Versöhnte Vernunft: Eine Studie zur systematischen Bedeutung des Rechtfertigungsgedankens für Kants Religionsphilosophie 9783666563430, 3525563434, 9783525563434

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Versöhnte Vernunft: Eine Studie zur systematischen Bedeutung des Rechtfertigungsgedankens für Kants Religionsphilosophie
 9783666563430, 3525563434, 9783525563434

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Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Herausgegeben von Christine Axt-Piscalar und Gunther Wenz

Band 115

Vandenhoeck & Ruprecht

Alexander Heit

Versöhnte Vernunft Eine Studie zur systematischen Bedeutung des Rechtfertigungsgedankens für Kants Religionsphilosophie

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 10: 3-525-56343-4 ISBN 13: 978-3-525-56343-4

© 2006, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Gesamtherstellung: b Hubert & Co., Göttingen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort ..........................................................................................................9 1. Einleitung ...............................................................................................11 1.1 Das Interesse Kants an Metaphysik ...............................................11 1.2 Das Interesse der protestantischen Theologie an Kant ..................21 1.3 Der Aufbau der Studie ...................................................................26 1.4 Zur Methodik der Verwendung von Kants Schriften der kritischen Phase .......................................................................38 2. Freiheit und das Böse.............................................................................43 2.1 Freiheit als Thema der Philosophie bei Kant ..................................43 2.1.1 Die dritte Antinomie der dialektisch sich vollziehenden reinen Vernunft ............................................45 2.1.2 Kants Interesse am freien Willen in der Kritik der reinen Vernunft ....................................................48 2.2 Die Freiheit des Willens in der praktischen Philosophie ...............50 2.2.1 Das Objekt des freien Willens..............................................51 2.2.2 Die Selbstbezüglichkeit des Willens ....................................55 2.2.3 Die Unableitbarkeit des Sittengesetzes oder das Gesetz als Offenbarung.........................................61 2.2.4 Achtung als Triebfeder und die Wirkungen der praktischen Vernunft in der Welt ...................................71 2.3 Das Böse als Sünde ........................................................................76 2.3.1 Das Böse als Verkehrtheit des Willens ................................77 2.3.2 Kants Reformulierung des Erbsündegedankens...................82 2.3.3 Die Funktion von Maximen..................................................85 2.3.4 Der Mensch ist radikal böse .................................................87 2.3.5 Die Unhintergehbarkeit der Erbsünde und das Problem der Verantwortung...................................89 2.3.6 Das Böse als Faktum ............................................................93 2.3.7 Die Universalität des Bösen .................................................97 2.4 Gottebenbildlichkeit als Bestimmung des Menschen ..................100 3. Erlösung ...............................................................................................103 3.1 Die Differenz von Erlösung und Rechtfertigung .........................103

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Inhalt

3.2 Der Anspruch des Gesetzes und die unbedingte Notwendigkeit von Erlösung........................................................104 3.3 Erlösung durch Gottes Gnade ......................................................107 3.3.1 Der Grund der Erlösung .....................................................108 3.3.2 Fremdkonstitution der Erlösung als Postulat der Vernunft........................................................................111 3.4 Glauben als Modus der Wahrnehmung von Wirklichkeit ...........113 3.5 Die Wirkung der Erlösung im Subjekt.........................................117 3.6 Erkenntnis der Erlösungsbedürftigkeit durch Predigt des Gesetzes.....................................................................121 3.6.1 Der Begriff des Erhabenen bei Kant ..................................123 3.6.1.1 Das mathematisch Erhabene ..................................125 3.6.1.2 Das dynamisch Erhabene .......................................129 3.6.1.3 Das dynamisch Erhabene und das Gefühl der Moralität .................................132 3.6.2 Die Bedeutung des Gefühls der Erhabenheit für die Theorie der Erlösung...............................................133 4. Rechtfertigung......................................................................................137 4.1 Luthers simul iustus et peccator bei Kant? ..................................137 4.1.1 Rechtfertigung bei Luther...................................................138 4.1.2 Deutungsvarianten der lutherischen Rechtfertigungslehre...........................................................141 4.1.3 Die Reformulierung der Rechtfertigungslehre bei Kant...............................................................................150 4.1.3.1 Kants doppelter Begriff des Glücks .......................152 4.1.3.2 Moralität und physische Glückseligkeit als Bestandteile des höchsten Guts .............................155 4.1.3.3 Rechtfertigung als Voraussetzung für die Teilhabe am höchsten Gut ..........................160 4.2 Zum logischen Verhältnis von Erlösung und Versöhnung. Die Differenz zwischen der katholischen und der reformatorischen Auffassung.........................................162 4.2.1 Die Rechtfertigungsauffassung der katholischen Kirche am Beispiel des Tridentinums und die praktische Vernunft.........................167 4.2.2 Die Rechtfertigungsauffassung der Reformatoren am Beispiel Luthers und die praktische Vernunft ............................................................170 4.2.3 Versöhnung und Genugtuung.............................................171 4.2.3.1 Versöhnung als Folge innersubjektiver Genugtuung ............................................................172

Inhalt

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4.2.3.2 Versöhnung als Folge externer Genugtuung ..........176 4.3 Kants Christologie........................................................................180 4.3.1 Die Möglichkeit einer Christologie überhaupt ...................181 4.3.2 Die Schematisierung moralischer Ideen.............................182 4.3.3 Christus als Vorbild ............................................................185 4.3.4 Christus als Offenbarer Gottes ...........................................186 4.3.5 revelatio specialis und revelatio naturalis .........................187 4.4 Von der Versöhnung zum Christus in mir bei Luther und bei Kant ....................................................................190 5. Eschatologie .........................................................................................196 5.1 Die Vollendung des Individuums ................................................196 5.1.1 Rechtfertigungsglaube und Heiligung................................197 5.1.2 Der moralische Progress des Subjekts zum heiligen Willen im Eschaton......................................203 5.1.3 Die doppelte Vollendung zur Sittlichkeit und Glückseligkeit..............................................................209 5.1.4 Die bleibende Bedeutung des Gesetzes..............................212 5.2 Die Vollendung der Menschheit als Gattung...............................216 5.2.1 Die Begünstigung der Sünde durch Vergemeinschaftung...........................................................219 5.2.2 Das Reich der Zwecke als Reich Gottes.............................222 5.2.3 Kirche als Volk Gottes .......................................................223 5.2.4 Das Verhältnis von unsichtbarer zu sichtbarer Kirche.................................................................225 5.2.5 Der Stand der Religionsgeschichte und die Stellung des Christentums ..................................................232 5.2.6 Die Bedeutung der Rechtfertigungslehre für Genese und Modifikation des Christentums .....................238 5.2.7 Die Bedeutung der Offenbarung als historisches Ereignis. Der Anknüpfungs- und Kritikpunkt A. Ritschls und die erneute Umarbeitung von Kants Vorgaben durch dessen Schüler W. Herrmann.......241 5.3 Die Vollendung der Gattung als Implikat der Weltdeutung ........252 5.3.1 Der Anspruch des Christentums auf Absolutheit und die Anfrage der historischen Wissenschaft ..................................................252 5.3.2 Das Ziel der Welt................................................................255 5.3.2.1 Die Besonderheit von organischer Natur und die reflektierende Urteilskraft ..............257 5.3.2.2 Die reflektierende Urteilskraft und das Reich Gottes als Zweck der Welt....................259

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Inhalt

5.3.3 Das Verhältnis von Individuum und Gattung bei der Vollendung .............................................................265 5.3.4 Die Vermittlung von Moralität und Glückseligkeit im Reich Gottes auf Erden ........................267 5.3.5 Gott als Schöpfer und Vollender der Welt .........................270 5.3.6 Die Integration von menschlicher Freiheit und göttlicher Allmacht......................................................273 5.3.7 Reflektierende Urteilskraft und Glaube..............................274 Literatur......................................................................................................276 Namen- und Sachregister ...........................................................................285

Vorwort

Das Denken Immanuel Kants hat in den letzten nun schon über 200 Jahren enormen Einfluss nicht nur auf die Philosophie, sondern auch auf die Theologie gehabt. Die Auseinandersetzung mit ihm hat selbstverständlich die unterschiedlichsten Formen angenommen. Wo nicht ausdrücklich – ob nun affirmierend, modifizierend oder verneinend – auf ihn Bezug genommen wird, konnte und kann dies auch indirekt geschehen. Die vorliegende Arbeit ist in der Überzeugung entstanden, dass Kant für die Theologie fruchtbar gemacht werden kann, indem man direkt auf ihn zurückgeht. Die Studie möchte gleichzeitig einen Beitrag zur neuerdings wieder lebhafter geführten Diskussion um Kants Religionsphilosophie leisten und entfaltet diese vom christlichen Rechtfertigungsgedanken her. Das vorliegende Buch ist eine durchkorrigierte und marginal veränderte Fassung meiner im September 2004 an der theologischen Fakultät der Georg-August-Universität in Göttingen eingereichten Dissertationsschrift. Das Promotionsverfahren ist mit dem Rigorosum am 29. Juni 2005 abgeschlossen worden. Die Arbeit hätte nicht entstehen können, wenn mir nicht Unterstützung von vielen Seiten zugekommen wäre. Nun ist es Zeit zu danken. Mein erster, größter und herzlicher Dank geht an Frau Prof. Dr. Christine Axt-Piscalar. Die Arbeit ist während meiner Assistenzzeit an ihrem Lehrstuhl entstanden. Sie hat in einer offenen Diskussion das Thema angeregt und während der gesamten Zeit ein reges Interesse an ihm gezeigt. Das hat sich nicht nur in immer wiederkehrenden Gesprächen zwischen Tür und Angel gezeigt, sondern vor allem in intensiven Diskussionen von Kants Philosophie und in der ebenso intensiven Besprechung des jeweiligen Arbeitsstandes in eigens an ihrem Institut abgehaltenen Doktorandenkolloquien. Schließlich hat sie das Erstgutachten der Arbeit erstellt. Mein Dank gilt ihr aber auch für eine gute Zeit an ihrem Institut. Die Mühe des Zweitgutachtens hat Herr Prof. Dr. Joachim Ringleben auf sich genommen. Ihm möchte ich nicht nur dafür danken, sondern auch für die mehrfache Gelegenheit, einzelne Abschnitte der Arbeit am systematisch-theologischen Doktorandenkolloquium der Fakultät vorstellen zu können, das er in dieser Zeit federführend geleitet hat. Die Diskussion verdanke ich an diesem Ort aber nicht ihm allein, sondern auch den Herren Professoren Dr. Jörg Baur und Dr. Dietz Lange sowie einer Reihe von

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Einleitung

Kolleginnen und Kollegen an der Theologischen Fakultät. Ihnen allen gilt mein Dank. Frau Christina Hoppe, Herrn Claas Cordemann und Herrn Bernhard Knoblauch möchte ich eigens dankend erwähnen. Sie sind Kollegin und Kollegen gewesen, mit denen ich mich ständig im theologischen Austausch befunden habe und denen ich mich freundschaftlich verbunden fühle. Sie haben die Arbeit vor der Abgabe korrigiert und ein letztes Mal mit mir diskutiert. Das schon erwähnte regelmäßige Kolloquium am Lehrstuhl von Frau Prof. Dr. Axt-Pisclar hat mit ihnen stattgefunden. Dass die Arbeit in den „Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie“ erscheinen kann, verdanke ich der freundlichen Aufnahme der Herausgeber: Frau Prof. Dr. Christine Axt-Piscalar und Herrn Prof. Dr. Gunther Wenz. Dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, vor allem dessen Mitarbeitern, die mich bei der Vorbereitung des Drucks unterstützt haben, gilt mein Dank. Die Publikation ist durch großzügige Zuschüsse an die Druckkosten gefördert worden. Für die Beiträge bin ich der Schweizerischen Lang-Stiftung und der Evangelisch-reformierten Kirche des Kantons Basel-Stadt dankbar. Zürich, im Juli 2006

Alexander Heit

1. Einleitung

1.1 Das Interesse Kants an Metaphysik Immanuel Kants Philosophie ist von seinem Zeitgenossen Moses Mendelssohn als „alles zermalmend“1 empfunden worden, weil sie in der Metaphysik keinen Stein auf dem anderen gelassen, vor allem aber, weil sie das Wissen vom Dasein Gottes für immer genommen hat. Man darf sich von der Apostrophierung Kants als Alleszermalmer allerdings nicht täuschen lassen. Er hatte nicht die Absicht, die Metaphysik als solche auszulöschen. Das kann von einem, der das Bekenntnis abgelegt hat, er habe „das Schicksal“ in sie „verliebt zu sein“2, auch kaum erwartet werden. Vielmehr war ihre kritische Reinigung sein Ansinnen, um sie auf sicheren Grund zu stellen. Das gilt sowohl für die allgemeine Metaphysik3 als auch für die spezielle.4 Vor allem letztere, also Metaphysik, wie sie in der Theologie thematisch ist, scheint den Fluchtpunkt seines Denkens auszumachen. Dafür sprechen schon die einschlägigen Abschnitte der ersten Kritik, in denen Kant deutlich ausspricht, er habe das vermeintliche Wissen der dogmatischen Theologie des Rationalismus destruiert, „um zum Glauben Platz zu bekommen.“5 Noch deutlicher in diese Richtung weist aber die vielzitierte Auskunft Kants, der letzte Zweck des Gebrauchs der menschlichen Vernunft betreffe drei Gegenstände: „die Freiheit des Willens, die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes.“6 Gegen den Versuch, der Metaphysik in Kants Philosophie eine derart prominente Stellung einzuräumen, könnte die in der zweiten Hälfte des 19. Jh. aufkommende Strömung des Neukantianismus sprechen. Sie hat sich skeptisch zu jedem Vorhaben gestellt, das mit Kant Metaphysik betreiben wollte. Vielmehr ist er von den Vertretern dieser Deutungsrichtung als Philosoph der Erkenntnistheorie und Geltungslogik im Rahmen von Wissenschaftstheorien rezipiert worden.7 Die Restringierung der kantischen Philoso1

M. MENDELSSOHN: Morgenstunden, 3. I. KANT: Träume eines Geistersehers, 367. 3 Vgl. insbesondere I. KANTs programmatische Vorrede zur zweiten Auflage der KrV. 4 Die Begriffe allgemeine und spezielle Metaphysik werden hier im Sinne der Schulphilosophie verwendet. Spezielle Metaphysik beschäftigt sich mit Themen wie Gott, Welt, und Seele im weitesten Sinn, allgemeine mit den Bedingungen von Sein oder Wirklichkeit überhaupt. 5 I. KANT: KrV, B XXX (Hervorhebung im Original). 6 I. KANT: KrV, B 826. Vgl. auch KrV, B 9. 7 Vgl. zur Genese und Problemstellung des Neukantianismus grundsätzlich C.K. KÖHNKE: Neukantianismus. 2

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Einleitung

phie auf die Funktion, Grundlegung von Wissenschaften zu leisten, ist sicher auch dem Umstand geschuldet, dass zu jener Zeit die idealistischen Systeme abgelöst worden sind von einer Philosophie, die sich in den Dienst der positiven Forschung gestellt hat. Der zu dieser Funktion unternommene Rückstieg zu Kant8 erklärt sich leicht, wenn man dessen Anspruch bedenkt, in der Analytik seiner ersten Kritik die apriorischen Bedingungen von Erkenntnis aufgedeckt zu haben, deren Gesetzmäßigkeiten sich nun in den Ergebnissen der positiven Wissenschaften wiederfinden ließen.9 Das grundlegende Interesse des Neukantianismus bestand darin, den Disziplinen der Wissenschaften – und darunter sind nicht nur die Naturwissenschaften, sondern auch Geisteswissenschaften aller Art zu verstehen – einen vernünftigen Unterbau zu besorgen, der ihre Systematizität und Allgemeingültigkeit verbürgen würde. Die Front, gegen die diese Anstrengungen unternommen wurden, war die aufkommende Lebensphilosophie, die derartige Rationalitäten in Kultur und Wissenschaft verneinte, deren letztes Prinzip vielmehr das irrationale Leben war.10 Das Verfahren des Neukantianismus spiegelt sich auch in dessen Religionsphilosophie. Zur positiven religiösen Erfahrung suchte man den wissenschaftlichen Begriff, durch den sie sich angemessen beschreiben lassen würde. Jeder Versuch, den Religionsbegriff aus der ratio allein zu gewinnen, wurde verworfen. Exemplarisch dafür mag die Stimme Johannes Hessens stehen, der sich in seiner Untersuchung zur Religionsphilosophie des Neukantianismus wie folgt äußert: „Wer heute noch der Meinung ist, den Begriff der Religion ausschließlich auf deduktivem Wege gewinnen zu können, zeigt damit, daß er bei der religionsphilosophischen Problemstellung der Aufklärungszeit stehen geblieben ist.“11 Die Folge der rationalen Verfehlungen sei die komplette Auflösung der Religion: „[N]ach ihrer theoretischen Seite verwandelte sie sich in Metaphysik, nach ihrer praktischen Seite in Moral.“12 Der Neukantianismus selbst nahm Zuflucht zur Religionswissenschaft, denn nur Religionsgeschichte und Religionspsycho8 Es ging allerdings nicht bloß um die Wiedergewinnung Kants, sondern auch um dessen Weiterentwicklung. W. WINDELBAND hat es 1883 wie folgt zum Ausdruck gebracht: „Kant verstehen heißt über ihn hinausgehen“. Das Wort Windelbands findet sich bei H. HOLZHEY: Der Neukantianismus, 39. 9 H. COHENs Unternehmen, Ideen in der Erkenntnistheorie streng auf ihre regulative Funktion im Erkenntnisakt einzuschränken, mag paradigmatisch dafür stehen. Diese Form des kritischen Idealismus ist durch ihn in die sogenannte Marburger Schule eingegangen. Vgl. dazu H. HOLZHEY: Der Neukantianismus, 42–64. 10 Vgl. dazu den guten geschichtlichen Überblick bei H. HOLZHEY: Der Neukantianismus, 28– 41. 11 J. HESSEN: Die Religionsphilosophie des Neukantianismus, 111. Der Vorwurf richtet sich hier auch gegen H. Cohen, dessen Versuch, sich den Religionsbegriff rein deduktiv zu erschließen, weder in der ihm ansonsten folgenden Marburger Schule und schon gar nicht in der Südwestdeutschen Schule des Neukantianismus Anklang gefunden hat. 12 J. HESSEN: Die Religionsphilosophie, 111.

Das Interesse Kants an Metaphysik

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logie schienen genug empirisches Material liefern zu können, um eine Untersuchung von Religion im Sinne des vorherrschenden Wissenschaftsbegriffs zu ermöglichen. Es ist allerdings unübersehbar, dass die Neukantianer mit ihrer Konzentration auf wissenschaftstheoretische Probleme Kant nur verkürzt wahrgenommen haben. Weder der Dialektik der Kritik der reinen Vernunft mit ihrem offensichtlichen Interesse an metaphysischen Fragestellungen noch der Religionsphilosophie im Rahmen der Kritik der praktischen Vernunft ist man auf diese Weise gerecht geworden. Die Suche nach einer durch vernünftige Selbstkritik gereinigten Metaphysik im Gefolge Kants ist denn auch spätestens beim Überschritt in das 20. Jh. erneut aufgekeimt. Dabei kann grundsätzlich unterschieden werden zwischen Arbeiten, die sich der Metaphysik im Anschluss an die Kritik der reinen Vernunft widmen, und solchen, die das kantische Denken zur Sache von den Schriften zur praktischen Vernunft, der dritten Kritik sowie der Religionsschrift her erschließen.13 Erstere konzentrieren sich darauf, das Denken Kants zur Metaphysik im Anschluss an die Kritik des Erkenntnisvermögens aufzugreifen oder kritisch umzuarbeiten14, letztere orientieren sich an den Vorgaben, die Kant in seiner Ethikotheologie gemacht hat. In dieser kommt es innerhalb des kantschen Systems auch zur Ausführung von spezieller Metaphysik.15 13

So äußert sich I. KANT schon in seiner ersten Kritik: „Die Metaphysik theilt sich in die des speculativen und praktischen Gebrauchs der reinen Vernunft und ist also entweder Metaphysik der Natur, oder Metaphysik der Sitten.“ (KrV, B 869, Hervorhebungen im Original). 14 M. HEIDEGGER mag exemplarisch für diesen Vorgang stehen. Er widmet sich Kants Erkenntnisphilosophie ausführlich in: Kant und das Problem der Metaphysik. Seine Kantinterpretation ist daran interessiert, sein eigenes philosophisches Programm als eine konsequentere Durchführung der kantschen Vorgaben darzustellen. Heidegger hat Kants Schematismus in das Zentrum seiner Deutung von Kants Erkenntnistheorie gestellt. Er musste vor dem Hintergrund von Sein und Zeit besonderes Interesse an ihm haben, weil aus seiner Sicht bei Kant die „Zeit […] das notwendige reine Bild der Schemata der reinen Verstandesbegriffe“ (M. HEIDEGGER, Kant und das Problem, 104) ist. Die Zeitlichkeit sei nun aber nicht nur als die entscheidende Form der Anschauung im Erkenntnisakt zu beachten, sondern komme erst dort zu ihrer vollen Bedeutung, wo erkannt wird, dass „die Zeit in der wesenhaften Einheit mit der transzendentalen Einbildungskraft die zentrale metaphysische Funktion in der Kritik der reinen Vernunft“ (Kant und das Problem, 243) inne habe, von der her sich ein angemessenes Seinsverständnis ergibt. Ob die Umarbeitung Kants durch Heidegger Kants Transzendentalphilosophie selbst gerecht wird, kann hier nicht Thema sein. Vgl. dazu sich insgesamt kritisch verhaltend: C. STEFFEN: Heidegger als Transzendentalphilosoph. 15 Es wäre müßig, hier den Versuch zu unternehmen, die unübersehbar gewordene Menge von Literatur dazu zu nennen, geschweige denn besprechen zu wollen. Vgl. neben der im Folgenden zur Sprache kommenden Literatur für die jüngere Zeit nur den Literaturbericht von R. MALTER: Zur Kantliteratur, und von N. FISCHER: Zur neueren Diskussion um Kants Religionsphilosophie, sowie exemplarisch aus jüngster Zeit die beiden in den Kantstudien als Ergänzungshefte erschienenen Monographien von C. DIERKSMEIER: Das Noumenon Religion, und G.B. SALA: Kant und die Frage nach Gott. Dierksmeier will eine dezidiert religionsphilosophische Arbeit vorlegen, die weitestgehend darauf verzichtet, theologische Topoi bei Kant aufzusuchen. Vielmehr geht es ihm darum, das kantsche System darauf hin zu befragen, ob Vernunft in ihren unterschiedlichen

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Einleitung

Zweifelsohne werden die Anstrengungen zur Formulierung spezieller Metaphysik auf dem Grund des vernünftig endlichen Vermögens zur Sittlichkeit, wie es zumeist Menschen eignet16, im Geiste Kants unternommen. Rudolf Malter hat geurteilt, das Denken Kants habe im „Entwurf einer Anthropologie auf der Basis praktischer Metaphysik“17 sein eigentliches Movens. Die vorliegende Studie schließt sich an dieses Urteil an und hat die Religionsphilosophie Kants, wie sie im Anschluss an die Moralphilosophie entworfen wird, und die in ihr auftretende Reformulierung christlicher Dogmatik zum Thema. Sie meint, der kantschen Philosophie auf diese Weise gerecht zu werden, weil die kritische Gründung und Ausarbeitung einer metaphysica specialis eines der Kardinalziele kantschen Denkens ist. Wenn im Folgenden eine Rechtfertigung des Arbeitsvorhabens unternommen wird, kann diese nicht den Anspruch erheben, jede zur Religionsphilosophie Kants abgefasste Studie zu berücksichtigen. Vielmehr werden These und Gedankengang der vorgelegten Arbeit vorgestellt, um durch gleichzeitige Abgrenzung gegen anders gelagerte Interpretationsvorschläge ihr besonderes Profil deutlich werden zu lassen. Ihre Grundthese lautet: Menschliches Handeln führt nach Kant in doppelter Weise Religion bei sich.18 Der Begriff Funktionen, wenn sie auf sich selbst einen Reflex unternimmt, nicht grundsätzlich auf einen Bezug zum Noumenon Religion angewiesen ist. Dierksmeier will sich bei seiner Untersuchung deshalb nicht auf die typischen Topoi theologischer Dogmatik kaprizieren, weil er meint, man könne so Kants eigenem Denken nicht gerecht werden. Vielmehr sei im Gefolge Kants nur ein Denkweg angemessen, der der Erkenntnis Rechnung trägt, dass „eben nicht die Religionsphilosophie aus einem voraufgehenden Gottesbegriff abgeleitet wird, sondern umgekehrt dieser – in religiösen Belangen – aus den Gründen der Religionsphilosophie sich bestimmt.“ (C. DIERKSMEIER: Das Noumenon Religion, 6). Kurz: Es geht Dierksmeier darum, die transzendentale Bedingung der Möglichkeit von positiver Religion aufzudecken – und zwar nicht nur von der praktischen-, sondern auch von Kants Geschichtsphilosophie her. Sala verfolgt ein anderes Anliegen. Er widmet sich dem Thema Gottesbeweis und Gottesbeweiskritik bei Kant, wobei ein größerer Teil seiner Arbeit dem vorkritischen Kant gilt, ein weiterer den einschlägigen Passagen der ersten Kritik. Sodann geht Sala auf Kants Neubegründung eines positiven Gottesbegriffs auf der Grundlage der praktischen Vernunft ein. Salas Arbeit erlaubt sich in ihrem letzten Teil die Merkwürdigkeit, zu behaupten, „daß die Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes die Existenz Gottes postuliert.“ (G.B. SALA: Kant und die Frage nach Gott, 413). Das geht an Kants Intention vorbei. Das Sittengesetz ist vielmehr unfraglich in Geltung und drängt sich vermittelst der Triebfeder Achtung unbedingt auf. Es bedarf zu seinem Geltungsanspruch gerade nicht eines Gottespostulates. 16 Im Folgenden kann für „vernünftiges endliches Wesen“ der Begriff „Mensch“ stehen, auch wenn streng genommen nicht alle vernünftigen endlichen Wesen Menschen sein müssen und auch nicht alle Menschen vernünftige Wesen sind. 17 R. MALTER: Zur Kantliteratur, 155. 18 Sie meint dies im Gegensatz zum Großteil der neueren Rezeption der kantschen Moralphilosophie im angelsächsischen Raum. Vgl. dazu grundsätzlich die zweiteilige und ausführliche Literatursichtung von G. LEYVA: Notizen zur neueren Rezeption der kantischen Ethik in der angloamerikanischen Philosophie. Leyva hält fest, dass ein Grundzug der Kantrezeption im englischen Sprachraum darin bestehe, seine Philosophie „von jeglicher Metaphysik entlasten zu wollen“ (Teil 1, 296). Dies ist ein Vorhaben, das in den 70er Jahren in Deutschland auch von G.

Das Interesse Kants an Metaphysik

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der Handlung muss dabei nicht in irgendeiner Weise eingeschränkt werden auf empirisches Verhalten. Vielmehr kann jeder Lebensvollzug des Menschen, zu dem er sich willentlich zu verhalten vermag, als Handlung verstanden werden – darunter können auch Denk- und Urteilsakte fallen. Religion steht nach Kant allerdings in einem Bedingungsverhältnis zur Handlung, von dem sie nicht abgelöst werden, das auch nicht umgekehrt werden kann. Sie baut sich nur durch Handlungs bewusstsein vermittelt auf und stellt kein von ihr unabhängiges eigenständiges Vermögen des Menschen dar, wie Schleiermacher es für sie reklamiert hat.19 Schleiermachers Versuch der Plausibilisierung von Religion als eine Bestimmtheit des unmittelbaren Selbstbewusstseins, die als solches von Wissen und Tun independent und unterschieden ist, ist sicher auch dem Vorhaben geschuldet, die Religion aus ihrer Umklammerung durch das sittliche Vermögen, in die sie bei Kant geraten zu sein scheint, zu befreien. Welche der beiden Denkfiguren zur Erfassung von Religion besser eignet, soll hier gar nicht entschieden werden. Es ist einzig auf die eigentümliche Stellung der Religion im Gefüge menschlichen Selbstvollzugs hinzuweisen, die sie nach Kant erhält. Sie ist mit jedem Handlungsoder Selbstvollzug gegeben, und man kann auf diese Weise, wie sich zeigen wird, wesentliche Elemente des Selbstverständnisses von Glaubensarten – zumal des Christentums – erklären. PATZIG verfolgt worden ist, der den Versuch unternommen hat, Kants Ethik mit den Grundgedanken des Utilitarismus zu vermählen, wobei er den „kategorischen Imperativ […] von dem metaphysischen Hintergrund jener Zweiweltenlehre, in die Kant ihn hineingestellt hat“ ablösen will (G. PATZIG: Ethik ohne Metaphysik, 58f). Im angelsächsischen Raum ist ebenfalls ab den 70er Jahren vor allem J. RAWLS: A theory of justice, mit seinem Versuch, den kategorischen Imperativ ohne metaphysische Reminiszenzen zu verstehen, von größerem Einfluss gewesen (Vgl. G. LEYVA: Teil 1). Aber auch andere, für kontinentale Denker z.T. gewöhnungsbedürftige, Kantinterpretationen kommen ohne metaphysischen Horizont aus. Kants denkerische Vorlage wird im angelsächsischen Raum produktiv umgearbeitet, wobei es zu Modifikationen kommt, die das logische Gefüge von Kants System insbesondere dort verlassen, wo die transzendentalen Grundlagen der Philosophie Kants umgearbeitet, zurückgenommen oder aufgelöst werden. So versucht etwa P. GUYER Kants Ethik zu naturalisieren – und das heißt, dass der kategorische Imperativ sich aus der Natur der menschlichen Psyche ableiten lassen soll. Denn diese lasse den Menschen nach Glück streben, der Mensch aber empfinde Freiheit als höchstes Glück, und deshalb lasse sich das Sittengesetz als Mittel zu dem Zweck Glückseligkeit, den jeder natürliche Mensch hat, verstehen (vgl. dazu G. LEYVA: Teil 2, 43–47). Daneben gibt es andere Versuche, die Transzendentalität in ihrer Bedeutung für die Moraltheorie Kants zu schleifen. So versuchen A.W. WOOD und J. SCHNEEWIND die kantische Ethik von der empirischen Wirklichkeit her zu verstehen, also von der Psychologie, der Gesellschaft und ihren positiven Erscheinungen. Der Begriff der Autonomie sei also nicht aus der Noumenalität der Vernunft zu gewinnen, sondern wird aus der Kulturgeschichte oder der menschlichen Psyche abgeleitet (Vgl. G. LEYVA: Teil 2, 51–55). Selbstverständlich verhält sich auch die angelsächsische Kantdeutung nicht homogen. L.W. BECK: Kants Kritik der praktischen Vernunft (engl.: A Commentary on Kant’s ‚Critik of practical reason‘) und H. PATON: Der kategorische Imperativ (engl.: The categorial Imperative) bieten jeweils Deutungsperspektiven, die dem Gedanken einer noumenalen Welt ausdrücklich Sinn abgewinnen wollen. 19 Vgl. F.D.E SCHLEIERMACHER: Glaubenslehre I, § 3.

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Einleitung

Unter Religion soll hier das Verhältnis eines handelnden Subjekts zu einer metaphysischen Instanz verstanden werden, die einen Willen hat und Gott genannt werden kann. Alles Handeln setzt mindestens implizit den Aufbau derartiger Beziehung frei. Nicht jedes Handeln lässt diese Beziehung auch explizit bewusst werden, doch ist sie bei jedem Handeln mitgesetzt, selbst dann noch, wenn sie bewusst geleugnet wird. Wenn Religion in doppelter Weise Implikat von Handlungen sein soll, muss nun deutlicher werden, welche beiden Formen von Religion gemeint sind. Zum einen sorgt das mit jedem Handlungsvollzug angestrebte Objekt für die religiöse Aufladung von Handlungen. Das höchste Gut, das zumindest implizit Ziel jeder vernünftigen Handlung ist, kann nur unter Inanspruchnahme eines allmächtigen moralischen Wesens durchgesetzt werden. Die wohl bekanntesten Ausführungen Kants dazu finden sich in der Dialektik seiner zweiten Kritik, wo das Dasein Gottes als ein notwendiges Postulat der praktischen Vernunft vorgestellt wird, weil nur Gott die Verwirklichung des vom Handelnden angestrebten vollendeten höchsten Guts gewährleisten kann.20 Der Begriff des höchsten Guts findet sich allerdings nicht nur in seiner zweiten Kritik, sondern seine Entwicklung beginnt schon in der vorkritischen Phase, und er fungiert schließlich unter dem Reich-GottesBegriff in der Ethikotheologie, wie sie in den späten Schriften entwickelt wird.21 Hier kommt es weniger auf die Bedeutungsverschiebungen an, die dem Begriff im Denken Kants widerfahren sind.22 Wichtiger ist die Erkenntnis, dass die Handlungstheorie Kants erstens gegen alle anders lautenden Vorurteile sehr wohl das angestrebte Objekt einer Handlung mitbedenkt und dass zweitens alle situativ angestrebten Objekte als Vorstufen zu einem letzten Zweck zu begreifen sind, der in der Sprache der Religion das Reich Gottes auf Erden heißt. Wenn das höchste Gut, dessen Thematisierung das Postulat des Daseins Gottes auf den Plan ruft, zumindest implizit das angestrebte Objekt jeder Handlung ist, dann muss der Begriff des höchsten Guts oder des Reiches Gottes zur durch ihn geleiteten systematischen Darstellung der Religionsphilosophie Kants besonders herausfordern. Dieser Herausforderung hat sich die Literatur auch gestellt. Es finden sich allein in jüngster Zeit einige Studien, die Kants metaphysica specialis von ihm her entfalten.23 20

Vgl. I. KANT: KpV, A 223–237. Vor allem die dritte Kritik und die Religionsschrift lassen den Reich-Gottes-Begriff thematisch werden. 22 Vgl. zur Entwicklungsgeschichte des Begriffs im Werk Kants: A. HABICHLER: Reich Gottes als Thema des Denkens bei Kant. 23 So geht etwa R. LANGTHALER: Kants Ethik als System der Zwecke, so vor, dass Kants Ethik auf die in ihr mitgedachten Zwecke befragt wird, von denen „nun aber diejenige Idee der ‚Ethikotheologie‘ nicht abzutrennen“ (XII) sei. Kants Religionsphilosophie wird hier also konsequent im Anschluss an die Reflexion auf den Zweck der praktischen Vernunft entfaltet. Langthalers 21

Das Interesse Kants an Metaphysik

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Allerdings ist dies nicht die einzig angemessene Möglichkeit der Annäherung an Kants spezielle Religionsphilosophie. Denn es gibt einen weiteren Grund für die Anhaftung von Religion an menschliche Handlungen. Dabei handelt es sich um die von Kant in der Religionsschrift konstatierte Tatsache des radikalen Bösen bei gleichzeitiger Schätzung des Sittengesetzes als göttliches Gebot. Das Böse ist nach Kant verkehrte Handlungsgesinnung, die sich nach dem Prinzip der Selbstliebe richtet und damit das Sittengesetz missachtet. Kant behauptet, dieses Böse sei die Wurzel jeder Handlung und könne nicht unterlaufen werden.24 Man fühlt sich sogleich an ähnlich lautende Einschätzungen des Menschen durch die christliche Tradition erinnert. Um das Böse Kants als nicht zu überwindende Sünde im theologischen Sinne verstehen zu können, müsste sich die Übertretung des mit dem Sittengesetz Geforderten als ein Vergehen gegen Gottes Willen verstehbar machen lassen. Das wiederum setzt die Auffassung „aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote“25 voraus. Die vorliegende Arbeit wird sich darum bemühen, genau diese religiöse Art der Auffassung des sittlich Geforderten mit Kant verstehbar zu machen. Im Verlauf der Untersuchung wird sich zeigen, dass ein derartiges religiöses Verständnis des Sittengesetzes zwar nicht notwendig explizite bewusst ist und zum Ausdruck gebracht wird. Doch ist es immer virulent, weil das Subjekt das Freiheitsvermögen, welches zu Handlungen stets in Studie ist im Jahre 1992 erschienen. Ihm zuvorkommend hatte schon R. WIMMER 1990 seine Monographie mit dem Titel „Kants kritische Religionsphilosophie“ veröffentlicht. Seine insgesamt erhellende Arbeit meint „mit Kants Begriff des höchsten Guts des Menschen erstmals jenen Einheitspunkt aufgezeigt zu haben, der es gestattet, die gesamte kritische Religionsphilosophie Kants als ein systematisches Ganzes zu begreifen.“ (8f). Wimmer widmet sich nicht nur den drei Kritiken und der Religionsschrift, sondern richtet sein Augenmerk in einem eigenen Kapitel auf das Opus postumum. Die seine Arbeit leitende These lautet, dass Kants Begriff des höchsten Guts Signum dafür ist, dass die kantsche Ethik sich nicht darauf reduzieren lässt, Handlungstheorie im engen Sinne zu sein. Vielmehr ist Ethik diejenige Disziplin des Denkens, in der auf die Frage reflektiert wird, wie sinnvolles Leben möglich ist. Wimmer sieht Kant damit an eine entsprechende Tradition der Antike und des Mittelalters anknüpfen. Seine Untersuchung, das lässt der Titel erahnen, widmet sich sodann den Ausführungen Kants zur Religion, die nach Kant deshalb dem praktischen Vollzug des Menschen anhängt, weil nur mit ihr und durch sie sinnvolles Leben und sein Ziel – also das höchste Gut – erreichbar ist. Sowohl Wimmers Arbeit als auch Langthalers und die beiden oben in Anm. 15 genannten Untersuchungen von Dierksmeier und Sala erscheinen als Beihefte in den Kantstudien: Ein untrügliches Indiz für das am Ende des 20. Jh. erneut aufkeimende Interesse an einer der Metaphysik unter den Kantforschern. 24 Man sieht sich mit der Behauptung der Radikalität des Bösen im Übrigen der theoretischen Schwierigkeit ausgesetzt, diese mit der Theorie der Freiheit in Einklang zu bringen. Denn wie soll die Unhintergehbarkeit eines bestimmten Handlungsmusters erklärt werden können, wenn die gesamte Handlungstheorie ihr Fundament in dem Bewusstsein der Freiheit hat, das sich mit dem Sittengesetz einstellt und das doch eigentlich die Möglichkeit, sich zum Guten zu bestimmen, verbürgen sollte? Dieser Frage wird en detail nachzugehen sein. 25 I. KANT: Rel., 153.

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Anspruch genommen wird, nicht aus sich selbst genetisieren kann und deshalb als göttlich gegeben annimmt. Die explizite Bewusstmachung des Sittengesetzes als Gottes Gebot erfordert das bewusste reflektierende Nachdenken über den Grund des Sittengesetzes. Die religiöse Dimension des Sittengesetzes mag allerdings auch vor derartiger Reflexion schon unthematisch bewusst sein. Um sogleich allen Missverständnissen vorzubeugen: Hier wird keine Kantdeutung geboten, die das Auftreten und die Geltung des Sittengesetzes abhängig von einem ihm vorausgehenden Wissen von Gott macht. Das Gegenteil ist nach Kant der Fall. Die Kenntnis und der Geltungsanspruch des Sittengesetzes sind jeder Abhängigkeit bar. Das Bewusstsein von Gott ist dem Bewusstsein des Sittengesetzes logisch immer nachgängig.26 Diese Verhältnisbestimmung verbietet allerdings nicht, das Auftreten des Sittengesetzes von dem Bewusstsein der Abhängigkeit desselben von Gott begleitet zu sehen. Freiheit ist in diesem Fall Freiheit, die sich verdankt weiß. Will man sich den Grund des Autonomiebewusstseins erklären, kommt man um ein religiöses Verständnis des Sittengesetzes nicht herum. In den positiven Glaubensarten ist derartiges Bewusstsein eigens thematisch, ansonsten kann es bloß unthematisch und diffus vorhanden sein. Durch die vorgenommene Zurückführung des Sittengesetzes auf Gott entsteht unabweislich ein Gottesverhältnis. Darüber hinaus führt das Bewusstsein des Bösen auf reflektierendem Weg zur Religion. Die Differenz zwischen Sein und Sollen lässt den Sünder nach einer Möglichkeit zur Erlösung von dem Bösen suchen. Da das Sittengesetz seine Erfüllung unbedingt gebietet, stellt sich die Frage nach Erlösung notwendig. Die vom Sittengesetz geforderte Bonität ist nicht bloß ein Wunsch, dessen Erfüllung der Beliebigkeit des handelnden Subjekts anheim gestellt wäre, sondern das Sittengesetz fordert das Gesollte unabweisbar. Achtung vor dem Sittengesetz ist ein Ausdruck, mit dem Kant zu verstehen gibt, dass der durch das Sittengesetz Angesprochene der Forderung gegenüber keine Wahl hat. Wenn der Sünder sich selbst und die Menschheit als radikal böse erfährt, sich zugleich 26 Vgl. I. KANTs ersten Satz der Religionsschrift (Vorrede zur ersten Auflage): Rel., 3: „Die Moral, so fern sie auf dem Begriffe des Menschen als eines freien, eben darum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindenden Wesens gegründet ist, bedarf weder der Idee eines andern Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten.“ G. WENZ: Theoretische Vernunftkritik in praktischer Absicht, 55–57, meint, Kant habe zur Auffassung einer derart strengen doppelten Unabhängigkeit des Sittengesetzes erst spät gefunden. Noch die KrV in beiden Auflagen biete, so Wenz, Anhalt für eine Deutung, nach der das Sittengesetz nur unter Berücksichtigung eines göttlichen moralischen Willens ausreichend motivierend auf den menschlichen Willen wirke. Diese Abhängigkeit der Durchsetzungsfähigkeit des Sittengesetzes von einem Gottesgedanken sei aber mit den späten Schriften zu Gunsten eines völlig suisuffizienten Gesetzes beseitigt worden. Zweifelsohne liegt dieser letzte Gedanke in der Fluchtlinie des Gesamtprogramms Kants, da nur er sich dem Anspruch einer autonom zu denkenden Vernunft fügt.

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aber unter die unbedingte Forderung nach Bonität gestellt weiß, muss er reflektierend auf eine Erlösung ab extra hoffen, weil Selbsterlösung unter der Bedingung der Radikalität des Bösen ausgeschlossen ist. Der Sünder bedarf, will er sich Hoffnung auf Besserung machen, der Erlösung durch „übernatürliche Mitwirkung.“27 Auch wenn die Zeichnung des zweiten Grundes für den Aufbau von Religion bis hierher nur schemenhaft ausgefallen ist, wird doch deutlich: Er betrifft nicht unmittelbar das Objekt menschlicher Handlung, das nur durch Gottes Wirkung auf die Welt realisiert werden kann, sondern ein Verhältnis des Subjekts zu Gott, in dem die Herkunft seines Handlungsvermögens und die Qualität seiner Handlungsgesinnung thematisch ist. Unter Voraussetzung des radikalen Bösen kann es sich nicht vorstellen, seine Bestimmung zur Bonität anders zu erreichen, denn durch Erlösung ab extra.28 Das Bewusstsein von der Erlösungsbedürftigkeit und der Abhängigkeit einer Erlösung von Gott kann mehr oder weniger explizit sein kann. Dass es aber überhaupt – ob ausdrücklich oder nur intrikat – bewusst ist, ist offensichtlich Kants Meinung gewesen: „Die Vernunft im Bewußtsein ihres Unvermögens, ihrem moralischen Bedürfnis ein Genüge zu thun, dehnt sich bis zu überschwenglichen Ideen aus, die jenen Mangel ergänzen können.“29 Es ist gesagt worden, dass es zwei Gründe für die Konstitution von Religion gibt. Beide fallen in den Bereich menschlichen Handlungsvermögens. Der Versuch einer systematischen Erschließung von Kants Religionsphilosophie kann dementsprechend auf zwei Wegen unternommen werden. Die Möglichkeit der Thematisierung von Religion von dem Begriff des Reiches Gottes her ist bereits erwähnt worden. Die hier vorgelegte Arbeit geht anders vor. Sie unterstellt, die Explikation von Religion müsse von der religiösen Auffassung des Sittengesetzes, dem radikal verstandenen Bösen und dem Postulat einer Erlösung ab extra her unternommen werden, weil nur dieser Weg die Einheit von Kants kritischer metaphysica specialis systematisch erschließt. Beide Deutungsmöglichkeiten stehen nicht in einem strengen Gegensatz zueinander, sondern fassen den Ausgangspunkt der jeweils anderen Variante in sich.30 Der hier unternommene Versuch, sich Kants Religionstheorie von 27

I. KANT: Rel., 44. Es ist oben in Anm. 24 schon angeklungen, dass diese Behauptung zunächst in Spannung steht zu der bei Kant ebenso unabweisbar aufgestellten These, der Mensch sei frei. Denn wenn er frei ist, müsste es ihm auch möglich sein, sich selbst zu bessern oder zu erlösen. Die Arbeit wird ausführlich auf diese Schwierigkeiten eingehen und den Versuch unternehmen, sie einer Lösung zuzuführen. Vgl. den Abschnitt 2.2 unten. 29 I. KANT: Rel., 52. 30 So wird diese Arbeit den Begriff des höchsten Guts und die Herstellung desselben ausführlich zu bedenken haben. Anders herum hat etwa auch R. WIMMER in seiner Monographie: Kants kritische Religionsphilosophie, der Frage nach der Erlösung einen eigenen Abschnitt gewidmet, in 28

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dem Gottesverhältnis qua Handlungsvermögen, dem Sündenbewusstsein und der Frage nach Erlösung zu nähern, hat mindestens einen Vorteil gegenüber der anderen Variante: Die von Kant unterstellte Radikalität des Bösen gerät sogleich in den Fokus und damit auch der eigentliche Grund für das bisherige Ausbleiben des Reiches Gottes auf Erden. Kant hat mit seiner Religionsphilosophie nicht nur den Endzweck der Welt in den Blick genommen, sondern vor allem auch versucht, die Hindernisse zu erfassen, die bei der Herstellung des Endzwecks zu überwinden sind. Dazu gehört nicht zuletzt die radikale Sündhaftigkeit des Menschen, und es ist zu bedenken, ob Kant nicht eine in sich kohärente Theorie der Erlösung auf Basis einer Rechtfertigungslehre entfaltet hat, in der eine (vielleicht die einzige) Möglichkeit zur Überwindung der Sünde zur Sprache kommt. Wenn dem so ist, muss die Erlösungs- und Rechtfertigungslehre als ein Kernstück der kantschen Religionsphilosophie angesehen werden. Denn Kant hätte sonst eine Religionsphilosophie entworfen, die einerseits die gegenwärtige Lage der Menschheit derart schlimm darstellt, dass diese von ihrem Ziel – nämlich dem Reich Gottes auf Erden – unendlich weit entfernt ist. Andererseits würde sie das Ziel vor Augen malen, ohne aufzuzeigen, wie eines der Haupthindernisse – nämlich die Sünde des Individuums und des Menschengeschlechts – zu überwinden ist. Es ist immer wieder bemerkt worden, welche Schwierigkeiten nicht nur die Lehre von der Erbsünde, sondern vor allem die Erlösungslehre bei Kant dem Verständnis bereitet.31 Hier soll der Versuch unternommen werden, gerade diese Theoriestücke zu erhellen. Denn nur von ihnen her lässt sich die Religionsphilosophie Kants als ein systematisches Ganzes verständlich machen, in dem die einzelnen Stücke seiner Religionsphilosophie in einem sachlichen Zusammenhang zu stehen kommen, durch den erklärt werden kann, wie der Zustand der Sünde durch ein Rechtfertigungsgeschehen überwunden und der Zweck der praktischen Vernunft realisiert werden kann.

dem er allerdings zu dem Schluss kommt, Kants Religionstheorie sei an dieser Stelle nicht schlüssig, weil er die Widersprüchlichkeit zwischen der Forderung nach Selbsterlösung und der konstatierten Mitwirkung Gottes nicht auflösen könne (150–161). 31 Vgl. neben dem in der vorausgehenden Fußnote genannten R. Wimmer beispielsweise auch C. DIERKSMEIER: Das Noumenon Religion, 45, der jedwede Form des Erlösungsgedankens aus Kants Transzendentalphilosophie ausschließen will. A. HABICHLER: Reich Gottes, meint zur Erlösungs- und Rechtfertigungslehre bei Kant, auch wenn er ihr durchaus gewinnbringende Aspekte abgewinnen kann: „Die kantische Lösung beantwortet nicht alle Fragen. Das von ihm zur Verfügung gestellte Instrumentarium legt Grenzen auch für die Beantwortung des Problems auf.“ (212).

Das Interesse der protestantischen Theologie an Kant

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1.2 Das Interesse der protestantischen Theologie an Kant Den Deutern von Kants Ethikotheologie ist spätestens mit der Wende zum 20. Jh. die Nähe zu Martin Luthers Theologie aufgefallen, und Kant erhält den Titel „Philosoph des Protestantismus“. Friedrich Paulsen hat mit einem Aufsatz in den Kantstudien aus dem Jahr 1900 den Anfang gemacht.32 Nicht nur der Titel wird Kant noch vielfach zuteil – auch Julius Kaftan hat ihn dem Königsberger anlässlich einer Rede zu seinem 100. Todestag verliehen33 –, sondern es entstehen einige auch umfangreichere Studien, in denen lebhaft die Konvergenzen von Luthers Theologie und Kants Philosophie diskutiert werden. Bruno Bauchs Habilitationsschrift „Luther und Kant“34 von 1904 bedeutet die Initiation einer Reihe von Monographien, die sich dem Vergleich widmen. Die Diskussion wird übrigens nicht nur von theologischer Seite her geführt – Bauch selbst ist zu dieser Zeit Privatdozent der Philosophie35 an der Universität Halle. Ihm folgen Arbeiten von Theodor Siegfried36, Horst Schülke37 und in den 70er Jahren von Frieder Lötzsch38, die allesamt schon dem Titel nach an Bauchs Untersuchung erinnern. Die Studien zur Sache machen in Kant den Philosophen des Protestantismus aus zwei Gründen aus. Schon Paulsen hat in seinem Aufsatz beide herausgestrichen, indem er zum einen Kants Verständnis von Religion als antiintellektuell bezeichnet, indem er zum anderen Kant den Typus von Gewissensreligion denken sieht, dem auch der Protestantismus zuzurechnen

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F. PAULSEN: Kant der Philosoph des Protestantismus. Paulsen meint, Kant gegen neuthomistische Kräfte in Schutz nehmen zu müssen, die in Kant nichts als einen haltlosen Subjektivisten und Skeptizisten zu sehen vermögen. Paulsen ist der Überzeugung, dass wegen der Nähe, die sich zwischen Luther und Kant ausmachen lässt, die katholischen Angriffe auf Kant nicht nur diesen, sondern auch Luther und den Protestantismus treffen sollen. Dass Kant heute von katholischer Seite problemlos positiv rezipiert und verarbeitet werden kann zeigt exemplarisch H. HOPINGs Studie: Freiheit im Widerspruch. 33 J. KAFTAN: Kant, der Philosoph des Protestantismus. Es handelt sich um den Titel einer Rede, die Kaftan am 12. Februar 1904 gehalten hat. Vgl. auch die Frage H. SCHÜLKEs: „Ist Kant der Philosoph des Protestantismus?“. Schülke formuliert diese Frage eingangs seiner Untersuchung: Kants und Luthers Ethik, 5. F. WAGNER kann aus einigem zeitlichen Abstand süffisant feststellen: „Kant ist der Ehrentitel Philosoph des Protestantismus verliehen worden – wobei zu fragen wäre, ob das für den Protestantismus oder für Kant ehrenhaft ist.“ (Aspekte der Rezeption Kantischer Metaphysik, 23). In jüngster Zeit stufen F.W. GRAF und K. TANNER Kant in der genannten Weise ein. Vgl. ihren Aufsatz: Philosophie des Protestantismus. Immanuel Kant. 34 B. BAUCH: Luther und Kant. 35 B. BAUCH legt Wert darauf, keine theologiehistorische Perspektive einzunehmen, sondern „nur aus dem bereits mehr oder minder Bekannten das philosophisch Bedeutsame herauszuarbeiten“, wie er sich in: Luther und Kant, 3, äußert. Auch Paulsen ist Philosoph und Pädagoge. 36 T. SIEGFRIED: Luther und Kant. 37 H. SCHÜLKE: Kants und Luhers Ethik. 38 F. LÖTZSCH: Vernunft und Religion im Denken Kants. Lutherisches Erbe bei Immanuel Kant.

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sei.39 Die Moralität sei thematisch, wenn es um das Gottesverhältnis des Menschen geht. Was unter dem Stichwort des Antiintellektualismus zu verstehen ist, wird klar, wenn man bedenkt, welcher Erkenntnisweg zu Gott durch Kant abgeschnitten wurde und welchen er offen gelassen hat. Jedenfalls ist der spekulative Weg des dogmatischen Rationalismus, wie Paulsen ihn in der katholischen Kirche verkörpert sieht, durch Kant unmöglich geworden. Paulsen findet Luthers Auffassung von Religion als Herzenssache, die nicht mit der ratio entschieden werden kann, bei Kant reformuliert, wenn dieser den praktischen Vernunftglauben als Sache des Subjekts bezeichnet, die nicht andemonstriert werden könne. Dass Religion bei Kant aus eben diesen zwei Gründen parallel zum Selbstverständnis des Protestantismus konzipiert ist, meint auch Kaftan. Die sittliche Art sei das differenzbildende Wesensmerkmal, das den Protestantismus von der griechischorthodoxen Kirche und dem Katholizismus abhebt. Daneben hält Kaftan für den Protestantismus und für Kant fest: „Nicht durch das Welterkennen führt der Weg zur Gotteserkenntnis, sondern durch die innere sittliche Erfahrung.“40 Das Bild ändert sich durch die größeren Studien zum Thema nicht wesentlich. Bauch äußert sich pointierter über die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Luther und Kant, indem er die These vertritt, Luther sei Vorläufer41 Kants gewesen. Er stellt auch Inkongruenzen zwischen den beiden fest42, allerdings liegt der Hauptton seiner Arbeit auf dem schon bekannten Gedanken, Luther wie Kant würden das Prinzip der Gesinnungsethik verfechten, das einerseits das Subjekt und seine Innerlichkeit fokussiert, nach dem andererseits die Sittlichkeit über die Gottesbeziehung entscheide. Dass diese doppelte Beobachtung wiederholt gemacht wird43, kann nicht erstaunen, weil damit tatsächlich eine Parallele zwischen beiden Denkern fixiert ist, die kaum geleugnet werden kann. Die Einsicht in die Reformulierung protestantischer Kernanliegen bei Kant ist zuvor schon durch Albrecht Ritschl und Wilhelm Herrmann theologiegeschichtlich wirksam geworden. Sowohl Ritschl als auch sein Schüler Herrmann knüpfen ihre Theologie an Kant an, wenn sie es auch nicht ungebrochen tun, weil sie je auf ihre Art meinen, die 39

Vgl. F. PAULSEN: Kant der Philosoph des Protestantismus, 8–11. J. KAFTAN: Kant, der Philosoph des Protestantismus, 32 (Hervorhebungen durch A.H.). 41 Bauch erhebt dabei nicht den Anspruch, direkten Einfluss des Einen auf den Anderen zeigen zu können, auch geht es ihm nicht um den Aufweis der Vermittlungswege, sondern eher um die Behauptung, Luther habe Ideen in die Geistesgeschichte eingetragen, die sodann von Kant aufgenommen, gebündelt und systematisiert worden seien. Vgl. B. BAUCH: Luther und Kant, 3–7. 42 Vor allem sieht er Luther dogmatisch am Schriftprinzip festhalten und meint, diese Haltung Luthers werde durch Kant überwunden, der die Autorität der Schrift durch das Prinzip Autonomie ersetze, das allerdings bei Luther durch die Entdeckung der individuellen Persönlichkeit auch schon angebahnt sei. Vgl. B. BAUCH: Luther und Kant, 143–149. 43 T. SIEGFRIED: Luther und Kant, arbeitet denselben Sachverhalt anhand des Gewissensbegriffs heraus. Vgl. auch H. SCHÜLKE: Kants und Luthers Ethik, 37–40. 40

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Religion von ihrem Status des vermeintlichen Anhängsels an die Ethik befreien zu müssen.44 Sie verlassen aber das von Kant abgesteckte Feld nicht grundsätzlich, denn beide sind der festen Überzeugung, Religion habe es wesentlich mit dem Moralvermögen des Menschen zu tun, weil der sittliche Zustand über das Gottesverhältnis entscheide. Sie knüpfen beide an Kant an, meinen aber das Verhältnis von Moral und Religion anders auffassen zu müssen. Beide sind über ihre Affinität zu Kant hinaus darin gewiss, ihr eigenes System auch im Geiste Luthers oder zumindest des Protestantismus zu entfalten. Letzteres gilt auch für die sogenannte Lutherrenaissance, ausgelöst durch Karl Holl und Emanuel Hirsch, die ebenfalls als durch kantisches Theoriegut beeinflusst gelten kann.45 Die durch Paulsen, Kaftan und Bauch beobachteten Übereinstimmungen zwischen Luther und Kant sind, so wird man sagen dürfen, zu Recht konstatiert worden. Umso erstaunlicher ist es, dass in den Arbeiten ein Themenfeld, dessen Zentralstellung in Luthers Theologie unfraglich ist, fast gänzlich ausgespart worden ist: nämlich die Rechtfertigungs- und Erlösungslehre.46 44 Ritschl versucht seinen Befreiungsschlag im Wesentlichen, indem er das Verhältnis von Ethik und Religion umgekehrt zu Kant auffasst. Ihm ist nicht Ethik der Grund für Religion, sondern Sittlichkeit hat ihren Grund in der Religion. Herrmann sucht bewusst Hilfe bei Schleiermacher, wenn er konstatiert, religiöses Bewusstsein sei nur als gegenüber der Ethik eigenständiges Erlebnis aufzufassen. Sowohl Ritschl als auch Herrmann teilen allerdings die Überzeugung, dass Religion ohne exklusive Beziehung auf das Thema Sittlichkeit überhaupt nicht zu haben ist. Vgl. dazu näher die Ausführungen unten zur Anknüpfung Ritschls und Herrmanns an Kant (Abschnitt 5.2.7). 45 Sowohl Holl als auch Hirsch sehen in Kant diejenige Figur, die nach den Wirrungen der Aufklärungszeit das Thema Sittlichkeit für die Religion zurückgewonnen hat, womit die Grundlage geschaffen worden sei für eine Wiedereinsetzung der Zentralthemen Luthers. Vgl. dazu K. HOLL: Die Rechtfertigungslehre im Lichte der Geschichte, 547: „Kant hat, ohne bewußt auf ihn Bezug zu nehmen, Luthers Auffassung des Sittlichen wiederum zu Ehren gebracht.“ Das aber bedeutet zugleich, dass Kant, wie E. HIRSCH sich ausdrückt, „die ethischen Voraussetzungen der evangelischen Rechtfertigungslehre zu neuem Leben erstehen“ lassen hat. (Zitat: E. HIRSCH: Luthers Rechtfertigungslehre bei Kant, 112, Hervorhebungen im Original). Holl sieht Kant im Kontext der Aufklärung überhaupt erst wieder einen scharfen Begriff von Moralität gewinnen, der sich von einem einfachen Eudämonismus absetzt, indem er die absolute Unterwerfung unter ein Gesetz fordert (vgl. K. HOLL: Ueber Begriff und Bedeutung, 497). Holl sieht sich allerdings aus theologischen Gründen genötigt, Kants Verhältnisbestimmung von Sittlichkeit und Religion umzukehren, denn er ist der Auffassung, dass das „Christentum einen höheren Begriff des Sittlichen“ kenne als den, der durch Kants praktische Philosophie vorgegeben werde. Das Sittliche gründe nach der christlichen Religion nicht in der Würde des Menschen, sondern in einer Gabe Gottes (Vgl. K. HOLL: Gogartens Lutherauffassung, 244–246). Vgl. zu Holls Verhältnis zu Kants Philosophie der Sittlichkeit auch D. KORSCH: Glaubensgewissheit und Selbstbewusstsein, 155–159. 46 Wo sie in den bisher genannten Arbeiten, die den Vergleich von Luther und Kant anstellen, zur Sprache kommt, wird Kants Rechtfertigungslehre als säkulare Umschreibung der lutherischen Lehre verstanden, die letztlich die Selbsterlösung voraussetze. Vgl. etwa H. SCHÜLKE: Kants und Luthers Ethik, 57–59 und F. LÖTZSCH: Vernunft und Religion, 153. Man kann sich allerdings fragen, ob es sich so verstanden, bei Kant überhaupt noch um eine Rechtfertigungslehre im Sinne Luthers handelt.

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Die vorliegende Studie dagegen räumt der Rechtfertigungsthematik hohe Bedeutung für die Religionsphilosophie Kants ein und meint, sie lasse sich als ein systematisches Ganzes erst verstehen, wenn man sich um das Verständnis der entsprechenden Ausführungen bemüht hat. Dass Kant eine Rechtfertigungslehre entwickelt hat, ist allerdings nicht total unbemerkt geblieben. Emanuel Hirsch und Hans Blumenberg haben Aufsätze zum Thema veröffentlicht.47 Hirschs Abhandlung, die schon 1922 erstmals erscheint, sieht Kant nicht nur wie Luther den Typus der Gesinnungsethik vertreten, sondern meint auch, Luthers Einschätzung der verderbten Natur des Menschen und das damit einhergehende Schuldgefühl ließen sich bei Kant wiederfinden. Die sittliche Selbstbesinnung treibe zum Rechtfertigungsglauben48, dessen lehrhafter Ausdruck bei Kant nach dem Urteil Hirschs allerdings nicht überzeugen kann. Kant scheitere an seinem Gottesbegriff, denn seine Moraltheorie lasse eigentlich keinen barmherzigen Gott zu, sondern nach der Logik des Nomismus nur einen streng gerechten. Kant baue seine Rechtfertigungslehre nun aber gegen diese von ihm selbst geschaffenen Voraussetzungen auf den Gnadengedanken auf und verstricke sich so in Unstimmigkeiten.49 Hirsch meint, derartige Probleme ließen sich nur vermeiden, wenn man wie Luther die Möglichkeit eines barmherzigen Gottes einräumt. Dieses letzte Urteil Hirschs wird durch die vorliegende Arbeit bestätigt werden, allerdings ist ihm dort nicht Recht zu geben, wo er behauptet, Kant habe sich dem Gedanken eines barmherzigen Gottes verschließen müssen. Blumenberg legt sich in seiner Einschätzung der Rechtfertigungsthematik bei Kant ganz im Sinne Hirschs fest. Der Gnadengedanke könne dem Gerechtigkeitsempfinden der praktischen Vernunft, wie sie von Kant verstanden wird, nur subordiniert werden. Die Möglichkeit zum gnädigen Schulderlass werde Gott nur im Nachgang zur sittlichen Selbstbesserung des Subjekts eingeräumt, weil ein anderer als ein gesetzesgerechter Gott sich von der Vernunft nicht denken lasse.50

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E. HIRSCH: Rechtfertigungslehre. H. BLUMENBERG: Kant und die Frage nach dem gnädigen

Gott.

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Vgl. E. HIRSCH: Rechtfertigungslehre, 109–115. Vgl. E. HIRSCH: Rechtfertigungslehre, 115–119. 50 Vgl. H. BLUMENBERG: Kant und die Frage, 566–568. Blumenberg meint, zwei Stufen von Gnade bei Kant ausmachen zu können. Seiner Ansicht nach ist auch die Hoffnung auf teleologische Vollendung der Welt, wie sie durch Kant gezeichnet wird, nur durch einen gnädigen Gott möglich, weil es nicht selbstverständlich sei, dass das erhoffte Telos der Welt von Gott auch durchgesetzt werde. Diese Art der Gnade sei aber etwas anderes als die Gnade Gottes im Rechtfertigungsakt. Den bei Kant darüber hinaus postulierten Gnadenakt zum Schulderlass, nennt er deshalb auch „Postulat zweiter Ordnung“ (565). Ob Blumenbergs Verwendung des Begriffs sachangemessen ist, soll hier nicht diskutiert werden. In der hier vorliegenden Arbeit aber wird der Gnadenbegriff enger gefasst und nur dort Verwendung finden, wo es um die Bearbeitung des Bösen und die damit einhergehende Schuld geht. 49

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Eine näher beim Gnadengedanken der Theologie stehende Vorstellung von Rechtfertigung ist Kant in jüngster Zeit von Helmut Hoping51, einem katholischen Theologen, attestiert worden. Hoping erkennt in seiner 1990 erschienenen Arbeit, dass Kant seine Rechtfertigungslehre nicht ausschließlich im Sinne der Gerechtigkeit der praktischen Vernunft konzipiert. Sondern daneben wisse er um die Denkmöglichkeit einer Rechtfertigung und Erlösung ab extra, zu der das Subjekt nichts zutun kann, weil es im Bösen unhintergehbar verstrickt ist.52 Hoping befasst sich mit dieser Erkenntnis allerdings eher beiläufig und stellt keine Parallelen zu Luther oder dem Protestantismus her. Das Konstruktionsprinzip seiner Arbeit ist zu einer intensiven Untersuchung der Bedeutung des Rechtfertigungsgedankens bei Kant allerdings auch nicht angelegt, weil es ihm vor allem um die Entfaltung und Erklärung des Erbsündebegriffs im Anschluss an Kant geht und weniger um die Bearbeitung und Überwindung des radikalen Bösen. Die vorliegende Arbeit will nun leisten, was bisher offen ist: nämlich zeigen, wie sich Kants Erlösungs- und Rechtfertigungslehre in seine Religionsphilosophie fügen. Dabei wird sich ergeben, dass die Überwindung der Sünde, wie sie sich nach Kant in der Welt vorfindet, nicht ohne Erlösungsund Rechtfertigungsglauben zu bewerkstelligen ist. Im Verlauf der Arbeit werden laufend Strukturparallelen zwischen der Religionsphilosophie Kants und der protestantischen Idee von der Rechtfertigung aufscheinen, aber auch einige Eigentümlichkeiten der katholischen Rechtfertigungsauffassung werden durch Kants Philosophie erfasst und erklärt. Besondere Aufmerksamkeit gilt allerdings den Parallelen zwischen Kant und Luther. Die Arbeit kann selbstverständlich nicht den Anspruch erheben, Luthers Rechtfertigungslehre geschweige denn Theologie vollständig darzustellen.53 Es liegt vielmehr eine Untersuchung zu Kants Religions51

H. HOPING: Freiheit im Widerspruch. Vgl. H. HOPING: Freiheit im Widerspruch, 225–228. 53 Eine erhellende Arbeit zu Luther, die den Reformator strukturell und inhaltlich eine ähnlich geartete Metaphysik denken sieht wie später Kant, bietet R. MALTER: Das reformatorische Denken und die Philosophie. Malter sieht in Luther und Kant Denker, die ihrer Metaphysik praktischen Charakter geben. Er ordnet Luther als transzendentalen Denker ein, weil dessen Theologie „den Bezug des Menschen zu Gott als im Wissen sich ereignend gefaßt“ hat (R. MALTER: Denken, 7, Hervorhebung im Original). Dieses Wissen sei allerdings von besonderer Art, da es nicht im aufklärerischen und kantischen Sinn Wissen eines endlichen Subjekts sei, sondern ein Wissen, in dem Gott so gewusst wird, dass „das Ich als Prinzip verschwunden und das Wissen nur noch Gott bzw. das verbum dei zum Inhalt hat.“ (R. MALTER: Denken, 157). Malter attestiert Luther, wie es vielfach geschieht, also einen Zug zum Spinozismus. Jedoch habe er Spinozas Denken nur vorgespurt, selbst aber nicht in letzter Konsequenz durchgeführt, da Luther letztlich doch eine Differenz zwischen Wissen und Gott stehen lässt. Malter muss Luther demnach unterstellen, was diese Arbeit auch unterstellt (R. MALTER: Denken, 237–240): Luther hatte ein Bewusstsein davon, dass der Inhalt des Wissens nicht mit dem Vollzug von Wissen überhaupt identisch ist. Wissen setzt also ein Subjekt des Wissens voraus, das etwas Anderes ist als der Inhalt des Wissens. Das gilt auch dann noch, wenn die totale Passivität des Ich im Rechtfertigungsakt gewusst wird. Die 52

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philosophie vor, und diese soll systematisch expliziert werden. Allerdings ist Kant der Überzeugung, die christliche Religion sei unter der Voraussetzung des radikalen Bösen die einzige mit der Fähigkeit, der reinen Idee von Religion zur Durchsetzung zu verhelfen. Dabei – so die These der vorliegenden Arbeit – spielt der reformatorisch kodierte Rechtfertigungsgedanke eine wesentliche Rolle, und aus diesem Grund wird er zur Sprache kommen.

1.3 Der Aufbau der Studie Im Folgenden soll der Aufbau der vorliegenden Arbeit skizziert werden. Das wird allerdings nicht geschehen, indem akribisch ein Arbeitsfeld der Studie nach dem anderen aufgezählt wird. Dieses Vorgehen wäre für den Leser einer Einleitung schon deshalb ermüdend, weil im Arbeitsgang selbst viele Spezialprobleme der kantschen Philosophie bedacht sein wollen, die in einer ersten Vorstellung der Untersuchung nicht auftauchen müssen. Dem Leser soll vielmehr ein Überblick über das Vorgehen verschafft werden, durch den sich auch erste Einsicht in die Arbeitsergebnisse gewinnen lässt. Der Erlösungs- und Rechtfertigungsgedanke steht als Kernstück zwischen der Sünden- und der Vollendungslehre. Ohne ihn wäre es unmöglich, das Theorem der Radikalität der Sünde mit dem der Bestimmung des Menschen sinnvoll zu verknüpfen. Bevor die Erlösungs- und Rechtfertigungslehre als solche zur Sprache kommen können, muss mithin Kants Reformulierung der Sündenlehre vorgestellt werden. Dies geschieht in einem zweiten Kapitel nach der Einleitung. Die von Kant behauptete Radikalität und Allgemeinheit des Bösen machen seine Überlegungen zur Erlösung und Rechtfertigung überhaupt erst nötig. Der Topos des Bösen oder der Sünde wiederum muss in ein Verhältnis zum Begriff der Freiheit gesetzt werden, denn dieser ist eine der tragenden Säulen von Kants praktischer Philosophie. Kant wird zu Recht als Theoretiker der Freiheit wahrgenommen. Weite Teile seiner praktischen Philosophie und auch schon der ersten Kritik drehen sich um das Vorhaben, Handlungsfreiheit als denkmöglich und real nachzuweisen. Der Gedanke von Bonität haftet dem der Freiheit an. Kant bestimmt Freiheit entweder als sittlich guten Vollzug oder zumindest als Möglichkeit zu einem solchen. Deshalb scheint es auf den ersten Blick befremdlich, wenn die Religionsschrift mit der schon erwähnten These vom radikalen Bösen vorliegende Arbeit meint, in dieser Sache bestehe eine weitere Parallele von Kant zu Luther. R. Malter schwankt in seinem Urteil über Luther in dieser Hinsicht. Einerseits unterstellt er Luthers Denken, es lasse das Bewusstsein autonomer Subjekthaftigkeit nicht zu, andererseits verneine es dieses auch nicht vollständig.

Der Aufbau der Studie

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aufwartet, impliziert dies doch die nicht zu überwindende Verstrickung in das Böse. Wie sich die Theorie der Freiheit zum radikalen Bösen verhält, muss folglich geklärt werden. Die Religionsschrift scheint voll von Widersprüchlichkeiten zu dieser Frage zu sein. Einerseits bestimmt sie den Menschen als ein zum Guten fähiges Wesen. Andererseits spricht sie demselben Menschen jede Möglichkeit zu guten Handlungen ab, meint sogar, er sei von Natur aus böse. Die Arbeit wird sich darum bemühen, eine Lesart von Kants Schriften herauszupräparieren, die beiden Behauptungen nachkommen kann. Dabei wird eine für die Anlage der Gesamtarbeit entscheidende Erkenntnis zu Tage gefördert werden: Kant sieht den Menschen durchgängig in einer antinomischen Spannung stehen, aus der er sich selbst nicht zu befreien vermag. Denn einerseits kann sein gesamtes Handeln nicht anders eingeschätzt werden denn als böse. Kant gibt diesem Sachverhalt theoretisch Ausdruck, indem er den Menschen sich selbst eine verderbte Urmaxime zuschreiben sieht, die wiederum die Radikalität des Bösen indiziert. Das Böse ist nach dieser Selbstdeutung nicht zu hintergehen, denn jeder Handlungsvollzug gründet in zuvor schon verderbten Prinzipien, die der Handlung ihre böse Qualität vorgeben. Es setzt sich autopoietisch fort, ohne dass absehbar wäre, wie seine Selbstreproduktion zu durchbrechen wäre. Andererseits bedeutet diese Selbstbeurteilung nun nicht die Sanktionierung der Verhältnisse. Vielmehr erfährt jedes endlich-vernünftige Wesen an sich den Anspruch des Sittengesetzes, durch den dem Subjekt wesentlich Gutartigkeit abverlangt wird. Die Forderung zu Bonität wird nicht als eine solche bewusst, von der sich das Subjekt dispensieren könnte, weil es meint, es habe nicht die Mittel, um das Geforderte zu realisieren. Sondern eine Eigentümlichkeit des sittengesetzlichen Anspruchs besteht darin, das Bewusstsein vom Vermögen des Geforderten mit sich zu bringen. Kants Du kannst, denn Du sollst gibt diesem Sachverhalt Ausdruck. Der Mensch findet sich nach seiner Selbstdeutung in einer doppelten Zuständlichkeit vor, die sich antinomisch ausnimmt: Er soll einerseits gut sein und muss es deshalb auch können können. Andererseits kann er es nicht können, weil er faktisch das nicht ist, was er sein soll. Vielmehr ist er unhintergehbar böse. Diese Spannung, in der sich alle Menschen als handlungsfähige Wesen vorfinden, muss beseitigt werden, weil das Sittengesetz auf Realisierung von Moralität drängt. Das Subjekt kann sich zu dieser Forderung nicht diskursiv verhalten, sondern weiß sich unbedingt genötigt. Diese Unbedingtheit des sittengesetzlichen Anspruchs kommt zum Ausdruck, wenn Kant derjenigen Triebfeder, die das Moralgesetz vor dem Willen repräsentiert, den Namen Achtung vor dem Sittengesetz gibt.

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Die praktische Vernunft steht nach alledem in der paradoxen Situation, sich selbst in den ihr angemessenen Vollzug einsetzen zu müssen, aber nach der Selbstdeutung des Subjekts nicht die Möglichkeit dazu zu haben. Sie ist nach dessen Selbstverständnis deshalb darauf angewiesen, von außerhalb ihrer selbst instand gesetzt zu werden. Das Subjekt muss folglich einen Gott postulieren, dessen Handeln der praktischen Vernunft die Realisierung ihrer Bestimmung ermöglicht. Dieses Postulat göttlichen Gnadenhandelns, wie Kant es nennt, macht den Dreh- und Angelpunkt der vorliegenden Studie aus. Denn von ihm her, und nur von ihm her, kann die Systematizität von Kants Religionsphilosophie erschlossen werden. Es ist Voraussetzung für die Überwindung der Sünde, ohne die die Realisierung des höchsten Guts unmöglich ist. Daneben soll das zweite Kapitel diejenigen Schaltstellen der praktischen Philosophie Kants aufsuchen, die eine Deutung des Sittengesetzes aus religiöser Perspektive ermöglichen. Das moralische Gesetz als Gesetz Gottes aufzufassen, ist Voraussetzung dafür, die moralische Verfehlung als Sünde gegen Gott zu begreifen. Es liegt nahe, das Sittengesetz als gottgegeben anzusehen, weil es zwar mit der praktischen Vernunft auftritt, aber aus dieser nicht genetisiert werden kann. Ein Reflexionsprozess, der der Frage nachgeht, welchen letzten Grund es für das faktisch auftretende Sittengesetz geben mag, wird Gott als Gesetzgeber ausmachen. An dieser Stelle ist erneut dem Verdacht vorzubeugen, die Arbeit würde auf diese Weise Kants Verständnis von Autonomie ad absurdum führen. Kants Bestreben, Freiheit zu sichern, ist zugleich der Versuch gewesen, den Menschen von der Gängelei durch eine Kirche zu befreien, die meinte, Gottes Gebot sei dem Menschen äußerlich, und dieser habe sich jenem zu unterstellen, ob er das Gebotene von sich aus als Gebotenes einsähe oder nicht. Auf ein derartig heteronomes Verständnis des Sittengesetzes als göttliches Gebot wird hier in keiner Weise abgezielt. Die Überlegung nimmt vielmehr ihren Ausgangspunkt beim Bewusstsein des kategorischen Imperativs und der mit ihm gegebenen Freiheit. Sie bleibt nun aber nicht bei der damit gewonnenen Autonomie stehen, sondern fragt nach der Abkunft des Sittengesetzes – eine Überlegung, die wohl erlaubt ist. Sie wird gemeinhin mit dem Hinweis erledigt, das Sittengesetz sei mit der praktischen Vernunft gegeben. Wer genauer hinsieht, erkennt allerdings, dass es nach Kant nicht aus der Vernunft selbst abgeleitet werden kann, sondern als Faktum auftritt, auch wenn die praktische Vernunft, die mit ihm zugleich ins Leben gerufen wird, es als das ihre erkennt. Es ist hier der Untersuchung nicht im Einzelnen vorzugreifen. Jedenfalls besteht die Möglichkeit, das Sittengesetz als Gottes Gebot aufzufassen, ohne den Menschen deshalb heteronom bestimmt zu sehen.

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Der Notwendigkeit des Erlösungsgeschehens, in dem das Subjekt eine Wende vom Bösen zum Guten erfährt, wird ein eigenes, drittes Kapitel gewidmet. Sie ergibt sich aus der unbedingten Forderung des Sittengesetzes oder des göttlichen Willens, von der sich zu entbinden unmöglich ist. Wer Kant allein als Freiheitstheoretiker liest, der dem Subjekt das Vermögen zur Selbstbestimmung gegeben hat, wird meinen, er habe letztlich eine Theorie der Erlösung gegeben, die sich pelagianisch ausnimmt. Das Vermögen zur Selbstbestimmung wäre danach das Vermögen, sich selbst zum Guten zu wenden. Kants Texte bieten in einigen Stücken Anlass zu derartiger Deutung. Wer sie präferiert, stellt ihn in eine Reihe mit der zu seiner Zeit vorherrschenden Neologie, muss allerdings mindestens ebenso viele Stellen ausblenden, in denen er dem Menschen dieses Vermögen abspricht. Denn wenn mit dem Theorem der Radikalität der Sünde ernst gemacht wird, kann das nur die faktische Unmöglichkeit zur Selbsterlösung bedeuten. Der Mensch findet sich in Raum und Zeit immer böse vor, und dieses Faktum lässt ihn auf eine totale Verderbnis seiner moralischen Anlage schließen. Erlösung von dem Bösen ist nach Kant folglich auf zwei Wegen vorstellbar. Zum einen wäre es möglich, sie sich selbst abzuverlangen. Vom damit formulierten Anspruch an sich selbst kann sich niemand befreien, wird doch jeder Mensch durch sein intelligibles Freiheitsvermögen zur Besserung aufgefordert. Allerdings spricht nach Kant die böse Verfassung des Selbst und der Menschheit gegen die Erwartung, dem Geforderten tatsächlich nachkommen zu können. Das Subjekt ist deshalb genötigt, die Vorstellung von Selbsterlösung zu hinterfragen. Ist sie angesichts der faktischen Bösartigkeit oder Sünde der Welt tatsächlich plausibel zu machen? Die Frage bringt das Subjekt dazu, einen Denkweg einzuschlagen, durch den die Möglichkeit einer Erlösung unter der Bedingung der Erbsünde eruiert wird. Das Ergebnis der Überlegungen lautet, dass unter den genannten Umständen das Subjekt allein von anderwärts her erlöst werden kann. Der Reflexionsweg, der die Bedingungen der Möglichkeit von Erlösung aufsucht, nimmt im Einzelnen folgende Stationen: Zunächst wird der freie Wille als valabler Grund für die Erlösung bewusst. Will man sich allerdings vergegenwärtigen, welche Ursachen dazu führen sollen, dass der Wille sich plötzlich und gegen alle Erwartung – denn der natürliche Mensch entschließt sich offensichtlich nicht zum Guten, sondern iteriert radikal das Böse – zum Guten wendet, müsste gezeigt werden können, welche Kausalitäten ihn zu diesem überraschenden Entschluss bringen würden. Dabei handelt es sich um Vorgänge, die in der noumenalen Welt ablaufen, denn der freie Wille, dem der Entschluss zur Besserung abverlangt wird, ist Teil dieser Welt. Die theoretische Vernunft muss ihre grundsätzliche Ohnmacht zur Erklärung der Erlösung eingestehen, denn Vorgänge der noumenalen Welt sind nicht anzuschauen, können folglich vom Erkenntnisvermögen des Menschen auch

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nicht erschlossen werden. Es bleibt einzig, den letzten Grund für die Erlösung auf reflektierendem Weg im Transzendenten aufzusuchen. Auf diese Weise erschließt sich das Subjekt Gott als seinen potentiellen Erlöser, der in der übersinnlichen Welt auf seinen intelligiblen Willen einwirken muss, um ihn zum Guten zu bestimmen. Seine Existenz kann nicht bewiesen, sondern allein postulierend gedacht werden. Dass es nicht nur möglich ist, sondern unter Voraussetzung der faktisch radikalen Verderbtheit der Menschheit unumgänglich, sich Erlösung auf diese Weise zu denken, ist eines der Ergebnisse des dritten Kapitels. Eine der Konsequenzen, die daraus zu ziehen ist, lautet: Wenn die eigene moralische Qualität auf Gott als letzte Ursache zurückgeführt wird, muss das streng genommen auch für den bösen Willen gelten. Gott wirkt demnach nicht nur die Besserung des Subjekts, sondern auch der böse Wille hat seinen letzten Grund in Gottes Handeln, das der Mensch allerdings nicht direkt anschauen kann, sondern sich denkend in Reflexionsakten erschließt. Wegen der Unanschaulichkeit der unterstellten Ereignisse lässt sich kein gesichertes Wissen über sie erreichen. Wer die vorgestellte Variante der Erlösung von dem Bösen für wahr hält, tut das nicht im Modus des Wissens, weil dazu Anschauung der Ereignisse von Nöten wäre. Vielmehr wird das Erlösungsgeschehen durch einen eigenen Modus von Wirklichkeitswahrnehmung, den Kant im Sinne der Theologie Glauben nennt, für wahr gehalten. Glauben ist eine Art und Weise von Wirklichkeitsbewusstsein, die anderen nicht andemonstriert werden kann, weil das Geglaubte streng genommen nur für das Subjekt wahr ist. Es ist, wie die lutherische Theologie sagen würde, Herzenssache, die nicht mehr innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft liegt. Kant nennt seine Ausführungen dazu deshalb Parerga zur Religionsphilosophie innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft.54 Warum aber fühlt er sich genötigt, überhaupt über sie zu sprechen? Offenbar handelt es sich bei Glaubenssachen nach Auffassung Kants nicht um Hirngespinste, die der Vernunft völlig abwegig erscheinen müssen, sondern um Ideen, die reflektierend aufgesucht werden, um sich letzte Gründe für die Realisierung von Sittlichkeit zu erschließen. Die Idee von Erlösung als Akt Gottes ist nicht bloße Phantasterei wider die Vernunft, sondern liegt in ihrer Fluchtlinie und ergänzt sie. Nach alledem kann kein Zweifel an der Dringlichkeit einer Explikation des Glaubensbegriffs bestehen, zumal er für den Fortgang der Arbeit eine gewichtige Rolle spielen wird. Glaube, so wird es der entsprechende Abschnitt (3.4) der Arbeit u.a. herausarbeiten, kann nicht willentlich erzeugt werden, sondern stellt sich kontingent ein.

54

Vgl. dazu I. Kant: Rel., 52.

