, Anatom und Psychopathologe. Platter studierte in der Schweiz und in Frankreich. Er wurde Professor für Medizin in Basel und arbeitete als Stadtarzt. Zu seinen vielen Interessen gehörte auch die forensische Pathologie. Platter bemühte sich schon früh, die bis dahin gepflegte Trennung zwischen Medizinern bzw. Ärzten und Wundärzten bzw. Chirurgen zu überwinden. Dass der Vater seiner Frau Wundarzt war, erleichterte ihm zweifellos den freieren Blick. Platter bot einem weiteren Publikum den Zugang zur medizinischen Wissenschaft, insbesondere durch den allgemeinen Zugang zu seinen Sammlungen von Präparaten aus dem gesamten Bereich der Biologie. Zu seinen Leichenöffnungen war auch Publikum zugelassen. Das von Herz angeführte Werk war Platters dreibändiges Lehrbuch zur klinischen Medizin, das noch im 18. Jahrhundert zu den kanonischen Werken der Medizin gehörte. 44  Michael Ettmüller (1644–1683), Leipziger Botaniker, Mediziner und Chirurg. Ettmüller war nach seinem Studium in halb Europa sowohl Professor der Chirurgie als auch der Botanik an der Universität Leipzig und galt als begabter Lehrer. Seine Schriften verbreiteten sich aber mit Verspätung, denn Ettmüller starb zu früh, um seine Werke noch selber zu veröffentlichen. Auch das von Herz zitierte Werk erschien erst fünf Jahre nach Ettmüllers Tod. 45  Avicenna (um 980–1037), eigentlich Ibn Sina, persischer Arzt, Universalgelehrter und genialer Aristoteles-Kommentator. Sein K ­ anon der Medizin gehörte ebenso wie die Materia Medica zu den maßgeblichen Werken einer europäischen Medizin, die sich nur langsam aus den Fesseln christlicher Körperverachtung lösen konnte. Tatsächlich be-

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schreibt Avicenna schon so wichtige Einsichten wie die Verbreitung der Tuberkulose durch Ansteckung und die Notwendigkeit früher Krebsoperationen, Diabetes und Grundlagen der Pharmakologie, und das in einer Zeit, als man im christlichen Abendland nicht einmal die Hauptwerke von Aristoteles kannte. Noch zu Zeiten von Herz gehörte die Kenntnis von Avicennas immer wieder nachgedrucktem Kanon zu den Bedingungen für ein erfolgreiches Medizinstudium. 46  Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.), römischer Konsul, Philosoph und Schriftsteller. Die Gespräche in Tusculum zählen zu den berühmtesten Schriften der Stoa. Das zwei Jahre vor seinem Tod geschriebene Werk handelt vom Primat des ethischen Standpunkts in Fragen nach dem menschlichen Glück. Tugend hat demnach auch der Maßstab zu sein, wenn wir mit Krankheit und Tod konfrontiert sind. 47  Wie nun? Wollen wir annehmen, daß es irgendeine Geräumigkeit in der Seele gibt, in welche Alles, woran wir uns erinnern, wie in ein Gefäß hineingeschüttet wird? Das ist Unsinn. Denn was soll man sich für ein Gehäuse oder eine Gestalt der Seele vorstellen oder überhaupt was für eine Geräumigkeit? Oder wollen wir meinen, daß auf der Seele wie auf Wachs Abdrücke erzeugt werden und daß die Erinnerung die Spur der im Geiste eingeprägten Dinge sei? Aber welches können die Spuren der Worte und der Sachen selbst sein und was jene unbegrenzte Größe, die die Menge der Sachen abzubilden fähig wäre? Zitiert nach: Gespräche in Tusculum. Tusculanae Disputationes. Lateinisch-deutsch. Hrsg. von Olof Gigon. Düsseldorf und Zürich 1998. S. 59. 48  René Descartes (1596–1650), der berühmte französische Mathematiker und Philosoph. Die gesamte Debatte des Verhältnisses zwischen Körper und Seele, das die Medizin seit den Vierzigerjahren des 18. Jahrhunderts hauptsächlich beschäftigt, geht auf Descartes’ LeibSeele-Dualismus zurück. Herz bezieht sich hier auf die problematische Ideenlehre. 49  Für diese Übertragung wurde die Terminologie bzw. die eigenen Übersetzungen von Platner verwendet: Von dem körperlichen Vermögen des Gedächtnisses. Kap. 1 Vom Sitz des Empfangens und Behaltens der Ideen im Gehirn. §. XV. Wir behaupten, dass die äußeren Objekte, die unsere Sinne affizieren, sich gleichzeitig im Gehirnmark eindrücken. Und wenn sich alle Empfindungsnerven in das Gehirnmark verlieren, wenn weiter die Seele gesetzmäßig mit der Markssubstanz verbunden ist und alle Veränderungen, die sie durchläuft, unablässig wie vor Augen hat, was kann angemessener angenommen wer-