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Schließlich muss erklärt werden, was Kant meint, wenn er davon spricht, der Mensch müsse sich der Erlösung würdig machen, bevor sie ihm zuteil werden könne. Erneut bieten sich zwei Lesarten an. Deren erste setzt wiederum das Vermögen zur Selbstbesserung voraus, das wegen des Freiheitsbewusstseins unterstellt werden muss. Sie verlangt dem Menschen eine Anfangsleistung zur Besserung ab, die sodann von Gott unterstützt zu werden verdient. Die Arbeit wird daneben eine andere mögliche Deutung vorschlagen. Unter den Bedingungen der Erbsünde ist nicht gut einsichtig zu machen, wie die Leistung des natürlichen Menschen in mehr bestehen sollte, als sich seiner Erlösungsbedürftigkeit bewusst zu werden. Sich der Erlösung würdig zu machen, würde danach bedeuten, sich seiner gottebenbildlichen Bestimmung bewusst zu werden. Denn nur gemessen an der eigenen Bestimmung geht einem die Defizienz des eigenen moralischen Daseins auf. Dazu ist es erforderlich, dem Menschen die Erhabenheit seiner Bestimmung zu verdeutlichen, was wiederum nur möglich ist, indem ihm das (göttliche) Sittengesetz, theologisch gesprochen, gepredigt wird. Um diese Lesart verständlich zu machen, muss der Begriff des Erhabenen, wie er in Kants dritter Kritik entfaltet wird, vorgestellt werden, um ihn sodann mit der Bestimmung des Menschen, wie sie ihm am Sittengesetz aufgeht, zu verknüpfen. Nur wenn der Mensch sich seiner gottebenbildlichen Bestimmung als eines über alle sinnlichen Antriebe erhabenen Zustands bewusst wird, verspürt er an dieser seiner Bestimmung eine eigentümliche Lust, die ihn die eigene Sünde überwinden lassen will. Dies ist – so die vorgetragene Deutung – gleichbedeutend mit dem Verlangen nach Erlösung, wie es sich nach reformatorischer Lesart durch die Predigt des Gesetzes einstellt. Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit Rechtfertigungstheorie. Der Begriff der Rechtfertigung oder Versöhnung bezeichnet nach Kant etwas anderes als der Begriff der Erlösung. Auf die Differenz wird schon im dritten Kapitel eingegangen werden. Ist unter Erlösung der Wandel der moralischen Qualität vom Bösen zum Guten zu verstehen, so wird in der Rechtfertigungs- oder Versöhnungslehre die Frage des Umgangs mit der Schuld, die aus der Sünde resultiert, thematisch. Im Verlauf des vierten Kapitels wird sich zeigen, dass die Schuldthematik neben der Erlösungsfrage eigener Bearbeitung bedarf, weil nur ein sittlich guter und zudem schuldfreier Mensch sich Hoffnung auf Vollendung machen kann. Denn – und das ist entscheidend – zu seiner totalen Vollendung bedarf der Mensch nicht nur der Realisierung seiner moralischen Bestimmung, sondern er muss darüber hinaus auch ungeteilt glückselig sein. Schuld aber, so stellt Kant es sich vor, ist ein Grund dafür, „sich einer unendlichen Strafe und Verstoßung aus dem Reiche Gottes“55 ausgesetzt zu sehen. Das Subjekt 55

I. KANT: Rel., 72.

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Einleitung

kann sich bei bestehender moralischer Schuld nicht erhoffen, im Eschaton glückselig zu werden, weil Gott als moralisch gerechter Richter es wegen seiner Schuld nicht glücklich machen kann. Die Vollendung des Subjekts setzt folglich voraus, dass Gott ihm seine Schuld vergibt. Wie aber verhält sich die durch Schuldvergebung ermöglichte Versöhnung mit Gott zur ebenfalls von Gott erwarteten Erlösung? Die Frage betrifft das Ordnungsverhältnis zwischen Erlösung und Versöhnung. Wenn das eine das andere in sich tragen sollte, muss geklärt werden, ob sich Versöhnung mit Gott aus der Erlösung von dem Bösen ergibt oder ob es sich umgekehrt verhält. Man wird nach allem bisher Ausgeführten nicht darüber staunen, dass es zur Beantwortung der Frage erneut zwei Theorietypen gibt, die ein je unterschiedliches Vermögen des Menschen zur Selbstbesserung voraussetzen. Der eine Theorietypus, so die hier vorgestellte These, ist in der lutherischen Rechtfertigungslehre zum Ausdruck gebracht, der andere in der katholischen Vorstellung der Rechtfertigung, wie sie das Konzil von Trient festgehalten hat. Das vierte Kapitel wird folglich einerseits den Versuch unternehmen, Kants Rechtfertigungs- und Erlösungstheorie als Reformulierung der lutherischen Rechtfertigungslehre zu verstehen. Das setzt nicht unbedingt Kants direkte Kenntnis von Luthers Rechtfertigungslehre voraus.56 Vielmehr soll die reformatorische Rechtfertigungslehre als angemessene Antwort auf die moralische Problemlage des sittlich sich notorisch verfehlenden Sünders deutlich werden. Andererseits ist auch die katholische Variante der Rechtfertigungslehre nach kantscher Kriteriologie keine abwegige Theorie. Ganz im Gegenteil: Sie kann vor der Vernunft Anerkennung erlangen. Das die vorliegende Arbeit leitende Interesse gilt hinsichtlich der Rechtfertigungslehre in besonderer Weise den Parallelen zwischen Luther und Kant. Mit diesem Theorietypus des Rechtfertigungsverständnisses soll der Anfang gemacht werden. Das Kapitel beginnt damit, Lesarten von Luthers Rechtfertigungslehre vorzustellen, um den Nachweis zu führen, dass sie auf einen effektiven Wandel des Gerechtfertigten zielt. Dieses durch die Rechtfertigung ermöglichte Neuwerden des Subjekts ist bei Luther Bedingung der Möglichkeit von Heiligung und bei Kant als Erlösung von dem Bösen reformuliert. Erlösung ist auch nach Kant Voraussetzung eines Vollendungsprozesses, der das Subjekt in seinem Telos moralische Bonität erreichen lässt. 56 Auf welche theologische und geistesgeschichtliche Tradition Kants Religionsphilosophie zurückgreift ist immer noch am besten und ausführlichsten nachzulesen bei J. BOHATEC: Die Religionsphilosophie Kants. Bohatecs umfangreiche Studie räumt mit einigen Vorurteilen auf, auch mit dem, Kants Religionsphilosophie sei eindeutig pietistisch geprägt. Allerdings findet sich bei Bohatec kein Hinweis darauf, dass Kant Luther direkt gelesen habe. A. WINTER hat die „Theologische[n] Hintergründe der Philosophie Kants“ in seinem gleichnamigen Aufsatz neu bedacht.

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Bei Luther setzt die Wendung des Menschen hin zum Guten (Erlösung) wiederum die Versöhnung ab extra unhintergehbar voraus. Bei Berücksichtigung der Radikalität des Bösen wird diese Konzeption der logischen Vorordnung der Versöhnung vor die Erlösung auch von Kant verfolgt. Rechtfertigung oder Versöhnung des Subjekts von außerhalb seiner selbst muss der Erlösung oder sittlichen Neuwerdung nach Kant genau dann logisch vorgeordnet werden, wenn es ihm an der Fähigkeit zur Selbsterlösung mangelt. Nimmt man an, das Subjekt sei durch einen Genugtuungsakt, wie ihn der Kreuzestod des unschuldigen Christus darstellt, versöhnt worden, so lässt sich seine Erlösung als Resultat der Versöhnung gut erklären. Der Versöhnte ist sich, wenn er sich die Genugtuung Christi vermittelst eines entsprechenden Urteils Gottes glaubend zurechnen kann, seiner Rechtfertigung bewusst. Es gibt nach diesem Bewusstsein keinen Grund mehr für Gott, dem Gerechtfertigten Glückseligkeit zu verweigern. Der solcherart Versöhnte muss sich mithin nicht mehr um sein (eschatologisches) Glück sorgen, ist sich dessen vielmehr gewiss, weil Gott es ihm als Versöhnten bereitstellen wird. Diese Erkenntnis lässt ihn ein neues Handlungsprinzip gewinnen. Er muss nicht mehr unter allen Umständen das eigene Wohl sichern, ist vielmehr dazu befähigt, den natürlichen Antrieb zur Selbstliebe hinter die Achtung vor dem Sittengesetz zurückzustellen. Vermittelt durch die Versöhnung findet ein Wandel zum Guten statt, der mit dem Begriff der Erlösung bezeichnet werden kann. Der Grund der Erlösung liegt außerhalb des Subjekts: Es ist die versöhnende Genugtuung Christi am Kreuz. Dieses Verständnis trägt allerdings eine besondere Schwierigkeit in sich. Es ist nicht kompatibel mit der praktischen Vernunft, die dem Subjekt qua Sittengesetz die Selbsterlösung abfordert und der die Vorstellung der Übertragbarkeit von moralischer Schuld auf einen anderen (Christus) nicht einleuchten will. Die lutherische Rechtfertigungslehre kann mithin nur glaubend für wahr gehalten werden – und zwar muss dabei die Versöhnung ab extra vom Subjekt gegen die Logik der praktischen Vernunft existenzbestimmend angeeignet werden. Zweierlei ist dazu anzumerken. Erstens ist Glauben als der Modus, in dem die Versöhnung für wahr gehalten wird, nicht im Sinne von historischem Glauben zu verstehen. Denn der Glaubende muss seine Versöhnung ganz gegen die Art der fides historica derart existentiell apprehendieren, dass ihm daraus ein neues Handlungsprinzip zu erwachsen vermag. Weil der Glaubende zweitens seinen Glaubensinhalt gegen die Vernunft für wahr halten muss, sieht er sich beständig der Anfechtung ausgesetzt. Die lutherisch-protestantische Form des Rechtfertigungsglaubens ist allerdings unter der Bedingung der Erbsünde die einzige Möglichkeit, sich die Erlösung des Subjekts zu plausibilisieren. Die Frage, auf welche Art und Weise es denn möglich sein soll, dass ein total Verderbter sich bessere, kann nur mit einer Rechtfertigung durch stellvertretende Genugtuung und der aus ihr folgenden Erlösung beantwortet werden.

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Die lutherisch verstandene Rechtfertigung steht deshalb, obzwar sie dem Subjekt einen Glauben gegen die praktische Vernunft abverlangt, in ihrem Dienste. Sie scheint bei Lichte betrachtet die einzige Möglichkeit zu sein, die von der praktischen Vernunft geforderte moralische Bonität des Subjekts zu realisieren. Rechtfertigungsglaube ist mithin derjenige religiöse Vollzug, der Menschen dazu befähigt, Gottes Willen nachzukommen. Nun muss aber auch ein Wort zur katholischen Variante der Rechtfertigungslehre, wie sie durch das Tridentinum formuliert worden ist, gesagt werden. Sie spricht dem Subjekt erstens Kräfte der Freiheit zu – wenn diese auch derart geschwächt sind, dass das Subjekt sich von sich aus nicht zu erlösen vermag –, die es zu seiner Erlösung aufbieten kann. Zweitens sieht sie das Subjekt im Heiligungsprozess Verdienste anhäufen, die schließlich zu seiner Versöhnung dienen. Das aber ist der Weg, die (Selbst-) Erlösung der Versöhnung vorzuordnen, und damit ist die katholische Rechtfertigung exakt im Sinne der praktischen Vernunft konzipiert. Dies kann einerseits als ihr Vorteil gegenüber der lutherischen Variante angesehen werden. Denn der Glaube an eine Versöhnung nach der Erlösung muss nicht gegen die praktische Vernunft glauben. Das ist im Übrigen auch der Grund dafür, dass Glaube nach katholischer Auffassung nicht subjektiver Herzensglaube, sondern Glaube an einen (praktisch-vernünftigen) Sachverhalt ist, der auch unabhängig vom Glaubensvollzug gültig ist. Andererseits muss die katholische Rechtfertigungslehre von der Radikalität der Sünde absehen, wenn es dem Subjekt in einem ersten Schritt (Selbst-) Erlösung abverlangt. Sie sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, der als Realität erschlossenen Radikalität des Bösen nicht Rechnung tragen zu können. Kants Religionstheorie lässt darüber hinaus die differenzierte Ausformulierung einer Christologie nicht nur zu, sondern macht sie dann unabdingbar, wenn ein Religionstypus die Versöhnung und Erlösung ab extra präferiert, wie es bei der oben vorgestellten lutherischen Variante der Rechtfertigungslehre der Fall ist. Denn ohne die Vorstellung einer sündlosen Person, die die Schuld des Glaubenden zu tragen vermag, wäre dessen Versöhnung unmöglich, was wiederum auch seine Erlösung verunmöglichte. Soll das lutherische Rechtfertigungsverständnis nicht schon an seinem Ausgangspunkt ins Wanken geraten, muss gezeigt werden können, dass es überhaupt möglich ist, sich eine derart schuldlose Person – also Christus – vernünftig vorzustellen. Dies setzt die positive Darstellbarkeit der reinen Idee von Sittlichkeit voraus. Christus müsste, um es mit anderen Worten zu sagen, die Erscheinung einer rein noumenalen Idee sein, denn nur in diesem Fall käme er in der Totalität seiner Handlungen in der Welt dem göttlichen Willen nach. Das empirische Handeln Christi gibt, wie ein eigener Abschnitt zeigen wird, die symbolische Schematisierung des Sittengesetzes ab. Sein Handeln kann als positive Darstellung des göttlichen Willens gelten.

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Die Vorstellung der Person Christi kann darüber hinaus nicht in einer bloßen Vorstellung der Phantasie aufgehen, wenn Christus zugleich der Offenbarer einer Rechtfertigungslehre des reformatorischen Typus ist. Denn in diesem Fall kann die Rechtfertigungsvorstellung nicht aus der Vernunft deduziert werden, sondern tritt faktisch kontingent in der Geschichte auf, bedarf mithin eines historisch positiven Initialereignisses. Dieses Ereignis ist das geschichtliche Auftreten der Person Jesus Christus. Darüber hinaus will das vierte Kapitel zeigen, auf welche Weise die paulinisch-lutherische Rede vom Christus in mir sich bei Kant wiederfindet. Nach Kant bedeutet dies, dass der Erlöste dem Handlungsprinzip Christi folgt, das sich durch Moralität auszeichnet. Der Erlöste trägt einen sittlich guten Kern in sich, von dem man deshalb sagen kann, es handle sich um Christus im Glaubenden. Die Gegenwart Christi im Glaubenden ist folglich nicht ontologischer Art, sondern es handelt sich um die Gegenwart einer Handlungsqualität, die religiös gesprochen dem göttlichen Willen gleich ist. Schließlich soll ein fünftes Kapitel mit Kant eine systematische Eschatologie entwerfen. Es dürfte klar sein, dass die Vollendung des Menschen angesichts der Sünde nur vermittelst der Rechtfertigung und Erlösung möglich ist. Das Kapitel teilt sich in zwei größere Abschnitte, deren erster die Vollendung des Individuums betrifft, während sich der zweite mit der Vollendung der Gattung befasst. Eine mit Kant konzipierte Eschatologie erliegt nicht der Tendenz, entweder das vollendete Individuum oder die vollendete Gattung einseitig als höchstes zu denkendes Ziel aufzufassen.57 Theorien, die allein das vollendete Individuum in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellen, zeichnen sich durch die eigentümliche Schwäche aus, das Ziel des Daseins in das Jenseits, bei Kant die noumenale Welt, zu verlegen, während die diesseitige Welt allein den Status eines vom Individuum zu überwindenden Durchgangsmoments erhält. Eine andere Möglichkeit eschatologischen Denkens konzentriert sich umgekehrt auf die Vollendung der Menschheit als Gattung, die der Durchsetzung des Reiches Gottes auf Erden gleichkäme. Dabei wird der Wert des Individuums darauf reduziert, lediglich Teil eines Entwicklungsprozesses zu sein, an dessen Vollendung es aber nicht mehr partizipieren wird. Es gilt in diesem Fall als Mittel zu höherem Zweck. Kants Theorie erlaubt den Gedanken doppelter Vollendung, durch den sowohl dem Individuum im Jenseits als auch der Welt im Diesseits ein letztes nicht zu überbietendes Ziel formuliert wird.58 Im Einzelnen soll zunächst der 57

Dass Kant einen doppelten Begriff des höchsten Guts formuliert hat, ist schon sehr früh von J. WEISS: Die Idee des Reiches Gottes, 82–94, gesehen worden. 58 Dies wird möglich durch den dualistischen Aufriss von Kants Philosophie. Die endliche Welt ist und bleibt auch bei ihrer Vollendung etwas anderes als die intelligible Welt des Dinges an

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Individualeschatologie nachgedacht werden. Dabei ist zu bedenken, dass das höchste vollendete Gut für den Menschen eine Kombination aus moralischer Bonität und vollendeter Glückseligkeit ist. Die Eschatologie muss beides berücksichtigen, wobei Glückseligkeit der Moralität axiologisch immer nachzuordnen ist. Der zum Guten Vollendete ist nicht nur sittlich vollkommen, sondern auch uneingeschränkt glückselig. Er steht in einer intelligiblen jenseitigen Welt, die sich der Kombination von beidem nicht versperrt. Populär ist Kants Postulat von der Unsterblichkeit der Seele. Nur vermittelst eines unendlichen Progresses kann es dem Subjekt gelingen, die vom Sittengesetz geforderte Gutartigkeit zu realisieren. Wie dieser Prozess der Besserung im Einzelnen zu denken ist, wie überhaupt ein unendlicher Fortschritt mit einem Ziel denkmöglich sein soll und wie der Einzelne in einer jenseitigen Welt er selbst zu sein vermag, wird zu untersuchen sein. Kants Konzeption lässt neben der Vollendung zum Guten und zur Glückseligkeit auch eine Vollendung zum Bösen denken. In diesem Fall hat der unendliche Progress im Jenseits nicht das Ziel, Bonität zu erreichen, sondern das Individuum wird sich zum total Bösen entwickeln, dem in diesem Zustand auch keine Glückseligkeit, sondern durchgehende Unglückseligkeit zukommen wird. Die theologische Tradition hat dieser doppelten Möglichkeit der Vollendung mit ihren Theoremen der Erwählung und Verwerfung Ausdruck gegeben. Der zweite Teil der Eschatologie, der sich mit der Vollendung der Gattung beschäftigt, kann nur im Rahmen einer Geschichtsphilosophie verständlich werden. Er hat die Entwicklung des Menschengeschlechts durch die Zeit zum Thema, und es ist angemessen auch hier bei Überlegungen zur Sünde einzusetzen. Kant hat das Böse nicht allein als ein Phänomen aufgefasst, das den Einzelnen betrifft, sondern gemeint, es werde durch die Tatsache, dass der Mensch Beziehungswesen ist, begünstigt und fortgepflanzt. Die natürliche Form der Vergemeinschaftung des Menschen ist Katalysator des Bösen. Dieser Tatsache muss Rechnung getragen werden, indem eigens zur Überwindung des Bösen formierte Gemeinschaften in der Menschheitsgeschichte auftreten. An dieser Stelle hat Kants Ekklesiologie ihren Ort, denn Gemeinschaften, die ihr Ziel in der Beförderung von Sittlichkeit haben, nennt Kant Kirchen. Fassen sie das Sittengesetz als göttliches Gesetz auf, ist ihr Ziel die Durchsetzung des göttlichen Willens, dessen Intention das Reich Gottes auf Erden ist. Darunter ist nach Kant die weltumfassende Gemeinschaft aller Menschen zu verstehen, die sich ausnahmslos sittlich verhält. Es handelt sich um das Ideal einer Gemeinschaft, in der jeder den Zweck jedes anderen befördert und so der Menschheitsformel des Sittengesetzes nachkommt. sich. Erstere zu vollenden bedeutet das Reich Gottes auf Erden herzustellen, während in der noumenalen Welt die Vollendung des Einzelnen denkbar ist.

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Da zur Formierung von Gemeinwesen, die das Reich Gottes auf Erden anstreben, ihre positive Institutionalisierung notwendig ist, tragen sie eine natürliche Gefahr in sich. Sollte nämlich das eigentliche Ziel aus den Augen verloren und stattdessen der eigenen institutionalisierten Positivität gehuldigt werden, verkehrt sich der ursprüngliche Sinn von Kirche. Sie versteht sich sodann nicht mehr als Mittel zum Zweck des Reiches Gottes, sondern meint, die Existenz sowie der Vollzug der eigenen Statuten seien Selbstzweck, dem sich alle Mittel unterzuordnen haben. Mit dem so entstehenden Götzendienst ist eine besondere Form der Sünde gegeben, weil er menschliches Heil nicht von der Durchsetzung des göttlichen Willens erwartet, sondern von der Geltung und Befolgung der Statuten. Erst wenn eine Glaubensgemeinschaft sich ihrer selbst durchsichtig geworden ist, indem sie sich als Mittel zu einem höherwertigen letzten Zweck der Welt begreift, ist die hochstufigste Form der Kirche erreicht. Kant hat die Realisierung dieser Stufe allein dem Christentum zugesprochen, weil es diejenige Religion ist, die den Gedanken der Sittlichkeit mit dem Ziel des Reiches Gottes auf Erden als ihren Zweck erkennt, zu dem sich alle Statuten als Mittel verhalten. Zwar kann das Kriterium der Selbstdurchsichtigkeit prinzipiell von jeder positiven Glaubensart erreicht werden. Nach Kant ist dazu aber die Überwindung des radikal Bösen notwendig. Bedingung der Möglichkeit der realen Durchsetzung des Gottesreiches auf Erden ist deshalb der Vollzug von Rechtfertigungsglauben, der allein zur Überwindung der Sünde hinreicht. Kant meint, solcher Glaubensvollzug lasse sich allein im Christentum antreffen.59 Dass es dabei unterschiedliche Ausprägungen des Rechtfertigungsglaubens gibt, ist im vierten Kapitel schon erarbeitet worden. Diese Feststellung fügt sich zu einer Beobachtung Kants, nach der es innerhalb des Christentums Entwicklungsphasen gibt, die aufeinander folgen oder zeitlich auch nebeneinander bestehen. Das protestantische Christentum mit seinem Rechtfertigungsverständnis, aber auf seine Weise auch der Katholizismus, sind als solche Entwicklungsstufen einzuschätzen, die dem Reich Gottes als Endzweck des göttlichen Willens dienen. Die gesamte Theorie der Vollendung der Gattung ist getragen von einer Religionstheorie, die ihr Fundament in einer bis hierher stillschweigend vorausgesetzten Geschichtsphilosophie hat. Dieses Fundament soll schließlich explizit zur Sprache kommen, indem die Arbeit die Teleologie der dritten Kritik vorstellt. Allein eine teleologisch motivierte Deutung der Welt kann den einzelnen Begebenheiten in ihr einen Sinn abgewinnen. Die Welt 59 Ob es nicht faktisch Glaubensarten gibt, die auf einen der Rechtfertigung analogen oder ähnlichen Glaubensvollzug hinauslaufen, ist an dieser Stelle nicht die Frage. Es soll bloß auf den Rechtfertigungsglauben (oder analoge Arten des Glaubens) als Bedingung der Möglichkeit der Überwindung der Sünde aufmerksam gemacht werden. Kant sah solchen Glauben allein im Christentum realisiert.

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muss dazu aufgefasst werden, als ob sie mit dem Reich Gottes ein Ziel hat. Hat jemand sich eine derartige Weltsicht reflektierend erschlossen, wird er alles Geschehen innerhalb der Welt und selbst ihre Existenz an sich von diesem Ziel her verstehen. Nur auf diese Weise lässt sich auch der menschlichen Kulturtätigkeit ein letzter Sinn abgewinnen, weil erst unter Voraussetzung eines absoluten Werts alle kulturelle Überformung von Natur ihren Sinn von diesem Wert her erhält. Derartige teleologische Weltdeutung geht in ihrer religiösen Ausprägung von einem Gott aus, dessen Idee von einer im Reich Gottes vollendeten Welt den Grund der Schöpfung abgibt. Eine der Schwierigkeiten, die eine teleologische Theorie der Welt mit sich bringt, liegt in der Unanschaulichkeit zielgerichteter Prozesse in der Natur. Ein teleologisches Verständnis der Natur lässt sich an ihr selbst nämlich nicht ohne weiteres ablesen. Es bedarf dazu wiederum reflektierender Arbeit durch das Subjekt, das in einem mehrstufigen Überlegungsgang der Welt ein Ziel und Sinn unterlegt. Unternommen werden derartige Prozesse nach Kant durch die reflektierende Urteilskraft. Ihre Ergebnisse können erneut nicht wissend, sondern nur glaubend für wahr gehalten werden. Wo sich aber der für diese Weltsicht nötige Glaube einstellt, wird sein Subjekt in der Weltgeschichte einen zielgerichteten und durch Gott gelenkten Prozess sehen, der in eine Geschichte der Kirchen mündet, die als Leitmittel des Ziels der Welt fungieren sollen. Allein eine theistische Auffassung von Gott genügt, um das Telos der Welt für erreichbar zu halten. Denn zur Durchsetzung des Ziels bedarf es der Vereinigung zweier den Lauf der Welt bestimmenden Prinzipien, die sich strikt gegensätzlich zueinander verhalten: Naturkausalität und Zielstrebigkeit. Die Versöhnung beider Prinzipien ist wegen ihrer Kontradiktion nicht durch Reduktion des einen auf das andere möglich. Beide sind aber für die religiöse Wahrnehmung der Welt unaufgebbar. Diejenige Größe, die sie in Einklang zueinander zu bringen vermag, muss ein von der Welt unterschiedenes Drittes sein – nämlich ein von ihr differenter Gott.60

1.4 Zur Methodik der Verwendung von Kants Schriften der kritischen Phase Spätestens seit Albert Schweitzers ausführlicher Studie zur Religionsphilosophie Kants61, die deren Einheitlichkeit in Zweifel zieht, muss eine Arbeit zum 60 So jedenfalls die Überlegungen im Anschluss an Kant. Ob damit tatsächlich schon strikte jede Form von Monismus ausgeschlossen ist, kann man natürlich fragen. Das Problem, dass Gott von Welt unterschieden werden muss, ließe sich grundsätzlich auch durch ein Selbstverhältnis in Gott (Hegel) oder der Welt zu sich (Spinoza) denken. 61 A. SCHWEITZER: Die Religionsphilosophie Kant’s.

Methodik der Verwendung von Kants Schriften

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Thema über die Art der Verwendung des kantschen Œuvres Rechenschaft ablegen. Schweitzer meinte in Kants Werk eine Entwicklung ausmachen zu können, in der vor allem die Kritik der praktischen Vernunft bloß „eine Etappe“62 darstellt, deren Verständnis der transzendentalen Persönlichkeit und der Unsterblichkeit der Seele sich signifikant von den Darstellungen der Kritik der reinen Vernunft, der Kritik der Urteilskraft sowie der Religionsschrift unterscheiden soll.63 Er geht in seiner Monographie die genannten Schriften einzeln durch und meint zwischen ihnen Disparitäten feststellen zu müssen, die nicht zu schlichten seien. Kant biete, so Schweitzer, eine über weite Strecken inkonsistente Theorie der Religion. Man kann fragen, ob es vor diesem Hintergrund empfehlenswert ist, Kants kritisches System als eine Einheit in Sachen Religion zu betrachten, wie es hier geschieht. Die vorliegende Arbeit will mithin einem anderen Verfahren als dem von Schweitzer vorgeschlagenen folgen. Sie wird sich der kantschen Schriften der kritischen Phase64 nicht vergleichend bedienen oder einer Entwicklung in ihnen nachgehen, sondern fasst sie als gleichwertig auf, um aus ihnen eine Religionstheorie herauszupräparieren, die ein organisches Ganzes abgibt. Dieses Verfahren soll zum Tragen kommen, um eine Rekonstruktion der kantschen Religionsphilosophie zu ermöglichen, die nicht deren Genese nachzeichnet, sondern ihre Bedeutung und Tragfähigkeit für die Theologie eruiert. Dass sich das hier gewählte Vorgehen nach Schweitzers Untersuchung nicht vollständig verbietet, bringt dieser selbst zum Ausdruck, wenn er über die religionsphilosophischen Passagen der Kritik der reinen Vernunft sagen kann: Betrachtet man dagegen die kantische Religionsphilosophie als Ganzes, unter Berücksichtigung der Entwicklung, die sie bis zur Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft durchgemacht hat, so nimmt die religionsphilosophische Skizze einen hervorragenden Platz ein: sie weist auf die Zukunft und enthält die ganze kommende Entwicklung gleichsam in nuce.65

Selbst Schweitzer kann eine gewisse sachliche Kontinuität zwischen Kants Schriften hinsichtlich der Religionsthematik nicht vollständig verneinen. Ernst Troeltsch hat einen Bruch anderer Art in Kants Religionsphilosophie ausgemacht. Er meinte, die Religionsschrift als ein Werk ansehen zu müssen, 62

A. SCHWEITZER: Religionsphilosophie, 200. Und zwar deshalb weil in der KpV das Individuum, in den anderen Schriften die Gattung im Fokus der Untersuchung sein würden. Dass sich diese beiden Perspektiven nicht notwendig ausschließen müssen, sondern bei Kant sehr wohl nebeneinander und sich ergänzend zur Geltung gebracht werden, zeigt die Arbeit unten in ihrem 5. Kapitel zur Vollendung des Individuums und der Gattung. 64 Vgl. zur Genese der Moralphilosophie Kants in der vorkritischen Phase die Studie von C. SCHWAIGER: Kategorische und andere Imperative. 65 A. SCHWEITZER: Religionsphilosophie, 70. 63

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dessen Grundkonzeption sich nur vor dem Hintergrund eines in Religionsdingen repressiv gewordenen preußischen Staats verstehen lässt. Sie sei die Geburt eines Kompromisses „zwischen reiner Religionsphilosophie und kirchlich biblischer Theologie.“66 Das müsse an sich, so Troeltsch, noch nicht problematisch sein, weil Kants Philosophie in Religions- und Rechtsfragen prinzipiell darauf aus sei, ein Gespräch zwischen den positiv vorfindlichen Verhältnissen und der reinen Vernunftlehre herzustellen.67 Allerdings sei im Falle der Religionsschrift wegen des Wöllnerschen Edikts besondere Vorsicht angebracht, denn dass Kant beispielsweise der Lehre von der Offenbarung oder den Gedanken zur Rechtfertigung und Erlösung ab extra soviel Platz eingeräumt hat, sei nur durch die Zensur zu erklären.68 Man wird Troeltsch an dieser Stelle widersprechen müssen. Zwar ist es richtig, dass Kant sich der Zensur ausgesetzt sah69, allerdings ergibt sich der Gedanke von Rechtfertigung und Erlösung ab extra und auch der von kirchenstiftender Offenbarung organisch aus der Lehre des radikalen Bösen in Kombination mit der unbedingten Forderung des Sittengesetzes. Steht letztere für Kant außer Frage, hängt folglich viel davon ab, ob man die Radikalität des Bösen im Sinne Kants plausibilisieren kann. Dass das Böse als Theorem nicht singulär in der Religionsschrift auftaucht, sondern ständig – wenn auch z.T. nur als kurze Notiz – in den anderen Schriften zur Moraltheorie virulent ist, kann kaum bestritten werden.70 Die Religionsschrift macht das dort jeweils

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E. TROELTSCH: Das Historische in Kants Religionsphilosophie, 43. E. TROELTSCH: Das Historische, 37–42. 68 Vgl. E. TROELTSCH: Das Historische, 43–48 und 68f. 69 Vgl. zu den Veröffentlichungsbedingungen und die sich aus ihnen ergebende Diskussion um die Stellung der Religionsschrift grundsätzlich H.-O. KVIST: Das radikale Böse bei Immanuel Kant. 70 Wenn I. KANT in den Ausführungen zu seiner Teleologie in der dritten Kritik davon ausgeht, die praktische Vernunft bedürfe „zur Möglichkeit ihres Zwecks, der uns […] durch ihre eigene Gesetzgebung aufgegeben ist, einer Idee, wodurch das Hindernis aus dem Unvermögen ihrer Befolgung […] weggeräumt wird“ (KdU, B 434), dann meint dieses Hindernis zur Befolgung des Sittengesetzes nichts anderes als das radikale Böse der späteren Religionsschrift. Man kann aber eine Vielzahl von Belegen auch aus der Grundlegung und der Kritik der praktischen Vernunft, die die Verfehlung des Sittengesetzes und also das Böse ins Auge fassen, angeben. So spricht beispielsweise der 2. Abschnitt der GMS von der Gefahr einer „vermischte[n] Sittenlehre, die aus Triebfedern von Gefühlen und Neigungen und zugleich aus Vernunftbegriffen zusammengesetzt ist“ und so „nur sehr zufällig zum Guten, öfters aber auch zum Bösen leiten können“ (beide Zitate GMS, 411). Noch deutlicher ist die direkte Gegenüberstellung des Guten und Bösen in der zweiten Kritik: „Das Gute oder Böse wird also eigentlich auf Handlungen, […] der Person bezogen, und sollte etwas schlechthin […] gut oder böse sein oder dafür gehalten werden, so würde es nur die Handlungsart, die Maxime des Willens und mithin die handelnde Person selbst als guter oder böser Mensch, nicht aber eine Sache sein, die so genannt werden könnte.“ (KpV, A, 105f). Es lassen sich leicht weitere Hinweise auf das Böse außerhalb der Religionsschrift anfügen. Man vergegenwärtige sich nur das Postulat der Unsterblichkeit der Seele (vgl. KpV, A 219–223), das nur dann Sinn macht, wenn der Mensch einen unendlichen Progress braucht, um das Gute zu 67

Methodik der Verwendung von Kants Schriften

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nur im Vorbeigehen erwähnte Böse explizit thematisch. Bei dieser Thematisierung zeigt eine Analyse des menschlichen Verhaltens die Radikalität des Bösen. Die ausführliche Behandlung der positiven christlichen Glaubenssätze ist also weniger der Zensur geschuldet, als der Auffassung Kants, die christliche Religion sei eine vernunftkompatible Glaubensart, die zur Überwindung des Bösen und Durchsetzung des Reiches Gottes in der Geschichte das Vermögen hat. Hier wird demnach erstens vorausgesetzt, dass die Religionsschrift sich nahtlos in die kritische Philosophie Kants fügt, dass zweitens einige Grundgedanken in Kants Religionsphilosophie von derartiger Fundamentalität sind, dass sie sich durch sein gesamtes kritisches Schrifttum durchhalten.71 Drittens wird im Folgenden die Religionsphilosophie von einer bestimmten Perspektive her gedeutet werden, von der aus sich – so jedenfalls lautet die hier vertretene These – alle wesentlichen Aussagen Kants in Sachen Religion zu einem Ganzen integrieren lassen: Sie räumt dem Rechtfertigungs- und Erlösungsgedanken in Kants Religionsphilosophie besondere Valenz ein. Damit ist der Befund einer Entwicklung der Religionsphilosophie Kants, wie Schweitzer ihn herausgearbeitet hat, nicht negiert. Es wird lediglich der Versuch unternommen, ihre einzelnen Bestandteile, wenn sie auch nicht in jeder Schrift Kants voll oder letztgültig ausformuliert sind, in ein sie verbindendes Verhältnis zu setzen. Zwar kann beispielsweise gezeigt werden, dass Kant im Verlaufe seiner kritischen Phase die Ableitung und Funktion von Freiheit und Sittengesetz bis zur Abfassung der Kritik der praktischen Vernunft beständig modifiziert hat.72 Man kann dieser Entwicklung im Einzelnen nachgehen, man kann sogar, wenn man es darauf anlegt, die Diskontinuitäten als solche herausarbeiten, sie sodann als offene Wunden im System begreifen und den Finger hineinlegen. Allein zeugt ein solches Verfahren nicht davon, das Grundanliegen Kants verstehen zu wollen, das darin besteht, menschliches Handeln mit all seinen auch religiösen Implikationen systematisch durchsichtig zu machen. Will man dieses Grundanliegen erreichen, was doch aber nichts anderes heißt, als dass dazu das Böse, das die Gegenwart bestimmt, überwunden werden muss. 71 Dazu gehören beispielsweise die Rückbindung der Religion an die praktische Vernunft, die drei berühmten Ideen von Gott, Freiheit und Seelenunsterblichkeit (auch wenn Schweitzer meint, sie haben im theoretischen und praktischen Gebrauch der Vernunft unterschiedliche Funktionen und Zuordnungen zueinander, wodurch zum Ausdruck komme, dass die Vernunft in ihren beiderlei Gebräuchen nicht, wie Kant behaupte, eine einzige sei. Vgl. A. SCHWEITZER: Religionsphilosophie, 4–41), die Differenz von Meinen, Wissen und Glauben als Modi der Auffassung von Wirklichkeit, die Idee einer moralischen Menschheit als Endzweck der Welt (auch wenn sie, wie A. SCHWEITZER: Religionsphilosophie, 40, zeigt ihre reife Gestalt noch nicht in der KrV, sondern erst in der KdU hat) etc. 72 Vgl. dazu bei I. KANT die Auflösung der dritten Antinomie der KrV mit dem dritten Abschnitt der GMS und den Ausführungen der Analytik der KpV.

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Einleitung

herausarbeiten, muss man hinter den Modifikationen ein Kerninteresse aufsuchen und dieses systematisch begreifen. Um ein anderes Beispiel zu nennen: Die Analytik der praktischen Vernunft, wie sie die zweite Kritik bietet, kennt noch keine ausdrückliche Teleologie des Weltganzen. Dennoch ist es möglich, ihre Ergebnisse mit der Teleologie der dritten Kritik zu verbinden. Beide Schriften bedienen sich zum Beispiel der Idee des höchsten Guts, um das Ziel menschlichen Handelns anzugeben. Dabei lassen die Bedeutungsverschiebungen, die der Begriff von einer Schrift zur nächsten erfahren hat73, ihn nicht unbedingt widersprüchlich erscheinen74, wenn man sich darum bemüht, die alle Nuancen verbindende Grundidee vom höchsten Gut aufzusuchen. Es macht aber keinen Sinn, an dieser Stelle den Nachweis über die systemermöglichende Kontinuität von Themen und Begriffen im Einzelnen zu führen. Jedenfalls geht die Arbeitsweise der nachfolgenden Untersuchung davon aus, genau diese könne vorausgesetzt werden. Damit ist nicht jede Art der Entwicklung in Kants Religionsphilosophie geleugnet, sondern bloß behauptet, die Entwicklung lasse eine Betrachtung der Religionsphilosophie als systematische Einheit zu. Entwicklung ist danach Entwicklung im Sinne der Erkenntniserweiterung, und wo vorausgegangene Ergebnisse durch neue ersetzt werden, bedeutet das nicht die grundsätzliche Nivellierung der gesamten Theorie, wie sie zuvor entfaltet worden ist, weil sich hinter allen Entwicklungsstufen ein System verbirgt, von dem her sie sich verständlich machen lassen.75 Ob diese Voraussetzung richtig ist, kann sich nur erweisen, wenn die hier vorgeschlagene Verwendung der Schriften bei der Entfaltung der kantschen Religionsphilosophie das oben genannte organische Ganze tatsächlich ergibt.

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Vgl. dazu A. HABICHLER: Reich Gottes. A. SCHWEITZER war gegen die damit vertretene Ansicht der Meinung, es gäbe unüberbrückbare Gräben in der Auffassung vom höchsten Gut zwischen KpV und KdU. Vgl. dazu seine Ausführungen in: Religionsphilosophie, Vierter Teil (vor allem 290–311) und sein diesbezügliches Fazit auf 317. Vgl. auch die Ausführungen in Abschnitt 5.3.4 dieser Arbeit. 75 Es ist ganz offensichtlich, dass Schweitzer nicht dieser Auffassung war. Die vorliegende Arbeit wird an einigen Stellen zu den von ihm konstatierten Brüchen Stellung nehmen. 74

2. Freiheit und das Böse

2.1 Freiheit als Thema der Philosophie bei Kant Als ein Kernbegriff in Kants Moralphilosophie bezeichnet Freiheit das Vermögen von endlichen vernünftigen Wesen, sich sittengesetzlich zu vollziehen. Auf diese Weise erheben sie sich über den Strom von Ereignissen, die durch das Kausalgesetz der Natur determiniert sind. Diese Erhebung eröffnet dem handelnden Menschen seine Unabhängigkeit von subjektiv ihn bedrängenden Triebfedern, die sich nach dem Naturgesetz richten. Kant hat einen Selbstvollzug, der sich von der subjektiven Bedürfnislage unabhängig macht, indem er einem verallgemeinerungsfähigen Prinzip (dem Sittengesetz) folgt, mit dem Prädikat der moralischen Gutartigkeit ausgezeichnet. Er hat dem Menschen also mit der Freiheit das Vermögen zu Bonität eingeräumt. Zugleich hat er aber gemeint, der Mensch vollziehe sich faktisch böse. Diese doppelte Bestimmung des Menschen könnte als logisch harmlos aufgefasst werden, denn dass jemand seine Veranlagung zum Guten nicht realisiert, bereitet dem Verständnis kein Problem. Die Sache wird allerdings dann zur Herausforderung, wenn man bedenkt, in welcher Weise Kant von der Bösartigkeit des Menschen gesprochen hat. Sein Begriff der Radikalität des Bösen indiziert dessen vollständige und unhintergehbare Verderbnis. Weil er zudem auch die gesamte Gattung von der Verderbnis betroffen sieht, fühlt man sich zu Recht an die klassische Erbsündenlehre der christlichen Tradition erinnert. Vor diesem Hintergrund bedeutet es in der Tat eine Herausforderung, Kants Lehre von der Freiheit verständlich zu machen, weil die Idee der Freiheit per se die Möglichkeit sittlicher Gutartigkeit verstattet. Bonität ist dem Menschen nach der Anthropologie des Christentums, wie sie sich weitgehend durchgesetzt hat, aber nicht ohne weiteres möglich. Im Folgenden sind also Fragen zu behandeln, die in der theologischen Anthropologie beständig virulent sind. Die angesprochene Aufgabe, eine systematische Verbindung der Lehre von der Erbsünde mit der Idee von Freiheit herzustellen, wird man nur unter der Voraussetzung einer Analyse des Freiheitsbegriffs meistern können. Denn von ihr her wird verständlich werden, auf welche Weise sich die Vorstellung totaler Bösartigkeit mit dem Begriff von Freiheit verträgt. Zunächst bleibt aber festzuhalten: Der Zusammenhang von Freiheit und Bonität zieht sich durch die gesamte kritische Philosophie des Königsbergers. Freiheit heißt nach Kant das Vermögen, Handlungen normieren und ausfüh-

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Freiheit und das Böse

ren zu können, die nicht durch den Mechanismus der Natur motiviert sind. Kant führt diese Fähigkeit vernünftiger endlicher Wesen schon in der Kritik der reinen Vernunft auf ein Sollen zurück, das den menschlichen Willen imperativisch affiziert. Denn nur ein Sollen „drückt eine Art von Nothwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen aus, die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt.“1 Der Grund, den Kant dafür angibt, ist schlagend wie einfach: Das Sollen (ein Imperativ) hat für den Lauf der Natur überhaupt keine Bedeutung, weil dieser durch Kausalitäten in Raum und Zeit gekennzeichnet ist, deren Gesetzmäßigkeiten sich ganz und gar nach dem Verstand richten. Deshalb kann die Natur in ihrem Ablauf auch nur nach den Gesetzmäßigkeiten des Verstandes beschrieben werden: „Es ist unmöglich, daß etwas darin anders sein soll, als es in allen diesen Zeitverhältnissen in der That ist; ja das Sollen, wenn man bloß den Lauf der Natur vor Augen hat, hat ganz und gar keine Bedeutung.“2 Imperative fordern die Realisierung einer anderen Gesetzmäßigkeit als die der Naturkausalität. Wird unter Freiheit die Unabhängigkeit des Handlungswillens von der Naturkausalität verstanden, so ist dabei ein naturüberhobener Handlungsgrund vorausgesetzt. In der Kritik der praktischen Vernunft wird die Definition für einen freien Willen entsprechend lauten: Es „muß ein solcher Wille als gänzlich unabhängig von dem Naturgesetz der Erscheinungen, nämlich dem Gesetze der Kausalität, […] gedacht werden. Eine solche Unabhängigkeit aber heißt Freiheit im strengsten, d.i. transcendentalen, Verstande.“3 Der Wille wird in diesem Fall durch einen reinen Begriff normiert und motiviert, der nicht in der Natur anzutreffen ist, sondern allein gedacht werden kann. Dieser Begriff wird, soviel ist deutlich, repräsentiert durch einen Imperativ. Derartige Argumentation setzt die grundsätzliche Möglichkeit der Unabhängigkeit eines Handlungssubjekts vom Naturverlauf voraus. Beim Versuch ihrer Plausibilisierung muss das Resultat der Kritik der spekulativen Vernunft berücksichtigt werden, nach dem alles in der Welt nach Naturgesetzen geschieht4. Dieses Diktum der theoretischen Vernunft scheint jeglicher Idee von Freiheit zu widerstreiten. Kants zweistufiger Weg zu ihrer Rehabilitation soll im Folgenden zur Sprache kommen. Im ersten Schritt wird gezeigt, dass die Erkenntnis der strengen Gültigkeit der Kausalität der Natur nicht gegen die Idee der Freiheit ausgespielt werden kann (Kapitel 2.1). Es ist Kant dabei zunächst nur darum zu tun, Freiheit als Denkmöglichkeit neben der Naturkausalität plausibel zu machen. Das geschieht in der berühmten Auflösung der dritten Antinomie der ersten Kritik. Erst in einem zweiten Schritt wird 1

I. KANT: KrV, B 575. I. KANT: KrV, B 575 (Hervorhebung im Original). 3 I. KANT: KpV, A 51f (Hervorhebung im Original). 4 Die Antithesis der dritten Antinomie lautet: „Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur.“ (I. KANT: KrV, B 473). 2

Freiheit als Thema der Philosophie bei Kant

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Freiheit auch als real erwiesen und positiv bestimmt (Kapitel 2.2). Dies ist nur vermittelst des kategorischen Imperativs als Faktum möglich, wie sich zeigen wird. 2.1.1 Die dritte Antinomie der dialektisch sich vollziehenden reinen Vernunft Die nachfolgenden Ausführungen zu Kants dritter Antinomie können und wollen nicht beanspruchen, die kantsche Argumentation einer eingehenden Analyse zu unterziehen.5 Das Interesse gilt vielmehr allein der Art und Weise, in der Kant das Freiheitstheorem in der Kritik der reinen Vernunft zum Thema macht. Nach seiner Selbstauskunft hat die Behandlung der Freiheitsthematik im Rahmen der Kritik der spekulativen Vernunft kein anderes Ziel, als für Freiheit überhaupt Raum zu gewinnen: „[D]aß Natur der Causalität aus Freiheit wenigstens nicht widerstreite, das war das einzige, was wir leisten konnten, und woran es uns auch einzig und allein gelegen war.“6 Dadurch ist noch nicht die Realität von Freiheit nachgewiesen, sondern allein die Möglichkeit ihres widerspruchsfreien Bestehens neben der theoretischen Vernunft. Eine Kritik der theoretischen Vernunft kann unmöglich positive Aussagen über Freiheit machen, weil diese gar nicht in ihren Untersuchungsbereich fällt.7 Die theoretische Vernunft kann Freiheit innerhalb ihres Rahmens mithin weder aufweisen noch kategorisch verneinen. Es 5

Eine ausführliche Rekonstruktion der kantschen Dialektik der KrV bieten beispielsweise die neueren Kommentare von P. BAUMANNS: Kants Philosophie der Erkenntnis, 707–781, und P. Natterer: Systematischer Kommentar, 503–540. Natterer gibt auch eine Besprechung der Debattenlage zur transzendentalen Dialektik der Kosmologie und arbeitet sowohl die vorkantische Tradition als auch die nachkantische Diskussion zur Frage der Freiheit in seine Ausführungen ein. Sodann ist auch lesenswert die Analyse J. SCHMUCKERs: Das Weltproblem in Kants Kritik der reinen Vernunft, 290–340 und der etwas ältere Kommentar von H. HEIMSOETH: Transzendentale Dialektik, 334–387. 6 I. KANT: KrV, B 586 (Hervorhebung im Original). 7 I. KANT kann deshalb nicht bloß sagen, im Rahmen der Überlegungen zur dritten Antinomie sei es nicht nur nicht möglich, die Realität von Freiheit zu erweisen, denn das vermag allein die praktische, nicht aber die theoretische Vernunft. Sondern es sei noch nicht einmal möglich, die bloße Möglichkeit von Freiheit aufzuzeigen (Vgl. KrV, B 586). Das scheint der im laufenden Text gegebenen Auskunft zu widersprechen, es solle durch die Auflösung der dritten Antinomie Freiheit gerade denkmöglich werden. Indes ist diese Widersprüchlichkeit nur scheinbar. Denn wenn Kant sagt, es sei mit den Mitteln der theoretischen Vernunft die Möglichkeit von Freiheit nicht beweisbar, so resultiert das aus der Tatsache, dass die theoretische Vernunft ihr Anwendungsgebiet in der phänomenalen Welt hat, und also „wir überhaupt von keinem Realgrunde und keiner Causalität aus bloßen Begriffen a priori die Möglichkeit erkennen können.“ (KrV, B 586). Das bedeutet also, dass sich die theoretische Vernunft zum Freiheitsproblem indifferent verhält, weil Freiheit einer anderen Welt angehört als der durch die theoretische Vernunft erfassten. Insofern kann von ihr her nicht einmal die Möglichkeit, im Sinne eines möglichen Grundes, von Freiheit aufgewiesen werden. Sie kann sie aber auch nicht ausscheiden.

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Freiheit und das Böse

lässt sich allerdings soviel von ihr her sagen: Soll Freiheit Realität haben, muss sie einer Sphäre zugehören, die nicht die empirische Welt ist. Ihr Ort wäre vielmehr das intelligible Ding an sich. Der Nachweis grundsätzlicher Vereinbarkeit von Naturkausalität und Freiheit gelingt mithin nur unter der Voraussetzung der Dualität von Welt und Ding an sich. Letzteres ist aber nicht Untersuchungsgegenstand der erkennenden Vernunft, sondern muss von dieser bloß als Grenzbegriff vorausgesetzt werden. Die Untersuchung der dritten Antinomie nimmt ihren Ausgang bei der Frage, ob die spekulative Vernunft die Realität von Freiheit in kosmologischer Hinsicht behaupten kann, und sie bedient sich dabei eines dialektischen Verfahrens. Es ist allerdings zu bemerken, was Kant darunter versteht. Dialektik ist die systematische Darstellung der Scheinlogik, die sich beim Vernunftgebrauch ergibt und aus deren Verstrickung die Vernunft befreit werden soll. Kant bietet bei der Darstellung der Widersprüche, in die sich die Vernunft zu verwickeln neigt, jeweils eine These und eine Antithese, um ihre Antinomie schließlich als Schein nachzuweisen. Die Thesis der dritten Antinomie behauptet, es sei eine Kausalität durch Freiheit zur Erklärung der Naturgesetze notwendig anzunehmen. Durch reine Naturkausalität lässt sich nämlich eine Wirkung nur als durch eine Ursache bedingt erklären, die ihrerseits wieder eine Ursache haben muss. Eine erste Ursache kann unter dieser Bedingung nicht angegeben werden, so dass die Vernunft einen infiniten Regress entwirft, nach dem es „überhaupt keine Vollständigkeit der Reihe auf der Seite der voneinander abstammenden Ursachen“8 gibt. Ohne die Vollständigkeit der Reihe ist aber die Ursache scheinbar nicht hinreichend a priori bestimmt.9 Es muss deshalb eine erste Ursache angenommen werden, die selbst nicht mehr verursacht ist und mithin das Vermögen hat, eine „Reihe von successiven Dingen oder Zuständen von selbst anzufangen.“10 Genau das aber wäre eine Kausalität aus Freiheit. Die Thesis der dritten Antinomie lautet dementsprechend: „Die Causalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesammt abgeleitet werden können. Es ist noch 8

Vgl. I. KANT: KrV, B 474. Vgl. I. KANT: KrV, B 474 und zur Diskussion des Arguments B. ORTWEIN: Kants problematische Freiheitslehre, 24f. Ortwein fragt, „warum nur dann eine ‚hinreichend a priori bestimmte Ursache‘ vorliege, wenn die Kausalkette in absoluter Vollständigkeit gegeben sei, was nur durch eine wirklich unbedingte Erstursache ermöglicht werde“ (25). Ortwein meint unter Berufung auf Hegel, hier läge eine zirkuläre Logik vor, weil unter der Hand das vorausgesetzt sei, was erst zu erweisen ist: nämlich die Notwendigkeit einer ersten Ursache, ohne die die Naturkausalität nicht denkbar sei. Dem ist zu entgegnen, dass Ortwein eine Überlegung vermisst, die Kant bei der Auflösung der Antinomie tatsächlich aber selbst anstellt: dass die Antinomie nämlich einem transzendentalen Schein folgt, bei dem ein regulatives Prinzip der Vernunft mit einem konstitutiven verwechselt wird (vgl. KrV, B 525–530.537). 10 I. KANT: KrV, B 476. 9

Freiheit als Thema der Philosophie bei Kant

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eine Causalität durch Freiheit zu Erklärung derselben anzunehmen nothwendig.“11 Die Antithesis lautet dagegen: „Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur.“12 Der Beweis ist formal analog zu dem der Thesis aufgebaut, indem er anzeigt, dass die gegenteilige Annahme unmöglich ist: Gesetzt es gäbe Freiheit, so bedeutete dies, wie die Thesis gezeigt hat, einen schlechthinnigen Anfang der Kausalität. Es ist aber schlechterdings nicht einsichtig, wie aus einem undynamischen Zustand, der noch keine Kausalität in sich trägt ein dynamischer werden soll. Freiheit ist danach dem Kausalgesetz entgegen und „mithin ein leeres Gedankending.“13 Die Widersprüchlichkeit beruht auf einem Fehlurteil, dessen Struktur von Kant wie folgt beschrieben wird: „Wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Reihe aller Bedingungen derselben gegeben.“14 Der Satz spricht einen scheinbar logischen Schluss an, den die Vernunft meint ziehen zu können. Sie meint, bei der Erklärung eines Gegenstandes die Totalität seiner Bedingungen an sich zu ermitteln und nicht nur die ihr kausal vorausliegenden Ursachen. Das aber ist ein Trugschluss, weil die Totalität der Bedingungen an sich nichts ist, das erscheinen könnte. Vielmehr ist sie als Ding an sich von ganz anderer Art als die Welt der Erscheinungen, die tatsächlich unter dem Gesetz der Naturkausalität steht.15 Es entsteht ein dialektischer Schein, weil im zuletzt zitierten Satz der Obersatz, der das Bedingte betrifft, so angesehen wird, als mache er eine Aussage über das Ding an sich. Und umgekehrt wird der Untersatz, der die Totalität der Bedingungen betrifft, so angesehen, als mache er eine Aussage über Erscheinungen. In der Erfahrung ist aber gerade nicht die Vollständigkeit der Bedingungen gegeben, sondern diese ist als Idee der Vernunft bloß aufgegeben.16 Die Antinomie ergibt sich aufgrund der unzulässigen Gleichsetzung von Erscheinungen mit der Idee der Totalität der Synthesis der Erscheinungen, also mit dem Ding an sich.17 Sowohl die These als auch die Antithese setzen ein widersinniges Gedankending voraus: eine Sinnenwelt, die zugleich das Ding an sich ist. Hielte man die genannte Selbsttäuschung18 der Vernunft für das letzte Wort in der Sache, wäre weder das Gesetz der Naturkausalität noch Freiheit denkbar. Freiheit deshalb nicht, weil sie durch die Naturkausalität immer 11

I. KANT: KrV, B 472. I. KANT: KrV, B 473. 13 I. KANT: KrV, B 475. 14 I. KANT: KrV, B 525. 15 Vgl. I. KANT: KrV, B 525–530. 16 Vgl. I. KANT: KrV, B 536. 17 In I. KANT: KrV, B 536, heißt es über die gegebenen Erscheinungen, daß „diese keine Gegenstände an sich selbst sind, an denen allenfalls das Schlechthin=Unbedingte stattfinden könnte.“ 18 I. KANT: KrV, B 571, nennt sie einen „transzendentalen Realismus.“ 12

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Freiheit und das Böse

schon ausgeschlossen ist. Naturkausalität deshalb nicht, weil sie durch die behauptete Unhintergehbarkeit des Freiheitsgedankens nicht mehr allgemeingültig wäre. Die Auflösung des Scheins ist Bedingung der Möglichkeit für die Rettung sowohl der Naturkausalität als auch der Freiheit. Kant rettet nun beide, indem er auf die Differenz der Erscheinung zum Ding an sich pocht. Einem erscheinenden Gegenstand liegt ein rein intelligibles Ding an sich als dessen Grund voraus. Entsprechend wird es möglich, einem Gegenstand zwei Arten von Kausalität zuzuschreiben. Diese Erkenntnis wird sodann die Grundlage für die Freiheitsbehauptung der praktischen Philosophie abgeben. Wollte man die Idee der Freiheit in einer der beiden Sphären verorten, so steht fest: Sie kann aus erkenntnistheoretischer Sicht nichts anderes sein als eine Idee, die außerhalb dessen liegt, was Gegenstand möglicher Erfahrung ist. Sie gehört mithin in den Bereich des noumenalen Dinges an sich. 2.1.2 Kants Interesse am freien Willen in der Kritik der reinen Vernunft Bisher ist das Freiheitstheorem nur in kosmologischer Hinsicht thematisch gewesen. Die Motivation der Untersuchung schien den Anfang der Welt zu betreffen, nicht aber die Handlungsfreiheit von Subjekten. Im Fortgang von Kants Argumentation ist allerdings nicht zu übersehen, dass die Ergebnisse der kosmologischen Untersuchung eine ausgeweitete Anwendung erfahren, indem sie auf das Problem der Freiheit von handelnden Subjekten übertragen werden.19 Man hat Kant vorgeworfen, ein derartiger Überschritt von der kosmologischen Untersuchung zum praktischen Freiheitsbegriff des menschlichen Willens sei ungerechtfertigt. Denn die kosmologische Untersuchung thematisiere die erste Ursache von Welt überhaupt, also ihre Konstitutionsbedingungen. Der freie Wille des Subjekts meine aber die Freiheit von intramundanen Wesen, die in eine schon bestehende Welt hineinwirken. Die damit einhergehende Diskussion kann hier nicht weiter verfolgt werden. Klar dürfte allerdings sein, dass Kant der Überzeugung war, seine in der Untersuchung zur dritten Antinomie gewonnene Einsicht, Freiheit sei im Rahmen des transzendentalen Idealismus denkbar, eröffne grundsätzlich die Möglichkeit, auch dem Menschen das Vermögen zum Überstieg „über eine in sich geschlossene, unaufhebbar determinierte Kausalreihe des Naturge19

Vgl. dazu etwa I. KANT: KrV, B 560–586. Die Überschrift zur Auflösung der dritten Antinomie lautet noch: „Auflösung der kosmologischen Ideen von der Totalität der Ableitung der Weltbegebenheiten aus ihren Ursachen“ (B 560). Schon sehr bald lenkt Kant sein Interesse in diesem Abschnitt dann aber auf die „Freiheit im praktischen Verstande“, worunter er die „Unabhängigkeit der Willkür von der Nöthigung durch Antriebe der Sinnlichkeit“ (B 562, Hervorhebungen im Original) versteht.

Freiheit als Thema der Philosophie bei Kant

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schehens“20 einzuräumen. Dieser Überstieg setzt ein mehrdimensionales Verständnis des Menschen voraus, das in diesem nicht nur einen Teil der Sinnenwelt, sondern ebenso ein Wesen sieht, das Anteil am Ding an sich hat. In derartigem Selbstverständnis räumt sich der Mensch vermittelst seiner Zugehörigkeit zur intelligiblen Welt die Möglichkeit von Freiheit ein. Denn qua Noumenalität ist er Teil des Dinges an sich und folgt nicht ausschließlich dem Kausalmechanismus. Kant kommt zur paradox anmutenden Aussage, ein vernünftiges endliches Subjekt sei determiniert und frei zugleich: Man würde von ihm ganz richtig sagen, daß es seine Wirkungen in der Sinnenwelt von selbst anfange, […] und dieses würde gültig sein, ohne daß die Wirkungen in der Sinnenwelt darum von selbst anfangen dürfen, weil sie in derselben jederzeit durch empirische Bedingungen in der vorigen Zeit […] vorher bestimmt […] sind.21

Die Paradoxie erfährt ihre Auflösung durch die Zuordnung der widersprüchlichen Propositionen zu verschiedenen Perspektiven auf dasselbe Subjekt. Jede wirkende Ursache muss, so argumentiert Kant, einen ihr eigenen Charakter haben, der ein bestimmtes Gesetz von Kausalität meint. Sofern ein Gegenstand Erscheinung ist, muss seine Kausalität den Charakter des Naturgesetzes haben. Sofern er Ding an sich ist, ist seine Kausalität von intelligiblem Charakter.22 Wendet man diese Differenz auf ein Subjekt an, das sowohl Sinnenwesen als auch intelligibles Ding an sich ist, so folgt es zwei Kausalitäten gleichzeitig. Kant hat bei seinen Ausführungen ein handelndes Subjekt im Blick, das sich selbst gleichzeitig in beiden Welten verortet: „Wir würden uns demnach von dem Vermögen eines solchen Subjects einen empirischen, imgleichen auch einen intellectuellen Begriff seiner Causalität machen, welche bei einer und derselben Wirkung zusammen stattfinden.“23 Die doppelte Bestimmung der Wirkung wird erkenntnistheoretisch durch einen Perspektivenwechsels plausibel, und mit diesem die gleichzeitige Geltung beider Charaktere von Kausalität in ein und demselben Subjekt.

20 J. SCHMUCKER: Weltproblem, 298. Schmucker formuliert das hier genannte Problem ausdrücklich auch in: 339. Er meint, in der dritten Antinomie liege eine Diskrepanz vor zwischen Problemexposition, die noch eine kosmologische Fragestellung aufwirft, und Lösung, die sich allein auf das Verhältnis von innerweltlicher Freiheit und Naturdeterminismus konzentriert. 21 I. KANT: KrV, B 569 (Hervorhebung im Original). 22 Vgl. I. KANT: KrV, B 566f. 23 I. KANT: KrV, B 566 (Hervorhebungen durch A.H.).

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Freiheit und das Böse

2.2 Die Freiheit des Willens in der praktischen Philosophie Ist Freiheit des Willens durch die theoretische Vernunft zumindest als Möglichkeit nicht ausgeschlossen, muss nun die Bedeutung dieses Verhalts für ein handelndes Wesen, das mit einem Willen ausgestattet ist, zur Sprache kommen. Freiheit ist nach Kant die Bedingung der Möglichkeit von Handlungen, deren spezifische Differenz zum Verhalten des Tieres in der Unabhängigkeit von der Kausalkette liegt. Das setzt voraus, dass mit der Freiheit „die Vernunft für sich selbst und unabhängig von allen Erscheinungen gebiete[t], was geschehen soll.“24 Diese Art von Freiheit wird nicht in Anschlag gebracht, um zu erkennen, „ob dies oder jenes geschehe“25, wie es im Erkenntnisakt der Fall ist26, sondern um Handlungen zu ermöglichen, die die Welt erst in einen bestimmten Zustand bringen sollen.

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I. KANT: GMS, 408. I. KANT: GMS, 408. 26 Neben der Willensfreiheit kennt Kant eine Freiheit der transzendentalen Apperzeption im Erkenntnisakt, die hier allerdings nicht von unmittelbarem Interesse ist. Dort nämlich meint Freiheit nicht Handlungsfreiheit, sondern eine Spontaneität, die das Vermögen ist, aller unserer Erkenntnis ihre Gesetzmäßigkeit zu diktieren. Die Gesetzlichkeit der Natur hat ihren Grund in der Spontaneität der transzendentalen Apperzeption, die selbst diesem Gesetz nicht mehr unterliegt, sondern es vielmehr gibt (vgl. dazu G. PICHT: Kants Religionsphilosophie, 500f). Durch diese Spontaneität wird ein „Gefüge apriorischer Gemäßheiten“ (U. BARTH: Die Christologie Emanuel Hirschs, 454) hervorgerufen, das die Beziehbarkeit der Erkenntnisvermögen aufeinander ermöglicht. Es ist also die transzendentale Einheit der Apperzeption, die allen anderen Erkenntnisvermögen ihre Gesetzlichkeit als Struktur vorgibt und so objektive Erkenntnis ermöglicht. Und in dieser Funktion kann sie frei genannt werden. Ob Freiheit im Erkenntnisakt und Freiheit des Willens letztlich ein und dasselbe Prinzip in unterschiedlichen Funktionen abgeben oder ob es sich um aufeinander nicht zu reduzierende Arten von Freiheit handelt, wird in der Literatur kontrovers diskutiert. Vgl. G. PICHT: Kants Religionsphilosophie, 495–502, der meint, transzendentale Apperzeption und Freiheit miteinander identifizieren zu müssen, um so die Einheit in Kants Philosophie garantieren zu können. Anders urteilt D. HENRICH: Die Deduktion des Sittengesetzes, 64–70, der meint, Kant habe mindestens der Intention nach zwischen Erkennen und Handeln derart unterschieden, dass nicht jedes vernünftige Wesen auch mit einem freien Willen begabt sein muss. Ähnlich urteilen auch G. PRAUSS: Kant über Freiheit als Autonomie, 120, und H. HOPING: Freiheit im Widerspruch, 81. Das Problem findet eingehende Behandlung bei D. SCHÖNECKER: Kant: Grundlegung III, 295–316, der keine letzte Klarheit in der Frage gewinnen kann. Ob die erkennende und handelnde Vernunft letztlich dieselbe ist, oder ob beide nicht aufeinander oder auf ein drittes reduzibel sind, soll hier nicht entschieden werden. Es reicht zu erkennen, dass mindestens die Funktion in beiden Fällen eine andere ist. Dafür spricht eindeutig auch Rel., 26, wo I. KANT beide Prinzipien zumindest funktional voneinander scheidet. Die Anlage zur Menschheit trägt nach den dort gebotenen Ausführungen noch nicht die zur Persönlichkeit in sich. Das will sagen, dass ein vernünftiges Wesen nicht automatisch auch moralbegabt ist. Vgl. vor allem die Anm. in Rel., 26. 25

Freiheit des Willens in der praktischen Philosophie

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2.2.1 Das Objekt des freien Willens Kant hat Freiheitsbewusstsein im Sinne der praktischen Vernunft27 immer in unmittelbare Nähe zum Sittengesetz gebracht28. Bekanntlich zeichnet sich dieses durch ein Sollen aus, das kategorisch gebietet und nicht durch die Handlungssituation bedingt ist, sondern durch strenge Allgemeinheit. Einer derartigen Forderung nach Allgemeinheit kann ein Imperativ nur folgen, wenn er kein materiales Element in sich enthält, sondern rein formal formuliert ist. Der gesuchte kategorische Imperativ lautet nach Kant: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“29 Mit dem kategorischen Imperativ hat Kant dasjenige Handlungsprinzip angegeben, das unbedingt Pflicht ist. Nur ein Wille, der sich der Pflicht des Sittengesetzes fügt, ist definitionsgemäß ein guter Wille.30 Ein oft erhobener Einwand gegen die bloße Formalität des Imperativs spricht diesem die Fähigkeit ab, einen Willen in einer bestimmten Handlungssituation zu normieren. Denn die Abstraktion von aller Materie des Willens stehe immer schon im Widerspruch zu einem positiv bestimmten Willen. Hegel hat ganz in diesem Sinne gemeint, „das formale Princip der Gesetzgebung kommt in dieser Einsamkeit in sich zu keinem Inhalte, keiner Bestimmung.“31 Der kantische Wille kranke daran, ein bloß allgemeines Prinzip aufgestellt zu haben, „das im Praktischen sowenig als im Theoretischen zu einer Realität kommt.“32 Die Anspielung auf die theoretische 27

Im Folgenden ist unter dem Begriff Freiheit, wenn nicht eigens anders gekennzeichnet, durchgehend die transzendentale Freiheit der praktischen Vernunft zu verstehen. 28 Es besteht nach I. KANT näher ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Freiheitsbewusstsein und Sittengesetz. Er hat noch in der Grundlegung gemeint, das Sittengesetz dependiere vom Bewusstsein der Freiheit, musste diese Position aber mit der zweiten Kritik aufgeben, weil sie nicht einsichtig zu machen ist. Die KpV begreift das Abhängigkeitsverhältnis sodann anders herum. Freiheit ist nur vermittelst des Bewusstseins der sittengesetzlichen Forderung möglich. Vgl. dazu im Einzelnen den Abschnitt 2.2.3. 29 I. KANT: GMS, 421 (Hervorhebungen im Original). Es gibt zu den unterschiedlichen Formen des kategorischen Imperativs, wie sie sich bei Kant sowohl in der Grundlegung als auch in der zweiten Kritik finden, eine ungezählte Menge an Literatur. Vgl. dazu H.J. PATON: Der kategorische Imperativ, 152–245, K. REICH: Kant und die Ethik der Griechen, 34–36, J. EBBINGHAUS: Die Formeln des kategorischen Imperativs und F. KAULBACH: Immanuel Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 94–100. Neuerdings hat sich G. GEISMANN darum bemüht, unter Bezugnahme auf einige der Interpreten, eine Verhältnisbestimmung der verschiedenen Formeln vorzunehmen. Sein Ergebnis lautet im Kern, dass es nur einen kategorischen Imperativ gibt, der in drei weiteren Formen materiale Illustration findet. Die Formel der Autonomie des Willens sei keine eigene Formel des kategorischen Imperativs, sondern „der Grundsatz für dessen Befolgung“ (G. GEISMANN: Die Formeln des kategorischen Imperativs, 383). 30 Denn eine Analyse des Pflichtbegriffs ergibt auch den Begriff von einem guten Willen. Vgl. I. KANT: GMS, 397. 31 G.W.F. HEGEL: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, 591f. 32 G.W.F. HEGEL: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, 591f.

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Philosophie kann nur als Rekurs auf das berühmte Wort Kants verstanden werden, Begriffe ohne Anschauungen seien leer. Kant macht sich nach Hegel des Vergehens eines bloßen Hirngespinsts schuldig, wenn der Wille ohne Materie sein solle. Die durch Hegel angestoßene Kritik ist bis heute nicht verstummt und prominent im 20 Jh. durch Max Scheler vertreten worden.33 Alle Kritiker operieren mit dem Argument, Kant habe mit seinem Formalprinzip in der Ethik von jedem Objekt des Willens absehen müssen und mit der einleuchtenden Tradition gebrochen, Ethik habe mit dem anzufangen, was der Wille will, also mit dessen Objekt.34 Diese Tradition geht auf Aristoteles zurück, dessen Bestimmung des menschlichen Willens als Strebungsvermögen sein Objekt zur Voraussetzung hat. Eine Ethik, die dieses angestrebte Gut eines Willens nicht mitbedenkt, gehe an dem wesentlichen Untersuchungsgegenstand von praktischer Philosophie vorbei, denn sie könne nicht erklären, warum der Mensch sich überhaupt auf etwas hinbewegt, mithin willentlich ein Objekt anstrebt.35 Kant wird von seinen Kritikern mit Vorliebe so verstanden, als schließe er dagegen kategorisch aus, ein guter Wille könne ein Objekt haben. Als Beleg werden Stellen wie diese angeführt: „[E]ine Handlung aus Pflicht geschieht, da ihm [dem Willen] alles materielle Princip entzogen worden.“36 Sollten derartige Aussagen Kants tatsächlich meinen, Bonität des Willens lasse sich nur durch totale Objektabstinenz erreichen, wäre die antikantische Kritik allzu berechtigt. Der Königsberger hätte durch die Eigenschaft der Ziellosigkeit aus dem Willen ein absurdes Gebilde gemacht: nämlich einen Willen, der eo ipso nichts will. Allerdings sitzt die antikantische Kritik einem Missverständnis auf. Tatsächlich hat Kant das Objekt nie aus dem guten Willen ausschließen wollen. Es wäre sonst nicht zu verstehen, dass er selbst den Willen als das Vermögen definiert hat, „den Vorstellungen entsprechende Gegenstände entweder hervorzubringen, oder doch sich selbst zu Bewirkung derselben

33 Vgl. M. SCHELER: Der Formalismus, der meint Kants Konzeption schließe per se aus, dass ein guter Wille auch eine Materie haben könne, weil er gemeint habe, eine an einem Objekt orientierte Ethik könne nur eine erfolgsgeleitete sein, und das widerspräche dem gesinnungstheoretischen Ansatz. Vgl. dazu aber auch die Richtigstellung durch I. HEIDEMANN: Untersuchungen zur Kantkritik Schelers, 208, die erkennt, dass Schelers Kritik an Kant „ins Leere“ zielt, weil er übersieht, dass auch Kants guter Wille jeweils einen Gegenstand hat. 34 Vgl. u.a. G. KRÜGER: Philosophie und Moral, 75–79. Vgl. daneben A. DORSCHEL: Die idealistische Kritik des Willens, 60–76. 35 Vgl. ARISTOTELES: Über die Seele, 433a. Aristoteles unterscheidet das Gute als das unbewegte Angestrebte vom bewegt bewegenden Strebungsvermögen (Wille) und dem von diesem Strebungsvermögen bewegten Geschöpf. Das eigentlich Bewegende ist danach das vom Willen angestrebte Objekt. 36 I. KANT: GMS, 400. Beispielsweise wird die Stelle zitiert bei A. DORSCHEL: Kritik, 61, um Kants Theorie des Willens ad absurdum zu führen.

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[…] zu bestimmen.“37 Zu klären ist folglich, in welchem Verhältnis der formale kategorische Imperativ zu seinem Gegenstand steht. Denn es ist in der Tat auf den ersten Blick nicht einzusehen, wie ein rein formal bestimmter Wille auf ein bestimmtes positives Objekt zielen können soll, scheint doch die Formalität des den Willen bestimmenden Gesetzes das Begehren von positiv Bestimmtem auszuschließen. Kant führt seine Suche nach dem Gegenstand der reinen praktischen Vernunft wie folgt ein: „Unter dem Begriffe eines Gegenstandes der praktischen Vernunft verstehe ich die Vorstellung eines Objects als einer möglichen Wirkung durch Freiheit.“38 Die auf den Satz folgende Erläuterung macht deutlich, wie Kant ihn verstanden wissen will. Es ist danach nur dasjenige Gegenstand des guten Willens, was ein guter Wille in einer bestimmten Situation wollen kann. Der positiv bestimmte Wille muss danach beurteilt werden, „ob wir eine Handlung, die auf die Existenz eines Objects gerichtet ist, wollen dürfen.“39 Die Handlung ist nur unter der Prämisse der Verallgemeinerungsfähigkeit ihres Wollens des Objekts erlaubt und geboten. Die moralische Legitimität des Objekts eines Willens entscheidet sich mithin nicht am positiv vorgestellten Objekt selbst, sondern dieses muss, bevor es gewollt werden darf, sich der Prüfung unterziehen, ob es von jedermann (mit gleichen Fähigkeiten) in derselben Situation angestrebt werden sollte, ob also die Handlungsmaxime, die zum Objekt führt, allgemeines Gesetz sein könnte.40 Dies ist der alleinige Sinn von Aussagen, in denen Kant meint, eine Handlung aus Pflicht würde dem Willen alles materiale Prinzip entziehen. Sie bedeuten nicht, dass der Wille kein Objekt hat, sondern nur, dass der Wille seine Norm nicht an dem konkreten Objekt findet, sondern am Sittengesetz: Was wir gut nennen sollen, muß in jedes vernünftigen Menschen Urtheil ein Gegenstand des Begehrungsvermögens sein, und das Böse in den Augen von jedermann ein Gegenstand des Abscheues; mithin bedarf es außer dem Sinne zu dieser Beurtheilung noch Vernunft.41

37 I. KANT: KpV, A 29. Vgl. auch die ganz entsprechende Definition des Begehrungsvermögens in KpV, A 15, Anm. 38 I. KANT: KpV, A 100. Der Satz leitet den Abschnitt „Von dem Begriffe eines Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft ein.“ Dieser Abschnitt findet sich im zweiten Hauptstück der Analytik der KpV. 39 I. KANT: KpV, A 101 (Hervorhebung im Original). 40 Kant führt das exemplarisch in der Grundlegung vor, indem er danach fragt, ob Selbstmord, lügenhaftes Versprechen etc. der Beurteilung durch die Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs entsprechend sind oder nicht. Sie sind es selbstverständlich nicht. Vgl. zur Argumentation Kants im Einzelnen: J. EBBINGHAUS: Die Formeln des kategorischen Imperativs. 41 I. KANT: KpV, A 106 (Hervorhebungen durch A.H.).

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Freiheit und das Böse

Der sittlich gute Wille ist nicht leer, sondern richtet sich auf ein jeweils in einer bestimmten Situation herzustellendes Objekt. Und ganz entsprechend gibt es nicht nur eine abstrakte Pflicht des Sittengesetzes, sondern Kant kann von den „vielen wirklichen […] Pflichten“42 sprechen, die sich jeweils durch Anwendung des Sittengesetzes auf je konkrete Handlungssituationen ergeben.43 Die jeweils auf ein konkretes Objekt zielende Handlung hat zum Kriterium ihrer Bonität allerdings nicht das Objekt, sondern das universal geltende Sittengesetz, das in der Handlung seine Realisierung erfährt. Bedingung der Möglichkeit von guten Handlungen ist ein durch das Sittengesetz normierter guter Wille. Der unbedingte Zweck des guten Willens ist demnach die Bonität seiner selbst, weil die Realisierung dieser Voraussetzung den Grund für jede weitere gute Handlung und ihren Zweck abgibt. Der situationsunabhängige und also kategorische Zweck, der zugleich Pflicht ist, besteht darin, „[d]ie Cultur seines Willens bis zur reinsten Tugendgesinnung, da nämlich das Gesetz zugleich die Triebfeder seiner pflichtmäßigen Handlungen wird, zu erheben und ihm aus Pflicht zu gehorchen.“44 Situationsübergreifender Zweck eines durch den kategorischen Imperativ geforderten Willens ist seine eigene Bonität. Oder um es pointierter zu sagen: Der gute Wille hat in erster Linie sich selbst zum Zweck. Alle je konkreten materialen Zwecke, die in einer bestimmten Situation sodann durch diesen Selbstzweck wirklich werden, sind nichts als die Realisationsformen dieses Zweckes an sich. Wenn es richtig ist, dass der Selbstzweck des guten Willens er selbst als guter Wille ist, ist mit dem Sich-Selbst-Wollen eine Struktur von Selbstbezüglichkeit gedacht. Die Literatur hat dies als Konsequenz der kantschen Willenstheorie mehrfach herausgearbeitet.45 Im Folgenden soll es über die Aufdeckung der Struktur hinaus darum gehen, die mit ihr verbundenen Implikationen für die Qualität des Willens und seine Modifikationsmöglichkeiten zu bedenken. Dabei soll deutlich werden, warum Kant einerseits meint, es sei dem Willen möglich, seine eigene Qualität zu verändern, genau dies andererseits aber auch bestreitet. 42

I. KANT: GMS, 423. Vgl. dazu die Beispiele, die I. KANT in: GMS, 421–424 bietet. 44 I. KANT: MdS, 387. Daneben nennt Kant noch den Zweck der Glückseligkeit, den ein jeder Mensch natürlicherweise hat. Dass Glückseligkeit Zweck eines jeden Menschen ist und in welchem Verhältnis sie zur Moralität steht, kann hier noch nicht erörtert werden. Das Problem wird aber ausführlich unten in Abschnitt 4.1.3 und im 5. Kapitel zur Vollendung des Individuums und der Gattung zur Sprache kommen. Hier kommt es zunächst darauf an, dass Moralität ein Selbstzweck des menschlichen Willens ist. 45 Vgl. über die im Folgenden genannte Literatur hinaus: F. KAULBACH: Grundlegung, 127– 130, L.W. BECK: Kants Kritik, 169–196, H. MEYER: Subjektivität und Freiheit, 233–236, H. HOPING: Freiheit im Widerspruch, 157–165 und schließlich M. HEIDEGGER: Metaphysik, 215– 218, der meint, Kants Frage ‚Was soll ich tun?‘ impliziere Wahlfreiheit, die als solche Ausdruck für Endlichkeit überhaupt sei. 43

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2.2.2 Die Selbstbezüglichkeit des Willens Kant hat unzweifelhaft einen auf sich selbst gerichteten Willen im Blick gehabt, wenn er meint: „Der Wille wird also nicht lediglich dem Gesetze unterworfen, sondern so unterworfen, daß er auch als selbstgesetzgebend und eben um deswillen allererst dem Gesetze […] unterworfen angesehen werden muß.“46 Ein Wille ist danach erst dann durch das Sittengesetz normiert, wenn er sich selbst dieses Gesetz gegeben hat, und der Begriff der Selbstgesetzgebung ist erst dann vollständig erfasst, wenn man ihn zumindest auch so versteht, dass der Wille sich auf sich selbst beziehend sein Handlungsgesetz gibt.47 Es soll damit nicht die andere Konnotation des Zitats zurückgewiesen werden, nach der der Begriff der Selbstgesetzgebung Autonomie im Sinne der Unabhängigkeit von der naturgesetzlichen Kausalität indiziert. Doch es muss an dieser Stelle auf die im Vollzug der Selbstgesetzgebung ebenfalls vorausgesetzte Fähigkeit des Willens, sich zu sich selbst in ein Verhältnis zu setzen, aufmerksam gemacht werden. Die im Zitat implizierte Struktur der Selbstreferenz fügt sich im Übrigen zu der soeben gemachten Beobachtung, der Zweck eines guten Willens sei der gute Wille selbst. Das Selbstverhältnis kann im Fall eines bösen Willens aber auch anders qualifiziert sein. Bösartigkeit ist dann, wenn der Wille sich selbst als bösen will. Nun ist für das rechte Verständnis der Selbstreferentialität des Willens noch ein weiterer Gedankenschritt zu tun. Mit der bloßen Tatsache der Selbstbeziehung des Willens ist noch nichts darüber gesagt, ob er die Wahl hat, sich selbst so oder so zu qualifizieren. Es sind nämlich zwei Arten von Selbstbezüglichkeit denkbar, von denen jede eine eigentümliche Leistungskraft für das Verständnis des Willens im Rahmen der kantschen Theorie hat. Allerdings werfen beide Varianten auch ein ihnen je eigentümliches Problem auf. Die erste Denkfigur beschreibt die selbstreferentielle Struktur des Willens als ein Verhältnis, in dem dieser tatsächlich die Wahl hat, sich zu dem zu machen, was er ist. Der Wille bestimmt seine moralische Qualität danach aus einer Position der Neutralität heraus, indem er sich selbst zum Guten oder Bösen bestimmt. Der kategorische Imperativ wäre in diesem Fall ein Appell an den noch unentschiedenen Willen, sich selbst zum Guten zu bestimmen, wobei die Wahl auch die Selbstbestimmung zum Bösen möglich macht. 46

I. KANT: GMS, 431 (Hervorhebung im Original). Dies ist eine Beobachtung, die auch G. PRAUSS gemacht hat. Er deutet die vielen Aussagen, in denen Kant von einem eigenen Willen spricht im reflexiven Sinne. Der Begriff zeigt also vornehmlich nicht an, dass der Wille possessiv dem eigenen Subjekt zugeordnet wird, sondern dass er reflexiv in einem Verhältnis zu sich selbst steht. Vgl. G. PRAUSS: Für sich selber praktische Vernunft. Vgl. für Textnachweise des Terminus eigener Wille G. PRAUSS: Vernunft, 253, Anm. 3. 47

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Freiheit und das Böse

Wer Kants Freiheitsbegriff im Sinne derartiger Wahlfreiheit deutet, muss allerdings Freiheit von ihrem analytischen Verhältnis zum Sittengesetz lösen. Frei ist danach nicht mehr der, der sich durch das Sittengesetz geleitet weiß. Sondern Freiheit meint in diesem Fall das Vermögen, sich für oder gegen die Normierung des Willens durch das Sittengesetz entscheiden zu können. Damit ist auch schon die Schwäche der Deutungsvariante im Visier. Denn man hat gewichtige Stellen bei Kant gegen sich, nach denen Freiheit nicht Unentschiedenheit bedeutet, sondern sittengesetzlichen Vollzug. Um dazu eine pointierte Formulierung herauszugreifen: Der Satz aber: der Wille ist in allen Handlungen sich selbst ein Gesetz, bezeichnet nur das Princip, nach keiner anderen Maxime zu handeln, als die sich selbst auch als ein allgemeines Gesetz zum Gegenstande haben kann. Dies ist aber gerade die Formel des kategorischen Imperativs und das Princip der Sittlichkeit: also ist ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei.48

Die analytische Bindung von Freiheit an die Sittengesetzlichkeit des Willens ist verständlich, wenn man Kants Auffassung von Freiheit als Unabhängigkeit von der Naturkausalität bedenkt. Solche Unabhängigkeit ist allein durch die Bindung des Willens an das Sittengesetz möglich und wirklich: „Das Wesentliche aller Bestimmung des freien Willens durchs sittliche Gesetz ist: daß er als freier Wille […] blos durchs Gesetz bestimmt werde.“49 Derartige Aussagen schließen ein liberum arbitrium im Sinne der Wahlfreiheit offenbar kategorisch aus. Um es zugespitzt zu formulieren, ließe sich wohl sagen, dass ein wahlfreier Wille nach diesen Ausführungen ein Unding ist. Die Stärke des Rückgriffs auf einen wahlfreien Willen in der Kantdeutung liegt aber ebenso auf der Hand: Sie kann erklären, wie ein böser Wille zu Stande kommt und die Bösartigkeit auch zurechnen.50 Das Böse ist danach das Produkt freier Wahl, und man kann eine beträchtliche Zahl von Stellen bei Kant finden, die genau dies vorauszusetzen scheinen. Um hier nur eine pointierte Formulierung herauszugreifen: „Was der Mensch im moralischen 48 I. KANT: GMS, 447. Vgl. ganz in diesem Sinne auch I. KANT: GMS, 452: „Mit der Idee der Freiheit ist nun der Begriff der Autonomie unzertrennlich verbunden, mit diesem aber das allgemeine Princip der Sittlichkeit.“ (Hervorhebung im Original). 49 I. KANT: KpV, A 128. Vgl. für die Deutung des Verhältnisses von freiem Willen und Sittengesetz als analytisches W. VOSSENKUHL: Von der äußersten Grenze. 50 So sieht es allem voran G. PRAUSS: Vernunft, 258–261. Vgl. auch DERS.: Kant über Freiheit als Autonomie, 83–100. Der erstgenannte Aufsatz bietet gedanklich insofern eine Neuerung gegenüber der Monographie, als der Aufsatz etwas bei Kant auffindet, was die Monographie bloß eingefordert hat, aber bei Kant nicht nachweisen konnte: nämlich dass „Freiheit und Autonomie als solche und nicht nur als moralische“. (G. PRAUSS: Kant über Freiheit als Autonomie, 100, Hervorhebung im Original) gedacht werden müssen, um das Auftreten des Bösen verständlich zu machen. Vgl. daneben auch H. HOPING: Freiheit im Widerspruch, 197–208 und N. FISCHER: Der formale Grund der bösen Tat.