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den, als eben jene Eindrücke. Und so ist die Idee nichts anderes als eine Art innere Aktivität der Seele, die im Gehirnmark materielle Einbildungen ergreift und dann ihre eigenen immateriellen Eindrücke schafft. Lebhafte Bewegung wirkt auf das Empfindungsvermögen [Platner verwendet auch: Lebensgeister] sowohl durch gegenwärtige als auch vormals gegenwärtige Gegenstände. Denn in diesem und allen Empfindungsnerven und Gehirnkanälchen ist, wie oben gesagt, die lebhafte Bewegung für eine Empfänglichkeit frei von Hindernissen erforderlich, das heißt, die materiellen Einbildungen, die die Seele betrachten soll, müssen durch die lebhafte Bewegung in das Hirnmark eingedrückt sein, damit sie der Aufmerksamkeit der Seele nicht entgehen. Folglich wären die Objekte und Vorstellungen, von den Sinnesorganen durch die feinen Nerven hindurch und durch die Nervensäfte zum Allgemeinsinn oder Gehirnmark befördert, dennoch nicht beständig, wenn sie sich auflösen würden, nachdem die Seele sie ergriffen hat, sondern sie werden erst beständig, wenn die Bewegung in das Mark eingedrückt wird, und die Seele die behaltenen Ideen wieder empfängt, wann immer sie danach verlangt. Darum haben die Gedächtnisimpressionen ihren Sitz im Gehirn, was wir jetzt näher erläutern wollen. Die Erinnerung ist, wie zuvor erwähnt, diejenige Handlung der Seele, durch welche die einmal als Spur im Gehirn behaltenen Ideen wieder das Vorzustellende und zu Bedenkende werden. So bedarf es zum Gedächtnis zweierlei. Zum einen Ideen, deren Bilder im Gehirn bleiben; dann die Seele, die diese Eindrücke sowohl im Gehirn ergreifen als auch ohne konkreten Willen haben kann. Ich glaube so hinreichend dargelegt zu haben, dass Gedächtnisimpressionen im Gehirnmark bewahrt sind. 50  Christian Wolff (1679–1754), deutscher Philosoph, Jurist und Mathematiker. Namensgebend für die sog. Leibniz-Wolffsche Schule, die auch den Ausgangspunkt für Immanuel Kant bildete. Die deutsche Aufklärungsphilosophie dachte Mitte des 18. Jahrhunderts bis zu Kants Emanzipation in Wolffschen Begriffen. Zu dunklen Vorstellungen siehe Philosophia rationalis sive logica. Frankfurt und Leipzig 1728. §§ 34–36. Vgl. auch Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schriften, die er in deutscher Sprache von verschiedenen Theilen der Welt=Weisheit heraus gegeben. Frankfurt am Main 1733, Kap.7, § 91. 51  Johann August Unzer (1727–1799), Mediziner aus Halle, später praktischer Arzt in Hamburg, dann in Altona. Unzer, der sich weder zur mechanistischen Körpervorstellung noch zur Stahlschen Lehre der den Körper allererst belebenden Seele durchringen konnte, versuchte das Körper-Seele-Problem durch die Theorie ihrer physikali-

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schen Wechselwirkung zu überwinden. Nicht nur Muskeln, sondern jeder Nerv sei reizfähig. Seine Abhandlung vom Seufzen gehört nicht zuletzt durch ihre mutige Metaphorik zu den auch über den medizinischen Fachbereich hinaus gelesenen Werken. Seine Zeitschrift Der Arzt (1759–1964) wurde mehrfach übersetzt und war so populär, dass sie fast zwanzig Jahre nach ihrem Start nochmals aufgelegt wurde. Die Wirkung seiner Ideen war in England dennoch ungleich größer. Herz kam spätestens während seines Studiums in Halle mit Unzers Werk in Berührung, denn das 1747 dort erstmals veröffentlichte Buch über die Seufzer des Körpers und der Seele gehörte zum weit gefächerten Unterrichts­material der Universität Halle. 52  Für diese Übertragung wurde die Terminologie bzw. die eigenen Übersetzungen von Platner verwendet: Wenn wir versuchen, im Gedächtnis eine Idee oder Empfindung, die wir vergessen haben, wieder wach zu rufen, dann müssen wir verschiedene Vorstellungen im Geist durchlaufen, und zwar so weit bis zu der, die wir wollen. Die Seele findet diese Idee, indem sie unendliche Gegenstände wieder vorstellt und nach der Ordnung der Ideen durchstreift. Diese Arbeit kann einige Zeit in Anspruch nehmen, manchmal aber auch spontan und unerwartet jene Idee offenbaren, die wir gesucht haben. Wer nicht wahrnimmt, muss im Geist, in unserem Beispiel, das gesamte Gehirnmark quasi durchschreitend, die materiellen Ideen oder Begriffe aufmerksam mustern? Bis man schließlich das Begehrte findet und erkennt. Zum Beispiel: Den Namen jenes Anatomen suchen, der zuerst die lymphatischen Gefäße beschrieben hat. Wir sind sicher, dass es ein großer Anatom war. Ich rufe darum vorzüglich die Namen der vergleichsweise herausragenden in meiner Seele hervor: Die Namen [Frederic] Ruysch, [ Johann Maria] Lancustus, [Isbrand van] Diemerbroeck, [Marcello] Malpighi, [William] Cowper, [Anton] Nuck, [ Jean] Pecquet kommen in meinen Geist zurück. Aber noch habe ich den Anatom nicht erinnert, den ich wiedererkenne: und doch kann man auf keine andere Weise vorgehen, bis man bei [Girolamo] Fabrici d’Acquapendente angekommen ist. Auf diese Weise erhoffe ich der Wahrheit näher zu kommen, was die Seele in diesen Namen notwendig erkennt, auf den Spuren weiterer Eindrücke, die anderen Namen eingeschrieben sind, besonders Namen der Anatomen, soweit auch immer die Gehirnimpressionen durchschritten werden müssen, bis schließlich das erreicht ist, was man suchte. 53  John Elliott (1736–1786), schottischer Arzt und Leibarzt des Prinzen von Wales. Elliott war gelernter Apotheker, bevor er Medizin stu-

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dierte und für seine Leistungen am Hof zum Ritter geschlagen wurde. Zumindest ebenso bekannt wurde er aber durch seine kurze Ehe mit Grace Dalrymple, die es nach drei Jahren vorzog, mit einem anderen Adeligen davon zu gehen, den Elliott daraufhin erfolgreich auf 12 000 britische Pfund Schadensersatz verklagte. 54  George Berkeley (1685–1753), englischer Theologe und Philosoph. Bezug hier ist der Essay Towards a New Theory of Vision. Dublin 1709. Die deutsche Übersetzung Versuch über eine neue Theorie des Sehens von Wolfgang Breidert ist als Band 399 der Philosophischen Bibliothek. Hamburg 1987 erschienen. 55  Von Ernst Christian Eichner wissen wir nur, dass er aus Breslau stammt, mit dem Arzt Adam Samuel Thebesius (1739–1808) befreundet war, der in Halle studiert hatte, und selber in Halle am 10. Oktober 1758 seine Doktorarbeit verteidigte, und zwar »ohne Beistand«, wie es in den Täglichen Neuigkeiten für Gelehrte, Künstler, und ihre Liebhaber auf das Jahr 1759 Augspurg heißt. 56  Samuel Gottlieb von Vogel (1750–1837), deutscher Mediziner und erfolgreicher Autor. Vogel war Professor für Medizin an der Universität Rostock und gilt nicht nur als Begründer der Heilbadkultur, der das Seebad Heiligendamm initierte, sondern hinterließ neben Baderegeln auch eine schreckliche Anleitung Über die Selbstbefleckung. Unterricht für Eltern, Erzieher und Kinderaufseher; wie das unglaublich gemeine Laster der zerstörenden Selbstbefleckung am sichersten zu entdecken, zu verhüten und zu heilen ist. Stendal 1789, die mehrfach nachgedruckt wurde. 57  Maximilian Stoll (1742–1787), Wiener Arzt. Stoll entzog sich dem Wunsch seines Vaters, ebenfalls Wundarzt zu werden, weil er offenbar kein Blut sehen konnte. Er trat stattdessen in den Jesuitenorden ein, mit dem er sich nach dem Studium überwarf, um danach in Wien Medizin zu studieren und zu promovieren. Stoll galt als Spezialist für Fieberkrankheiten und bildete als Arzt am Dreifaltigkeitshospital Studenten aus, ohne zunächst von der Universität dazu autorisiert worden zu sein. Als Direktor am Allgemeinen Krankenhaus in Wien führte Stoll Reformen durch und unterrichtete auch Wundärzte. Als Freigeist war er Herz also durchaus ähnlich und der Respekt vor Stoll zeigt sich in späteren Erwähnungen. Stoll galt außerdem als ausgezeichneter Beobachter epidemischer Krankheiten. Er gehörte jedoch schon in den frühen Achtzigerjahren zu den geradezu missionarischen Verfechtern der Pocken­impfung, die Marcus Herz so vehement ablehnte, was die Schärfe dieser Passage erklären könnte.