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Sinne ist oder werden soll, gut oder böse, dazu muß er sich selbst machen oder gemacht haben. Beides muß eine Wirkung seiner freien Willkür sein.“51 Die zweite Möglichkeit, den Willen in seiner Selbstreferentialität zu verstehen, bestreitet ihm das Vermögen zur Wahl seiner eigenen Qualität. Nach ihr ist das Selbstverhältnis des Willens nicht ein solches, in dem sich der Wille selbst eine Qualität gibt, sondern ein solches, in dem er diese bloß affirmiert. Der Wille will sich danach als den, der er immer schon ist. Bezüglich seines qualitativen Zustandes ist der Wille danach streng genommen unfrei. Ein guter Wille ist somit unvorgreiflich gut und hat sich insofern selbst zum Zweck, als er sich selbst bejahend will. Ganz analog dazu ist ein böser Wille verfasst. Der Sünder ist mit einem bösen Willen ausgestattet, den er selbst unmöglich überwinden kann. Seine Selbstbezüglichkeit im Sinne der Selbstaffirmation verunmöglicht die Abweichung vom bösen Vollzug. Dass ein Wille in dieser oder jener Qualität steht, ist ihm danach unverfügbar. Es finden sich wiederum einige Stellen in Kants Werk, die für eine solche Deutung sprechen. So kann Kant zur Vorfindlichkeit des bösen Willens sagen: „[F]ür uns ist also kein begreiflicher Grund da, woher das moralische Böse in uns zuerst gekommen sein könne.“52 Und ganz in diesem Sinne wird die Suche nach dem ersten Ursprung der moralischen Verfehlung von Kant gerade nicht unter Hinweis auf den wahlfreien Willen beantwortet, sondern durch die Denkfigur eines sich selbst affirmierenden Willens: „Das Böse hat nur aus dem Moralisch-Bösen […] entspringen können.“53 Das Zitat lässt die eigentümliche Leistungskraft einer solchen Theorie vom Willen aufscheinen. Sie kann die Selbstiteration von Bösartigkeit erklären. Dass Kant den Menschen als böse eingeschätzt und ihm darüber hinaus die Unfähigkeit zur Selbstbesserung attestiert hat, wird noch zu zeigen sein.54 Die Selbstbezüglichkeit als Selbstaffirmationsvorgang zu deuten, liefert die Erklärung für einen seine eigene Bösartigkeit nicht überwinden könnenden Willen. Der Nachteil der Selbstaffirmationsvariante ist ebenso augenfällig. Wenn der Wille nicht frei dazu ist, sich selbst zum Guten oder Bösen zu bestimmen, kann das Subjekt für seine moralische Qualität nicht verantwortlich gemacht werden. Dass Kant aber einen starken Akzent auf die Verantwortlichkeit des Subjekts für seine moralische Qualität gelegt hat, lässt sich nicht übersehen. Die Religionsschrift ist voll von Belegen dafür, von denen hier erneut nur exemplarisch einer wiedergegeben wird: „Die Gesinnung […] kann nur eine einzige sein und geht allgemein auf den ganzen Gebrauch der 51

I. KANT: Rel., 44 (Hervorhebung im Original). I. KANT: Rel., 43. 53 I. KANT: Rel., 43. 54 Vgl. den Abschnitt 2.3. 52

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Freiheit und das Böse

Freiheit. Sie selbst aber muß auch durch freie Willkür angenommen worden sein, denn sonst könnte sie nicht zugerechnet werden.“55 Man steht nach alledem vor dem Dilemma einer widersprüchlichen Auffassung vom Willen. Denn entweder bedeutet Selbstbezüglichkeit des Willens die Fähigkeit zur Selbstqualifizierung. Dann kann das Subjekt zwar für seine moralische Qualität verantwortlich gemacht werden, aber es steht dem die analytische Bindung des freien Willens an das Sittengesetz entgegen. Oder aber Kant meinte, der Wille will sich selbst, nicht indem er sich wählend bestimmt, sondern indem er sich bejaht. Dann kann zwar die Schwäche der ersten Auffassung umgangen werden, das Subjekt kann aber nicht im strengen Sinne verantwortlich für sein Handeln sein. Nun hat sich gezeigt, dass sich für beide Varianten des Verständnisses von der Selbstbezüglichkeit des Willens Belege bei Kant finden lassen. Mit dieser doppelten Möglichkeit, die Selbstreferentialität des Willens zu verstehen, geht auch ein doppelter Freiheitsbegriff einher: Freiheit als Freiheit vom Kausalmechanismus durch Bindung an das Sittengesetz einerseits, Wahlfreiheit andererseits. Freiheit des Willens kann folglich einerseits darin bestehen, sich dem Sittengesetz gemäss zu vollziehen. Andererseits kann der Begriff der Freiheit die Möglichkeit zur Wahl bedeuten, wobei für den derart freien Willen ein Zustand der Indifferenz vorausgesetzt ist. Ein Versuch, das zweifache Verständnis vom Willen zu einem Ausgleich zu bringen, kann von der Religionsschrift aus unternommen werden. In ihr findet sich die nämliche Problemlage am Beispiel des bösen Willens. Sie reflektiert ausdrücklich darauf, wie ein Subjekt für seine Bösartigkeit verantwortlich sein soll, obwohl es sich offenbar unvorgreiflich immer schon in einem bestimmten Zustand vorfindet: nämlich böse zu sein. Um zu klären, ob der Wille sich selbst zu einem bösen Willen macht oder ob er sich in seiner Bösartigkeit immer schon vorfindet, sucht Kant nach dem Ursprung der Bösartigkeit.56 Der Rückstieg zum unvorgreiflichen Ursprung des Bösen ist die Suche nach dem ersten Anfang der moralischen Bestimmung (hier: des Bösen), der nicht wiederum eine ihm vorgängige Ursache hat. Kant unterscheidet einen Vernunft- von einem Zeitursprung, und diese Differenzierung wird die Lösung für das aufgegebene Problem ermöglichen. Verfolgt man zunächst die Ursachen des Bösen ihrem Zeitursprung nach, so ergibt sich folgende Kette von Verknüpfungen: Der Wille in seinem Jetztzustand hat seine Ursache in einer Qualität des Willens, die zeitlich zurückliegt, und so fort. Das bedeutet, dass wenn wir uns auf die Erklärung des Bösen seinem Zeitanfange nach einlassen wollen, wir bei jeder vorsätzlichen Übertretung die Ursachen in einer vorigen Zeit unsers 55 56

I. KANT: Rel., 25 (Hervorhebung durch A.H.). Vgl. I. KANT: Rel., 39–44.

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Lebens bis zurück in diejenige, wo der Vernunftgebrauch noch nicht entwickelt war, mithin bis zu einem Hange (als natürliche Grundlage) zum Bösen, welcher darum angeboren heißt, die Quelle des Bösen verfolgen müßten. 57

Es ist danach der sich selbst bestimmende Wille als jeweils böse schon vorausgesetzt. Das Böse ist nach seinem Zeitursprung unvorgreiflich immer schon die Qualität des Willens. Selbst der Rückgang auf den ersten (praktischen) Vernunftgebrauch fördert nichts zu Tage als einen dort schon bösen Willen. Diese Auffassung des bösen Willens entspricht der oben beschriebenen Struktur, wonach der Wille sich in der Qualität will, in der er immer schon ist. Er iteriert seine Qualität, ohne sie jemals überwinden zu können und ist deshalb seinem Zeitursprung nach doppelt unfrei. Weder kann er seine Qualität selbst bestimmen noch vollzieht er sich dem Sittengesetz gemäss. Es wird sich noch zeigen, dass Kant gemeint hat, diese totale Unfreiheit sei tatsächlich das empirische Signum des Menschen, wie er in der Welt vorkommt. Denn das seine Handlungen bestimmende Grundprinzip, von Kant Urmaxime genannt, ist verderbt, und diese Verderbnis gibt den eigentlichen Grund für die Iteration des bösen Willens in der Zeit ab. Fragt man dagegen nach dem Vernunftursprung des Bösen, muss von der qualitativen zeitlichen Prädisposition gerade abgesehen werden. Kant betont: „Eine jede böse Handlung muß, wenn man den Vernunftursprung derselben sucht, so betrachtet werden, als ob der Mensch unmittelbar aus dem Stande der Unschuld in sie gerathen wäre.“58 Er sieht den Menschen qua Sittengesetz in eine noumenale Welt versetzt, die ihn zeitenthoben sein lässt:59 Denn: wie auch sein voriges Verhalten gewesen sein mag, und welcherlei auch die auf ihn einfließenden Naturursachen sein mögen […]: so ist seine Handlung doch frei und durch keine dieser Ursachen bestimmt, kann also und muß immer als ein ursprünglicher Gebrauch seiner Willkür beurtheilt werden.60

Diese Auskunft, nach der der ursprüngliche Gebrauch der Willkür einen nicht an einen vorigen Zustand gebunden Willen meint, kann nichts anderes intendieren als einen wahlfreien Willen, der sich seine Qualität selbst gibt. Die Möglichkeit zu derartiger Selbstqualifizierung ist beispielsweise bei der Idee einer Selbsttransformation vom Bösen zum Guten vorausgesetzt: „[E]s ist […] seine Pflicht, sich zu bessern: er [scil. der Mensch] muß es also auch können.“61 Neben der Tat, die der Wille in der Zeit ausübt, gibt es danach auch eine solche, „wodurch die oberste Maxime (dem Gesetze gemäß oder 57

I. KANT: Rel., 42f (Hervorhebung im Original). I. KANT: Rel., 41 (Hervorhebung im Original). 59 Vgl. vor allem I. KANT: Rel., 41. 60 I. KANT: Rel., 41 (Hervorhebung im Original). 61 I. KANT: Rel., 41. 58

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Freiheit und das Böse

zuwider) in die Willkür aufgenommen“62 wird. Der dabei vorausgesetzte wahlfreie Wille ist Bedingung der Möglichkeit dafür, einem Subjekt seine Handlungen imputieren zu können. Denn ohne das Vermögen der Wahl wäre es dem Willen prinzipiell unmöglich, seine Qualität zu modifizieren. Der doppelte Begriff der Selbstbezüglichkeit geht auf die zweifache Möglichkeit zurück, den menschlichen Willen zu betrachten. Entweder wird er unter Zeitbedingungen angeschaut, und dann ist das Selbstverhältnis das der Selbstaffirmation. Oder der Wille wird als Noumenon gedacht. Sodann ist er allen Zeitbedingungen enthoben und kann sich selbst bestimmen, ohne dass die zeitlich zurückliegende Qualität diese Form der Selbstbezüglichkeit determinieren würde. Die hier angebotene Lösung, nach der sowohl ein wahlfreier als auch ein bloß selbstbejahender Wille verständlich werden, greift auf Kants Unterscheidung des Dinges an sich von der durch zeitliches nacheinander geordneten Welt zurück. Es muss nun geklärt werden, wie die beiden Welten sich zueinander verhalten. Dabei liegt in diesem Zusammenhang der Akzent auf der Frage, ob der wahlfreie Wille der intelligiblen Welt derselbe ist wie der, der sich auch in der Sinnenwelt auswirkt, denn der Wille droht durch seine Verortung in zwei Welten zu zerreißen. Kants Antwort auf diese Gefahr besteht im Wesentlichen darin, die Naturwelt in die intelligible Welt des Dinges an sich zu integrieren, indem er darauf aufmerksam macht, dass jene nichts als die Erscheinung von dieser ist.63 Angewendet auf eine Theorie der Handlungen heißt dies: Empirische Tätigkeiten sind Erscheinungen der Entscheidungen des Willens im Ding an sich. Zwar sind sie als Erscheinungen zu jeder Zeit voll determiniert durch die zeitlich vorausgehenden Ursachen. Weil Ereignisse der Sinnenwelt aber zugleich noch eine zweite Ursache im rein intelligiblen Ding an sich haben, sind alle Handlungen auch „von der Spontaneität des Subjects als Dinges an sich selbst“64 abhängig, so dass diesem eine Entscheidung abverlangt werden kann, die unabhängig von jeder Vorbestimmung ist. Je nach Perspektive auf ein und denselben Willen wird dieser entweder durch Zeitbedingungen kausaler Art oder durch noumenal überzeitliche Gründe bestimmt. Da beide Perspektiven auf ein und denselben Willen zur gleichen Zeit eingenommen werden können, ist es möglich, ihn als voll determiniert und wahlfrei zugleich wahrzunehmen. Deshalb wird man einerseits meinen, der Wille werde sich in der Zeit in der Qualität fortsetzen, die ihn schon vorher ausgezeichnet hat, 62

I. KANT: Rel., 31. Vgl. dazu I. KANT: GMS, 453. Er meint dort, dass „die Verstandeswelt den Grund der Sinnenwelt, mithin auch der Gesetze derselben enthält.“ (Hervorhebungen im Original). Ganz in diesem Sinne auch KpV, A 178, wo es heißt, man könne das Sinnenwesen unseres Subjekts auf „das intelligibele Substrat in uns“ beziehen. 64 I. KANT: KpV, A 178. 63

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andererseits muss demselben Willen die Potenz zur Selbstmodifikation eingeräumt werden. Als Zeitwesen kann das Subjekt nicht absehen, wie es sich selbst verändern können soll, denn die Selbstbestimmung des Willens wird unter dieser Perspektive einen Verlauf nehmen, der durch die Zeit eine bestimmte Qualität iteriert. Es stellt an sich einen Charakter fest, der es gewiss sein lässt, sich auch in Zukunft in derselben Qualität zu vollziehen, die es zuvor ausgezeichnet hat. Im Fall des bösen Willens findet diese Gewissheit ihren Ausdruck darin, dass man sich eine böse Urmaxime zuschreibt, von der her sich die Unüberwindbarkeit des Bösen erklären lässt, wie sich noch zeigen wird. Und doch muss es möglich sein, sich zu bessern, weil der kategorische Imperativ den Menschen in eine unzeitliche Welt versetzt, die ihn sich selbst als wahlfrei bewusst werden lässt. Welche Konsequenzen diese doppelte Bestimmung des Willens für die Sündenlehre Kants hat, kann erst später zur Sprache kommen.65 An dieser Stelle soll nur festgehalten werden, dass Kants dualistische Philosophie die beschriebene Duplizität in der Auffassung der Selbstreferentialität des Willens zulässt. 2.2.3 Die Unableitbarkeit des Sittengesetzes oder das Gesetz als Offenbarung Es liegt nach allem bisher Gesagten außerordentlich großes Gewicht auf dem Sittengesetz. Die Realität des freien Willens kann nur eingeräumt werden, weil das Subjekt das Sittengesetz kennt. Diese Kenntnis versetzt den Willen in eine intelligible Welt und macht es dem Subjekt in der beschriebenen doppelten Weise möglich, sich wahlfrei und unabhängig vom Naturgesetz zu vollziehen: Die Realität des Sittengesetzes selbst ist dabei bisher vorausgesetzt worden, ohne weitere Worte darüber zu verlieren, ob es überhaupt wirklich und gültig ist. Um seiner Moralphilosophie festen Grund zu geben, musste Kant also in einem eigenen Gedankenschritt darum bemüht sein, den Geltungsanspruch des Sittengesetzes argumentativ als real plausibel zu machen.66 Um den unbedingten Geltungsanspruch des Sittengesetzes als real und unhintergehbar behaupten zu können, hatte Kant sich in einem ersten Anlauf in der Grundlegung angeschickt, es aus der Idee der Freiheit, die jedem 65

Vgl. zur Entfaltung der Sündenlehre bei Kant den Abschnitt 2.3. unten. Vgl. zum Folgenden durchgehend die außerordentlich erhellende Abhandlung von D. HENRICH mit dem Titel: Die Deduktion des Sittengesetzes. Vgl. darüber hinaus auch H.J. PATON: Der kategorische Imperativ, 302–316. 66

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Freiheit und das Böse

Menschen mit einem Willen beigelegt werden müsse, zu deduzieren.67 Der Versuch kann als gescheitert gelten. Dieses Urteil stimmt mit Kants eigener Einschätzung überein, denn er selbst hat das Vorhaben der Grundlegung, eine Deduktion des Sittengesetzes geben zu wollen, wenig später aufgegeben. Die Kritik der praktischen Vernunft macht es sich ausdrücklich nicht mehr zur Aufgabe, das Sittengesetz aus Freiheit abzuleiten. Neu wird in der zweiten Kritik das Sittengesetz als unableitbares Faktum vorausgesetzt, und erst mit dem Bewusstsein dieses Faktums stellt sich Freiheitsbewusstsein ein. Die Frage, „wovon unsere Erkenntniß des unbedingt Praktischen anhebe, ob von der Freiheit, oder dem praktischen Gesetze“, wird von Kant in der zweiten Kritik unmissverständlich beantwortet: „Von der Freiheit kann es nicht anheben; denn deren können wir uns weder unmittelbar bewußt werden, […] noch darauf aus der Erfahrung schließen […] Also ist es das moralische Gesetz, dessen wir uns unmittelbar bewußt werden.“68 Das reimt sich offensichtlich nicht zum Anspruch der Grundlegung, die noch ganz der neuen Erkenntnis entgegengesetzt meinte: „Wenn also Freiheit des Willens vorausgesetzt wird, so folgt die Sittlichkeit sammt ihrem Princip daraus durch bloße Zergliederung ihres Begriffs.“69 Es liegt nahe, mit Dieter Henrich anzunehmen, es müsse sich ein Erkenntnisfortschritt zwischen der Abfassung der Grundlegung und der zweiten Kritik bei Kant eingestellt haben, der ihn zur Annahme des Sittengesetzes als Faktum bewegt hat. Dieser Erkenntnisfortschritt besteht im Wesentlichen in der Einsicht, dass das Prinzip der Sittlichkeit sich eben nicht aus anderen Prinzipien ableiten lässt.70 Die Gründe für das Scheitern der Grundlegung sollen im Folgenden in groben Zügen erläutert werden.71 Sie sind deshalb zu nennen, weil sie den Legitimationsgrund für eine theologisch interessierende Auslegung der Rede vom Faktum Sittengesetz abgeben. Der Versuch Kants, in der Grundlegung das Sittengesetz aus dem Freiheitsbewusstsein abzuleiten, schlägt zunächst den Weg ein, die Realität praktischer Freiheit nachweisen zu wollen. Denn wenn das Sittengesetz seinen Grund in Freiheit haben soll, liegt die Beweislast darauf, die Realität von Freiheit plausibel machen zu können. Kants erstes Argument lebt von der Behauptung, dass jedes Wesen mit einem Willen frei sein müsse. „Denn in einem solchen Wesen“, also einem, das einen Willen hat, „denken wir uns eine Vernunft, die praktisch ist.“72 Wo 67

Vgl. I. KANT: GMS, 454. Beide Zitate: I. KANT: KpV, A 52f (Hervorhebungen im Original). 69 I. KANT: GMS, 447. 70 Vgl. grundsätzlich D. HENRICH: Die Deduktion des Sittengesetzes, 63 und DERS.: Der Begriff der sittlichen Einsicht sowie, L.W. BECK: Das Faktum der Vernunft. 71 Sie sind im Einzelnen bei D. HENRICH: Die Deduktion des Sittengesetzes, zu finden. 72 I. KANT: GMS, 448. 68

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aber Vernunft praktisch ist, müsse Freiheit am Werk sein. Das Argument geht davon aus, dass immer dort, wo Vernunft sich äußert, auch Freiheit im Spiel ist. Kant greift dabei eine Überlegung der ersten Kritik auf, nach der im Erkenntnisakt die Vernunft als frei vorausgesetzt wird. Wenn der Begriff des Willens Vernunft voraussetzt, dann, so meint Kant in der Grundlegung auch für ihren praktischen Gebrauch folgern zu können, muss es sich um einen freien Willen handeln. Das Argument ist für sich nicht besonders stark. Seine Schwäche liegt in der Missachtung der Funktionsdifferenz von Vernunft im theoretischen und praktischen Gebrauch, die zu einer unzulässigen Analogisierung beider Funktionsweisen führt. Es fehlt die Einsicht, dass ein Wesen nur darum, weil es im theoretischen Gebrauch seiner Vernunft frei ist, nicht auch im praktischen Gebrauch der Vernunft frei sein muss. Der Versuch, Freiheit durch eine Analyse des vernünftigen Willens gewinnen zu wollen, scheint nach alledem nicht sehr ergiebig, und Kant gesteht die Kraftlosigkeit seiner Argumentation selbst ein, wenn er alsbald seine Überlegungen kommentierend bemerkt, Freiheit und ein vernünftiger, unter Gesetzen stehender Wille scheinen sich nach ihnen in einem Zirkelschluss73 gegenseitig stützen zu müssen: „Es zeigt sich hier, man muß es frei gestehen, eine Art von Zirkel, aus dem, wie es scheint, nicht heraus zu kommen ist.“74 Einen Ausweg, so Kant, mag es aus dem Zirkel aber doch geben. Wenn es möglich wäre, sich in einer reinen Vernunftwelt zu verorten, wäre man dadurch der Kausalität der Sinnenwelt enthoben. Und damit sei gewonnen, dass das Ich als Noumenon sich frei von den Kausalitäten der Welt weiß. Man kann sich in der Tat fragen, ob damit überhaupt ein neues Argument in Anschlag gebracht wird. Kant hat das zur Zeit der Abfassung der Grundlegung offenbar gemeint und argumentiert weiter: Es erfordere „kein subtiles Nachdenken“75, sondern könne von jedermann eingesehen werden, dass Erscheinungen nicht Dinge an sich sind. Er rekurriert damit auf die Differenz von sinnlicher und noumenaler Welt, die ihm aber allein aus der ersten Kritik bekannt ist.76 In einem nächsten Schritt verortet er nun das Ich in beiden koexistierenden Welten. Dies ist nur möglich dank der Vernunft, die ein Ich an sich selbst antrifft: „Nun findet der Mensch in sich wirklich ein Vermögen, dadurch er sich von allen andern Dingen, ja von sich selbst, so fern er durch Gegenstände afficirt wird, unterscheidet, und das ist die Vernunft.“77 Was folgt, ist ein erneuter Übergang von diesen Überlegungen, deren Gültig73 Vgl. I. KANT: GMS, 450: „[D]enn Freiheit und eigene Gesetzgebung des Willens sind beides Autonomie, mithin Wechselbegriffe, davon aber einer eben um deswillen nicht dazu gebraucht werden kann, um den anderen zu erklären und von ihm Grund anzugeben.“ 74 I. KANT: GMS, 450. 75 I. KANT: GMS, 450. 76 Vgl. zum Gedankengang insgesamt I. KANT: GMS, 450–452. 77 I. KANT: GMS, 452 (Hervorhebung im Original).

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keit im Rahmen einer Kritik der reinen Vernunft erwiesen worden ist, zu solchen, die die praktische Vernunft betreffen. Denn wieder wird der Wille als frei deshalb bezeichnet, weil er vernünftig ist und deshalb Teil der noumenalen Welt. Es schleicht sich dieselbe Problematik in den Gedankengang ein, die Kant beim ersten Anlauf, praktische Freiheit nachzuweisen, unterlaufen ist. Denn in Wahrheit ist die Tatsache, dass der Mensch qua (theoretischer) Vernunft Anteil am Ding an sich hat, noch kein Garant dafür, dass er als (vernünftig) handelnder Mensch frei und unabhängig vom Kausalmechanismus ist. Kant jedoch behauptet, er hätte den Verdacht auf einen Zirkelschluss beseitigt.78 Es fehlt nun noch der gedankliche Überschritt von der vermeintlich nachgewiesenen Freiheit zum Sittengesetz. Denn nur weil er meinte, das Sittengesetz aus dem Freiheitsbewusstsein ableiten79 zu können, hat Kant überhaupt den Aufwand betrieben, die Realität von Freiheit nachzuweisen. Durch sie, so erinnert Kant, wird der Mensch zum „Gliede einer intelligibelen Welt“80, wodurch er befähigt ist, sich nach Gesetzen zu vollziehen, die verallgemeinerungsfähig sind. Diesem Kriterium kommen aber streng genommen nur das Sittengesetz und seine Varianten nach. Die Idee der Freiheit versetzt den Menschen nach dem dritten Abschnitt der Grundlegung in eine intelligible Welt, wodurch ihm sittengesetzliches Verhalten möglich ist. Der Mensch ist faktisch aber zugleich auch Sinnenwesen, so dass es für seinen Willen einen Konkurrenzantrieb gibt. Die Tatsache, dass der Wille von endlichen vernünftigen Wesen zwei konkurrierenden Antrieben ausgesetzt ist, gibt nach der Grundlegung angeblich den Grund für die imperativische Form des sittlichen Prinzips ab. Es ist deshalb ein Gesetz mit der kategorischen Forderung des Du sollst. Was so81 unter der problematischen Voraussetzung der Bestimmung des Willens als eines freien plausibel werden soll, ist einerseits die formale von jedem zeitabhängigen Inhalt absehende Konstruktion des Sittengesetzes, andererseits die Gebotsform des Gesetzes. Es bleibt allerdings die Frage offen, warum das intelligible Gesetz überhaupt Vorrang vor dem Gesetz der Sinnlichkeit haben soll. Denn die reine Tatsache der Kognition des Sittengesetzes kann noch nicht für dessen Präposition vor alle anderen Antriebe bürgen. Kants Erklärung greift auf die schon erwähnte Verhältnisbestimmung von noumenaler und sinnlicher Welt zu78

Vgl. I. KANT: GMS, 453. Vgl. zum Begriff der Deduktion und seiner schwachen Verwendung in Kants dritten Abschnitt der Grundlegung: D. HENRICH: Die Deduktion des Sittengesetzes, 76–84. Vgl. zur Antwort der Grundlegung auf die Frage „Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich?“ den gleichnamigen Titel von A. PIEPER. 80 I. KANT: GMS, 454. 81 Vgl. I. KANT: GMS, 453–455. 79

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rück: Dabei wird unter erneuter Beanspruchung von Ergebnissen der ersten Kritik festgehalten, die Vernunftwelt des Dings an sich gebe den Grund für die Sinnenwelt ab. Und genau deshalb, meint Kant, „werde ich mich als Intelligenz, obgleich andererseits wie ein zur Sinnenwelt gehöriges Wesen, dennoch dem Gesetze der ersteren, d.i. der Vernunft […] unterworfen erkennen.“82 Auch dieses Argument kann nicht überzeugen. Denn, so muss erneut gefragt werden: Mit welchem Recht meint Kant, ein Verhältnis aus der theoretischen Philosophie ohne weiteres auf die praktische übertragen zu können? Aus der bloßen Feststellung, dass das Ding an sich den Grund für die Welt der Erscheinungen abgibt, lässt sich nicht ableiten, dass der menschliche Wille sich nach dem Gesetz der übersinnlichen Welt richten soll. Der dritte Abschnitt der Grundlegung krankt mindestens an zwei nicht behobenen Schwierigkeiten. Erstens konnte er nicht die Realität von Freiheit nachweisen, denn sie lässt sich nicht aus dem Begriff eines vernünftigen Willens deduzieren, auch wenn Kant dies 1785 noch meinte. Aber selbst wenn das noch zugestanden wäre, bliebe eine zweite Schwierigkeit. Kant ist es nämlich auch nicht gelungen einen Geltungsanspruch für das Sittengesetz nachweisen zu können, der ihm einen axiologischen Vorrang vor dem Naturgesetz verschafft. Die sittengesetzliche Forderung des Du sollst ist in der Grundlegung nicht plausibel geworden. Die imperativische Form des Sittengesetzes kann also nicht einleuchtend im Sinne einer Ableitung aus ihm vorgängigen Prinzipien erklärt werden. Dass Kant die Argumentationsschwächen der Grundlegung selbst erkannt hat, ist bereits angedeutet worden. Anders lässt sich die völlig andersartige Fundamentierung seiner Überlegungen in der nur zwei Jahre später erscheinenden Kritik der praktischen Vernunft nicht verstehen. Der neue Anlauf der zweiten Kritik erhebt gar nicht mehr den Anspruch, das Sittengesetz in irgendeiner Weise deduzieren zu können. Wenn das Sittengesetz nunmehr als Faktum vorgestellt wird, ist damit der Verzicht auf eine Erklärung seiner Entstehung oder Geltung aus ihm äußerlichen Gründen zum Ausdruck gebracht. Es tritt als solches auf, ohne irgendwie deduzierbar zu sein, und es beansprucht auf ebenso nicht deduzierbare Weise Achtung für sich. Aus diesem Schritt, die Realität und Geltung des Sittengesetzes als unableitbare Fakten anzuerkennen, ergeben sich bemerkenswerte Folgen: Zum einen ist es nun nicht mehr das menschliche Freiheitsbewusstsein, das vorausgesetzt werden muss, um das Sittengesetz und also die Fähigkeit zu Moralität nachzuweisen. Sondern es verhält sich umgekehrt so, dass das Subjekt sich seiner Freiheit nur auf Grund des Faktums Sittengesetz bewusst wird. Die Exposition praktischer Vernunft hebt danach nicht beim Freiheitsbewusstsein an, sondern beim Bewusstsein des Gesetzes. Praktische Freiheit 82

I. KANT: GMS, 453f.

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ist nur möglich und wirklich „durch ein Factum, worin sich reine Vernunft bei uns in der That praktisch beweiset.“83 Denn das Bewusstsein des Sittengesetzes führt das Bewusstsein, Teil einer „intelligibelen Ordnung der Dinge“84 zu sein, automatisch mit sich:85 Es macht frei vom Kausalmechanismus. Die Einsicht der Neuzeit, nach der Subjekte sich autonom vollziehen, besteht danach zu Recht. Aber welcher Art die Autonomie ist, will beachtet sein. Der Terminus der Selbstgesetzgebung ist nämlich nach alledem gerade nicht so zu verstehen, als würde das Subjekt das Sittengesetz aus einem seiner Seelenvermögen entwerfen können. Diese Annahme ist mit den Ableitungsversuchen der Grundlegung gescheitert, und Kant hält das Ergebnis des Scheiterns in der Kritik der praktischen Vernunft unmissverständlich fest: „Wie nun dieses Bewußtsein der moralischen Gesetze oder, welches einerlei ist, das der Freiheit möglich sei, läßt sich nicht weiter erklären.“86 Eine Deduktion des Sittengesetzes aus der Spontaneität des theoretischen Vernunftvermögens zu geben, ist danach unmöglich. Es handelt sich vielmehr um eine eigene Art von „Grundkräften oder Grundvermögen“87, deren Möglichkeit als solche nur akzeptiert oder eingesehen88 werden kann: „Also kann die objective Realität des moralischen Gesetzes durch keine Deduction, durch alle Anstrengung der theoretischen, speculativen oder empirisch unterstützten Vernunft, bewiesen […] werden.“89 Das Sittengesetz als faktisch auftretendes Phänomen – wenn der Begriff hier erlaubt ist – ist es im Übrigen auch, das die Vernunft als praktische Vernunft überhaupt ermöglicht. Das Vermögen zu Moralität verdankt sich diesem Faktum als Faktum.90 Von diesem Gesetz als Faktum lässt sich wohl sagen, dass es einer Offenbarung gleich kommt. Denn es macht das ansonsten unbestimmbare und dem menschlichen Erkenntnisvermögen dunkel bleibende Ding an sich qualifizierbar: Das moralische Gesetz gibt 83

I. KANT: KpV, A 72. I. KANT: KpV, A 72. 85 Vgl. neben I. KANT: KpV, A 72 auch KpV, § 5. 86 I. KANT: KpV, A 79f. 87 I. KANT: KpV, A 81. 88 Vgl. D. HENRICH: Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft. 89 I. KANT: KpV, A 81f. 90 Es kann nicht erstaunen, dass diese Überlegungen Kants kontrovers diskutiert werden. Dabei wird das Vermögen der kantschen Konzeption, eine universalisierbare Norm für menschliches Handeln vorzugeben, unterschiedlich eingeschätzt. Viel hängt davon ab, ob sich plausibilisieren lässt, dass das Faktum Sittengesetz als allgemeines Vernunftgesetz bewusst wird. Während beispielsweise K. KONHARDT: Faktum der Vernunft?, meint, genau dies sei unhintergehbare Voraussetzung für das Selbstverständnis von Menschen, kann O. SCHWEMMER: Das Faktum, in Kants Rede von der Faktizität des Sittengesetz als vernünftigem Gesetz nichts als eine Konzeption sehen, die von unzulässigen Zirkelschlüssen lebt. 84

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wenn gleich keine Aussicht, dennoch ein schlechterdings aus allen Datis der Sinnenwelt und dem ganzen Umfange unseres theoretischen Vernunftgebrauchs unerklärliches Factum an die Hand, das auf eine reine Verstandeswelt Anzeige giebt, ja diese so gar positiv bestimmt und uns etwas von ihr, nämlich ein Gesetz, erkennen läßt.91

Das Sittengesetz als Faktum ist Teil der noumenalen Welt, die dem Menschen auf dem erkennenden Weg verschlossen bleiben muss: „[S]o ist die übersinnliche Natur, so weit wir uns einen Begriff von ihr machen können, nichts anders als eine Natur unter der Autonomie der reinen praktischen Vernunft. Das Gesetz dieser Autonomie aber ist das moralische Gesetz.“92 Wenn hier von Offenbarung gesprochen wird, meint das zunächst nicht mehr aber auch nicht weniger, als die Möglichkeit der positiven Qualifizierung des ansonsten dunkel bleibenden Dinges an sich. Es gibt im Rahmen der menschlichen Vernunft Deutungsvorgänge, durch die man dieses Erkennbarsein der intelligiblen Welt als eine Selbstmitteilung Gottes verstehen kann. Danach wäre das Moralgesetz ein Gebot Gottes, das dieser dem Menschen aufgibt. Diese Art der Erkenntnis des Sittengesetzes als Wille Gottes ist allerdings der Religion vorbehalten, die bei Kant definitionsgemäß die „Erkenntniß aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote“93 ist. Eine solche reflektierende Zurückführung des Faktums Sittengesetz auf Gott scheint sich schon deshalb nahe zu legen, weil das Gesetz nicht aus der Vernunft ableitbar ist. Aber das Verständnis des Gesetzes als göttliche Offenbarung geht nun nach Kant nicht derart vor sich, dass das Gesetz unmittelbar als göttlicher Anspruch bewusst wird. Gegen eine solche Auffassung des Sittengesetzes hat er sich aus gutem Grund vehement verwahrt. Denn wäre das Sittengesetz ein solcher Imperativ, der unmittelbar als eine Forderung Gottes vernommen würde, so wäre ein Wille, der diesem Gesetz folgte, nicht autonom, sondern heteronom bestimmt. Es scheint zunächst so, als schließe das Prinzip der Selbstgesetzgebung ein religiöses Verständnis des Gesetzes aus. Das Auftreten des Sittengesetzes als Faktum der Vernunft ist ein Ereignis mit dem sie überhaupt praktisch wird, allerdings ohne dass das Sittengesetz ihr fremd wäre. Es tritt erstens mit der Vernunft gleichursprünglich auf; das eine ist mit dem anderen in einem Nu gegeben. Die Vernunft wird dabei zweitens auf eine Weise praktisch, in der das Gesetz als selbstgegeben aufgefasst wird. Wenn zuvor gesagt wurde, praktische Freiheit setze das Sittengesetz in seiner Faktizität voraus, dann ist damit ein logisches Begründungsverhältnis angegeben. Das bedeutet aber nicht, dass praktische Vernunft im Vollzug sich auch tatsächlich dieser Abhängigkeit bewusst ist. Sondern das Sittengesetz wird im Fungieren praktischer Vernunft unmittel91

I. KANT: KpV, A 74 (Hervorhebungen im Original). I. KANT: KpV, A 74 (Hervorhebungen im Original). 93 I. KANT: Rel., 153. 92

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bar als jemeinig gewusst. Damit hat Kant eine eigentümliche Stellung des vernünftigen Subjekts zum Gesetz entworfen. Einerseits ist das Gesetz als Faktum unableitbar und der Vernunft aufgegeben, andererseits ist es ihr nicht fremd. Mit seinem Auftreten wird die Vernunft in ihren praktischen Vollzug eingesetzt, und zwar so, dass sie sich dabei als selbstgesetzgebend erfährt: „Doch muß man, um dieses Gesetz ohne Missdeutung als gegeben anzusehen, wohl bemerken: daß es kein empirisches, sondern das einzige Factum der reinen Vernunft sei, die sich dadurch als ursprünglich gesetzgebend (sic volo, sic jubeo) ankündigt.“94 Dieser Befund aber bedeutet nun zweierlei für das Verständnis des Sittengesetzes als Gottes Gebot: Zum einen wird das Sittengesetz bei seinem Auftreten vom Menschen nicht als fremdkonstituiert aufgefasst, sondern das Auftreten praktischer Vernunft und das Bewusstsein des Sittengesetzes sind einerlei. Befragt das Subjekt allerdings seine Möglichkeiten, das Gesetz und also die praktische Vernunft überhaupt von sich aus zu entwerfen, muss es sich selbst seine Unfähigkeit dazu eingestehen. Vielmehr wird es sich als in die praktische Vernunft eingesetzt verstehen. Der Vernunft ist es unmöglich sich zu erklären, woher dieses Gesetz und damit auch woher sie selbst in ihrer praktischen Form ihren Ursprung hat. Das Bewusstsein von Autonomie ist mithin ein Bewusstsein, das sich nicht selbst ins Leben gerufen hat. Damit ist zum anderen das gesamte Gefüge offen für eine religiöse Deutung, nach der das Auftreten des Gesetzes auf Gott zurückgeht. Sobald der Ursprung des Gesetzes in dieser Weise aufgefasst wird, muss das gesamte praktische Vermögen des Menschen als göttliche Offenbarung verstanden werden, denn dieses ist mit jenem zugleich gegeben. Dieses religiöse Verständnis des Sittengesetzes ist zwar, so die hier vertretene These, zumindest unthematisch mit jedem Handlungsvollzug gegeben. Die explizite Thematisierung stellt sich jedoch nicht unmittelbar ein, sondern wird vorwiegend in den unterschiedlichen Glaubensarten von Religion geleistet. Die bewusste Zurückführung des Gesetzes auf Gott ist das Resultat einer Kombination aufeinander folgender Denkakte, in denen die Vernunft sich reflektierend daraufhin befragt, ob sie ihr eigenes Auftreten aus sich selbst erklären kann. Dies ist allerdings nicht möglich, wie der dritte Abschnitt der Grundlegung gezeigt hat. Sie kann sich nur in Abhängigkeit vom Gesetz verstehen, dessen Auftreten wiederum nur als Faktum hingenommen werden kann. Ein noch weiter reichender Reflexionsakt führt das Gegebene auf Gott zurück. Kant selbst hat die Möglichkeit der religiösen Auffassung des Sittengesetzes als göttliches Gebot bedacht, und er hat so auch den Grundstein für 94 I. KANT: KpV, A 56 (Hervorhebung im Original). Vgl. auf derselben Seite auch die Folgerung: „Reine Vernunft ist für sich allein praktisch und giebt (dem Menschen) ein allgemeines Gesetz welches wir das Sittengesetz nennen.“ (Hervorhebung im Original).

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eine Rezeption seiner Philosophie durch die Theologie gelegt.95 Die Erkenntnis des Guten ist dem Menschen nach religiöser Auffassung nur möglich, weil er sich durch Gott eingestellt sieht in ein praktisches Fungieren der Vernunft. Religion setzt das Sittengesetz als Faktum voraus, und ihre bewusste Thematisierung in den positiven Glaubensarten baut sich durch Reflexionsbewegungen auf dieses Faktum auf. Kant hätte sich aus diesem zuletzt genannten Verhalt gegen eine religiöse Ausdeutung seiner Lehre, wie sie sich im nachkantischen Supranaturalismus bemerkbar machen konnte, verwahrt. Dieser setzt nämlich bei seinen Überlegungen zum Dasein Gottes und zu religiösen Wahrheiten nicht beim Faktum Sittengesetz ein, sondern meint die religiöse Qualifikation der Sittlichkeit direkt aus historischen Ereignissen ablesen zu müssen. Exemplarisch für diese Vorgehensweise kann wohl Gottlob Chr. Storr96 stehen. Die religiösen Implikationen von Sittlichkeit sind seiner Überzeugung nach einer unmittelbaren und historisch nicht abzuweisenden Offenbarung Gottes verdankt. Storr macht sich, um seine Überzeugung zu untermauern, Kants Ergebnisse der ersten Kritik zu Eigen, nach denen das Dasein Gottes und die Offenbarung seines Gesetzes zwar nicht bewiesen, aber auch nicht geleugnet werden können. Der Philosoph darf also nicht „die Unmöglichkeit einer Offenbarung oder anderer ausserordentlicher Wirkungen Gottes entscheidend behaupten.“97 Und diese durch Kants Philosophie der Erkenntnis gedeckte Unmöglichkeit der Ablehnung von Offenbarungswahrheiten meint Storr nun insofern für sich in Anschlag bringen zu können, als er in der Schrift ein Zeugnis historischer Tatsachen vor sich sieht. Sollte sich bei sorgfältiger Untersuchung dieses Zeugnisses ergeben, dass die Berichte über Jesu Lehre und Wundertaten wahr sind, wäre die Offenbarung Gottes in Christus unabweisbar. Deshalb ist für ihn die penible Untersuchung des geschichtlichen Materials von äußerster Dringlichkeit: „Freilich aber darf, und muß sogar, das Gewicht jener historischen Beweisgründe selbst so sorgfältig als möglich untersucht werden.“98 Storrs Vorgehen besteht im Kern darin, die historische Methode als sein Leitprinzip für Wissenschaft einzusetzen. Deshalb erscheint es ihm nicht angemessen, der Vernunft den Entscheid darüber zu überlassen, ob etwas wahr oder unwahr ist. Vielmehr entscheidet darüber der Gang der 95

Vgl. zur Auffassung des Protestantismus, Kant sei sein Philosoph gewesen, den Abschnitt 1.2 der Einleitung. Vgl. zur Rezeption der kantschen Philosophie bei A. Ritschl und W. Herrmann den Abschnitt 5.2.7. Die Lutherrenaissance um K. Holl, E. Hirsch u.a. dürfte nicht unbeeinflusst durch Kant gewesen sein. Vgl. dazu Kapitel 4. Vgl. zum Einfluss der kantschen Lehre vom radikalen Bösen auf die Konzeption der Sündenlehre in der Moderne grundsätzlich C. AXTPISCALAR: Sünde und Freiheit des Subjekts. 96 Vgl. G.CHR. STORR: Bemerkungen. Vgl. dazu auch die Ausführungen bei W. PANNENBERG: Problemgeschichte, 35–45. 97 G.CHR. STORR: Bemerkungen, 3f. 98 G. CHR. STORR: Bemerkungen, 77f (Hervorhebung im Original).

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Geschichte selbst.99 Sollte sich bei deren genauer Betrachtung herausstellen, dass Gott sich offenbart hat und dem Menschen im Zuge dieser Offenbarung auch ein moralisches Gesetz und die Mittel zu dessen Durchsetzung gegeben hat, so hat genau dies als wahr zu gelten. Storr meint nun nicht, Offenbarungsereignisse seien die Regel. Und doch ist er überzeugt, die übliche Analogizität geschichtlicher Ereignisse hebe „die Möglichkeit einer ungewöhnlichen Begebenheit nicht auf.“100 Es ist nicht schwer zu erraten, dass Storr den neutestamentlichen Zeugnissen soviel Glaubwürdigkeit zugeschrieben hat, dass die darin berichtete Offenbarung des göttlichen Willens mit hoher Wahrscheinlichkeit Wahrheit für sich beanspruchen kann. Kant hätte einem derartigen Vorgehen sicher nicht zustimmen können. Zwar bedeutet Storrs Ansatz insofern eine innovative Haltung, als er die historische Methode für sich entdeckt.101 Doch lässt sich seine Voraussetzung, in der Geschichte könne es analogielose Ereignisse geben, keinesfalls mit Kants Philosophie in Übereinstimmung bringen. Denn Kant hat immer darauf beharrt, Ereignisse in der Welt – also auch historische Ereignisse – würden nach dem immergleichen Schema der Kausalität verlaufen. Ein übernatürlicher Eingriff Gottes in die Welt lässt sich nicht ohne weiteres am Verlauf der Welt selbst ablesen. Eine mit Kant konforme religiöse Auffassung des Gesetzes nimmt ihren Ausgangspunkt nicht bei einem historischen Ereignis, sondern beim Faktum praktischer Vernunft. Es handelt sich dabei nicht um ein historisches Faktum, sondern um ein intelligibles. Und es wird als unableitbar nur in einem solchen Selbstdeutungsakt explizite bewusst, in dem das Subjekt eigens auf die Herkunft seines praktischen Vermögens reflektiert. Auf göttlichen Ursprung wird das zuvor schon bekannte Sittengesetz nur in einem Reflexionsverfahren zurückgeführt, in dem letzte Gründe für das intelligible Faktum aufgesucht werden. Religion mit all ihren Glaubensinhalten ist, so würde Kant es sagen, dem Bewusstsein des Sittengesetzes immer nachgängig. Alle Glaubensinhalte einer historischen Religion sind deshalb daran zu messen, ob sie mit den Forderungen des Sittengesetzes in Einklang zu bringen sind, nicht umgekehrt: „Denn selbst das Lesen [der] heiligen Schriften, oder die Erkundigung nach ihrem Inhalt hat zur Endabsicht, bessere Menschen zu machen; das Historische aber, was dazu nichts beiträgt, ist etwas an sich ganz Gleichgültiges, mit dem man es halten kann, 99

VGL. G. CHR. STORR: Bemerkungen, § 17. G. CHR. STORR: Bemerkungen, 98 (Hervorhebung im Original). 101 Es wird sich unten in Abschnitt 5.3 zur Vollendung der Menschheit noch zeigen, dass auch Kant ganz und gar nicht ein unhistorischer Denker ist. Dies ist gegen das zuweilen gefällte Urteil, Kant könne mit der historischen Auffassung von Wirklichkeit nichts anfangen, zu sagen. Vgl. dazu E. ANGEHRN: Geschichtsphilosophie, der ebenso mit diesem Vorurteil aufräumt wie M. RIEDEL: Kritik der historisch urteilenden Vernunft, 130–134. 100

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wie man will.“ Und weiter heißt es: „Der Geschichtsglaube ist ‚todt an ihm selber‘.“102 Hinlänglich bekannt und dazu passend ist, dass sich im Rahmen des kantschen Systems die Postulate von der Realität Gottes und der Unsterblichkeit der Seele nur im Gefolge des Sittengesetzes plausibilisieren lassen: Es handelt sich um Vernunftideen, die das Sittengesetz voraussetzen. Die Postulate, so formuliert Kant es, „gehen alle vom Grundsatze der Moralität aus“, und von diesem Grundsatz gilt, dass er selbst „kein Postulat, sondern ein Gesetz ist“103 – nämlich das Sittengesetz, das als Faktum auftritt. Wer diese grundlegende Auskunft Kants ernst nimmt, wird nicht umhin können, die Vorstellung vom Sittengesetz als göttlichem Gebot im Rahmen dieser Vorgaben zu verstehen. Wenn Postulate den Charakter haben, aus dem Sittengesetz zu fließen104, dann kann auch Gott als Gesetzgeber postuliert werden, wenn das Sittengesetz zuvor schon als Faktum bekannt ist. Der weitere Verlauf der Arbeit wird zeigen, dass Kant bei den weithin bekannten Postulaten Gott, Freiheit und Unsterblichkeit der Seele nicht stehen geblieben ist. Auch in den Funktionen des Gesetzgebers, des Erlösers und des Durchsetzers des Gottesreiches wird Gott von der Vernunft gedacht. Diese differenzierte Postulatenlehre, durch die – man kann es nicht übersehen – wesentliche Gehalte der christlichen Dogmatik im Rahmen der praktischen Philosophie reformuliert werden, lässt sich in ihrer Bedeutung erst vollständig verstehen, wenn man begriffen hat, dass Kant auch die Anthropologie des Christentums mit seiner Theorie der Sünde als radikalem Bösen aufgegriffen hat. Dieses radikale Böse, das ebenfalls als ein Faktum auftritt, verlangt nach Bearbeitung, die erstens zur Besserung des Menschen führen soll und zweitens einen dem (göttlichen) Sittengesetz angemessenen Umgang mit seiner Schuld, die er sich durch das Böse auflädt, ermöglicht. Aber dazu soll mehr in den unten stehenden Kapiteln zur Sünde, Erlösung und Rechtfertigung sowie Heiligung oder Vollendung des Menschen gesagt werden. Zuvor bedarf es noch der Klärung eines weiteren Problems, das die kantsche Pflichtenlehre mit sich bringt. 2.2.4 Achtung als Triebfeder und die Wirkungen der praktischen Vernunft in der Welt Der bisher entwickelte Gedankengang reicht nur zu Erklärung hin, wie praktische Vernunft möglich und wirklich ist. Sie ist real, indem sie gleich102

Beide Zitate: I. KANT: Rel., 111. I. KANT: KpV, A 238. 104 Vgl. zu der Terminologie, dass die Postulate aus dem Sittengesetz fließen: I. KANT: KpV, A 238f. 103

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ursprünglich mit dem Bewusstsein des Sittengesetzes auftritt. Damit ist im Wesentlichen ein Wissen davon sichergestellt, was ein guter Wille sei. Es reicht aber die reine Kenntnis des Guten noch nicht zur Affizierung des Willens aus. Wie soll das von der praktischen Vernunft als gut Erkannte auch tatsächlich eine willensbestimmende Kraft entfalten, die dazu noch das Vermögen hat, sich gegen alle anderen Handlungsantriebe durchzusetzen? Es bedarf dazu eines eigenen Interesses oder einer besonderen Triebfeder, die dem Sittengesetz beigeordnet ist. Denn sonst liegt die einfache, aber schlagende Frage nahe: „Warum aber soll ich mich denn diesem Princip unterwerfen und zwar als vernünftiges Wesen überhaupt, mithin auch dadurch alle andere mit Vernunft begabte Wesen?“105 Um die Antwort auf die Frage kurz zu halten: Kant ist am Ende seiner Versuche, eine Triebfeder zu benennen, die das Sittengesetz beim Willen repräsentiert106, zu der Überzeugung gelangt, diese Triebfeder sei erstens ähnlich wie das Faktum des Sittengesetzes selbst in ihrer Genese nicht weiter zu erklären. Sie tritt wie das Gesetz unableitbar auf, und zwar immer dort, wo das Sittengesetz sich bemerkbar macht – also bei moralbegabten endlichen Wesen. Wie eng die Triebfeder an das Dasein des Gesetzes gebunden ist, wird deutlich, wenn man sich vor Augen hält, dass Kant sagen kann, das Gesetz werde107 zur Triebfeder, wenn es in seiner Wirkung am Willen betrachtet wird. Weil die Triebfeder nicht aus einem anderen Vermögen zu deduzieren ist, macht es keinen Sinn, weitere Gedanken auf ihre Entstehung zu verwenden; es bleibt einzig, sie in ihrer Wirkung zu beschreiben. Dieser Wirkung angemessen ist ihr Name. Sie wird von Kant als Achtung bezeichnet, und das meint zweierlei. Zum einen verschafft sie dem Sittengesetz Einfluss auf den Willen, der dann, wenn die Achtung den Willen bestimmt, Ziele der Selbstliebe zurückstellt. Ihnen wird durch die Achtung des Sittengesetzes Abbruch verschafft, und dieser Abbruch wird als Schmerz bewusst.108 Denn der Abbruch aller subjektiven Neigungen drückt sich immer auch in Gefühlen aus, die der Klasse von Unlustbewusstsein zuzuordnen sind. Andererseits äußert sich Achtung auch positiv, indem sie das Subjekt das Gefühl der Selbstbilligung spüren lässt. Denn der Abbruch von subjektiven Neigungen 105

I. KANT: GMS, 449. Vgl. zur Entwicklung und zu den Schwierigkeiten, die die Theorie der Achtung bei sich führt im Einzelnen: D. HENRICH: Ethik der Autonomie, 28–42; M. WILLASCHEK: Praktische Vernunft, 183–186 und sehr umfassend: G. FUNKE: Achtung fürs moralische Gesetz. Kritisch äußert sich G. PATZIG: Principium, der meint, Kant (und in seinem Gefolge auch K.O. Apel) sei es nicht gelungen, plausibel zu machen, dass das Faktum des Gesetzes auch eine Art von Selbstbewegung mit sich führe. Wie der Begriff Achtung im Ausgang von Kant und vermittelt durch den deutschen Idealismus fruchtbar für die gegenwärtige Auffassung von Ethik gemacht werden kann, zeigt G.PFLEIDERER: Achtung als Grundbegriff neuzeitlicher Ethik. 107 Vgl. KANT: KpV, A 128. 108 Vgl. I. KANT: KpV, A 128–130 und 139f. 106

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bedeutet gleichzeitig auch die Erhebung über diese, indem man sich einem anderen, höheren Prinzip unterwirft. Das Bewusstsein der Erhebung, das bei Befolgung des Sittengesetzes eintritt, wird noch ausführlich zu diskutieren sein.109 Hier kann festgestellt werden: Das Gefühl der Achtung vor dem Sittengesetz ist ein Bewusstsein davon, dass das Sittengesetz auf beschriebene Weise wirkmächtig Einfluss auf den Willen nimmt. Kant hat sich mit seiner Theorie der Achtung die Möglichkeit verschafft, einen Willen anzunehmen, der tatsächlich durch ein rein vernünftiges Gesetz affiziert wird. Im besten Fall ist nämlich durch die Achtung allem anderen Einfluss auf den Willen derart Abbruch getan, dass er nicht nur durch das Sittengesetz affiziert, sondern auch normiert wird. So ist die Möglichkeit von Handlungen in der Sinnenwelt gegeben, die dem Sittengesetz folgen. Denn der Wille ist das Vermögen, bestimmte Gegenstände in der Wirklichkeit nach bestimmten Vorstellungen realisieren zu können. Ein sittengesetzlich normierter Wille gestaltet die Welt folglich nach dem Vernunftprinzip um. Das Gesetz soll „der Sinnenwelt, als einer sinnlichen Natur (was die vernünftigen Wesen betrifft) die Form einer Verstandeswelt, d.i. einer übersinnlichen Natur, verschaffen, ohne doch jener ihrem Mechanism Abbruch zu thun.“110 Da die intelligible Ursache nicht die einzige Ursache von Handlungen in der Sinnenwelt ist, sondern diese immer auch durch Naturursachen bewirkt sind, muss der zunächst befremdliche Satz gelten: Die sinnliche Handlung eines guten Willens hat zwei Ursachen gleichzeitig. Der gesunde Menschenverstand neigt an dieser Stelle zu der Frage, wie ein und dieselbe Handlung durch zwei ungleichartige und sich gegenseitig ausschließende Kausalitäten verursacht werden soll. Entweder eine Handlung geschieht aus Freiheit, also in Unabhängigkeit von Naturkausalität oder sie geschieht in völliger Abhängigkeit von ihr. Dass beides gleichzeitig gilt, scheint unmöglich zu sein. Und doch ist genau dies der Fall, unter der Annahme, von der oben bereits die Rede war: nämlich dass das noumenale Ding an sich den Grund der Sinnenwelt abgibt und Handlungskausalitäten, die dem Naturgesetz folgen, deshalb noch einen weiteren Grund im Sittengesetz haben. Dieser zweite Grund ist allerdings nicht anzuschauen, sondern allein denkbar. Eine Handlung kann dennoch durch beide Arten der Kausalität zugleich verursacht werden. Dies wird einsichtig, wenn die sinnliche Erscheinung der Handlung auf ihren übersinnlichen Grund hin befragt wird. Dieser kann im Fall einer freien Handlung in nichts anderem bestehen als in praktisch sich vollziehender Vernunft. Das Verhältnis der übernatürlichen Welt, in der das Sittengesetz seinen Ort hat, zur Sinnenwelt, die durch diesem Gesetz folgende Handlungen geformt wird, 109 110

Vgl. unten den Abschnitt 3.6. I. KANT: KpV, A 74 (Hervorhebungen im Original).

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beschreibt Kant wie folgt: „Man könnte jene die urbildliche (natura archetypa), die wir blos in der Vernunft erkennen, diese aber, weil sie die mögliche Wirkung der Idee der ersteren als Bestimmungsgrundes des Willens enthält, die nachgebildete (natura ectypa) nennen.“111 Man kann diese Aussagen so verstehen, als ließen sie sich ausschließlich auf den menschlichen Willen und einzelne durch ihn bewirkte sinnliche Handlungen beziehen. Dann hätten sie allein das Ziel, bestimmte sichtbare Handlungen als die Folge einer übersinnlichen Ursache verständlich zu machen. Es ist nicht abwegig, den Geltungsbereich derartiger Aussagen auszuweiten auf die Ordnung der Natur überhaupt, die nach der Idee Sittlichkeit umgeformt werden soll. Also muß dieses die Idee einer nicht empirisch=gegebenen und dennoch durch Freiheit möglichen, mithin übersinnlichen Natur sein, der wir, wenigstens in praktischer Beziehung, objektive Realität geben, weil wir sie als Objekt unseres Willens als reiner vernünftiger Wesen ansehen.112

Man ist damit erneut bei der Thematik des Zwecks des guten Willens angelangt. Lenkt man den Blick auf die durch einen guten Willen umgeformte Natur, ist nicht mehr unmittelbar das sich selbst zum Guten bestimmende Begehrungsvermögen im Fokus, sondern die Ordnung der Welt, die ein guter Wille, hätte er das Vermögen, sein gewolltes Objekt jederzeit und vollumfänglich durchzusetzen, zeitigen würde. Man kann den Versuch unternehmen, sich der Verfassung einer solchen Welt über die sogenannte Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs anzunähern. Sie lautet: „Handle so, daß Du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“113 Was aber ist damit eigentlich gemeint? Kant antwortet in der Grundlegung, indem er auf den Wert von Zwecken hinweist. Alles, was einen Wert hat, muss bezogen sein auf einen absoluten Wert als Referenz, von dem her sich sein Wert bemisst. Es müssen nun diejenigen Werte erfragt werden, denen sich alle anderen unterzuordnen haben. In der Metaphysik der Sitten gibt Kant eine Antwort, die sich zunächst spärlich aus111 I. KANT: KpV, A 75 (Hervorhebungen im Original). Es ist hier zu bemerken, dass dieses Verhältnis, in dem die praktische Vernunft als Noumenon den Grund für sinnliche Handlungen abgibt, nicht durch die Kritik getroffen wird, wie sie oben noch an dem Argumentationsgang des dritten Abschnitts der Grundlegung geübt worden ist. Denn dort hatte Kant versucht, die Realität von praktischer Vernunft aufzuweisen, indem er auf dieses Verhältnis von noumenaler und sinnlicher Welt hingewiesen hat. Hier aber ist die Realität von praktischer Vernunft als Faktizität schon vorausgesetzt. Und es geht nur noch um die Frage, ob es überhaupt möglich ist, ein Verhältnis zwischen beiden Welten zu denken. Die Antwort lautet: Es ist das von Grund und zu Begründetem. 112 I. KANT: KpV, A 76. 113 I. KANT: GMS, 429 (Hervorhebung im Original).

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nimmt, wenn er dort „[e]igene Vollkommenheit – fremde Glückseligkeit“114 nennt. Mit der Erwähnung von (fremder) Glückseligkeit neben moralischer Vollkommenheit ist aber schon indiziert, was auch die Dialektik der praktischen Vernunft als den Zweck eines moralischen Willens angibt: nämlich die Herstellung einer Welt, in der Sittlichkeit und Glückseligkeit für alle Menschen gleichermaßen realisiert sind. Dies ist nichts anderes als das Reich Gottes auf Erden.115 Damit ist der vollumfängliche Gegenstand in der Welt, den ein durch das Sittengesetz bestimmter Wille durchsetzen soll, zumindest umrissen. Es muss an dieser Stelle bei den Andeutungen bleiben.116 Das Sittengesetz hat aber bei Kant – und darauf kommt es hier an – auch die Funktion einer weltgestaltenden Rolle inne, weil es vermittelst der Achtung den Willen wirkmächtig zu bestimmen vermag. Sollte die Weltgestaltung des Menschen ihr Ziel, nämlich das Reich Gottes, (noch) nicht erreichen, so liegt das nicht an der strukturellen Unfähigkeit einer rein intelligiblen Idee, auf die Sinnenwelt einzuwirken. Jedenfalls hat sich Kant mit seiner Theorie der Achtung vor dem Sittengesetz um eine Brücke zwischen dem bloßen Bewusstsein des Gesetzes und dem Begehrungsvermögen des menschlichen Willens bemüht. Vielmehr lassen sich zwei Gründe anderer Art ausmachen, von denen her sich das Ausbleiben des Objekts eines durch das Sittengesetz normierten Willens erklärt. Der erste betrifft die begrenzte Macht des endlichen Willens. Die unabweisbare Erfahrung, nicht alles Gewollte gegen die Widerstände der Welt durchsetzen zu können, ist der Grund für das Postulat Gottes, wie Kant es in der Kritik der praktischen Vernunft entfaltet.117 Das Dasein Gottes als eines allmächtigen Wesens, so heißt es dort, sei notwendiges Postulat der praktischen Vernunft. Da es dem menschlichen Willen wegen seiner begrenzten Wirkmächtigkeit nicht möglich ist, die Welt insgesamt in eine Form zu bringen, die das Reich 114 I. KANT: MdS, 385 (Hervorhebungen im Original). Zur Debatte darum, wie die Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs im Einzelnen zu verstehen ist vgl. D. SCHÖNECKER: Kant: Grundlegung III, 44–58. 115 Es ist auffällig, dass die MdS nur fremde Glückseligkeit, die KpV allerdings auch die eigene im Blick hat. Der Reich-Gottes-Begriff unterliegt bei Kant einigen Wandlungen. Einen guten Überblick über die Entwicklung, die er bei Kant nimmt, bietet A. HABICHLER: Reich Gottes. Allerdings ist Habichler an einem Punkt zu widersprechen. Denn er behauptet, Kant habe sogar in der Grundlegung für den Begriff des Reiches der Zwecke schon den Glückseligkeitsaspekt mitbedacht. (A. HABICHLER: Reich Gottes, 117f). Darin widerspricht er M. SCHULZE: Die Idee des Reiches Gottes, 30, der wiederum meint, die Reich Gottes-Vorstellung der GMS komme ohne das Postulat Gottes aus. Mit dieser Feststellung hat Schulze zweifelsohne Recht. Denn die Erwähnung der Glückseligkeit in GMS 438f findet nur statt, um aufzuzeigen, dass ein Mensch als Glied des Reiches der Zwecke gerade nicht auf die Herstellung eigener Glückseligkeit rechnen kann. Erst die KpV kennt ein Reich Gottes, das Sittlichkeit und Glückseligkeit integriert und dessen Herstellung von Gott allein zu erwarten ist. 116 Ausführlicher wird die Vollendung der Welt zum Reich Gottes im 5. Kapitel zur Sprache kommen. 117 Vgl. grundsätzlich I. KANT: KpV, A 223–238.

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Gottes auf Erden darstellt, bedarf es der Annahme einer höheren, und zwar allmächtigen Einwirkung auf die Kausalitäten der Welt. Das Postulat eines allmächtigen göttlichen Willens, der allein das Vermögen hat, die Natur als Ganze tatsächlich in eine bestimmte Ordnung zu bringen, ist unumgänglich: „Also wird auch das Dasein einer von der Natur unterschiedenen Ursache der gesammten Natur, welche den Grund dieses Zusammenhanges, nämlich der genauen Übereinstimmung der Glückseligkeit mit der Sittlichkeit, enthalte, postuliert.“118 Das zweite mögliche Hindernis bei der Durchsetzung der praktischen Vernunft in der Welt betrifft nicht die Macht des menschlichen Willens, sondern seine Qualität. Es ist dabei nicht um das Hindernis zu tun, das in der Schwäche des endlichen Willens angesichts der Abläufe der Gesamtwirklichkeit der Welt besteht. Sondern es geht um die Wirklichkeit des Bösen, die den Willen erst gar nicht als einen solchen auftreten lässt, der das Reich Gottes auf Erden anstrebt, weil er im Fall der Bösartigkeit nicht durch die Achtung vor dem Sittengesetz normiert ist, obwohl dies prinzipiell möglich wäre. Damit steht man an der Schwelle zur Darstellung der kantschen Sündenlehre. Das nun Folgende muss Kants Behauptung, der menschliche Wille sei radikal ins Böse pervertiert, vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen zur Freiheit des Willens, verständlich machen. Damit ist die Aufgabe für das nächste Kapitel vorgezeichnet: Wie ist es möglich, die Theorie der Freiheit mit der Behauptung des unhintergehbar bösen Willens in Einklang zu bringen?

2.3 Das Böse als Sünde Um sich der Theorie von der Radikalität des Bösen anzunähern, wie sie bei Kant formuliert ist, soll zunächst ausdrücklich auf einen Sachverhalt aufmerksam gemacht werden, der in der bisherigen Thematisierung des Freiheitsbegriffs durchgehend implizit war: Kants Konzeption des Willens ist so verfasst, dass sich aus ihr die Bösartigkeit des Menschen überhaupt als Folge eines Willensaktes verständlich machen lässt. Das ergibt sich aus der Auffassung des menschlichen Willens als ein Begehrungsvermögen, das die Fähigkeit besitzt, sich selbst zu seiner moralischen Qualität zu verhalten. Das Auftreten von Bösem lässt sich nämlich innerhalb dieser selbstbezüglichen Struktur als die Folge des sich selbst böse wollenden Willens erklären. Es wäre nun allerdings zu explizieren, wie diese Selbstbestimmung zum Bösen im Einzelnen aussieht und vor allem wie es Kant möglich gewesen ist, 118

I. KANT: KpV, A 225 (Hervorhebung im Original).

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die Radikalität des Bösen für die menschliche Natur zu behaupten, womit die Erbsündenlehre der christlichen Tradition paradigmatisch im Rahmen der praktischen Vernunft entfaltet ist. 2.3.1 Das Böse als Verkehrtheit des Willens Soll der Begriff des Bösen einer Analyse unterzogen werden, ist es hilfreich, sich erneut dem Willen zuzuwenden, denn in Anlehnung an Kants berühmten Satz über das Gute119 lässt sich über das Böse wohl sagen, dass nichts in und außerhalb der Welt ohne Einschränkung für böse gehalten werden kann, als allein ein böser Wille. Will man verstehen, wie der Wille beschaffen sein muss, um böse genannt zu werden, muss man die beiden ihn bestimmenden Triebfedern ins Visier nehmen. Es sind dies die Triebfedern der Sinnlichkeit und der Achtung vor dem Sittengesetz. Beide sind unaufgebbar, weil der Mensch qua Naturanlage sowohl sinnliches als auch vernünftiges Wesen ist.120 Alle möglichen Triebfedern lassen sich reduzieren auf diese zwei Klassen von Antrieb. Folgt der Wille der Triebfeder des Sittengesetzes, handelt es sich um einen guten, folgt er dagegen der anderen Triebfeder, handelt es sich um einen bösen Willen. Nun ist darüber hinaus zu gewärtigen, dass beide Triebfedern zu jedem Zeitpunkt des Selbstvollzuges von menschlichen Wesen wirken. Es gibt keinen Zeitpunkt, der sich durch das Ausbleiben einer der beiden Triebfedern auszeichnete, denn sie gehören zu den natürlichen Anlagen des Menschen. Kant definiert: Unter Anlagen eines Wesens verstehen wir sowohl die Bestandstücke die dazu erforderlich sind, als auch die Formen ihrer Verbindung, um ein solches Wesen zu sein. Sie sind ursprünglich, wenn sie zu der Möglichkeit eines solchen Wesens nothwendig gehören.121

Um sich einen Überblick darüber zu verschaffen, welche moralrelevanten Anlagen Kant dem Menschen überhaupt zurechnet, lohnt es sich, seine differenzierte Beschreibung des Menschen in der Religionsschrift genauer anzusehen. Die natürlichen Anlagen des Menschen werden unter der Maßgabe ihrer Handlungsrelevanz genannt. Sie werden also daraufhin befragt, inwiefern sie geeignet sind, Einfluss auf die Bestimmung des menschlichen Willens zu haben.122 Zunächst fällt auf, dass Kant drei Naturanlagen des 119

Vgl. I. KANT: GMS, 393. Vgl. I. KANT: Rel., 36. 121 Vgl. I. KANT: Rel., 28 (Hervorhebung im Original). 122 Vgl. zur Moralrelevanz der Anlagen I. KANT: Rel., 28. Vgl. zur Nennung der Anlagen selbst: Rel., 26–28. 120

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Menschen nennt: Die Anlagen zur Tierheit, Menschheit und Persönlichkeit. Wäre jede Anlage des Menschen mit einem eigenen Antrieb auf den Willen ausgestattet, müsste es drei Klassen von Triebfedern geben. Das allerdings trifft nicht zu, und der Grund dafür wird sich sogleich erschließen. Zunächst wird die „Anlage für die Thierheit des Menschen als eines lebenden“123 genannt. Moralisch relevant ist sie insofern, als mit ihr der Trieb zur „physischen und bloß mechanischen Selbstliebe“124 gegeben ist, der wesentlich zur Selbst- und Arterhaltung dient.125 Die Anlage bedeutet als solche eine Triebfeder, die auf den Willen einwirkt, weil natürlicherweise jeder Mensch analog zu Tieren ein biologisch motiviertes Interesse am Überleben seiner selbst und seiner Gattung hat. Die Anlage „[f]ür die Menschheit“126 gründet zwar in der tierischen Instinktanlage, übersteigt diese aber auch. Über das Interesse an der physischen Erhaltung des Selbst und seiner Gattung hinaus ist hier die Vernunftbegabung des Menschen von wesentlicher Bedeutung. Denn sie ermöglicht das Erkennen von Ungleichheiten. Kant spricht ausdrücklich von der Fähigkeit, „sich […] in Vergleichung mit andern als glücklich oder unglücklich zu beurtheilen.“127 Aus dieser Vergleichsmöglichkeit entsteht ein Trieb eigener Art: nämlich der, sich über andere erheben zu wollen, um einer möglichen Benachteiligung des Selbst bei der Herstellung von Wohlbefinden vorzubeugen.128 Es wird noch davon zu reden sein, dass diese grundlegende Möglichkeit des Menschen, sein Glück mit anderen messen zu können, einen fruchtbaren Boden für das Böse in der Menschheit abgibt.129 Kants Beschreibung der Anlage zur Menschheit läuft auf einen Antrieb hinaus, der erst mit der Vernunft ermöglicht wird. Das zu Vergleichende ist die Glücksmenge, die wiederum abhängig von der Befriedigung der Bedürfnisse der Anlage zur Tierheit ist. Die Anlage zur Menschheit bedeutet eine Triebfeder, die jedem vernunftbegabten endlichen Wesen eignet und auf dessen Willen einwirkt. Sie ist folglich eine moralrelevante Anlage. Allerdings ist sie nicht wesentlich von der Anlage der Tierheit unterschieden, sondern bloß ein durch Vernunft potenziertes Vermögen der Selbstliebe, sich Einfluss auf den Willen zu verschaffen. Hier liegt der Grund für die oben genannte Erkenntnis, es gäbe drei aufeinander nicht reduzierbare Anlagen, aber nur zwei Triebfedern für den Menschen. 123

I. KANT: Rel., 26 (Hervorhebungen im Original). I. KANT: Rel., 26. 125 Die Funktionen der Anlage bestehen in der Selbsterhaltung, der Erhaltung der Gattung durch Fortpflanzung und soziales Verhalten. Vgl. I. KANT: Rel., 26. 126 I. KANT: Rel., 26. 127 I. KANT: Rel., 27. 128 Vgl. I. KANT: Rel., 27. 129 Vgl. dazu die Abschnitte 2.3.7. und 5.2.1. 124

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Schließlich ist drittens die „Anlage für die Persönlichkeit“130 von eigener Provenienz. Sie besteht, so drückt Kant sich zunächst etwas umständlich aus, „in der Empfänglichkeit der Achtung für das moralische Gesetz, als einer für sich hinreichenden Triebfeder der Willkür.“131 Auf den hervorgehobenen Nachsatz legt Kant offensichtlich besonderen Wert. Er bezeichnet das Sittengesetz erstens als einen motivationalen Faktor des Willens und hält zweitens seine keiner Ergänzung bedürftige Fähigkeit fest, dem Willen seine Norm zu geben. Sodann ist Kants Einordnung der Anlage zur Persönlichkeit neben die Anlage zur Menschheit bemerkenswert, denn beide sind an das Vernunftvermögen gebunden, werden aber nicht zu einer einzigen Anlage der Vernunft zusammengefasst. Die Sonderstellung der moralischen Anlage neben der anderen Anlage zur Vernunft (Anlage zur Menschheit) erklärt sich aus der oben schon gemachten Beobachtung, nach der das Sittengesetz und seine Triebfeder nicht aus der theoretischen Vernunft deduzierbar sind, sondern als Faktum unableitbar auftreten. Hatte die Tradition den Menschen üblicherweise dichotomisch verfasst beschrieben, indem sie ihm mit Animalität und Rationalität zwei Grundkräfte zugeschrieben hat, trägt Kant der Einsicht der Unableitbarkeit des Faktums Sittengesetz Rechnung und sieht für es eine eigene, dritte Anlage vor.132 Nun meint Kant allerdings gegen alle Erwartung nicht, die Faktizität von Sittengesetz und Achtung seien die Anlage zur Persönlichkeit: „Die Idee des moralischen Gesetzes allein mit der davon unzertrennlichen Achtung kann man nicht füglich eine Anlage für die Persönlichkeit nennen.“133 Sie sind, so Kant, vielmehr die Idee der Menschheit, weil in ihnen die Bestimmung des Menschen zum Ausdruck kommt: nämlich ein naturüberhoben freies, moralisch gutes Wesen zu sein. Unter dem Begriff der Anlage zur Persönlichkeit versteht Kant die Fähigkeit, sich die genannte Idee der Menschheit auch persönlich zu Eigen zu machen. Dazu ist es nötig, „daß wir die[se] Achtung zur Triebfeder in unsere Maximen aufzunehmen.“134 Dies wiederum ist nur möglich, indem „die freie Willkür es [das moralische Gefühl] in ihre Maxime aufnimmt“135, es sich 130

I. KANT: Rel., 27 (Hervorhebung im Original). I. KANT: Rel., 27 (Hervorhebungen im Original). 132 Dies ist, wie in Abschnitt 2.2.3 beschrieben, ein Ergebnis, zu dem Kant nach einem längeren Entwicklungsprozess kommt. Es finden sich bei ihm also auch Stellen, die wie die Tradition von insgesamt nur zwei Klassen von Anlagen ausgehen. Vgl. auch J. BOHATEC: Die Religionsphilosophie Kants, 225f sowie R. WIMMER: Religionsphilosophie, 108f. Vgl. aber für die Annahme einer Ausdifferenzierung zumindest der Funktionen der Vernunft in theoretische und praktische die eindeutige Aussage in: I. KANT: Rel., 26 Anm. 133 I. KANT: Rel., 27f (Hervorhebungen im Original). 134 I. KANT: Rel., 28. 135 I. KANT: Rel., 27. 131

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mithin zum bestimmenden Handlungsmotivator für das eigene Ich macht. Die Fähigkeit, das Sittengesetz zum bestimmenden Handlungsprinzip zu machen oder es als solches zu verwerfen, setzt einen wahlfreien Willen voraus. Und dieser selbst ist insofern die Anlage zur Persönlichkeit, denn er ist das Vermögen, an sich die Idee der Persönlichkeit zu realisieren.136 Diese Überlegung zur Anlage zur Persönlichkeit bestätigt die oben vorgenommene Deutung, nach der aus dem Sittengesetz auch die intelligible Fähigkeit der Wahlfreiheit ableitet werden kann. Nur unter dieser Voraussetzung kann die Realisierung der Persönlichkeit an sich selbst auch verworfen werden. Das Böse ist dann realisiert, wenn die Achtung als Triebfeder des Sittengesetzes nicht die normierende Motivation des Handelns ist. Ein böser Wille ist folglich trotz der Einwirkung der Achtung vor dem Sittengesetz böse. Dies ist nur möglich, wenn eine andere Triebfeder als die des Sittengesetzes in der Willensbestimmung den Vorzug erhält, obwohl jene weiterhin vorhanden ist. Als andere Triebfeder kommt einzig die Selbstliebe in Frage. Wenn zwei handlungsmotivierende Prinzipien auf den Willen einwirken, ist es nötig, eine Ordnung beider Prinzipien zu denken. Zwei Ordnungsverhältnisse sind logisch möglich, die Neben- und die Unterordnung. Eine Nebenordnung der Triebfedern der Achtung und der Sinnlichkeit ist im vorliegenden Fall ausgeschlossen, weil sonst zwei sich widersprechende Motivationsgründe gleichzeitig willensnormierend wären. Es bleibt als Ordnungsverhältnis das der Subordination der Triebfedern übrig, und Kant hat eben dieses in seiner Willenstheorie unterstellt.137 Gut ist danach ein solcher Mensch, dem es gelingt, die Antriebsform der Sinnlichkeit dem unbedingten Anspruch der Achtung vor dem Sittengesetz nachzuordnen. In diesem Fall ist das Sittengesetz vermöge der Achtung nicht nur handlungsmotivierendes, sondern auch normierendes Moment. Das Begehren der sinnlichen Triebfeder ist sodann nur befriedigt, wenn es beiläufig durch den guten Willen mitrealisiert wird – was im Normalfall allerdings nicht geschieht.

136 Der Begriff der Persönlichkeit wird im Übrigen bei Kant doppelt gebraucht. Zum einen meint er die Idee eines sittlich guten Wesens (die Idee der Menschheit ganz intellectuell betrachtet), also die Bestimmung des Menschen. Zum anderen meint er das Subjekt als wahlfreies Individuum, durch das die Idee realisiert werden soll. Nur so kann der Abschnitt in: Rel., 27f verstanden werden. Seine Breviloquenz hat schon J. BOHATEC: Die Religionsphilosophie Kants, 235 bemerkt. Bohatecs Deutung der Stelle mündet im Unverständnis für Kants schwierig zu verstehende Ausführungen (vgl. v.a. 239). Sie werden eben nur dann verständlich, wenn man sich im Klaren darüber ist, dass Persönlichkeit einerseits die Bestimmung des Menschen meinen kann, andererseits aber auch den wahlfreien Willen, der die Bestimmung realisieren soll. Auch R. WIMMER: Religionsphilosophie, 111, bemerkt den doppelten Gebrauch des Persönlichkeitsbegriffs nicht und kann die Stelle nur unvollständig erhellen. 137 Vgl. dazu I. KANT: Rel., 36.

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Dem entgegengesetzt ist ein Mensch dann moralisch böse, wenn das Prinzip der Selbstliebe zur Bedingung der Befolgung des Sittengesetzes wird. In diesem Fall ist die Achtung vor dem Gesetz dem Sinnenantrieb bei der Willensbestimmung derart subordiniert, dass das durch die Handlung realisierte Objekt allenfalls zufällig dem Objekt entspricht, das auch ein guter Wille angestrebt hätte. Die Handlung verdient in einem solchen Fall nicht gut, sondern bloß legal zu heißen.138 Die nähere Betrachtung der Anlagen und ihrer Triebfedern bestätigt, dass das Böse kein Fremdkörper in Kants Theorie der Moral ist, sondern in ihrem Rahmen sinnvoll erklärt werden kann. Das ist nicht immer so gesehen worden. Das Verständnis des Bösen im Rahmen von Kants Moralphilosophie bereitet dann Schwierigkeiten, wenn man die Freiheit des Willens nur dort realisiert sieht, wo sittengesetzlicher Vollzug vorliegt. Wenn nämlich nur ein guter Wille überhaupt ein freier Wille ist, kann es keinen freien bösen Willen geben. Sogar Carl Leonhard Reinhold, eigentlich ein zeitgenössischer Protagonist der kantischen Philosophie, hat in dieser Sache gemeint, Kant könne einen bösen Willen nicht erklären, denn: Sobald einmal angenommen ist, daß die Freiheit des reinen Wollens lediglich in der Selbsttätigkeit der praktischen Vernunft besteht, so muß man auch zugeben, daß das unreine Wollen, welches nicht durch praktische Vernunft bewirkt wird, keineswegs frei sei.139

Reinhold ist offensichtlich der Meinung, Kant gehe davon aus, nur ein guter Wille sei auch ein freier Wille. Der böse Wille wäre danach überhaupt nicht zurechenbar, weil er nicht auf einen Akt der Freiheit des handelnden Subjekts zurückgeht. Es wäre, folgte man der Lesart Reinholds, ein böser Wille im Rahmen der kantschen Ausführungen nicht sinnvoll verständlich zu machen. Seine Lesart ist begünstigt durch die oben140 beschriebene Zwiespältigkeit der kantschen Ausführungen zum Begriff der Freiheit. Wenn man Kant nämlich den zweiten Begriff der Freiheit im Sinne der Wahlfreiheit nicht zugesteht, hat man Schwierigkeiten, das Böse als Folge eines frei sich böse wollenden Willens zu begreifen, der für seine Bösartigkeit auch verantwortlich gemacht werden kann. Allerdings hat Kant ganz gegen Reinholds Einschätzung einen solchen Begriff der Freiheit spätestens seit der Religionsschrift – wahrscheinlich aber auch schon vorher – gekannt.141 138 Ist die Befolgung dessen, was das Sittengesetz vorgibt, trotz eines bösen Willens zufällig gegeben, heißt die Handlung legal. Ist sie dagegen notwendig, weil das Sittengesetz normgebendes Prinzip des Willens ist, heißt die Handlung moralisch gut. 139 C.L. REINHOLD: Briefe, Zweiter Bd., Achter Brief, 499 (Hervorhebungen im Original). 140 Vgl. Abschnitt 2.2.2 141 Es muss hier allerdings angemerkt werden, dass die zweite Kritik die Idee von Wahlfreiheit nur implizit mitführt. Diese Tatsache wiederum macht verständlich, dass C.L. REINHOLD sie bei

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2.3.2 Kants Reformulierung des Erbsündegedankens Ungleich stärker als an der Behauptung, ein zurechnungsfähiger Wille könne böse sein, hat man sich an Kants Lehre gestoßen, das Böse sei radikal, unvertilgbar und betreffe ausnahmslos das gesamte Menschengeschlecht. Das bedeutet in der Tat eine Ausweitung dessen, was sich aus den der Religionsschrift vorausliegenden Schriften unmittelbar hätte ablesen lassen. Zwar war auch in ihnen die Freiheitskonzeption Kants derart verfasst, dass sich aus ihr das Auftreten eines bösen Willens hätte erklären lassen können. Was aber mit der Religionsschrift auftauchte, war überraschend. Kant radikalisierte das Böse bis hin zu der Behauptung, der Mensch sei von Natur aus böse.142 Damit verbindet sich nicht nur der Gedanke von der totalen Vereinnahmung des Einzelnen durch das Böse, das „sich so früh, als sich nur immer der Gebrauch der Freiheit im Menschen äußert, wahrnehmen läßt“143, sondern auch der von der totalen Verderbnis der Menschheit als Ganzer.144 Weder dem Einzelnen noch der Menschheit als Gefüge von Handelnden wird das Potential zugesprochen, sich selbst aus der Umklammerung durch das Böse zu befreien. Eine derartige Reformulierung der christlichen Sündenlehre145 musste in einer Zeit, die ihre Loslösung von dogmatischer Hamartiologie als Befreiung erlebt hat und im Gegenzug optimistische Anthropologie durchsetzte, auf Unverständnis stoßen. Das Vorhaben der Neologie, des Menschen Freiheit zur Selbstvollendung in ihr Recht einzusetzen, erhielt durch Kants Auffassung des Bösen einen empfindlichen Dämpfer.146 Die durch Johann Joachim Spalding, Johann Gottlieb Töllner, Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem, Friedrich Nicolai, Johann Gottfried Herder, Johann Wolfgang Goethe u.a. vorangetriebene Emanzipation vom Ersündegedanken ist wohl dasjenige Moment, durch das die Neologie sich überhaupt auf einen Nenner bringen lässt.147 In jeder Hinsicht stellt sie sich gegen Augustin, von dem Karl Aner sagt, er sei „im Zeitalter der Neologie der meistgehaßte Mann“148 gewesen. Die Absage an die Lehre von der Erbsünde vollzieht sich mindestens auf Kant noch vermisst hat. Seine Briefe zum praktischen Teil der kantischen Philosophie sind 1792 und also vor dem Erscheinen der Religionsschrift (1793) Kants herausgegeben worden. 142 Vgl. nur die Überschrift in I. KANT: Rel., 32: „Der Mensch ist von Natur böse“. 143 I. KANT: Rel., 38. 144 Vgl. I. KANT: Rel., 32. 145 Vgl. zum Bezug des kantschen Begriffs vom Bösen auf Gen 3: J. RINGLEBEN: Die Dialektik von Freiheit und Sünde, 155–157. 146 Vgl. zur Neologie und ihrem Sündenverständnis den sehr guten Überblick bei E. HIRSCH: Geschichte IV, daneben J. ROHLS: Protestantische Theologie der Neuzeit I, 199–225. Neuerdings hat A. SCHUBERT: Das Ende der Sünde, die These vertreten, die Transformation des Erbsündebegriffs habe ihren Anfang nicht erst in der Aufklärung, sondern schon in der Orthodoxie gehabt. 147 So das Urteil bei K. ANER: Theologie der Lessingzeit, 163. 148 K. ANER: Theologie der Lessingzeit, 162.