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58  Robert Whytt (1714–1766), schottischer Arzt und Naturwissenschaftler. Whytt hatte in Edinburgh, Paris und Leiden studiert und lehrte als Professor für theoretische Medizin in Edinburgh. Ihm gelang die Beschreibung des Reflexes als neurophysiologischer Vorgang, was ihm den Ruf eingebracht hat, zu den Vätern der Neurowissenschaften zu gehören. In der Beobachtung unzähliger geköpfter Frösche konnte Whytt nachweisen, dass es Körperbewegung nicht nur als willentliche Akte, sondern auch aus Nervenimpulsen gibt, die also auch menschlichen Bewegungen zugrunde liegen können. Auf der Grundlage seiner neurologischen Entdeckungen versuchte Whytt außerdem, psychologische Krankheitsbilder wie auch Hysterie neurologisch, also als somatisch verursacht zu erklären. Seine erste Arbeit dazu Nervous, Hypochondriac or Hysteric Deseases erschien 1764 in Edinburgh. 59  Aëtius von Amida (502–575), Arzt von Justinian I. in Byzanz. Sein medizinisches Kompendium Tetrabibloi oder Die sechzehn medizinischen Bücher, nämlich je vier Teile in vier Bänden, ist eine Art Enzyklopädie der Lehrmeinungen zu unterschiedlichen Krankheiten. Sprüche und Regeln von »Dr. Aetius« gehörten noch im 19. Jahrhundert zu den gern zitierten Klassikern der Medizin. A. Olivieri, Aetii Amideni Libri medicinales. Corpus Medicorum Graecorum VIII 1–2. Berlin 1950 (Band 1 schon 1935). 60  Friedrich Hoffmann (1660–1742), Mediziner aus Halle. Hoffmann hatte über den Selbstmord promoviert und nutzte auch seine spätere Professur für Medizin und Physik zu gründlichen Reformen der Universität Halle, von denen auch Marcus Herz profitierte. Hoffmann ini­ ti­ierte nicht nur eine Form der Förderung von Begabten aus finan­ziell schwachen Verhältnissen, sondern auch die Universitätsbibliothek. Die Medicina rationalis systematica ist eigentlich ein Gemeinschaftswerk, denn sein ehemaliger Student und Freund Johann Heinrich Schulze hatte einen nicht zu unterschätzenden Anteil daran. 61  Weder von dem einen noch dem anderen [Schwindel], weder dem, der von der Schiffsbewegung, noch von dem, der von der Körperdrehung ausgelöst wird und nicht krankhaft ist, soll die Rede sein. 62  François Boissier de Sauvages de Lacroix (1706–1767), französischer Arzt und Naturwissenschaftler. Professor für Physiologie und Pathologie, dann für Botanik in Montpellier. Sauvages de Lacroix verbreitete die Lehren von Georg Ernst Stahl in Frankreich. Er unterstützte Carl von Linné in Schweden bei seinem Versuch, eine botanische und zoologische Systematik zu erarbeiten. Dieser Ansatz