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zwei Ebenen. Deren erste betrifft die Frage der Vererbung der Sünde, die die Neologie strikt verneint. Sünde – so die Vorstellung – geht im je Einzelnen auf eine Schwäche der Vernunftanlage zurück, die sich nicht gegen die Sinnlichkeit durchsetzt. Die zweite Ebene betrifft die Möglichkeit der Überwindbarkeit der Sünde. An dieser Stelle hat sich die Neologie dazu bekannt, dass des Menschen wahre Würde und Größe durch die Sünde nicht tangiert ist. Sich seiner unverdorbenen Anlagen zu besinnen und sie zu bilden, gilt als die vornehmste Aufgabe des Menschen. Überhaupt ist die Zeit durch den Gedanken geprägt, Tugendbildung sei der Weg aus dem Bösen. Das Urteil, der Mensch sei von sich aus zum Guten befähigt, wird auch durch Berufung auf schöpfungstheologische Gründe gestützt. Wer die Erbsündenlehre im Sinne Augustins wiederholt, muss Gott unterstellen, er habe sein Schöpfungswerk nicht gut getan. So lässt Nicolai seinen Sebaldus Nothanker gegen alle Bedenken seines frommen Unterredners ein Bekenntnis zu den guten Anlagen des Menschen ablegen: Wir besitzen Kräfte zum Guten. Wer dieß läugnen wollte, würde Gottes Schöpfung schänden, der uns so viele Vollkommenheiten gegeben hat. Ohne den Einfluß einer übernatürlich wirkenden Gnade zu erwarten, können wir Tugenden und edle Thaten ausüben. Oder sind etwa Wohlwollen, Menschenliebe, Freundschaft, Großmuth, Mitleiden, Dankbarkeit nicht Tugenden?149

Kants Beschreibung des radikal bösen Menschen scheint nicht zur Anthropologie des ausgehenden 18. Jh. zu passen. Herder hat sein Befremden ausdrücklich festgehalten: Von frühen Jahren habe ich mich auch in die fremdesten Hypothesen zu setzen gesucht, und ich kam fast von allen mit dem Gewinn einer neuen Seite der Wahrheit oder ihrer Bestärkung zurück; darf ich aber bekennen, daß ich der Hypothese von einer radicalen bösen Grundkraft im menschlichen Gemüth und Willen durchaus nichts Gutes abgewinnen kann.150

Er vermochte im Theorem des radikalen Bösen, wie Kant es in der Religionsschrift formulierte, nichts anderes zu sehen als einen Rückschritt hinter Linien, die man der orthodoxen Anthropologie abgenötigt hatte. Für ihn ist das Böse nicht Art und Natur, sondern vielmehr bloß eine „Unart unseres Geschlechts“151, die sich durch ihre Überwindbarkeit auszeichnet.152 In der 149

F. NICOLAI: Sebaldus Nothanker, Viertes Buch, 163. J.G. HERDER: Briefe zur Beförderung der Humanität, 123. Brief, 746 (Hervorhebungen im Original). 151 J.G. HERDER: Humanität, 123. Brief, 747 (Hervorhebung im Original). 152 Vgl. dazu den gesamten 123. Brief HERDERs: Humanität, 746–751. Im Übrigen meinte Herder aus derselben Motivation heraus, Kant habe die Intention der heiligen Schrift gründlich missverstanden, wo er die Konstruktion des radikalen Bösen seiner Religionsphilosophie in ihr repräsentiert sah. Vgl. dazu: J.G. HERDER: Von Religion, Lehrmeinungen und Gebräuchen, 810– 815. 150

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Bildung des Guten und der Abstreifung des Bösen lag für ihn die Bestimmung und der Zweck des Menschengeschlechts153, so dass ihm die schlechthinnige Verneinung eines guten Vermögens ein Gräuel war. Kant steht selbstverständlich nicht in jeder Hinsicht konträr zu seiner Zeit. Auch ihm ist der Mensch von unvergleichlichem Wert. Die ihm eigentümliche Würde eignet dem Menschen auf Grund seiner praktischen Fähigkeiten, deren Anlagen auch im Status der Sünde nicht verloren gehen. Ebenso wie die Neologie hat Kant die Vorstellung von der Vererbung des Bösen und der Schuld abgelehnt. Derartige Vorstellungen der christlichen Tradition sind ihm zwar nicht gänzlich unbrauchbar; sie dienen vielmehr zur symbolischen Veranschaulichung der Selbstfortpflanzung der Sünde im Subjekt, wenn sie dort erst einmal Platz genommen hat. Aber die Annahme, die Sünde und ihre Schuld seien tatsächlich vererbt, ist auch Kant absurd erschienen, weil sich so weder Sünde noch Schuld imputieren lassen. Schuld ist ihm persönliche Schuld, deren Zurechenbarkeit auch die persönlich zu verantwortende Übertretung voraussetzt. Der Sündenfall findet nicht in Adam statt, sondern in jedem Subjekt aufs Neue. Was Kant nun aber von seinen Zeitgenossen unterscheidet, ist seine Behauptung, das Böse sei trotz der Anlagen zum Guten von einer Radikalität, die es schlicht unüberwindbar macht. Der Optimismus seiner Zeit hat ihm gefehlt. Hatte diese die Natur des Menschen als gut begriffen, so hat Kant dazu einen bewussten Kontrapunkt gesetzt. Man sah infolge dieser Differenz in Kant einen Verräter der eigenen Sache. Goethe hat in einem Brief an Herder gemeint, Kant habe „seinen philosophischen Mantel, nachdem er ein langes Menschenleben gebraucht hat, ihn von mancherlei sudelhaften Vorurteilen zu reinigen, freventlich mit dem Schandfleck des radikalen Bösen beschlabbert, damit doch auch Christen herbeigelockt werden, den Saum zu küssen.“154 Es ist unwahrscheinlich, dass Kant sich solchen Anwürfen ausgesetzt hat, ohne bewusst für die Reformulierung des Erbsündegedankens eingetreten zu sein. Er muss Gründe für seine Behauptung gehabt haben, die Sünde sei radikal und allgemein. Erst, wenn diese Gründe offen gelegt sind, wird man verstehen, mit welchem Recht Kant glaubte, von der bösen Natur des Menschen sprechen zu können. Es ist also nach den Geltungsgründen für seine starken Aussagen zu suchen. Die bisherige Darstellung hat zwar die Möglichkeit des bösen Willens erklären können, aber noch nicht deutlich gemacht, mit 153

Vgl. J.G. HERDER: Humanität, 123. Brief, 748. J.W. GOETHE: Brief an J.G. und Caroline Herder vom 7. Juni 1793, in: Werke, IV. Abtheilung, 10. Bd., 75. Vgl. zur Wahrnehmung der Rede vom radikalen Bösen bei Schiller und Herder auch: H.-O. KVIST: Das radikale Böse, 249–251. Vgl. zur Einbettung des Bösen in das Gute und zur damit gegebenen Ablehnung eines radikal Bösen bei Goethe: K. JASPERS: Goethes Menschlichkeit. 154

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welchen Gründen Kant das Böse in der beschriebenen Weise radikalisiert und universalisiert. 2.3.3 Die Funktion von Maximen Kants Lehre vom radikalen Bösen wird man sich am geeignetsten von einer Analyse seines Verständnisses eines Handlungscharakters her erschließen. Der Begriff des Handlungscharakters meint die Fähigkeit, in ähnlich gelagerten Situationen einem angeeigneten Muster entsprechend verfahren zu können, wozu man sich praktische Grundsätze aneignen muss. „Praktische Grundsätze sind Sätze, welche eine allgemeine Bestimmung des Willens enthalten, die mehrere praktische Regeln unter sich hat.“155 Maximen sind solche Handlungsgrundsätze, die sich ein Subjekt allein für sich angeeignet hat. Eine Maxime, so definiert Kant, „ist das subjektive Prinzip des Wollens.“156 Damit ist zunächst nichts anderes als ein Grundprinzip des Handelns im Blick, das für das Subjekt unabhängig von der je einzelnen Situation in Geltung ist und sodann auf diese angewendet wird: „Z.B. es kann sich jemand zur Maxime machen, keine Beleidigung ungerächt zu erdulden.“157 Diese Maxime ist böse, weil ihr Handlungsgrundsatz sich nicht verallgemeinern lässt. Nur dann, wenn die Handlungsgrundsätze des Handelnden überindividuelle Gültigkeit beanspruchen könnten, also „seine Maximen als praktische allgemeine Gesetze“158 taugten, hätte er einen guten Handlungscharakter. Das entscheidende Kriterium der Güte einer Handlungsmaxime ist folglich, ob sie sich der Form des Sittengesetzes fügt oder nicht: Also kann ein vernünftiges Wesen sich seine subjektiv=praktische Principien, d.i. Maximen entweder gar nicht zugleich als allgemeine Gesetze denken, oder es muß annehmen, daß die bloße Form derselben, nach der jene sich zur allgemeinen Gesetzgebung schicken, sie für sich allein zum praktischen Gesetze mache.159

Durch den Begriff der Maxime lässt sich erklären, wieso Menschen in der unübersichtlichen Vielzahl von Situationen, in denen sie stehen, ihrem Willen dennoch eine Grundrichtung vorgeben und wiederholt einem ähnlichen Handlungsmuster folgen. Kant kann auf diese Weise plausibilisieren, wie die Komplexität der Situationen, in denen ein Subjekt stehen kann, handelnd bewältigt zu werden vermag. Das Subjekt prüft in der Regel 155

I. KANT: KpV, A 35 (Hervorhebung im Original). I. KANT: GMS, 400 Anm. (Hervorhebung im Original.) Vgl. auch I. KANT: KpV, A §1. 157 I. KANT: KpV, A 36. 158 I. KANT: KpV, A 48. 159 I. KANT: KpV, A 49 (Hervorhebungen im Original). 156

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nicht jede Situation aufs Neue bis in alle Einzelheiten, um ihr handelnd begegnen zu können, sondern es folgt zuvor eingeübten Prinzipien. Man kann die Bedeutung dieser Feststellung kaum überschätzen, wenn man sich klar machen will, wie es Kant möglich ist, die Erbsündenlehre auch dahingehend aufzugreifen, dass das Böse sich ungebrochen und unüberwindbar im Menschen durch die Zeit fortsetzt. Denn wenn die Prinzipien des Handelns, nach denen sich der Wille in jeder in der Zeit auftretenden Situation richtet, verdorben sind, so wird jede ihnen folgende Handlung ebenso verdorben sein. Es lässt sich im Sinne Kants nun ohne Einschränkung behaupten, ein Subjekt besitze entweder einen guten Handlungscharakter oder einen bösen. Der Satz ist in doppelter Weise apodiktisch. Zum einen lässt er keinen Widerspruch gegen die einfache Alternative zu, eine Maxime sei gut oder böse. Nie lässt sie sich durch etwas Drittes angemessen prädizieren, denn es gibt in Sachen Moralität keine neutrale Bewertung eines Willens oder einer Maxime. Zum anderen wird mit dem Begriff des radikalen Bösen für den natürlichen Menschen behauptet, er habe im Ganzen einen verderbten Handlungscharakter. Der Mensch wird nicht als in einigen Handlungsfeldern böse, in anderen gut, taxiert, sondern er ist durch und durch böse – Kant lässt keinen guten Teil an ihm. Beides bedarf der Erklärung. Um mit der ersten Kompromisslosigkeit anzufangen: Kant konnte sich selbst als ethischen Rigoristen160 bezeichnen, womit seine Überzeugung zum Ausdruck gebracht ist, eine Handlung oder Maxime sei alternativlos „entweder sittlich gut oder sittlich böse“161, denn es „liegt der Sittenlehre überhaupt viel daran, keine moralische Mitteldinge weder in Handlungen […] noch in menschlichen Charakteren, so lange es möglich ist, einzuräumen.“162 Sein Rigorismus erklärt sich aus der bloß zweifachen Möglichkeit des Willens oder der Maxime, entweder dem Sittengesetz gemäss zu sein oder dem Streben nach Glück zu folgen. Es gibt keine dritte Möglichkeit, nach der sich ein menschlicher Wille oder seine Maxime richten könnte. Daraus ergibt sich aber auch die bloß einfache Alternative von Bösartigkeit oder Bonität der Maxime oder des Willens. Zwischenformen oder die Annahme, ein Wille oder eine Maxime könne auch keines von beidem sein, sind ausgeschlossen. Jeder Wille, der dem Moralgesetz folgt, ist gut, alles andere ist vom Bösen. Um die zweite Apodiktizität erklären zu können, muss größerer Aufwand betrieben werden. Sie bestand in der Behauptung, der Mensch sei

160

I. KANT: Rel., 22–25. I. KANT: Rel., 22 (Hervorhebungen im Original). 162 I. KANT: Rel., 22. 161

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nicht nur in einigen Maximen böse, sondern so grundsätzlich verderbt, dass sich an ihm kein einziges Handlungsmuster finden ließe, das gut wäre. 2.3.4 Der Mensch ist radikal böse Kants Maximentheorie muss als Ausdruck seiner Transzendentalphilosophie begriffen werden. Fragt diese im weitesten Sinne nach Bedingungen der Möglichkeit von etwas, so bedeutet das übertragen auf das Verhältnis von Handlung und Maxime Folgendes: Ein sinnlich sich äußernder Handlungscharakter ist in seiner Qualität nur durch die ihr transzendental vorausliegende Maxime zu erklären, die in derselben Qualität steht. Maximen sind nicht anschaulich, sondern Transzendentalien, die ihre Funktion darin haben, die Qualität von Handlungen in der Welt explikabel zu machen. Kant meint: „Maximen kann man nicht beobachten, sogar nicht allemal in sich selbst.“163 Und doch lässt sich die Maxime in ihrer Qualität aus sinnlichen Handlungen erschließen. Der Sünder, so Kant, kann „aus einer einzigen mit Bewußtsein bösen Handlung a priori auf eine böse zum Grunde liegende Maxime“164 schließen. Wenn eine Handlung mit Bewusstsein, also unter Vorsatz, böse ausgeführt wird, so ist auszuschließen, dass sich die sinnliche Handlung nur zufällig wie eine böse Handlung ausnimmt. Es ist jemandem in einem solchen Fall vielmehr mit Sicherheit möglich, seine eigene Handlung als böse zu bezeichnen. Wenn die so als böse bestimmte Handlung zugleich den Charakter für ähnlich gelagerte Handlungssituationen repräsentiert, lässt sich auch die transzendental vorausliegende Maxime moralisch taxieren. Sie ist ebenfalls böse. Damit ist allerdings erst ein Teil davon erklärt, wie Kant sich die transzendentale Maximenstruktur denkt. Es ist nun möglich, weiter zurück zu fragen nach dem Grund der bösen Maxime. Und dieser besteht wiederum in einer der Maxime vorausliegenden Maxime. Im Zuge eines Induktionsverfahrens lässt sich „auf einen in dem Subjekt allgemein liegenden Grund aller besondern moralisch=bösen Maximen, der selbst wiederum Maxime ist, schließen.“165 Kant denkt an ein pyramidisch aufgebautes System von Maximen, durch das sich die Qualität der einzelnen Maximen erklären lässt, indem in einem Rückschlussverfahren auf die vorausliegende, höherstufige Maxime verwiesen wird. Das System mündet in dem Abschlussgedanken 163

I. KANT: Rel., 20. Kant führt seinen eigenen Gedanken an dieser Stelle um einer anderen Problematik willen ein – nämlich um zu klären, wie sich überhaupt von einem bösen Menschen reden läßt, wenn doch eine sinnliche Handlung als solche dafür keinen Nachweis bieten kann. Denn böse ist allein ein böser Wille oder eine böse Maxime. 164 I. KANT: Rel., 20 (Hervorhebung durch A.H.). 165 I. KANT: Rel., 20.

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einer letzten, alle anderen in ihrer Qualität bestimmenden Maxime, der Metaoder Urmaxime. Ein derart systematisierter Maximenaufbau hat Konsequenzen, die unübersehbar die christliche Erbsündenlehre in ihrer Intention stützen. Denn wenn nur eine einzige Maxime eines Menschen verdorben ist, so wird sich nach dem beschriebenen Verfahren transzendentalen Denkens sagen lassen, dass ausnahmslos alle Maximen an demselben Menschen ebenso verdorben sind. Zur Erklärung der Bösartigkeit einer Maxime muss deren Qualität auf ihren letzten Grund zurückgeführt werden. Dieser besteht in einer bösen Metamaxime. Ist aber die Metamaxime verderbt, müssen alle anderen Maximen auch verderbt sein, denn jene ist der Letztgrund für die Qualität aller im Subjekt anzutreffenden Handlungsprinzipien. Dieser Schluss von der Qualität der Metamaxime auf die des gesamten Maximengefüges ist deduktiver Art. Kant erschließt durch eine Kombination aus Induktions- und Deduktionsverfahren aus einer einzelnen, mit Bewusstsein bösen Handlung die allgemeine Gültigkeit des Bösen für alle Maximen und Handlungen. Der Sünder ist ihm von der Wurzelmaxime her Sünder, und Kant konnte entsprechend meinen: „Dieses Böse ist radical, weil es den Grund aller Maximen verdirbt; zugleich auch als natürlicher Hang durch menschliche Kräfte nicht zu vertilgen.“166 Die Erlösung von dem Bösen ist demnach nicht vom Menschen selbst zu erwarten. Selbsterlösung stellt vielmehr eine aberwitzige Idee dar, weil sie „nur durch gute Maximen geschehen könnte, welches, wenn der oberste subjective Grund aller Maximen als verderbt vorausgesetzt wird, nicht statt finden kann.“167 Kants Maximenlehre ist die Basis für einen Vergleich seiner Anthropologie mit der der Reformatoren. Letztere waren darum bemüht, die Sünde als grundsätzliche Verkehrtheit des menschlichen Gottesverhältnisses zu fassen, in der es schlechterdings keinen Raum für einen freien Willen zur Selbstbesserung gibt. Wenn die Apologie der Konfession darauf insistiert, dass die Sünde sich durch Lust an ihrem eigenen Zustand auszeichnet168, dann ist damit genau das angezeigt, was später auch Kant im Sinn hatte. Die Verkehrtheit ist nicht zu beheben, weil sie sich lustvoll selbst erhalten will und sich auch selbst erhält. Es gibt keine Freiheit, durch die sich der Mensch über 166

I. KANT: Rel., 37 (Hervorhebungen im Original). I. KANT: Rel., 37. Es sei hier zumindest schon angezeigt, dass der Nachsatz des gebotenen Zitats aber darauf insistiert, es müsse trotz der Radikalität des Bösen möglich sein, dass das Gute sich durchsetzt, weil der oberste Grund des Bösen „in dem Menschen als frei handelndem Wesen angetroffen wird.“ Erneut wird also behauptet, der Mensch sei zugleich frei und unfrei zur Besserung. Diese vermeintliche Widersprüchlichkeit wird sich unten aufklären lassen unter Rückgriff auf die Differenz des empirischen zum intelligiblen Menschen. 168 Vgl. APOL II in: BSLK, besonders 152–157. 167

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seine eigene Verderbnis überheben könnte. Damit ist kein totaler Determinismus für den Menschen ausgesagt, denn er ist nicht in jeder Beziehung unfrei. Ihm bleibt eine technische Freiheit, die allerdings bloße MittelZweck-Beziehungen betrifft. So weiß auch die Confessio Augustana, dass „der Mensch etlichermaß einen freien Willen hat“169, worunter man sich eine Freiheit vorzustellen hat, die die Umsetzung von selbstgesetzten Absichten im Weltverhältnis meint. Durch seine Vernunft ist der Mensch über die bloße Natur erhoben, kann sich Zwecke wählen und diese auch erreichen.170 Kant hat dieses Vermögen unter dem Namen des hypothetischen Imperativs bedacht, der Anleitung zu Handlungen gibt, die eine bestimmte Absicht verfolgen. Sowohl in der Wahl der Absicht als auch bei ihrer Realisierung kann der Mensch entscheiden. Dieser Sachverhalt ändert allerdings nichts daran, dass für die Reformatoren und auch für den Kant der Religionsschrift die Gesinnung, in der solche Absichten gesetzt und verfolgt werden, verkehrt ist. Von den Reformatoren wird das zum Ausdruck gebracht, indem sie dem Sünder ein prinzipiell gestörtes Gottesverhältnis attestieren. Die Freiheit des Sünders reicht allenfalls dazu hin, „äußerlich ehrbar zu leben“171, Gott wohlgefällig ist er dadurch noch nicht. Für Kant gilt strukturanalog, dass der radikal Böse nur solche Absichten verfolgt, die nicht verallgemeinerbar sind, weil es sich um bloß subjektive Ziele handelt. Der Mensch hat ein verkehrtes Verhältnis zum kategorischen Imperativ, ihm gelingt allenfalls ein Leben in Legalität, das wohl den Sitten entsprechen mag, aber deshalb noch nicht sittlich gut genannt zu werden verdient. 2.3.5 Die Unhintergehbarkeit der Erbsünde und das Problem der Verantwortung Die Entfaltung einer Maximentheorie in Kombination mit dem beschriebenen Verfahren der Induktion und Deduktion hat Kant dazu gebracht, den Menschen radikal böse zu nennen. Auf die Nähe seiner Theorie zur christli169 CA II in: BSLK, 73. Vgl. zur Verhältnisbestimmung von Freiheit und Unfreiheit in der reformatorischen Theologie C. STANGE: Die reformatorische Lehre von der Freiheit des Handelns. 170 Ganz in diesem Sinne kann sich auch Luther äußern, der meint, dass auch „der Mensch, der in Gottlosigkeit versenkt ist und dem Teufel dient, dennoch einen Willen hat, Vernunft, freies Urteilsvermögen, daß er Macht hat, Häuser zu bauen, Ämter zu führen, Schiffe zu steuern, und die anderen Werke zu vollbringen, die dem Menschen […] zugewiesen sind.“ Das Zitat findet sich bei M. LUTHER in: Galaterbrief-Auslegung 1531, 115, die hier nach der von H. KLEINKNECHT besorgten Ausgabe zitiert wird. (WA 40/I, 293, 29–33: „Quod homo in impietate mersus et servus diaboli habet voluntatem, rationem, liberum arbitrium et potestatem aedificandi domum, gerendi magistratum, gubernandi navem, et faciendi alia officia quae homini sunt subiecta […]“). 171 CA II in: BSLK: 73.

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chen, insbesondere reformatorischen Anthropologie ist hingewiesen worden. Allerdings hat Kant bei der Ausformulierung seiner Sündenlehre nie des Menschen Veranlagung zum Guten aus dem Blick verloren. Diese Anlage jeweils mitzubedenken, liegt in der Konsequenz des Faktums Sittengesetz, das sich jedem Menschen unhintergehbar aufdrängt. Es ist eine menschliche Grunderfahrung durch das Sittengesetz zu gutem Handeln aufgefordert zu sein. Kant hat diesem Gedanken Ausdruck gegeben, indem er die Vorstellung, das Böse beraube den Menschen seiner Möglichkeit zur Gottebenbildlichkeit, unmissverständlich verworfen hat: „Der Grund dieses Bösen kann […] nicht in einer Verderbnis der moralisch=gesetzgebenden Vernunft gesetzt werden: gleich als ob diese das Ansehen des Gesetzes selbst in sich vertilgen und die Verbindlichkeit aus demselben ableugnen könne.“172 Die Triebfeder Achtung kann nicht verloren gehen, denn sie ist wie die andere Triebfeder der Selbstliebe dem Menschen natürlich. Ein böser Wille ist demnach nicht deshalb böse, weil ihm die Triebfeder des Sittengesetzes fehlte. Unterstellte man der Vernunft sogar, sie habe ihr Wesen darin, sich von ihren eigenen moralischen Ansprüchen zu dispensieren, würde man das zugehörige „Subjekt zu einem teuflischen Wesen machen.“173 Das dabei vorausgesetzte hamartiologische Modell ist schon deshalb abzulehnen, weil es die Möglichkeit der Außerkraftsetzung des Sittengesetzes durch menschliche Instanzen voraussetzt. Gerade dies ist allerdings deshalb unmöglich, weil es sich bei der Forderung des Sittengesetzes um ein Faktum handelt, dessen Auftreten nicht im Belieben des Menschen liegt. Das Sittengesetz ist und bleibt immer in Geltung. Die oben explizierte doppelte Veranlagung zur Freiheit174 kann nicht total vernichtet werden kann. Beiden Varianten, die Freiheit und Sünde analytisch aneinander binden, wäre durch Kant eine Absage zu erteilen. Sowohl solchen Theorien, die im Sündenfall einen Glücksfall sehen, weil die mit ihm sich einstellende Freiheit den Ausbruch des Menschen aus der Knechtschaft des tierischen Daseins bedeutet.175 Aber auch der durch Søren Kierkegaard und Paul Tillich vertretenen anderen Variante hätte Kant nicht zugestimmt. Diese setzt ebenfalls den Sündenfall mit der Geburt der Freiheit gleich, wenn sie dieses Ereignis auch nicht mehr positiv konnotiert, sondern darin eher ein Schicksal erblickt, dem der Mensch definitiv nicht entrinnen kann.176 Wollte man Kant in die Nähe derartiger Anthropologie rücken, müsste man die 172

I. KANT: Rel., 35 (Hervorhebung im Original). I. KANT: Rel., 35 (Hervorhebung im Original). 174 Vgl. Abschnitt 2.2.2. 175 So konnten es etwa Schiller und Schelling sehen. Vgl. C. AXT-PISCALAR: Sünde, 412. 176 Vgl. zu Kierkegaards Sündenverständnis C. AXT-PISCALAR: Ohnmächtige Freiheit, 141– 173, und zu TILLICHs: Systematische Theologie II, 35–106. 173

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Rolle des wahlfreien Willens anders einschätzen, als es hier vorgeschlagen wird. Er wäre seiner Qualität nach sodann nicht neutral, sondern würde als wahlfreier Wille schon eine Form des Bösen abgeben. Plausibilisieren ließe sich diese Auffassung unter Rückgriff auf Kants limitatives Diktum, nur ein sittengesetzgemäßer Wille sei ein guter Wille; ein bloß neutraler Wille kann, folgt man dieser Deutung, mithin nicht gut genannt werden. Woher immer ein wahlfreier Wille seine Motivation für die Einnahme seiner Unentschiedenheit nimmt, er ist jedenfalls nicht durch die Achtung vor dem Sittengesetz normiert. Einem Willen, der nicht der Achtung vor dem Sittengesetz folgt, kann die Möglichkeit zur Selbstbestimmung zum Guten allerdings nicht zugetraut werden, denn das setzte seine Bonität schon voraus. Verfährt eine Deutung im genannten Sinne limitativ, ist die Indifferenz des Willens gleichbedeutend mit seiner Bösartigkeit, und diese Bösartigkeit wird sich mangels Achtung vor dem Sittengesetz innerhalb des Willens fortsetzen, sei es als neuerliche Indifferenz des Willens, sei es als die Entschiedenheit zur sinnlichen Triebfeder. Jeder Freiheitsvollzug wäre sodann per se böse, weil es auch für den noch unentschiedenen Willen keine Möglichkeit gäbe, sich zum Guten zu bestimmen. Hier wird Kants Theorie des freien Willens aus zwei Gründen anders eingeschätzt. Zum einen lässt sich der Appell des Sittengesetzes nur dann als sinnvoller Aufruf verständlich machen, wenn dem Willen zumindest das Bewusstsein der Möglichkeit gegeben ist, an sich selbst und durch sich selbst einen Wandel zum Guten zu vollziehen. Das setzt aber eine Position der Unentschiedenheit voraus, von der aus die Modifizierung des Selbst zur Bonität vorgenommen werden kann. Kants Betonung des Könnens, das dem Sollen folgt, wäre anders nicht verständlich zu machen. Zum anderen lässt sich nur dann, wenn es das Bewusstsein einer echten Möglichkeit zum Wandel gibt, das Subjekt verantwortlich für sein Handeln machen. Dass Kant in der Religionsschrift an der Verantwortlichkeit des Subjekts im besonderen Masse gelegen ist, kann aber nicht bezweifelt werden. Kant hat nach der hier vorgelegten Deutung also einen Weg eingeschlagen, der die Möglichkeit zur Gottebenbildlichkeit des Menschen offen lässt, weil ihm das Potential dazu nicht in jeder Hinsicht genommen ist. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kant dem natürlichen Menschen, wie er sich in der Welt vorfindet, die Möglichkeit der Selbsterlösung strikte abgesprochen hat. Wenn hier von einem Vermögen zur Besserung die Rede ist, meint dies zunächst nicht mehr als die Veranlagung zum Guten. Es ist damit noch nichts darüber gesagt, wie diese Anlage im Menschen aktualisiert wird. Dass die Erlösung von dem Bösen für den natürlichen Menschen nur durch religiösen Vollzug, der sich selbst verdankt weiß, zu erreichen ist, wird zu zeigen sein.

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In seiner Fassung der Sündenlehre hat Kant, um die bisherigen Ausführungen zusammenzufassen, ein doppeltes Interesse verfolgt. Zum einen war ihm an einem starken Sündenverständnis177 gelegen, das die radikale Bösartigkeit des Einzelnen plausibel werden lässt. Zum anderen wollte er die Möglichkeit von Erlösung und Heiligung wahren. Letzteres unterscheidet ihn von Sündenkonzeptionen, die den Menschen derart substantiell verderbt denken, dass jede Form der Überwindung des Bösen unweigerlich ausgeschlossen bleibt. So umgeht Kant die Probleme einer Auffassung von Sünde, wie sie paradigmatisch bei Flacius178 zu finden ist. Der Versuch, sowohl die Unhintergehbarkeit der Sünde als auch die prinzipielle Veranlagung zum Guten zum Ausdruck zu bringen, führt eine Besonderheit des moralischen Bewusstseins bei sich, die nicht unterschlagen werden darf. Die Radikalität des Bösen schließt die Möglichkeit zur Selbstbesserung, wie sie mit dem Sittengesetz bewusst ist, aus. Der Mensch wird bei Kant als ein Wesen begriffen, das einerseits gewiss ist, faktisch nicht der Besserung fähig zu sein, das sich andererseits selbst als frei zum Guten verstehen muss. Diese doppelte Selbstzuschreibung kann nicht übersprungen oder aufgelöst werden, sondern stellt eine Grunderfahrung des natürlichen Menschen dar. Er wird sich seiner selbst als in einer Spannung stehend bewusst, deren beide Pole jeweils eines seiner Wesenszüge beschreiben. Die konfligierende Selbstauffassung muss demnach durch den Nachweis der Vereinbarkeit beider sich scheinbar ausschließenden Wesensmerkmale erklärbar sein. Genau dies ist möglich, indem man sich an die in Abschnitt 2.2.2 besprochene Differenz im menschlichen Willen in Kombination mit der schon besprochenen Maximenlehre erinnert: Der menschliche Wille, wie er sich in Raum und Zeit äußert, ist unhintergehbar böse, denn er speist sich, schaut man ihn unter Zeitbedingungen an, aus einem zuvor schon bösen Willen. Transzendentaltheoretischen Ausdruck findet diese zeitgebundene Perspektive auf den Willen in Kants Maximenlehre, deren Konzeption die Iteration des bösen Willens durch die Zeit erklären kann. Denn die Maximentheorie impliziert wegen der Prinzipialität von Maximen das Bewusstsein von Unabänderlichkeit der eigenen moralischen Qualität durch die Zeit. Macht der Mensch an sich selbst ein verderbtes Maximengefüge aus, scheint ihm die Selbstmodifikation zum Guten unmöglich zu sein. Die auf diese Weise an sich selbst festgestellte Unhintergehbarkeit der Erbsünde wird theoretisch durch die Radikalität des Bösen an der Metamaxime zum Ausdruck gebracht. Allerdings darf der zweite Pol, durch den die Spannung im moralischen Selbstverständnis aufgebaut wird, nicht vernachlässigt werden. Es handelt 177 178

Vgl. zu dieser Einschätzung auch K. Jaspers: Das radikal Böse bei Kant, 92–99. Vgl. dazu L. HAIKOLA: Gesetz und Evangelium bei Flacius.

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sich um den ebenfalls in Abschnitt 2.2.2 besprochenen freien Willen, dessen Zugehörigkeit zur intelligiblen Sphäre des Selbst das Subjekt an sich die Aufforderung und Möglichkeit zur Selbstbesserung spüren lässt. Mit der Faktizität des Sittengesetzes stellt sich unhintergehbar das Bewusstsein ein, die Wahl zur Selbstbesserung zu haben. Die Erklärung der Spannung, in der sich das Subjekt bei moralischer Selbstbetrachtung vorfindet, bedeutet allerdings noch nicht ihre Auflösung. Vielmehr hat der hier vorgenommene Explikationsversuch zunächst nur die Funktion, die Vereinbarkeit scheinbar widersprüchlicher Aussagen Kants zur Sünde und Freiheit des Menschen zu gewährleisten. Dadurch ist aber mitnichten die Beseitigung der Antinomie gegeben, sondern vielmehr die Spannung als sinnvolle Selbstbeschreibung des moralischen Subjekts erklärbar geworden. Die Beseitigung der Spannung ist nur durch Versöhnung, Erlösung und einen unendlichen Heiligungsprozess möglich, wie sich noch zeigen wird. Die doppelte Selbsteinschätzung des Menschen, nach der er sich selbst einerseits unhintergehbar in das Böse verstrickt sieht, sich andererseits die Möglichkeit einräumen muss, eben dieses Böse zu überwinden, hat ihren Grund in einer zweifachen Perspektive auf sich selbst. Diejenige Perspektive, die den Willen unter Zeitbedingungen anschaut, lässt das Bewusstsein der Ausweglosigkeit aus dem Bösen aufsteigen. Faktisch hält der natürliche Mensch es für ausgeschlossen, dass er sich im Verlaufe seines zeitlichen Lebens zum Guten entschließt. Die andere Perspektive, die den Willen allen Zeitbedingungen enthoben sieht, führt vermittelst des Wahlfreiheitsbewusstseins zum Bewusstsein der Verantwortlichkeit für den eigenen moralischen Zustand. Der Grund für das Böse muss nach dieser Sichtweise in einem „Actus der Freiheit“179 des Subjekts liegen, „denn sonst könnte es ihm nicht zugerechnet werden.“180 Der Mensch findet sich dauerhaft in der beschriebenen antinomischen Spannung zwischen Sein und Sollen vor, die natürlicherweise auch keine Auflösung erfährt, sondern nur im Rechtfertigungsglauben angemessen bearbeitet werden kann.181 2.3.6 Das Böse als Faktum Wie ist es dazu gekommen, dass die alle Handlungen bestimmende Metamaxime in das Böse abgeglitten ist? Und wieso wird sie von dort offenbar nicht 179

I. KANT: Rel., 21. I. KANT: Rel., 44. Weitere Stellen, die in diesem Sinne argumentieren, finden sich in Rel. 21, 25, 51, 143 u.ö. 181 Vgl. dazu näher das Kapitel 4. 180

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mehr zum Guten gewendet? Derartiges Fragen sucht nach dem Grund oder der Ursache für das Böse. Kant unterscheidet grundsätzlich zwei Klassen von Handlungen: Die erste umgreift alle Handlungen, die als Handlungen sinnlich wahrnehmbar sind und folglich auf materiale Objekte gehen. Entscheidender als die Tatsache der Wahrnehmbarkeit ist aber, dass es sich um solche Handlungen handelt, mit denen der Wille sich nicht zu sich selbst verhält. Streng genommen fallen auch Handlungen darunter, die nichtmateriale, sondern geistige Objekte anstreben – auch wenn Kant dies nicht ausdrücklich sagt. Alle Handlungen dieser Art, ob sie nun sinnlich wahrnehmbar oder geistiger Natur sind, haben ihre Qualität von der Metamaxime her. Die zweite Klasse von Handlungen des Subjekts sind solche, durch die die Metamaxime selbst ihre Qualität erhält. Es handelt sich um diejenige Art von Tätigkeit, durch die das Subjekt sich selbst moralisch bestimmt. Die Handlung ist in diesem Fall nicht auf ein Objekt außerhalb der moralischen Anlage aus, sondern auf moralische Selbstqualifizierung. Sie liegt als intelligible allen phänomenalen (oder anderen geistigen) Handlungen voraus.182 Gemeint ist dabei die schon zur Sprache gekommene Handlung eines bei seinem Tun wahlfreien intelligiblen Willens. Kant kann diese Tat auch peccatum originarium nennen, weil sie moralischer Grund aller anderen (auch phänomenal) bösen Handlungen ist.183 Die traditionelle Vorstellung von der Vererbung der Sünde durch alle Zeit ist bei Kant in das Subjekt eingezogen. Ist es einmal in das Böse eingestellt, wird sich dieses Böse durch alle Handlungen in der Zeit fortsetzen. Sucht man nun weiter zurückfragend nach einer Ursache dafür, dass der Mensch sich durch diese selbstqualifizierende Tat eine böse Metamaxime gibt, so muss man sich zunächst bescheiden. Denn der Ursprung für die „Verstimmung unserer Willkür in Ansehung der Art, subordinirte Triebfedern zu oberst in ihre Maximen aufzunehmen“184, bleibt unerforschlich, weil ohne Anschauung keine Erkenntniserweiterung möglich ist. Die reine Faktizität des Bösen kann allein als solche akzeptiert werden, denn es ist für den Menschen „kein begreiflicher Grund da, woher das moralische Böse in uns zuerst gekommen sein könne.“185 Warum der Mensch sich seine Metamaxime verstimmt, kann nicht erklärt werden, und es bleibt einzig, den Menschen so anzusehen, als handelte es sich bei der Sünde um eine „Grundeigenschaft, die 182

Vgl. I. KANT: Rel., 31. I. KANT: Rel., 31. 184 I. KANT: Rel., 43. 185 I. KANT: Rel., 43. Vgl. auch Rel. 32, wo Kant in diesem Sinne feststellt, dass wir darüber „warum in uns das Böse gerade die oberste Maxime verderbt habe, obgleich dieses unsere eigene That ist, eben so wenig weiter eine Ursache angeben können, als von einer Grundeigenschaft, die zu unserer Natur gehört.“ 183

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zu unserer Natur gehört.“186 Die Faktizität des Bösen kann von der Vernunft folglich nur als solche akzeptiert werden. Damit ist die Suche nach der Herkunft des Bösen ebenso offen für religiöse Deutung, wie die weiter oben besprochene Erfahrung der Faktizität des Sittengesetzes. Eine religiöse Selbst- und Weltauffassung wird das ansonsten unerklärbar auftretende Böse auf Gottes Willen zurückführen. Analog zum Verfahren, die Faktizität des Sittengesetzes über einen Reflexionsgang, in dem letzte Gründe für sonst nicht weiter erklärbare Gegebenheiten aufgesucht werden, als Gottes Offenbarung verständlich zu machen, wird dabei auch das Böse Gott zugeschrieben. Denn auch die Faktizität des Bösen bietet wegen ihrer Unableitbarkeit Anlass zu einem Reflexionsverfahren, in dem letzte Gründe für es aufgesucht werden. Zwar wird ein derartiges Verständnis des Bösen von Kant selbst an keiner Stelle ausgesprochen, doch kann man sich diesem Schluss kaum entziehen. Wenn zur Erklärung von bösen Handlungen in einem Rückschlussverfahren eine böse Metamaxime ausgemacht worden ist, die ihren Grund in der Wahl des intelligiblen Willens hat, so liegen die Ursachen für diese Wahl des intelligiblen Willens nicht mehr im Einflussbereich des Subjekts selbst. Vielmehr sind die Ursachen, die den noumenalen Willen zur Wahl des Bösen treiben, im Ding an sich zu verorten, das weder eingesehen noch willentlich beeinflusst werden kann. Eine Deutung, die das Ursachengefüge im Ding an sich mit Gottes Willen gleichsetzt, geht über das hinaus, was bisher zum Auftreten des Bösen gesagt worden ist und im Rahmen der Vernunft objektiv gültig gesagt werden kann: Die Analyse des Bösen hat ergeben, dass das Böse als Faktum akzeptiert werden muss, da gilt: „[F]ür uns ist […] kein begreiflicher Grund da, woher das moralische Böse in uns zuerst gekommen sein könne.“187 Darüber hinaus kann nichts mehr mit Anspruch auf Objektivität gesagt werden, weil die Kausalitäten im Ding an sich unbekannt sind und bleiben. Eine Deutung des Bösen, nach der es durch Gott willentlich gewirkt ist, ist dem Subjekt dagegen allein im Rahmen einer religiösen Selbst- und Weltauffassung wahr, die Glauben heißt und nur subjektiv gültig ist, wie noch näher auszuführen sein wird. Bekanntlich hat Luther sich in De servo arbitrio ähnlich geäußert. Er hat das Böse ursächlich auf Gott zurückgeführt, der „Böses durch Böse wirkt.“188 Diese Wirkung des Bösen ist bei Luther eingebettet in einen Prozess allwirksamer gubernatio Gottes, der die Welt auch vermittelst des Bösen einem guten Ziel zuführt. Luther deutet das Auftreten des Bösen zwar als gottgewirkt; allerdings ist es nicht Selbstzweck, sondern Mittel oder Werkzeug zum Guten: „[D]enn er, der Gute, kann nicht böse handeln, und gebraucht den186

I. KANT: Rel., 32. I. KANT: Rel., 43. 188 M. LUTHER: De servo, MA, 141 (=WA 18, 709, 29: „mala per malos faciat“). 187

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noch Böse als Werkzeuge, welche seiner Macht, die sie mit sicht reißt und sie treibt, nicht entgehen können.“189 Die Möglichkeit unter dem Bösen dennoch Gottes Vorsehung zum Guten sehen zu können, ist nur dem Glaubenden gegeben, der Gottes Güte gegen den Augenschein zu glauben vermag. Der Glaubende nimmt Gottes Handeln, das sich auch des Bösen bedient, sub contrario als gut wahr. Böse ist allein das Werkzeug, dessen er sich zur Durchsetzung des Guten bedient. Der Gedanke einer allwirksamen gubernatio Gottes findet sich zweifelsohne auch bei Kant wieder. An dieser Stelle wird das zunächst bloß behauptet; erst der weitere Gang der Arbeit wird den Nachweis dafür führen können.190 Kants Konzeption von Gottes Lenkung der Welt muss dazu zweierlei leisten können. Erstens müsste es möglich sein, die Welt als Schöpfung zu verstehen, die durch Gott nicht nur begleitet, sondern in ihrem Fortgang durch ihn geleitet und bestimmt wird. Zweitens muss der Weltlauf als gut qualifiziert werden können, auch wenn in ihm Elemente auftreten, die diesem Urteil augenscheinlich zu widerstreiten scheinen. Es ist dazu ein Verständnis der Welt erforderlich, nach dem jedes Stadium der Welt- und Menschheitsgeschichte überholt wird zu Gunsten eines Ziels, das an sich selbst gut ist. Das Auftreten des Bösen wäre in diesem Fall zwar gottgewirkt, allerdings nicht letzter Zweck des göttlichen Willens, sondern Mittel, um die Welt ihrer Bestimmung zuzuführen. Es wird sich zeigen, dass derartige Einsichten der Wirklichkeit nur abgetrotzt werden können, wenn ein bestimmter Modus der Weltdeutung eingenommen wird. Denn dass die Welt durch Gottes Allmacht gelenkt auf das Reich Gottes zuläuft, indem allmählich das Böse überwunden wird, wird vom Menschen nur erschlossen, indem er auf ihren Zweck reflektiert. Das dabei eingesetzte Instrumentarium ist die reflektierende Urteilskraft.191 Für wahr gehalten wird derartige Welteinsicht wiederum nur in einem bestimmten Modus von Wirklichkeitsbewusstsein – nämlich im Glauben. Davon wird ausführlich erst im abschließenden Kapitel zu sprechen sein192. Hier kam es nur darauf an, die Strukturähnlichkeit von Kants und Luthers Gedanken des Letztgrundes des Bösen zu verdeutlichen.

189 M. LUTHER: De servo, MA, 141 (=WA 18, 709, 29–31: „[…] quia ipse bonus male facere non potest, malis tamen instrumentis utitur, quae raptum et motum potentiae suae non possunt evadere.“). 190 Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 5. 191 Vgl. dazu auch den Abschnitt 5.3.2.2 unten, der zeigt, dass sich nach Kant alle Begebenheiten des weltgeschichtlichen Verlaufs unter bestimmter Perspektive der Weltbetrachtung als Mittel zum Zweck des Reiches Gottes auffassen lassen. Dazu ist es nötig die Weltgeschichte vermittelst der reflektierenden Urteilskraft teleologisch anzuschauen. 192 Vgl. die Abschnitte 5.2 und 5.3.

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2.3.7 Die Universalität des Bösen Die Radikalität der Sünde betrifft, dies ist die Auffassung Kants, nicht nur Einzelne, sondern der Mensch ist von Natur böse, und das „heißt so viel als: dieses gilt von ihm in seiner Gattung betrachtet.“193 Wenn Kant sagt, es eigne dem Menschen von Natur aus ein Hang zum Bösen, so meint das erstens, dass es eine menschliche Prädisposition zur sittlichen Verfehlung gibt – also eine Neigung dazu, sich böse zu vollziehen.194 Zweitens, so Kant, kommt der Mensch seiner Neigung zum Bösen immer nach. Es lässt sich nachgerade sagen, der böse Charakter sei ihm angeboren.195 Den Menschen trifft folglich eine „angeborne Schuld (reatus), welche so genannt wird, weil sie sich so früh, als sich nur immer der Gebrauch der Freiheit im Menschen äußert, wahrnehmen läßt.“196 Kein Mensch ist von dieser Einschätzung auszunehmen. Die bisher zur Sprache gebrachte Diagnose des Bösen wird damit verschärft. Denn Kants Besinnung erschließt nun nicht mehr nur die Gründe für die Selbstiteration der Sünde in einem Einzelnen, sondern er reformuliert den Ersündegedanken auch hinsichtlich dessen Behauptung, das Böse sei universal und betreffe die gesamte Gattung Mensch zu jeder Zeit. Diese Einschätzung der Lage der Gesamtgattung gründet bezeichnenderweise nicht im Wesen des Menschen, denn seine Anlagen sind, wie gezeigt, Anlagen zum Guten. Die Bösartigkeit ist nicht Definitivum des Menschen, „denn alsdann wäre sie nothwendig.“197 Kants gesamtes Vorgehen bei der Entfaltung seiner Sündenlehre fußt auf Beobachtung. Von der Gattung lässt sich sagen, sie sei böse, weil der Mensch „wie man ihn durch Erfahrung kennt, nicht anders beurtheilt werden“198 kann. Um seine Behauptung von der Allgemeinheit der Sünde zu stützen, bietet Kant nicht eine Zergliederung der Struktur des menschlichen Moralvermögens, sondern verweist auf Phänomene: „Daß nun ein solcher verderbter Hang [zum Bösen, A.H.] im Menschen gewurzelt sein müsse, darüber können wir uns bei der Menge schreiender Beispiele, welche uns die Erfahrung an den Thaten der Menschen vor Augen stellt, den förmlichen Beweis ersparen.“199 Das Böse ist demnach insofern allgemein, als es ein empirisch allgemeines Merkmal vorstellt, bei dem von einer Vielzahl in der Erfahrung gegebenen

193

I. KANT: Rel., 32. Vgl. I. KANT: Rel., 28–32. 195 Vgl. I. KANT: Rel., 21. 196 I. KANT: Rel., 38 (Hervorhebung im Original). 197 I. KANT: Rel., 32. 198 I. KANT: Rel., 32. 199 I. KANT: Rel., 32f (Hervorhebung im Original). 194

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Freiheit und das Böse

Bösartigkeiten eine Allgemeinheit extrapoliert wird.200 Insofern und nur insofern kann auch von der Gattung Mensch gesagt werden, sie ist verderbt. Der Verweis auf Beispiele zur Stützung der These kann nicht strenge, aber immerhin empirische Allgemeinheit verbürgen. Kant begegnet zudem von vornherein zwei möglichen Einwänden gegen die Behauptung der Allgemeinheit des Bösen, die darauf zielen, die Aussagekraft von empirischer Beobachtung für die Feststellung von zeitüberschreitender Allgemeinheit in Frage zu stellen. Beide Einwände geben zwar zu, dass das Böse zur Jetztzeit das menschliche Geschlecht durchzieht, meinen aber diesen Jetztzustand in seiner Bedeutung relativieren zu können, indem sie ihn in den Rahmen einer Verfalls- oder Entwicklungsgeschichte stellen. Dann nämlich könnte man von natürlicher Gutartigkeit des Menschen ausgehen, die aber entweder wegen einer Verfallsgeschichte verloren gegangen201 oder wegen mangelnder Bildung noch nicht erreicht worden ist. Sowohl der einen als auch der anderen Auffassung widerspricht Kant wiederum unter Zuhilfenahme empirischen Materials. Es gibt danach offenbar keine alte moralisch gute Zeit menschlicher Kultur, die besser war als die Gegenwart: „Daß die Welt im Argen liege, ist eine Klage, die so alt ist, als die Geschichte, selbst als die noch ältere Dichtkunst, ja gleich alt mit der ältesten unter allen Dichtungen, der Priesterreligion.“202 Auch der optimistischen These, erst im gebildeten Zustand, also phylogenetisch mit fortschreitender Entwicklung des Menschengeschlechts, werde das Böse überwunden werden können und die Menschheit sich alles in allem auf einem Weg der moralischen Besserung befinden, tritt Kant mit Exempeln entgegen.203 Er kann in entwickelten Gesellschaften nichts finden als eine „lange melancholische Litanei von Anklagen der Menschheit […]: von geheimer Falschheit selbst bei der innigsten Freundschaft, […] von einem Hange, denjenigen zu hassen, dem man verbindlich ist.“204 Durchgehende Bösartigkeit, so die Quintessenz, kann in der Menschheit völlig unabhängig von ihrem kulturellen Entwicklungsstadium empirisch festgestellt werden. Weder die pessimistischen noch die optimistischen Urteile über die Menschheitsgeschichte, auf die Kant zu Beginn des Ersten Stücks der Religionsschrift anspielt205, sind zutreffend. Sie werden gleichermaßen phänomeno-

200 Vgl. I. KANT: KrV, B 4: „Die empirische Allgemeinheit ist also nur eine willkürliche Steigerung der Gültigkeit von der, welche in den meisten Fällen, zu der, die in allen gilt.“ 201 Vgl. dazu auch J. BOHATEC: Die Religionsphilosophie Kants, 268, und 165–175 sowie bei I. KANT auch schon die Ausführungen in: Rel., 19. 202 I. KANT: Rel., 19. 203 Vgl. dazu auch schon I. KANT: Rel., 19f, und zur Tradition, die Kant in diesem Sinne vorgelegen hat: J. BOHATEC, Die Religionsphilosophie Kants, 165–175. 204 I. KANT: Rel., 33. 205 I. KANT: Rel., 19f.

Das Böse als Sünde

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logisch diskreditiert. Der Mensch lässt sich in seinem Naturzustand zu allen Zeiten, so die Einschätzung Kants, ausnahmslos verderbt antreffen. Kant belässt es allerdings zur Stützung seiner Behauptung von der Universalität des Bösen nicht bei Beispielen. Er versucht sie darüber hinaus plausibel zu machen, indem er zeigt, dass der Mensch mit seinen Anlagen immer dann in der natürlichen Versuchung zur Sünde steht, wenn er sich unter anderen Menschen befindet. Der Mensch als Beziehungswesen ist der permanenten Gefahr zur Sünde ausgesetzt. Denn wenn er sich unter anderen Menschen befindet, bemerkt er vermittelst seiner mit der Anlage zur Menschheit gegebenen Vernunft Ungleichheiten in der Verteilung von Gütern (welcher Art auch immer). Diese Erkenntnis weckt in ihm natürlicherweise missgünstige Stimmungen: „Der Neid, die Herrschsucht, die Habsucht und die damit verbundenen feindseligen Neigungen bestürmen alsbald seine an sich genügsame Natur, wenn er unter Menschen ist.“206 Der Mensch sieht sich beständig einer Vielzahl von neidenden und selbstliebenden Antrieben ausgesetzt, die seinen Willen schon deshalb bedrängen, weil er ein soziales Wesen ist. Der solipsistisch Vereinzelte stünde gar nicht in der Gefahr, derartigen Triebfedern nachzugeben, weil sie nicht in ihm vorkommen würden: „Seine Bedürfnisse sind nur klein und sein Gemüthszustand in Besorgung derselben gemäßigt und ruhig. Er ist nur arm (oder hält sich dafür), sofern er besorgt, daß ihn andere Menschen dafür halten und darüber verachten möchten.“207 Mit der Sozialisierung ist ein Nährboden für die Sünde gegeben. Und die Beobachtung des Menschengeschlechts zeigt, dass sich der Mensch ihr faktisch nicht entziehen kann.208 Kant hat m.a.W. den Menschen nicht als bloßes Einzelwesen, sondern ihn in seinem Beziehungsgefüge zu anderen seiner Gattung begriffen. Eine Konsequenz daraus ist im Übrigen der Entwurf einer Rechtslehre in der Metaphysik der Sitten. Eine andere Konsequenz ist die Entfaltung einer Ekklesiologie, wie sie sich im Dritten Stück der Religionsschrift findet. Kant ist, wie sich noch zeigen wird209, der Meinung, das Menschengeschlecht könne aus seiner Sündenverstrickung nur durch eine besondere Gesellschaft befreit werden, deren Telos die Überwindung des Bösen ist. Es handelt sich dabei um eine Kirche, die sich an das Reich Gottes annähert. Diese Funktion, die Sünde zu überwinden, um so die Vollendung der Menschheit bewerkstelligen zu können, unterscheidet die Kirche von allen Formen der Vergesellschaftung, die auf die Herstellung von Recht zielen. Denn Rechtspflichten sind solche, „für welche eine äußere Gesetzgebung 206

I. KANT: Rel., 93f. (Hervorhebungen im Original). I. KANT: Rel., 93. 208 Vgl. dazu näher den Abschnitt 5.2.1 unten. 209 Vgl. den Abschnitt 5.2 unten. 207

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Freiheit und das Böse

möglich ist.“210 Sie zielen auf Legalität. Die Vergemeinschaftung in einer Kirche hat darin gerade nicht ihr letztes Ziel, sondern sie zielt auf Moralität. Öffentliche Ordnung ist für sie allein Mittel zum Zweck der Überwindung der Sünde, die immer dort aufzutreten droht, wo der Mensch in Gemeinschaft ist. Zurück zur Sündenthematik: Kant hat gemeint, er sei durch die von ihm angeführten Argumente zu der Behauptung der natürlichen Bösartigkeit des Menschen berechtigt gewesen, wenn er auch der Tatsache Rechnung trägt, dass die Sünde nicht analytisch zum Wesen des Menschen gehört: [V]on Natur böse heißt so viel als: dieses gilt von ihm in seiner Gattung betrachtet; nicht als ob solche Qualität aus seinem Gattungsbegriffe (dem eines Menschen überhaupt) könne gefolgert werden (denn alsdann wäre sie nothwendig), sondern er kann nach dem, wie man ihn durch Erfahrung kennt, nicht anders beurtheilt werden, oder man kann es als subjectiv nothwendig in jedem, auch dem besten Menschen voraussetzen.211

2.4 Gottebenbildlichkeit als Bestimmung des Menschen Kant hat den Menschen als faktisch radikal verderbt eingestuft. Der selbstzweckliche Gegenstand der praktischen Vernunft ist allerdings ein sittlich guter Wille – also ein Wille, der nicht subjektiven Neigungen folgt, sondern dem Sittengesetz. Faktisch tritt nach Kant die Realisierung eines derart guten Willens auf natürliche Weise niemals ein, so dass der Mensch beständig seine Bestimmung verfehlt. Dem kann Kant einen göttlichen Willen gegenüberstellen. Vorausgesetzt es gibt einen solchen212, besteht seine Differenz zum menschlichen Willen im Wesentlichen im Ausbleiben der Nötigung durch das Moralgesetz, während sich dem menschlichen Willen das Gesetz der Sittlichkeit als Imperativ aufdrängt. Gott als nicht endliches Wesen kann keiner Maxime folgen, die dem Sittengesetz zuwider ist, denn es fehlt ihm schlicht ein konkurrierendes Handlungsprinzip. Er kann als überweltliches Wesen keine weltlichen Bedürfnisse haben, durch die sein Wille Neigungen bloß subjektiven Charakters ausgesetzt wäre. In der „allergenugsamsten Intelligenz“213 waltet notwendig ein guter Wille. Es macht keinen Sinn, sich in Gott eine Nötigung vorzustellen, „weil er von selbst nach seiner

210

I. KANT: MdS, 239. I. KANT: Rel., 32. 212 Dass Kant die Realität eines göttlichen Willens annimmt, kann an dieser Stelle tatsächlich nur vorausgesetzt werden, wird im Verlauf der Arbeit aber noch nachgewiesen werden. 213 I. KANT: KpV, A 57. 211

Gottebenbildlichkeit als Bestimmung des Menschen

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subjektiven Beschaffenheit nur durch die Vorstellung des Guten bestimmt werden kann.“214 Der Ausschluss von subjektiven Antrieben aus Gottes Willen macht ihn dem Menschen unähnlich. Sowohl Gott wie dem Menschen eignet aber überhaupt ein Wille und beiden ist das Sittengesetz nicht fremd. Die Gültigkeit des Moralgesetzes „schränkt sich also nicht blos auf den Menschen ein, sondern geht auf alle endliche Wesen, die Vernunft und Willen haben, ja schließt sogar das unendliche Wesen als oberste Intelligenz mit ein.“215 Um zu erhellen, welchen Zweck Kant mit der Einführung der Idee eines göttlichen Willens verfolgt, der allein schon qua sittengesetzlicher Bestimmung dem menschlichen Willen ähnlich ist, muss man sich verdeutlichen, in welchen Funktionen das Postulat eines göttlichen Willens vernünftig auftauchen kann. Weithin bekannt ist das Postulat Gottes, der durch seinen heiligen und allmächtigen Willen das vollendete höchste Gut in der Welt durchzusetzen vermag, wie es in der zweiten Kritik beschrieben ist.216 Daneben und in ähnlich gelagerter Funktion kennt Kant den göttlichen Willen als Schöpfer und Vollender der Welt, der sich zu ihrer Vollendung eines zweckgerichteten Geschichtsprozesses bedient. Dieser Gottesbegriff der dritten Kritik bietet eine geschichtsphilosophische Erweiterung des Postulats aus der Kritik der praktischen Vernunft.217 Kant beschreibt aber den göttlichen Willen noch in einer anderen Funktion, die weniger geläufig ist. Demnach ist Gottes Wille das Urbild des menschlichen Begehrungsvermögens: „Woher haben wir aber den Begriff von Gott als dem höchsten Gut? Lediglich aus der Idee, die die Vernunft a priori von sittlicher Vollkommenheit entwirft und mit dem Begriffe eines freien Willens unzertrennlich verknüpft.“218 In dieser zuletzt genannten Funktion stellt Gott einen absolut guten Willen dar, an dessen Heiligkeit der Mensch sich annähern soll: „Diese Heiligkeit des Willens ist gleichwohl eine praktische Idee, welche nothwendig zum Urbilde dienen muß, welchem sich ins Unendliche zu nähern das einzige ist, was allen endlichen vernünftigen Wesen zusteht.“219 Eine Näherung an die Qualität des göttlichen Willens ist nur möglich auf Grund der Ähnlichkeit des menschlichen Willens mit diesem Urbild. Die Gleichheit mit dem göttlichen Willen wird allerdings erst mit der Verwirkli214

I. KANT: GMS, 414. I. KANT: KpV, A 57. 216 Vgl. dazu I. KANT: KpV, A 223–241. 217 Vgl. dazu I. KANT: KdU, B §§ 79–91 und die Ausführungen dieser Arbeit zur Vollendung der Gattung des Menschen in Kapital 5. 218 I. KANT: GMS, 408f. (Hervorhebung im Original). 219 I. KANT: KpV, A 57 (Hervorhebung im Original). 215

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Freiheit und das Böse

chung totaler Bonität realisiert. Unter den Bedingungen der Erbsünde, wie sie von Kant beschrieben worden sind, wird dies dem Menschen von sich aus nicht möglich sein. Wie es dennoch zur Vollendung des Individuums zum Guten kommen kann, muss der Fortgang der Arbeit zeigen. Weiter oben ist die Grundspannung beschrieben worden, die den Menschen sich einerseits als radikalen Sünder wissen, andererseits ihn seine Bestimmung zur Gottebenbildlichkeit gewahr werden lässt.220 Diese Spannung wäre dann aufgelöst, wenn das Böse vollständig abgelegt werden könnte, denn in diesem Fall vollzöge sich der Mensch gut und das heißt seiner Bestimmung gemäss. Die grundsätzliche Organisation der gesamten Restarbeit erklärt sich aus der Beobachtung, dass die Sünde erstens Sache des Individuums ist, das eine verkehrte Urmaxime angenommen hat. Vor diesem Hintergrund muss plausibilisiert werden, wie das Individuum vom Bösen zum Guten gewendet werden kann, wenn gut zu sein seine Bestimmung ist. Andererseits ist das Böse auch Sache der menschlichen Gattung, wenn es erstens allgemein ist und zweitens wesentlich durch die Tatsache der Wechselwirkung von Menschen begünstigt wird. Wie kann sich innerhalb dieser Konstellation das Gute in der Menschheit durchsetzen? Um beiden Problemkreisen gerecht zu werden, soll zunächst der Erlösung (Kapitel 3), Versöhnung (Kapitel 4) und Vollendung (Kapitel 5.1) des Individuums nachgedacht werden, sodann der Durchsetzung und Vollendung des Guten in der Menschheit (Kapitel 5.2) Keines der Ziele, so wird sich zeigen, kann ohne religiösen Vollzug erreicht werden.

220

Vgl. Abschnitt 2.3.5 oben.

3. Erlösung

3.1 Die Differenz von Erlösung und Rechtfertigung Kant wendet sich der Erlösungslehre getrennt von der Rechtfertigungslehre zu. Das Erlösungsgeschehen lässt sich danach nicht restlos auf das Rechtfertigungserlebnis reduzieren und umgekehrt. Unter Erlösung – und das heißt hier immer Erlösung von dem Bösen – muss dasjenige Ereignis vorgestellt werden, durch das jemand vom Bösen zum Guten gewendet wird. Es geht bei der Erlösung also um einen Wandel des Subjekts, in dem es von seinem bösen Selbstvollzug befreit wird. Rechtfertigung meint einen Akt, in dem die Schuld des Sünders nicht als solche angesehen wird, und sie kann bei Kant auch Versöhnung heißen. Schuldbewusstsein ist ein bedrängender mentaler Zustand, weil der Sünder zu keinem Zeitpunkt seines Lebens den Ansprüchen des göttlichen Gesetzes nachkommen kann. Es wird noch davon zu sprechen sein, dass das selbst für denjenigen gilt, der nach der Erlösung schon den Keim des Guten in sich trägt. Deutet man das Auftreten des Sittengesetzes als eine Offenbarung, in der Gott seinen Anspruch an den Menschen formuliert, muss der Sünder sich selbst als in Gottes Schuld stehend verstehen. Ein gottwohlgefälliger und sittengesetzgemäßer Lebensvollzug in jeder Hinsicht ist das Geschuldete, das der Mensch allerdings zu keinem Zeitpunkt an den Tag legt. Er hat also das Bewusstsein der Entzweiung von Gott, weil er dessen unbedingtem Willen nicht nachkommt. Es bedarf folglich der Bearbeitung der angehäuften Schuld. Dies kann angemessen nur in einem Akt der Versöhnung geschehen, durch den und in dem der Schuldige so angesehen wird, als wäre er unschuldig. Die Rechtfertigung selbst ist nur als Angeignung eines entsprechenden gnädigen Gottesurteils denkbar. Wo der Sünder sich dieses Urteil über sich glaubend aneignet, hat er zugleich das Bewusstsein, mit Gott als Gesetzgeber versöhnt zu sein. Rechtfertigung und Versöhnung sind Vorgänge zwischen Gott und dem Menschen, die auf ein kontrafaktisches Urteil über den Menschen zurückgehen. Wo allerdings eine Theorie wie die kantsche unter Erlösung im Wesentlichen nicht allein eine veränderte Selbstwahrnehmung, sondern vor allem eine tatsächliche Transformation des Subjekts, also die Modifikation der Ordnung seiner moralischen Struktur versteht, kann die Lehre von der Erlösung getrennt von der Rechtfertigung und Versöhnung betrachtet werden. Denn dann ist die Wandlung der Person das eine, der Umgang mit

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Erlösung

der Schuld das andere. Nun will die hier vorgenommene Trennung der Erlösung von der Rechtfertigung gar nicht sagen, das eine habe mit dem anderen nichts zu tun. Das Gegenteil ist der Fall. Es gibt nach Kant eine eigentümliche Verschlungenheit von Rechtfertigung und Erlösung, und das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Wo aber eines ohne das andere nicht ist, liegen Bedingungsverhältnisse vor, und es lässt sich folglich fragen, ob die Erlösung Bedingung der Rechtfertigung ist oder ob es sich gerade umgekehrt verhält. Es sind darauf bei Kant keine einfachen Antworten zu finden, sondern es macht den Anschein, als sagte er beides gleichzeitig. Bevor diesem komplexen Problem nachgegangen werden kann, muss zunächst Kants Erlösungslehre expliziert werden. Für den Rechtfertigungsgedanken und die Frage, ob die Erlösung der Rechtfertigung logisch vorzuordnen ist oder umgekehrt, ist ein eigenes Kapitel vorgesehen.1

3.2 Der Anspruch des Gesetzes und die unbedingte Notwendigkeit von Erlösung Der Mensch wird sowohl nach Kant als auch nach der reformatorischen Anthropologie nicht einfach in sein pervertiertes Sein entlassen, sondern ihn ereilt hier wie dort der Anspruch, anders sein zu sollen. Für den Protestantismus geschieht dies im Wort Gottes, das den Menschen in Form des Gesetzes trifft und ihm sagt, wie er sein sollte. Das Gewicht liegt dabei eindeutig auf der ersten Tafel des Dekalogs, der nachgerade im ersten Gebot kulminiert. Was eingefordert wird, ist nicht schon erfüllt mit der bloßen Befolgung bestimmter Handlungsanweisungen, die das Weltverhältnis betreffen, sondern verlangt ist ein anderes, und zwar ein gerechtes Gottesverhältnis. Die Forderung betrifft die Gesinnung des Menschen, die das Subjekt in seinem Dasein vor Gott qualifiziert. Für Kant wird die Entfremdung als Entfremdung ebenfalls bewusst, indem der Mensch sich der Forderung eines Gesetzes ausgesetzt sieht, das ihm sittlichen Selbstvollzug abverlangt. Denn er findet sich der Forderung gerade nicht gemäß vor, sondern ihr entgegen. Das Gesetz der Sittlichkeit drängt sich auch dem moralisch verstimmten Willen unbedingt auf und fordert seine Erfüllung. Der Sünder ist nicht einfach dem Bösen übereignet oder gar entlastet, sondern nimmt vermöge des Gesetzes beständig eine Differenz zwischen dem wahr, was er faktisch ist, und dem, was er sein soll. Die Bedeutung dieser Differenz für das Selbstverständnis des Menschen ist nicht zu unterschätzen. Sie ist jedenfalls nicht richtig erfasst, wenn man 1

Vgl. Kapitel 4 dieser Arbeit.

Notwendigkeit von Erlösung

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meint, mit der bloßen Konstatierung der Differenz zwischen Sein und Sollen sei schon alles gesagt. Denn der Imperativ des Sittengesetzes äußert nicht bloß einen zufälligen Wunsch, den jemand an das Subjekt richtet, sondern er gebietet kategorisch und das heißt zweierlei. Erstens ist der Anspruch des Gesetzes immer und ohne Ausnahme gültig. Das Subjekt kann sich ihm zu keinem Zeitpunkt vollständig entziehen. Zweitens ist die Forderung des Sittengesetzes nicht von der Art, dass man sich nach Belieben zu seiner Geltung verhalten könnte. Es ist zwar möglich, sich über sich selbst zu täuschen, indem man entweder meint, das Sittengesetz habe keinen kategorischen Anspruch an einen, oder es treffe einen nicht mehr in der Form des Imperativs, weil man sich selbst im Stand der Bonität wähnt. Diese besondere Art der Selbsttäuschung ist nichts Seltenes, sondern für den Sünder der Normalfall. Es gilt aber festzuhalten, dass trotz aller möglichen Versuche, sich dem Anspruch des Sittengesetzes zu entziehen, jeder vernünftige Mensch dennoch potentiell auf es ansprechbar bleibt. Immer dann, wenn das Gesetz unverstellt und ungehindert in das Bewusstsein tritt, wird die Unbedingtheit seines Geltungsanspruches deutlich. Die religiöse Auffassung des Gesetzes gibt diesem Verhalt am angemessensten Ausdruck, indem es ihm Unantastbarkeit zuschreibt, weil es Gottes Gebot ist.2 Die wahre Religion zeichnet sich dem entsprechend durch die Zusammenfassung ihrer Gesetze in „einer allgemeinen Regel“ aus, die in folgendem Satz gipfelt: „[T]hue deine Pflicht aus keiner andern Triebfeder, als der unmittelbaren Werthschätzung derselben, d.i. liebe Gott (den Gesetzgeber aller Pflichten) über alles.“3 Diejenige Instanz, durch die die genannte Differenz überhaupt bewusst wird, ist das Gewissen.4 Kant versteht darunter ein Vermögen, sich selbst moralisch richten zu können5, das immer dort auftritt, wo Vernunft praktisch ist. Das Gewissen begleitet den moralischen Selbstvollzug also unvermeidlich; es steht in seiner Anwendung nicht in Frage und muss nicht eigens durch das Subjekt aktiviert werden: „[S]o ist das Gewissen nicht etwas Erwerbliches, und es giebt keine Pflicht sich eines anzuschaffen; sondern jeder Mensch, als sittliches Wesen, hat ein solches ursprünglich in sich.“6 Die Möglichkeit, sich dem Urteil des Gewissens zu entziehen, ist nicht dadurch gegeben, dass dieses zuweilen ausfallen würde, sondern nur dadurch, dass sein Urteil missachtet wird, indem man sich selbst über es 2 Vgl. etwa I. KANTs Ausführungen in: Rel., 141 und 181. Vgl. analog dazu auch I. KANT: Streit der Fakultäten, 43. 3 Beide Zitate: I. KANT: Rel., 160 (Hervorhebung im Original) 4 Vgl. zur Funktion des Gewissens in Kants Moralphilosophie G. NESSLER: Amoralismus. 5 Vgl. die Definition von Gewissen in I. KANT: Rel., 186: „[E]s ist die sich selbst richtende moralische Urtheilskraft.“ (Hervorhebung im Original). 6 I. KANT: MdS, 400 (Hervorhebung im Original).

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hinwegtäuscht: „Gewissenlosigkeit ist nicht Mangel des Gewissens, sondern Hang sich an dessen Urteil nicht zu kehren.“7 Nun zeichnet sich das Gewissen durch eine weitere Besonderheit aus. Es ist nicht nur ein Urteil über sich selbst, das unweigerlich gefällt wird, sondern das Urteil tritt im Bewusstsein mit Gewissheit auf. D.h. es gibt für das Bewusstsein des Subjekts kein Urteil des Gewissens, das fehl gehen könnte. Damit will nicht gesagt sein, dass ein Gewissensurteil nicht auch objektiv falsch sein kann, sondern nur soviel, dass es subjektiv über alle Zweifel erhaben ist: Moralisten reden von einem irrenden Gewissen. Aber ein irrendes Gewissen ist ein Unding; und gäbe es ein solches, so könnte man niemals sicher sein recht gehandelt zu haben, weil selbst der Richter in der letzten Instanz noch irren könnte. Ich kann zwar in dem Urtheile irren, in welchem ich glaube Recht zu haben […]; aber in dem Bewußtsein: ob ich in der That glaube Recht zu haben […] kann ich schlechterdings nicht irren, weil dieses Urtheil oder vielmehr dieser Satz bloß sagt: daß ich den Gegenstand so beurtheile.8

Alle mögliche Selbsttäuschung einmal bei Seite gesetzt, wird diese Eigenschaft des Gewissens bei einem Sünder dazu führen, dass er sich der beständigen Anklage durch sein Gewissen ausgesetzt sieht. Denn es ist ihm nicht möglich, dem Urteil des Gewissens Wahrheitswert abzusprechen, und dieses Urteil bedeutet ihm dann unweigerlich Gericht. Denn das Gewissen tritt in der Funktion auf, letztinstanzliches und unfehlbares Urteil über das Ich zu sprechen. Das Gewissensurteil, in dem die beschriebene Spannung zwischen Anspruch des Gesetzes und moralischer Qualität des Menschen bewusst wird, drängt wegen der Apodiktizität, mit der das Gesetz seine Geltung beansprucht, zur Modifikation des eigenen moralischen Zustands. Das Subjekt muss deshalb einen Transformationsprozess anstreben, der sein Ziel in der Kongruenz der eigenen moralischen Beschaffenheit mit der nicht veränderlichen sittengesetzlichen Forderung hat. Die Ausgangslage, in der sich der Sünder nach Kant vorfindet, ist danach der Beschreibung des Sünders bei den Reformatoren ähnlich. Um es am Beispiel Luthers zu illustrieren: Luther hat dem Gesetz ebenso wie nach ihm Kant eine besondere Würde zugesprochen, die es dem Menschen unmöglich macht, sich seinem Anspruch zu entziehen, und zwar deshalb, weil es sich um das Gebot Gottes handelt.9 Es gab für ihn ebenso wie für 7

I. KANT: MdS, 401 (Hervorhebung im Original). I. KANT: Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee, 268 (Hervorhebungen im Original). 9 Vgl. die eindrückliche Beschreibung bei K. HOLL: Was verstand Luther unter Religion, 19– 24. 8

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Kant keine Abstufungen dem Gesetz gegenüber. Jeder Versuch, die unbedingte Geltung durch Verharmlosung oder doppeldeutige Auslegung des Gesetzes in Frage zu stellen, wurde von ihm abgelehnt. Das Gesetz „hält in seinem wahren Gebrauch die Gottlosen in Schranken, erschreckt und demütigt die Hochmütigen“10 und hat als absolutes Kriterium die Funktion, die Sünde als Sünde ungeschönt aufzudecken. Die Diskrepanz zwischen Sein und Sollen wird in Form des Erschreckens über sich selbst bewusst, und zwar im Gewissen: „So ein zartes Ding ist das Gewissen, daß es auch wegen der leichtesten Sünde erschrickt und erbleicht.“11 Der Sünder ist dem beständigen Erschrecken über sich selbst ausgesetzt, wenn das Gesetz richtig in Anschlag gebracht wird, und Luther hat dies in seinen Klosterkämpfen als tiefe Furcht vor dem göttlichen Gericht erlebt, die zunächst den Reiz ausübt, sich selbst von der Sünde befreien zu wollen – ein Unterfangen, das unweigerlich scheitern muss und deshalb die eigene Unzulänglichkeit umso schmerzhafter bewusst macht.12

3.3 Erlösung durch Gottes Gnade Soll der Anspruch des Sittengesetzes im Subjekt realisiert werden können, muss es an ihm eine entsprechende Potentialität geben. Dies ist bei Kant mit der Anlage für die Persönlichkeit gesichert, die als solche die Möglichkeit bedeutet, die Achtung vor dem Sittengesetz als maßgebenden Bestimmungsfaktor für die Willkür einzusetzen. Mit dem Faktum des Sittengesetzes ist das Bewusstsein von Wahlfreiheit vorhanden. Kant hat für diesen Sachverhalt Formeln gefunden, die einer Struktur des Du kannst, denn Du sollst folgen. Diese Struktur findet sich in Variationen in den Allgemeinen Anmerkungen des Ersten Stücks der Religionsschrift häufig wieder.13 Es macht unter dieser Voraussetzung Sinn, sich die Besserung des Subjekts als einen Akt vorzustellen, der vom Willen in seiner unzeitlichen Form vorgenommen wird. Das Subjekt wendet sich danach in einer Tat, die vom intelligiblen Anteil des Willens vorgenommen wird, selbst. Kant hat aber gemeint, dass am empirischen Menschen eine solche Selbstwende nicht auszumachen ist. Das Menschengeschlecht präsentiert sich ihm ausnahmslos und radikal vom Bösen durchsetzt. Die faktische Unmöglichkeit der Selbsterlösung wird von Kant ebenso häufig herausgestrichen wie die 10

M. LUTHER: Galaterbrief-Auslegung 1531, 240 (WA 40/1, 612, 15f.: „Nam lex, ut saepe iam diximus, in vero suo usu cohercet improbos, perterrefacit et humiliat superbos.“). 11 M. LUTHER: Galaterbrief-Auslegung 1531, 240 (WA 40/I, 612, 22f.: Adeo enim tenera res est conscientia, ut etiam propter levissimum peccatum pavefiat et pallescat.“). 12 Vgl. K. HOLL: Was verstand Luther unter Religion, 25. 13 Vgl. I. KANT: Rel., 45; 47 und 50.

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gegenteilige Behauptung, sie sei vermöge des intelligiblen Teils des Willens doch möglich: Wenn der Mensch aber im Grunde seiner Maximen verderbt ist, wie ist es möglich, daß er durch eigene Kräfte diese Revolution [scil. zum Guten] zu Stande bringe und von selbst ein guter Mensch werde? Und doch gebietet die Pflicht es zu sein, sie gebietet uns aber nichts, als was uns thunlich ist.14

Der Mensch wird vermögenstheoretisch antinomisch bestimmt: Er kann sich faktisch nicht bessern, weil seine oberste Maxime verdorben ist; er muss es aber doch können, weil das Faktum Sittengesetz ihn das Bewusstsein seiner Befähigung dazu haben lässt. 3.3.1 Der Grund der Erlösung Es bieten sich nun grundsätzlich zwei Deutungsvarianten an, um die Antinomie aufzulösen. Beide Varianten beseitigen die Spannung, indem sie das Subjekt einen Wandel vom Bösen zum Guten durchmachen sehen. Sie unterscheiden sich in der Angabe des Grundes für den Wandel. Entweder man versucht, die Wahlfreiheit des Willens als den wesentlichen Bestimmungsfaktor des Menschen zu verstehen, indem man die Faktizität der Radikalität des Bösen in ihrer Bedeutung herabsetzt. Danach versteht der Mensch sich vor allem von seinem noumenalen Vermögen zur Wahlfreiheit her und spricht sich deshalb unmittelbar die Potenz zu, der Selbstiteration des bösen Willens ein Ende setzen zu können. Dazu muss angenommen werden, dass „trotz jener ‚Radikalität‘ des Bösen“ die Freiheit im Sinne der Autonomie „zum entscheidenden Prinzip der ‚Besserung‘“15 eignen kann. Das Selbstverständnis des Subjekts käme in diesem Fall der optimistischen Anthropologie nahe, wie sie in der Neologie vertreten worden ist. Erlösung von dem Bösen kann sodann als Selbsterlösung gedeutet werden. Allerdings ist es nach Kant nicht möglich, ein derart optimistisches Menschenbild ungebrochen zu vertreten. Vielmehr mahnt die phänomenal sich zeigende Radikalität des Bösen zur Skepsis. Die zeitgebundene Perspektive 14 I. KANT: Rel., 47. Vgl. zur Unmöglichkeit der Selbstbesserung weitere Stellen in Rel., 44f und 50. 15 So das Urteil H. NOACKs in: Einleitung zur Meiner-Ausgabe der Religionsschrift, XLIII. Auch W. THIEDE: Gnade als Ergänzung?, meint Kant in dieser Weise deuten zu müssen. Zwar habe Kant mit dem radikalen Bösen den Ersündegedanken der christlichen Religion reformuliert. Weil er aber gleichzeitig das „Paradigma Autonomie“ (68) nie verlassen hat, müsse er Erlösung konsequent als Selbsterlösung deuten. Thiede zieht den Schluss, dass Kants Religionsphilosophie deswegen erstens den Gedanken einer Erlösung ab extra nicht konsequent denken könne, weswegen sie zweitens bei gleichzeitiger Behauptung der Erbsünde aporetisch bleiben müsse.

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auf den Menschen erschließt an ihm grundsätzliche Verderbnis, die ihren Grund in einer immer schon bösen Metamaxime hat. Das alternative Denkmodell der Erlösung nimmt seinen Ausgangspunkt bei der Ohnmächtigkeit des Subjekts zur Überwindung der Sünde. Erlösung kann sodann nur auf eine Wirkung zurückgehen, die nicht durch das Subjekt selbst verursacht ist. Derartige Überlegungen münden in die Annahme einer übernatürlichen Ursache, die zur Besserung des Subjekts nötig ist. Kant spricht von der Idee einer Gnadenwirkung16, durch die das Subjekt seine Wende erfährt. Eine Tat, die zur Wandlung der Urmaxime fähig wäre, müsste unter der Voraussetzung der Radikalität des Bösen so vorgestellt werden, dass sie nicht auf die eigene verderbte Urmaxime als Handlungsprinzip zurückgreift, sondern einem noumenalen Handlungsprinzip (dem Sittengesetz) folgt. Die Handlungsursachen, die den Willen dazu bewegen, sich dem Sittengesetz zu fügen, liegen nicht in der Zeit, sondern im Ding an sich oder, um dies religiös umzusprechen, bei Gott. Genau diese Handlungsursache wird nach der religiösen Deutung der Erlösung nicht durch das Subjekt selbst bereitgestellt, sondern muss von anderswo her kommen. Das Woher dieser Ursache kann Gott zugeschrieben werden. Kant verwendet für das göttliche Moment im Erlösungsakt die Begriffe der „übernatürliche[n] Mitwirkung“17 und des „höheren Beistandes.“18 Die Begriffe legen nahe, sich den Akt der Erlösung als ein synergistisches Geschehen vorzustellen, an dem sowohl Gott als auch der Mensch willentlich beteiligt sind. Der Synergismus-Begriff ist allerdings insofern missverständlich, als er ein bestimmtes Erlösungsverständnis der katholischen Tradition indiziert.19 Deswegen soll hier zur Beschreibung dessen, was mit der Zusammenwirkung von göttlichem und menschlichem Willen gemeint ist, von ihm abgesehen werden. Dass der menschliche Wille bei seiner Erlösung aber nicht gänzlich unbeteiligt sein kann, leuchtet schon deshalb ein, weil auch ein Erlösungsakt, der ganz von außen verursacht ist, durch das Subjekt angeeignet werden muss. Die Aneignung des guten Prinzips muss im Rahmen der Struktur der Selbstbezüglichkeit des Willens gedacht werden. Dieses Strukturprinzip gilt nicht nur dann, wenn der Wille sich selbst als bösen will, sondern auch dann, wenn die Wende zum Guten vorgenommen wird. Allerdings ist damit noch nichts über die Ursache für die Umkehr des Willens gesagt. Sie liegt für die Erkenntnisfähigkeit des Menschen im Dunkeln, und er selbst kann willentlich auch keinen Einfluss auf sie nehmen, sondern kann sie bloß als Geschenk akzeptieren. Die Erlösung hat ihre 16 Entsprechend könnte, so Kants Selbstauskunft, die Allgemeine Anmerkung zum Ersten Stück der Religionsschrift den Titel „Von Gnadenwirkungen“ tragen. Vgl. I. KANT: Rel., 52. 17 I. KANT: Rel., 44 und ähnlich 52, wo der Begriff „höhere Mitwirkung“ Verwendung findet. 18 I. KANT: Rel., 45. 19 Vgl. dazu den Abschnitt 4.1.4.

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erste Ursache, wenn die Wende religiös aufgefasst wird, in Gott allein und nirgends sonst. Der Mensch ist dieser ursächlichen Einwirkung Gottes auf den Willen schlechthin ausgeliefert, denn er kann auf das Ding an sich oder Gott nicht einwirken. Das Verhältnis des Subjekts zur Erlösungsursache ist folglich das der reinen Passivität. Andererseits will die Aneignung der Erlösung, wie gesagt, als ein Geschehen bedacht sein, das als Aneignung eben auch eine Aktivität des Subjekts bedeutet: Gesetzt, zum Gut= oder Besserwerden sei noch eine übernatürliche Mitwirkung nöthig, […] der Mensch […] muß diese Beihülfe annehmen (welches nichts Geringes ist), d.i. die positive Kraftvermehrung in seine Maxime aufnehmen, wodurch es allein möglich wird, daß ihm das Gute zugerechnet und er für einen guten Menschen erkannt werde.20

Aneignung der Erlösung bedeutet die Überführung der „positiven Kraftvermehrung“ in die Maxime. Die Kraftvermehrung muss als intelligible Einwirkung Gottes auf den wahlfreien Anteil des Willens gedeutet werden, der so das Vermögen erhält, seinen empirischen Anteil zum Guten zu wenden. Letzteres bedeutet näher, dass die Erlösungswirkung Gottes auch fruchtbar für das empirische Subjekt wird. Denn die Wirkung Gottes betrifft nach der hier gebotenen Deutung zunächst nur den intelligiblen Willensteil. Gott wirkt danach nicht direkt auf den empirischen Willen ein, sondern vermittelst des intelligiblen Anteils desselben Willens. Die Vermittlungsleistung der Aneignung bedeutet, Gottes Wirkung am intelligiblen Ich für den empirischen Menschen wirksam zu machen. Der Erlösungsvorgang wird – um es zusammenzufassen – nach der religiösen Deutung wie folgt verlaufen: Gottes intelligibler Wille wirkt derart auf den intelligiblen Teil des menschlichen Willens ein, dass dieser durch jenen in seiner Qualität zum Guten bestimmt wird. Sodann wird die derart in totaler Abhängigkeit gewonnene Bonität durch den Willen für sein Dasein in Raum und Zeit angeeignet, indem der selbstreferentielle Wille seinen empirischen Anteil dem göttlichen Erlösungsakt gemäss bestimmt. Der empirische Anteil des Willens wird bei einer Person, die einen empirischen Handlungscharakter entwickelt hat, durch die Metamaxime der Person vertreten, so dass die Aneignung des göttlichen Erlösungsaktes für die empirische Person die Wandlung der Metamaxime bedeutet. Der göttliche Wille wirkt danach nicht direkt auf die Metamaxime des Subjekts, sondern vermittelst einer Kausalität in der intelligiblen Welt auf den nou20

I. KANT: Rel., 44. Das gebotene Zitat ist vollständig noch komplexer, weil es in den hier vorgenommenen Auslassungen darauf hinweist, der Mensch müsse sich des Beistandes zuvor würdig erweisen. Damit ist eine weitere Schwierigkeit angesprochen, die aber nicht hier, sondern weiter unten in Abschnitt 3.6 diskutiert werden kann.

Erlösung durch Gottes Gnade

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menalen Anteil des menschlichen Willens, der sodann in einem Akt der Freiheit die Metamaxime wandelt. Der Mensch verhält sich bei seiner Erlösung total passiv und aktiv zugleich. Die totale Passivität bezieht sich auf den Ursprung seiner Erlösung, der allein bei Gott liegen kann. Die Aktivität betrifft die Aneignung des göttlichen Willens für das empirische Subjekt. Es bietet sich an, in einem nächsten Schritt zu erfragen, ob denn ein derartiges religiöses Selbstverständnis vor der Vernunft Bestand haben kann, und wie es überhaupt zu Stande kommt. 3.3.2 Fremdkonstitution der Erlösung als Postulat der Vernunft Ob eine Erlösung ab extra sich innerhalb der Grenzen der Vernunft verständlich machen lässt, ist im Folgenden zu untersuchen. Es liegt auf der Hand diese Frage zu stellen, denn derart konkrete Aussagen über die Wirkweise des Dinges an sich, wie sie in der gebotenen Deutung gemacht werden, haben den entscheidenden Nachteil, dass ihr Wahrheitswert nicht zu überprüfen ist. Kant räumt ihnen deshalb den Stellenwert eines Beiwerks21 zur Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft ein. Den Status eines Anhangs zur philosophischen Religionslehre tragen sie deshalb, weil hier Vernunftideen von Transzendentem zur Sprache kommen, die als solche weder durch die theoretische Vernunft eingesehen werden noch im Bereich der praktischen Vernunft in irgendeiner Weise handlungsmotivierend sein können. Sie sind transzendent und nicht transzendental zu nennen, weil sie nicht Bedingung der Möglichkeit von Handlungen sind, sondern Ideen, die gebildet werden müssen, um denken zu können, wie einem Mangel an moralischem Vermögen Abhilfe verschafft werden kann. Sie sind als solche nicht Voraussetzung von Handlungen, sondern Resultat eines Reflexionsprozesses über das eigene Handlungsvermögen und stehen in einer Reihe mit den Postulaten von Gott als Garant der Angemessenheit von Sittlichkeit und Glückseligkeit und der Unsterblichkeit der Seele, die aus der Kritik der praktischen Vernunft bekannt sind.22 An dieser Stelle steht nun in Frage, wie eine Besserung der moralischen Gesinnung der Vernunft zu denken möglich ist. Kants Lösung ist das Postulat der besprochenen Gnadenwirkung. Er versteht unter einem Postulat „einen theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen Satz, […] so fern er einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich 21 22

Vgl. dazu die Anmerkung in I. KANT: Rel., 52f. Vgl. I. KANT: KpV, A 219–241.

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anhängt.“23 Inwiefern hängt nun das Erlösungspostulat dem praktischen Gesetz unweigerlich an? Die Einhaltung des Sittengesetzes steht nicht in der Beliebigkeit des Menschen. Unter der Bedingung des Bösen kann die Vernunft nun darauf reflektieren, wie eine Erlösung zu Stande kommen kann. Dieser Reflexionsprozess fördert zwei mögliche Antworten zu Tage, deren Differenz ihren Grund in der Reflexionstiefe hat. Die erste mögliche Antwort lautet, indem sie erneut die Perspektive der Wahlfreiheit präferiert: Das Subjekt hat sich selbst erlöst. Gesetzt, jemand macht an sich eine gute Handlung aus, und fragt, wo sie ihre Ursache hat, wird sein Reflexionsprozess einen ersten Halt bei einer guten Metamaxime machen. Sie muss zuvor vom Bösen zum Besseren gewendet worden sein. Nach der Bedingung der Möglichkeit dafür fragt das Subjekt in einem weiteren Reflexionsschritt und findet die Antwort in seinem wahlfreien Willen. Diese Antwort bleibt im Rahmen der praktischen Vernunft und kann deshalb Anspruch auf objektive Gültigkeit erheben. Freilich bleibt sie in zweierlei Hinsicht unbefriedigend. Sie kann nicht erklären, welche Gründe es für den wahlfreien Willen gab, diese Besserung vorzunehmen und muss die phänomenologisch erhobene totale Sündhaftigkeit des Menschen ausblenden. Es ist ein weiterer Reflexionsschritt nötig, um den Wandel unter Berücksichtigung beider Einwände erklären zu können. Mit der Idee der Erlösung durch Gottes Willen ist der höchste Grad an Reflexivität über die Möglichkeit der Besserung des Subjekts erreicht, denn sie sucht den letzten Grund für die Erlösung auf. Weil das Postulat Gottes nicht anzuschauen und auch nicht direkt (sondern nur vermittelst eines Reflexionsprozesses) aus der Logik der praktischen Vernunft zu erschließen ist, bleiben die Gründe für den Wandel objektiv im Dunkeln, können aber einem „Glauben, den man den […] reflectirenden nennen könnte“24 subjektiv erschlossen werden. So kann es nicht erstaunen, dass Kant den unterschiedlichsten Erlösungskonzeptionen der Tradition zugeschlagen worden ist. Ob man ihn in der Nähe pelagianischer, tridentinischer oder eher reformatorischer Theologie ansiedelt, ist davon abhängig, wie stark man die Erwähnung welcher Reflexionsstufe bei Kant gewichtet.25 Die hier vorgelegte Deutung meint bei Kant unterschiedliche Reflexionsstufen auf denselben Sachverhalt der Besserung unterscheiden zu müssen, so dass unterschiedliche religiöse Ausprägungen 23

I. KANT: KpV, A 220 (Hervorhebungen im Original). I. KANT: Rel., 52 (Hervorhebung im Original). 25 Dem Vorwurf des Pelagianismus sieht sich Kant ausgesetzt durch G.B. SALA: Kant und die Theologie der Hoffnung, 100. Ähnlich sehen es auch: C. SCHULTE: radikal böse, 116, Anm. 40, und R. WIMMER: Religionsphilosophie, 157. Der tridentinischen Position zugerechnet wird Kant etwa von H. BLUMENBERG: Kant und die Frage nach dem gnädigen Gott, 566, und unlängst zumindest implizit von H. HOPING: Freiheit im Widerspruch, 204f. Dagegen meint E. HIRSCH: Rechtfertigungslehre, 112–115, Kant habe entscheidende Impulse zur Formulierung seiner Ethikotheologie von reformatorischem Geist – allem voran von lutherischem – erhalten. 24

Glauben als Modus der Wahrnehmung von Wirklichkeit

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des Erlösungsgedanken durch die jeweils eingenommene Stufe der Reflexion erklärbar werden.26 Die religiöse Erklärung der Erlösung kann die Schwäche der ersten Antwort, keinen Letztgrund für Erlösung angeben zu können, zwar ausmerzen, muss allerdings den Anspruch auf objektive Wahrheit aufgeben. Denn das Subjekt fragt dabei (mit der reflektierenden Urteilskraft) über den Bereich hinaus, den es objektiv durch theoretische oder praktische Vernunft erschließen kann. Gottes Gnadenhandeln ist kein Sachverhalt, „der sich als ein Wissen ankündigt.“27 Wissen ist in Sachen der Erlösung durch Gott überhaupt keine angemessene Kategorie, sondern der Modus, in dem Gottes Erlösung im Subjekt zu Bewusstsein kommt, ist Glauben.

3.4 Glauben als Modus der Wahrnehmung von Wirklichkeit Glaube stellt eine besondere Art und Weise der Wahrnehmung von Wirklichkeit durch vernunftbegabte Subjekte dar, wobei je nach Art der Wahrnehmung die wahrgenommenen Gegenstände eine eigene Klasse abgeben. Kant kennt drei Klassen von Dingen: „Sachen der Meinung (opinabile), Thatsachen (scibile) und Glaubenssachen (mere credibile).“28 Meinen bezieht sich auf Sachen, die nicht Gegenstand der Erfahrung sind, es aber sein könnten, wenn die Sinne entweder entsprechend geschärft würden oder auf die vermeinten Sachen überhaupt gerichtet. „Also sind Meinungssachen jederzeit Objecte einer wenigstens an sich möglichen Erfahrungserkenntniß (Gegenstände der Sinnenwelt).“29 Sachen des Wissens sind Tatsachen. Zu ihnen lässt sich zweifelsohne empirisch Wahrgenommenes zählen, aber auch jedes Wissen a priori, das mit objektiver Gewissheit behauptet werden kann. Der Grad der Gewissheit ist im Fall des Wissens gemessen am Meinen höher, weil die Gültigkeit des Gewussten aktuell bewiesen werden kann. Dies geschieht nach der theoretischen Vernunft entweder in der Mathematik durch Darstellungen a priori (und dies wäre ein erfahrungsfreier Fall von Wissen) oder durch Erfahrungsurteile (bei Erkenntnisurteilen a posteriori).30 Glaubenssachen sind darüber hinaus solche, die nicht erfahrbar sind und überhaupt nie objektive Realität für die theoretische Vernunft beanspruchen 26 Vgl. dazu näher das 4. Kapitel, das diesen Gedanken auf die Differenz lutherischer und katholischer Rechtfertigungs- und Erlösungslehre anwendet. 27 I. KANT: Rel., 52. 28 I. KANT: KdU, B 454 (Hervorhebungen im Original). Vgl. zur Differenzierung von Meinen, Wissen und Glauben auch KrV, B 848–859. 29 I. KANT: KdU, B 455 (Hervorhebung im Original). 30 Vgl. I. KANT: KdU, B 456f.

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können, sondern Wirklichkeitsstatus immer nur für das Subjekt haben. Allerdings geht es dabei nicht um beliebige Gegenstände, so dass Glaube die Realität von allerlei Ausgedachtem verbürgen könnte. Sondern Glaube betrifft allein „Gegenstände, die in Beziehung auf den pflichtmäßigen Gebrauch der reinen praktischen Vernunft (es sei als Folgen, oder als Gründe) a priori gedacht werden müssen.“31 Glaubenssachen sind Sachverhalte, die für die praktische Vernunft (ihre Gründe und Zwecke) denknotwendig sind. Sie sind als Ideen der praktischen Vernunft prinzipiell nicht in der Realität zu verwirklichen und folglich für die theoretische Vernunft niemals erfassbar. Kant zählt zu ihnen das Objekt einer jeden praktischen Vernunft: das Reich Gottes. Darüber hinaus die Bedingungen seiner Möglichkeit: Seelenunsterblichkeit und Dasein Gottes.32 Die hier vorgelegte Deutung geht davon aus, dass auch die Postulate von der Erlösung und Rechtfertigung unter die Glaubenssachen fallen, denn sie dienen ebenso der Verwirklichung des Anspruchs des Sittengesetzes. Der Akt des Fürwahrhaltens dieser Sachen ist folglich nach Kant „ein Fürwahrhalten in reiner praktischer Absicht, d.i. ein moralischer Glaube.“33 Es handelt sich dabei nicht um Wissen oder Meinen, sondern um eine genuine Art des Vertrauens, in der angenommen wird, die notwendigen Postulate der reinen praktischen Vernunft seien wahr, obwohl es keinen entsprechenden Nachweis für die theoretische Vernunft gibt.34 Der Begriff des Fürwahrhaltens könnte für Verwirrung sorgen, wird er doch in bestimmter Tradition im Sinne einer fides acquisita verwendet. Kants Gebrauch des Begriffs unterscheidet sich jedoch von der katholischen Auffassung35 in 31

I. KANT: KdU, B 457. Vgl. I. KANT: KdU, B 457f. Er folgt an dieser Stelle den bekannteren Gedankengängen der KpV, B 192–197; 219–238. 33 I. KANT: KdU, B 459. 34 Es ist möglich, dass I. KANT Hebr 11, 1 vor Augen hatte, wenn er definiert, Glauben zeichne sich durch „Fürwahrhalten desjenigen, was für das theoretische Erkenntnis unzugänglich ist“, aus (KdU, B 462). 35 Vgl. zur katholischen Auffassung des Glaubensbegriffs die Ausführungen des ersten Vaticanums (H. DENZINGER: 3008–3020). Dort wird unmissverständlich festgelegt, dass der Glaube glaubt, was „von der Kirche – sei es in feierlicher Entscheidung oder kraft ihres gewöhnlichen und allgemeinen Lehramtes – als von Gott geoffenbart […] vorgelegt wird.“ (H. DENZINGER: 3011). Der damit verbundene Alleinvertretungsanspruch der katholischen Kirche zur Verwaltung von Gottes Offenbarung (Vgl. H. DENZINGER: 3012f) setzt folgende Struktur der Aneignung des Glaubensinhaltes voraus: Der Glaubende nimmt Notiz von dem durch die katholische Kirche vertretenen Offenbarungsinhalt und stimmt sodann dem so Vernommenen zu. Ob derartige Zustimmung als persönliches Vertrauen zu verstehen ist oder ob darüber hinaus vor allem auch ein äußerliches Bekenntnis nötig ist, ist in der katholischen Tradition umstritten. Die Mehrzahl der Ausleger scheint sich einer Deutung zuzuneigen, die unter Berufung auf die Rechtfertigungsaussagen des Tridentinums die bloß persönliche Aneignung des Rechtfertigungsglaubens für nicht hinreichend hält (vgl. dazu H. DENZINGER: 1526–1531 und W. JOEST: Die tridentinische Rechtfertigungslehre, 61–69). Nach dem ersten Vaticanum lässt sich der Glaubensinhalt prinzipiell in die 32

Glauben als Modus der Wahrnehmung von Wirklichkeit

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mehrfacher Hinsicht. Erstens meint er unter keinen Umständen die bloße Bereitschaft des Willens, dem Kirchenglauben zuzustimmen, ohne zu wissen, was durch die Kirche überhaupt geglaubt wird. Kant äußert sich wie folgt: Glaubenssachen sind aber darum nicht Glaubensartikel, wenn man unter den letzteren solche Glaubenssachen versteht, zu deren Bekenntniß (innerem oder äußerem) man verpflichtet werden kann: […] Denn da sie als Glaubenssachen sich nicht (gleich den Thatsachen) auf theoretische Beweise gründen können: so ist es ein freies Fürwahrhalten und auch nur als ein solches mit der Moralität des Subjects vereinbar.36

Zweitens – und das geht ebenfalls aus dem Zitat hervor – ist Fürwahrhalten bei Kant nicht ein Akt, der sich aus verschiedenen Teilen zusammensetzte. Die Ausdifferenzierung des Glaubens in notitia, assensus und fiducia macht nach Kant schon deshalb keinen Sinn, weil es beim Fürwahrhalten nicht um einen Akt geht, der dem Wissen oder Meinen gleich wäre. Das Geglaubte ist nur im Modus des Glaubens für den Glaubenden wahr. Zwar besteht die Möglichkeit, den Glaubensinhalt auch Nichtglaubenden zur Kenntnis zu geben. Die bloße Kognition des Glaubensinhaltes ist aber zu unterscheiden vom Vollzug des Glaubens, der den Inhalt nicht nur benennen kann, sondern ihn auch für wahr hält, obwohl sein Wahrheitswert nicht durch einen Erkenntnisakt verbürgt werden kann. Kant lehnt das Prinzip der fides historica ausdrücklich ab. Denn dasjenige „was wir nur von der Erfahrung anderer durch Zeugniß lernen können, […] ist […] doch noch nicht an sich Glaubenssache.“37 Und zwar deshalb nicht, weil dann, wenn man den historischen Weg einschlägt, es möglich sein müsste, „zum Wissen zu gelangen.“38 Glaube ist aber eine Form des Fürwahrhaltens, die sich von Wissen und Meinen gerade dadurch abhebt, dass ihr Inhalt niemals in die Form des Wissens überführt werden kann. Weil dem Glauben streng genommen kein erkennendes Moment eignet, kann es sich bei ihm auch nicht um die Zustimmung (assensus) zu einem Sachverhalt handeln. Denn das Wissen von historischen Begebenheiten oder (dogmatischen) Sachverhalten lässt sich schlechterdings nicht im Bereich des Glaubens unterbringen: „Der Glaube also“, sagt Kant, „der sich auf besondere Gegenstände, die nicht Gegenstände des möglichen Wissens oder Meinens sind, bezieht (in welchem letztern Falle er, vornehmlich im historischen, Leichtgläubigkeit und nicht Glaube heißen müßte), ist ganz moralisch.“39 Form des Wissens überführen und umgekehrt, auch wenn dem Glauben in Sachen Wahrheitserkenntnis immer das Primat vor dem Wissen eingeräumt wird (vgl. dazu H. DENZINGER: 3015–3020). 36 I. KANT: KdU, B 458 Anm. (Hervorhebungen im Original). 37 I. KANT: KdU, B 458 (Hervorhebung im Original). 38 I. KANT: KdU, B 458. 39 I. KANT: KdU, B 463 (Hervorhebungen durch A.H.).

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Aus der Abgrenzung des Glaubens von Wissen und Meinen lässt sich eine Konsequenz ziehen, die die Genese des Glaubens betrifft. Wenn das Geglaubte nämlich nicht in den Bereich fällt, der durch die Vernunft im Sinne des Beweises erschlossen werden kann, ist es streng genommen nur für das glaubende Subjekt im Glaubensvollzug selbst gültig. Es kann anderen vernünftigen Wesen nicht andemonstriert werden, wie es bei Wissensgehalten der Fall ist, die objektiv gültig sind. Das bedeutet aber auch, dass das Subjekt den Glaubensinhalt sich selbst nicht andemonstrieren kann. Das Bewusstsein seiner Wahrheit und Gültigkeit kann demnach nicht willentlich erzeugt werden, sondern stellt sich ein. Glaube tritt kontingent auf oder bleibt ebenso kontingent aus, kann aber nicht unter Vorsatz aufgebaut werden. Um es am Beispiel der Erlösung klar zu machen: Dass es eine Erlösertätigkeit Gottes gibt oder dass man sich Hoffnung auf eine solche machen kann, kann nur im Vollzug des Vertrauens auf Gott wahrgehabt werden, nicht im Modus des Wissens oder Meinens. Der Glaubende befindet sich, weil er im Glaubensvollzug steht, in einem Modus von Wirklichkeitswahrnehmung, den er selbst nicht willentlich herstellen kann. Zudem ist er sich seiner postulierenden Tätigkeit im Status des Glaubens nicht bewusst. Gott als Erlöser ist zwar ein Postulat, das einem Reflexionsgang des Subjekts folgt; allerdings blendet der Glaubende im Glaubensvollzug genau diese Tatsache aus. Vielmehr impliziert der Begriff des Fürwahrhaltens, dass im Glaubensvollzug kein Zweifel an der Wirklichkeit des geglaubten Sachverhalts besteht. Der Glaubende ist sich des Glaubensinhaltes im Sinne der certitudo gewiss, so dass Gott der Erlöser dem Subjekt unzweifelhaft Realität ist. Im Fall des Erlösungsglaubens ergibt sich der paradox anmutende Verhalt, dass einerseits Gottes Erlöserhandeln ein Postulat der praktischen Vernunft ist, das andererseits seinem Gehalt nach auf eben dieselbe Vernunft einwirken können soll – und zwar in absoluter Freiheit. Denn die geglaubte Erlösertätigkeit zeichnet sich gerade durch eine einseitige Einwirkung Gottes auf den Willen aus, der wiederum sich dieser Einwirkung fügt, ohne selbst auf Gott zurückwirken zu können. Dieses Paradox entsteht, weil die praktische Vernunft in unterschiedlicher Hinsicht betrachtet wird. Einerseits tritt sie in der Funktion auf, dem Reflexionsprozess auf sich selbst in Gottes Erlöserhandeln einen Abschlussgedanken hinzuzufügen, der den Sachverhalt angibt, von dem her eine Erlösung möglich ist. Andererseits nimmt der Glaubensakt dieselbe Vernunft als absolut passiv wahr, weil sie sich dem erlösenden Gott fügen muss, selbst aber keinen Einfluss auf diesen hat. Die Tatsache, dass die Wahrnehmungsart des Subjekts sich ändern kann, gibt den Grund für den Zweifel oder Unglauben ab. Unglauben ist nämlich

Die Wirkung der Erlösung im Subjekt

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dann, wenn „jenen Vernunftideen, weil es ihnen an theoretischer Begründung ihrer Realität fehlt, darum alle Gültigkeit“40 abgesprochen wird. Das Subjekt lässt sich in diesem Fall an dem Glaubensinhalt irre machen, weil es ihn nicht anschauen kann. Es will sodann etwas wissen, dem angemessen nur im Modus des Glaubens begegnet werden kann. Die schärfste Form des Unglaubens ist die dogmatische, die allerdings eine Anmaßung der theoretischen Vernunft bedeutet, die ihr nicht zukommt. Denn sie kann in Bezug auf Dinge, die sie nicht einsieht, weder bejahend noch verneinend reagieren. Sie ist in dieser Angelegenheit eigentlich gar nicht zu einem Urteil aufgerufen. Seinen Geltungsgrund hat der Glaube vielmehr in dem Anspruch der praktischen Vernunft, der nicht ohne die Postulate realisiert vorgestellt werden kann. Glaubensinhalt muss nicht notwendig das Erlösungshandeln Gottes sein. Sondern immer dort, wo in einem Reflexionsgang auf die praktische Vernunft letzte Gründe erschlossen werden, können diese nur glaubend für wahr gehalten werden. Auch bei der oben schon eingehend besprochenen Zurückführung des Sittengesetzes auf Gott handelt es sich um einen solchen mehrstufigen Reflexionsgang. Die Auffassung des Sittengesetzes als göttliches Gebot erfordert eine besondere Haltung des Subjekts – und zwar die glaubende Unterwerfung unter den Anspruch des göttlichen Willens. Es ist möglich, dass jemand sich dieser Haltung verweigert, weil er der spekulativen Vernunft allein das Vermögen einräumt, Wirklichkeit zu erschließen, oder weil es ihm ausreichend erscheint, die Faktizität des Sittengesetzes und seiner Geltung als Grund der praktischen Vernunft anzugeben. Beide Haltungen sind in sich plausibel, können aber nur um den Preis verfochten werden, den letzten angebbaren Grund für die Gültigkeit des Gesetzes nicht aufgesucht zu haben.

3.5 Die Wirkung der Erlösung im Subjekt Im Folgenden ist die Auswirkung der Erlösung im Subjekt näher zu bedenken. Von besonderem Interesse ist dabei, in welcher Weise das Subjekt in seiner Zuständlichkeit transformiert wird. Um sich die Vorgänge, die zu einer Wandlung des Subjekts führen, im Einzelnen zu verdeutlichen, ist es hilfreich, den Ausgangspunkt beim Zustand des alten Adams zu nehmen. Bei ihm ist das Ordnungsverhältnis der Triebfedern verkehrt; allerdings kann die Anlage zur Persönlichkeit als solche auch im Status der Sünde nicht verloren gehen. Und auch die Achtung als sittliche Triebfeder ist im Fall der Sünde nicht ausgelöscht ist, sondern besteht weiterhin – allerdings 40

I. KANT: KdU, B 464 (Hervorhebung im Original).

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im falschen Ordnungsverhältnis zur sinnlichen Triebfeder. Es muss zur Erlösung nicht die sittliche Triebfeder überhaupt in den Menschen introjiziert werden, sondern die sinnliche Triebfeder durch die schon vorhandene sittliche überformt werden. Insofern bleibt das Subjekt auch nach dem Sündenfall für eine göttliche Erlösungshandlung grundsätzlich empfänglich. Für eine vollständige Erlösung des Subjekts müsste in allen Lebensvollzügen das göttliche Gesetz (Sittengesetz) allein willensnormierend sein. Dieser Stand der Heiligkeit setzte die effektive Wandlung aller Handlungsprinzipien zum Guten voraus. Der Zustand der Heiligkeit wird allerdings in endlicher Zeit nicht erreicht, die sanctificatio bleibt vielmehr auch im besten Fall partikular. Das ist nach Kant schon deshalb evident, weil es in der Zeit niemanden gibt, der heilig ist. Was verändert sich durch die Erlösung im Subjekt? Um das zu klären, muss an die mehrstufige Maximenorganisation des Menschen erinnert werden, wie sie oben beschrieben worden ist. Das radikale Böse kann sinnvoll nur von der Wandlung der Metamaxime her überwunden werden. Sollte die Erlösungswirkung nicht auf die effektive Wende dieses obersten Handlungsprinzips zielen, sondern irgendwo anders in der Hierarchie der Maximen ansetzen, bliebe die Wandlung des Menschen aus prinzipiellen Gründen auf Dauer Stückwerk. Denn nur von der Metamaxime her ließe sich in einem unendlich währenden Prozess der Mensch als Ganzer wandeln; sie ist die einzige Maxime, der alle anderen Handlungsprinzipien untergeordnet sind. Soll die Metamaxime gewandelt werden, muss dies in einem einzigen Akt geschehen, der in einem Nu die Qualität der Maxime von einem moralischen Zustand in den anderen transformiert. Kant nennt diesen Akt die Revolution der Denkungsart oder Gesinnung.41 Alles andere würde bedeuten, dass die Wurzelmaxime in einem längeren Übergangsstadium befindlich wäre, in dem sie weder gut noch böse ist, sondern eine Zwischenposition einnimmt. Derartige Zustände sind für eine Maxime allerdings ausgeschlossen, weil der Charakter des Menschen, dessen Grund sie abgibt, sich entweder dadurch auszeichnet, dem Sittengesetz zu folgen oder subjektiven Neigungen. Die oberste Maxime ist durch den Willen entweder zum Guten oder zum Bösen bestimmt, wobei die einfache Alternative eine neutrale Qualität ausschließt. Die revolutionäre Wandlung der obersten Maxime bedeutet allerdings nicht unmittelbar die moralische Neuerung des Menschen in jeder Hinsicht, weil der sündige Charakter des Menschen eine gewisse Festigkeit durch die Zeit aufweist und nur allmählich gewandelt werden kann. Um dies zu erläutern, wird bei Kant an den langwierigen Prozess von Tugendbildung

41

Vgl. I. KANT: Rel., 47f.

Die Wirkung der Erlösung im Subjekt

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erinnert:42 Tugend meint bei ihm den festen Vorsatz, sich pflichtgemäß verhalten zu wollen.43 Fasst jemand diesen Vorsatz, muss er sich entsprechend solche Maximen aneignen, die der Pflicht folgen. Tugendbildung meint nichts anderes als einen Heiligungsprozess, in dem allmählich Maximen nach der Pflicht ausgerichtet werden. Um es an von Kant gebotenen Beispielen zu illustrieren, mag man sich vorstellen, wie Unmäßige zur Mäßigkeit sich zügeln, Lügenhafte zur Wahrheit sich bekehren etc., weil sie dies als ihre Pflicht erkannt haben.44 Entsprechend würde sich das Subjekt normative Handlungsmuster angeeignet haben mit dem Inhalt Sei in allen Situationen mäßig und Lüge in keiner Situation. Je mehr Maximen dieser Art gebildet und eingeübt worden sind, und je stärker sich das Subjekt nach ihnen richtet, desto tugendhafter findet es sich vor. Ein Mensch erwirbt auf diese Weise nach und nach einen Handlungscharakter: So hat denn jeder Mensch einen empirischen Charakter seiner Willkür, welcher nichts anders ist, als eine gewisse Causalität seiner Vernunft, so fern diese an ihren Wirkungen in der Erscheinung eine Regel zeigt, darnach man die Vernunftgründe und die Handlungen derselben nach ihrer Art und ihren Graden abnehmen und die subjectiven Principien seiner Willkür beurtheilen kann.45

Der Prozess der Heiligung geht langsam vor sich, weil in seinem Verlauf etliche Maximen im Sinne der Pflicht gewandelt werden müssen. Diese aber zeichnen sich wegen ihrer Funktion, prinzipielle Handlungsorientierung geben zu können, durch Beharrlichkeit aus und werden nur selten einer Modifikationsüberlegung unterzogen, der eine Neuordnung der Maxime zum Guten folgen könnte. Wenn also die Heiligung ihren Ausgang bei der Erlösung der Metamaxime nimmt, ist mit ihrer Wandlung zum Guten zwar der Grundstein für einen Besserungsprozess gelegt; der Charakter desselben Menschen kann allerdings erst nach und nach überformt werden: [W]enn er den obersten Grund seiner Maximen, wodurch er ein böser Mensch war, durch eine einzige unwandelbare Entschließung umkehrt (und hiemit einen neuen Menschen anzieht): so ist er so fern dem Prinzip und der Denkungsart nach ein fürs Gute empfängliches Subjekt; aber nur in continuirlichem Wirken und Werden ein guter Mensch.46

42

Vgl. I. KANT: Rel., 47. Vgl. zur Definition des Tugendbegriffs I. KANT: Rel., 23 Anm. und 47. 44 Die Beispiele finden sich bei I. KANT: Rel., 47. 45 I. KANT: KrV, B 577. 46 I. KANT: Rel., 47f. 43

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Kant findet für diesen zähen Vorgang der Heiligung im Kontrast zur Revolution der Denkungsart den Ausdruck der „allmählige[n] Reform [...] für die Sinnesart.“47 Allein die Heiligkeit der obersten Maxime macht den Menschen aus genannten Gründen noch nicht der Tat nach gut, und so kann er insgesamt auch nicht als heilig gelten.48 Er bleibt verderbt, was die untergeordneten Maximen angeht, die für ebenso verderbte Handlungen die Ursache abgeben. In diesem Sinne bleibt der Mensch auch nach seiner Erlösung Sünder. Auch wenn man die Ursünde als getilgt annimmt, wird sich die Aktualsünde als phänomenale Handlung weiterhin äußern. Damit steht der Erlöste in einer für ihn eigentümlichen Spannung: Zum einen ist er der Gesinnung der Urmaxime nach ein neuer Mensch. Er bleibt andererseits in seinem Lebensvollzug wegen seines sündigen Charakters der alte Adam. Auch hier lassen sich Analogien zur Theologie Luthers erkennen. Dieser hat gemeint, dass der Gerechtfertigte „zu einer im Urteil Gottes gewendeten Selbstwahrnehmung gelangt.“49 Die neue Selbstwahrnehmung bedeutet für den Glaubenden zugleich die Konstitution einer neuen Gesinnung, die sich dadurch auszeichnet, dass sie „gegen den alten Adam in Vollzug gebracht wird, nämlich so, dass der Sünder sich als gerechtfertigt erfährt und von daher und dadurch gegen die Wirksamkeit der Sünde in sich selbst ins Werk gesetzt wird.“50 Luther hat ganz analog zu dem, was sich bei Kant finden lässt, diese fortwährende Durchdringung der Person als einen Prozess verstehen können, in dem der Mensch gleichsam einen Instinkt für das gute Handeln ausbildet. Das Erwerben dieses Instinkts, der die Grundlage des Heiligungsprozesses ausmacht, meint nichts anderes als die Charakterbildung bei Kant.51 Der Erlösungs- oder Rechtfertigungsgnade folgt hier wie dort die langsame Transformation des Handlungscharakters, welches einen Prozess der Annäherung an einen absolut sittlichen Lebensvollzug bedeutet, ohne allerdings das Ideal im endlichen Leben je zu erreichen.

47

I. KANT: Rel., 47. I. KANT: Rel., 46. 49 C. AXT-PISCALAR: Taufe-Sünde-Buße bei Luther, 170. 50 C. AXT-PISCALAR: Taufe-Sünde-Buße bei Luther, 180. Vgl. in diesem Sinne auch L. HAIKOLA: Melanchthons und Luthers Lehre der Rechtfertigung, 101, der dort (Anm. 47) eine Fülle von Belegen bietet. 51 Vgl. K. HOLL: Der Neubau der Sittlichkeit, 229–235. Holl meint zwar, hier stünde Kant in Gegensatz zu Luther, weil dieser eine solche Instinktbildung fordert und jener angeblich jede Handlung einer Vernunftprüfung unterzogen sieht. Holl übersieht, dass eben auch Kant mit der Einführung des Begriffs der Maxime ein Prinzip von Handlung kennt, das nicht bei jeder neuen Handlung erneut in Frage steht. 48

Erkenntnis der Erlösungsbedürftigkeit

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3.6 Erkenntnis der Erlösungsbedürftigkeit durch Predigt des Gesetzes Erlösung nimmt ihren Anfang in einer Revolution der Denkungsart, die nach religiöser Deutung ihre Ursache in göttlicher Gnade hat. Erst von der gewandelten Metamaxime aus kann ein Prozess der Heiligung anheben, in dem sich nach und nach das Weltverhältnis bessern lässt. Wer nach dem letzten Grund von Erlösung fragt, wird sowohl die revolutionäre Veränderung der Metamaxime als auch die reformerische moralische Besserung der Sitten ursächlich auf einen göttlichen Gnadenakt zurückführen. Kant spricht aber auch davon, der Mensch müsse sich „würdig machen“52, den übernatürlichen Beistand zu empfangen. Das lässt auf die Unterstellung aktiver Vorbereitung des Sünders schließen, die diesem zugetraut und abgefordert wird. Es muss erörtert werden, wie unter der genannten Voraussetzung der Radikalität des Bösen eine ursprüngliche Leistung des Subjekts zu seiner Erlösung möglich sein soll. Sollte dem Menschen nämlich eine solche Leistung eingeräumt werden – und Kants Nachdruck, mit dem er die Würdigkeit zum göttlichen Beistand einfordert, scheint dafür zu sprechen –, muss erörtert werden, welcher Art diese Leistung sein kann und ob durch sie der gedachte totale Gnadencharakter der Erlösung konterkariert ist. Zunächst muss der Begriff der Würdigkeit, wie er von Kant verwendet wird, expliziert werden. Er meint den Zustand eines Subjekts, der zum Besitz eines anderen Zustandes oder einer Sache berechtigt, der mit der Idee des höchsten Gutes zusammengeht.53 Gemeinhin verwendet Kant den Terminus würdig sein, um das Verhältnis von Moralität zu Glückseligkeit zu bestimmen. Jemand hat erst dann ein Anrecht auf Realisierung seiner Glückseligkeit, wenn er dem Guten aus Pflicht und nur aus Pflicht nachgeht. Das Ordnungsverhältnis von Moralität und Glückseligkeit ist das der Nachordnung der letzteren. Anspruch auf Realisierung von Glückseligkeit gibt es erst nach und mit der Realisierung der eigenen moralischen Bonität.54 Dem Zustand der Glückseligkeit ist mithin nur derjenige würdig, der zuvor gut ist. Bezüglich der Erlösung findet der Begriff der Würdigkeit allerdings eine inhaltlich verschobene Anwendung. Der Struktur nach meint Würdigkeit auch hier die Berechtigung auf einen Zustand oder eine Sache. Es geht nun aber nicht um Würdigkeit zur Glückseligkeit, sondern im Blick ist die Würdigkeit zur übernatürlichen erlösenden Einwirkung auf das Subjekt. Es 52

Vgl. I. KANT: Rel., 44 (Hervorhebung im Original). Vgl. I. KANT: KpV, A 234: „Würdig ist jemand des Besitzes einer Sache oder eines Zustandes, wenn, daß er in diesem Besitze sei, mit dem höchsten Gute zusammenstimmt.“ (Hervorhebung im Original). 54 Vgl. dazu exemplarisch: I. KANT: KpV, A 232–235. 53

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heißt bei Kant: „Gesetzt, zum Gut= oder Besserwerden sei noch eine übernatürliche Mitwirkung nöthig, […] der Mensch muß sich doch vorher würdig machen, sie zu empfangen.“55 Fraglich ist nun, was inhaltlich ausgesagt wird, wenn Kant von einer Würdigkeit zur erlösenden Wirkung Gottes redet. M.a.W. ist zu erörtern, welcher Qualität der Zustand einer Person sein soll, um sich einer Erlösung ab extra berechtigt zu wissen. Ganz offenkundig kann es sich nicht um den Zustand der Moralität handeln, der Bedingung für die Würdigkeit zur Glückseligkeit ist. Denn Moralität soll durch einen göttlichen Erlösungsakt, dessen sich der Mensch würdig machen soll, allererst hergestellt werden und kann nicht vorausgesetzt sein. Die hier vertretene These lautet deshalb: Es geht um einen Zustand, in dem das Bewusstsein der Forderung des Sittengesetzes kultiviert worden ist, denn dieses Bewusstsein ist Voraussetzung für das Bewusstsein der Erlösungsbedürftigkeit. Anhalt zu dieser These bieten einige Ausführungen der Religionsschrift, in denen die Bewusstmachung der eigenen moralischen Bestimmung eingefordert wird.56 Es geht darum, das Subjekt in eine Stimmung zu versetzen, in der das Pflichtgefühl „ein merkliches Gewicht zu bekommen anhebt.“57 Das Subjekt befindet sich vermittelst dieser Stimmung nicht schon im Stand der Erlösung. Es kann folglich auch keine Leistung im Sinne des Verdienstes als Vorleistung zur Erlösung erbringen, wie es die Scholastik gemeint hat. Sondern es soll in eine Gemütsstimmung versetzt werden, in der es sich des an ihn gestellten Anspruchs bewusst wird. Und dieser Anspruch lautet: Du sollst gottebenbildlich sein. Kant kann mit Begeisterung schildern, wie sich dem Subjekt in dieser Stimmung das Gefühl der Erhabenheit einstellt: Dieses Gefühl der Erhabenheit seiner Bestimmung öfter rege zu machen, ist als Mittel der Erweckung sittlicher Gesinnungen vorzüglich anzupreisen, weil es dem angebornen Hange zur Verkehrung der Triebfedern in den Maximen unserer Willkür gerade entgegen wirkt.58

Der hier in Anspruch genommene Passus der Religionsschrift beginnt mit: Aber eines ist in unsrer Seele, welches, wenn wir es gehörig ins Auge fassen, wir nicht aufhören können, mit der höchsten Verwunderung zu betrachten, und wo die Bewunderung rechtmäßig, zugleich auch seelenerhebend ist; und das ist: die ursprüngliche moralische Anlage in uns überhaupt.59

55

I. KANT: Rel., 44. Vgl. auch: Rel., 45 und 52. Vgl. I. KANT: Rel., 48–50. 57 Vgl. I. KANT: Rel., 48. 58 I. KANT: Rel., 50. 59 I. KANT: Rel., 49. 56

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Nach der hier vertretenen These soll die seelenerhebende Bewunderung der eigenen moralischen Anlage zur Erlösung würdig machen. Damit ist nicht eine selbstheroisierende Gemütsstimmung gemeint, sondern – wie sich sogleich zeigen wird – eine Gemütsverfassung, die sich sowohl durch Lust an der eigenen Bestimmung als auch durch zerknirschte Unlust an der eigenen Verfehlung auszeichnet. Es ist zunächst zu klären, was sich hinter dem Begriff des Erhabenen verbirgt. Denn nur von ihm her wird sich erschließen, warum das Bewusstsein der eigenen Erhabenheit notwendig für die Erkenntnis der eigenen Sünde und Erlösungsbedürftigkeit ist. 3.6.1 Der Begriff des Erhabenen bei Kant Das Gefühl des Erhabenen findet eine eingehende Analyse in der Kritik der Urteilskraft. Urteilskraft ist nach Kant ein Vermögen eigener Art und von der Vernunft strukturell zu unterscheiden. Vernunft zeichnet sich sowohl in ihrer spekulativen wie praktischen Ausübung dadurch aus, dass sie sich gesetzgebend auswirkt: Die spekulative Vernunft gibt der Materie ihr Gesetz und ermöglicht so Erkenntnis. Die praktische Vernunft wirkt sich gesetzgebend auf den freien Willen aus und ist das Vermögen zu moralisch guten Handlungen. Vernunftgesetze geben entweder vor, was der Fall ist oder was der Fall sein soll.60 Die Urteilskraft dagegen ist nicht ein Vermögen, das sich gesetzgebend objektkonstitutiv auswirkt, sondern durch sie wird Besonderes unter das Allgemeine denkend subsummiert. Im Erkenntnisakt und im praktischen Vollzug des Subjekts ist die Funktion der Urteilskraft, die noumenalen Vorgaben von Verstand und Vernunft in Beziehung zu setzen zum zu bestimmenden Gegenstand. Sie ist in beiden Fällen nicht gesetzgebend objektkonstitutiv, sondern gesetzanwendend. Auf diese Weise erhält das Objekt seine Bestimmung, und die Urteilskraft heißt in dieser Funktion denn auch bestimmende Urteilskraft. Sie ist von ihrer reflektierenden Variante zu unterscheiden. Erstere (bestimmende Urteilskraft) meint das Urteilen unter der Bedingung eines schon gegebenen allgemeinen Prinzips oder Gesetzes und findet Anwendung beispielsweise bei der begrifflichen Bestimmung eines Objekts im Erkenntnisakt. Apprehendiertes wird hier unter die gegebenen Gesetze des Verstandes geordnet. Die reflektierende Urteilskraft aber sucht zu gegebenem Besonderen allererst ein allgemeines Prinzip.61 Das Allgemeine soll also in einem 60 Vgl. I. KANT: KrV, B 868f und W. BARTUSCHAT: Zum systematischen Ort von Kants Kritik der Urteilskraft, 85–87. 61 Vgl. I. KANT: KdU, Einleitung Abschnitt IV, B XXV–XXXVIII.

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Reflexionsgang auf das Besondere erst gefunden werden. Die reflektierende Urteilskraft ermöglicht so beispielsweise den Begriff von der Zweckmäßigkeit der Natur, indem in einem Reflexionsgang auf die besonderen Zweckmäßigkeiten der Natur ein letzter Zweck aufgesucht wird, dem sich die je einzelnen Naturabläufe zu fügen scheinen. Von der so in einem Reflexionsgang aufgesuchten Idee des Zwecks der Natur wird gemeint, sie sei Grund aller Naturabläufe. Diese teleologische Auffassung der Natur soll später noch ausführlich zur Sprache kommen62, denn sie ist eng verknüpft mit der Idee von der Vollendung der Welt durch Gott. Freilich ist sie nicht die einzige Art und Weise, Natur auf ihre Zweckmäßigkeit hin zu erleben. Daneben gibt es das Bewusstsein ästhetischer Zweckmäßigkeit, bei dem allerdings nicht einem Objekt oder einem Naturvorgang ein sie leitendes Zweckprinzip unterlegt wird; sondern ästhetische Zweckmäßigkeit meint die Zweckmäßigkeit eines Angeschauten in Bezug auf das Subjekt. Zu unterscheiden sind dabei grundsätzlich das Erlebnis der Zweckmäßigkeit von Schönem und Erhabenem. Apprehendiertes Material weist im Fall des Schönen eine Ordnung der Form auf, die die beiden Erkenntnisvermögen Einbildungskraft und Verstand in ein freies Spiel63 versetzen, ohne dass dabei ein Begriff vom Objekt gebildet wird. Das vorgestellte Objekt wird nicht als objektive Entität bestimmt, wie es im epistemischen Akt der Fall ist, sondern es versetzt vermöge seiner Form die Erkenntniskräfte des Subjekts in einen Zustand proportionierter Stimmung. Die Form des schönen Objekts findet Resonanz in besagter spielerischer Stimmigkeit der Erkenntnisvermögen, so dass auch die erstere (Form des Objekts) als stimmig erlebt wird. Das freie nicht zum Begriff führende Spiel der Erkenntniskräfte wird als Lust erfahren, die sich einstellt, weil es zu einer wechselseitigen „Beförderung“64 von Einbildungskraft und Verstand kommt, die als lebenssteigernd65 erfahren wird. Subjektiver Zweck ist in diesem Fall das lebenssteigernde Gefühl der Lust. Das vorgestellte Objekt hat seine Zweckmäßigkeit nicht darin, empirisch oder begrifflich erfasst worden zu sein, sondern darin, eine Lust eigener Art zu ermöglichen. Es handelt sich folglich um eine subjektive Zweckmäßigkeit, und das Urteil heißt in diesem Fall ästhetisch.66 Das 62

Vgl. unten den Abschnitt 5.3.2. Vgl. I. KANT: KdU, B XLIV und B 29. 64 I. KANT: Erste Einleitung in die KdU, 221. 65 Vgl. I. KANT: KdU, B 75. 66 Vgl. I. KANT: Erste Einleitung in die KdU, 248f. Das ästhetische Urteil ist nicht zu verwechseln mit dem ästhetischen Vermögen des Erkenntnissubjekts, das mit den Anschauungsformen Raum und Zeit a priori vorgibt, wie es im Erkenntnisakt sinnlich affiziert wird. Vgl. zur Differenzierung auch I. KANT: Erste Einleitung in die KdU, Abschnitt VIII. 63

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vorgestellte Objekt wird, um es zusammenzufassen, als schön beurteilt, wenn es zur innersubjektiven Zusammenstimmung der Erkenntnisvermögen im genannten Sinne führt. Was zeichnet nun darüber hinaus das Erhabene aus? Auch die Analytik des Erhabenen geht von der Bezogenheit der Einbildungskraft auf ein noumenales Vermögen aus. Allerdings wird sie nicht auf den Verstand, sondern auf die Vernunft bezogen. Das Verhältnis von Vernunft und Einbildungskraft wird so gedacht, dass Aufgefasstes reflektierend auf Begriffe der Vernunft bezogen wird, die für das Urteil nicht vorausgesetzt, sondern im Urteilsakt erst gesucht werden. Auch im Fall des Erhabenen wird ein Urteil gefällt, in dem das Darstellungsvermögen (Einbildungskraft) auf Begriffe bezogen ist. Diese Begriffe haben nun aber nicht die Funktion, das Angeschaute zu bestimmen, sondern sind Ergebnis einer Reflexion auf das Aufgefasste. Bedenkt man, dass die Vernunft sich auf zweifache Weise vollzieht, als theoretische und praktische, ergeben sich auch zwei Möglichkeiten des Verhältnisses von Einbildungskraft und Vernunft im reflektierenden Urteil. Kant trägt dieser doppelten Möglichkeit Rechnung und unterscheidet das mathematisch vom dynamisch Erhabenen.67 In beiden Fällen stellt sich das Gefühl des Erhabenen ein, wenn es ein Bezogensein der Einbildungskraft auf die Vernunft aus Anlass eines Urteils über die Größe von etwas gibt: „Erhaben nennen wir das, was schlechthin groß ist.“68 3.6.1.1 Das mathematisch Erhabene Kant führt die Analyse des Erhabenen zunächst an seiner mathematischen Variante durch:69 Werden Entitäten darauf hin befragt, wie groß sie sind, wird erstens vorausgesetzt, dass überhaupt eine Größe vorliegt, und das heißt, dass „Vielheit des Gleichartigen zusammen Eines ausmacht.“70 Um bestimmen zu können, wie groß die Größe sei, ist zweitens mindestens eine weitere Vergleichsgröße nötig, an der sich das gegebene Quantum messen lässt. Urteile dieser Art zur objektiven Größenmessung nennt Kant mathematisch bestimmende.71 Ein Objekt wird dabei unter Voraussetzung eines Maßes in einem quantifizierenden Urteil bestimmt. Davon abgehoben werden können Urteile über eine Größe, die nicht bestimmend sind, die mithin keinen objektiven Maßstab voraussetzen. In diesem Fall wird etwas als „schlechtweg“72 groß oder klein bezeichnet, 67

Vgl. I. KANT: KdU, B 80. I. KANT: KdU, B 81 (Hervorhebungen im Original). 69 Vgl. I. KANT: KdU, B §§ 26 und 27. 70 I. KANT: KdU, B 81. 71 Vgl. I. KANT: KdU, B 82f. 72 Der Begriff wird in I. KANT: KdU, B 81 eingeführt. 68

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ohne näher anzugeben, wie groß es ist. So werden Menschen beispielsweise einfach als groß bezeichnet, ohne jeden objektiven Vergleich. Das Urteil ist mithin ästhetisch-subjektiv, weil der zu Grunde gelegte Maßstab ein unbestimmt subjektiver ist. Es gibt eine weitere Differenz von mathematisch-logischer Größenschätzung zur ästhetischen: Sie betrifft die Art, wie die Einbildungskraft jeweils agiert. Bei der objektiven Bestimmung von Größen als Größen fasst die Einbildungskraft sinnlich Apprehendiertes auf, und zwar geordnet durch den inneren Sinn, also im zeitlichen Nacheinander. Der Verstand gibt dabei Zahlbegriffe vor, die eine Maßeinheit repräsentieren, die das Schema für die bloße Auffassung durch die Einbildungskraft abgibt. Die Größe wird dadurch bestimmt, wie oft in einer Apprehension das Maß aufgefasst worden ist. So fasst bei der Bestimmung der Größe eines Gegenstandes, der einen Meter lang ist, die Einbildungskraft 100 mal das Maß von einem Zentimeter auf. Nun zeichnet sich diese auffassende Funktion der Einbildungskraft durch die Fähigkeit aus, ins Unendliche fortschreiten zu können – und zwar deshalb, weil Zahlenmengen mathematisch unendlich erweitert werden können.73 Ästhetische Größenschätzung dagegen wird nicht vermittelst von Zahlen und deren Schemata vorgenommen, sondern zeichnet sich durch die Darstellung von Größe aus, in der diese anschaulich wird.74 Dazu wird ein doppeltes Leistungsvermögen der Einbildungskraft erfordert: erstens das schon erwähnte Apprehensionsvermögen und darüber hinaus zweitens ein Komprehensionsvermögen, durch das das Aufgefasste zu einer Totalität zusammengefasst wird. Erst mit der Zusammenfassung wird apprehendiertes Gleichartiges auch zu einer Anschauung im Sinne einer Darstellung.75 Das Auffassungsvermögen kann wie gezeigt mit fortschreitender Zeit 73

Vgl. I. KANT: KdU, B 90f. Dabei wird im Übrigen überhaupt kein Begriff und also auch kein Zahlbegriff in Anschlag gebracht, der Objektivität der Größe ermöglichte. Vielmehr wird eine Größe subjektiv anschaulich als Größe dargestellt. Diesem so vorgestellten Quantum kann dann eine Maßeinheit zugeordnet werden, so dass sie in der Folge zur objektiven Größenordnung eignet. Es kann hier also bemerkt werden, dass die Trennung zwischen logisch-bestimmender und ästhetischer Größenschätzung nicht ohne jede Brücke ist. Mathematische Größenschätzung setzt ein bestimmtes Maß als Komparationsgröße voraus, das seinerseits zu seiner Bestimmung auf ein weiteres Maß zurückgreift. Dieses Zurückgreifen auf ein anderes würde unendlich iterieren, ohne dass sich eine erste Referenzgröße bestimmen ließe, wenn dieses nicht durch unmittelbares Auffassen einer Größe als Darstellung einer ihr zugeordneten Zahl geschieht. Welche dargestellte Größe allerdings welcher Zahl zugeordnet wird, geht auf ein subjektives Urteil zurück. Es folgt, dass jedes objektiv bestimmende Größenurteil seinen Letztgrund in einem subjektiv-ästhetischen hat. Dass also ästhetische Auffassung von Größen tatsächlich statt hat, kann nicht bestritten werden, wenn man das Vermögen zur objektiven Größenbestimmung nicht leugnen will. Denn jene ist Voraussetzung für diese. 75 Vgl. I. KANT: KdU, B 87 und 91f. 74

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unendliche Größen apprehendieren, die Leistungskraft des Komprehensionsvermögens ist dagegen limitiert. M.a.W. vermag es nur Größen bis zu einer bestimmten Grenze in Eines zu synthetisieren. Gelingt der Vorgang, ist das Resultat die bestimmte Darstellung der Größe von in Sinneseindrücken Aufgenommenem. Überschreitet dagegen das apprehendierte Quantum das Maximum, das durch die Synthesisleistung in einem Ganzen zugleich dargestellt werden kann, scheitert die Einbildungskraft an der Darstellung des Gegenstandes.76 So kann beispielsweise jemand, der zu nahe an einer Pyramide77 steht, zwar ihre Größe auffassen, indem die Einbildungskraft progressiv das Maß vom Fuß zur Spitze apprehendiert; und doch gelingt es nicht, das Aufgefasste als ein Ganzes sich vor Augen zu führen.78 Allerdings steht diesem Unvermögen eine Forderung der Vernunft entgegen, die die „Zusammenfassung einer jeden Erscheinung, die uns gegeben werden mag, in die Anschauung eines Ganzen“79 fordert. Die Einheit des angeschauten Materials in einer Darstellung kann aber in diesem Fall von der Einbildungskraft wegen der Beschränktheit ihrer Komprehensionsmöglichkeit nicht geleistet werden. Die einzige Instanz, die die geforderte und jede andere Zusammenfassung zu leisten vermag, ist nun nicht die Einbildungskraft, sondern die Vernunft, die den Begriff einer absoluten Totalität des gegebenen Ganzen aller Erscheinungen zu bilden vermag und somit selbst die Zusammenfassung einer unendlich fortschreitenden Auffassung der Einbildungskraft leisten kann. Das durch die Vernunft gedachte Absolute ist ein „Gegenstand, der nirgend anders als in unseren Gedanken gegeben werden kann, nämlich die schlechthin unbedingte Totalität der Synthesis der Erscheinun76 Vgl. I. KANT: KdU, B 87: „Mit der Auffassung hat es keine Noth: denn damit kann es ins Unendliche gehen; aber die Zusammenfassung wird immer schwerer, je weiter die Auffassung fortrückt, und gelangt bald zu ihrem Maximum, nämlich dem ästhetisch-größten Grundmaße der Größenschätzung. Denn wenn die Auffassung so weit gelangt ist, daß die zuerst aufgefaßten Theilvorstellungen der Sinnenanschauung in der Einbildungskraft schon zu erlöschen anheben, indeß daß diese zu Auffassung mehrerer fortrückt: so verliert sie auf einer Seite eben so viel, als sie auf der anderen gewinnt, und in der Zusammenfassung ist ein Größtes, über welches sie nicht hinauskommen kann.“ 77 Das Beispiel findet sich bei I. KANT selbst in: KdU, B 88. Kant hält allerdings vor allem die Natur und nicht Artefakte als Beispiele geeignet, um an ihr das Gefühl des Erhabenen zu explizieren. Denn nur an der rohen Natur wird ein rein ästhetisches Urteil möglich sein. Kunstprodukte (wie etwa Pyramiden) haben bestimmte Zwecke und werden also auch auf diese hin beurteilt und nicht rein ästhetisch. Rein ästhetische Urteile zeichnen sich nämlich dadurch aus, dass Zweckmäßigkeit ohne jeden Zweck ausgemacht wird. Sie werden vornehmlich über die rohe Natur gefällt werden, die zunächst weder auf einen bestimmten Zweck hin beurteilt wird noch sonst andere Rührung im Subjekt auslöst als allein das Gefühl des Erhabenen (Vgl. KdU, B 89). 78 Im Sinne von: durch die Einbildungskraft zu einer dargestellten Einheit zusammenzufassen. 79 I. KANT: KdU, B 96. Vgl. auch KdU, B 91f.

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gen.“80 Dieser Begriff des Weltganzen81 gibt das unbedingte Prinzip an, in dem die Zusammenfassung der Erscheinungen zu einer Totalität als Idee gedacht wird. Was das hier gestellte Problem angeht, ist es diese Idee, die alle ausgedehnten Größen auf einen Begriff hin zusammenfasst. Der Begriff wird allerdings erst durch eine Reflexionsleistung auf die nicht zusammenzufassende Größe von etwas bewusst. Der Mangel der Einbildungskraft, nämlich das Unvermögen Angeschautes zu einer (subjektiven) Größe zusammenzufassen, ist allein durch die Vernunftidee der Totalität aller Erscheinungen zu kompensieren möglich. Die an ihre Grenzen geratene Einbildungskraft wird durch die Urteilskraft auf Grund der Forderung zur Zusammenfassung des Apprehendierten in eine Beziehung zur Vernunft und ihrer rein noumenalen Idee der Totalität des Unendlichen versetzt. Diese Beziehung der Einbildungskraft zur Vernunft hat nun ein eigentümliches Gepräge: Sie ist nicht wie im Erkenntnisakt vermittelt über den Verstand, sondern die Urteilskraft bezieht die Einbildungskraft direkt auf die Vernunft und ihre Ideen, die die Einbildungskraft erweitert um die Idee des absolut Großen. Wie es beim Auffassen von Schönem ein Spiel gibt zwischen Einbildungskraft und Verstand, so ist bei der Beurteilung des Erhabenen eine Beziehung zwischen Einbildungskraft und Vernunft gegeben. Vermittelst des Ungenügens der Einbildungskraft wird ein besonderes Vermögen der Vernunft im Menschen bewusst, und zwar wird es bewusst als ein bestimmtes Gefühl. Um zu erklären, um was für ein Gefühl es sich dabei handelt und wie es zu Stande kommt, ist ein gedanklicher Zweischritt zu vollziehen: Zunächst ergibt sich beim Anblick eines Gegenstandes, der erhaben genannt wird, ein Gefühl der Unlust aus dem Scheitern des Komprehensionsvermögens der Einbildungskraft, ihn in einer Größe darzustellen. Der Gegenstand erweist sich nämlich insofern als unzweckmäßig, als es dem Subjekt nicht gelingt, der Forderung der Zusammenfassung einer Anschauung in einer Darstellung nachzukommen. Dies kommt im Übrigen der Unmöglichkeit gleich, die noumenale Idee der Totalität der Erscheinungen darzustellen. Denn diese Idee übersteigt erstens alle möglichen Größen in der Welt, zweitens ist sie als Idee keiner Darstellung fähig. Diese Idee ist es aber, die die geforderte Zusammenfassung überhaupt noch zu leisten vermag. Und wegen dieses Vermögens bleibt es nicht allein bei der Unlust, sondern diese wird ergänzt durch eine Lust, die sich an der Unangemessenheit der Einbildungskraft als einem Vermögen der Sinnlichkeit entzündet, Vernunftideen zur Darstellung zu bringen. Sie ist das Resultat der Befriedigung einer anderen Forderung der Vernunft, die verlangt, 80 81

I. KANT: KrV, B 509. Vgl. dazu I. KANT: KrV, B 545–551.

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„alles, was die Natur als Gegenstand der Sinne für uns Großes enthält, in Vergleichung mit Ideen der Vernunft für klein zu schätzen.“82 Auf diese Weise fühlt sich das Subjekt erhaben über alle Natur. Denn es kann qua Vernunft eine Größe denken, die jedwede sinnliche Größe zusammenfasst und zugleich übersteigt. Letzteres wird bei Kant dadurch zum Ausdruck gebracht, dass die Idee von Totalität sich als solche nicht mehr darstellen, sondern nur noch denken lässt. Das Gefühl des Erhabenen ist danach ein doppelt qualifiziertes: Es setzt sich zusammen aus Unlust und Lust, die zugleich das Gemüt bewegen. Das Subjekt fühlt sich vom Gegenstand, wenn dieser als erhaben beurteilt wird, zugleich abgestoßen und angezogen. Erhaben ist aber streng genommen nicht der Gegenstand, an dem sich das Gefühl von Unlust und Lust einstellt, sondern das Vernunftvermögen, eine Idee zu bilden, die als solche Überlegenheit über alles Sinnliche hat.83 3.6.1.2 Das dynamisch Erhabene Bei der Analyse des dynamisch Erhabenen gibt es Strukturanalogien zum bisher Ausgeführten.84 Größe wird hier allerdings nicht als räumliches oder zeitliches Quantum vorgestellt, sondern als Größe von Macht. Unter Macht ist die Fähigkeit zu verstehen, sich gegen Hindernisse durchsetzen zu können. Ist eine Macht einer anderen soweit überlegen, dass sie sich auch gegen diese durchsetzen kann, so hat sie gemessen an ihr Gewalt. Das dynamisch Erhabene wird nun überall dort erlebt, wo eine Macht vorgestellt wird, die Gewalt über das physische Subjekt hat und also furchterregend ist. Situationen, in denen das Gefühl des Erhabenen an einem dynamischen Gegenstand (vorzugsweise der Natur) sich entzündet, sind allerdings dadurch gekennzeichnet, dass das Subjekt sich der Gewalt der Natur tatsächlich entzogen weiß. Ist ein Subjekt nämlich einer Gewalt real ausgesetzt, wird der Gegenstand kaum reflektierend beurteilt, sondern in erster Linie bestimmend, um die Gefahrenquelle ausmachen und sich ihr entziehen zu können. Voraussetzung für das Gefühl des Erhabenen ist also ein Gegenstand der Gewalt, der aber aus einer abständigen Beobachterposition als Gewalt wahrgenommen wird. Dass er trotzdem als Gewalt in Bezug auf das körperliche Subjekt vorstellig wird, ist der Einbildungskraft zu verdanken85, die das Subjekt so vorstellt, als ob es der (Natur-) Gewalt ausgesetzt sei. Die Einbildungskraft stellt eine Situation vor, in der die Größe der 82

I. KANT: KdU, B 97f. Darauf weist I. KANT immer wieder hin: Vgl. KdU, B 85; 94 und 97. 84 Vgl. zum Folgenden I. KANT: KdU, B § 28 und 29. 85 Durch die reproduktive Einbildungskraft können schon gehabte Anschauungen erneut vorgestellt werden. Phantasie ist dagegen die Einbildungskraft in ihrer Tätigkeit, unwillkürlich Einbildungen vorzustellen. Vgl. I. KANT: Anthropologie, 167. 83

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Gewalt sich gegen das Subjekt und seinen Willen durchsetzen würde, weil es gegen jene sinnlich unterlegen und ohnmächtig wäre. Ein Subjekt, das sich qua assoziativer Einbildungskraft in die Lage versetzt, einer Naturgewalt ausgeliefert zu sein, verspürt zunächst Unlust an der vorgestellten Situation – und zwar als Furcht. Diese Furcht ist letztlich nichts als Furcht vor dem grauenhaften Gegenstand, der mit Gewalt die eigene Selbsterhaltung zu gefährden droht. Es handelt sich um eine Furcht, die in der Sorge um das eigene Dasein gründet, das bei Realität der Vorstellung ausgelöscht werden würde. Das Gefühl, der (Natur-) Gewalt physisch nicht widerstehen zu können, äußert sich folglich zunächst als Unlustgefühl. Nun wird vermöge dieses Unlustgefühls ganz parallel zum mathematisch Erhabenen allerdings ein Lustgefühl wachgerufen, das auf der Erweiterung der bloßen Einbildungskraft hin zur Vernunft basiert. Sucht man nämlich nach einem Vermögen im Menschen, das Macht ausübt, ohne allerdings dabei auf physisches Wohlsein Rücksicht zu nehmen, so hat man es mit der moralischen Persönlichkeit im Menschen gefunden. M.a.W. ist mit dem Sittengesetz ein rein vernünftiges Prinzip im Menschen verankert, das ihn unabhängig zu machen vermag von sinnlichen Einflüssen. Das entscheidende Moment an der Vernunftidee des Moralprinzips ist, dass sie als erhaben bewusst werden kann über alle Sorgen um sinnliche Anliegen, wozu sogar die Sorge um das eigene leibliche Wohl und Überleben zählt. Die Natur kann erhaben genannt werden, wenn „sie die Einbildungskraft zu Darstellung derjenigen Fälle erhebt, in welchen das Gemüth die eigene Erhabenheit seiner Bestimmung selbst über die Natur sich fühlbar machen kann.“86 Analog zum Urteil über das mathematisch Erhabene wird über die verspürte Ohnmacht eines Sinnenvermögens ein übersinnliches Vermögen angeregt – in diesem Fall das Vermögen zur Moralität. Allerdings ist auch hier die Natur, an der das Gefühl der Erhabenheit sich entzündet, nur uneigentlich erhaben zu nennen. Im eigentlichen Sinne erhaben ist vielmehr das Vernunftvermögen in seiner praktischen Gestalt, weil es das übersinnliche Vermögen bedeutet, sich frei von den Ansprüchen der sinnlichen Natur im Menschen zu wissen. Diese Ansprüche machen sich im Fall des Erhabenen bemerkbar als Furcht und Sorge um die eigene physische Existenz. Wer sich aber von dieser Sorge befreit weiß, weiß sich auch über die Gewalt der Natur in jeder Form erhaben, weil diese das Subjekt als Vernunftwesen nicht zu erniedrigen im Stande ist. Diese Erhebung über alles Sinnliche (sowohl in uns als auch außer uns) ist nach Kant die Bestimmung des Menschen, deren Entdeckung im ästhetischen Urteil als ein Wohlgefallen oder Lustgefühl bewusst wird.87 86 87

I. KANT: KdU, B 105. Vgl. I. KANT: KdU, B 106.

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Mit dem bisher Beschriebenen wäre allerdings bloß sichergestellt, dass sich das Subjekt von aller sinnlichen Beeinflussung zurückziehen kann, indem es sich seiner intelligiblen Anteile bewusst wird. Das bedeutete ein Bewusstsein von Unantastbarkeit durch sinnliche Befindlichkeit. Aber Kant bleibt dabei nicht stehen, sondern es ist ihm darum zu tun, die Ausübung größerer Macht durch die Vernunft auf das Gemüt zu verdeutlichen: Ist die Idee des Übersinnlichen durch die reflektierende Urteilskraft erst einmal geweckt, so tritt sie in ein Wechselverhältnis mit der Einbildungskraft. M.a.W. liegt nicht bloß ein Bewusstwerden der Autarkie des Subjekts gegenüber dem Sinnlichen vor, sondern darüber hinaus wirkt nun die Vernunft auf die Einbildungskraft ein. Dabei übt sie Gewalt auf das Einbildungsvermögen aus.88 Die Einbildungskraft wird nun nämlich – erneut analog zum Erlebnis des mathematisch Erhabenen – dazu genötigt, die Idee Sittlichkeit darzustellen. Freilich kann letzteres nicht gelingen, da gilt: „Buchstäblich genommen und logisch betrachtet, können Ideen nicht dargestellt werden.“89 Denn ihnen eignet, alles Sinnliche zu übersteigen. So wird das Gemüt durch den Zwang der Vernunft in eine Stimmung versetzt, in der zunächst – ganz allgemein gesprochen – die Undarstellbarkeit von Vernunftideen durch alles Sinnliche bewusst wird. Um es am Beispiel des dynamisch Erhabenen zu verdeutlichen: Die Einbildungskraft tritt in zwei Funktionen auf. Erstens versetzt sie das Subjekt in die Lage, von Naturgewalten derartig bedroht zu sein, dass das Gemüt erschauert und von der Vorstellung abgestoßen ist, weil die physische Zufriedenheit und Existenz bedroht erscheinen. Die zweite Funktion der Einbildungskraft besteht streng genommen in einem Versagen: Es gelingt ihr naturgemäß nicht, ein Schema für eine Idee abgeben zu können. An der so scheiternden Einbildungskraft wird die prinzipielle Überlegenheit aller Ideen über alles Sinnliche bewusst – und zwar als Gefühl der Lust. Zweierlei – um es zusammenzufassen – zeichnet das dynamisch erhabene Erlebnis aus: Erstens wird die eigene vernünftige „Unabhängigkeit“ von allen Natureinflüssen wahrgenommen, und zweitens wird der Mensch sich bewusst, „der Natur in uns selbst, mithin auch der außer uns, sofern sie auf das Gefühl unseres Wohlbefindens Einfluß haben kann, überlegen zu sein.“90 Beides, sowohl prinzipielle Unabhängigkeit als auch die Überlegenheit über die Natur, macht sich im ästhetischen Urteil als ein Gefühl des begeisternden Wohlgefallens bemerkbar. Ein Wohlgefallen daran, dass das

88

Vgl. I. KANT: KdU, B 116f. I. KANT: KdU, B 115. 90 I. KANT: KdU, B 117. 89

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Subjekt seine eigene Bestimmung entdeckt, die darin besteht, über die bloße Naturgewalt erhaben zu sein.91 3.6.1.3 Das dynamisch Erhabene und das Gefühl der Moralität Das Urteil über das dynamisch Erhabene hat „seine Grundlage […] in der Anlage zum Gefühl für (praktische) Ideen, d.i. zu dem moralischen.“92 Das ist so, weil das Erlebnis des dynamisch Erhabenen das Bewusstsein der potentiellen Überlegenheit des praktischen Vernunftvermögens über das Sinnliche und seinen Einfluss auf das menschliche Gemüt bedeutet. Solche Überlegenheit potentiell zu haben, kann nach Kant nur ein Noumenon beanspruchen, und wenn es wie hier um eine überlegene Macht in Bezug auf das Gemüt zu tun ist, so ist im Erlebnis des dynamisch Erhabenen das Sittengesetz als transzendentale Anlage vorausgesetzt. Nun konstatiert Kant eine Verwandtschaft zwischen moralischem Gefühl, also der Achtung vor dem Sittengesetz, und dem ästhetischen Gefühl des Erhabenen.93 Um das zu begreifen, ist es hilfreich, sich klar zu machen, dass eine gesetzmäßige Handlung aus Pflicht wegen der Achtung vor dem Sittengesetz als erhaben vorgestellt werden kann.94 Die Achtung als vernunftgewirktes Gefühl ist das Mittel zur Durchsetzung der Vernunft bei der Willensbestimmung, und das bedeutet zugleich den Abbruch des sinnlichen Antriebs im Gemüt. Dieser Abbruch wird als Demütigung und Schmerz – kurz als Unlust – bewusst.95 Aber dies ist nicht das einzige Gefühl, das die Achtung bei sich führt. Denn moralisch gut zu sein, sich über den Anspruch der Sinnlichkeit zu überheben, ist die Bestimmung des Menschen. Genau diese Erhebung über alles Sinnliche ist aber mit dem Gefühl der Achtung verbunden.96 Sie führt neben der Unlust zu einem Wohlgefallen an der eigenen Bestimmung, in dem die Erhebung über die renitenten Interessen der Sinnlichkeit zum Ausdruck kommt.97 Dass die Achtung vor dem Sittengesetz als erhaben bezeichnet zu werden verdient, ist demnach nicht schwer nachzuvollziehen. Freilich ist damit nicht eine totale Struktur-Kongruenz zwischen dem Gefühl des Erhabenen am Naturerlebnis und der Erhabenheit des schlechthin Guten behauptet. Es 91 Vgl. I. KANT: KdU, B 105. 106. 116 und ganz ähnlich F. KAULBACH: Ästhetische Welterkenntnis, 187f. 92 I. KANT: KdU, B 111f (Hervorhebungen durch A.H.). 93 I. KANT weist darauf hin, dass diese Verwandtschaft des Moralischen sowohl zum Schönen als auch zum Erhabenen besteht (vgl. KdU, B 115 und B 116). Im Folgenden soll nur die Nähe zum Erhabenen interessieren, weil diese für die Deutung einiger Passagen aus der Religionsschrift von Bedeutung sein wird. 94 Vgl. I. KANT: KdU, B 114. 95 Vgl. dazu I. KANTs Ausführungen in: KpV, A 137–143 und KdU, B 120f. 96 Vgl. I. KANT: KdU, B 114. 97 Vgl. I. KANT: KpV, A 140 und 143.

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gibt zumindest eine Differenz. So geht das Gefühl der Achtung nicht auf ein Naturerleben zurück, sondern hängt der praktischen Vernunft unmittelbar an. Insofern unterscheidet es sich von dem Gefühl der Erhabenheit und ist nicht mit diesem gleichzusetzen.98 Aber auch das Erlebnis des dynamischen Naturerhabenen bringt das moralische Vermögen als die eigentlich erhabene Grösse ins Spiel, und deshalb ist es kein Zufall, wenn Kant am Ende seiner Kritik der praktischen Vernunft „das moralische Gesetz in mir“99 nennt, um die Erhebung des Menschen über die Drohung seiner Nichtigkeit, die einem am unendlichen „bestirnte[n] Himmel über mir“100 aufgeht, zu erklären. 3.6.2 Die Bedeutung des Gefühls der Erhabenheit für die Theorie der Erlösung Die nun zu belegende These lautet, dass Kants Theorie der Erlösung eine besondere Bewusstmachung des Sittengesetzes voraussetzt, die ähnlich der Predigt des Gesetzes dem Menschen seine Erlösungsbedürftigkeit augenscheinlich macht. Kant meint, es sei zur Erlösung des Menschen hilfreich, sich Beispiele von guten Handlungen vor Augen zu führen, weil dadurch die Anlage zum Guten „unvergleichlich cultivirt“ wird und „allmählig in die Denkungsart“101 übergeht. Man ist ob dieser Auskunft einigermaßen überrascht, weil sie die Überwindung der Sünde durch Selbstbildung zu insinuieren scheint. Dies ist allerdings bei genauerem Hinsehen nicht der Fall. Kultiviert wird nämlich nicht das Gute selbst, sondern die Bedeutung der Pflicht für den Gemütszustand. Das menschliche Selbstverständnis nimmt sich anders aus, je nachdem, wie stark das Sittengesetz mit seiner Forderung bewusst ist. Dabei geht es nun nicht um die Frage, ob das Sittengesetz überhaupt Einfluss auf das Subjekt nimmt. Dies steht außer Zweifel, weil auch im Stand der Sünde die moralische Anlage nicht ausgelöscht ist. Fraglich ist nur, wie stark das Selbstverständnis im Stand der Sünde durch diese moralische Anlage bestimmt wird.

98 Vgl. I. KANTs Ausführungen in: KdU, B 114: Kant weist darauf hin, dass das Gefühl der Achtung auf das schlechthin nötigende Gesetz der Sittlichkeit zurückgeht und deshalb auch schlechthin in jedem Menschen anzutreffen ist. Darin unterscheidet es sich vom Gefühl des Erhabenen, von dem man zwar erwarten kann, dass es jedermann bei Betrachtung eines erhabenen Gegenstandes hat, dies aber nicht mit Notwendigkeit so ist (vgl. auch KdU, B 110–113). 99 I. KANT: KpV, A 288 (Hervorhebung im Original). 100 I. KANT: KpV, A 288 (Hervorhebung im Original). Vgl. zum Begriff des Erhabenen im Beschluss der KpV auch F. KAULBACH: Ästhetische Welterkenntnis, 188f. 101 Beide Zitate: I. KANT: Rel., 48.

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Jedenfalls ist sich Kant darüber im Klaren, dass der Mensch dazu neigt, diesen Einfluss möglichst weit zurückzudrängen, so dass die eigene Bösartigkeit kaschiert und also gar nicht bewusst gemacht wird. Als paradigmatisch für diese Einsicht können diejenigen Ausführungen Kants gelten, in denen er die Gefahr beschreibt, „wider jene strenge Gesetze der Pflicht zu vernünfteln.“102 Die Vernünftelei geschieht im Namen der Neigungen, die ein Interesse daran auslösen, die Pflicht entweder nicht allzu genau zu nehmen und „ihre Reinigkeit und Strenge in Zweifel zu ziehen“103, womit ihr Anspruch allerdings als solcher schon geleugnet wäre. Oder aber man macht „sich selbst blauen Dunst“104 vor und meint, das Gesetz schon erfüllt zu haben, obwohl man in Tat und Wahrheit nur subjektiven Neigungen oder allenfalls dem Prinzip der Legalität nachgekommen ist.105 Derartige Sophisterei hat zum Ziel, sich selbst für gerechtfertigt zu halten, und um dies zu erreichen, wird entweder das Sittengesetz als solches bis zur Unkenntlichkeit verbogen, um es der Neigung konform zu machen. Oder man geht sogar soweit, zu meinen, man habe keine Erlösung nötig, weil man sich schon im Stand der Gerechtigkeit wähnt. Der Sündenstand zeichnet sich folglich dadurch aus, dass der Sünder seine Sünde nicht wahrhaben will, vielmehr sich dieser Wahrheit über sich selbst zu entziehen sucht. Es ist das Urteil Dieter Henrichs, nach dem Kant „seine gesamte Philosophie als einen Versuch [betrachtet], die Sophistik der Vernunft zu widerlegen, die im Dienste der Lust steht, und damit der Einsicht des Guten gegen ihre dialektischen Künste festen Halt zu geben.“106 Henrich führt den Nachweis, dass Kant dem Problem des Bösen den Kampf ansagt, indem er auf die grundsätzliche und prinzipielle Möglichkeit der sittlichen Einsicht verweist107, die Kant schließlich darin begründet sieht, dass sie dem Menschen als Faktum der Vernunft aufgegeben ist. Im Folgenden soll es abweichend von Henrich nicht darum gehen, nachzuvollziehen, wie Kant zur Einsicht des Faktums der Vernunft gelangt und dieses als Bedingung der Möglichkeit setzt, dem Bösen überhaupt widerstehen zu können. Sondern es soll der Frage nachgegangen werden, wie die 102

I. KANT: GMS, 405. I. KANT: GMS, 405. 104 I. KANT: Rel., 38. 105 Vgl. I. KANT: Rel., 38. 106 D. HENRICH: Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft, 232. 107 Henrichs Aufsatz nimmt sich wie ein Versuch aus, bei Kant diejenigen Prinzipien aufzudecken, die dem von I. KANT in GMS 405 formulierten Anspruch, dasjenige praktische Prinzip aufsuchen zu wollen, das Moralität in ihrer Reinheit verbürgt, genügen. Freilich wird das Prinzip selbst, nämlich das Faktum Sittengesetz, erst in der Kritik der praktischen Vernunft gefunden. Vgl. dazu neben dem Henrich-Aufsatz die obigen Ausführungen zur Unableitbarkeit des Sittengesetzes (Abschnitt 2.2.3). 103

Erkenntnis der Erlösungsbedürftigkeit

135

genannte Sophisterei, wenn sie erst einmal im Vollzug ist (und sie ist faktisch im Stand der Sünde immer im Vollzug), durchbrochen werden kann. Wie kann die Leugnung entweder des Gesetzes oder der eigenen Verderbtheit überwunden werden? Kants Antwort läuft auf einen Vorgang hinaus, der in der Theologie die Predigt des Gesetzes genannt wird. Gemeint ist ein Geschehen, durch das sich das Sittengesetz mit seiner Forderung im Gemüt auf eine Weise bemerkbar macht, die die Sünde als Sünde entlarvt. Die über die eigene Sünde hinwegtäuschende Sophisterei der Vernunft hat ihren tieferen Grund in der basalen Tatsache, dass Menschen qua Natur versuchen, Zustände der Unlust zu vermeiden und der Lust zu konservieren oder zu steigern. Die unverfälschte Forderung des Sittengesetzes bedeutet aber den Abbruch von Lust, weil mit ihrer Beachtung den subjektiven Neigungen eine Absage erteilt wird. Um dem Zustand der Unlust aus dem Weg zu gehen, redet sich der Sünder vermeintliche Übereinstimmung mit dem Sittengesetz ein. Er betreibt Selbstbetrug zu Gunsten seiner Neigungen. Diese Haltung kommt gar zu kirchlich organisierten Ehren in denjenigen Religionsformen, die eine Fülle von Ideen entwerfen, nach denen „Gott selbst das Glückseligkeitsprincip zur obersten Bedingung seiner Gebote“ angedichtet wird.108 Um nun die Neigung in ihrem Selbstbetrug zu entlarven, müsste sich mit der Bewusstwerdung der wahren Forderung des Gesetzes und mit der wahren Selbsterkenntnis des Sünders ein Lustgefühl verbinden lassen. Denn ohne ein solches Lustgefühl eigener Art wird das Subjekt jede entlarvende Einsicht in den Selbstbetrug scheuen, weil sie nichts als Unlust mit sich brächte. Und an dieser Stelle bekommen die Beobachtungen zur Erhabenheit des Moralvermögens ihre Bedeutung. Wenn nämlich die Bewusstmachung des Moralvermögens zugleich das Gewahrwerden der eigenen übersinnlichen Bestimmung bedeutet, so kann sich dies als ein Lustgefühl äußern, von dem Kant meint, dass es sich sogar bis zur Begeisterung steigern kann.109 Und diese mögliche Begeisterung an der eigenen Bestimmung kann dazu verhelfen, „daß Pflicht bloß für sich selbst in ihren [der moralischen Lehrlinge, A.H.] Herzen ein merkliches Gewicht zu bekommen anhebt.“110 Die Förderung solchen Bewusstseins wird vorgenommen durch das Aufzeigen von guten Beispielhandlungen, die allerdings nicht für sich selbst Bewunderung verdienen, sondern an denen die eigene Erhabenheit und also die eigene göttliche Bestimmung zu Be-

108

I. KANT: Rel., 51. Vgl. I. KANT: Rel., 50. 110 I. KANT: Rel., 48. 109

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Erlösung

wusstsein kommen soll.111 Wo diese Bestimmung unverfälscht vor Augen steht, sticht die eigene Sünde umso schärfer ab. Die Bewusstmachung des Gesetzes unter Zuhilfenahme des Wohlgefallens an der eigenen Erhabenheit bedeutet nicht schon die Versetzung des Subjekts in einen moralisch gebesserten Zustand. Die Verkehrung der Urmaxime ist durch solche Bewusstwerdung in keiner Weise aufgehoben. Mit der Schärfung des Bewusstseins des Sittengesetzes wird vielmehr die Sünde als solche deutlich. Wo aber die Sünde als Sünde durchsichtig ist, stellt sich unweigerlich erstens ein zerknirschtes Gewissen ein und zweitens der Wunsch nach Erlösung. Die oben aufgeworfene vermeintliche Widersprüchlichkeit, nach der Kant einerseits fordert, der Mensch müsse sich würdig machen, die Erlösung zu empfangen, andererseits betont, der Sünder könne als Sünder keine gute Tat vollbringen112, kann nun einer Lösung zugeführt werden. Sich unter der Voraussetzung des radikalen Bösen der Erlösung würdig zu machen bedeutet nach der hier vorgetragenen Deutung, sich als der Erlösung bedürftig zu wissen. Der Zustand des Menschen, in dem er der Erlösung würdig ist, ist der der Selbstdurchsichtigkeit, in dem er sich selbst als Sünder vor dem Anspruch des Gesetzes weiß. Was der Mensch zu seiner Erlösung tun kann, ist die Predigt des Gesetzes, wodurch wir uns „eines für uns unerforschlichen höheren Beistandes empfänglich machen.“113 Diese Vorbereitung auf die Erlösung dient zusammengefasst dazu, folgende vier Sachverhalte bewusst zu machen: erstens den unverfälschten Anspruch des Gesetzes, zweitens die Verfehlung des Anspruchs und also die eigene Sünde, drittens – und dies folgt aus der Sündenerkenntnis – die Unmöglichkeit der Selbsterlösung, schließlich viertens – und dies ergibt sich aus allen drei vorgenannten Punkten – das Bedürfnis der Erlösung von der Sünde, allerdings im Wissen darum, dass sie ihren Ursprung nur außerhalb meiner selbst haben kann. Die Selbstdurchsichtigkeit im genannten Sinn hat demnach zur Folge, dass man sich der Erlösung überhaupt bedürftig weiß. Es muss der Anspruch des Gesetzes gepredigt werden, bevor sich jemand seiner Abhängigkeit von Gottes Erlösung bewusst werden kann. „Sorget ihr aber nicht dafür, daß ihr vorher wenigstens auf dem halben Wege gute Menschen macht, so werdet ihr auch niemals aus ihnen aufrichtig gläubige Menschen machen.“114

111

I. KANT hat die Methodik, mit der die Sittlichkeit über Erziehung am Einzelnen Eingang in das menschliche Gemüt finden soll, en detail in der Methodenlehre der KpV dargestellt. Vgl. I. KANT: KpV, A 269–288. 112 Vgl. I. KANT: Rel., 44 und 52. 113 I. KANT: Rel., 45. 114 I. KANT: KrV, B 857 Anm.

4. Rechtfertigung

4.1 Luthers simul iustus et peccator bei Kant? Kant hat unter Erlösung dasjenige Ereignis verstanden, das den Anfang zur Befreiung des Menschen von dem Bösen – und das heißt von der Sünde – macht.1 Die Metamaxime des Subjekts muss mit der Erlösung eine effektive Wandlung zum Guten hin erfahren. Allerdings – und das ist hier sogleich einschränkend festzuhalten – hat Kant dabei niemals gemeint, ein Mensch könne in der Zeit in seiner gesamten Maximenorganisation die Sünde hinter sich lassen. Vielmehr findet er sich auch nach der Erlösung in einer eigentümlichen Spannung vor: Einerseits ist er bezüglich seiner Metamaxime sündenfrei und tatsächlich gebessert. Andererseits bleibt er seinem empirischen Charakter nach Sünder. Man steht vor dem paradox anmutenden Befund, das Maximengefüge einer Person sei mit und nach der Erlösung gut und böse zugleich. Das erinnert zumindest dem Wortlaut nach an Luthers Bestimmung des Glaubenden als simul iustus et peccator. Um allerdings entscheiden zu können, ob auch der Sache nach das gleiche gemeint ist, muss zweierlei untersucht werden. Erstens muss zumindest in groben Zügen nachgezeichnet werden, wie sich die Rechtfertigungslehre Luthers verstehen lassen mag. Das soll geschehen, indem einige Auslegungsvarianten der lutherschen Rechtfertigungslehre vorgestellt werden. Das Augenmerk wird dabei auf die Frage gerichtet sein, ob sich nach Luther durch und mit der Rechtfertigung eine effektive Transformation des Menschen einstellt. Diese Fragestellung wird deshalb in den Vordergrund rücken, weil eine derartige effektive Wandlung des Glaubenden dasjenige Geschehen wäre, zu dem sich bei Kant mit der im vorausgehenden Kapitel besprochenen Erlösung eine Anaologie finden lässt. Damit ist aber auch schon die Arbeitsthese für die folgenden Überlegungen formuliert: Luthers Rechtfertigungslehre findet sich strukturell bei Kant wieder. Zudem muss deutlich werden, dass sich Kants Theorie der Erlösung mit einem Versöhnungs- oder Rechtfertigungsglauben verbinden lässt, an den 1

Dass I. KANT die Begriffe des Bösen und der Sünde wechselweise benutzt, lässt sich beispielsweise an einer Gleichsetzung in Rel., 72 ablesen, die das „Sittlich=Böse“ als „Übertretung des moralischen Gesetzes als göttlichen Gebotes, Sünde genannt“ definiert (Hervorhebung im Original).

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Rechtfertigung

die Erlösung bei Luther zweifellos gekoppelt ist. Damit ist der zweite Untersuchungsschritt genannt: Kants Rechtfertigungslehre muss erklärt werden. 4.1.1 Rechtfertigung bei Luther2 Luther hat in seiner reifen Theologie die Widersprüchlichkeit, die sich aus seiner doppelten Bestimmung des Glaubenden ergibt, ausdrücklich namhaft gemacht. Er sagt in seiner Galaterbrief-Auslegung von 1531: Die zwei Aussagen wiederstreiten einander, daß nämlich ein Christ gerecht sei und von Gott geliebt werde und dennoch zugleich ein Sünder sei. Gott kann ja seine Natur nicht verleugnen, d.h. er muß die Sünde und die Sünder hassen. Das tut er aus Notwendigkeit, denn sonst wäre er ungerecht und würde die Sünde lieben.3

Diese duplizitäre Bestimmtheit wird erst dadurch logisch anstößig, dass Luther mit dem simul iustus et peccator nicht zwei Partialqualitäten auf eine Person vereinigt wissen will. Dies zu denken, würde keine Schwierigkeiten bereiten. Sondern er hat ganz bewusst beides totaliter von derselben Person sagen wollen.4 Die Schwierigkeit lässt sich zweifelsohne nur auflösen, wenn man den Menschen aus zwei unterschiedlichen Perspektiven zugleich fokussiert: „diverso respectu dicimur iusti et peccatores simul et semel.“5 Einerseits ist es das Urteil Gottes, das kontrafaktisch aus reiner Gnade gerecht spricht. Es gibt andererseits am Sünder selbst keinen Anhalt für dieses Urteil. Er ist und bleibt ganz Sünder: „Es bleiben in uns die Sünden, die Gott aufs heftigste haßt“6, wie Luther es ausdrückt. Die Gerechtigkeit, die dem Sünder zugesprochen wird, ist nicht seine eigene Gerechtigkeit, sondern eine fremde – namentlich die Gerechtigkeit Christi. Um zu erklären, wie es möglich ist, eine Verknüpfung zwischen der dem 2 Selbstverständlich kann im Folgenden keine umfassende Lutherdeutung geboten werden. Vielmehr geht es darum, die Deutung des lutherischen simul auf einige grundlegende Fragen und Auslegungsstränge so zu reduzieren, dass an ihnen exemplarisch deutlich wird, was der jeweilige Deutungsansatz leistet und welche Fragen offen bleiben. Dass die folgenden Ausführungen also weit davon entfernt sind einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, dürfte sich von selbst verstehen. 3 M. LUTHER: Galaterbrief-Auslegung 1531, 143 (WA 40/I, 371, 33–372, 14: „Ista ex diametro pugnant, Christianum esse iustum et amari a Deo et tamen esse peccatorum. Deus enim non potest negare suam naturam, hoc est non potest non odisse peccatum et peccatores; hocque necessario facit, nam alioqui iniustus esset et amaret peccatum.“). 4 Vgl. zum Totalaspekt des simul iustus et peccator die Ausführungen von W. JOEST: Gesetz und Freiheit, 57–60 und E. JÜNGEL: Das Evangelium von der Rechtfertigung, 183–190. 5 M. LUTHER: Antinomer-Disputation, WA 39/I, 564, 6f. 6 M. LUTHER: Galaterbrief-Auslegung 1531, 143 (WA 40/1, 372, 25f: „Peccata in nobis manent quae Deus maxime odit.“).