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e­ iner umfassenden Klassifikation von Pflanzen und Tieren wurde zur Grundlage für das Werk, aus dem Herz hier zitiert und das als das Hauptwerk von Sauvages de Lacroix gilt: eine Systematik menschlicher Krankheiten. 63  Gemeint ist Moses Mendelssohn. Siehe Einleitung dieser Ausgabe. 64  Paul Gottlieb Werlhof (1699–1767), deutscher Mediziner und Dichter. Einer der bekanntesten Ärzte in Europa. Herz bezieht sich auf die Observationes de febris, praecipue intermittentibus et ex harum genere continuis etc. Hannover 1732. 65  Friedrich Ludwig Hermann Muzell (1715–1784), deutscher Mediziner. Leibarzt von Friedrich II. Student von Herman Boerhaave, Leiter der Berliner Charité. In einem allenfalls kühn zu nennenden Experiment versuchte er, Melancholie dadurch zu heilen, dass er seinen Patienten absichtlich mit Krätze infizierte, fest entschlossen, das Leiden so auf die Haut abzuleiten. Er berichtet selber davon in Medicinische und Chirurgische Wahrnehmungen. Berlin 1772. 66  Auch häufige Samenergiessungen verursachen einen starken, oft unheilbaren Schwindel, besonders aber ist dieser Zufall eine Folge des ungeselligen Lasters der Onanie. Ich werde bei einer anderen Gelegenheit von den übeln Folgen dieses Lasters handeln. Nur dies will ich hier erinnern, daß Krankheiten, die aus dieser unlautern Quelle entstehen, niemals oder selten geheilt werden, teils weil die Kur durch die Zerrüttung des Nervensystems erschwert wird, teils auch, weil solche Kranke ihrer schändlichen Gewohnheit selten ganz entsagen, und beständig der Gelegenheit zu neuen Ausschweifungen ausgesetzt sind. Auch dies ist noch zu erinnern, daß man in solchen Fällen die Behandlung nie mit Arzneien allein anfangen muß; denn die Nerven haben durch die wiederholten Samenergiessungen einen so hohen Grad der Reizbarkeit erreicht, die anleckenden Ideen sind so lebhaft, und die sich darauf beziehenden körperlichen Handlungen folgen so schnell auf einander, daß die stärkenden und nervenberuhigenden Mittel zu ohnmächtig sind, und sogar die Reizbarkeit, die sie vermindern sollten, durch ihre Nervenkraft vermehren. So lange also nicht die ganze Denkungsart umgeändert wird, und das Gemüt von besseren Grundsätzen durchdrungen in einer Art von Begeisterung von diesem Laster sich losreißt, sind alle Bemühungen der Ärzte fruchtlos. Man siehet hieraus wie notwendig es ist, daß der Arzt sowohl bei anderen körperlichen Übeln, vorzüglich in dieser Krankheit, indem er körperliche Leiden zu heben trachtet, auch die Krankheiten der Seele durch eine gesunde Philosophie zu heilen suche. Ich meine

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aber nicht jenes seichte, tändelnde Wisseln, sondern eine Philosophie, die von spottendem Leichtsinn, und vom blinden Aberglauben gleichweit entfernt, alles prüft und untersucht. Maximilian Stoll, Vorlesungen über einige langwierige Krankheiten. Übersetzt von Joseph Eyerel Wien 1788. Band 1. S. 326–327. 67  Dank der freundlichen Unterstützung von Prof. Dr. Axel Helmstädter, an der Universität Frankfurt a. M. zuständig für die Geschichte der Pharmazie, ließen sich die Abkürzungen entschlüsseln. Ausgeschrieben lautet das Rezept: Recipe Gummi Guaiaci 2 Drachmas solve in Spritus Mindereri 5 Unciae Salpeter depuratum 2 Drachmas Aqua flores Sambuci Oxymel simplex ana partes aequales 3 Unciae Misce, da, signa. Sofern es jemand nachmischen möchte: Man nehme 2 Drachmen Gujakharz aufgelöst in 5 Unzen Minderer’s Geist (gelöstes essigsaures Ammoniak vermischt mit destilliertem Wasser im Verhältnis 1 zu 4.), dazu 2 Drachmen gereinigten Salpeter und 3 Unzen zu gleichen Teilen Holunderblütenwasser und einfachen Sauerhonig (Honig-EssigMischung). Die Anweisung für den Apotheker lautet: Mische, reiche, unterschreibe. – Apothekergewichte weichen von Handelsgewichten ab. Herz verwendete das in Preußen von 1786–1816 gültige Maß, nach dem das Pfund 357,567 Gramm entspricht. Je 12 Unzen und 96 Drachmen (auch Quentchen genannt) geben 1 Pfund. Siehe: Holm-Dietmar Schwarz, Das Nürnberger Apothekergewichte, seine Entstehung und seine geschichtliche Bedeutung. Geschichtsbeilage der Deutschen Apothekerzeitung 15, 1963, Nr. 14. Seite 25–29. Für die Zutaten zum Beispiel: J. R. Czelochowsky, Chemisches Wörterbuch zum Gebrauche für Ärzte, Pharmaceuten, Techniker und Gebildete jeden Standes. Wien 1841. 68  Freienwalde war nicht einmal 70 Kilometer von Berlin entfernt. Die Heilquelle wurde 1685 entdeckt und vom Mediziner Bernhard Friedrich Albinus, dem Kollegen von Herman Boerhaave in Leiden, ausführlich beschrieben. Die Empfehlung von Herz könnte gewirkt haben. Freienwalde entwickelte sich im 19. Jahrhundert schnell zum gutbesuchten Kurbad, das im Ruf stand, bei Juden besonders beliebt zu sein. Im Nationalsozialismus trug Freienwalde den Spitznamen »Judenbad«, was vermutlich schlicht damit zu tun hatte, dass es seit 1821