Luthers simul iustus et peccator bei Kant?

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Subjekt fremden Gerechtigkeit und der Qualität des Subjekts selbst herzustellen, ist es hilfreich, auf ein von Albrecht Ritschl in die Diskussion eingebrachtes Wort aufmerksam zu machen. Ritschls „Begriff der Rechtfertigung“, von dem er meint, dass er „in wesentlicher Uebereinstimmung mit der Absicht entwickelt ist, welche die lutherischen und reformierten Theologen verfolgen, hat die Form des synthetischen Urtheils.“7 Gott spricht danach in einem Willensakt über den Sünder ein Urteil, in dem ihm eine Gerechtigkeit prädiziert wird, die nicht die seine ist. Auch wenn Luther in der Gerechtigkeit des Erlösten eine iustitia aliena gesehen hat, kann man nicht sagen, er habe eine theologische Position vertreten, nach der sich der Sünder und die Gerechtigkeit Christi beziehungslos gegenüber stünden. Wäre dies der Fall, hätte man auf der einen Seite den Sünder, auf der anderen Seite eine ihm fremde Gerechtigkeit, ohne dass letztere ersterem zuteil würde. Eine derartige Position hat Luther gerade nicht eingenommen. Hielte man das bis hierher beschriebene Geschehen des synthetischen Urteils für ausreichend zur Rechtfertigung, hätte man Luthers Theologie in ihrer Intention vollständig verlassen. Das Urteil bliebe, wenn man es dabei bewenden ließe, dem Subjekt rein äußerlich: Es handelte sich um ein Urteil, das nicht das Subjekt fällt, von dem es nichts weiß und das auch nicht durch eine Analyse seiner tatsächlichen Qualität zustande gekommen ist.8 Die für das Subjekt und seine Stellung vor Gott entscheidende Frage ist noch gar nicht angegangen. Sie lautet: Wie erhält das Subjekt Anteil an dem synthetischen Urteil Gottes? Für gewöhnlich lautet die Antwort: durch und im Glauben. Der Glaube ist danach der Aneignungsmodus des Heils, in dem die göttliche Gnade je konkret existentielle Bedeutsamkeit erhält.9 Fraglich ist nun, ob mit dem Glaubensvollzug das rein forensische Urteil Gottes für das Subjekt eine es effektiv wandelnde Bedeutsamkeit erhält. Die Frage soll beantwortet werden, indem das Rechtfertigungsverständnis Luthers gegen das melanchthonische abgegrenzt wird. Es lässt sich nämlich beim Verständnis der Aneignung des Heils eine Differenz zwischen Luther und Melanchthon ausmachen. Luther kann dabei folgende 7

A. RITSCHL: RuV III3, 77f (Hervorhebung im Original). Es muss, um Missverständnissen vorzubeugen, eigens betont werden, dass es für Luther überhaupt keine dem Glauben vorgängige Imputation von Christi Heil gibt. Vielmehr ist auch die Gerechtsprechung des Sünders allein mit und im Glauben wirklich. Insofern könnte die hier gebotene Darstellung missverständlich wirken, weil sie ihren Anfang beim synthetischen Urteil Gottes nimmt. Das ist allerdings nur aus darstellungstechnischen Gründen geschehen und es soll damit kein logischer Vorrang des Gerechtsprechungsurteils vor dem Glaubensakt des Subjekts angedeutet sein. 9 Aneignung des Heils wird nach der lutherischen Theologie im Glauben vollzogen. Vgl. C. AXT-PISCALAR: Taufe-Sünde-Buße bei Luther, 169 (Punkt 1.3.), U. BARTH: Luthers Verständnis der Subjektivität des Glaubens, 285–287, M. GRESCHAT: Melanchthon neben Luther, 191f. 8

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Rechtfertigung

Position zugeordnet werden: Indem der Glaubende qua fides apprehensiva das synthetische Urteil Gottes zur kontrafaktischen Gerechtsprechung ergreift, ist er in gewisser Hinsicht schon ein neuer Mensch, weil die Aneignung des Heils sich an ihm effektiv auswirkt und er durch diese Effektivität auch in ein neues Verhältnis des Umgangs mit sich und der Welt versetzt wird.10 Melanchthon ist dieser Gleichsetzung von imputativer und effektiver Erlösung im genannten Sinne nicht immer uneingeschränkt gefolgt. Er hat darin die Gefahr der Aufweichung des sola fide-Prinzips sehen können. Seine Sicht der Dinge, wonach das Heil allein im synthetisch-forensischen Urteil besteht und die Erneuerung des Subjekts nicht mehr bedeutet als das Wissen dieses Urteils im Glauben, hat Melanchthon spätestens 1532 mit dem Römerbriefkommentar entwickelt. Erneuerung des Menschen bedeutet nach Melanchthon nicht eine Transformation, in der das Subjekt einen neuen Umgang mit dem Selbst und der Welt gewinnen würde. Sondern verändert wird allein die Relation zu Gott.11 Man könnte meinen, es sei damit eine ähnliche Problemstellung aufgerufen, wie sie sich auch im Osiandrischen Streit ergeben hat: Ist es angemessen, sich die Rechtfertigung als ein Geschehen zu denken, durch das eine sittliche Neukonstitution des Subjekt stattfindet? Oder handelt es sich beim Rechtfertigungsgeschehen wesentlich um einen rein forensischen Akt der Gerechtsprechung, dessen Aneignung vollzogen wird, ohne einen sittlichen Wandel des Subjekts zu zeitigen? Osiander ist mit seinem Programm von der Einwohnung Gottes im Gerechtfertigten weit über das hinausgegangen, was Luther intendiert hat. Er hat nämlich gemeint, der Glaubende sei durch die Ergreifung göttlicher Gerechtigkeit gleichsam jeder Sünde bar. Dabei kommt es ihm erstens darauf an, jegliche Vorstellung von bloß forensischer Rechtfertigung hinter sich zu lassen, weil er meint, die „Vorstellung einer bloßen Zurechnung der Gerechtigkeit stößt den Menschen in die Ungewissheit über sein Seelenheil, mehr noch, überliefert ihn dem Reich des Teufels.“12 Zweitens sieht Osiander die Gerechtigkeit im Glaubenden ein derartiges Übergewicht über die Sünde gewinnen, dass letztere kaum noch von Bedeutung ist.13 Beides, sowohl die Abwertung der forensischen Gerechtigkeitsvorstellung als auch die Marginalisierung der Sünde im Erlösten trennt Osiander von Luther und Melanchthon.

10

Vgl. R. STUPPERICH: Die Rechtfertigungslehre bei Luther und Melanchthon, 86–88. Vgl. M. GRESCHAT: Melanchthon neben Luther, 147–150. 12 M. STUPPERICH: Osiander, 200. 13 Vgl. zu Osianders Position neben M. STUPPERICH: Osiander, auch F. NÜSSEL: Allein aus Glauben, 23–31. 11

Luthers simul iustus et peccator bei Kant?

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Hier geht es aber um die Frage, ob nicht zumindest Luther, anders als Melanchthon, neben der forensischen auch eine Form der effektiven Gerechtwerdung, wenn auch eine andere als Osiander, gedacht hat. Die Frage an sich ist schon deshalb nicht abwegig, weil es offenbar zwischen Luther und Melanchthon selbst einen Disput darum gegeben hat, in dem Melanchthon Luther vorgeworfen hat, dieser habe den Pfad einer rein forensischen Rechtfertigung verlassen, weil er über sie hinaus auch einen (sittlichen) Effekt im Glaubenden ausmachen konnte.14 Es ist die Frage danach gestellt, ob Rechtfertigung bloß die Kenntnis davon bedeutet, mit Gott versöhnt zu sein, oder ob mit und durch diese Kenntnis auch eine Modifikation des moralischen Vermögens derart verbunden ist, dass das glaubende Subjekt sich gegen sich selbst und die Welt anders verhält. Die Konkordienformel hat diese Frage bekanntlich zu Gunsten einer rein forensischen Auffassung der Rechtfertigung15 gegen Osiander entschieden. Ob man damit auch Luther gerecht geworden ist, kann zumindest gefragt werden. Im Folgenden sollen einige Formen der Lutherdeutung in Hinsicht auf diese Fragestellung zur Sprache kommen. 4.1.2 Deutungsvarianten der lutherischen Rechtfertigungslehre Über Luthers Verständnis des Glaubenden, nach dem dieser in einer eigentümlichen Spannung steht, ist man sich über alle Auslegungsgrenzen hinweg einig. Der Glaubende ist danach totus peccator nach seinem tatsächlichen Sein und zugleich totus iustus im Urteil Gottes, das dem Sünder eine ihm fremde Gerechtigkeit zurechnet. Umstritten ist dagegen, ob die Aneignung des Gottesurteils im Glaubenden eine effektive Wandlung des Welt- und Selbstverhältnisses zeitigt, die einer sittlichen Neuwerdung gleichkommt. Es findet sich eine Auslegungstradition, die zumindest Luthers reife Theologie eine derartige Neuwerdung des Subjekts verneinen sieht. Die Aneignung des kontrafaktischen Gnadenurteils Gottes im Glauben beschränkt sich danach auf eine besondere Art der Kognition des Gottesurteils, die Gewissheit über das Urteil auch gegen alles gegenteilige Wissen verschafft. Die 14

Vgl. dazu die Rekonstruktion der Disputation zwischen Melanchthon und Luther von 1536 bei M. GRESCHAT: Melanchthon neben Luther, 230–242. Melanchthons Rechtfertigungslehre hat allerdings mehrere Phasen durchgemacht, in denen er sich unterschiedlich zur Frage geäußert hat, ob es neben der rein forensisch-imputativen Rechtfertigung auch eine effektive Wandlung des Glaubenden gibt. Entsprechend uneinheitlich gibt sich die Deutung der Rechtfertigungslehre Melanchthons heute. Einen guten und knappen Überblick verschafft F. NÜSSEL: Allein aus Glauben, 31–48. 15 Vgl. FC III in: BSLK, 781–786.

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Rechtfertigung

Deutung Otto Ritschls beispielsweise sieht Luthers Theologie eine Entwicklung durchmachen, in der der Gedanke der fremden Gerechtigkeit derart an Gewicht zunimmt, dass der Glaubensvollzug in Luthers Theologie schließlich keine effektive Veränderung des Glaubenden mehr bedeutet. Die Apprehension der fremden Gerechtigkeit soll nichts weiter als das reine Wissen von der Glaubensgerechtigkeit verstatten. Dass eine solche Aneignung daneben auch eine (sittlich-) existentielle Veränderung bei sich führt, scheint Otto Ritschl zumindest beim späteren Luther nicht finden zu können: „Seit etwa 1518 hat Luther nicht mehr darüber geschwankt, daß das religiöse Vertrauen des Christen sich auf Gottes Imputation, nicht aber auf seine eigene Erneuerung durch den heiligen Geist zu richten habe.“16 Luther wird auf diese Weise in die Nähe Melanchthons gerückt. Gängiger und auch plausibler, wenn eine Neuwerdung des Glaubenden, die für einen Heiligungsprozess unumgänglich ist, erklärlich werden soll, ist ein Verständnis, wie es etwa bei Jörg Baur beschrieben wird. Dem Glauben kommt danach die Bedeutung zu, derart am Rechtfertigungsurteil Gottes partizipieren zu können, dass der Glaubende sich selbst dabei verlässt und ganz auf Christus wirft. Es geht um „eine Aufhebung und Versetzung der Person. Sie wird sich entnommen und in Christus versetzt.“17 Das Urteil der Rechtfertigung hat danach nicht bloß forensische Bedeutung, weil es über diese hinaus effektive, wirklichkeitsschaffende Wirkung zeitigt, wenn es im Glauben angeeignet wird.18 Glauben kann danach keinesfalls die bloße Kognition eines göttlichen Urteils bedeuten, sondern zugleich wird dem Glaubenden sein Selbst und seine Welt neu. Für Baur geschieht das allerdings nicht, indem die Sünde dem Subjekt genommen wird, sondern anders herum soll gelten: „Die Sünde bleibt, […] weil sie nur noch zurückbleiben kann, wenn ihr die Person genommen wird.“19 Wenn solch starke Formulierungen auch die Frage provozieren, wie nach diesem Verständnis der Glaubende noch derselbe wie der Sünder sein können soll, der er zuvor war, soll hier doch festgehalten werden, dass Baur unübersehbar Gewicht auf die Neuwerdung des Sünders im Glauben legt.20 Eine andere Variante, das schöpferische Geschehen im Glauben nach Luther zu verstehen, bietet Joachim Ringleben. Er legt den Akzent auf die verwandelnde Wirkung des Glaubensvollzugs im Subjekt, indem Christus 16

O. RITSCHL: Dogmengeschichte II, 130, Anm. 3. Vgl. insgesamt dort auch 116–156. J. BAUR: Lutherische Christologie, 155. 18 Bei J. BAUR: Lutherische Christologie, 155, heißt es beispielsweise, dass „Christus selbst als die neue Wirklichkeit der Bewegung von Gottheit und Menschheit geglaubt wird, die dem zu versetzenden Menschen in sich den ungegenständlichen, aber eben so realen Raum eröffnet.“ 19 J. BAUR: Lutherische Christologie, 155. 20 J. BAUR: Lutherische Christologie, 155, meint, mit dieser Variante des Rechtfertigungsverständnisses sei eine Art des Heils ins Auge gefasst, die „die herkömmliche Katalogisierung von forensisch und effektiv weit unter sich läßt.“ 17

Luthers simul iustus et peccator bei Kant?

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sich diesem zuwendet: „Weil Christus der Heiland ist, ist seine Gegenwart (adesse) auch schon wesentlich sein heilvoller Beistand (prodesse), und wahrer Glaube ist nichts als Vergewisserung dieser seiner Wirklichkeit, ist ein Ihn bei uns wirksam-werden-Lassen, d.h. das Geschehen unserer Rechtfertigung.“21 Ringleben legt bei diesem Geschehen der Aneignung Wert auf den Modus des Wortes, in dem sich das Tätigsein Christi am Glaubenden vollzieht.22 Die Wandlung des Gerechtfertigten durch das Wort ist nun näher zu beschreiben als Neukonstitution, die nicht nur ihre Ursache, sondern ihren bleibenden Grund in Christi Gegenwart hat. Und zwar erlebt sich der Glaubende als derart verwandelt, dass Christus der in ihm Handelnde wird: „Im Glauben an ihn wird Christus der in uns alle guten Werke Hervorbringende und Tuende.“23 Die Vereinigung von Christus und Glaubenssubjekt wird dabei unter Rückgriff auf die Tradition der Brautmystik in der Form eines „existenzbestimmenden Lebensverhältnisses mit Christus aufgefasst.“24 Auch in dieser Lutherdeutung wird eine Neukonstitution des Glaubenden festgehalten, die ein neues Sein durch Christi Gegenwart denkt. Es gibt daneben Perspektiven auf das lutherische Rechtfertigungsverständnis, die einen stärkeren Akzent auf die heiligende Wirksamkeit der Rechtfertigung am Glaubenssubjekt legen. Der durch die Rechtfertigung neu gewordene Mensch verharrt seinem empirischen Sein nach nicht starr in der Sünde, sondern es hebt in ihm ein Progress an, in dem der alte Adam durch den neuen überformt wird, auch wenn es kaum der Erwähnung bedarf, dass die totale Überwindung der Sünde im irdischen Leben nicht gelingt: „Es gilt in dauernd gespannter Aufmerksamkeit sich selbst zu überwachen, die eigenen Lieblingssünden zu erkennen und zu bekämpfen“, wie Wilfried Joest es in Anlehnung an Luther ausdrückt.25 Alle Deutungsvarianten legen besonderen Nachdruck auf das sola-fidePrinzip. Angeeignet wird die Gerechtigkeit Christi im Glaubensvollzug.26

21 22

be.

23

J. RINGLEBEN: Wort und Rechtfertigungsglaube, 37f. Vgl. nur den Titel und den Gesamtduktus seines Aufsatzes: Wort und Rechtfertigungsglau-

J. RINGLEBEN: Wort und Rechtfertigungsglaube, 43. J. RINGLEBEN: Wort und Rechtfertigungsglaube, 39. 25 W. JOEST: Gesetz und Freiheit, 69. Joest bietet eine Reihe von Luther-Stellen, die diesen Gedanken eines Fortschritts der Heiligung für Luther nachweisen – und zwar nicht bloß in einer Phase seiner Theologie, sondern durchgängig (vgl. auch: Gesetz und Freiheit, 65–78). Es ist dabei derselbe Sachverhalt im Blick, den C. AXT-PISCALAR: Taufe-Sünde-Buße bei Luther, 169, das sich-in-Vollzug-Bringen gegen den alten Adam nennt. 26 Darin ist man sich über alle Auslegungsgrenzen hinweg einig. Vgl. beispielsweise die einschlägigen Studien so unterschiedlicher Ausleger wie W. Link und K. Holl: W. LINK: Das Ringen Luthers, 96–99, K. HOLL: Die Rechtfertigungslehre in Luthers Vorlesung über den Römerbrief, 129–133. 24

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Rechtfertigung

Schon an dieser Stelle lassen sich zwei Probleme anzeigen, die das simul betreffen. Zum einen ist bislang offen, wie weiterhin von totaler Sündhaftigkeit des Subjekts gesprochen werden kann, wenn es doch tatsächlich durch die Rechtfertigungsgnade gewandelt ist. Die Frage verschärft sich zum anderen noch, wenn man den zuletzt genannten Aspekt des Heiligungsprozesses in Betracht zieht. Denn dieser Prozess meint doch die – wenn auch sehr langsame – Annäherung des Glaubenden an das Ideal des Guten. Genau diese Anfragen hatte auch Melanchthon an Luther. Er befürchtete, dass Luthers Auffassung von der neuschöpfenden Wirksamkeit der Rechtfertigung die Preisgabe der totalen Sündhaftigkeit bedeuten müsste. Doch zunächst zurück zur Deutung der Rechtfertigungslehre Luthers. Es gibt eine weitere bisher nicht genannte Art der Auslegung, die in der Entdeckung des Aneignungsprinzips durch Luther dessen bleibendes Verdienst sieht, Wegbereiter für die Neuzeit zu sein, wenn darunter im weitesten Sinne die bis in die Gegenwart andauernde Epoche verstanden werden kann, in der das Subjekt als Referenzpunkt für das gilt, was als wirklich und wahr gelten kann.27 Bei der Erschließung von Luthers Rechtfertigungslehre wird mithin der Akzent auf das Subjekt und dessen Aneignung des Gottesurteils gelegt. Nach Luther ist der Glaube derjenige Vollzug des Menschen, mit dem ihm die ihm fremde Gerechtigkeit zuteil wird. Glaube ist dabei nicht das abstrakte Wissen der eigenen Gerechtigkeit, die sich Christi Gerechtigkeit28 verdankt, sondern dieses Wissen wirkt sich zugleich existenzbestimmend aus.29 Die sogenannte Luther-Renaissance, die ihren Ausgang bei Karl Holl nimmt, hat nun erstens besondere Rücksicht auf die Bedeutung des Subjekts genommen und zweitens das Verhältnis des Subjekts zu Gott als ein solches verstanden, das sich an seiner Stellung zum Gesetz, also an der Sittlichkeit, entscheidet. Die besondere Berücksichtigung der subjektivitäts- und moraltheoretischen Aspekte von Luthers Theologie sieht ihn Themen bearbeiten, die auch von Kant besondere Beachtung erfahren haben. Deshalb soll die Lutherdeutung Holls eigens und etwas ausführlicher zur Sprache kommen. Holl und die ihm folgenden Lutherdeuter stellen den 27 Vgl. U. BARTH: Luthers Verständnis der Subjektivität des Glaubens, 269–271. U. Barth weiß sich in einer Deutungslinie mit Hegel, Holl und Hirsch, verweist aber zugleich darauf, dass diese Sicht der Dinge nicht unumstritten geblieben ist. 28 Das bloße Wissen von Christi Gerechtigkeit als eines Sachverhaltes, der den eigenen existentiellen Selbstvollzug nichts weiter angeht, sieht Luther in der scholastischen fides acquisita repräsentiert. Vgl. J. RINGLEBEN: Wort und Rechtfertigungsglaube, und U. BARTH: Luthers Verständnis der Subjektivität, 284f. 29 Darauf weist C. AXT-PISCALAR: Taufe-Sünde-Buße bei Luther, 169, hin: „Denn im Glauben ergreift der Glaubende die Taufzusage der Sündenvergebung. Dadurch erfährt sich der Sünder aufgrund des von dem barmherzigen Gott her begründeten Gottesverhältnisses als in seiner Selbstwahrnehmung gnadengewirkt gewendet.“

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Erlebnisbegriff in den Mittelpunkt ihrer Auslegung.30 Das wird besonders deutlich in dem von Holl 1917 gehaltenen Vortrag zu der Frage, was Luther unter Religion verstand.31 Danach erlebt sich der Mensch in einem ständigen Zwiespalt zwischen der ihn bedrängenden Forderung des göttlichen Gesetzes, das wesentlich Gottesliebe als unbedingte Pflicht verlangt, und der Tatsache, dass er faktisch dieser Pflicht nicht nachkommt, weil es ihm nicht gelingen will und nicht gelingen kann, den natürlichen Antrieb zur Selbstliebe und -sucht hintan zu stellen.32 Die Diskrepanz zwischen Sollen und Sein erlebt der Mensch im Gewissen und vor allem als bedrängendes Gefühl der Furcht davor, im göttlichen Gericht Rechenschaft für sein Dasein ablegen zu müssen.33 Holl zeichnet einerseits die Genese von Luthers Klosterkämpfen und den Übergang zum Rechtfertigungserlebnis nach, um andererseits sodann die Theologie Luthers als den Spiegel dieses Erlebens begreifen zu können. Wenn das Erleben von Religion derart in das Zentrum der Lutherdeutung gerät, wird auch die Rechtfertigung entsprechend als ein Erleben des Subjekts verstanden werden müssen. Exemplarisch für diese Deutung mag ein Aufsatz Holls von 1910 zu diesem Thema stehen.34 Rechtfertigung ist nur insofern wirklich und wahr, als sie durch ein besonderes Erlebnis angeeignet wird. Auch Holls Deutung insistiert dabei wie alle anderen Auslegungsvarianten darauf, dass jedes Rechtfertigungserlebnis Gottes Gnadenhandeln zur Voraussetzung hat.35 Der Mensch kann zu seiner Rechtfertigung ursächlich nichts leisten, und auch der Weg der Besserung bleibt beständig abhängig von Gottes Alleinwirksamkeit. Jedoch ist mit der Betonung der Alleinwirksamkeit Gottes allein das Rechtfertigungsgeschehen in seinem Wesen noch nicht begriffen, weil die Struktur des Gnadenhandelns nur in einem Erlebnis eigener Art zu Bewusstsein kommt, das Luther Glauben nennt. Holls Bemerkung, bei der Gerechtsprechung des Menschen handele es sich um ein analytisches Urteil, hat dann zu einiger Irritation geführt, weil er vorauszusetzen scheint, der Glaubende sei tatsächlich vollumfänglich

30 Vgl. dazu und zur Problematik, die der Erlebnisbegriff hinsichtlich der Möglichkeit einer Selbstbezüglichkeit im Erlebnisakt mit sich bringt: H. ASSEL: Der andere Aufbruch, 33–41. 31 K. HOLL: Was verstand Luther unter Religion? 32 Vgl. K. HOLL: Was verstand Luther unter Religion?, 52–58. Im Übrigen versteht Luther unter Selbstsucht nicht in erster Linie die Befriedigung sinnlicher Antriebe, sondern die strukturelle Durchsetzung des Eigenwillens gegenüber dem Willen Gottes. Vgl. dazu K. HOLL: Die Rechtfertigungslehre in Luthers Vorlesung über den Römerbrief, 130f. 33 Vgl. dazu K. HOLL: Was verstand Luther unter Religion?, 18f. 34 K. HOLL: Die Rechtfertigungslehre in Luthers Vorlesung über den Römerbrief. 35 Vgl. auch den Aufbau von HOLLs Aufsatz: Die Rechtfertigungslehre in Luthers Vorlesung über den Römerbrief. Holl widmet sich zunächst der Rechtfertigung als Tat Gottes, um erst danach das Rechtfertigungserlebnis des Menschen thematisch werden zu lassen.

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gerecht.36 Holl selbst hat allerdings deutlich gemacht, dass er seine Überlegung anders verstanden wissen wollte. Der Begriff des analytischen Urteils indiziere, dass bei Luther die Erneuerung des Menschen im Sinne der Heiligung im Willen Gottes schon immer vorweggenommen ist. M.a.W. bedeutet die Rechtfertigung des Sünders aus der Perspektive Gottes auch schon seine reale Gerechtigkeit. Allerdings ist dies am Menschen nicht tatsächlich in der Zeit auszumachen, sondern nur im Sinne der göttlichen Prolepse wirklich.37 Die dabei vorausgesetzte Perspektive Gottes scheint das Prinzip der Subjektivität zu überschreiten. Im Sinne Holls müsste sich allerdings auch das analytisch-proleptische Gottesurteil über den Glaubenden an ein Glaubenserlebnis zurückbinden lassen. Denn bewusst wird das Urteil Gottes über den Menschen nur in diesem Erleben. Man wird summarisch sagen können, dass Holl Luthers Interesse am Rechtfertigungserleben des Glaubenden als eigene Perspektive aufgewiesen hat. Indem er glaubt, macht sich der Mensch das Urteil Gottes über ihn, dieses Urteil erlebend, zu Eigen. Das Urteil bleibt immer ein doppeltes: Die Gesamthaltung, die Luther dem Gläubigen zumutet, läßt sich also dermaßen beschreiben: der Gläubige muß es lernen, die beiden entgegengesetzten Urteile Gottes, die schlechthinnige Verwerfung und die ebenso unbedingte Begnadigung in der Anwendung auf sich ständig zusammenzudenken.38

So erfährt sich das Ich in seinem religiösen Selbstgefühl als ein zweifaches: als das neue und alte Ich gleichsam.39 An derartigen Stellen wird Holls Rücksicht auf die Subjektivität des Glaubenden besonders deutlich. Er setzt für den Glaubensvollzug eine Ich-Instanz voraus, die sich in einer bestimmten Hinsicht doppelt bestimmt weiß. Es ist dies bei Holl die Hinsicht der sittlichen Qualität. Darunter kann im weitesten Sinne die Frage nach der Bestimmtheit des Willens des Subjekts verstanden werden. Dieser Wille zeichnet sich nach Luther im Stand der Sünde durch Selbstsüchtigkeit aus, die ihn in Gegensatz zu Gottes Willen bringt. Es ist an dieser Stelle nicht nötig, näher zu bestimmen, was den Inhalt des Sünderwillens und den Inhalt des Gotteswillens ausmacht. Allein die Struktur zweier opponierender Willen aufzuzeigen reicht aus, um Holls Verständnis von Luthers Sündenbegriff seiner Form nach zu bestimmen: Sünde ist die Opposition eines bedingten endlichen Willens gegen eine unbedingte, unendlich geltende 36

Vgl. etwa W. JOEST: Gesetz und Freiheit, 212, Anm. 243, und die durchgehende Diskussion mit Holl bei W. LINK: Das Ringen Luthers. 37 Vgl. K. HOLL: Die Rechtfertigungslehre in Luthers Vorlesung über den Römerbrief, 117– 129. Vgl. zur Auseinandersetzung mit Holl in dieser Sache W. LINK: Das Ringen Luthers, und W. JOEST: Gesetz und Freiheit, 212, Anm. 243. 38 K. HOLL: Die Rechtfertigungslehre in Luthers Vorlesung über den Römerbrief, 144 (Hervorhebungen im Original). 39 K. HOLL: Was verstand Luther unter Religion?, 81f.

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voluntas. Ein Ich steht nach Holls Lutherdeutung dann in der Sünde, wenn sein Wille von Gottes Willen abweicht. Der Glaubende eignet sich das Urteil Gottes hinsichtlich der Sittlichkeit an. Das heißt näher, sich kontrafaktisch durch das Urteil Gottes vor Gott sittlich gerecht zu wissen. Mit der Aneignung dieses Urteils verliert sich das Bewußtsein der eigenen Verdammungswürdigkeit. Außerdem gilt, „daß der, der das Urteil Gottes bejaht, damit zugleich neue Maßstäbe für sich gewinnt. Er nimmt, wie Luther sich ausdrückt, die Form des Wortes in sich auf, d.h. er lernt den göttlichen Willen als den wahren Maßstab des Handelns betrachten.“40 Diese Behauptung will allerdings nicht unmittelbar einleuchten. Denn das Bewusstsein der Befreiung von der Verdammung trägt analytisch die effektive sittliche Wandlung des Subjekts nicht in sich. Offen ist an der Behauptung Holls also der psychologische Konnex von Freispruch und Wandlung des Subjekts. Denn warum sollte der, der sich ein fremdes Urteil (das Urteil Gottes) aneignet, mit dieser Aneignung auch faktisch besser werden? Die Möglichkeit der sittlichen Wandlung durch glaubende Aneignung des Gottesurteils einmal vorausgesetzt, ermöglicht Holls Rekonstruktion der lutherschen Theologie, den Gedanken der Heiligung sinnvoll in die Theorie des Glaubens zu integrieren, indem er als Fortschritt in der Sittlichkeit verstanden wird. Dieser Fortschritt bedeutet die Umbildung des menschlichen Willens mit dem Ziel, diesen dem Willen Gottes gleichförmig zu machen. In der Römerbriefvorlesung nimmt Luther ein beständiges Einwirken Gottes auf den Menschen an, das langsam zu seiner sittlichen Besserung führt. Mit dem Glauben ist ein grundsätzlicher Wandel an der Person vollzogen, der einem Keim gleich wächst und sukzessive die gesamte Person durchdringt.41 An dieser Stelle lässt sich auch an Holl die oben schon aufgeworfene Frage richten: Wie lässt sich die im Subjekt ausgemachte Veränderung zum Guten mit der unbestreitbaren Besonderheit an Luthers Theologie vereinbaren, dass sowohl die Sünde als auch die Rechtfertigung immer den ganzen Menschen und nicht nur einen Partialaspekt an ihm betreffen? Wenn nämlich die Aneignung des Rechtfertigungsurteils die Gewinnung neuer Maßstäbe im Sinne der effektiven Wandlung bedeutet, ist es nicht ohne weiteres möglich, nach und mit der Rechtfertigung weiterhin die Totalität der Sünde zu behaupten. Sowohl dieses Problem als auch das vorgenannte, nach dem offen ist, durch welche innersubjektive Wirkungsweise aus der Aneignung des 40

K. HOLL: Die Rechtfertigungslehre in Luthers Vorlesung über den Römerbrief, 135 (Hervorhebung im Original). 41 Vgl. K. HOLL: Die Rechtfertigungslehre in Luthers Vorlesung über den Römerbrief, 118– 121 und 135f.

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Rechtfertigungsurteils Gottes sittliche Besserung resultiert, sollen im weiteren Verlauf der Arbeit unter Rückgriff auf Kants Rechtfertigungsverständnis eine Lösung erfahren. Zurück zur Lutherrenaissance: Holl sieht in Luthers Rechtfertigungslehre Themen angeschlagen, die als solche – so die hier vertretene These – auch bei Kant virulent sind. Dass die Rechtfertigungslehre Luthers sich als solche bei Kant wiederfinden lässt, ist die ausdrückliche Meinung Emanuel Hirschs gewesen.42 Hirsch schließt sich auf seine Weise der Erkenntnis Holls an, wenn er meint, die evangelische Rechtfertigungslehre habe ihre Voraussetzungen im Thema der Sittlichkeit, und das Erbe Luthers sei nicht zu verstehen, wenn religiöser Selbstvollzug nicht wesentlich als ein Verhalten des Menschen zum göttlichen Gesetz verstanden werde. Luthers Ethik folge dem Typus der Gesinnungsethik, der sich in der auf Luther folgenden Geistesgeschichte verloren habe und erst wieder bei Kant zu Ehren gekommen sei.43 Hirsch meint nun weitere wesentliche Momente der evangelischen Rechtfertigungslehre in säkularer Form bei Kant wiedererkennen zu können: So findet sich bei beiden die Einsicht in das natürliche Sünderdasein des Menschen, so dass nur ein „Bruch mit der ihm angebornen Art“44 Besserung ermögliche. Außerdem sieht er bei Kant dasjenige Erleben reformuliert, in dem sich das Wissen um die eigene Schuld vor dem heiligen Willen artikuliert. Kant begnüge sich nicht damit, eine Beschreibung des menschlichen Daseins zu bieten, sondern erkenne den unbedingten Anspruch auf Überschreitung des sündigen Zustands. Der Mensch wisse sich in einer Spannung zwischen Sein und Sollen, die sich als Schuldgefühl äußert. Hirsch kommt zu der conclusio: „Die ethischen Voraussetzungen der reformatorischen Rechtfertigungslehre, wie sie im Schuldgefühl ihren gesammelten Ausdruck finden, sind also in der sittlichen Selbstbesinnung Kants sämtlich gegeben.“45 Hirsch kann wie Holl in der Sittlichkeit dasjenige Moment des menschlichen Selbstvollzuges ausmachen, das bei Luther (wie bei Kant) das Zentrum aller Religion abgibt. Rechtfertigung ist entsprechend Rechtfertigung des Sünders in Hinsicht auf seine Sittlichkeit. 42

Vgl. E. HIRSCH: Rechtfertigungslehre. Vgl. E. HIRSCH: Rechtfertigungslehre, 112. Vgl. dort auch schon 108, wo es heißt: „Kants Ethik ist also umgewandelte evangelische Gewissensreligion.“ Freilich meint Hirsch auch einige Differenzen zwischen Luther und Kant ausmachen zu können, die vor allem darauf hinauslaufen, dass Kant nicht mit dem selben Ernst eine verzeihende und barmherzige Rechtfertigung durch Gott habe aussagen können wie Luther, weil ersterer die Wende des Subjekts hin zum Guten dem Subjekt selbst abverlangt habe. Kants „Du kannst, denn du sollst“ wird durch Hirsch allein so gedeutet, als habe Kant damit tatsächlich intendiert, dass das Subjekt sich selbst erlösen können müsse (vgl. E. HIRSCH: Rechtfertigungslehre, 111). 44 E. HIRSCH: Rechtfertigungslehre, 113. 45 E. HIRSCH: Rechtfertigungslehre, 115. 43

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Dieses Lutherverständnis wirft ein besonderes Licht auf Kant. Denn wenn Rechtfertigung nach Luther in erster Linie die Rechtfertigung eines angesichts des göttlichen Willens sittlich sich verfehlenden Subjekts meint, dann hat Kant sich in der Religionsschrift tatsächlich an derselben Problemstellung abgearbeitet. Im Folgenden soll aufgezeigt werden, auf welche spezifische Weise Kant die Rechtfertigungsthematik abhandelt. Dies geschieht unter der Annahme, dass er nicht nur dieselbe Problemstellung wie Luther bezüglich der Rechtfertigungslehre vor Augen hat, sondern auch eine Lösung anbietet, die analog zur lutherischen konstruiert ist. Es ist dabei nicht die Absicht, genetische Abhängigkeiten Kants von Luther aufzuweisen. Vielmehr soll gezeigt werden, dass das kantsche Rechtfertigungsverständnis mit all seinen Parallelen zu Luther in der Konsequenz der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft liegt. Rechtfertigungsglaube – so die These der vorliegenden Arbeit – ist die vernunftangemessene Antwort auf die Frage nach dem Umgang mit der an sich selbst wahrgenommenen Differenz von Sein und Sollen des Menschen. Diese Differenz wird als Sünde bewusst und bedarf einer Bearbeitung, die dem menschlichen Wesen angemessen nur in der Form einer Rechtfertigung gegeben ist. Kant hat der Rechtfertigungslehre, wie sie sich im Protestantismus finden lässt, eine besondere Rolle bei der Durchsetzung reiner Religion zugemessen, weil durch sie allein eine angemessene Bearbeitung des radikal verstandenen Bösen und des aus ihm resultierenden Schuldgefühls geleistet werden kann. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass Luthers Rechtfertigungslehre bei Kant unter den Bedingungen der Aufklärung reformuliert ist46 – aber nicht nur dies. Wenn sich dabei nämlich zeigt, dass Luthers Rechtfertigungsverständnis der Vernunft dienlich ist, wäre zugleich gezeigt, dass seine Theorie der Rechtfertigung eine zumindest vernunftkompatible Lösung des Rechtfertigungsproblems ist.47

46 Ob dieser Gedanke widerspruchsfrei durchgeführt werden kann, muss sich im Verlauf der folgenden Ausführungen zeigen. Troeltsch selbst muss freilich eingestehen, dass Kant seine Schrift mehrfach bezeugt anders verstanden wissen wollte, als Troeltsch es behauptet. Kants eigene Bemerkungen zu seiner Religionsphilosophie stimmen mit der hier vorgelegten These überein. Troeltsch übergeht derartige Hinweise Kants mit der Behauptung, sie seien der Zensur geschuldet. Vgl. dazu E. TROELTSCH: Das Historische, 45–50. 47 Es erscheint auf den ersten Blick verwunderlich, Luther so deuten zu wollen, wo er selbst doch die Vernunft außerordentlich gering schätzen konnte. (Vgl. etwa die Äußerungen M. LUTHERs in seiner Galaterbrief-Auslegung 1531, 139–142 (WA 40/I, 360–370). Man sitzt allerdings einer Täuschung auf, meint man, die Vernunft habe überhaupt keine Möglichkeit, der Rechtfertigungslehre Verständnis abzugewinnen, wie sich im weiteren Verlauf zeigen wird.

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4.1.3 Die Reformulierung der Rechtfertigungslehre bei Kant Kant hat einen Teil seiner Rechtfertigungslehre im Zweiten Stück der Religionsschrift abgehandelt. Dieses Zweite Stück trägt den Titel „Von dem Kampf des guten Princips mit dem bösen um die Herrschaft über den Menschen.“48 Der Kampf, von dem hier die Rede ist, ist mit vollem Ernst erst dann erkannt, wenn man sich vor Augen hält, welche zwei Prinzipien um welches Terrain miteinander streiten. Der Streit bleibt jedenfalls unterbestimmt, wenn das böse Prinzip als Mangel an Gutem aufgefasst wird. Dass diese augustinische49 Auffassung des Bösen nicht diejenige Kants ist, ist schon im Abschnitt zum Sündenbegriff50 deutlich geworden. Kant hat seine Sündenlehre im Ersten Stück der Religionsschrift im Wesentlichen durch drei Merkmale gekennzeichnet51: Erstens ist eine Handlung nicht deshalb böse, weil mit ihr ein Verstoß gegen die Sitten oder das Legalitätsprinzip vorliegt, sondern weil die Handlungsmaxime und also der transzendentale Motivationsgrund der Handlung dem Sittengesetz zuwider ist. Diese Maxime wiederum hat ihren letzten und unhintergehbaren Grund in einer Metamaxime als irreduziblem Radikal, die, so folgt induktiv, ihrerseits böse ist. Ist aber diese Metamaxime verderbt, so folgt wiederum deduktiv, dass sich am empirischen Menschen keine einzige gute Handlung antreffen lassen wird. Daraus folgt zweitens die Unausrottbarkeit des Bösen für den zeitlich sich vorfindenden Menschen. Kant schärft ein, diese Art des Bösen sei der Feind, den es in dem angesprochenen Kampf zu besiegen gilt. Er zieht das Fazit, dass „das erste wahre Gute, was der Mensch thun kann, sei, vom Bösen auszugehen.“52 Ist damit prinzipiell die klassische Erbsündenlehre der christlichen Tradition reformuliert, sucht Kant nun drittens ein weiteres wesentliches Moment dieser Erbsündenlehre zu berücksichtigen: nämlich die Behauptung der Verantwortlichkeit des Menschen für seine unüberwindbare Verstrickung in das Böse. Dies gelingt ihm, indem er einen aus den praktisch-kritischen Schriften bekannten Gedanken der autonomen Vernunft aufnimmt, nach dem Vernunft, wo sie sich praktisch vollzieht, immer das Sittengesetz und

48

I. KANT: Rel., 57. Augustins Sündenverständnis geht davon aus, dass alles Seiende an einer Norm partizipiert, die sein Wesen (seine Substanz) ausmacht. Abweichungen von der Norm sind Beraubungen. Das Böse kann folglich kein eigenes Sein haben, wenn die Dinge ein Wesen haben, das ihre Güte ausmacht. Es ist vielmehr bloß Mangel an Gutem. Vgl. AUGUSTINUS: De libero arbitrio, Buch III, XIII, 289–295. 50 Vgl. den Abschnitt 2.3 oben. 51 Vgl. dazu auch C. AXT-PISCALAR: Sünde und Freiheit des Subjekts, 339–345. 52 I. KANT: Rel., 58 Anm. 49

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seine Forderung bewusst sein lässt.53 Die Forderung des Sittengesetzes wiederum ist als unbedingte Forderung situationsunabhängig und versetzt den Menschen in den Stand der Freiheit.54 Wenn der Mensch sich aber als frei erfährt – und er tut dies qua praktischer Vernunft prinzipiell –, erfährt er sich auch als verantwortlich für seine Bösartigkeit. Denn das Sittengesetz fordert erstens seine Befolgung und versetzt den Menschen zweitens in den Stand, dieser Forderung auch nachkommen zu können. Kant hat dafür seine berühmt gewordene Formulierung Du kannst, denn du sollst gefunden. Sie fordert einerseits die Überwindung des Bösen und indiziert andererseits die Verantwortung des Subjekts für das Böse. Kant steht folglich vor einer zweifachen Aufgabe. Einerseits muss er klären, wie der Selbstzweck des Sittengesetzes trotz Erbsünde in der Menschheit zur handlungsbestimmenden Größe werden kann. Dies kommt der Erlösung von dem Bösen gleich und ist unter Berücksichtigung der Radikalität des Bösen nur denkbar durch einen erlösenden Akt Gottes, wie die Untersuchung oben55 gezeigt hat. Darunter ist zunächst eine Umwandlung der moralischen Qualität der Metamaxime zu verstehen, die durch das Subjekt selbst nicht ursächlich geleistet werden kann. Andererseits besteht die Aufgabe, den Umgang mit dem Schuldbewusstsein zu thematisieren, das mit dem Verantwortungsbewusstsein einhergeht. Dazu hat Kant über die Erlösungslehre hinaus eine Versöhnungs- oder Rechtfertigungslehre entworfen. Letztere macht die Möglichkeit der Vergebung von Schuld thematisch. Nun kann man sich fragen, ob die Entfaltung einer Versöhnungs- neben der Erlösungslehre überhaupt notwendig ist. Dies wäre nur dann der Fall, wenn die Vergebung von Schuld unabdingbare Voraussetzung für die Durchsetzung des Zwecks moralisch-endlicher Wesen ist. Den Grund für die Erlösungslehre hat das voraufgehende Kapitel herausgearbeitet, und er ist soeben erneut genannt worden: Das höchste Gut als unbedingtes Ziel moralischer Gesinnung kann nicht anders erreicht werden als durch die Einsetzung des Sittengesetzes als handlungsleitendes Prinzip für den Menschen durch Gott.56 Das Postulat eines Erlösergottes ist notwendig, wenn die Erreichung des Zwecks der Schöpfung unter Voraussetzung der natürlichen Bösartigkeit des Menschen erreicht werden soll. Man 53

Damit ist noch nichts über die Genese des Sittengesetzes gesagt. Die in dieser Arbeit vertretene These dazu lautet dazu, dass die Vernunft das Sittengesetz nicht aus sich herausklügeln kann, wie I. KANT sich in: Rel. 26, Anm. ausdrückt. Sondern die Vernunft ist diejenige Instanz, die das Faktum Sittengesetz aneignet und so der Person zu Eigen macht. 54 Freiheit heißt also zunächst nichts anderes als Freiheit von der Naturkausalität. 55 Vgl. Kapitel 3. 56 So jedenfalls sieht es die Religion, die den hochstufigsten Reflexionsgang auf die Verhältnisse bedeutet. Vgl. dazu das vorausgehende Erlösungskapitel (3).

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könnte nun meinen, mit der Erlösung sei das Ziel menschlichen Daseins vollends erreicht. Diese Überlegung liegt nahe, wenn man bedenkt, wie Kant das höchste Gut in der Grundlegung und in der Analytik der Kritik der praktischen Vernunft bestimmt – nämlich als einen rein vernünftig bestimmten Willen. Damit ist aber noch nicht das vollständige höchste Gut von Menschen im Blick, denn sie streben, wie sich sogleich zeigen wird, neben sittlicher Vollkommenheit auch immer Glückseligkeit an. Entscheidend ist nun, dass man sich Hoffnung auf die Realisierung von Glückseligkeit erst dann machen kann, wenn Gott einem zuvor die moralische Schuld vergeben hat. Denn ungeteilte Glückseligkeit kann Menschen im Sinne der praktischen Vernunft überhaupt nur von Gott bereitgestellt werden, wenn sie sich dieser Zuteilung würdig erweisen, wozu erforderlich ist ohne Schuld zu sein. Die Notwendigkeit neben der Erlösungs- auch eine Rechtfertigungsoder Versöhnungslehre entwerfen zu müssen, in der die Frage nach der Schuldvergebung thematisch ist, erschließt sich folglich erst dann, wenn man gewärtigt, dass die Dialektik der zweiten Kritik im höchsten Gut mehr sieht als einen tugendhaften Willen. Der Wille vernünftiger endlicher Wesen wird nicht allein durch die Vernunft beeinflusst wird, sondern auch durch subjektive Neigungen.57 Denn endliche Wesen sind nicht rein intelligibel, und das höchste Gut wird sich für solche Wesen nicht angemessen bestimmen lassen, ohne dem Umstand Rechnung zu tragen, dass sie der Befriedigung subjektiver Neigungen bedürftig sind.58 Im Folgenden soll, um diese Behauptungen zu plausibilisieren, zunächst Kants doppelter Begriff von Glück erklärt werden (Abschnitt 4.1.3.1). Von ihm her kann sodann eingesehen werden, wieso das vollendete höchste Gut eines guten Willens nicht bloß Sittlichkeit, sondern auch physische Glückseligkeit bedeutet (Abschnitt 4.1.3.2) Realisiert werden kann dieses Gut nicht von Menschen, sondern allein von Gott, weil nicht jene, sondern allein dieser das Vermögen dazu hat. Er wird nur dem Anteil am höchsten Gut verschaffen, dessen Schuld zuvor vergeben ist. Deshalb kann die Rechtfertigung als Voraussetzung für die Teilhabe am höchsten Gut gelten. Dies soll in einem weiteren Schritt bedacht werden (Abschnitt 4.1.3.3). 4.1.3.1 Kants doppelter Begriff des Glücks Kants Moralphilosophie hat es nicht versäumt, den menschlichen Wunsch nach Glückseligkeit zu thematisieren. Was Glück sei, hat Kant den beiden Triebfedern, die den menschlichen Willen umtreiben, gemäß doppelt 57

Vgl. dazu I. KANT: KpV, A 198f, und U. BARTH: Kants Begriff eines Gegenstandes der praktischen Vernunft, 283–286. 58 Vgl. auch L.W. BECK: Kants Kritik, 225, und die Einleitung zur ersten Auflage der Religionsschrift: I. KANT: Rel. 6f (Anm.).

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bestimmen können. Zum einen streben Menschen eine Form von Glückseligkeit an, die die Befriedigung von Neigungen bedeutet. Dazu gehört sicher physisches Glück, aber auch die Erfüllung von Wünschen, die ihre Ursache in geistig gegründeten subjektiven Neigungen haben. Kant bezeichnet diese Art des Glücks allerdings durchgängig als physische Glückseligkeit. Sie zeichnet sich vor allem durch das Ausbleiben von Übeln aus und durch die fortdauernde Vergnügung des Subjekts. Die andere Form von Glückseligkeit ist das moralische Glück. Es bedeutet die Zufriedenheit am eigenen moralischen Vollzug und stellt sich dann ein, wenn die Achtung vor dem Sittengesetz den Willen des Subjekts bestimmt – also bei Übereinstimmung von Sein und Sollen.59 Dass es eine Variante von Glück geben können soll, die durch pflichtmäßigen Selbstvollzug hergestellt wird, scheint auf den ersten Blick unwahrscheinlich zu sein. Denn wenn unter Glückseligkeit „das Bewußtsein eines vernünftigen Wesens von der Annehmlichkeit des Lebens, die ununterbrochen sein ganzes Dasein begleitet,“60 zu verstehen ist, meint man vorderhand, dieser Zustand vertrage sich nicht mit moralischem Vollzug eines Menschen und lasse sich schon gar nicht analytisch aus dem Begriff Sittlichkeit entwickeln. Es ist demnach fraglich, ob sich für den Menschen der Begriff von moralischer Glückseligkeit, die nach Kant die „Zufriedenheit mit seiner Person und ihrem eigenen sittlichen Verhalten“61 bedeutet, dennoch plausibel machen lässt. Man nähert sich der Problemlösung am besten an, indem man den Begriff der Lust oder Annehmlichkeit zergliedert. Unter einer Annehmlichkeit ist das Gefühl des Wohlgefallens oder des Genusses oder der Lust zu verstehen. Ein solches Gefühl stellt sich ein, wenn das Interesse an einem Ding oder einem Zustand befriedigt wird. „Daß nun mein Urtheil über einen Gegenstand, wodurch ich ihn für angenehm erkläre, ein Interesse an demselben ausdrücke, ist daraus schon klar, daß es durch Empfindung eine Begierde nach dergleichen Gegenstande rege macht.“62 Entscheidend für das Urteil, ob etwas als angenehm erscheint, ist nicht der Gegenstand oder Zustand der Welt als solcher, sondern welches Bewusstsein sie im Subjekt auslösen. Was angenehm ist, ist nicht objektiv angenehm, sondern weil es subjektiv vergnügt. Sogleich ist man geneigt, sich darunter nur solche Zustände oder Gegenstände vorzustellen, die deshalb interessieren, weil sich an ihnen das Gefühl der Lust unmittelbar einstellt. Der Gegenstand als 59

Vgl. zu dieser Differenzierung des Glückseligkeitsbewusstseins I. KANT: Rel., 67f und 75,

Anm. 60

I. KANT: KpV, A 40. I. KANT: MdS, 387. 62 I. KANT: KdU, B 9. Vgl. zum Interesse am Angenehmen und sodann auch zum Interesse am Guten überhaupt die Ausführungen I. KANTs in: KdU §§ 3–5. 61

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solcher muss für das Lustgefühl nämlich nicht einmal als bestimmter Gegenstand erkannt werden. Die grüne Farbe der Wiesen gehört zur objectiven Empfindung, als Wahrnehmung eines Gegenstandes des Sinnes; die Annehmlichkeit derselben aber zur subjectiven Empfindung, wodurch kein Gegenstand vorgestellt wird: d.i. zum Gefühl, wodurch der Gegenstand als Objekt des Wohlgefallens (welches kein Erkenntnis desselben ist) betrachtet wird.63

Damit stehen Gegenstände, die diese Art der Lust auslösen, allerdings in Kontrast zu dem, was als gut gilt; und dies ist auch der Grund für die zunächst vorgenommene Einschätzung, das (sittlich) Gute könne nicht wohlgefallen. Denn um das Gute als gut zu erkennen bedarf es eines Urteils, das der praktischen Vernunft folgt und in dem der Gegenstand darauf befragt wird, ob er entweder nützlich (gut als Mittel zum Zweck) oder an sich gut ist64, nicht darauf, ob er wohlgefällt. Das Objekt muss in diesem praktischen Urteil also zunächst bestimmt werden. Es gefällt nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar, wie sich sogleich zeigen wird. Man verkennt das Potential des Guten zu gefallen, wenn man meint, Lust trete nur am unmittelbar wohlgefallenden Gegenstand auf. Es besteht nämlich ebenfalls ein natürliches Interesse am Guten: „Denn das Gute ist das Objekt des Willens (d.i. eines durch Vernunft bestimmten Begehrungsvermögens). Etwas aber wollen und an dem Dasein desselben ein Wohlgefallen haben, d.i. daran ein Interesse nehmen, ist identisch.“65 M.a.W. löst die Realisierung des Guten ebenso ein Lustgefühl aus, wie Gegenstände, die einem unmittelbar angenehm sind, weil es wie diese begehrt wird.66 Das gilt auch vom unbedingt Guten, das in der Realisierung des Sittengesetzes besteht. Das moralisch Gute ist allerdings im Unterschied zum bloß subjektiv Begehrten ein Objekt, an dem jedes vernunftbegabte Wesen Interesse haben muss und gefällt deshalb nicht bloß subjektiv, sondern objektiv. Damit ist aber das gewonnen, was vorerst unwahrscheinlich erschien, nämlich dass der sittliche Vollzug selbst ein Wohlgefallen erzeugt, das von 63 I. KANT: KdU, B 9 (Hervorhebungen im Original). Entsprechend werden in B §3 der KdU unter dem Wohlgefallen am Angenehmen solche Zustände verstanden, die durch Gegenstände ausgelöst werden, über die für den Genuss kein Urteil gefällt werden muss: „[U]nd zu dem, was auf die lebhafteste Art angenehm ist, gehört so gar kein objektives Urtheil über die Beschaffenheit des Objekts, daß diejenigen, welche immer nur auf das Genießen ausgehen (denn das ist das Wort, womit man das Innige des Vergnügens bezeichnet), sich gerne alles Urtheilens überheben.“ (KdU, B 10). 64 So heißt es bei I. KANT: KdU, B 10: „Um etwas gut zu finden, muß ich jederzeit wissen, was der Gegenstand für ein Ding sein solle, d.i. einen Begriff von demselben haben.“ 65 I. KANT: KdU, B 13f. 66 Die Differenz zwischen dem Guten und dem Angenehmen bezüglich des Lustgefühls besteht lediglich darin, dass die Lust am Guten ein bestimmtes Objekt voraussetzt, das durch die praktische Vernunft bestimmt worden ist. Aber dieses Objekt wird ebenso begehrt.

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Kant den besagten Namen moralische Glückseligkeit erhält.67 Sie zeichnet sich im Unterschied zur physischen Glückseligkeit nicht durch das Genießen von Umständen aus, an denen das Subjekt allein wegen des unmittelbaren Vergnügens ein Interesse hat, sondern sie ist die „Zufriedenheit mit seiner Person und ihrem eigenen sittlichen Verhalten, also mit dem, was man thut.“68 Glück ist ein Zustand, den das Subjekt beständig anstrebt. Erfragt man das jeweilige Verhältnis des Glücks zur Moralität, so muss vernünftig Sittlichkeit als Bedingung für die Realisierung von Glückseligkeit gelten.69 Von der Pflicht, sich dem Sittengesetz zu fügen, ist niemals abzurücken. Die Befriedigung subjektiver Bedürfnisse ist mithin nur zulässig, wenn sie sich zufällig bei moralischem Vollzug des Subjekts ergibt. Das Gefühl moralischer Glückseligkeit kongruiert nicht bloß zufällig mit der Pflicht des Sittengesetzes, sondern es stellt sich gerade dann ein, wenn Pflicht beharrlich getan wird. Wer sich moralisch verhält, wird automatisch auch moralisches Glück empfinden. Anders verhält es sich mit der physischen Glückseligkeit. Sie folgt nicht unmittelbar aus der Realisierung des Sittengesetzes, sondern kann sich bei sittlichem Vollzug des Subjekts allenfalls kontingent einstellen, wenn das subjektive Verlangen zufällig durch die aus sittlicher Motivation entstandene Handlung befriedigt wird. Denn das Verlangen nach physischer Glückseligkeit und die Achtung vor dem Sittengesetz verhalten sich als Antriebsarten des Willens nicht homogen zueinander. Wer willentlich seine Glückseligkeit fördert, verhält sich gerade darin unsittlich. Und doch strebt das Subjekt faktisch beständig physische Glückseligkeit an. 4.1.3.2 Moralität und physische Glückseligkeit als Bestandteile des höchsten Guts Kant hat das sich daraus ergebende Problem bei der Bestimmung des höchsten Guts erstmals in der Dialektik der Kritik der praktischen Vernunft bearbeitet, indem er den Gegenstand der reinen praktischen Vernunft so bestimmt, dass dieser auch dem physischen Glücksverlangen70 genügt.

67

Es ist ausgeschlossen, dass moralische Glückseligkeit den Motivationsgrund dafür bietet, sich dem Sittengesetz gemäss zu vollziehen. Der Gedanke wäre widersprüchlich in sich selbst. Denn wo subjektives Glückseligkeitsstreben den Grund einer Handlung abgibt, ist diese nicht moralisch gut. Das gilt auch für das moralische Glückseligkeitsgefühl. Ziel der hier ausgeführten Gedanken ist bloß der Aufweis eines Lustgefühls, das analytisch aus moralischem Selbstvollzug folgt, aber gerade nicht dessen Voraussetzung darstellt. 68 I. KANT: MdS, 387 (Hervorhebung im Original). 69 Vgl. die Analytik in: I. KANT: KpV, A 35–198. 70 Im Folgenden meint der Glücksbegriff, wenn es nicht ausdrücklich anders vermerkt ist immer physisches Glück.

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Dieser Gegenstand heißt das vollendete höchste Gut.71 In seiner vollendeten Form ist das höchste Gut die Realisierung des Sittengesetzes bei gleichzeitiger Befriedigung des Strebens nach physischer Glückseligkeit. Weil diese Form der Vollkommenheit sich natürlicherweise nur kontingent einstellen kann, steht man vor der Schwierigkeit, dass ein moralisches Wesen physisch in der Regel unglücklich bleibt. Eine Lösung des Problems wäre dann erreicht, wenn die bloß zufällige Kongruenz von Sittlichkeit und Glückseligkeit72 sich immer einstellte, und mithin die Zufälligkeit durch Notwendigkeit abgelöst würde. Um dieses Ideal eines höchsten Guts im Sinne der vollendeten Vollkommenheit gewährleisten zu können, sieht sich Kant genötigt, ein höchstes Wesen zu postulieren, das die gewünschte Kongruenz durchgehend garantieren kann: Gott den Allmächtigen, der als Ursache der Welt als ganzer eine Übereinstimmung zwischen Sittlichkeit der vernünftigen Weltwesen und einer ihr angemessenen Glückseligkeit herstellt.73 Die nachkantische Diskussion hat an derartiger Verbindung von Moralität und Glückseligkeit nicht nur Gefallen gefunden. Das kann nicht überraschen, denn eine Zergliederung des Begriffs Moralität ergibt, dass der Begriff Glückseligkeit nicht in ihm enthalten ist. Die Verbindung von Moralität und Glückseligkeit ist synthetischer Natur. Schon Fichte kann der kantschen Verbindung nichts mehr abgewinnen. Er äußert sich entsprechend abfällig und scharf: Wer Glückseligkeit erwartet, ist ein mit sich selbst und seiner ganzen Anlage unbekannter Thor; es gibt keine Glückseligkeit, es ist keine Glückseligkeit möglich; die 71 Vgl. dazu I. KANT: KpV, A 198–200. Kant nähert sich der Problematik, indem er den Begriff des höchsten Guts, der Gegenstand der praktischen Vernunft ist, einer Analyse unterzieht. Dabei zeigt sich, dass der Begriff des Höchsten doppeldeutig ist. Zum einen kann er das Oberste bedeuten, zum anderen das Vollendete. Ersteres meint bezogen auf die praktische Vernunft nichts weiter als realisierte Sittlichkeit, während der Begriff des vollendeten höchsten Guts über die Realisierung von Sittlichkeit hinaus die dieser axiologisch nachgeordnete Erfüllung der sinnlichen Wünsche des Subjekts mitbedenkt. Dass es überhaupt sinnvoll ist, sich einen Begriff vom höchsten Gut zu bilden, wird hier mit Kant vorausgesetzt, denn ein solcher ist die Antwort auf die Frage nach der unbedingten Totalität der Gegenstände, die die praktische Vernunft anstrebt. Die nachkantische Diskussion hat zuweilen gemeint, diese Frage zu stellen und zu beantworten, sei ein an sich unnötiges Unterfangen. Exemplarisch dafür mag H. Cohen stehen, der der Auffassung ist, moralisches Handeln erfordere nach dem Grundgedanken der kantschen Moralphilosophie überhaupt keinen Begriff vom höchsten Gut. Vielmehr könne der Wille jeweils nach moralischen Kriterien bestimmt werden, ohne das Handeln auf ein solches Gut zu beziehen. So heißt es bei H. COHEN: Kants Begründung der Ethik, 312: „Schon die blosse Frage: wie ist das höchste Gut praktisch möglich? ist vom Übel.“ 72 Wobei nach wie vor immer Sittlichkeit Bedingung von Glückseligkeit sein soll, nie umgekehrt. 73 Vgl. I. KANT: KpV, A 223–237. Gott muss danach die schöpferische Ursache der Natur sein, die die Übereinstimmung von tatsächlich sich vorfindender Sittlichkeit und Glückseligkeit gewährleisten kann. Vgl. zum Postulat Gottes, der als Schöpfer auch in die Funktion eintritt, seine Schöpfung zur Vollendung zu führen, die Ausführungen unten zur Vollendung der Gattung (5.3).

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Erwartung derselben, und ein Gott, den man ihr zufolge annimmt, sind Hirngespinste. Ein Gott, der der Begier dienen soll, ist ein verächtliches Wesen; er leistet einen Dienst, der selbst jedem erträglichen Menschen ekelt.74

Die von Fichte vertretene Auffassung, der Mensch bedürfe der Glückseligkeit bei seiner Vollendung nicht, meint man immer wieder auch bei Kant selbst auffinden zu können. Es heißt, Kant widerspreche der Systematik seiner eigenen Moralphilosophie, wenn das höchste Gut nach der Dialektik der zweiten Kritik Glückseligkeit einschließe.75 Bezeichnenderweise rekurrieren die Kritiker dabei auf das, was Kant in der Analytik seiner zweiten Kritik ausgeführt hat. Dort stellt er als Objekt des sittlichen Handelns allein Bonität, also einen guten Willen, vor. Ein Einwand gegen Kants Integrierung der Glückseligkeit in das höchste Gut meint dementsprechend, der Einschluss von Glückseligkeit in das Objekt eines Willens setze dessen heteronome Bestimmtheit voraus. Kant habe also mit seiner derartigen Bestimmung des höchsten Guts sein eigenes Konzept der Moralität konterkariert. So denkt Lewis W. Beck, es sei klar, „daß das Hereinnehmen dieses menschlich-allzu-menschlichen Faktums in den Motivationszusammenhang sittlichen Handelns eine Preisgabe der Autonomie bedeutet.“76 Ein anderer Einwand ist bei Walter Jaeschke formuliert und lautet wie folgt: „Wäre die Glückseligkeit Objekt des sittlichen Willens, müßte ich sie bewirken können.“77 Dieses Argument hat allerdings keine besonders hohe Überzeugungskraft, denn es setzt voraus, der Wille könne nur solches anstreben, zu dessen Realisierung er auch die Potenz hat. Diese Bedingung will aber nicht einleuchten. Tatsächlich will der Wille doch allerhand, auch wenn ihm nicht alles davon vergönnt werden wird. Nur weil es sich durch ihn selbst nicht durchsetzen lässt, kann etwas nicht davon ausgeschlossen werden, ein durch den Willen angestrebtes Objekt zu sein. In seiner Überzeugungskraft stärker scheint der andere zuvor genannte Einwand zu sein. Er lautete: Ein guter Wille kann per se subjektive Glückseligkeit nicht wollen, ohne heteronom bestimmt zu sein. Kant hat diesen Anwurf vorausgesehen und versucht, sich vorzeitig gegen ihn zu immunisieren, indem er in seinen Ausführungen zum höchsten vollendeten Gut durchgehend darauf insistiert, es dürfe nur erreicht werden, indem Sittlichkeit die Bedingung für Glückseligkeit abgebe und dieser also axiomatisch vorgeordnet bleibt. M.a.W. fordert Kants Moralphilosophie nie zur Heteronomie auf. Vielmehr bleibt der Wille an das Sittengesetz als seinen einzigen Normierungsgrund gewiesen. Kant betont: „Daher ist auch die Moral nicht 74

J.G. FICHTE: Appellation, 437. Vgl. L.W. BECK: Kants Kritik, 225–228. 76 L.W. BECK: Kants Kritik, 226. Ganz ähnlich äußert sich auch W. JAESCHKE: Vernunft in der Religion, 64. 77 W. JAESCHKE: Vernunft in der Religion, 57. 75

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eigentlich die Lehre, wie wir uns glücklich machen, sondern wie wir der Glückseligkeit würdig werden sollen.“78 Der Glückseligkeit würdig ist nur der Sittliche, dessen Wille durch nichts anderes normiert werden soll denn durch das Sittengesetz – soviel ist zunächst einmal festzuhalten. Es gibt als Reaktion auf den Vorwurf der Heteronomie den Versuch, die kantsche Konzeption vor den Anwürfen zu retten, indem man den Begriff der Glückseligkeit darauf reduziert, Zufriedenheit mit der eigenen Moralität zu meinen. Seligkeit soll dann eine Zuständlichkeit sein, die von „allen Naturursachen oder vom Glück unabhängig ist, und allein aus der Gesetzmäßigkeit unserer Handlungen, oder aus uns als einem bloß freien Wesen entspringt.“79 Derartige Zufriedenheit mit sich selbst, die nichts anderes als ein Wohlgefallen an der eigenen Moralität meint, fungiert bei Kant unter dem oben erklärten Begriff „moralische Glückseligkeit.“80 Wer die Glückseligkeit im höchsten Gut auf diese Form der moralischen Glückseligkeit einschränkt, hat Kants Ausführungen allerdings direkt gegen sich.81 Kant hält schon in der Analytik der Kritik der praktischen Vernunft eindeutig fest: „Der Mensch ist ein bedürftiges Wesen, so fern er zur Sinnenwelt gehört.“82 Der Versuch, volle Glückseligkeit analytisch mit dem Vollzug von Moralität zu verknüpfen, bedeutet eine Unterbestimmung des Glückseligkeitsbegriffs. Dieser meint eben mehr als die Selbstzufriedenheit83, die aus tugendhaftem Selbstvollzug folgt. Glückseligkeit ist nämlich „der Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es im Ganzen seiner Existenz alles nach Wunsch und Willen geht.“84 Wo einem Menschen aber alles nach Wunsch und Willen geht, ist nicht nur der moralische, 78

I. KANT: KpV, A 234 (Hervorhebung im Original). R. LANGTHALER: Kants Ethik, 373. Vgl. auch K. DÜSING: Das Problem, 23–26, der sich bei seinem Ausschluss der physischen Glückseligkeit aus dem unbedingten Objekt eines sittlichen Willens vor allem auf eine beträchtliche Anzahl kantscher Reflexionen meint stützen zu können. Dass dies zu Unrecht geschieht, wird von M. ALBRECHT: Glückseligkeit, gezeigt. Die These Langthalers und Düsings setzt voraus, der Begriff vom höchsten vollendeten Gut meine nach Kant nichts anderes, als dass Moralität eine besondere Form der Glückseligkeit, die eine Zufriedenheit mit der eigenen Moralität bedeutet, bei sich führt. Kant kennt diese Form der Glückseligkeit tatsächlich. Sie fungiert in der Religionsschrift unter dem Namen der moralischen Glückseligkeit (Vgl. I. KANT: Rel., 67). Davon unterschieden bleibt aber eine physische Glückseligkeit, die die Befriedigung aller rein subjektiven Bedürfnisse bedeutet und die ebenfalls Komponente des vollendeten höchsten Guts ist, wie sich sogleich zeigen wird. 80 I. KANT: Rel., 67 (Hervorhebung im Original). 81 Vgl. zum folgenden vor allem I. KANT: KpV, A 198–215. Kant bearbeitet dort die Dialektik der Vernunft bei der Bestimmung des höchsten Guts. 82 I. KANT: KpV, A 108. 83 Den Begriff der Selbstzufriedenheit für die moralische Glückseligkeit verwendet I. KANT in: KpV, A 211f. 84 I. KANT: KpV, A 224 (Hervorhebungen im Original). Diesen Satz so auszudeuten, dass mit ihm subjektive Glückseligkeit ausgeschlossen sei, wie es R. LANGTHALER: Kants Ethik, 371f tut, ist völlig abwegig. 79

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sondern auch der subjektive Anspruch an den menschlichen Willen befriedigt. Das höchste vollendete Gut auf Erden vereinigt beide Ziele, die ein endliches vernünftiges Wesen haben kann, synthetisch in einem Gegenstand, der der Neigung wie der praktischen Vernunft Rechnung trägt. Physische Glückseligkeit ist demnach integraler Bestandteil des höchsten Guts, das ein endlicher Wille anstrebt. Es gibt auch Kantinterpretationen, die diese Berücksichtigung des subjektiven Begehrens positiv bewerten. Nur so ist es möglich, der Tatsache nachzukommen, dass Menschen einen doppelt affizierten Willen haben und sich dessen auch bewusst sind. Für einen derartig durch die Achtung und die sinnliche Triebfeder motivierten Willen kann das höchste Gut nur dann das vollendete höchste Gute sein, wenn es auch beide bewusst gewordenen Triebfedern des Willens befriedigt.85 Die grundsätzliche Berücksichtigung der sinnlichen Triebfeder bei der Bestimmung des höchsten Guts bedeutet nicht per se dessen Unsittlichkeit, sondern trägt bloß der Tatsache der Einwirkung der sinnlichen Triebfeder auch auf den sittlichen Willen Rechnung. Selbst ein Wille, der der Triebfeder Achtung vor dem Sittengesetz folgt, steht weiterhin unter dem Einfluss der subjektiven Triebfeder, wenn er ihr auch nicht folgt, und selbst der sittlichste Mensch bleibt subjektiv bedürftig, weil er ein endliches Wesen ist. Die Kritik an Kant begeht durchgängig den Fehler, Heteronomie des Willens schon deshalb anzunehmen, weil dieser zu seinem idealen Objekt ein Gut hat, das beiden Antrieben des Menschen Befriedigung gewährleistet. Der Wille, der dieses Gut will, ist deshalb aber nicht unmoralisch. Ganz im Gegenteil gilt: Nur ein moralischer Wille hat zu seinem höchsten Gut ein solches, in dem Moralität und Glück miteinander vereinigt sind, wobei allerdings Sittlichkeit immer axiologischen Vorrang vor physischer Glückseligkeit genießt. Ein unmoralischer Wille würde nur der Glückseligkeit ohne Rücksicht auf die Moralität nachgehen. Das höchste Gut stellt für Kant „die unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“86 dar. Die Vernunft gelangt zu dieser Idee, wenn sie zum praktisch Bedingten das Unbedingte sucht. Unter endlichen Bedingungen ist das Gute als Gegenstand niemals ganz gegeben, sondern immer nur partikular. Die Idee des höchsten Guts ist ein nicht zu realisierender Grenzbegriff, der eine noumenal geordnete Welt bezeichnet. Die Idee von einem Gegenstand, der durch sittliche Handlungsweise reali85

U. BARTH: Kants Begriff, sieht in dieser Konzeption Kants ein „integrales Moment der KANTischen Ethik“ (286), weil nur so das subjektive Begehrungsvermögen, das einen endlichen Willen faktisch neben dem Antrieb des Sittengesetzes auch umtreibt, Berücksichtigung findet (Vgl. 280–286). Ganz in diesem Sinne kann neuerdings auch B. HIMMELMANN: Kants Begriff des Glücks, argumentieren. 86 I. KANT: KpV, A 194 (Hervorhebung im Original).

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siert wird und zugleich die Glückseligkeit der Handelnden bereitstellt, „ist nicht schlechterdings“ undenkbar, sondern nur dann, wenn er unter der „Causalität der Sinnenwelt betrachtet wird.“87 Es ist aber ein derartiger Gegenstand als Noumenon der Zweck eines moralisch bestimmten Willens – und zwar als dessen „wahres Objekt.“88 Wie oben beschrieben muss zur Durchsetzung dieses höchsten Gegenstandes endlich vernünftiger Wesen ein göttlicher Wille angenommen werden, der die Kongruenz von Sittlichkeit und Glückseligkeit gewährleistet.89 In den hier verhandelten Zusammenhang gehört also das Postulat Gottes, der allein fähig ist, das höchste Gut oder das Reich Gottes zu realisieren. 4.1.3.3 Rechtfertigung als Voraussetzung für die Teilhabe am höchsten Gut Das höchste Gut in seiner vollendeten Form kann nun in zweifacher Perspektive in Betracht kommen. Entweder man konzentriert sich auf die Frage, wie eine Welt organisiert sein müsste, die das höchste Gut vorstellt, und wie sie überhaupt zu Stande kommen kann. Diese Fragen sind mit dem Verweis auf Gottes Wirken und die Noumenalität des Reiches Gottes beantwortet. Oder man konzentriert sich auf den Einzelnen und erfragt, wie es ihm möglich ist, Anteil am höchsten Gut zu erhalten. Dann muss insbesondere geklärt werden, ob Gott als der Wirker des Reiches Gottes ihm Eintritt verschafft. Wenn Gott als moralischer Welturheber vorgestellt wird, der „eine der moralischen Gesinnung gemäße Causalität hat“90, meint dies das Postulat eines Weltherrschers, der jedem das Seine zukommen lässt. Nur der ethisch Gute wird danach an seinem Gegenstand auch glücklich werden. Die Glückseligkeit des Einzelnen dependiert nach dieser religiösen Art der Wirklichkeitsauffassung also von seiner sittlichen Bonität. Denn nur der Gute ist des Glücks würdig91, und Gott als moralischer und weiser Gesetzgeber übt gerechte Distribution, indem er den Sittlichen seiner Bonität entsprechend glücklich macht. Vor diesem Hintergrund wird nun auch verständlich, warum Kant unbedingt an einer Versöhnungs- oder Rechtfertigungslehre gelegen ist. Denn selbst nach einer allfälligen Erlösung würde sich das Subjekt gemessen an der strengen Gerechtigkeit Gottes nur verdammungswürdig wissen können. 87

Beide Zitate: I. KANT: KpV, A 206 (Hervorhebung im Original.) I. KANT: KpV, A 207. 89 Das wird allerdings voll verständlich erst im Rahmen der kantschen Teleologie und unter Inanspruchnahme der Idee der Vollendung der Welt, wie sie in der KdU entfaltet wird. Welcher Art eine solche Vollendung der Welt im Sinne des höchsten Guts ist und wieso es zu ihrer Realisierung eines theistisch gedachten Gottes bedarf, wird unten im Abschnitt 5.2. Die Vollendung der Menschheit als Gattung entfaltet. 90 I. KANT: KpV, A 225. 91 So I. KANT schon in: KrV, B 834 und dann in KpV, A 234f. 88

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Kant kann zur Untermauerung dieser Aussage ganz im Sinne Anselms von Canterbury urteilen.92 Die Schuld, die der Mensch sich vor seiner Besserung aufgeladen hat, ist erstens unendlich groß und zweitens durch die bloße Besserung nicht zu tilgen. Sie ist deshalb unendlich groß, weil eine verderbte Gesinnung eine unendliche Anzahl verderbter Tatsünden nach sich zieht. Und sie kann nicht mit den Leistungen des gebesserten Menschen verrechnet werden, „denn es ist jederzeit seine Pflicht, alles Gute zu tun, was in seinem Vermögen steht“93, so dass keine überschüssigen Verdienste angehäuft werden können. Ist das der Fall, so kann das Erreichen des vollendeten höchsten Guts durch das Subjekt nicht erwartet werden, da wegen des Bösen unversöhnte Schuld vorliegt. Gott als gerechter Richter wird selbst dann, wenn ein Subjekt im unendlichen Fortschritt das Ideal des Guten erreicht hat, diesem nicht Glückseligkeit zuteilen können, wenn dasselbe Subjekt sich zuvor unendlich schuldig gemacht hat. Es wäre vielmehr der Verdammung würdig. Selbst der zum Guten gewendete Sünder bliebe aus dem Reich Gottes oder dem höchsten vollendeten Gut ausgeschlossen. Erst die Versöhnung im Sinne der Schuldvergebung kann das erreichbar werden lassen, was an sich Selbstzweck ist und deshalb durch das Subjekt unbedingt angestrebt wird: Die Partizipation am Reich Gottes im Sinne des vollendeten höchsten Guts. Eine Theorie der Versöhnung ist folglich nicht ein willkürlicher, sondern ein moralisch notwendiger Gedanke. Erlösung und Versöhnung sind zwei Funktionen von Religion, die die Bedingung der Möglichkeit der Realisierung des höchsten Guts darstellen. Eine Religion, die sich innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft bewegt und Anspruch auf Allgemeinheit erheben kann, wird folglich ohne die beiden wesentlichen Elemente Erlösung und Versöhnung nicht auskommen können.94 Sowohl Erlösung als auch Versöhnung sind innerhalb des kantschen Systems denknotwendig geworden mit der Erkenntnis des Bösen als radikaler Verfehlung im Sinne der Erbsünde. Denn das radikale Böse ist diejenige Größe, die die natürliche Durchsetzung des Selbstzwecks des Menschen immer schon unmöglich erscheinen lässt. Versöhnung und Erlösung sind Ideen, die Menschen für die Durchsetzung ihres letzten Zwecks für wahr halten müssen, weil ihre Moral durch die Erbsünde invalid ist. Kant nennt diesen menschlichen Vollzug des Fürwahrhaltens95 den seligmachenden 92

Vgl. ANSELM VON CANTERBURY: Cur deus homo, Buch I, Kap. 20 und 21 (70–77). I. KANT: Rel., 72. 94 Selbstverständlich sind darüber hinaus auch die in der KpV genannten Elemente des Daseins Gottes und der Unsterblichkeit der Seele für den reinen Religionsglauben unentbehrlich. Vgl. dazu bei I. KANT das Zweite Hauptstück der Dialektik der KpV, B 198–266. 95 Der Begriff des Fürwahrhaltens wird auch hier immer in der oben beschriebenen existentiell sich auswirkenden Weise verwendet, nie im Sinne einer reinen fides acquisita. 93

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Glauben. Es ist die Überzeugung von der Versöhnung, durch die der Glaubende sich vor Gott gerecht weiß und deshalb Aussicht auf eine ewige Zukunft der Glückseligkeit hat. Damit ist noch gar nichts darüber ausgesagt, ob tatsächlich jemand derartigen Glauben hat, denn auch der Versöhnungsglaube ist ein Fürwahrhalten, das seinen Inhalt glauben muss, ohne dafür objektive Belege zu haben. Es handelt sich um ein subjektives Fürwahrhalten der Versöhnung, das im Übrigen einerseits mit, andererseits gegen die Vernunft geschieht, wie sich noch zeigen wird, das aber nicht andemonstriert oder willentlich produziert werden kann, sondern sich einstellt.96 Wenn die vorliegende Arbeit im vorausliegenden Kapitel zuerst die Erlösung unter Absehung der Versöhnung thematisiert hat und erst jetzt die Versöhnungslehre zur Sprache bringt, dann folgt sie einem Ordnungsschema, das Kant selbst in der Kritik der praktischen Vernunft vorgegeben hat. Dort hat die Analytik zunächst nur den Anspruch reiner praktischer Vernunft auf Realisierung von Sittlichkeit expliziert. Die Dialektik hat sodann im Zuge der Thematisierung des Zwecks praktischer Vernunft auch das Bedürfnis nach Glückseligkeit ins Auge gefasst. Hier wird nach einem analogen Aufbau verfahren, allerdings jeweils unter Berücksichtigung des im Ersten Stück der Religionsschrift entfalteten Erbsündegedankens. Erlösung ist dann dasjenige Konstrukt, das Bedingung der Möglichkeit von realisierter Moralität ist. Versöhnung ist dasjenige Konstrukt, das Bedingung der Möglichkeit von vollendeter Glückseligkeit ist. Erst die moralisch angemessene Kombination beider Zwecke endlicher moralischer Wesen erfasst den Begriff des vollendeten höchsten Guts, dessen Realisierung mithin sowohl Versöhnung als auch Erlösung voraussetzt.

4.2 Zum logischen Verhältnis von Erlösung und Versöhnung. Die Differenz zwischen der katholischen und der reformatorischen Auffassung Die Vollendung des Menschen ist erst mit der Realisierung sowohl seiner moralischen Bonität als auch seines ungeteilten Glücks gegeben. Kant nennt den Zustand, in dem der Mensch ununterbrochen und ungebrochen glücklich ist, Seligkeit. Ihrer würdig ist er nur, wenn er erstens gut (erlöst und heilig) und zweitens ohne Schuld (versöhnt) ist. Er ist beides im Stand der Sünde nicht, so dass er sich natürlicherweise auch keine Hoffnung auf Glückseligkeit machen kann, deren er jedoch als endliches Wesen unbedingt bedürftig ist. Am natürlichen Menschen ist ein doppeltes Ungenügen, 96

Vgl. zum Glaubensbegriff den Abschnitt 3.4. oben.

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das seiner Vollendung entgegensteht. Er ist einerseits böse, andererseits schuldig. Beide Mängel müssen, damit das Subjekt zur Vollendung gelangen kann, beseitigt werden.97 Dazu muss es einerseits den Stand der Bonität erreichen, andererseits müsste ihm seine Schuld durch Gott vergeben werden. Versöhnung und Erlösung sind zwei Bedingungen, die notwendig realisiert sein müssen, um Hoffnung auf Vollendung haben zu können. Kant geht davon aus, beide Bedingungen zur Vollendung stünden ihrerseits in einem Bedingungsverhältnis, so dass sich entweder die Versöhnung von der Erlösung ableiten ließe oder diese von jener.98 Es wird sich im Folgenden bestätigen, dass diese Annahme der Bedingung des einen durch das andere zu Recht gemacht wird, weil die Vernunft eine derartige Verknüpfung herstellt. Entweder setzt die Erlösung die Versöhnung voraus oder es verhält sich umgekehrt.99 Welche der beiden Varianten ist nun die der Vernunft angemessene? Kant bedient sich bei der Beantwortung der Frage zunächst der Einsichten, die er in der zweiten Kritik gewonnen hat, und sein Urteil lautet folglich: Die moralische Besserung (Erlösung) ist die Voraussetzung für die gnädige Nichtanrechnung der Schuld (Versöhnung), die ihrerseits Voraussetzung für die Zuteilung von Glückseligkeit durch Gott ist. Strukturell ist diese Form der Argumentation unmittelbar einleuchtend, weil sie am Anspruch des Sittengesetzes orientiert ist. Voraussetzung für die Zuteilung von Glückseligkeit ist danach prinzipiell Sittlichkeit. Reiner Religionsglaube, der allein der moralischen Vernunft folgt, muss nach Kant wie folgt argumentieren. Zur Glück verbürgenden Vergebung der Sünden durch Gott bedarf es zuvor der Sittlichkeit des Subjekts. Es muss eine Vorleistung erbringen, die unter göttlicher Mitwirkung100 geschehen kann, wenn das Subjekt sie nicht allein zu leisten vermag. Allerdings, muss selbst dann, wenn Gott das Subjekt bei der Erlösung unterstützt, die Erlösung als eine Tat des Subjekts zurechenbar sein. Darauf insistiert Kant im Sinne der praktischen Vernunft: [W]ir können sicher nicht anders hoffen […] der Seligkeit teilhaftig zu werden, als wenn wir uns dazu durch unsere Bestrebung in Befolgung jeder Menschenpflicht qualificieren, welche letztere die Wirkung unserer eigenen Bearbeitung und nicht […] fremder Einfluß sein muß, dabei wir passiv sind.101

97 Vgl. I. KANT: Rel., 116: „Der seligmachende Glaube enthält zwei Bedingungen seiner Hoffnung der Seligkeit: […] seine geschehene Handlungen rechtlich (vor einem göttlichen Richter) ungeschehen zu machen, […] in einem neuen, seiner Pflicht gemäßen Leben zu wandeln.“ 98 Vgl. I. KANT: Rel., 116. 99 Vgl. I. KANT: Rel., 116f. 100 Vgl. I. KANT: Rel., 44. 101 I. KANT: Rel., 118.

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Die Versöhnung kann sodann im Sinne der Anerkennung oder Belohnung dieser Tat folgen.102 Zur Erlangung ewiger Glückseligkeit muss das Subjekt sich demnach zunächst bessern, indem es sich selbst, möglicherweise unter göttlicher Mitwirkung, eine gebesserte Maxime gibt. Sodann kann es darauf rechnen, gnädige Vergebung der Schuld zu erfahren, mit der ewige Seligkeit verbunden ist. Diese Deutungsvariante hat auf der einen Seite den Vorteil, der praktischen Vernunft angemessen zu sein. Sie hat andererseits den Nachteil, der empirisch anzutreffenden Verfassung der Menschheit nicht Rechnung tragen zu können. Das Menschengeschlecht ist nach Kant durch und durch verderbt, weil das Böse radikal und allgemein ist. Es gibt für die Selbstauffassung des phänomenalen Menschen keine Möglichkeit der Selbstbesserung, die ihm zur Versöhnung mit Gott angerechnet werden könnte. Die umgekehrte Variante der Verhältnisbestimmung von Versöhnung und Erlösung nimmt ihren Ausgangspunkt folglich bei der Radikalität des Bösen: „Wenn aber der Mensch von Natur verderbt ist“, fragt Kant, „wie kann er glauben, aus sich, er mag sich auch bestreben, wie er wolle, einen neuen, Gott wohlgefälligen Menschen zu machen?“103 Die Frage ist theoretischer Natur. Das „Wie?“ sucht die Kausalitäten des Vorgangs zu ergründen, durch den das Subjekt sich selbst erlösen soll. Die Suche wird unter den Bedingungen der Erbsünde erfolglos bleiben müssen. Die theoretische Vernunft muss die Selbsterlösung von dem radikal verstandenen Bösen ausschließen, weil sie sich nicht begreiflich machen kann, durch welche Kausalitäten dies geschehen können soll.104 Mit dem Scheitern der theoretischen Vernunft, einen Weg für die Erlösung aus eigener Kraft verständlich zu machen, wird zugleich auch die von der praktischen Vernunft geforderte Verhältnisbestimmung von Erlösung und Versöhnung verworfen. In diesem Fall bleibt nur der andere Weg, nach dem die Versöhnung der Schuld Bedingung der sittlichen Besserung des Subjekts ist. Ein Glaube, der dies glaubt, glaubt gegen die praktische Vernunft, kann allerdings für sich reklamieren, die empirische Grundsätzlichkeit der Erbsünde in ihrer Bedeutung für die Menschheit nicht übersehen zu haben. Auch diese Variante der Ordnung von Versöhnung und Erlösung ist nicht ohne Schwierigkeiten. Wenn nämlich derartiger Glaube ganz offensichtlich den Boden dessen verlässt, was sich im Rahmen der praktischen Vernunft postulieren lässt, kann sein Auftreten nicht ohne weiteres erklärt, sondern muss mit der Vorstellung einer übernatürlichen Offenbarung verknüpft werden. „Man kann dieses sich nicht anders möglich denken, als 102

Vgl. I. KANT: Rel., 117. I. KANT: Rel., 117. 104 Vgl. dazu I. KANT: Rel., 118. 103

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daß der Mensch sich diesen Glauben selbst als ihm himmlisch eingegeben und so als etwas, worüber er seiner Vernunft weiter keine Rechenschaft zu geben nöthig hat, betrachte.“105 Diese Bemerkung Kants fügt sich zur Lehre der Reformatoren, die erstens immer auf die Sperrigkeit des Rechtfertigungsgeschehens für die Vernunft hingewiesen haben. Zweitens ist es ihnen eine Selbstverständlichkeit gewesen, das Auftreten des Glaubens samt seinem Inhalt nicht aus dem (vernünftigen) Selbstvollzug des Subjekts abzuleiten106, sondern von Gottes Offenbarung her zu verstehen. Kant konnte an dieser Variante, Versöhnung der Erlösung logisch vorzuordnen, noch eine weitere Schwierigkeit ausmachen. Es lässt sich nämlich nur schwer plausibilisieren, wie die bloße Versöhnung des Subjekts zu einer gebesserten Gesinnung führen soll.107 Durch welche Kausalitäten, so fragt man sich mit Kant, soll denn das Bewusstsein der Verzeihung eine die moralische Qualität des Subjekts bessernde Wirkung haben? Kant selbst hat diese Frage nicht ausdrücklich beantwortet, doch lässt sie sich bei näherer Betrachtung seiner Theorie von der Struktur des menschlichen Willens einer Lösung zuführen. Der menschliche Wille steht durchgehend unter dem Einfluss zweier Klassen von Triebfedern. Im Zustand der Sünde wird der sinnlichen Triebfeder der Vorzug vor der Achtung vor dem Sittengesetz gegeben, so dass der Mensch dem Prinzip der Selbstliebe oder physischen Glückseligkeit huldigt. Wo aber ein Glaubender sich der Glückseligkeit gewiss sein kann, weil er die Vergebung seiner Schuld durch Gott für wahr hält, muss er sich nicht mehr selbst um die Bereitstellung seines Glücks sorgen. Denn als Versöhnter ist er gewiss, der Zuteilung von Glückseligkeit durch Gott würdig zu sein, so dass sich die Achtung vor dem Sittengesetz als willensnormierende Triebfeder gegen das Prinzip der Selbstliebe durchsetzen kann. Versöhnung der Schuld führt vermittelt über die Gewissheit, dass das eigene Wohl nicht mehr erste Handlungsmotivation zu sein braucht – es wird vielmehr nun von Gott erwartet –, zu einer gebesserten Gesinnung des Subjekts. Und das bedeutet die Erlösung von dem Bösen. An dieser Stelle wird ersichtlich, von welcher Valenz ein Verständnis von Glauben ist, das sich vom bloßen Wissen um subjektfremde Sachverhalte abhebt. Glauben bedeutet die existenzbestimmende Aneignung be-

105

I. KANT: Rel., 117. Kant war allerdings der Auffassung, dass mit dem Rechtfertigungsglauben auch nichts Widervernünftiges angenommen wäre. Vielmehr fügt sich das Ziel des Rechtfertigungsglaubens zum Telos der praktischen Vernunft, wie sich sogleich zeigen wird. Das Verhältnis von Erlösung und Versöhnung in diesem Sinne lässt sich allerdings nicht aus der Vernunft deduzieren, sondern muss als offenbart verstanden werden. 107 Vgl. I. KANT: Rel., 116f. 106

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stimmter Inhalte, durch die ein neues moralisches Selbst- und Weltverhältnis des Subjekts erzeugt wird. Das Fürwahrhalten der Versöhnung wirkt sich subjektkonstitutiv aus, weil der Glaubende hin zu einem moralisch gebesserten Menschen verändert wird. Eine bloß theoretische Selbstverständigung über die Notwendigkeit der Erlösung durch Rechtfertigung reicht nicht aus, um den Überstieg über die Sünde zu erreichen. Denn das bedeutete nichts weiter als das Wissen eines Sachverhaltes, der im Modus des Wissens gerade nicht zur strukturellen Modifikation des Selbstvollzugs hinreicht. Die grundlegende Erneuerung des Subjekts stellt sich erst mit und im Glauben ein. Ganz im Sinne der Unterscheidung von Kognition und existentieller Aneignung eines Inhaltes konnte sich vor Kant auch die Apologie der Konfession äußern: Darum der Glaube, welcher fur Gott fromm und gerecht macht, ist nicht allein dieses, daß ich wisse die Historien, wie Christus geboren, gelitten etc. (das wissen die Teufel auch), sondern ist die Gewißheit oder das gewisse starke Vertrauen im Herzen, da ich mit ganzem Herzen die Zusag Gottes für gewiß und wahr halte.108

Die bis hierher angestellten Überlegungen zum Bedingungsverhältnis von Erlösung und Versöhnung beschreiben „eine merkwürdige Antinomie der menschlichen Vernunft mit ihr selbst“109, die Kant sich zwar aufzulösen anschickt, was ihm allerdings nicht gelingt.110 Schließlich muss er konstatieren, dass sich das eine Prinzip der Ordnung von Versöhnung und Erlösung mit dem anderen nicht in Einklang bringen lässt.111 Kant verdeutlicht das, indem er die Idee von der Genugtuung Christi in die beiden Ordnungsverhältnisse einstellt. Eine Variante muss davon ausgehen, das Subjekt müsse zunächst an die Vergebung der eigenen Schuld durch subjektexterne Genugtuung glauben, bevor es den Weg der Besserung beschreiten könne. Die andere Variante verlangt dem Subjekt erst eine Vorleistung ab, bevor „in Rücksicht auf die redliche Gesinnung“112 der Mangel der Tat nachgesehen werden könne.

108 APOL IV in: BSLK, 169f. Vgl. in diesem Sinne auch folgende Definition des Glaubens in APOL IV: BSLK, 183: „Und der Glaub eigentlich oder fides proprie dicta ist, wenn mir mein Herz und der heilig Geist im Herzen sagt, die Verheißung Gottes ist wahr.“ 109 I. KANT: Rel., 116. 110 Kant meint zunächst, er könne die Antinomie auflösen, indem er die Vorstellung von einem historisch sündlosen Menschen auf die reine Idee der Sittlichkeit reduziert, wie sie mit der praktischen Vernunft gegeben ist. Vgl. dazu I. KANT: Rel., 119. Zwar ist der Gedankengang, den Kant dazu bietet, in sich stringent, indes leistet er nichts zur Auflösung der Antinomie, weil diese nicht das Verhältnis von Idee und historischer Vorstellung des Sittlichen, sondern das Verhältnis von Erlösung und Versöhnung zum Thema hat. 111 Vgl. dazu I. KANT: Rel., 120f. 112 I. KANT: Rel., 120.

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Kant meint, diese Antinomie komme in den Disputen, die im Innern von Glaubensarten auftreten, zum Ausdruck: „Die Geschichte beweist“, so sagt er, „daß in allen Religionsformen dieser Streit zweier Glaubensprincipien obgewaltet hat.“113 Dieser Gedanke soll nun auf die Differenzen zwischen der katholischen und der reformatorischen Auffassung der Rechtfertigungslehre appliziert werden. Die These lautet, dass sich diese Differenzen analog zu der von Kant herausgearbeiteten Antinomie verhalten. Um das zu verdeutlichen, soll zunächst in aller Kürze auf das Rechtfertigungsverständnis des Tridentinums eingegangen werden, um sodann Luthers Theologie exemplarisch für die reformatorische Sicht der Dinge sprechen zu lassen.114 4.2.1 Die Rechtfertigungsauffassung der katholischen Kirche am Beispiel des Tridentinums und die praktische Vernunft Das Tridentinum widmet dem Rechtfertigungstopos115 ein eigenes Dekretum, unterteilt in 16 Kapitel, an die sich 33 Canones anschließen. Die Kapitel entfalten die Position der katholischen Kirche, während die Funktion der Canones im Wesentlichen darin besteht, Häresien zu benennen und zu verwerfen. Das Tridentinum expliziert sein Rechtfertigungsverständnis, indem es die Erbsünde in seinem ersten Kapitel antipelagianisch festhält und dem Menschen ein natürliches Unvermögen zur Selbstrechtfertigung attestiert.116 Das ist eigens zu bemerken, um dem Vorurteil zu begegnen, die katholische Lehre von der Rechtfertigung gründe ausschließlich im Verdienstgedanken.117 Und doch spielt der Begriff des meritums eine gewichtige Rolle innerhalb eines Gefüges von Sätzen, die die Rechtfertigung beschreiben. In welcher Funktion er innerhalb der katholischen Lehre auftaucht, wird nur verständlich, wenn man sich zuvor darüber verständigt, was nach dem Tridentinum unter Rechtfertigung zu verstehen sei und wie sie zu Stande kommt. Kapitel 4 gibt zunächst die Auskunft, dass Rechtfertigung „eine Überführung ist von dem Stand, in dem der Mensch als Sohn 113

I. KANT: Rel., 120. Es bedarf kaum der Bemerkung, dass dabei weder die tridentinische noch die lutherische Rechtfertigungslehre umfassend oder gar vollständig zur Sprache kommen können. Hier geht es allein darum, dass sich beide Auffassungen auch dadurch unterscheiden, dass sie Erlösung und Versöhnung in ein gegensätzliches logisches Verhältnis zueinander setzen und dass sich beide Varianten der Verhältnissetzung bei Kant wiederfinden lassen. 115 Vgl. zum Folgenden neben H. DENZINGER: 1520–1583, die Darstellung der tridentinischen Rechtfertigungslehre bei W. JOEST: Rechtfertigungslehre. 116 Vgl. H. DENZINGER: 1521. 117 Dass dieses Vorurteil in „protestantischen Kreisen“ immer wieder geäußert wird, hält K.D. SCHMIDT: Rechtfertigungslehre, 8, fest. 114

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des ersten Adams geboren wird, in den Stand der Gnade.“118 Diese Überführung ist nun nicht im Sinne einer Gerechterklärung zu verstehen, wie Artikel 7 unmissverständlich festhält, sondern meint insbesondere die effektive Wandlung des Subjekts. Offensichtlich hatte man unter den Konzilsvätern gemeint, die reformatorische Rechtfertigungslehre ginge in bloßer Gerechterklärung vollständig auf und leugne eine effektive Transformation des Sünders durch die Rechtfertigung.119 Man wird darin – nach der oben gebotenen Deutung – ein Missverständnis zumindest der lutherischen Lehre sehen müssen, aber anders ist es nicht zu erklären, dass das Konzil eigens betont, Rechtfertigung sei „nicht nur Vergebung der Sünden“, sondern darüber hinaus „auch Heiligung und Erneuerung des inneren Menschen.“120 Was bis hierher entfaltet ist, entspricht dem Gehalt nach exakt dem Vorgang, der bei Kant Erlösung genannt wird, denn es geht dabei um die Neuwerdung des Sünders im Rechtfertigungsakt.121 Fragt man nach dem Grund für die effektive Wandlung des Subjekts, erhält man vom Konzil die Auskunft, es gäbe für die Neuerung mehrere göttliche Ursachen, fünf an der Zahl, die im Wesentlichen die Wandlung des Subjekts durch Gott aufgrund des Verdienstes Christi thematisieren.122 Entscheidend ist nun aber erstens, dass neben diesen göttlichen Ursachen durchweg betont wird, der Glaubende selbst müsse sich der durch Gott gewährten Gnade „aus freien Stücken zuwenden.“123 Dem Sünder wird ein entsprechendes Vermögen eingeräumt, indem darauf verwiesen wird, der freie Wille sei auch im Stand der Sünde nicht verloren.124 Sein natürliches Vermögen reiche allerdings nicht aus, um aus eigenen Kräften eine Wende zum Guten herbeizuführen, so dass das Konzil festhält, die Überführung hin zum Guten sei nicht monokausal gewirkt, sondern verdanke sich des Menschen und Gottes Wirken zugleich. Der bei Kant verwendete Begriff der Mitwirkung findet sich ausdrücklich auch hier. Wenn er diesmal nicht die Mitwirkung Gottes, sondern die des Menschen meint, so indiziert er dennoch eine Doppelursache für die Rechtfertigung und Erlösung. Der Sünder bekehrt sich „durch freie Zustimmung und Mitwirkung“125 zu der göttlich gewährten Anfangsgnade.

118

H. DENZINGER: 1524. Vgl. dazu auch W. JOEST: Rechtfertigungslehre, 45. Allerdings ist zu bemerken, dass zumindest die sich an Melanchthon anschließende Rechtfertigungslehre tatsächlich so zu verstehen ist. 120 Beide Zitate stammen aus einem Satz in: H. DENZINGER: 1528. 121 Vgl. dazu H. DENZINGER: 1535. 122 Vgl. H. DENZINGER: 1529. 123 H. DENZINGER: Kap. 6 (1526). 124 Vgl. H. DENZINGER: 1521 und 1555. 125 H. DENZINGER: 1525. 119

Zum logischen Verhältnis von Erlösung und Versöhnung

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Zweitens wird das Subjekt nach Auffassung des Konzils durch die Neuerung dazu befähigt, einen Heiligungsprozess zu vollziehen, an dessen Ende es nicht nur vollendet ist (dem allein könnte wohl auch von reformatorischer Seite zugestimmt werden), sondern durch den es zudem seine Gerechtigkeit mehrt. Dabei wird vorausgesetzt, das Subjekt sei durch die Rechtfertigung in einen stabilen Zustand der Bonität versetzt, der allein durch Todsünden verloren gehen kann.126 Dieser Zustand ermöglicht es, seine Heiligung voranzutreiben und Verdienste zu erwerben, die durch Gott zur Gerechtigkeit angerechnet werden. An dieser Stelle im Rechtfertigungsprozess erhält der Verdienstbegriff seine besondere Bedeutung. Und mit dieser Bedeutung ist eine entscheidende Differenz zur reformatorischen Auffassung der Rechtfertigung gegeben. Das Konzil äußert sich in Richtung Protestantismus eindeutig: Wer sagt, die Gerechten dürften für ihre guten Werke keine ewige Entgeltung von Gott durch seine Barmherzigkeit […] erwarten und erhoffen, wenn sie im guten Tun und in der Bewahrung der göttlichen Gebote bis ans Ende ausgeharrt haben: der sei mit dem Anathema belegt.127

Der Lohn für die bona merita, die „auch die guten Verdienste des Gerechtfertigten selbst sind“128 ist sodann das ewige Leben und die Vermehrung der Herrlichkeit.129 Es ist hier nicht entscheidend, was die Begriffe des ewigen Lebens und der Vermehrung der Herrlichkeit im Einzelnen meinen. Sondern es geht an dieser Stelle nur um den Nachweis, dass mit der katholischen Gedankenfigur die erste der oben bei Kant ausgemachten Varianten des Rechtfertigungsverständnisses abgebildet ist. Denn auch Kant hat festgehalten, es sei der praktischen Vernunft angemessen, dem Subjekt eine Leistung abzuverlangen, bevor es sich der Erlangung der Glückseligkeit in Ewigkeit würdig wissen dürfe, weil diese nur im Sinne der Belohnung für jene zugeteilt werden dürfe. Und ganz im Sinne der tridentinischen Lehre betont die der praktischen Vernunft folgende Idee von der Rechtfertigung, wie sie bei Kant gezeichnet ist, dass der freie Wille wohl geschwächt sein mag, weil er allerlei Versuchung ausgesetzt ist, dass er aber von einer Eigenleistung bei der Wende nicht entbunden werden kann, wenn das Subjekt Aussicht auf Seligkeit haben können soll.

126

Vgl. H. DENZINGER: 1544. H. DENZINGER: Kan. 26 (1576). 128 H. DENZINGER: 1582. 129 Vgl. dazu H. DENZINGER: Kan. 32 (1582). 127

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Rechtfertigung

4.2.2 Die Rechtfertigungsauffassung der Reformatoren am Beispiel Luthers und die praktische Vernunft Ganz anders nimmt sich das Rechtfertigungsverständnis der Reformatoren aus, wie es sich beispielsweise bei Luther findet. Seine Struktur wird bei Kant in einer zweiten Variante von Rechtfertigungstheorie zur Sprache gebracht, nach der die Versöhnung der Neuerung oder Erlösung logisch vorzuordnen ist. Man muss sich verdeutlichen, welchen Inhalts der Versöhnungsglaube nach Luther ist, um zu begreifen, worin die eigentliche Differenz zur zuvor ausgeführten katholischen Ordnung besteht. Der Glaube an die Versöhnung mit Gott geht nach Luther mit dem gewissen Bewusstsein des Heils einher, worunter zweierlei zu verstehen ist: „1. die Gewißheit, zur sittlichen Vollendung zu gelangen, 2., die Gewißheit, das ewige Leben zu gewinnen.“130 Der Rechtfertigungsglaube antizipiert eine eschatologische Zukunft, die ihn nicht nur zur Vollendung, sondern auch zur Seligkeit führt.131 Diese Gewissheit – im Sinne der certitudo, nicht der securitas – ist mit dem Glauben an das Rechtfertigungsurteil gegeben und kann nicht nochmals gesteigert oder ergänzt werden. Luther schärft ein, dass die Gerechtigkeit des Glaubenden ohne Ausnahme von außerhalb seiner selbst kommt: „So muß man also eine Gerechtigkeit lehren, die ganz und gar von außen kommt und eine fremde Gerechtigkeit ist.“132 Die Verbesserung der eigenen Stellung vor Gott durch Verdienste jeglicher Art ist ausgeschlossen, denn die Gewissheit des ewigen Heils hat „ausschließlich die göttliche Barmherzigkeit [zur] Grundlage“133 und ist mit dem Glauben vollständig gegeben. Zwar steht auch für Luther eine effektive sittliche Erneuerung des Glaubenden fest134, denn sonst ließe sich nicht verstehen, wie es gelingen soll, dass „wir durch den Glauben an Christus dem Gesetz genüge leisten und durch die Gnade frei und willig sind zu den Werken des Gesetzes.“135 Allerdings ist diese Erneuerung nichts als die Folge der zuvor schon gegebenen Gewissheit des Heils, und der Glaubende kann sich durch sittlichen Fortschritt keinesfalls eine Verbesserung seiner Stellung erwerben. Vielmehr ist die zuvor schon durch Gott zugesagte Versöhnung und Gewissheit des Heils 130

K. HOLL: Die Rechtfertigungslehre in Luthers Vorlesung über den Römerbrief, 134. K. HOLL vertritt im Übrigen die Ansicht, Luther sei sich über diese Form der Gewissheit des Glaubens schon in der Römerbriefvorlesung von 1515 im Klaren gewesen. Dies ist eine der Thesen seines Aufsatzes: Die Rechtfertigungslehre in Luthers Vorlesung über den Römerbrief. 132 M. LUTHER: Römerbriefvorlesung 1515/1516, 10 (WA 56, 158, 13f: „Igitur omnia Externa et aliena Iustitia oportet erudiri.“). 133 K. HOLL: Die Rechtfertigungslehre in Luthers Vorlesung über den Römerbrief, S 145f. 134 Dies wird nicht nur von K. Holl so vertreten, sondern ist, wie oben in Abschnitt 4.1.2 oben gezeigt, in der Lutherdeutung bis auf wenige Ausnahmen gängige Ansicht über Luthers Theologie. 135 M. LUTHER: Römerbriefvorlesung 1515/1516, 229 (WA 56, 66, 22f: „Nempe Quia per fidem Christi satisfacimus legi et per gratiam sumus liberi et voluntarii in opera legis.). 131

Zum logischen Verhältnis von Erlösung und Versöhnung

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logische und einzige Voraussetzung für die Erlösung im Sinne des sittlichen Wandels zum Guten. Kant hat, wie gezeigt, die reformatorische Ansicht der Rechtfertigung ebenso berücksichtigt wie die katholische Variante. Folgt diese in ihrem Verständnis der praktischen Vernunft, verhält es sich mit jener anders. Die reformatorische Lehre nimmt – um es in kantscher Terminologie auszudrücken – die faktische Allgemeinheit und Radikalität der Sünde derart ernst, dass die Erlösung des Subjekts nur möglich erscheint, wenn sie die Versöhnung mit und durch Gott zur Voraussetzung hat. Zwar verlässt sie damit die Grenzen der praktischen Vernunft, kann aber unter den Bedingungen der Erbsünde erklären, wie es zur sittlichen Erneuerung des Subjekts kommen können soll. So verstanden steht der Rechtfertigungsglaube der Reformatoren – hier nach dem Verständnis Luthers – im Dienst der praktischen Erneuerung, weil er die sittliche Besserung ermöglicht, die die katholische Lehre voraussetzen muss, ohne ihre Entstehung erklären zu können. 4.2.3 Versöhnung und Genugtuung Ein weiteres Problem betrifft beide Formen der Rechtfertigungslehre. Sowohl die eine als auch die andere setzt nämlich voraus, moralische Schuld könne vergeben werden – sei dies vor oder nach der Erlösung. Man wird folglich nicht umhin können, sich überhaupt eine Leistung zu denken, die zur Genugtuung der angehäuften Schuld hinreicht. Befragt man die praktische Vernunft, verlangt sie dem Subjekt selbst Sühne für seine Schuld ab. Denn moralische Schuld ist für sie eine „allerpersönlichste“136 Angelegenheit, was ihre Unübertragbarkeit bedeutet. Das gilt nach der praktischen Vernunft von allen moralischen Qualitäten und Leistungen, weil das Sittengesetz persönliche Einhaltung abfordert. Anfallende moralische Schuld ist folglich anders zu bewerten als beispielsweise Geldschuld, die transmittiert werden kann, weil die Begleichung von Geldschuld in der Regel nicht als moralische, sondern als juristische Angelegenheit in dem Sinne angesehen wird, dass nicht die Gesinnung eines Handelnden, sondern die Konsequenzen seiner Handlung ihn schuldig oder gerecht machen. Wo Schuld konsequentialistisch gemessen wird, kann sie schon durch die Aufhebung oder Begleichung der negativen Folgen beglichen werden. Das gilt für moralische Schuld nach kantischer Überzeugung allerdings gerade nicht.137 136

I. KANT: Rel., 72 (Hervorhebung im Original). Dieses Argument ist von A. Ritschl aufgenommen worden, der an der reformatorischen Rechtfertigungslehre eine unzulässige Vermischung von Theorieelementen aus dem öffentlichen Recht und der Gesinnungsethik zu bemängeln hatte. Der entscheidende Denkfehler besteht nach Ritschl darin, dass die Reformatoren meinten, eine Schuld der Gesinnung sei nach dem Vergel137

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Rechtfertigung

Im Folgenden soll die vor diesem Hintergrund offene Frage bearbeitet werden, auf welche Art und Weise eine Versöhnung durch Schuldübertragung überhaupt vernünftig zu verstehen ist. Kant bietet erneut zwei Denkmöglichkeiten an, deren erste im Sinne der praktischen Vernunft dem Subjekt selbst eine Leistung abfordert, und zwar unter Hinweis auf das soeben gebotene Argument, moralische Schuld sei nicht übertragbar. Die zweite Variante tut sich allerdings schwer mit der Idee der Selbstversöhnung, denn sie geht wiederum davon aus, das Subjekt sei nicht fähig zu einer derartigen Leistung, so dass gegen die Vernunft die Idee einer externen Genugtuung auf den Plan tritt. Auch dabei wird deutlich werden, dass Kant durch diese Doppelung sowohl die katholische als auch die reformatorische Variante der Rechtfertigung plausibilisiert und reformuliert. 4.2.3.1 Versöhnung als Folge innersubjektiver Genugtuung Die Frage der Versöhnung ist die Frage nach der Strafe oder Genugtuung für die begangenen Sünden. Es muss möglich sein, wenn die Schuld nicht transmissibel ist, diese Strafe am selben Subjekt vollzogen zu denken, das die Schuld auf sich geladen hat. Wenn man der Idee folgt, die Erlösung des Subjekts sei von diesem prinzipiell selbst zu leisten, indem es sich Gottes Hilfe zu Eigen macht, lässt sich die von Kant skizzierte Versöhnung ohne größere Probleme nachvollziehen. Er hat sie im Zweiten Stück seiner Religionsschrift formuliert und setzt dabei voraus, „daß der, den sie angeht, in der erforderlichen guten Gesinnung schon wirklich sei.“138 Die folgenden Überlegungen gehen also den Weg der katholischen Version von Versöhnung, die die Erlösung voraussetzt. Jemand, der sich im Zustand der Erlösung befindet, ist mit einer zum Guten gewandelten Urmaxime ausgestattet. Es muss neben dem in der Sünde verharrenden Charakter des Menschen eine effektive Wandlung der Urmaxime in einer Revolution der Denkungsart hin zum Guten gegeben haben. Allerdings „fing er doch vom Bösen an“139, so dass unter Voraussetzung der Selbigkeit einer Person auch der schon Gebesserte noch verantwortlich ist für die Schuld, die er sich unter der Regentschaft der Sünde aufgeladen hat. Damit ist aber noch nicht einmal die Gesamtschuld erfasst, sondern selbst der Gebesserte lädt vermöge seines in der Sünde verharrenden Handlungscharakters ständig neue Schuld auf sich. tungsprinzip der Übertragbarkeit aus dem öffentlichen Recht zu tilgen. Vgl. zu Ritschls Auffassung der Rechtfertigungslehre auch den Abschnitt 5.2.7. 138 Zitat: I. KANT: Rel., 76. Die Entwicklung der Versöhnungslehre im engeren Sinne findet sich in Rel., 71–76. 139 I. KANT: Rel., 72 (Hervorhebung im Original).

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Wo aber Schuld ist, muss sie angesichts eines gerechten Gottes gesühnt werden, wenn der Mensch sich nicht als ewig verworfen verstehen will – und das hieße bei Kant nie vollkommen glückselig sein zu können. Denn selbst wenn er moralisch einst totale Vollkommenheit der Gesinnung und Sinnenart erreichen würde, bliebe die ungetilgte Schuld der Vergangenheit. Zu irgendeinem Zeitpunkt muss Strafe des Subjekts zur Satisfaktion denkmöglich sein. Die von Kant angebotene Lösung schließt sogleich zwei Vorstellungen von Strafe aus. Erstens soll – so Kant in seiner Untersuchung – die Strafe nicht schon zu der Zeit vollzogen gedacht werden, als das Subjekt noch totaler Sünder war. Zwar scheint es zunächst angemessen zu sein, die Strafe jeweils zeitgleich zum Auftreten der Schuld zu denken. Es spricht allerdings phänomenologisch vieles dagegen. Denn der Böse, so scheint es, wird tatsächlich nicht zeitgleich für seine Bösartigkeiten bestraft. Kant bietet diese Begründung zwar nicht, sie legt sich aber nahe. Mit größerer Sicherheit können aus seinen Ausführungen die Gründe herauspräpariert werden, mit denen er sich gegen die Annahme stellt, die Strafe würde nach der Gesinnungsänderung vollzogen werden. Kant lehnt diese Vorstellung ab, weil der in der Gesinnung gewandelte Mensch auftretende Übel ohnehin nicht mehr als Strafe erfährt: „Was ihm in jener Qualität (der des alten Menschen) als Strafe gebühren würde (und das sind alle Leiden und Übel des Lebens überhaupt), das nimmt er in der Qualität des neuen Menschen freudig bloß um des Guten Willen über sich.“140 Diese Freude an den Übeln hat ihren Grund darin, dass der sich bessernde Mensch sie nicht mehr als Strafe deuten kann, sondern bloß noch als Prüfung seiner Beharrlichkeit in der Entwicklung zum Guten. Sie sind mithin aus dieser Perspektive Ursache für die moralische Glückseligkeit. Es ist also weder angemessen, die Strafe vor der Revolution der Denkungsart anzunehmen noch danach. So kommt zur Strafausübung nur der Zeitpunkt der Revolution selbst in Frage. In der Tat ergibt sich bei der Zergliederung des Begriffs der Gesinnungsänderung Folgendes: Die Urmaxime lässt den alten Adam hinter sich und nimmt im Verlassen des bösen Prinzips das gute für sich an. Der Gesinnung nach wird der Erlöste so zu einer neuen Kreatur. Und dieser Wandel wird als die „Antretung einer langen Reihe von Übeln“ bewusst, „die der neue Mensch in der Gesinnung des Sohnes Gottes, nämlich bloß um des Guten willen, übernimmt.“141 Dabei gebührten diese Übel eigentlich einem Anderen, nämlich dem noch nicht gewandelten Sünder. Der Unterschied zur zuvor genannten Variante besteht darin, dass im Augenblick des Wandels die Reihe der Übel, deren man sich in Zukunft ausgesetzt sieht, noch nicht Anlass zu moralischer 140 141

I. KANT: Rel., 75 Anm. Beide Zitate in: I. KANT: Rel., 74.

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Rechtfertigung

Glückseligkeit sein kann, denn dazu ist Bonität schon vorausgesetzt, welche durch den Wandel allerdings erst hergestellt wird. Die Übel werden allein zum Zeitpunkt des Wandels als Strafe bewusst, die den dann schon Gebesserten treffen werden, obwohl sie ihm gar nicht gebühren. Kant entwirft auf diese Weise eine Genugtuungslehre, die das Stellvertreterprinzip verfolgt. Allerdings wird hier sowohl der Stellvertreter als auch der zu Vertretende im Subjekt selbst aufgesucht. Der neu Gesinnte steht für die aus der alten Gesinnung resultierende Schuld ein. Dabei treffen die Übel, die dem alten Adam gegolten hätten, den neuen gewandelten Menschen. Dieser deutet sie in seiner neuen Art allerdings nicht als Strafe; als solche werden sie nur im Zeitpunkt der Wandlung selbst verstanden. Es ist nicht zu übersehen, dass so das Genugtuungsgeschehen des Stellvertretertodes, wie er im Kreuzesgeschehen Christi vorgestellt wird, in das Subjekt eingezogen ist.142 Kant jedenfalls gilt der Mensch, an dem sich dieses Geschehen innersubjektiv vollzieht, als versöhnt und glückswürdig. Nun könnte man meinen, diese Rechnung trage einen logischen Fehler in sich, weil doch auch der mit einer neuen Gesinnung ausgestattete Mensch sich weiterhin Schuld wegen seiner in ihm verharrenden Sünde zuzieht, so dass ihn Übel zu Recht treffen werden. Ist das richtig, fällt die gesamte zuvor aufgebaute Genugtuungskonstruktion in sich zusammen. Denn dann wäre im Akt der Wandlung zwar bewusst, dass eine große Menge von Übeln auf das Subjekt zukommen werden, allerdings ließen sich diese nicht zur Genugtuung für alte Schuld anrechnen, vielmehr träfen sie den Sünder gerechterweise. Eine Satisfaktionstheorie, die innersubjektive Genugtuung denkmöglich machen will, muss eine Möglichkeit aufzeigen, nach der das Subjekt in seinem neuen Zustand als vollständig gut betrachtet werden kann. Denn nur so wäre die aus der Tradition bekannte Figur des sündenfreien Christus auch im Subjekt selbst anzutreffen. Kant begegnet dem Problem, indem er annimmt, der göttliche Richter sähe die erneuerte Person so an, als sei sie nicht nur an der Metamaxime gebessert, sondern auch schon der Sinnenart nach vollendet. Dies ist möglich, indem Gott die komplette Entwicklung der Sinnenart hin zum Guten – den vollendeten Heiligungsprozess – vorweggenommen sieht in der Revolution der Denkungsart. Es wird angenommen, Gott lasse die Revolution proleptisch einstehen für den noch unabgeschlossenen Heiligungsprozess.143 Das ist eine Denkfigur, der Kant im Übrigen nicht erst in der Religionsschrift folgt, die sich vielmehr auch schon in der zweiten Kritik findet:

142

Vgl. I. KANT: Rel., 74f. Vgl. dazu I. KANT: Rel. 66f. Der Gedanke wird dann in der Versöhnungsvorstellung, wie Kant sie entfaltet, wieder aufgenommen und findet sich also auch in I. KANT: Rel., 74f, wieder. 143

Zum logischen Verhältnis von Erlösung und Versöhnung

175

Der Unendliche, dem die Zeitbedingung Nichts ist, sieht in dieser für uns endlosen Reihe das Ganze der Angemessenheit mit dem moralischen Gesetze, und die Heiligkeit, die sein Gebot unnachlasslich fordert, […] ist in einer einzigen intellectuellen Anschauung des Daseins vernünftiger Wesen ganz anzutreffen.144

Unter dieser Voraussetzung gilt der neue Adam vor Gott als uneingeschränkt gut. Alles Leid, das er erfährt, geschieht ihm zu Unrecht. Der Augenblick des Sinneswandels ist, indem der Mensch sich die rechtfertigende Auffassung Gottes über ihn aneignet, tatsächlich von dem Bewusstsein begleitetet, in Zukunft eine Unzahl von Übeln auf sich nehmen zu müssen, obwohl sie ihm als gerecht Gesprochenen nicht mehr gebührten. Kant folgert: „Hier ist nun derjenige Überschuß über das Verdienst der Werke, der […] vermißt wurde.“145 Der Gnadenakt Gottes besteht bei dieser (katholischen) Variation der Rechtfertigungsvorstellung nicht darin, dass Gott für den Menschen genug tun würde, sondern dieser selbst leistet Satisfaktion, indem er Übel auf sich nimmt, die er nicht verdient hat. Die Vorstellung, dass er sie nicht verdient hat, setzt allerdings den Glauben an einen andersartigen Gnadenakt Gottes voraus: Denn damit das, was bei uns im Erdenleben (vielleicht auch in allen zukünftigen Zeiten und allen Welten) immer nur im bloßen Werden ist (nämlich ein gottwohlgefälliger Mensch zu sein), uns, gleich als ob wir schon hier im vollen Besitz desselben wären, zugerechnet werde, dazu haben wir doch wohl keinen Rechtsanspruch.146

Um es zusammenzufassen: Kant sucht nach einer Möglichkeit, eine mit dem Gesinnungswandel überschüssige Leistung zu denken, denn nur so kann Schuld als bezahlt angesehen werden. Er findet diesen Überschuss in den Übeln, die der neue Mensch ungerechtfertigt erfährt. Sie sind deshalb ganz und gar ungerechtfertigt, weil der neue Mensch von Gott so angesehen wird, als habe er nicht bloß eine neue Gesinnung, sondern sei in toto ein guter Mensch. Das Strafleiden wird als Strafleiden nur zu einem einzigen Zeitpunkt bewusst: nämlich im Gesinnungswandel selbst. Kant hat auf diese Weise eine Genugtuungstheorie entworfen, die auf die Gnade Gottes hoffen können muss, weil es nicht selbstverständlich ist, seine Gesinnung für den Menschen als Ganzes stehen zu lassen. Das Gnadenurteil Gottes besteht nicht im Erlass der Strafe, vielmehr wird diese vollständig vollzogen. Sondern gnädig erweist sich Gott nach dieser Vorstellung darin, den Menschen schon als vollständig gerecht anzusehen, obwohl er es faktisch noch nicht ist. Diese Art der Versöhnungslehre hat eine weitere Bedingung ihrer Möglichkeit. Und zwar bedarf sie der Annahme, der zu Versöhnende wende sich 144

I. KANT: KpV, A 221f (Hervorhebung im Original). I. KANT: Rel., 75. 146 I. KANT: Rel., 75. 145

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Rechtfertigung

selbst (wenn auch unter göttlicher Mitwirkung) hin zum Zustand der gebesserten Gesinnung.147 Dabei ist abermals die hier so genannte katholischsynergistische Vorstellung vorherrschend, nach der Versöhnung der Erlösung nachgängig ist. Dieser Denkweg, so ist oben gezeigt worden, verbietet sich eo ipso, wenn die Erbsünde als nicht hintergehbares Moment menschlicher Wirklichkeit verstanden wird. Will man der reformatorischen Einsicht in die menschliche Verfassung folgen, so versagt die soeben entworfene Art der Versöhnungslehre. Es müsste sich sodann ein Denkweg eröffnen, nach dem die Erlösung auf die Versöhnung allererst folgt, so dass sie nicht mehr als Voraussetzung fungieren muss. In die Position der Bedingung muss nun vielmehr die Versöhnung einrücken. Sie muss zunächst geleistet werden, kann aber schlechterdings nicht auf überschüssige Leistungen aus der (Selbst-) Erlösung des Subjekts zurückgreifen. M.a.W. kann eine Versöhnung unter diesen Bedingungen nicht ohne total subjektfremde Genugtuung gedacht werden. Dies ist ein Grund für die notwendige Ausformulierung einer Christologie, in der ein dem Subjekt extern vorgestellter vollkommener Mensch die zur Versöhnung notwendige überschüssige Leistung erbringt. Es ist nicht zu unterschätzen, was das bedeutet: Denn sollte sich im Rahmen der kantischen Theorie die Notwendigkeit eines externen Erlösers erweisen, bedeutete dies für die Christologie, dass diese nicht aufgehen kann in einem rein innersubjektiven Geschehen. 4.2.3.2 Versöhnung als Folge externer Genugtuung In seiner Funktion als Versöhner, wie er im hier sogenannten reformatorischen Rechtfertigungsglauben vorgestellt ist, muss ein subjektfremder Stellvertreter aus moralischen Gründen das leisten können, was der sündige Mensch niemals zu leisten im Stande ist, weil er sich wegen der Erbsünde nicht selbst zu erlösen vermag.148 D.h. der Versöhner ist derjenige, der die Schuld des Einzelnen auf sich nehmen können muss und den die Strafe für die Schuld des Glaubenden trifft. Eingeholt werden kann diese Funktion des Versöhners nur, wenn er als absolut ohne jedes Vergehen vorgestellt wird, so dass alle Übel ihn zu Unrecht treffen.

147 Vgl. I. KANT: Rel., 76: „[D]a in jener Untersuchung die Bedingung zum Grunde liegt, daß der, den sie angeht, in der erforderlichen guten Gesinnung schon wirklich sei.“ 148 Das ist von F. Delekat völlig übersehen worden, wenn er meint, das stellvertretende Strafleiden sei bei Kant immer pietistisch rein innersubjektiv verstanden. Delekat muss dazu das voraussetzen, was die katholische Variante der Rechtfertigung auch voraussetzt, nämlich, dass Versöhnung der Erlösung logisch nachgängig ist. Vgl. dazu F. DELEKAT: Immanuel Kant, 354– 356.

Zum logischen Verhältnis von Erlösung und Versöhnung

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In der Welt ist allerdings sogar ein total schuldloser Mensch zum Leiden verdammt. Zwar kann er als moralisch glücklich gelten, physisch aber nicht – vor allem dann nicht, wenn er so vorgestellt wird, dass er um seiner Bonität willen den Tod erleiden musste. D.h. hier wird analog zum anderen subjektinternen Versöhnungsmodell ein Leistungsüberschuss gedacht, der zur Aufrechnung der Schuld und also zur Genugtuung eingesetzt werden kann. Allerdings ist der Leistungsträger nun nicht mehr das Subjekt selbst, sondern eine ihm externe absolut unschuldige Person. Das traditionelle Christusbild bietet demnach alle Voraussetzungen, um die Bedingungen der Möglichkeit von Versöhnung erfüllen zu können, und Kant hat seine Vorstellung eines Erlösers diesem Bild ähnlich gezeichnet149, wenn er einen Unschuldigen, den sein Leiden in der Welt und sein Tod moralisch ungerechtfertigt trifft, vor Augen hält. Die Realisierung der Versöhnung durch einen subjektexternen Stellvertreter hängt von der Möglichkeit ab, den Leidensüberschuss Christi dem Sünder zu imputieren. Dieser wüsste sich glückswürdig, wenn er sich den Gedanken dieser Zurechnung zu Eigen machte. Wer sich aber glückswürdig weiß, wird sich dem oben ausgeführten Gedanken nach nicht mehr um seine Glückseligkeit sorgen, so dass die Triebfeder der Achtung vor dem Sittengesetz bei der Willensbestimmung den Vorzug erhalten kann. Dies wäre gleichbedeutend mit der Erlösung, die der Versöhnung nachfolgt. Fraglich bleibt allerdings, wie innerhalb des kantschen Systems eine Übertragung subjektexterner moralischer Leistungen auf das Subjekt möglich sein soll. Kant selbst konnte sich dieser Vorstellung gegenüber einerseits sehr skeptisch äußern und die theologische Konzeption, nach der Christus durch seinen unschuldigen Tod Genugtuung für den Glaubenden leistet, in Frage stellen: Allein es ist gar nicht einzusehen, wie ein vernünftiger Mensch, der sich strafschuldig weiß, im Ernst glauben könne, er habe nur nöthig, die Botschaft von einer für ihn geleisteten Genugthuung zu glauben und sie […] utiliter anzunehmen, um seine Schuld als getilgt anzusehen.150

149

Vgl. die Ausführungen I. KANTs im Zweiten Stück von Rel. mit der Überschift: b) Objektive Realität dieser Idee, 62–66. Freilich ist damit noch nichts über die Entstehung dieser Vorstellung gesagt. Diese kann wiederum doppelt vorgestellt werden. Entweder man erkennt in der Personifizierung des Guten, wie sie in Christus vorgestellt wird, eine Symbolisierung des in allen vernünftigen Wesen gegebenen Sittengesetzes. Oder man stellt sich das Auftauchen des Christus vom Subjekt unableitbar vor. Das entspräche der Vorstellung einer Offenbarung (und zwar weil das Sittengesetz in der Vernunft selbst unableitbar auftaucht). Das heißt, dass mit der Offenbarung dem Gedanken der Unableitbarkeit Rechnung getragen wird bzw. diese Unableitbarkeit selbst dargestellt wird. 150 I. KANT: Rel., 116.

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Trotz aller Einwände gegen die Transmissibilität moralischer Schuld und Leistung sieht Kant sich unter Voraussetzung der Erbsünde schließlich dennoch gezwungen, Folgendes anzunehmen: „Also muß der Glaube an ein Verdienst, das nicht das seinige ist, und wodurch er mit Gott versöhnt wird, vor aller Bestrebung zu guten Werken vorhergehen.“151 Weil die stellvertretene Genugtuung durch ein externum aber mit der Prämisse der Nichtübertragbarkeit von Schuld oder moralischer Leistung kollidiert, musste Kant sich eigens darum bemühen, dieses Problem einer Lösung zuzuführen. Dazu dient ihm sodann erneut eine differente Perspektive auf dasselbe Problem, je nachdem ob man es theoretisch oder praktisch durchdringt. Praktische Vernunft muss annehmen, der Mensch könne der Seligkeit nur würdig werden, wenn er sich zuvor dazu qualifiziert. Dies will der theoretischen Vernunft nicht einleuchten, wenn das Subjekt sich zugleich als radikal böse einstuft. Es muss in diesem Fall subjektexterne Ursachen für die Versöhnung und Erlösung aufsuchen. Die theoretische Vernunft kann sich nämlich „die Entsündigung […]nicht anders begreiflich machen“152 als durch Leistungen eines externen Stellvertreters: Wenn er nicht die Gerechtigkeit, die er selbst wider sich erregt hat, durch fremde Genugthuung als versöhnt, sich selbst aber durch diesen Glauben gleichsam als neugeboren ansehen und so allererst einen neuen Lebenswandel antreten kann, der alsdann die Folge von dem mit ihm vereinigten guten Princip sein würde, worauf will er seine Hoffnung ein Gott gefälliger Mensch zu werden gründen?153

Im Glaubensakt wird die Aneignung eines Gottesurteils vorausgesetzt, in dem die subjektexterne Genugtuungsleistung Christi dem Glaubenden synthetisch zugerechnet wird.154 Nun hat diese Form des Rechtfertigungsglaubens an eine Stellvertretung durch Christus, die der Erlösung von dem Bösen vorausgeht, aus Kants Perspektive zwar den Vorzug, der theoretischen Vernunft insoweit genüge zu tun, als eine Antwort auf die Frage gegeben wird, wie es möglich sein soll, dass ein totaler Sünder gut wird. Sie trägt allerdings den Nachteil, den Forderungen der praktischen Vernunft entgegen zu sein. 151

I. KANT: Rel., 117. I. KANT: Rel., 118 (Hervorhebung im Original). 153 I. KANT: Rel., 117. 154 E. HIRSCH: Rechtfertigungslehre, und H. BLUMENBERG: Kant und die Frage nach dem gnädigen Gott, haben gemeint, derartige gnädige Übertragung von Leistungen Christi auf den Sünder durch Gott sei unter der Bedingung seiner strengen Orientierung am Gesetz nicht denkbar. Kant habe folglich seine eigenen Systemvorgaben außer Kraft gesetzt, wo er Gottes Gnade die Grenzen der praktischen Vernunft überschreiten lässt. Das ist insofern richtig, als der reformatorische Rechtfertigungsgedanke tatsächlich nicht im Sinne der praktischen Vernunft konzipiert ist. Aber Hirsch und Blumenberg übersehen, dass allein die reformatorische Rechtfertigungslehre der Forderung der theoretischen Vernunft nachkommt, begreiflich zu machen durch welche Kausalitäten Erlösung unter der Bedingung der Erbsünde möglich sein soll. 152

Zum logischen Verhältnis von Erlösung und Versöhnung

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Die Vorstellung der Genugtuung durch externe Stellvertretung kann folglich – und das ist nun zu beachten – nicht Postulat der praktischen Vernunft sein, sondern muss als offenbart gelten und wird von Kant Geheimnis genannt.155 Zwar handelt es sich bei der stellvertretenden Genugtuung um eine Vorstellung, die „in moralischer Absicht nothwendig“156 sein kann, weil es ohne sie unmöglich ist, den unbedingten Selbstzweck der praktischen Vernunft zu realisieren. Jedoch kann nicht behauptet werden, diese Vorstellung habe ihren Grund in der praktischen Vernunft – es ist ihr insofern auch der Objektivitätscharakter abzusprechen. „Es ist unmöglich, a priori und objectiv auszumachen, ob es dergleichen Geheimnisse gäbe, oder nicht“157, schreibt Kant. Darin unterscheidet sich der Glaube an eine stellvertretende Genugtuung vom Glauben an die Postulate wie Freiheit, Gott und Seelenunsterblichkeit. Auch die differenzierte Betrachtung Gottes als allmächtigen Schöpfer, heiligen Gesetzgeber und gerechten Richter ist als allgemeines Postulat der praktischen Vernunft verständlich zu machen158: „Dieser Glaube enthält eigentlich kein Geheimniß, weil er lediglich das moralische Verhalten Gottes zum menschlichen Geschlechte ausdrückt.“159 Die Offenbarung einer stellvertretenden Genugtuung, die der Erlösung vorgängig ist, bedarf dagegen einer Offenbarung in der Geschichte und kann erst von diesem historisch zufälligen Ereignis aus den moralischen Zweck der Menschheit befördern. Insofern ist der Rechtfertigungsartikel in seiner reformatorischen Variante in der Tat der articulus stantis et cadentis ecclesiae. Denn es ist dieser Artikel, der die spezifische Differenz zu allen anderen Glaubensarten ausmacht. Zwar findet sich in allen positiven Glaubensarten – wenn man Kant folgen will – ein Gottesgedanke, und das Gottesverhältnis wird immer über die sittliche Qualität entschieden. Ebenso ist es allen Religionsformen eigen, in irgendeiner Form Erlösung von dem 155 I. KANT äußert sich wie folgt: „Nur das, was man zwar in praktischer Beziehung ganz wohl verstehen und einsehen kann, was aber in theoretischer Absicht (zur Bestimmung der Natur des Objektes an sich), alle unsere Begriffe übersteigt, ist ein Geheimnis (in einer Beziehung) und kann doch (in einer andern) geoffenbart werden.“ (Rel., 142). Der Satz ist insofern vor dem Hintergrund des Gesagten missverständlich, als nun behauptet wird, das offenbarte Geheimnis sei der theoretischen Vernunft nicht einsichtig, könne aber von der praktischen Vernunft verstanden werden. Hier ist allerdings nicht erfragt, welcher Rechtfertigungsweg durch die Offenbarung beschritten wird, sondern ob das Offenbarungsobjekt im Sinne der theoretischen Vernunft bestimmt werden kann. Dass dies nicht der Fall ist, versteht sich von selbst. Niemand wird behaupten, es ließe sich an Christus theoretisch erkennend ausmachen, dass es Gottes Wesen selbst sei, stellvertretend Genugtuung für die Vergehen der Glaubenden zu leisten. Vielmehr kann dies nur geglaubt werden – und zwar wird es um der praktischen Vernunft willen geglaubt. Der Glaube an eine stellvertretende Genugtuung fügt sich also zum praktischen Zweck an sich und kann in praktischer Beziehung also wohl verstanden werden. 156 I. KANT: Rel., 143. 157 I. KANT: Rel., 138. 158 Vgl. dazu I. KANT: Rel., 139. 159 I. KANT: Rel., 140.

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Bösen ursprünglich auf Gott zurückzuführen. All dies sind nämlich Glaubensgehalte, die als Postulate der praktischen Vernunft den Status von Allgemeinheit beanspruchen können. Dass allerdings eine Glaubensform die Rechtfertigung in der hier besprochenen Weise auffasst, folgt nicht der praktischen Vernunft, sondern ist nur durch kontingent positive Gegebenheiten zu erklären und macht diese Glaubensform einzigartig.160 Um es zusammenfassen: Es kann Offenbarungsgehalte geben, die zwar von der praktischen Vernunft nicht entworfen, aber doch der Erreichung moralischer Zwecke beförderlich sind. Die Vorstellung der Genugtuung durch Christus als externum ist ein solches Geheimnis, das nicht von der praktischen Vernunft selbst entworfen sein kann. Wenn jemand den Inhalt der Offenbarung der Genugtuung durch Christus glaubend für wahr hält, dann wird dieser subjektive Glaube derart lebensbestimmend, dass das gesamte Welt- und Selbstverhältnis durch diesen Glauben neu geordnet wird. Diese Neuordnung des Selbst meint die effektive Wandlung des Menschen zum Guten oder seine Erlösung von dem Bösen. Derartiger Glaube ist nicht allgemein vernünftig mitteilbar, sondern breitet sich in Abhängigkeit von einem historischen Ereignis der Offenbarung in Raum und Zeit aus. Es wird von der christlichen Kirche in ihrer reformatorischen Variante als einer Form solch positiven Glaubens in Abgrenzung zu anderen Glaubensarten noch ausführlich zu reden sein – denn sie stellt nach Kant die einzige Form von Glauben dar, durch die die Menschheit überhaupt ihrer Vollendung zugeführt werden kann.161 Zunächst sollen allerdings noch einige Überlegungen zur Person Christi angestellt werden.

4.3 Kants Christologie Der Offenbarungsbegriff ist bisher funktional als Grund des Gedankens der Übertragbarkeit von Schuld auf ein externum zur Sprache gekommen. Denn diese Vorstellung ist nicht aus der praktischen Vernunft derivierbar, sondern kann nur kontingent in der Geschichte auftreten. Für einen Versöhnungsakt unter den Bedingungen der Erbsünde muss neben dieser Übertragbarkeit von moralischer Schuld oder moralischer 160 Es lässt sich zumindest erwägen, ob Kant damit kritisch gereinigt zum Ausdruck gebracht hat, was die altprotestantische Orthodoxie mit ihrer Unterscheidung der cognitio dei naturalis und supranaturalis gemeint hat. Hält man sich vor Augen, dass die altprotestantische Orthodoxie eine cognitio naturalis insita als Gewissenserfahrung kennt, so sind die Parallelen zu den Ausführungen Kants nicht völlig abwegig. Beide Denksysteme gehen davon aus, es gäbe eine natürliche Gotteserkenntnis, die am moralischen Vermögen des Menschen aufgeht. Allerdings bedarf es hier wie dort der Erkenntniserweiterung durch eine positive Offenbarung, soll der Mensch zum Heil gelangen können. 161 Vgl. die Ausführungen zur Vollendung des Individuums und der Gattung in Kapitel 5.

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Verdienste trotz der Verderbnis des Menschengeschlechts eine total schuldfreie Person vorgestellt werden, die dem glaubenden Subjekt extern ist. Hat Kant damit die Person Christi gezeichnet, so ist nun in einem weiteren Schritt zu klären, wie das Auftreten einer solch sünden- und schuldfreien Person in der Welt überhaupt möglich ist. 4.3.1 Die Möglichkeit einer Christologie überhaupt In der Versöhnungslehre nach reformatorischer Variante ist eine Person (Christus) vorausgesetzt, deren Gesinnung immerfort gut ist, so dass auch jede seiner Handlungen das Prädikat Bonität verdient. Der Versöhner und Erlöser hat neben einer ständig guten Metamaxime auch stets einen ungeteilt guten empirischen Charakter. Beides ist zwar die Bestimmung eines jeden Menschen, wird aber nur an der Person Christi vorgestellt. Man steht allerdings vor nicht unerheblichen Schwierigkeiten, wenn man sich eine Person und ihre Handlungen vor Augen führt und nun beurteilen soll, ob sie tatsächlich ein Mensch von solcher Bonität ist. Fraglich ist, auf welche Weise sich am Christus des Neuen Testaments seine ungeteilte Bonität ablesen lässt. Zu dieser Erkenntnis kann seine Metamaxime nicht direkt angeschaut werden. Sie ist ein Transzendentalium und deshalb der theoretischen Erkenntnis überhaupt verschlossen. Es bleibt folglich nur die Möglichkeit, von der sinnlich wahrnehmbaren Handlung auf die Gesinnung zu schließen. Auf eine gute Metamaxime kann allerdings nur dann geschlossen werden, wenn sinnliche Handlungen als Darstellungen der Idee Sittlichkeit gelten können. Christus als den durch und durch Guten hat man folglich dann vor Augen, wenn sein gesamtes Handeln in Raum und Zeit die Idee Sittlichkeit positiv vorstellt. Kant nennt die Vorstellung von Ideen Ideale.162 An Christus als dem Ideal von Sittlichkeit wird die Idee des sittlichen Willens anschaulich. Allerdings kann die Idee selbst nicht direkt positiv vorgestellt werden. Christus ist vielmehr, wie sich zeigen wird, die symbolische Darstellung oder das Schema der Idee Sittlichkeit. An ihm wird das streng übersinnliche Prinzip des göttlichen Willens in Raum und Zeit anschaubar. Um das begreiflich zu machen, müssen einige Überlegungen dazu angestellt werden, wie es überhaupt möglich sein soll, Ideen positiv vorzustellen. Dass die aufgeworfene Frage nicht ganz leicht aufzulösen ist, gibt Kant selbst mehrfach zu bedenken. Denn, und darin liegt die eigentliche Schwie162 Vgl. I. KANT: KdU, B 54. Dort heißt es: „Idee bedeutet eigentlich einen Vernunftbegriff und Ideal die Vorstellung eines einzelnen als einer Idee adäquaten Wesens“ (Hervorhebungen im Original).

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rigkeit, Ideen können unmittelbar gar nicht sinnlich angeschaut werden – die Idee des Guten also auch nicht.163 Die folgenden Überlegungen werden sich vor dem Hintergrund dieser Unmöglichkeit der Problematik widmen, wie die Schematisierung von Ideen dennoch denkbar ist. Denn nur wenn eine Art der Schematisierung des Sittengesetzes möglich ist, kann sich erstens das Sittengesetz überhaupt kausativ auf die Sinnenwelt auswirken. Theologisch ausgedrückt ist die Schematisierung des göttlichen Willens Bedingung der Möglichkeit für die Einwirkung Gottes auf die endliche Welt, wie es durch Christus geschehen ist und wie es durch jeden endlichen Willen geschehen soll. Mit der Schematisierung des Moralgesetztes durch Christus ist das „Ideal […] der Menschheit“164 verwirklicht. Zweitens wäre es der Urteilskraft möglich, eine sinnliche Handlung darauf zu prüfen, ob sie dem Schema des Sittengesetzes entspricht. Nur so kann eine empirische Handlung überhaupt als gut oder böse taxiert werden. Für die Christologie bedeutet dies die Möglichkeit, an Christi Handeln in der Welt die überzeitliche Göttlichkeit seines Willens abzulesen. 4.3.2 Die Schematisierung moralischer Ideen Ein Schema ist in der Theorie Kants diejenige Größe, durch die sinnlich Wahrgenommenes und Begriffe des Verstandes kommensurabel werden.165 Das Schema „als eine Regel der Bestimmung unserer Anschauung gemäß einem gewissen allgemeinen Begriffe“166 ist das Produkt der Einbildungskraft und im Erkenntnisakt nötig, weil Eindrücke der Sinne nur vermittelst der Schemata begrifflich erfasst werden können. Anders verhält es sich mit der hier interessierenden praktischen Vernunft.167 „Hier aber ist es nicht um das Schema eines Falles nach Gesetzen, 163 Vernunftideen als solche sind überhaupt nie direkt anzuschauen. Sie können nicht unmittelbar schematisiert werden. Vgl. I. KANT: KpV, A 245; KrV, B 692f und KdU, B 254. Das hat seinen Grund darin, dass die Vernunft Ideen systematischer Einheit im Sinne der Totalität entwirft, die als solche nicht realisiert sein können, sondern bloß regulativ in Anschlag gebracht werden. 164 I. KANT: Rel., 61. 165 Vgl. I. KANT: KrV, B 176–187. 166 I. KANT, KrV, B 180. 167 Vgl. zum Schematismus als Bestandteil der praktischen Vernunft grundsätzlich die Ausführungen von J.R. SILBER: Der Schematismus der praktischen Vernunft, und von C. DIERKSMEIER: Das Noumenon Religion, 40–48. Sowohl Silber als auch Dierksmeier bieten zwar eine gute Interpretation des Begriffs eines Schemas oder Symbols der praktischen Vernunft. Allerdings verfolgen sie mit dieser Interpretation ein völlig anderes Ziel als der hier vorliegende Abschnitt. Beide meinen nämlich, dass die Schematisierung des Sittengesetzes (als dessen Symbol) im Wesentlichen das Subjekt ohne Umschweife dazu befähigt, gute Handlungen an den Tag zu legen. Zwar ist prinzipiell richtig, dass endliche Vernunftwesen – wenn überhaupt – gute sinnliche Handlungen nur als Symbol des Sittengesetzes vollziehen können. Aber weder Silber noch

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sondern um das Schema (wenn dieses Wort hier schicklich ist) eines Gesetzes selbst zu thun.“168 Die Einbildungskraft muss nun nicht – wie im Erkenntnisakt – ein Schema produzieren, das die Anschauung empirischen Begriffen oder reinen Verstandesbegriffen (Kategorien) kompatibel macht. Sondern nun muss es möglich sein, eine Anschauung hervorzubringen, die ein Vernunftgesetz schematisiert – im hier verhandelten Fall das Gesetz der Freiheit. Es scheint allerdings eine widersinnige Forderung zu sein, „in der Sinnenwelt einen Fall antreffen zu wollen, der, da er immer so fern nur unter dem Naturgesetze steht, doch die Anwendung eines Gesetzes der Freiheit auf sich verstatte, und auf welchen die übersinnliche Idee des sittlichen Guten, das darin konkret dargestellt werden soll, angewandt werden könne.“169 Die Schwierigkeit besteht darin, zeigen zu können, wie eine empirische Handlung, die als solche dem Naturgesetz folgt, zugleich die Darstellung von Freiheit sein kann. Gesucht ist demnach ein Prinzip, das die Vermittlung reiner Vernunft mit der sinnlichen Welt leistet. Ein freier Wille muss ein reales Handlungsereignis zeitigen können, das die Anschauung des reinen Begriffs der Freiheit ist. Nur unter dieser Voraussetzung ließe sich überhaupt eine Realisierung des Reiches Gottes als letzten Zweck von Freiheit denken. Ansonsten blieben Freiheit und die ihr anhängende Idee des Reiches Gottes blanke Begriffe ohne jede Bedeutung für die Wirklichkeit. Wäre mit den genannten Schwierigkeiten das letzte Wort in der Sache gesprochen, könnte die Idee des (vollkommenen) Guten überhaupt niemals realisiert werden, weil es kein ihr angemessenes Schema gibt, das die Idee Sittlichkeit und die Wirklichkeit miteinander kommensurabel machte. Es muss folglich nach einem Weg gesucht werden, der eine Art der Vorstellung des moralisch Geforderten ermöglicht. Kant meint das Problem lösen zu können, indem die Vermittlung zwischen Sittengesetz und sinnlicher Handlung durch einen Typus des Sittengesetzes vorgenommen wird. Unter einem Typus versteht er ein Gesetz, aber nicht eines der Vernunft (wie es das Sittengesetz eines ist), sondern des Verstandes. Dieses Gesetz hat als Gesetz des Verstandes die Form eines Dierksmeier haben bedacht, dass Kant den Menschen grundsätzlich verderbt angesehen hat, was dazu führt, dass beide der Auffassung sind, der Mensch sei ungebrochen dazu befähigt, die Symbolisierung des Guten auch tatsächlich vorzunehmen. Bei Dierksmeier führt das dazu, dass er meinte, mit der Symbolisierung des Guten dasjenige Prinzip gefunden zu haben, durch das „die Postulate der Unsterblichkeit und Gottes […] systematisch überflüssig“ werden „und zu tilgen“ sind (C. DIERKSMEIER: Das Noumenon Religion, 46). Dem ist zu widersprechen. Nur weil Kant grundsätzlich ein Prinzip für die mögliche Versinnlichung des Guten angibt, lässt sich daraus nicht ableiten, dass der Mensch auch ohne Umschweife dazu befähigt sei, dies umzusetzen. Dass Kant ganz gegen die Annahme Dierksmeiers und Silbers von einer solchen Fähigkeit nicht ausgegangen ist, hat der Abschnitt zum Sündenbegriff oben (2.3) gezeigt. 168 I. KANT: KpV, A 121. 169 I. KANT: KpV, A 120.

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Naturgesetzes und kann deshalb „in concreto dargestellt werden.“170 Zugleich besitzt das Gesetz den Vorzug, als Typus des Sittengesetzes dem Prinzip Sittlichkeit kommensurabel zu sein. Der Typus des Sittengesetzes lautet nach Kant: „Frage Dich selbst, ob die Handlung, die Du vorhast, wenn sie nach einem Gesetze der Natur, von der Du selbst ein Theil wärest, geschehen sollte, sie du wohl als durch deinen Willen möglich ansehen könntest.“171 Eine Handlung, die als Naturereignis nur im Rahmen der Naturkausalität zu erkennen ist, wird durch den Typus des Sittengesetzes gleichwohl daraufhin befragt, ob sie als dieses Naturereignis auch als aus einem sittlichen Willen entsprungen vorgestellt werden könnte. Diejenige Instanz, die die Handlung als Naturereignis auf dieses Gesetz hin untersucht, ist die Urteilskraft, und der Typus des Sittengesetzes ist dabei ihre Regel. Die Urteilskraft hat bei diesem Akt eine doppelte Funktion. Erstens ist sie in der Form tätig, in der sie in jedem Erkenntnisakt tätig ist. D.h. sie ermöglicht, dass die angeschaute Handlung überhaupt erkannt wird und zwar als Teil der Natur, so dass sie insofern auch deren Gesetzen folgt. Zweitens tritt die Urteilskraft in der Funktion auf, die so erkannte Handlung reflektierend daraufhin zu befragen, ob sie Fall des Typus Sittengesetz ist.172 In ihrer ersten Tätigkeit bezieht sie Begriffe des Verstandes auf ein aufgefasstes Schema. Es handelt sich dabei um einen völlig normalen Erkenntnisakt. Im zweiten Fall wird nicht eine gegebene Handlung bestimmt (dies ist schon durch den Erkenntnisakt geschehen), sondern darüber hinaus bezieht die Urteilskraft die angeschaute Handlung auf die Idee des Guten. Kant sagt nun, dass im Fall einer guten Handlung die angeschaute Tat streng genommen nicht Schema, sondern Symbol der Idee des Guten ist.173 Allerdings hält er diese strenge Abgrenzung der Begriffe selbst nicht immer durch, und so wird im Folgenden mit den Begriffen Schema, Symbol oder Typus, sofern sie eine Idee repräsentieren, immer derselbe Sachverhalt gemeint: nämlich die beschriebene Darstellung einer reinen Idee. Die Beziehung zwischen der Idee und der Anschauung ist insofern indirekt, als sie nicht wie beim Erkenntnisakt die unmittelbare Schematisierung 170

I. KANT: KpV, A 122. I. KANT: KpV, A 122. Kant bietet das Typengesetz der Sittlichkeit hier schon in der Form, in der es auf die Prüfung einer Handlung des Subjekts selbst angewendet wird. Man könnte es wohl neutraler wie folgt formulieren (Kant selbst bietet eine solche Variante nicht an): Eine sinnliche Handlung (ob schon vorliegend oder bloß vorgestellt) muss darauf hin befragt werden, ob sie aus dem sittlich bestimmten Willen hervorgegangen verstanden werden könnte, auch wenn sie als sinnliche Begebenheit bloß nach der Kausalität der Naturgesetzlichkeit verstanden werden kann. 172 Vgl. I. KANT: KdU, B 256. 173 Vgl. I. KANT: KdU, B 254–257. Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich darauf, die Symbolisierung von Ideen am Beispiel der Idee des Guten darzulegen. Freilich gilt das Gesagte strukturell auch für alle anderen Ideen. 171

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eines Begriffs meint, sondern analogisch ist. Die Gleichartigkeit zwischen Idee und Anschauung betrifft die Regel, mit der über die Kausalität einer sinnlichen Handlung reflektiert wird. Diese Regel ist (im Fall moralischer Ideen und ihrer Anschauung) nichts anderes als der Typus des Sittengesetzes. Eine sinnlich wahrgenommene Handlung ist genau dann, wenn sie zwei Ursachen – nämlich einerseits eine Naturursache und andererseits einen freien sittlichen Willen – haben könnte, Symbol für die Idee des Guten. Die Beziehung zwischen empirischer Handlung und Idee ist vermittelst der Typen-Regel eine analogische, und die sinnliche Handlung kann verstanden werden als Symbol der Idee des Guten. Es ist ein Letztes festzuhalten: Symbole sind nicht Zeichen. Diese haben keine derart analogische Beziehung zum Repräsentierten. Sie sind bloße Hinweise oder „Ausdrücke für Begriffe“174, die aber keine innere Beziehung zum Bezeichneten haben. Das ist bei Symbolen vermittelst des Typus des Sittengesetzes, wie gezeigt, anders. 4.3.3 Christus als Vorbild Die Möglichkeit der Versinnlichung des sittlich Guten durch Symbolisierung ist Bedingung der Möglichkeit christologischer Aussagen. Christus als positive Darstellung des göttlichen Willens ist die Vorstellung einer absolut sündenfreien Person, die als solche das Urbild175 des Menschen abgibt. Der Begriff des Urbildes meint bei Kant das „Ideal der moralischen Vollkommenheit“176, das zugleich die Bestimmung des Menschen ist. Es ist „allgemeine Menschenpflicht“, sich zu diesem Ideal „zu erheben.“177 Vermittelst der Typenlehre der praktischen Vernunft lassen sich ausnahmslos alle Handlungen Christi als Darstellung des Sittengesetzes, das bei religiöser Deutung den göttlichen Willen repräsentiert, verstehen.178 Insofern ist Christus Vorbild für die Menschheit, weil es Zweck aller Menschen ist, durch ihre Handlungen die Idee von Sittlichkeit zu schematisieren.179 Sich Christus als Vorbild zu nehmen, heißt dementsprechend nicht, seine empirischen Handlungen nachzuahmen. Der Mensch wäre in diesem Fall heteronom bestimmt. Vielmehr ist das urbildliche Dasein Christi Vorbild aller Menschen. Nachzuahmen ist das Prinzip der in Christus vorliegenden 174

I. KANT: KdU, B 255 (Hervorhebung im Original). Vgl. zum Begriff des Urbildes bei I. KANT: Rel., 63. 176 I. KANT: Rel., 61. 177 Beide Zitate: I. KANT: Rel., 61 (Hervorhebung im Original). 178 Vgl. dazu I. KANT: Rel., 63 und 65. 179 I. KANT spricht mehrfach von Christus als Beispiel, das er in Lehre, Leiden und Lebenswandel abgebe. Vgl.: Rel. 63–66. 175

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Versinnlichung des Sittengesetzes. Es macht mithin keinen Sinn, sich an Christus ein Vorbild zu nehmen, indem man einzelne seiner Handlungen oder Verhaltensweisen imitiert. Vielmehr soll Christi Lebenswandel insofern nachgeahmt werden, als er die symbolische Positivierung des Sittengesetzes darstellt.180 Jedes vernünftig endliche Individuum soll wie Christus eine Positivierung des Sittengesetzes durch sinnliche Handlungen abgeben. Individuen stehen als Individuen zu je bestimmten Zeiten in je bestimmten Handlungssituation, die singulär sind. Sich Christus zum Vorbild zu nehmen heißt, in der je singulären Situation dem Handlungsprinzip Christi zu folgen, indem die singulär handelnde Bewältigung der Situation eine Repräsentation des Sittengesetzes abgibt. 4.3.4 Christus als Offenbarer Gottes Die Vorstellung Christi als sündenfreie Person tritt für die praktische Vernunft einerseits in der Funktion auf, Bedingung der Möglichkeit von Versöhnung zu sein, andererseits ist mit der Vorstellung zugleich die Vorbildfunktion Christi gegeben. Darüber hinaus kann Christus als Offenbarer Gottes gelten. Um zu verdeutlichen, inwiefern er dieser letztgenannten Funktion nachkommt, muss der Blick erneut auf den Zweck des endlich vernünftigen Willens gerichtet werden. Es sollte bisher hinreichend deutlich geworden sein, dass sich nach der praktischen Vernunft der letzte Zweck des freien Willens nur herstellen lassen wird, wenn er von Gott in der Welt durchgesetzt wird. Also wird auch das Dasein einer von der Natur unterschiedenen Ursache der gesammten Natur, welche den Grund dieses Zusammenhanges, nämlich der genauen Übereinstimmung der Glückseligkeit mit der Sittlichkeit, enthalte, postulirt.181

Das höchste vollkommene Gut182 ist nur vermittelst eines allmächtigen Gottes mit moralischem Willen möglich. Dieser göttliche Wille muss, um das höchste Gut in der Welt zu seinem Zweck machen zu können, zunächst überhaupt wollen, dass eine Welt ist. Der letzte Zweck des göttlichen Willens gibt nach dieser religiösen Deutung der Welt den Grund der Schöpfung ab.183 Kant drückt das wie folgt aus:

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Nach der oben gegebenen Analyse der Schematisierung des Sittengesetzes durch Symbole bedeutet das, dass jede sinnliche Handlung nach dem Typengesetz des Verstandes zugleich als kausalgesetzlich und sittengesetzlich gewirkt vorgestellt werden können muss. 181 I. KANT: KpV, A 225 (Hervorhebung im Original). 182 Vgl. dazu I. KANT: KpV, A 198f. 183 Vgl. zur Möglichkeit der Auffassung der Welt nach Zwecken den Abschnitt 5.3.2 unten.

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Das, was allein eine Welt zum Gegenstande des göttlichen Rathschlusses und zum Zwecke der Schöpfung machen kann, ist die Menschheit (das vernünftige Weltwesen überhaupt) in ihrer moralischen ganzen Vollkommenheit, wovon als oberster Bedingung die Glückseligkeit die unmittelbare Folge in dem Willen des höchsten Wesens ist.184

Als Zweck Gottes mit der Welt wird die Vollendung des Menschen (der Menschheit) im Sinne der Sittlichkeit bei gleichzeitiger Glückseligkeit gedacht. Dieser Zweck wird durch Christus exemplarisch positiv vorgestellt. Er ist derjenige Mensch, an dem sich der Wille Gottes mit der Welt beispielhaft ablesen lässt, und auf diese Weise ist er die anschauliche Offenbarung des Vorhabens Gottes mit der Welt.185 Weil Christus den Willen Gottes repräsentiert, ist er aus Sicht religiöser Deutung „kein erschaffenes Ding, sondern sein eingeborner Sohn.“186 Die Gottheit Christi meint im Sinne Kants aber nicht ontische Wesensgleichheit mit dem Gesetzgeber. Diese Vorstellung ist ganz widersinnig, weil Gottes Sein an sich den Menschen nichts angeht und deshalb für ihn auch nicht ist. Was an Christus göttlich zu nennen ist, ist vielmehr sein Wille, der der Qualität des göttlichen Willens durchgehend gleich und deshalb auch von ihm ungeschieden und ungetrennt ist. Zugleich ist Christus allerdings in jeder Hinsicht wahrer Mensch. Einen der moralischen Qualität nach gottgleichen Willen zu haben, ist dem Menschen nichts wesentlich Unmögliches, sondern seine Bestimmung. Weil Christi Wille menschlicher Wille ist und deshalb nur endlich weit reicht, ist er mit Gott nicht vermischt, sondern unverwandelt ganz menschlicher Wille. Christi Wille ist folglich seiner sittlichen Qualität nach göttlich, seiner Macht nach bleibt er endlicher menschlicher Wille. 4.3.5 revelatio specialis und revelatio naturalis Wenn jedem moralbegabten Wesen qua Vernunft das Sittengesetz als Faktum bewusst ist, so lässt sich mit Recht sagen, der Wille Gottes sei jedem Menschen offenbar. Man kann sich deshalb nicht darüber erstaunen, von Kant die Auskunft zu erhalten, dass die Offenbarung Christi keine übernatürliche Besonderheit darstellt: „Diese Idee [des gottwohlgefälligen Menschen, d.i. Christus] hat ihre Realität in praktischer Beziehung vollständig in sich selbst. Denn sie liegt in unserer moralisch gesetzgebenden 184

I. KANT: Rel., 60. Vgl. dazu I. KANTs Ausführungen in: Rel., 60f. Dass mit der Offenbarung Gotteserkenntnis im Sinne der Kenntnis seines Willens mit der Welt gegeben sei, hat sodann wiederum A. Ritschl behauptet. Vgl. A. RITSCHL: Unterricht in der christlichen Religion, § 14. 186 I. KANT: Rel., 60. 185

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Vernunft.“187 Mit dem Faktum Sittengesetz ist also jedem Menschen die Möglichkeit der Vorstellung Christi gegeben. „Es bedarf also keines Beispiels der Erfahrung, um die Idee eines moralisch wohlgefälligen Menschen für uns zum Vorbilde zu machen.“188 Das leuchtet ein, wenn man bedenkt, dass das Sittengesetz, wenn es durch Symbolisierung positiv vorgestellt wird, zur Erzeugung des Bildes eines gottwohlgefälligen Menschen führt. Es handelt sich dabei um eine symbolische Vorstellung des Sittengesetzes, die als solche keiner Positivierung in der Geschichte bedarf, sondern allein in der Phantasie des Menschen anzutreffen ist. Man könnte dies als eine Art von Christologie bezeichnen, in der es belanglos ist, ob dem (kerygmatischen) Christus ein historischer Jesus vorausliegt. Denn das Wesen Christi liegt darin, einem jeden als Vorstellung bewusst zu sein – ganz gleich, ob das Vorgestellte Anhalt an einem ihm vorausliegenden historischen Ereignis hat oder nicht. Der Begriff der Offenbarung kann in diesem Zusammenhang keine andere Funktion haben, als die Unableitbarkeit des Sittengesetzes deutlich zu machen. Wenn nämlich das Sittengesetz nicht aus der Vernunft derivierbar ist, so kann die Tatsache, dass es faktisch mit derselben Vernunft gegeben ist, in einer Religion als Offenbarung des Gotteswillens gedeutet werden.189 Nun bleibt Kant allerdings dabei nicht stehen. Sondern er bedenkt das Bewusstsein davon, dass „ein solcher wahrhaftig göttlich gesinnter Mensch zu einer gewissen Zeit gleichsam vom Himmel auf die Erde herabgekommen“190 sei. Das „zu einer gewissen Zeit“ in Verbindung mit „auf die Erde“ impliziert eine Vorstellung innerhalb der Anschauungsformen Raum und Zeit. Gemeint ist mithin eine historische Persönlichkeit. Die Historizität Christi muss dann vorausgesetzt werden, wenn sich in einer Glaubensart das reformatorische Verständnis von Versöhnung, Rechtfertigung und Erlösung einstellt. Das Urbild zeichnet sich durch eine Gerechtigkeit aus, „die nicht die unsrige ist.“191 Genau eine derart extern vorgestellte Gerechtigkeit ist weiter oben192 für die Versöhnungstheorie der reformatorischen Art in Anspruch genommen worden, der die Vorstellung des Schuldübertrags auf Christus inhäriert. Die Idee von der Übertragung der Schuld kann nicht aus der Vernunft genetisiert werden, sondern stellt sich kontingent in der Ge187

I. KANT: Rel., 62. I. KANT: Rel., 62. 189 Vergleiche zur Unableitbarkeit des Sittengesetzes den Abschnitt 2.2.3 oben. Vgl. zum Begriff der Freiheit aus dem Sittengesetz als Faktum T. KADOWAKI: Das Faktum der reinen praktischen Vernunft. 190 I. KANT: Rel., 63 (Hervorhebung durch A.H.). 191 I. KANT: Rel., 66. 192 Vgl. Abschnitt 4.2.3.2. 188

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schichte ein und kann deshalb als Offenbarung Gottes verstanden werden. Sie dient der Durchsetzung des Zwecks praktischer Vernunft, obgleich sie sich zu dieser zunächst antinomisch verhält. Unter der Voraussetzung, dass der Offenbarer der Versöhnungsidee auch der Versöhner selbst ist, ist der Versöhner nicht bloß eine Vorstellung, den die Phantasie sich machen kann, sondern notwendig eine historische Persönlichkeit. Die reformatorische Variante der Rechtfertigungslehre fußt auf historischer Offenbarung, weil die in ihr vorgestellte Art und Weise der Versöhnung unableitbar in der Geschichte auftritt und sich nur vom Ereignis ihres Auftretens an in der Welt durchzusetzen vermag. Die reformatorische Lehre hat zwischen dem Offenbarer der Versöhnungsidee und dem Versöhner selbst keinen Unterschied gemacht, sondern beide Funktionen in der einen Person Christus vereint gesehen. Sie kann nicht ohne historischen Jesus erklärt werden, der als historische Persönlichkeit die Idee von der Rechtfertigung in die Weltgeschichte einträgt. Handelt es sich dabei um dieselbe Person, an der das Sittengesetz wie beschrieben symbolisiert ist, ist der Offenbarer der Versöhnungsvorstellung zugleich auch der Versöhner selbst, der „durch alles dieses ein unabsehlich großes moralisches Gute in der Welt durch eine Revolution im Menschengeschlechte“193 implantiert hat. Allerdings ist eine solche historische Offenbarung nicht allgemein bekannt, weil sie nicht mit der Vernunft gegeben ist. Vielmehr zeichnet sich der Versöhnungsglaube dadurch aus, dass er seinen Grund in der Erfahrung einer besonderen Offenbarung hat und deshalb keinen Anspruch auf totale Allgemeinheit erheben kann. Von dem Glaubensinhalt weiß nur derjenige, dem diese besondere Offenbarung auf welche Weise auch immer erfahrbar geworden ist. Seine Gültigkeit ist mithin nicht allgemein, sondern partikular. Derjenige, dem der rechtfertigende Inhalt des Glaubens lebensbestimmend wahr ist, kann sich folglich durch Gott berufen und erwählt glauben.194 Von der Erlösung durch Versöhnung wissen zu können, ist erstens kein natürliches Vermögen des Menschen und deshalb ist es zweitens auch nicht selbstverständlich, dass jemand es für wahr hält. Tut es jemand doch, ist sein Glaube verursacht durch eine Kausalität, die ihm unbekannt bleibt, so dass sie das Geheimnis der Erwählung genannt werden kann.195

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I. KANT: Rel., 63. Vgl. I. KANT: Rel., 115. 195 Zu den Geheimnissen der Berufung und der Erwählung vgl. I. KANT: Rel., 142–144. 194

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4.4 Von der Versöhnung zum Christus in mir bei Luther und bei Kant Kant hat die Versöhnung des Glaubenden von seiner Erlösung differenziert. Es handelt sich dabei nicht um eine Differenz, die im Glaubensakt als zeitliches Nacheinander bewusst wird. Sondern indem der Glaubende das eine glaubt, stellt sich das andere zugleich ein. Allerdings gibt es einen sachlichen Unterschied zwischen Versöhnung und Erlösung, so dass je nach Glaubensart das eine die logische Bedingung der Möglichkeit des anderen ist. Eine derartige Differenz im Sinne der logischen Unterscheidung lässt sich sachlich auch bei Luther finden. Zu glauben bedeutet ihm einerseits die Befreiung des Gewissens von der Last der Schuld, wodurch das Gesetz seine anklagende Funktion verliert: „Das christliche Gewissen aber muß dem Gesetz gestorben sein, d.h. es muß frei sein von dem Gesetz und darf mit ihm nichts mehr zu tun haben.“196 Der Freispruch des Gewissens ist vom glaubenden Fürwahrhalten der Schuldübernahme durch Christus abhängig. Luther kann dabei wie zuvor Anselm argumentieren, Christi ungerechtfertigter Tod sei die einzige Möglichkeit, die Schuld des Sünders zu sühnen: Unerträgliche und abscheuliche Lästerung ist es, irgendein Werk zu ersinnen, durch das du dir herausnehmen könntest, Gott zu versöhnen, wenn du doch siehst, daß er nur versöhnt werden kann durch den unermeßlichen und unendlichen Kaufpreis, durch den Tod und das Blut seines Sohnes, von dem ein Tropfen wertvoller ist als die ganze Kreatur.197

Er geht sogar soweit, alle Ämter Christi auf dieses eine zu reduzieren, wenn er festhält, ihre Funktion würde in nichts anderem als in der Versöhnung Gottes bestehen.198 Der Gedanke der Schuldübergabe auf eine dem Subjekt 196 Zitat: M. LUTHER: Galaterbrief-Auslegung 1531, 105 (WA 40/I, 271, 12f: Christiana debet esse legi mortua, id est libera a lege et prosus nihil habere commercii cum ea.“). Vgl. zur Schuldund Gewissensthematik bei Luther K. HOLL: Was verstand Luther unter Religion? Vgl. auch M. LUTHER: Galaterbrief-Auslegung 1531, 108: „Du siehst also, daß es kein Leben gibt, außer du seiest ohne Gesetz, ja du seiest dem Gesetz völlig gestorben, nämlich im Gewissen“ (Hervorhebung durch A.H) (WA 40/I, 279, 31f: Vides ergo non esse vitam, nisi fueris sine lege, imo nisi prorsus legi mortuus fueris, silicet in conscientia.“). 197 M. LUTHER: Galaterbrief-Auslegung 1531, 116 (WA 40/I, 295, 30–34: „Ideo intolerabilis et horribilis blasphemia est fingere aliquod opus, per quod praesumas Deum placere, cum videas eum non placari posse nisi hoc immenso et infinito pretio, scilicet morte et sanguine Filii sui, cuius una gutta praetiosior est tota creatura.“) Vgl. dazu überhaupt Luthers Auslegung von Gal 2,20 (besonders 114–118) und Gal. 4,4 (215–219) (=WA 40/I, 289–299 und 560–571). 198 „Darin bestehen sie [die Ämter], daß er Gott versöhnt, für die Sünder eintritt und bittet, sich selbst als Opfer für ihre Sünden darbringt, sie erlöst etc.“ (M. LUTHER: Galaterbrief-Auslegung 1531, 117) (WA 40/I, 297, 34–298, 12: „Ea sunt placare Deum, intercedere et orare pro peccatoribus, offerre seipsum hostiam pro peccatis eorum, redimere eos etc.“).