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eine Synagoge im Ort gab und Walther Rathenau und seine Frau 1909 das Schloss Freienwalde erworben hatten. 69  Johann Friedrich Fritze (1735–1807), deutscher Arzt. Fritze hatte wie Herz in Halle studiert und eine Professur am Collegium medicochirurgicum in Berlin, als Herz sich dort einschrieb und wo er später selber Vorlesungen las. Herz ergänzte den Literaturhinweis, kurz nachdem Fritze das Klinische Institut gegründet hatte. Fritze wurde zu ­einem Vertreter des Brownismus und leitete später an der Charité Berlin die Abteilung für Geisteskrankheit und Epilepsie, die einzige Einrichtung dieser Art in Berlin. 70  Thomas Sydenham (1624–1689), englischer Arzt. Der »englische Hippokrates«, der neben seiner berühmten Praxis auch im Londoner Armenhaus behandelte, erkannte den Unterschied zwischen Gicht und Rheumatismus, erwarb beträchtliche Kenntnisse über Infektionskrankheiten und Epidemiologie und beschrieb den therapeutischen Nutzen der Selbstheilungskräfte des Körpers. Herz zitiert Sydenham schon in seiner Doktorarbeit und machte aus seiner Verehrung für ihn nie ein Geheimnis. 71  John Brown (1735 od. 1736–1788), schottischer Arzt und Neurophysiologe. Der nach ihm benannte Brownianismus war vor allem eine deutsche Erscheinung. Brown hatte 1780 mit seinen Elementa medicinae sein neues Verständnis von Körper und Krankheit vorgelegt, das – philosophiehistorisch gesprochen – auf der Gleichsetzung von mittlerem Maß und dem Guten und Wahren beruht: Da für Brown excitability, die Erregbarkeit, als wesentliche Eigenschaft des menschlichen Körpers angesehen werden muss, ist demnach nur der Körper gesund, der sich in einem Zustand mittlerer Erregung befindet. Die Pathologisierung von Über- und Unterreizung war ihrerseits von so übermäßigem Reiz für die deutschen Dichter und Denker, dass man zumindest für das letzte Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts eher von einer Sektengründung als von einer Reformbewegung sprechen kann. Der Einfluss von Brown auf die deutsche Romantik ist schwer zu überschätzen. Herz schreibt also 1797 bewusst brownisch, nämlich augenzwinkernd ganz à la mode.

PERSONENREGISTER

Aëtius von Amida  189 Avicenna (Ibn Sina)  112, 188 Beattie, James  45  ff., 50 Berkeley, George  136 Boerhaave, Herman  102, 103  f., 183 Brown, John  263 Celsus, Aurelius Cornelius  3 Cicero, Marcus Tullius  121  f. Cinna, Gaius Helvius  60 Conring, Hermann  14 Descartes, René  122  f. Eichner, Ernst Christian  154  f. Elliott, John  136 Engel, Johann Jakob  25  f. Ettmüller, Michael  108, 185  f., 189 Friedrich I. Karl August von ­Waldeck  5  ff. Fritze, Johann Friedrich  228 Gaub, Hieronymus David  12, 23  f., 26  f. Gerard, Alexander  57, 70 Haller, Albrecht von  85 Herodot von Halikarnassos  14 Herz – über seine Krankheit  20  f. Hippokrates von Kos  14, 26 Hißmann, Michael  70 Hoffmann, Friedrich  185  f., 189 Home Kames, Henry »Heinrich«  51, 63, 64 Hume, David  35, 48, 65, 70  f. Jacob, Ludwig Heinrich 47  f. Kant, Immanuel  48, 56 Karl V.  66 Kausch, Johann Joseph  34 Krösus, König von Lydien  14 Lohmeier (Chirurg)  15 Locke, John  35, 70 Marcard, Heinrich Matthias  31, 232  f., 235

Mead, Richard  13 Meibom, Heinrich  14 Mendelssohn, Moses  195, 197 Metzger, Johann Daniel  31 Moritz, Karl Philipp  19  f., 21, 79 Muley Moluck  17 Muzell, Friedrich Ludwig Hermann 206 Pechlin, Johann Nikolaus  14 Platner, Ernst  31, 124  f., 132  f., 134  f., 136, 139 Platter, Felix  102, 107, 112, 185  f., 189 Reimarus, Hermann Samuel  31, 128, 137 Reinhold, Carl Leonhard  30 Sauvages de Lacroix, François ­Boissier de  185  f., 190  f. Schiller, Friedrich  66 Selle, Christian Gottlieb  15, 20, 31 Smellie, William  14 Stahl, Georg Ernst  29 Stoll, Maximilian  178, 218  f. Sydenham, Thomas 256 Tacitus, Publius Cornelius  93 Tissot, Samuel Auguste André ­David  14, 15 Unzer, Johann August  133 Vogel, Samuel Gottlieb von  167 Werlhof, Paul Gottlieb  204 Whytt, Robert  181, 220 Willis, Thomas  102, 104  f., 112, 182, 185  f. Wolff, Christian  128 Zacuth, Abraham (Zacutus Lusitanus)  102, 106  f., 112  f., 185  f., 188 Zimmermann, Johann Georg  31, 90, 96  f., 132

S AC H R E G I S T E R

Abstand zwischen Vorstellungen 34  f., 75, 243 Abstraktionsvermögen 44 Affekt als Heilmittel  14, 23 Alter  160, 176, 242 Anschauung  16, 50, 122  ff., 265  f. Ansporn 32 Arzneikunst 11 Assoziation  44, 45, 265–269 Aufheiterung 22 Aufmerksamkeit  13, 16, 31, 33, 253 – Anstrengung  55, 97 – bewusste  42, 267 – und Routine  32, 252 Bad – Freienwalde  223 – Pyrmont  234  f. Begabung zur Wissenschaft  56  f. Bequemlichkeit des Denkens  65, 89 Bewegungsrichtung 194 Bewusstsein 128 Bild 138 Bildung  23, 40, 96 Blindheit 193 Dankbarkeit 60 Denken u. Gehirn  42 Dinge, ähnliche / unähnliche  45 Disposition  172  f. Drogen 86 Einbildung  29, 269 Einbildungskraft  14, 20, 178, 269 Eindruck  30, 40  f., 69, 133, 144 Einerleiheit und Verschiedenheit 42, 45 Ekel  22, 90, 110, 153

Empfindlichkeit  16, 177 Empfindung – d. Denkens  50, 78 – sinnliche  38, 134  f. – unangenehme  37, 102  f. Empfindungsvermögen 30 Erbrechen 153 Erfahrung  42  f., 140, 210 Erholung d. Seele  30 Erregung  16, 246 Erziehung 23 Farberkennung  48  f., 102, 253 Fasslichkeit  51, 69 Feinde  18, 63 Fieber 83 Folter 16 Frauen  13  f., 152, 175, 177, 191, 247 Freienwalde, Bad  223 Fremdes  56  f. Freunde  16, 18, 19, 91, 269 Furcht  18, 20, 155, 197  f. Gedächtnis  13, 81,149 Gefallen / Missfallen  49, 92 Gefühlsvorstellung 136 Gegenstände – ähnliche  / abstehende  51, 252 – äußere  134 – Menge der  42 Gehör  38, 103, 147, 245 Geistesbeschäftigung  17, 242 Gemütsbewegungen  37, 51, 76, 97, 196 Gemütsschwankungen 19 Geruch 150 Geschlechtsverkehr 248 Geschmack  49, 95, 151 Genuss 40

Sachregister Gespenster  15, 193 Gewohnheit  32, 55, 81, 249 Glück und Unglück  66 Gott  29, 59 Harmonie  29, 55 Heldenmut 17 Hoffnung, tröstliche  18 Ichheit 17 Ideen – anstrengende  50, 55 – Ideengang  268 – Ideenreihen  151 – Lehre d. materiellen I.  9, 122 – schneller Fortgang d.  37, 243 – verdrießliche  20 Identität (s. a. Einerleiheit)  46 Irreden 20 Jugend  85, 94 Kausalität  46, 58, 72 Kinder  15, 161, 176 Klarheit  31, 33, 36 Klassifizierung von Krankheiten 164  ff. Körper – und Seele  11, 12, 78, 118 – Veränderung durch Denken  42, 78, 130 Kontrast  45  f., 253 Kultur d. Geistes  97 Kunst / Künstler  3, 9, 37 Lachen 15 Langeweile  16, 90  f. Lebhaftigkeit d. Vorstellung  31, 33, 48  ff., 63, 81, 144, 268  f. Leidenschaften  18, 22, 37, 83, 178, 246 Liebe  199, 269 Lust  59, 90

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Medizin u. Philosophie  31, 117 Migräne  16, 235, 243 Musik  46  f. Neigungen 22 Nervenfieber  20  f. Nervenkrankheiten 12 Neue, das  16, 38, 51, 55, 85, 120, 151, 251 Niedergeschlagenheit 13,22 Ordnung / Unordnung  54  ff., 109, 265 Orgasmus  178  f., 246  f. Phantasie  20, 131, 247 Philosophie – und Heilwissenschaft  31, 117, 226 – Wesen d.  70  f. Pocken  166  f. Psychologie  23, 69, 86, 185 Pyrmonter Brunnen  234  ff. Publikum und Schriftsteller  9, 24 Rache 17 Raum  56, 120, 147, 265–269 Redseligkeit 195 Reisen 16 Scheinkur  201  f. Schlaf  13, 160, 195 Schnelligkeit d. Vorstellungen  37, 69, 92, 100, 144 Schrift  39  f. Schriftsteller – medizinischer  28 – und Publikum  9, 24 Schwindel – Charakter d.  99  ff. – Disposition  159, 172  f., 212 – falscher S.  241  ff. – mechanische Erklärung  112  f. – Kur  210  ff. – Symptome  142  ff.

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Sachregister

– Ursachen  157  ff. – Wortherkunft  102 Seele – Fertigkeit  44, 55, 74, 128 – Grundgesetze d.  70 – und Krankheit  12  f., 21 – Kenntnis d.  23 – künstl. Veränderung d.  13, 48, 76, 85, 118, 131 – Selbstverachtung  90 – Wahrnehmung d.  48, 90, 120, 140, 267 Seelenkraft  32  ff. – Anstrengung  42 – über d. Körper  11, 16, 17, 22 Sehen  148, 192, 241 Sehnsucht 268 Selbstbefleckung 178 Sinne, niedere  38, 102 Sinnenarten 15 Spekulation 29 Spiegel 30 Spiel  59  ff., 97 Sprachverlust  14  f., 80  ff. Symmetrie 55 Tätigkeitstrieb  69, 90 Tod  17, 66, 84 Traum  151, 193 Traurigkeit 22 Trost 19 Überraschung 33 Übung  74, 77, 96, 254 Unglück, erwartetes  18 Unterhaltung, interessante  16, 92, 97 Unruhe 19 Veränderung d. Gehirns  131 Vergleich 52 Vernunft und Erfahrung  12 Verschiedenheit 45

– V. der Köpfe  56, 75, 87 Verstand 29 Vertigo 102 Vorstellen / sich vorstellen  30, 120  f. Vorstellung – dunkel  13, 32, 34, 144, 197 – Einheit d.  30, 70 – u. Empfindung  46  f., 118, 138  f., 152 – erhebliche  36 – interessante  73 – gelenkte  92 – klar  31, 33 – körperliche Folgen  42 – lebhafte  31, 33  f., 269 – leichte  63, 75 – Menge d.  37 – Spiel d.  21 – Tätigkeit  30 – unangenehme  16 – Verwandtschaft d.  69  ff., 266  f. – vollständige Fassung  31, 33, 34 Vorstellungsvermögen  30  ff., 43  f., 72  f., 118 Wahnsinn  13  f. Wahrheiten, ewige  31 Wahrnehmung  16, 50 Weile  34, 36, 42  f., 72  f., 82, 87, 251 Weltweise 68 Widernatürlich  11, 87, 94, 99, 174 Widerspruch 45 Widerstand  32, 77, 131 Wilde, der  68, 96 Wille 29 Witz  76, 95 Zeichen  39  f., 126  f. Zeit  37, 66, 75, 147, 265–269 Zerstreuung 22 Zorn  14, 22, 199 Zufall  60  f. Zukunft 66