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externe Person hat im Übrigen nicht nur Kant Schwierigkeiten bereitet, weil er sich durch die praktische Vernunft nicht rechtfertigen lässt. Sondern auch Luther hat in ihm etwas moralisch Widersinniges sehen können: Luther betont mit allem Nachdruck, daß es sich bei dem Glauben an die Sündenvergebung um etwas handelt, das ‚wider alle Vernunft‘, ja sogar wider alle ‚Sittlichkeit‘ geht, um etwas, bei dem der Mensch – Luther selbst gebraucht diese allerstärksten Ausdrücke – ‚gegen sein Gewissen‘ handelt.199

Nach Kant ist derartiger Glaube an die Übertragbarkeit von Schuld auf eine subjektfremde Person nicht aus der Vernunft ableitbar, sondern muss zur Ergänzung der Vernunft für wahr gehalten werden, ohne die Herkunft der Vorstellung zu kennen. Deshalb sind Versöhnung und Erwählung Geheimnisse von bloß subjektiver Gültigkeit.200 Dass der rechtfertigende Glaube ein Geschenk Gottes ist und durch das Subjekt in keiner Weise selbsterzeugt werden kann, ist Luther und der Reformation überhaupt nie fraglich gewesen.201 Die Befreiung des Gewissens oder die Versöhnung mit Gott – so ist es für eine der von Kant gebotenen Rechtfertigungsvorstellungen herausgearbeitet worden – zeitigt Folgen im Glaubenden. Dieser wird durch die Versöhnung mit Gott zum Guten gewendet. Er weiß sich durch die Versöhnung glückswürdig und braucht dem Gesetz der Selbstsucht nicht mehr zu folgen, weil die Konsequenz der Schuld, die in ewiger Unglückseligkeit bestünde, nicht mehr zu befürchten ist. Es ist ein Leichtes zu zeigen, dass auch Luther meinte, ein die Konsequenzen seiner Schuld fürchtender Mensch müsse zuvorderst von der Schuld befreit werden, um sich einem uneigennützigen Handlungsprinzip hingeben zu können.202 Der Glaubende kann einem neuen Handlungsprinzip nach Luther nur deshalb folgen, weil das alte seine Macht über den Menschen verliert. Der Sünder ist nicht mehr auf das Prinzip Selbstrechtfertigung angewiesen, weil er sich mit Gott versöhnt weiß und deshalb nicht mehr unter dem Zwang steht, sich selbst gerecht machen zu müssen.203 Von dieser Last befreit, ist es ihm möglich, einem neuen Handlungsprinzip folgen zu können. Überwunden wird bei 199

K. HOLL: Was verstand Luther unter Religion?, 77 (Hervorhebungen im Original). Vgl. I. KANT: Rel., 142f. 201 Vgl. nur, was M. LUTHER im 3. Artikel seines Großen Katechismus schreibt: „Denn wo er’s [scil.: Gott den rechtfertigenden Glauben] nicht predigen lässet und im Herzen erweckt, daß man’s fasset, da ist’s verloren […]“ (BSLK, 655). 202 Allerdings war die gefürchtete Konsequenz bei Luther in erster Linie nicht wie bei Kant ewige Verwerfung im Sinne der Hölle oder Unglückseligkeit. Vielmehr, so K. Holl, ist es die Gerichtssituation, die Luther fürchtet (Vgl. K. HOLL: Was verstand Luther unter Religion?, 17– 19). 203 Vgl. M. LUTHERs Ausführungen zu Gal. 2,21: Galaterbrief-Auslegung 1531, 118–121 (=WA 40/I, 299–307). 200

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Rechtfertigung

Kant das Prinzip der Eigensucht, bei Luther das Prinzip der Selbstrechtfertigung. Beide Prinzipien haben ihre strukturelle Gemeinsamkeit darin, dem göttlichen Willen entgegen zu sein. Es geht dabei – das ist auch bei diesem Vergleich zwischen Luther und Kant vorausgesetzt – beiden in ihrer Auffassung von Religion wesentlich um die sittliche Dimension des Subjekts vor Gott.204 Luther hat die sittliche Erneuerung des Glaubenden durch seine Rechtfertigung als eine Einigung205 des Glaubenden mit Christus aufgefasst. Er hat in seiner Galaterbriefvorlesung von 1531 die paulinische Vorstellung von Christi Leben in mir allerdings als „völlig ungewöhnliche und unerhörte Redeweise“ bezeichnen können. Denn es macht ohne weitere Deutungsanstrengung keinen Sinn, „zu sagen: Ich lebe – ich lebe nicht.“206 Luther macht deutlich, dass es sich bei der unio cum Christo um eine Einigung in lebenspraktischer Hinsicht handelt: „[D]enn Christus lebt in mir, wirkt und übt alle Taten“207 Zunächst sei einmal abgesehen davon, wie die Mystik der Einigung des Glaubenden mit Christus verständlich gemacht werden kann. Jedenfalls sieht Luther mit der Rechtfertigung den Glaubenden von einem neuen Prinzip des Handelns – und darunter ist hier der Lebensvollzug in all seinen Facetten zu verstehen – beseelt. Luther führt aus: „Christus also […] lebt dieses Leben, das ich habe, in mir; ja das Leben, das ich so lebe, ist Christus selbst. Daher sind Christus und ich in dieser Hinsicht schon eins.“208 Bei diesem neuen Lebensvollzug müssen nach Luther zwei Ordnungsebenen des Handelns unterschieden werden. Es ist einerseits das sinnlich wahrnehmbare Leben: „So siehst du mich reden, essen, trinken, schlafen, etc.“ Andererseits ist es dasjenige Leben, das diesem sinnlichen Leben transzendental, wenn dieser kantsche Begriff erlaubt ist, vorausliegt: „[U]nd siehst doch mein Leben nicht: denn diese Lebenszeit, die ich lebe, lebe ich zwar im Fleisch, aber nicht aus dem Fleisch oder gemäß dem Fleischeswillen, nein: ich lebe im Glauben, aus dem Glauben und gemäß dem Glau-

204 Vgl. exemplarisch nur M. LUTHERs Auslegung von Gal. 2,19 in: Galaterbrief-Auslegung 1531, 101–108 (=WA 40/I, 262–279). 205 Vgl. an dieser Stelle nur M. LUTHER: Galaterbrief-Auslegung 1531, 110: „Christus also, so sagt Paulus, der in mir sein Wesen hat, mir verschmolzen ist und in mir bleibt, lebt dieses Leben, das ich habe in mir.“ (WA 40/I, 283, 30f: „Christus ergo, inquit, sic inhaerens et conglutinatus mihi et manens in me hanc vitam quam ago, vivit in me.“). 206 Beide Zitate: M. LUTHER: Galaterbrief-Auslegung 1531, 111. (WA 40/I, 285, 12f: „Est enim plane insolens et inaudita, Ut: ‚Vivo‘, ‚non vivo‘.“) Es handelt sich um die Auslegung zu Gal. 2,20. 207 M. LUTHER: Galaterbrief-Auslegung 1531, 112 (WA 40/1, 287, 33: „[…] quia Christus in eo loquitur, operatur et exercet omnes actiones.“). 208 M. LUTHER: Galaterbrief-Auslegung 1531, 110 (WA 40/I, 283, 30–32: „Christus, ergo […] hanc vitam quam ago, vivit in me, imo vita qua sic vivo, est Christus ipse. Itaque Christus et ego iam unum in hat parte sumus.“

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ben.“209 Der Mensch lebt auch nach der Rechtfertigung im Fleisch, denn er vollzieht sich notwendig auch empirisch. Nun kann eine sinnliche Handlung nach Luther aber auf zweifache Weise normiert sein – entweder dem göttlichen Willen folgend oder dem Eigensinn. Nur derartige sinnliche Handlungen, die dem Handlungsprinzip göttlichen Willens folgen, sind gute Handlungen und stellen das Handeln Christi in mir auch positiv dar: „Der Christ spricht nur Keusches, Nüchternes, Heiliges, und Göttliches, das zu Christus gehört, zur Ehre Gottes und zum Heile des Nächsten. Das kommt aber nicht aus dem Fleisch und kommt nicht zustande gemäß unserer Fleischesart, und dennoch sind diese Dinge im Fleisch.“210 Diese Differenzierung von empirischer Handlung und einer ihr – wenn man so will – transzendental vorausliegenden Ebene, die für die Qualität der Sinnenart des Menschen maßgeblich ist, findet sich auch bei Kant, nach dem die Qualität der empirischen Handlung von der ihr vorgeordneten Maxime abhängig ist. Fraglich ist nun, ob sich auch Luthers Vorstellung vom Christus in mir bei Kant wiederfinden lässt. Denn wie beschrieben kann Luther sagen, die Handlungen des Gerechtfertigten werden nicht mehr von ihm selbst, sondern von Christus vorgenommen. Die dabei vorausgesetzte Vereinigung des Handelnden mit Christus meint Luther, nicht vernünftig verständlich machen zu können. Alle Bilder, die er bemüht, um die unio zu veranschaulichen, werden von ihm gerade deshalb verwendet, weil er meint, die mystische Vereinigung lasse sich nicht vernünftig explizieren. Um neben der berühmten Brautmystik aus Luthers Freiheitsschrift ein anderes Bild zu bieten: Der [Christus] ist meine Substanz, die meinen Glauben schmückt, so wie die Farbe oder das Licht die Wand schmückt (So muß man ganz im Rohen die Sache veranschaulichen; denn wir können’s geistlich nicht begreifen, daß Christus so ganz nah und innerlich in uns hänge und bleibe, wie Licht oder weiße Farbe an der Wand hafte).211

Die hier vertretene These lautet nun, dass sich erstens die Rede von Christus in mir der Sache nach auch bei Kant finden lässt und dass zweitens Kant 209

M. LUTHER: Galaterbrief-Auslegung 1531, 113 (WA 40/I, 288, 28–30: „[…] et tamen vitam meam non vides, Quia hoc vitae tempus quod ego vivo, in carne quidem vivo, sed non vivo ex carne vel secundum carnem, sed in fide, ex fide et secundum fidem.“ 210 M. LUTHER: Galaterbrief-Auslegung 1531, 113 (WA 40/I, 289, 21f: „Christianus non loquitur nisi casta, sobria, sancta ac divina, quae pertinent ad Christum, ad gloriam Dei et ad salutem proximi. Ista non veniunt ex carne neque fiunt secundum carnem, et tamen sunt in carne.“). 211 M. LUTHER: Galaterbrief-Auslegung 1531, 110 (WA 40/I, 283, 26–29: „Is est mea forma ornans fidem meam, ut color vel lux parietem ornat. (Sic crasse res illa exponenda est; Non enim possumus spiritualiter comprehendere tam proxime et intime Christum haerere et manere in nobis, quam lux vel albedo in pariete haeret.“).

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Rechtfertigung

die Einigung mit Christus nicht mehr als mystische Verschmelzung beschrieben hat, sondern als Annahme des Handlungsprinzips Christi. Kant hat in Christus das Ideal der Idee Sittlichkeit gesehen, durch das die Idee von Freiheit oder der göttliche Wille in Raum und Zeit positiv vorgestellt wird. Es ist allgemeine Menschenpflicht sich demselben göttlichen Handlungsprinzip hinzugeben. Dass dies nicht Nachahmung des empirischen Lebens Christi meinen kann, sondern die Übernahme seines Handlungsprinzips in die Gesinnung, ist herausgearbeitet worden. Christus in mir bedeutet danach die Wirksamkeit des Handlungsprinzips Christi im Subjekt. Dies kommt der von Luther beschriebenen unio cum Christo, die er im Wesentlichen als eine Handlungseinheit verstanden hat, gleich. Schließlich soll auf eine Parallele zwischen Luther und Kant hingewiesen werden, die den Totalaspekt der Duplizität der moralischen Qualität des Gerechtfertigten betrifft: Er ist simul iustus et peccator. Kant hat zwar gemeint, der Glaubende erfahre einen ersten Wandel der obersten Maxime, aber der sinnliche Charakter des Menschen werde von diesem Wandel ausgehend nur in einem langwierigen Prozess modifiziert. Auch dieser Vorgang der bloß sukzessiven Durchsetzung des Handlungscharakters von einem Keim aus ist durch Luther zuvor gedacht worden. Er meinte, es sind die „Erstlinge des Geistes“ oder „ein Funken Glaube, der anfängt, Gott die Gottheit zuzugestehen.“212 Allerdings ist mit dieser Erlösung nichts als ein Anfang gemacht: „Der Glaube ist gewiß die wirkliche Gerechtigkeit und doch ist er nicht genug, weil nach dem Glaubensempfang immer noch Reste der Sünde im Fleisch hängen.“213 Der Heiligungsprozess wird auch von Luther als langsamer Fortschritt beschrieben, der im irdischen Dasein nicht zur Vollendung kommt: „Es ist unmöglich, Bruder, daß du in diesem Leben so vollkommen wirst, daß dein Leib hell leuchte ohne Makel wie die Sonne, nein, du behältst Runzeln und Fehler und bist dennoch ein Heiliger.“214 Die reformatorische Rechtfertigungslehre hat ihre spezifische Eigenart gegenüber der katholischen Lehre darin, dass sie ihren Ausgangspunkt bei der totalen Versöhnung der Schuld durch ein gnädiges Urteil Gottes nimmt. 212 Beide Zitate M. LUTHER: Galaterbrief-Auslegung 1531, 141 (WA 40/I, 364, 17f: „[…] Imo vix est scintilla fidei quae incipit Deo tribuere divinitatem. Primitias spiritus tantum accepimus“). Mehr noch: Luther kann von einer Substanz an Gerechtigkeit im Glaubenden sprechen, auch wenn er ihren Anteil an der gesamten Person gering schätzt: „[E]s ist keine Gerechtigkeitssubstanz in uns außer jener Schwachheit des Glaubens und den Erstlingen des Glaubens“ (GalaterbriefAuslegung 1531, 142) (WA 40/I, 370, 30f: „Et nihil formae seu iustitiae in nobis esse praeter illam imbecillem fidem seu primitias fidei.“). 213 M. LUTHER: Galaterbrief-Auslegung 1531, 141 (WA 40/I, 364, 12f: „Fides est quidem iustitia formalis, et tamen non est satis, Quia post fidem haerent adhuc reliquiae peccati in carne.“). 214 M. LUTHER: Galaterbrief-Auslegung 1531, 142 (WA 40/I, 369, 14–16: „Impossibile est frater, te sic fieri iustum in hac vita, ut corpus tuum sit lucidum sine maculis velut sol, sed habes adhuc rugas et maculas, et tamen Sanctus es.“).

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Insofern gilt der Sünder im Fall der Rechtfertigung, gleichgültig wie viel Restsünde in ihm bleibt, von vornherein als Heiliger. Luther sagt: „Was in dir an Sünde übrig ist, wird nicht zugerechnet“215, denn „im Blick auf alle unsere Sünden“ will Gott diese „bedeckt sein lassen, wie wenn es nicht Sünde wäre.“216 Der Glaubende ist in diesem synthetischen Urteil Gottes folglich totus iustus. Dass er sich zugleich als totus peccator erfährt, wird verständlich, wenn man die zitierten Ausführungen Luthers bedenkt, nach denen die Reste der Sünde im Fleisch hängen bleiben. Wenn darunter, wie ausgeführt, die Sinnenart der Handlungen zu verstehen ist, bleibt der empirische Handlungscharakter des Menschen im irdischen Leben zumindest zu seinem größeren Teil sündig. Gewandelt hat sich im Glauben, folgt man der kantschen Erklärungsweise, allein die Metamaxime oder oberste Gesinnung des Glaubenden. Weil aber der empirische Mensch auch im Zustand des Glaubens mehrenteils böse Handlungen zeitigt, kann er sich selbst nur als Sünder taxieren, und er wird von anderen ebenso eingeschätzt, da sein Glaube oder seine gebesserte Gesinnung nicht anzuschauen ist: Coram hominibus ist er demnach totaler Sünder. Denn von den bösen Taten her wird auf eine weiterhin verderbte Metamaxime geschlossen, indem in einem induktiven Verfahren vom empirischen Handlungscharakter ausgehend die Qualität der Metamaxime als böse beurteilt wird. So ergibt sich die paradoxe Situation, dass der Glaubende zwar eine gebesserte Metamaxime haben mag, er aber von Menschen217 nicht so angesehen wird, weil an ihm nur solche Handlungen auszumachen sind, die auf eine weiterhin verderbte Metamaxime schließen lassen.

215 M. LUTHER: Galaterbrief-Auslegung 1531, 142 (WA 40/I, 369, 23: „Quod reliquum in te peccati est, non imputatur.“). 216 M. LUTHER: Galaterbrief-Auslegung 1531, 141 (WA 40/I, 367, 27f: „Propter quem et Deus ad omnia peccata connivet et vult esse tecta, quasi non sint peccata.“). 217 Also auch von ihm selbst.

5. Eschatologie

5.1 Die Vollendung des Individuums Die nachfolgenden Ausführungen haben ihr Ziel darin, im Rahmen der kantschen Philosophie das Konzept einer Individualeschatologie zu entwerfen. Dazu muss insbesondere die moralische Vollendung des Subjekts gedacht werden. Dass Kant zu solcher Vollendung das Postulat von der Unsterblichkeit der Seele für unhintergehbar hielt, ist weithin bekannt. Der Mensch bedürfe eines „ins Unendliche gehenden Progressus“1, um seine Vollkommenheit zu verwirklichen, die in „völlige[r] Angemessenheit des Willens […] zum moralischen Gesetz“2 besteht, d.h. in realisierter Gottebenbildlichkeit. Allerdings gibt das Erfordernis des unendlichen Fortschritts zur Erreichung des Ziels einige Probleme auf, deren Auflösung hier unternommen werden soll. Schon die Aussage, ein Ziel solle in einem unendlichen Prozess erreichbar sein, wirkt erklärungsbedürftig. Denn Unendlichkeit des Weges scheint die Vorstellung eines Ziels gerade auszuschließen, weil der Begriff des Telos die Endlichkeit des Weges impliziert. In welchem Verhältnis der Progress der Approximation und sein Ziel, nämlich Gottebenbildlichkeit, stehen, muss also geklärt werden. Zuvor ist aber noch ein anderes Themenfeld zu bearbeiten. Unter Rückgriff auf die Ergebnisse aus den Erlösungs- und Rechtfertigungskapiteln, muss an den Grund erinnert werden, den jeder Heiligungsprozess des Subjekts hat. Es handelt sich unter Voraussetzung der Radikalität des Bösen um die Revolution der moralischen Denkungsart hin zum Guten, die durch den Glauben an die Versöhnung mit Gott ermöglicht wird. Bedingung der Möglichkeit der Annäherung an das Ideal des Menschen ist danach die moralische Neukonstitution des Subjekts durch Wandel seiner Metamaxime vom Bösen zum Guten. Das Kapitel zur Erlösung3 hat für diesen Wandel Gott als Letztgrund ausgemacht. Denn ein Reflexionsgang, der nach Gründen für die eigene moralische Qualität sucht, bliebe unvollendet, wenn er sich mit der Antwort zufrieden gäbe, sie ginge auf die Wahl des eigenen Willens zurück. Zwar ist es möglich, eine allfällige Besserung sich selbst 1

I. KANT: KpV, A 220 (Hervorhebungen im Original). I. KANT: KpV, A 220. Vgl. insgesamt die einschlägigen Ausführungen in I. KANT: KpV, A 219–223, die die Überschrift „Die Unsterblichkeit der Seele, als ein Postulat der reinen praktischen Vernunft“ tragen. 3 Vgl. Kapitel 2. 2

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zuzuschreiben, wenn man die durch das Sittengesetz eröffnete Selbstbeziehung der Wahlfreiheit in Betracht zieht. Die Reflexion auf die Gründe für die Revolution der Denkungsart ist aber erst dann nicht mehr durch einen weiteren Reflexionsschritt zu überbieten, wenn eine Ursache für die moralische Qualität der Metamaxime aufgesucht ist, die selbst nicht mehr verursacht ist. Dieser Ursprung ist das Ding an sich oder religiös gesprochen Gott. Wie die Erlösung im Einzelnen vonstatten geht, ist damit noch gar nicht in Betracht gekommen. Zwei Möglichkeiten, sich die Erlösung durch Gott zu erklären, sind im Rechtfertigungskapitel4 zur Sprache gekommen. Unter Berücksichtigung des Erbsündegedankens ist Erlösung von dem Bösen nur erklärlich, wenn sie die Versöhnung des Menschen mit Gott zur Voraussetzung hat. Weil dabei aber behauptet werden muss, Gott vergebe dem Sünder seine Schuld, ohne dass dieser dazu eine Vorleistung erbringt, ist diese Form des Rechtfertigungsglaubens, wie sie sich bei den Reformatoren findet, nicht mehr durch die praktische Vernunft einzuholen. Die reformatorische Art und Weise der Rechtfertigungsvorstellung ist nicht Postulat der praktischen Vernunft, sondern verdankt sich einer Offenbarung. Im Glaubensvollzug wird durch das Fürwahrhalten der Versöhnung die Neuwerdung des Menschen an der Metamaxime ermöglicht. Der Wandel des Subjekts fällt also mit der Aneignung der Rechtfertigung durch Glauben in eins. Die dies plausibilisierende Argumentationsfigur soll nun in Hinsicht auf den Heiligungsprozess in Anschlag gebracht werden. Sie wird nicht einfach wiederholt werden, sondern derart gewendet, dass der Heiligungsprozess als eine Folge des Rechtfertigungsglaubens verständlich wird. Dabei ist insbesondere zu bedenken, welche Auswirkungen Glaubenszweifel auf den Vollendungsprozess haben. 5.1.1 Rechtfertigungsglaube und Heiligung Der Vollzug des Versöhnungsglaubens ist von nicht zu überschätzender Bedeutung für den Lebensgang des Menschen insgesamt. Denn an ihm entscheidet sich, ob sich unter der Prämisse der Erbsünde jemand seiner Bestimmung annähern kann. Der Rechtfertigungsglaube der Reformatoren hält den Inhalt der Offenbarung, nämlich Schuldvergebung durch Gott, derart für wahr, dass der Glaubensvollzug sich subjektkonstitutiv auswirkt, weil mit dem Vollzug die Metamaxime des Subjekts zum Guten gewendet wird. Dazu ist Gewissheit – im Sinne von certitudo – über die Versöhnung nötig. Denn nur das gewisse Bewusstsein der Versöhnung mit Gott lässt das 4

Vgl. Kapitel 4 und dort vor allem den Abschnitt 4.2.

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Eschatologie

Subjekt auch seine Glückseligkeit von Gott erwarten. Der Glaubende ist sodann frei vom Zwang, sein Glück selbst besorgen zu wollen. Die Achtung vor dem Sittengesetz kann nun als handlungsbestimmende Triebfeder eingesetzt werden, weil sie keiner ernsthaften Konkurrenz mehr ausgesetzt ist. Die dadurch gewendete Metamaxime ist unverzichtbare Voraussetzung für den Heiligungsprozess, der in einem unendlichen Progress zur Gottebenbildlichkeit führt, denn nur von der Metamaxime her kann in allmählicher Reform der empirische Charakter des Subjekts vom guten Handlungsprinzip durchdrungen werden. Der Glaubensvollzug steht allerdings beständig in der Gefahr, abgebrochen zu werden. Denn Glauben ist eine Form des Fürwahrhaltens, die dem Zweifel an ihrem Inhalt ausgesetzt ist. Ein gängiger Grund für den Zweifel besteht in der Neigung, allein der theoretischen Vernunft wahrheitsrelevante Kompetenz bei der Wirklichkeitserschließung zuzusprechen. Kant hatte wenig übrig für derartige Haltung. Denn Glaubensinhalte betreffen (zumindest im Idealfall) den Bereich der praktischen Vernunft, deren Funktion die Regulierung der Lebensführung des Subjekts ist. Fragen der Lebensführung haben nach Kant aber einen höheren Wert, als solche, die die Erkenntnisfähigkeit des Menschen betreffen, weil diese letztlich immer bloß als Mittel zum Zweck für jene angesehen werden. Theoretisch erkannt wird nach der Selbstdeutung des Menschen nur um des Interesses der praktischen Vernunft willen, „weil alles Interesse zuletzt praktisch ist, und selbst das der spekulativen Vernunft nur bedingt und im praktischen Gebrauche allein vollständig.“5 Das Auftreten des Zweifels ist mit dieser Verhältnisbestimmung allerdings nicht ausgeräumt. Zwar kann man sich vermöge derartiger Reflexion die nicht zu überbietende Wertigkeit des Glaubensvollzugs für das menschliche Leben klar machen; man ist dadurch aber nicht vor dem Zweifel als solchem gefeit. Dieser stellt sich vielmehr je von neuem ein, wenn der Inhalt des Glaubens nicht im Modus des Glaubens ergriffen wird. Denn sodann versucht das Subjekt den Wahrheitswert des Glaubensgehaltes durch die theoretische Vernunft zu überprüfen. Das aber ist aus strukturellen Gründen unmöglich, weil Glaube sich fundamental von Meinen und Wissen dadurch unterscheidet, dass sein Inhalt nicht gewusst, weil er nicht theoretisch erkannt werden kann. Das Subjekt wird bei dem Verfahren, mit

5

I. KANT: KpV, A 219. Ein derartiges Urteil setzt eine Axiologie voraus, in der praktische Interessen den höchsten Rang einnehmen. Diese Rangordnung wiederum ist nur möglich vermittelst einer bestimmten Art von Urteilen – und zwar reflexiver. Die Kritik der Urteilskraft hat sich mit Fragen dieser Art eingehend in ihrem zweiten Teil, der eine Theorie der Teleologie entwirft, beschäftigt. Vgl. dazu die Ausführungen unten zur Vollendung der Gattung und zur Stellung des Einzelnen in ihr (Abschnitt 5.3).

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der theoretischen Vernunft auf den Inhalt des Glaubens zugreifen zu wollen, enttäuscht werden müssen. Im Extremfall, wie es für den Versöhnungsglauben charakteristisch ist, muss der Glaubensgehalt sogar wider die Vernunft geglaubt werden. Der Glaubende hält sodann seine Gerechterklärung durch Gott gegen alle Logik der praktischen Vernunft für wahr. Weil der Versöhnungsglaube seinen Inhalt modallogisch nicht nur neben der theoretischen Vernunft, sondern auch gegen die Logik praktischer Vernunft für wahr halten muss, ist er umso anfälliger für den Zweifel. Dessen Resultat ist im schlechtesten Fall der Unglaube, der dann entsteht, wenn das Subjekt meint, nichts neben der oder gegen die Vernunft für wahr halten zu können.6 Der Glaubensvollzug ist folglich beständig angefochten und mit ihm auch der Heiligungsprozess. Denn letzterer wird sich nur so lange fortsetzen, wie die Metamaxime sich im Zustand moralischer Bonität befindet. Sobald der Glaubensvollzug abbricht, gewinnt das Subjekt das Böse wieder lieb, weil die oberste Maxime vom Guten ins Böse kehrt, wenn Glückseligkeit durch das Subjekt selbst besorgt werden soll. Vorausgesetzt ist dabei die grundsätzliche Wandelbarkeit der obersten Maxime in beide Richtungen, die im Rahmen der kantschen Theorie unzweifelhaft auch vorgesehen ist. Die Revolution der Gesinnung7 meint eine Umkehr, die in beide Richtungen möglich ist. Die Möglichkeit des Relaps zum Bösen ist mit der Glaubensanfechtung gegeben, denn im Zustand des Unglaubens wird sich der natürliche Hang zum Bösen bemerkbar machen. Folglich wird der Angefochtene sich erneut dem Prinzip der Selbstliebe hingeben, wenn es um die Bestimmung von Handlungen geht. Glaube im Vollzug ist nach alledem conditio sine qua non für den Heiligungsprozess des Menschen. Ohne ihn kann sich unter den Bedingungen der Erbsünde überhaupt keine Besserung in Sachen Moralität einstellen.8

6 I. KANT definiert: „[U]ngläubig aber ist der, welcher jenen Vernunftideen, weil es ihnen an theoretischer Begründung ihrer Realität fehlt, darum alle Gültigkeit abspricht.“ (KdU, B 464. Hervorhebung im Original). Eine solche Haltung ist zweifach denkbar. Dogmatischer Unglaube reduziert seine Weltwahrnehmung auf die Vorgaben der theoretischen Vernunft. Das allerdings bedeutet, sich der Möglichkeit zu moralischem Selbstvollzug vollkommen zu berauben. In diesem Fall verfehlt der Mensch sein Wesen notwendig. Daneben ist die Variante des zweifelnden Glaubens denkbar, bei dem das Subjekt den Glaubensinhalt durch die spekulative Vernunft anzweifelt, zugleich aber auch deren beschränkte Leistungsfähigkeit wahrnimmt. Denn theoretische Vernunft eignet nicht zur Bestimmung des eigenen Verhaltens. Dazu ist allein die praktische Vernunft befähigt, und in ihren Bereich fällt auch das „praktische[s] Fürwahrhalten“ (KdU, B 464) von Glaubensinhalten. 7 So hat I. KANT den Wandel der Metamaxime hin zum Guten in Rel., 47 bezeichnet. 8 Inwiefern darüber hinaus der Mensch ohne Glauben seinem Leben keinen letztbegründeten Wert beimessen kann, wird unten in den Abschnitten zur Vollendung der Gattung verhandelt werden (vgl. Abschnitt 5.2 und 5.3).

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Eschatologie

Dass der Vollzug des Glaubens in seiner Entstehung nicht in der Verfügungsgewalt des Subjekts liegt, sondern sich als Faktum einstellt oder eben ausbleibt, ist schon ausgeführt worden.9 Das Bewusstsein der Unverfügbarkeit des Glaubens bekommt eine weitere Bedeutungsfacette, wenn man es in den hier verhandelten Zusammenhang stellt: Das Subjekt kann sich seines Fortschritts in der Heiligung nicht im Sinne eines Habitus sicher sein: „Die Überzeugung von der Unwandelbarkeit seiner Gesinnung im Fortschritte zum Guten scheint gleichwohl auch einem Geschöpfe für sich unmöglich zu sein.“10 Denn der Prozess der Heiligung hat mit dem Glauben einen fragilen Grund. Deshalb ist es für Kant ratsam „seine Seligkeit mit Furcht und Zittern zu schaffen“11, auch wenn er sogleich hinzufügt, dies sei ein hartes Wort. Jedwede Auffassung, nach der der Glaubende sich ein für alle mal gewandelt weiß, konnte Kant nicht teilen. Das sichere Bewusstsein der Unverbrüchlichkeit des Heiligungsprozesses ist ausgeschlossen, weil es kein Wissen von der Durabilität des Glaubensvollzugs geben kann. Auch der Grad der eigenen Besserung oder Verschlechterung in Sachen Moralität läßt sich nicht mit Sicherheit ausmachen. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens ist es unmöglich die eigene Metamaxime anzuschauen, weshalb weder der eigene moralische Zustand der Gegenwart mit Sicherheit erschlossen werden kann noch die Art der Veränderung der eigenen moralischen Qualität durch die Zeit. Zweitens ist der Versuch, die moralische Besserung dennoch an der Entwicklung des sinnlichen Handlungscharakters abzulesen, potentiell der Täuschung ausgesetzt: „[M]an täuscht sich nirgends leichter, als in dem, was die gute Meinung von sich selbst begünstigt.“12 Solche Fehleinschätzung der eigenen sittlichen Verfassung oder Entwicklung folgt dem Muster der Sünde, die in ihrem Hang, sich selbst zu kaschieren, dem Subjekt vorgaukelt, es sei moralisch gut.13 Für Kant gibt es folglich keine Sicherheit, die der Mensch in seiner Stellung vor Gott, dem Geber des Gesetzes, haben könnte. Selbstgerechtigkeit in Sachen Moralität ist eine völlig unangemessene Haltung. Allerdings ist Kant doch bereit, eine gewisse Sicherheit bezüglich der eigenen Fortschritte im Heiligungsprozess einzuräumen, und eine solche ist auch nötig, denn „ohne alles Vertrauen zu seiner einmal angenommenen 9

Vgl. den Abschnitt 3.4. So I. KANT schon in: KpV, A 222 Anm. (Hervorhebung im Original). Ganz in diesem Sinne äußert er sich sodann auch in Rel., 71: „Gewißheit in Ansehung derselben [Beharrlichkeit der lauteren Gesinnung] ist dem Menschen weder möglich, noch, soviel wir einsehen, moralisch zuträglich. Denn (was wohl zu merken ist) wir können dieses Zutrauen nicht auf ein unmittelbares Bewußtsein der Unveränderlichkeit unserer Gesinnungen gründen, weil wir diese nicht durchschauen können.“ 11 I. KANT bietet das Wort aus Phil 2, 12 in: Rel., 68 (Hervorhebung im Original). 12 I. KANT: Rel., 68. 13 Vgl. I. KANT: Rel., 38. 10

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Gesinnung würde kaum eine Beharrlichkeit, in derselben fortzufahren, möglich sein.“14 Das ständige Bewusstsein der Anfechtung der eigenen Fortschritte würde eine Entmutigung des Subjekts bedeuteten, die es davon Abstand nehmen ließe, seine Besserung auf vernünftige Art und Weise voranzutreiben. Vielmehr versucht es sich bei völliger Entmutigung in der „finstersten Schwärmerei“15, worunter Kant die vermeintliche Einwirkung auf Gott versteht, um ihm die Rechtfertigung abzuzwingen: Der Wahn, durch religiöse Handlungen des Cultus etwas in Ansehung der Rechtfertigung vor Gott auszurichten, ist der religiöse Aberglaube; so wie der Wahn, dieses durch Bestrebung zu einem vermeintlichen Umgange mit Gott bewirken zu wollen, die religiöse Schwärmerei.16

Der durch Wahn und Schwärmerei Getriebene geht einer völlig abwegigen Idee nach, weil Gott als der der Welt Enthobene keine Entität ist, auf die der Mensch Einfluss nehmen könnte.17 Zur Rechtfertigung ist es allein angemessen, alles von Gott zu erwarten. Der Mensch von sich aus kann nichts tun, wodurch er ihn zwingen könnte.18 Um der angesprochenen finsteren Schwärmerei zu entgehen, ist eine Befreiung des Subjekts aus seiner totalen Unsicherheit über den eigenen moralischen Zustand nötig. Kant meint nun, es sei „vermuthungsweise“19 möglich, die eigene moralische Verfassung auszumachen. Die Vermutung basiert auf der Wahrnehmung stetiger Besserung über einen langen Zeitraum an sich selbst oder an Anderen. Grundlage der Vermutung ist die Beobachtung der sinnlichen Handlungen. Der Schluss von empirischen Handlungen auf die sittliche Qualität ist möglich vermöge der schon vorgestellten Theorie der Typik20 der Idee Sittlichkeit. Der Typus des Sittengesetzes ist ein Verstandesgesetz mit dem Vorzug, sowohl der Idee Sittengesetz als auch sinnlichen Handlungen kommensurabel zu sein. Die Urteilskraft befragt den Typus anwendend eine sinnlich erscheinende Handlung darauf, ob sie zugleich auch eine solche des sittlichen Willens sein könnte. Ist dies 14

I. KANT: Rel., 68 (Hervorhebung im Original). I. KANT: Rel., 68. 16 I. KANT: Rel., 174f (Hervorhebungen im Original). 17 Vgl. dazu I. KANT: Rel., 154 Anm. Dort heißt es: „Es giebt keine besondere Pflichten gegen Gott in einer allgemeinen Religion; denn Gott kann von uns nichts empfangen, wir können auf und für ihn nicht wirken.“ 18 In I. KANT: Rel., 174 heißt es: „[D]enn wir können weder einen übersinnlichen Gegenstand in der Erfahrung irgend woran kennen, noch weniger auf ihn Einfluß haben, um ihn zu uns herabzuziehen, wenn gleich sich im Gemüth bisweilen aufs Moralische hinwirkende Bewegungen ereignen, die man sich nicht erklären kann.“ Einige Sätze später findet sich Folgendes: „Zu glauben, daß es Gnadenwirkungen geben könne und vielleicht zur Ergänzung der Unvollkommenheit unserer Tugendbestrebung auch geben müsse, ist alles, was wir davon sagen können.“ 19 Kant: Rel., 68. 20 Vgl. dazu den Abschnitt 4.3.2. 15

202

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der Fall, stellt die Handlung das Symbol des Sittengesetzes dar.21 Freilich ist nicht eindeutig auszumachen, ob eine solche Handlung tatsächlich auf einen guten Willen zurückgeht. Denn möglicherweise liegt ihr eine böse Maxime zu Grunde, und sie erscheint in der Sinnenwelt bloß so, als ob sie einem guten Willen folgt. Dies ist denkbar, weil nicht unmittelbar Kongruenz zwischen der Qualität des Willens und der aus ihm folgenden Handlung vorliegen muss.22 Der Schluss von einer sinnlichen Handlung auf die ihm vorausliegende Maxime ist problematisch, weil nicht eindeutig von der Tat auf die Qualität ihrer Maxime geschlossen werden kann. Da das Subjekt sich in seiner Selbstbeurteilung nur auf die Beobachtung seiner Handlungen stützen kann, kann die Qualität der Metamaxime nur im Sinne der Wahrscheinlichkeit erschlossen werden. Je mehr Handlungen dem Typus Sittengesetz entsprechen, desto wahrscheinlicher ist eine tatsächlich erfolgte Besserung. Im Umkehrschluss ist die Vorstellung, eine Vielzahl aufeinander folgender Handlungen sei bloß zufällig symbolische Darstellung des Sittengesetzes, immer unwahrscheinlicher, je größer die Anzahl der beobachteten Handlungen ist. Die Wahrscheinlichkeit der Wahrheit der Selbstbeurteilung steigt demnach mit der Menge der an sich beobachteten Handlungen – letzte Sicherheit lässt sich dabei indes nicht erreichen. Auf diese Weise kann aber doch prospektiv die eigene Zukunft zumindest ahnend entworfen werden. Denn wo jemand „ein genugsam langes Leben“ an sich einen zum immer Besseren fortschreitenden Lebenswandel, wahrgenommen hat und daraus auf eine gründliche Besserung in seiner Gesinnung […] vermuthungsweise zu schließen Anlaß findet, kann [er] doch auch vernünftigerweise hoffen, dass […] er in diesem Erdenleben diese Bahn nicht mehr verlassen, sondern immer noch muthiger darauf fortrücken werde.23

Wenn nämlich mit dem Rechtfertigungsglauben die oberste Maxime eine revolutionäre Wende erfährt, kann diese sich in ihrem gebesserten Zustand, je länger dieser Bestand hat, je intensiver auf die ihr untergeordneten Maximen auswirken. Diese werden nur allmählich zum Guten gewendet, weil sie eine gewisse Beständigkeit aufweisen. Sind sie allerdings einmal gewendet, werden sie auch im neuen Zustand der Bonität Beharrlichkeit durch die Zeit aufweisen. Auf diese Weise ist ein allmählicher Heiligungsprozess denkbar, dessen Resultate nicht jedes Mal zunichte gemacht wer21

Vgl. dazu die Ausführungen oben im Rechtfertigungskapitel (4). I. KANT hatte schon in der Grundlegung darauf hingewiesen, dass ein guter Wille nicht notwendig auch gute Handlungen zeitigen muss, denn die Kräfte der Welt, in die hinein der Wille sich zu wirken anschickt, sind nicht vollständig in des Menschen Hand, so dass möglicherweise einem Willen das Vermögen fehlt, seine Absichten durchzusetzen (Vgl. GMS, 394). 23 I. KANT: Rel., 68. 22

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den, sobald der Angefochtene aus dem Glauben fällt. Die Erfahrung der Anfechtung, sei es als Glaubenszweifel oder als dogmatischer Unglaube, führt zwar jeweils aufs Neue zu einer bösen Metamaxime, ohne allerdings dabei alle Fortschritte der Heiligung, wie sie in den untergeordneten Maximen erreicht worden sind, rückgängig zu machen. Ist aber der Unglaube die das Subjekt zumeist bestimmende Haltung, wird sich an ihm kaum ein Heiligungsprozess ausmachen lassen, da sodann zu überwiegender Zeit eine böse Metamaxime Einfluss auf die ihr untergeordneten Handlungsprinzipien (Maximen) hat. Die Fortschreibung der Heiligung ist überhaupt nur denkbar, wenn das Subjekt sich im Stand des Glaubens an die Rechtfertigung befindet. Bisher ist der Heiligungsprozess des Individuums lediglich unter der Maßgabe zur Sprache gekommen, dass das Subjekt sich noch im irdischen Leben befindet. Die eigentliche Vollendung wird bei Kant allerdings erst im Jenseits erwartet. 5.1.2 Der moralische Progress des Subjekts zum heiligen Willen im Eschaton Zur moralischen Vollendung des Menschen im Sinne der Heiligkeit bedarf es der Unsterblichkeit seiner Seele. Denn unter Heiligkeit ist die vollständige Angemessenheit des Selbstvollzugs eines Subjekts zu der Forderung des Sittengesetzes zu verstehen, wozu die durchgängige Übereinstimmung sowohl der obersten als auch aller anderen Maximen mit dem moralischen Gesetz erforderlich ist. Kant konstatiert, dass dazu „kein vernünftiges Wesen der Sinnenwelt in keinem Zeitpunkte seines Daseins fähig ist.“24 Der Mensch wird von ihm in einer Weise grundsätzlich verderbt taxiert, welche die Verwirklichung von ungetrübter Bonität unter irdischen Bedingungen ausschließt25, weil er zu weit von der Gottebenbildlichkeit entfernt ist. Wenn Kant deshalb die Unsterblichkeit der Seele als Postulat einführt, um die vollständige Beseitigung aller moralischen Mängel denkbar zu machen, sind dabei einige weitere Bestimmungen vorausgesetzt. Es muss zum einen Kontinuität oder Selbigkeit zwischen der moralischen Entität vor und nach dem Tod geben, um Identität zwischen dem Irdischen und dem 24

I. KANT: KpV, A 220. Zwei Gründe sind nach dem zuvor Gesagten für die beständige Verfehlung des Sittengesetzes auch nach einer Besserung der Urmaxime denkbar. Einerseits kann der Heiligungsprozess ins Stocken geraten oder gar umgekehrt werden, weil die Urmaxime ständig in den Stand der Sünde zurückfällt und schon deshalb der Progress zum Besseren immer wieder unterbrochen wird. Zweitens ist denkbar, dass der Zeitraum eines Menschenlebens nicht ausreicht, alle Lebensbereiche, für die es Maximen gibt, zu wandeln, weil Tugendbildung ein zähes Geschäft ist. 25

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Auferstandenen gewährleisten zu können.26 Nur unter der Maßgabe, dass moralische Entwicklung die Modifikation an einem mit sich selbst Identischen ist, macht die Idee der eigenen Vollendung Sinn. Um darüber hinaus die Vollendung der eigenen singulären Persönlichkeit denken zu können, muss diese sich auch im Jenseits von anderem unterscheiden. Unter irdischen Bedingungen ist Individualität, auch moralische Individualität, an die Körperlichkeit gebunden. Räumliche Verortung eines Leibes ist unhintergehbare Voraussetzung für die moralische Unverwechselbarkeit einer Person, weil sie nur vermöge ihres Körpers in bestimmten Handlungssituationen an einem bestimmten Ort steht.27 Fraglich ist nun, wie Individualität unter dieser Voraussetzung in einer übersinnlichen Welt möglich sein soll. Kant ist es nämlich schlechterdings nicht vorstellbar, dass die Auferstehung die Fortdauer des materialen Leibes bedeutet, vielmehr füge sich „die Hypothese des Spiritualismus vernünftiger Weltwesen, wo der Körper todt in der Erde bleib[t] und doch dieselbe Person lebend da“28 ist, besser zu der Idee eines ewigen Lebens. Diejenigen Bestandteile, die Individualität verbürgen und ein Subjekt unterscheidbar von anderen machen, müssten noumenaler Art sein, wenn materiale Auferstehung ausgeschlossen ist. Wie aber soll es möglich sein, subjektive Einzigartigkeit ohne Körper zu haben? Individualität ist unter derartigen Bedingungen nur denkbar, wenn das Subjekt sich auch im Eschaton unterschieden weiß von anderen Subjekten und Objekten – es muss in einer noumenalen Umwelt stehen. Eine derart gedachte Welt ist wegen ihrer Körperlosigkeit allerdings nicht durch räumliches Nebeneinander geordnet, muss aber doch die Abgrenzung von Einzelnem gegen anderes Einzelnes ermöglichen. Moraltheoretisch ausgedrückt bedeutet dies, 26

I. KANT postuliert die fortdauernde „Existenz und Persönlichkeit desselben vernünftigen Wesens“ in: KpV, A 220 (Hervorhebungen im Original). 27 Dies ist eine Einsicht, die im 19. Jh. bei W. Herrmann und sodann bei R. Bultmann ausdrücklich zur Sprache gekommen ist. So erklärt W. HERRMANN, das sittliche Gesetz gebe dem Wollen eine Form, die überindividuell ist (Ethik, § 11, 45). Und R. Bultmann hält fest, dass jedes überindividuelle Prinzip nur Sinn macht, indem es auf die Natur des Menschen einwirkt, so dass dieser sich in der Spannung zwischen Geist und Natur sieht (R. BULTMANN: Religion und Kultur, 24f). Bei Herrmann war diese Spannung noch zur Sprache gekommen als zwei Prinzipien, die im Kampf miteinander zur sittlichen Entwicklung des Menschen führen: nämlich die Natur des Menschen und das Prinzip Sittlichkeit, welches sich nach Herrmann im Anschluss an Kant durch strenge Allgemeinheit auszeichnet. Sowohl Herrmann als auch Bultmann meinen nun, die Bewusstwerdung dieser Spannung bedeutet das Gewahrwerden erstens der eigenen Individualität und zweitens der Tatsache, dass das Ich ein lebendiges Ich ist, was näher meint, dass es über seinen gegenwärtigen (sittlichen oder kulturellen Zustand) hinausdrängt. Erst so wird der Mensch sich als eines „lebendigen Ich“ bewusst (R. BULTMANN: Religion und Kultur, 25. Vgl. auch W. HERRMANN: Ethik § 13). Unhintergehbare Voraussetzung für derartiges Bewusstsein von Individualität ist die Korrelation von individuierender Natur und überindividueller sittlicher Forderung. 28 I. KANT: Rel., 128 Anm.

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dass Individuen auch im Jenseits erstens in bestimmten Handlungssituationen stehen und zweitens von subjektivem Glücksverlangen umgetrieben sind.29 Auch zur Ordnung des zeitlichen Nacheinanders muss es ein Analogon im Eschaton geben. Die Persönlichkeit soll sich im Jenseits nämlich durch einen moralischen Progress auszeichnen, der unendlich fortwährt und zur Vollendung des Subjekts führt, womit aber ein Abschluss der Modifikationen impliziert ist. Diese zuletzt genannte Widersprüchlichkeit löst sich nur auf, wenn man sich von der Vorstellung löst, mit dem Begriff der unendlichen Fortdauer der Seele lasse sich die infinite Fortsetzung der Zeitreihe verbinden. „[D]enn da käme ja der Mensch nie aus der Zeit heraus, sondern ginge nur immer aus einer in die andre fort.“30 Die Fortdauer der individuierten Seele muss folglich unzeitlich gedacht werden, wobei die Zeitlosigkeit einen Progress, der zu einem Abschluss kommt, nicht ausschließen darf, weil derartiger Fortschritt zur Vollendung notwendig ist. Beide Gedankenkonstrukte – sowohl das nichträumliche Nebeneinanders als auch die unzeitliche Fortdauer und Entwicklung – stellen eine nicht unerhebliche Schwierigkeit für die Vorstellungskraft dar. Die Forderung einer unzeitlichen und raumlosen Fortsetzung der persönlichen Individualität nach dem Tod erscheint nämlich der Einbildungskraft als barer Unsinn. So ergibt das Geforderte bloß als der Begriff einer „duratio Noumenon“ Sinn.31 Sich eine Vorstellung von der Existenz nach dem Tod machen zu wollen, ist verschwendete Mühe, weil die dazu erforderliche Einbildungskraft nur unter den Bedingungen irdischer Endlichkeit angemessen agieren kann. Sie liefert ausschließlich solche Vorstellungen, in denen es ein zeitliches und räumliches Nach- und Nebeneinander gibt. Einen unendli-

29 Individualität im Sinne I. KANTs ist also streng genommen nicht an die sinnliche Körperlichkeit gebunden, sondern an das Vermögen, Empfindungen zu haben, die rein subjektiv sind, wie es beispielsweise Lust oder Unlust sind. Vgl. KpV, A § 3, wo Lust nicht an Körperlichkeit gebunden wird, auch wenn das moralische Prinzip, das der Lustbeförderung dient, bei Kant häufig sinnliches Prinzip heiß. Der Begriff der Sinnlichkeit wird von Kant aber nicht im Sinne der Körperlichkeit oder Materialität gebraucht, sondern um darauf aufmerksam zu machen, dass das Sinnenvermögen als Gefühl der Lust das Handlungsprinzip abgegeben hat, wenn eine Handlungsmotivation rein subjektiv war. Es heißt in demselben Paragraphen: „Die Lust aus der Vorstellung der Existenz einer Sache, so fern sie ein Bestimmungsgrund des Begehrens dieser Sache sein soll, gründet sich auf der Empfänglichkeit des Subjekts, weil sie von dem Dasein eines Gegenstandes abhängt; mithin gehört sie dem Sinne (Gefühl) und nicht dem Verstande an.“ (KpV, A 40, Hervorhebungen im Original). Vgl. dazu insgesamt auch die Erläuterungen in der Anmerkung I zu KpV, A § 3. 30 I. KANT: Das Ende aller Dinge, 327. 31 So nennt I. KANT die intendierte unzeitliche Größe in: Das Ende aller Dinge, 327. Vgl. zur für die Einbildungskraft „empörende[n] Vorstellung“ von dem Ende der Zeit: Das Ende aller Dinge, 334.

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chen Progress, der dennoch abgeschlossen wird, kann die Einbildungskraft nicht darstellen, weil er eine jenseitige Welt betrifft: Indem wir nun den Übergang aus der Zeit in die Ewigkeit […] verfolgen, stoßen wir auf das Ende aller Dinge als Zeitwesen und als Gegenstände möglicher Erfahrung: welches Ende aber in der moralischen Ordnung der Zwecke zugleich der Anfang einer Fortdauer eben dieser als übersinnlicher, folglich nicht unter Zeitbedingungen stehender Wesen ist, die also und deren Zustand keiner andern als moralischer Bestimmung ihrer Beschaffenheit fähig sein wird.32

Wie die Fortdauer des noumenalen Anteils des Menschen sich ausnimmt, kann folglich nicht angeschaut, sondern nur gedacht werden. Aus Gründen der praktischen Vernunft sind diese Gedanken allerdings unumgänglich, denn ohne die unendliche Fortdauer des Individuums könnte es nicht vollendet werden. Kants gedanklicher Entwurf des Jenseits geht aber noch weiter. Er gibt über das Beschriebene hinaus der Vorstellung eines göttlichen Gerichts, das beim Eintritt ins Eschaton stattfindet, Ausdruck. Der jüngste Tag am Übergang von der Zeit zur Ewigkeit ist danach „Ablegung der Rechnung der Menschen von ihrem Verhalten in ihrer ganzen Lebenszeit. Er ist ein Gerichtstag; das Begnadigungs= oder Verdammungs= Urtheil des Weltrichters ist also das eigentliche Ende aller Dinge in der Zeit und zugleich der Anfang der (seligen oder unseligen) Ewigkeit.“33 Gott wird als Richter vorgestellt, der über die Zukunft des Individuums im Jenseits entscheidet. Zwei Wege der Entwicklung kann das Subjekt nach dem Gericht nehmen: entweder den zur Seligkeit, wenn es erwählt wird, oder den der Unseligkeit bei Verwerfung. Der Akt der Erwählung oder Verwerfung wirkt sich im Subjekt aus, indem ihm die Metamaxime entweder zum Bösen oder Guten festgestellt wird. Im besseren Fall wird dabei eine gute oberste Maxime fixiert, an die sich die Restperson im unendlichen Progress annähert: Die Regel des praktischen Gebrauchs der Vernunft dieser Idee [einer zeitlosen Welt] gemäß will also nichts weiter sagen als: wir müssen unsere Maxime so nehmen, als ob bei allen ins Unendliche gehenden Verändrungen vom Guten zum Bessern unser moralischer Zustand der Gesinnung nach […] gar keinem Zeitwechsel unterworfen wäre.34

Die Fixierung der Qualität der obersten Maxime ist Bedingung der Möglichkeit für die Vollendung, weil nur so eine lineare Annährung des Cha32

I. KANT: Das Ende aller Dinge, 327 (Hervorhebungen im Original). Vgl. auch Kants Bemerkung, nach der „die Idee eines Endes aller Dinge ihren Ursprung nicht von dem Vernünfteln über den physischen, sondern über den moralischen Lauf der Dinge in der Welt hernimmt und dadurch allein veranlaßt wird.“ (Das Ende aller Dinge, 328, Hervorhebung im Original). 33 I. KANT: Das Ende aller Dinge, 328. 34 I. KANT: Das Ende aller Dinge, 334.

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rakters der Person an ihre Qualität möglich ist. Das Ziel ist dann erreicht, wenn die moralische Qualität des gesamten Handlungscharakters mit der der Metamaxime kongruent ist. Das Gerichtsurteil entscheidet demnach über das unendliche Schicksal der Person, weil bei unveränderlicher Urmaxime sich die Restperson an deren Qualität unweigerlich annähert. Der moralische Weltenrichter wird sich bei seinem Urteil nach der moralischen Qualität des Menschen während seines irdischen Lebens richten: [D]er welcher selbst bei oft versuchtem Vorsatze zum Guten dennoch niemals fand, daß er dabei Stand hielt und, der immer ins Böse zurückfiel, oder wohl gar im Fortgange seines Lebens an sich wahrnehmen musste, aus dem Bösen ins Ärgere gleichsam als auf einem Abhange immer tiefer gefallen zu sein, vernünftigerweise sich keine Hoffnung machen kann, daß, wenn er noch länger hier zu leben hätte, oder ihm auch ein künftiges Leben bevorstände, er es besser machen werde, weil er bei solchen Anzeigen das Verderben in seiner Gesinnung gewurzelt ansehen müsste.35

Dies bedeutet nach Kant die Voraussicht auf ein „unabsehliches Elend“ und eine „unselige Ewigkeit.36 M.a.W. ist auch die ewige Verwerfung eine der praktischen Vernunft angemessene Idee. Die ihr entgegengesetzte Vorstellung von der möglichen Vollendung zur Heiligkeit kann sich nur derjenige erhoffen, der für sich schon im irdischen Leben eine überwiegend gebesserte Urmaxime als wahrscheinlich annehmen kann.37 Die Annahme eines Gerichtsurteils ist also Ausdruck der Extrapolation der irdischen Entwicklung eines Subjekts in die Unendlichkeit. Die Vollendung zum Guten kann gedacht werden als Vollendung zu ewiger Ruhe. Der Gottebenbildliche strebt keine moralische Selbsttransfor35

I. KANT: Rel., 68f. Beide Zitate: I. KANT: Rel., 68 (Hervorhebungen im Original). 37 Es soll an dieser Stelle dem Vorbild Kants folgend eine weitere Warnung erfolgen, die den Status solcher Aussagen betrifft. Sie sind erstens notwendige logische Folgerungen der praktischen Vernunft, und der Gehalt der Aussagen, die eine derartig postulierte Ewigkeit betreffen, kann nur geglaubt, nicht aber gewusst werden. Zweitens ist schon weiter oben deutlich geworden, dass solche Schlüsse vom empirischen Erscheinungsbild eines Menschen auf seine Maxime nur vermittelst der Typenlehre möglich sind und, weil sie auf diese Weise versuchen den Zustand der Metamaxime zu erschließen, bloß Wahrscheinlichkeit für sich beanspruchen können. Sie können aber keinesfalls Sicherheit über den eigenen moralischen Zustand verschaffen, denn ein vermeintlich guter Lebenswandel könnte als solcher bloß erscheinen. „Denn welcher Mensch kennt sich selbst, wer kennt Andre so durch und durch, um zu entscheiden: ob, wenn er von den Ursachen seines vermeintlich wohlgeführten Lebenswandels alles, was man Verdienst des Glücks nennt, als sein angebornes gutartiges Temperament, die natürliche größere Stärke seiner obern Kräfte (des Verstandes und der Vernunft, um seine Triebe zu zähmen), überdem auch noch die Gelegenheit, wo ihm der Zufall glücklicherweise viele Versuchungen ersparte, die einen Andern trafen; wenn er dies Alles von seinem wirklichen Charakter absonderte […]; wer will dann entscheiden, sage ich, ob vor dem allsehenden Auge eines Weltrichters ein Mensch seinem innern moralischen Werthe nach überall noch irgend einen Vorzug vor dem andern habe.“ (I. KANT: Das Ende aller Dinge, 329f). 36

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mation mehr an, weil es keine weitere Nötigung dazu gibt. Er ist per se zufrieden mit seinem moralischen Zustand. Das ist allerdings nicht gleichbedeutend mit totalem Stillstand im Sinne von Erlebnislosigkeit. Denn die noumenale Objektwelt um den Vollendenten kann sich sehr wohl verändern, und er kann in dieser auch Handlungen vollziehen, allerdings immer unter der Voraussetzung, dabei seine Moralität nicht anzutasten. Der ewig Verworfene hingegen wird nicht zur Ruhe kommen. Die ihn ausmachende moralische Diskrepanz zwischen Sein und Sollen bleibt ihm beständig bewusst. Jeder Zustand der Unvollkommenheit, ist ein Zustand, mit dem sich „Zufriedenheit nicht verbinden“38 lässt, weil ständig der Anspruch des Sittengesetzes auf das Subjekt einwirkt, dem es aber nie nachzukommen vermag. Um es zusammenzufassen: Man wird sich den unendlichen Progress zur Heiligkeit als eine unzeitliche Veränderung des Subjekts im Eschaton zu denken haben, deren Kausalitäten nicht bekannt sein können, an deren Ende aber die Vollendung der moralischen Persönlichkeit steht. Die Vollendung zur Gottebenbildlichkeit schließt den Progress ab, denn bei ihrer Realisierung bedarf es keiner weiteren Entwicklung der sittlichen Persönlichkeit. Sie ist das, was sie sein soll. Ihr gehen dabei keinesfalls ihre individuellen Merkmale verloren. Eine vollendete Person unterscheidet sich von anderen Vollendeten zwar moralisch formal nicht mehr. Jede zum Guten vollendete Person vollzieht sich sittengesetzlich. Moralisch Vollendete bleiben aber auch im Stand der Vollendung Individuen, die sich von anderen abgrenzen, weil sie je auf ihre Weise das Prinzip Moralität zur Darstellung bringen – und dies bedeutet willenstheoretisch ausgedrückt: Jeder Vollendete steht in einer bestimmten Handlungssituation, die dem Willen sein bestimmtes Objekt gibt. Der im Jenseits Vollendete steht deshalb nicht in einer ereignislosen Welt, sondern erlebt sich weiterhin als von anderen und anderem Unterschiedener. Ein zur Gottebenbildlichkeit vollendetes Individuum hat dabei aber eo ipso einen guten Willen, weil sein gesamtes Maximengefüge moralisch gut ist, so dass es sich selbst moralisch nicht mehr über sich hinaus modifizieren muss. Es ist allerdings nicht für jedermann angemessen, sich einen solchen zur Heiligkeit führenden Prozess erhoffen zu können. Denn das Gelingen dieser Entwicklung ist der menschlichen Vorstellung gemäß von der Beständigkeit der Urmaxime im Guten abhängig. Ihre Qualität lässt sich im irdischen Leben wie beschrieben nur problematisch an einer möglichst großen Anzahl von sinnlichen Handlungen ablesen. Findet sich dabei, dass jemand an sich nichts ausmachen kann als das beständige Verfehlen des Typus des Sittengesetzes, so wird er nicht auf eine gute, sondern auf eine beständig böse 38

I. KANT: Das Ende aller Dinge, 335.

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Metamaxime an sich selbst schließen. Das aber lässt ihn auch für seine Zukunft in einem ewigen Leben nichts Gutes hoffen. Die Selbstdeutung extrapoliert den qualitativen Zustand der eigenen Metamaxime auf das ewige Leben so, dass sie als in ihrer Qualität festgestellt gilt.39 Würde dagegen die Metamaxime für das Eschaton ebenso wandelbar wie unter Zeitbedingungen gedacht, müsste sich mit jedem Wandel ein Rückschritt der Entwicklung vollziehen. Diese Vorstellung ist aber unvereinbar mit der Forderung des Sittengesetzes nach Vollendung. Kant meint, dem Gedanken von der Fixierung der Metamaxime werde durch die Vorstellung eines göttlichen Gerichtsurteils Ausdruck verschafft. 5.1.3 Die doppelte Vollendung zur Sittlichkeit und Glückseligkeit An dieser Stelle muss an den doppelten Anspruch, dem sich menschlicher Wille grundsätzlich ausgesetzt sieht, erinnert werden. Einerseits affiziert ihn das Sittengesetz durch die ihm anhängende Achtung, andererseits das Verlangen nach Glückseligkeit, das als Empfinden von Lust im weitesten Sinne zu verstehen ist. Der Entwurf einer eschatologischen Vollendung des Menschen im Jenseits, unterschreitet den Begriff des vollständigen höchsten Guts, wenn durch ihn nicht beiden Ansprüchen nachgekommen wird. Die bisherigen Ausführungen dieses Kapitels haben allerdings weitgehend isoliert von der Berücksichtigung des Glückseligkeitsverlangens bloß die moralische Vollendung zum Thema gehabt. Erst jetzt ist in einem weiteren Schritt zu bedenken, dass sich zu der moralischen Vollendung zugleich die Glückseligkeit des Subjekts fügen muss.40 Menschliches Leben hat das Ziel, Moralität und Glückseligkeit zu erreichen. Ob sich jemand dieses Telos in seiner Duplizität zu Eigen macht, ist dabei nicht seiner Beliebigkeit anheim gestellt, sondern es ist seine objektive Pflicht, es zu verfolgen und zu erreichen.41 39 Vgl. I. KANT: Das Ende aller Dinge, 330: „Denn wir sehen doch nichts vor uns, das uns von unserm Schicksal in einer künftigen Welt jetzt schon belehren könnte, als das Urtheil unsers eignen Gewissens, d.i. was unser gegenwärtiger moralischer Zustand, so weit wir ihn kennen, uns darüber vernünftigerweise urtheilen läßt.“ 40 Dass hier zunächst die moralische Vollendung und erst dann die Vollendung auch in Sachen Glückseligkeit in Betacht kommt, ist der Ordnung geschuldet, die die moralische Vernunft vorgibt; und die besagt, dass Bonität die logische Voraussetzung für den Anspruch auf Glückseligkeit ist. 41 Vgl. nur I. KANT: Rel., 61: „Zu diesem Ideal der moralischen Vollkommenheit, d.i. dem Urbilde der sittlichen Gesinnung in ihrer ganzen Lauterkeit, uns zu erheben, ist nun allgemeine Menschenpflicht, wozu uns auch diese Idee selbst, welche von der Vernunft uns zur Nachstrebung vorgelegt wird, Kraft geben kann.“ (Hervorhebung im Original). Ganz in diesem Sinne auch schon I. KANT: KpV, A 204, wo nicht nur deutlich wird, dass die Verwirklichung des höchsten Guts Pflicht ist, sondern dieses auch aus den genannten zwei Bestandteilen besteht: „In dem höchsten für uns praktischen, d.i. durch unsern Willen wirklich zu machenden, Gute werden Tugend und

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Wird unter Glück das ununterbrochene Ausbleiben von Übeln oder das beständige Bewusstsein von Annehmlichkeit verstanden, so kann sich dieser Zustand keinesfalls unmittelbar einstellen, weil das Subjekt sich moralisch vollzieht. Das Prinzip Moralität lässt ohne Rücksicht darauf handeln, ob subjektive Annehmlichkeit Implikat derselben Handlung ist.42 Die Fähigkeit beides zugleich zu realisieren, geht dem Menschen ab. Denn dazu müsste es ihm möglich sein, die (jenseitige) Welt in ihrer Kausalität so einzurichten, dass ihr Verlauf immer dann, wenn er sich moralisch vollzieht, gleichzeitig sein Glücksverlangen befriedigt. Es liegt allerdings nicht in seiner Macht, die Welt, „was seine Glückseligkeit betrifft, mit seinen praktischen Grundsätzen aus eigenen Kräften […] einstimmig“43 zu machen, weil er als Teil der (jenseitigen) Welt mit ihr in Wechselwirkung steht und deshalb auch in einem Abhängigkeitsverhältnis von ihr. Er befindet sich in Kausalitäten, auf deren Ursachen er nicht unumschränkten Einfluss hat, denen er sich vielmehr auch fügen muss. Das gilt nicht nur von der diesseitigen, sondern auch von der gedachten jenseitigen Welt. Weil die Welt in ihrer Totalität nicht Geschöpf des Menschen ist, verlaufen ihre Kausalitäten nur eingeschränkt nach seinen Wünschen. Zur Umgestaltung der Natur, durch die sie dem Menschen bei moralischem Verhalten Glückseligkeit bereitstellt, ist der Mensch deshalb nicht fähig.44 Uneingeschränkte und unaufhörliche Glückseligkeit ist für endliche Wesen, die sich moralisch vollziehen, nur dann möglich, wenn ein allmächtiges Wesen sie ihnen zukommen lässt, indem es die Kausalitäten, in denen Glückseligkeit als nothwendig verbunden gedacht, so daß das eine durch reine praktische Vernunft nicht angenommen werden kann, ohne daß das andere auch zu ihm gehöre.“ 42 I. KANT stellt fest, dass gilt: „Also ist in dem moralischen Gesetze nicht der mindeste Grund zu einem nothwendigen Zusammenhang zwischen Sittlichkeit und der ihr proportionirten Glückseligkeit eines zur Welt als Theil gehörigen und daher von ihr abhängigen Wesens.“ (KpV, A 224. Hervorhebung durch A.H.). Das ist so, weil das Gesetz der Freiheit nicht darauf Rücksicht nimmt, ob es eine Übereinstimmung der Natur zu subjektiven Bedürfnissen herstellt. Nun ist in der Tat diskutabel, was Kant hier unter Welt und Natur versteht. Man kann die Ausführungen in KpV so deuten, als würden sie sich bloß auf die irdische Welt beziehen. Dann wären alle Aussagen aus KpV, A 223–238 auf eine Vollendung der Welt im Sinne des Reiches Gottes auf Erden zu beziehen und nicht auf die Vollendung von Individuen, die nur in einem Jenseits denkbar ist. Man muss Kant allerdings nicht so lesen, und es gibt äußere Gründe für eine Lesart, die die genannte Stelle auch auf die Vollendung eines Individuums in einer anderen Welt bezieht. Die fragliche Stelle folgt nämlich direkt auf die Ausführungen zur Unsterblichkeit der Seele (KpV, A 219–224), die eindeutig ein Fortbestehen des Individuums im Jenseits ins Auge fassen. Die hier vorgelegte Deutung geht also davon aus, dass alle Aussagen Kants zur Eschatologie sowohl für das Individuum als auch für die Gattung gelten, die zwar zwei nominal zu unterscheidende Entwicklungen durchmachen, die aber doch in ihrer Art ganz analog verlaufen. Das heißt außerdem, dass alle Aussagen aus der KpV zum Einklang von Moralität und Glückseligkeit sich auch auf eine zukünftige Entwicklung des Individuums beziehen lassen und also die Begriffe Natur, Welt und andere dieser Art auch eine zukünftige Welt betreffen können. 43 I. KANT: KpV, A 224. 44 Vgl. I. KANT: KpV, A 224f.

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das Wesen steht, entsprechend bestimmt. Dieses allmächtige Wesen ist Gott als Urheber und Ursache der (jenseitigen) Welt.45 Gottes Personsein zeichnet sich dem Postulat der praktischen Vernunft gemäß dadurch aus, dass er „eine der moralischen Gesinnung gemäße Causalität hat“46, mithin einen persönlichen Willen, der erstens allmächtig und zweitens uneingeschränkt moralisch gut ist. Seine Gerechtigkeit wird im Eschaton nur dem Glückseligkeit zukommen lassen, der sich auch moralisch vollendet.47 Dabei handelt es sich nicht allein um moralische Glückseligkeit, die sich ohnehin dann einstellt, wenn sich das Subjekt zum Guten vollendet, die aber zur vollendeten Vollkommenheit nicht ausreicht. Vielmehr bedarf es dazu der Befriedigung aller subjektiven Bedürfnisse. Die Bedürfnislage des Subjekts ist aber nicht vollständig erfasst, wenn man sie auf das moralische Glück reduziert.48 Dementsprechend ist für den Verworfenen nicht allein moralische Unglückseligkeit abzusehen, sondern auch beständiges sinnliches Unglück.49 Derjenige nämlich, der an sich im irdischen Leben keine Besserung seiner Sittlichkeit beobachten konnte, wird bei Extrapolation dieser Entwicklung die Angleichung seiner Gesamtpersönlichkeit an seine vorwiegend krankhafte Metamaxime absehen. Das Resultat wäre ein durch und durch schlechter Mensch, der von Gott nichts zu erwarten hat als Strafe für seine Bösartigkeit.50 Der zum Guten Vollendete wird doppelt glücklich werden, während der Verworfene bei seiner Vollendung doppelt unglücklich vorzustellen ist.

45

Vgl. I. KANT: KpV, A 225f. I. KANT: KpV, A 225. 47 Vgl. zum Gedankengang insgesamt die Ausführungen zum Postulat Gottes in I. KANT: KpV, A 223–241. Dort wird deutlich, dass Kant in den Postulaten des Reiches Gottes und des Daseins Gottes keine willkürlichen Setzungen, sondern subjektiv moralische Notwendigkeit gesehen hat (vgl. insbesondere KpV, A 226). Subjektiv (und also nicht objektiv) notwendig heißen die Postulate, weil sie nicht vorausgesetzt werden müssen, um zu wissen, was Pflicht ist, sondern vielmehr dem Pflichtbegriff nachgehen. Im Übrigen lässt sich am genannten Abschnitt gut ablesen, dass Kant subjektive Glückseligkeit nur auf synthetische Weise mit Moralität verbunden wissen wollte. Denn das gesamte Postulat des Daseins Gottes hat seinen Sinn überhaupt nur darin, die synthetische Verbindung zwischen Moralität und Glückseligkeit eines Subjekts zu ermöglichen. Vgl. dazu insbesondere KpV, A 224f. 48 Vgl. I. KANT: KpV, A 231: „Aber das moralische Gesetz für sich verheißt doch keine Glückseligkeit; denn diese ist nach Begriffen von einer Naturordnung überhaupt mit der Befolgung desselben nicht nothwendig verbunden.“ (Hervorhebung im Original) 49 Vgl. I. KANT: Rel., 68–71 und insbesondere 69–70, Anm. 50 Vgl. die Anmerkung I. KANTs in: Rel., 161f, wo derartige Vergeltung als praktisch vernünftig ausgewiesen wird. Die angegebene Stelle hat zwar Belohnung für gute Taten im Blick, es kann aber leicht der Umkehrschluss auf Vergeltung für ein bösartiges Leben gezogen werden. 46

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5.1.4 Die bleibende Bedeutung des Gesetzes Im Verlauf des Heiligungsprozesses tritt das (göttliche) Gesetz in unterschiedlichen Funktionen auf. Zunächst zeigt es dem Menschen seine wahre Bestimmung an, wobei zugleich die Verfehlung dieser Bestimmung bewusst wird. Denn sobald der Anspruch des Gesetzes ungetrübt vernommen wird, muss der radikal Böse eine Differenz zwischen Sein und Sollen an sich feststellen. Die Erfahrung dieser Differenz lässt den Sünder sich selbst als erlösungsbedürftig wahrnehmen. Wird er darüber hinaus seiner eigenen Unfähigkeit zur Realisierung der Erlösung gewahr, wird er jede Besserung auf einen Gnadenakt Gottes zurückführen. Der usus elenchticus des Gesetzes gibt also den logischen Anfang des Heiligungsfortschritts ab. Dass Kants methodische Aufforderung dazu, dem Menschen seine Erhabenheit vermittelst Bewusstmachung des Gesetzes aufzuzeigen, funktionsäquivalent zu Luthers Verständnis von der Predigt des Gesetzes ist, ist oben hinreichend ausgeführt worden.51 Hier soll nun darüber hinaus auf die unhintergehbare Funktion des tertius usus legis für den Heiligungsprozess aufmerksam gemacht werden. Sie besteht darin, den Heiligungsfortschritt selbst zu begleiten. Zwar bedeutet die allmähliche Durchsetzung des Handlungsprinzips Christi im Subjekt die langsame Konstitution eines guten Charakters. Zu meinen, der gute Wille im derart erneuerten Menschen sei unangefochten, wäre allerdings eine Täuschung. Denn die Triebfeder der Selbstliebe ist durch ihre Domestizierung nicht auch ausgelöscht. Das natürliche Verlangen nach Glück macht sich durch die Triebfeder der Selbstliebe auch dann unablässig bemerkbar, wenn der Heiligungsprozess für einige Handlungsfelder eine Überbildung zum Guten erreicht hat. Der Gerechtfertigte und allmählich Gebesserte steht durchgehend in der Gefahr des Rückfalls. Das Gesetz hat bei der Durchsetzung des Handlungsprinzips Christi die Funktion, das Gute beständig bewusst zu machen, indem es einerseits weiterhin das Ziel der Heiligung vor Augen hält, andererseits das bisher erreichte Gut gegen Anfechtung affirmiert. Nach kantischer Theorie ist das Fortschreiten zur Heiligkeit also nur unter ständiger Prätention des Gesetzes möglich. Es lässt sich rekonstruktiv der sogenannte zweite und dritte Gebrauch des Gesetzes für Kant behaupten, womit erneut eine Analogie zu Luther und dessen Verständnis des Gesetzes absehbar ist.52 Dass Luther einen 51

Vgl. den Abschnitt 3.6. Es wird hier der Einfachheit halber vom primus usus legis abgesehen. Es ließe sich aber wohl leicht zeigen, dass auch KANT einen Gesetzesgebrauch kennt, der zur Aufrechterhaltung der Ordnung dient. Man erinnere sich nur an die Rechtsphilosophie in MdS. Was hier zur Sprache kommt ist derjenige Gebrauch des Gesetzes, der die sittliche Vollendung oder Heiligung betrifft. In der Sprache der Reformatoren geht es also um den zweiten und dritten Gebrauch des Gesetzes. 52

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Gesetzesgebrauch kennt, der dem Menschen seine Bestimmung und an ihr seine reale Sündhaftigkeit aufzeigt, dürfte unumstritten sein. Der usus elenchticus führt dem Sünder nach Luther seine Erlösungsbedürftigkeit vor Augen, so dass er zum Evangelium und seiner Rechtfertigungsverheißung treibt. Kontrovers wird allerdings diskutiert, ob Luther eine Funktion des Gesetzes im Sinne des tertius usus vertritt. Man könnte die Rede von Christus als Ende des Gesetzes bei Luther so verstehen, als sei für den Gerechtfertigten das Gesetz ohne nötigenden Charakter.53 In diesem Fall hätte es auch keine Bedeutung für den Heiligungsprozess. Die imperativische Funktion des Gesetzes bei der Progression zum Guten wäre dann überflüssig, weil der Glaubende sich in spontaner Freiheit gut vollzöge.54 Dabei müsste ein Wille vorausgesetzt werden, der das göttlich Gebotene unangefochten befolgt. Es kann allerdings mit gutem Recht bezweifelt werden, dass Luther für den Glaubenden einen derartig vom Bösen unbehelligten Willen angenommen hat. Denn der Glaubende ist auch bei Luther noch nicht Vollendeter. Das neue Leben „ist und bleybt auff erden nur ein anheben und zu nehmen.“55 Wo aber der Anspruch der Sünde nicht gänzlich beseitigt ist, bedarf es des Gesetzes, und zwar nicht bloß in seiner anklagenden Funktion, sondern auch zur Lenkung des Heiligungsprozesses. Um es an einem Beispiel zu illustrieren, sei hier aus der Galaterbriefvorlesung von 1531 zitiert: Der Apostel ermahnt also die Christen ernstlich, daß sie, nachdem sie die reine Lehre von dem Glauben gehört und angenommen haben, auch die guten Werke üben. In den

53 Vgl. etwa O. RITSCHL: Dogmengeschichte II, 184–225. Ähnlich sieht es auch R. SEEBERG: Dogmengeschichte IV, 207, der zwar meint, das Gesetz habe nach Luther auch nach der Erlösung noch die Funktion der „Vermahnung und Vorhaltung.“ Es soll aber „seine Härte“ verloren haben und „wird mehr zu einer Mahnung.“ W. ELERT dagegen ist der Auffassung, dass unter den Dogmengeschichtlern weitgehend Übereinstimmung darüber herrsche, dass auch Luther den tertius usus legis gelehrt habe. Allerdings findet sich bei ihm der Hinweis auf einige „Nordische Theologen“, die genau dies bestreiten (W. ELERT: Eine theologische Fälschung, 168). Elert selbst will diesen Streit nicht entscheiden, weist allerdings nach, dass die Worte von „dreyerley brauch des gesetzs“, wie sie sich in WA 10/I,1, 456, 8, finden, eine Fälschung sind. 54 Vgl. W. JOEST: Gesetz und Evangelium, 21. Dort findet sich auch eine Fülle von Textbelegen. Allerdings weist auch Joest darauf hin, dass eine Lutherdeutung zu kurz greift, die meint, mit der Rechtfertigung verliere das Gesetz seine fordernde Funktion völlig, weil der Wille des Glaubenden und des Gesetzes eins geworden wären: „In dieselbe Richtung weisen die vielen Stellen, an denen Luther davon spricht, daß der Glaubende durch das Evangelium dazu geführt werde, das Gesetz liebzuhaben. Liebhaben kann ich nur jemanden, den ich in irgendeiner Weise noch vor mir sehe und mir gegenüber habe.“ (W. JOEST: Gesetz und Evangelium, 22). Vgl. dann auch die Ausführungen W. JOESTs in: Gesetz und Evangelium., 65–78 zur bleibenden Bedeutung des Gesetzes um der bleibenden Sünde willen. Joest vertritt dezidiert die Auffassung, es gäbe auch nach Luther eine Funktion des Gesetzes im Sinne des tertius usus. 55 M. LUTHER: Von der Freiheit eines Christenmenschen, WA 7, 30, 5f.

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Eschatologie

Gerechtfertigten bleiben ja die Reste der Sünde, die, wie von dem Glauben, so auch von den guten Werken abschrecken und wegtreiben.56

Diese restverbliebene Sünde ist der Grund dafür, so Luther, dass Paulus „ihrem Fleisch die Dienstbarkeit durchs Gesetz“ auferlegt. „Darum sollen sich die Frommen daran erinnern, daß sie wohl im Gewissen frei sind von dem Fluch des Gesetzes, von der Sünde und dem Tod und zwar um Christi willen, daß sie aber dem Leibe nach Knechte seien.“57 Auch der Lebensvollzug des schon Gerechtfertigten bedarf einer Ordnung durch das Gesetz, weil er in der Gefahr steht, dem Begehren des Fleisches nachzugeben.58 Dieser Analyse des Glaubenden gemäss, finden sich in Luthers Werk durchgehend59 Stellen, nach denen er dem Gesetz eine bleibende Bedeutung auch für den Gerechtfertigten zuschreibt.60 Das macht allein schon vor dem Hintergrund Sinn, dass Luther den Gerechten zugleich immer auch als Sünder verstanden hat. Es muss schließlich geklärt werden, wie sich zu dieser Feststellung reimt, dass Luther dem Glaubenden eingeräumt hat, er erfülle das Gesetz sponte und hilariter.61 Der Gerechtfertigte will das göttlich Gebotene aus freien Stücken tun, weil er liebt, was geboten ist. Das Gesetz verliert, so scheint es, gegen das eben Festgestellte, seinen imperativen Zwangscharakter. Die Diskrepanz ist nur unter der Annahme aufzulösen, dass sie durch

56

M. LUTHER: Galaterbrief-Auslegung 1531, 306 (WA 40/II, 67, 33–68, 12: „Admonet igitur Apostolus serio Christianos, ut, postquam puram doctrinam de fide audierint et acceperint, etiam vera opera exerceant, Manent enim etiam in iustificatis peccati reliquiae, quae, ut a fide, ita et a vere bonis operibus abhorrent et avocant.“). 57 Beide Zitate: M. LUTHER: Galaterbrief-Auslegung 1531, 304. (WA 40/II, 62, 13–16: Ne ergo, ut diximus, Christiani abutuntur hac libertate imponit Apostolus carni eorum servitutem per legem de mutua dilectione. Quare meminerint pii, se in conscientia coram Deo esse liberos a legis maledicto, a peccato et morte propter Christum, corpore autem esse servos.“). Es lassen sich eben dort (Galaterbrief-Auslegung, 304–307=WA 40/II, 61–69) eine Vielzahl von Stellen finden, die allesamt auf Folgendes hinauslaufen: Luther kennt neben dem usus elenchticus eine Funktion des Gesetzes, die den Lebensvollzug nach der Rechtfertigung ordnet. Dabei fasst Luther mit Paulus diese Gesetzesfunktion zusammen im Gebot der Nächstenliebe. 58 Dass Fleischeslust für M. LUTHER nicht nur die sinnliche Lust bedeutet, wird deutlich in: Galaterbrief-Auslegung 1531, 323–326. (WA 40/II, 107–116). Vgl. auch K. HOLL: Die Rechtfertigungslehre in Luthers Vorlesung über den Römerbrief, 137. Das, was den Glaubenden anficht, ist seine Ich- oder Selbstsucht in jeder Form. 59 Und das heißt ausdrücklich sowohl in seinen Früh- als auch in seinen Spätschriften. 60 So das Urteil W. JOESTs in: Gesetz und Evangelium, 77f. M. LUTHER verwendet den Begriff eines tertius usus legis nicht direkt, sondern umschreibt das der Sache nach Gemeinte jeweils. In WA 39 I, 485, 14ff findet sich zwar die Nennung von drei usus des Gesetzes. Dabei handelt es sich allerdings nicht um originäres Luthermaterial, sondern diese Aufzählung geht auf Melanchthon zurück. Vgl. W. ELERT: Eine theologische Fälschung, und W. JOEST: Gesetz und Evangelium, 72. 61 Für den Nachweis an Luthertextstellen sei erneut verwiesen auf W. JOEST: Gesetz und Evangelium, 21–24.

Die Vollendung des Individuums

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die Vermengung zweier Partialaspekte des Willens nach der Rechtfertigung aufgekommen ist. Und zwar betrifft die Rede von der spontanen Gesetzeserfüllung, die freudig und frei getan wird, die autonome Art der Ausübung des guten Handlungsprinzips. Das gute Handlungsprinzip bleibt dem Gerechtfertigten nämlich nicht äußerlich, sondern wird sein Eigen. Um es mit K. Holl auszudrücken: Schon die Unterwerfung unter das Gericht Gottes bedeutet bei jedem, der sie aufrichtig vollzieht, eine innere Wendung […]. Er nimmt, wie Luther sich ausdrückt, die Form des Wortes in sich auf, d.h. er lernt den göttlichen Willen als den wahren Maßstab des Handelns betrachten und wird damit grundsätzlich frei von der dem Menschen natürlichen Betrachtungsweise, die das eigene Ich, den persönlichen Vorteil, in den Mittelpunkt setzt.62

Dieser effektive Wandel im Selbst- und Weltverhältnis weckt, so fährt Holl fort, „die freudige, ja die leidenschaftliche Liebe zu Gott und seinem Willen, die nicht nur das Aufgetragene gerne erfüllt, sondern selbst immer erahnt, was in Gottes Sinn liegt.“63 Was hier beschrieben ist, heißt bei Kant die autonome Übernahme des guten Handlungsprinzips. Der wesentlich durch das (göttliche) Sittengesetz normierte Wille, zeichnet sich erstens durch eine Nachordnung der sinnlichen Triebfeder aus und ist deshalb ein gottwohlgefälliger Wille. Zweitens ist dieser Wille, wenn er im eigentlichen Wortsinne der Wille des Subjekts ist, kein ihm fremder Wille. Das Gesetz bestimmt ihn in diesem Fall nicht heteronom, sondern aus freien Stücken – Luther würde sagen: Er tut das Gute gern. Aber – und das ist nun die Erklärung für die bleibende Bedeutung des Gesetzes im Sinne des tertius usus – dieser gute Wille ist bei Luther wie bei Kant beständig angefochten. Denn die bloße Tatsache der rechten Ordnung der Triebfedern im Willen bedeutet nicht die Verflüchtigung des Triebs zur Selbstliebe.64 Dessen Unauslöschbarkeit ist der Grund für die bleibende Bedeutung des Gesetzes auch für den Gerechtfertigten.65 Die Lage stellt sich allerdings für den eschatologisch Vollendeten grundsätzlich anders dar. Denn der Gottebenbildliche, dem alles nach Wunsch 62

K. HOLL: Die Rechtfertigungslehre in Luthers Vorlesung über den Römerbrief, 135. K. HOLL: Die Rechtfertigungslehre in Luthers Vorlesung über den Römerbrief, 136. 64 Vgl. K. HOLL: Die Rechtfertigungslehre in Luthers Vorlesung über den Römerbrief, 137: „Die concupiscentia ist nicht bloß ein ‚Zunder‘, sie ist eine wirksame und lebendige Macht, und sie hält sich als solche, eben weil sie die Natur des Menschen ist, auch im Gläubigen, solange dieses Dasein währt.“ (Hervorhebung im Original). 65 Um allen etwaigen Missverständnissen vorzubeugen: Auch hier wird nicht die These vertreten, nach Luther habe die Rechtfertigung ihren Grund im Tun des Gesetzes. Dass dies nie der Fall ist, ist in der Literatur derart selbstverständlich, dass es keines eigenen Nachweises bedarf. Hier ist vielmehr im Blick – und auch das sollte überdeutlich sein –, welche bleibende Funktion das Gesetz für den schon Gerechtfertigten hat. 63

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und Willen geht, hat nach Kant keinen Grund, einem anderen Handlungsprinzip als dem Sittengesetz zu folgen. Wenn sich ihm alles zu seinem Glück fügt, sind seine subjektiven Bedürfnisse per se befriedigt. Es gibt fortan für einen Vollendeten keine subjektiven Neigungen mehr, die sich diastatisch zur Triebfeder der Achtung vor dem Sittengesetz verhalten würden. Wenn aber das Sittengesetz konkurrenzlos den Willen des Subjekts bestimmt, wird der Vollendete dieses Gesetz nicht mehr als Imperativ verstehen können – es fehlt ihm schlicht das alternative Handlungsprinzip.66 Kant hat einen vollendeten Willen gottgleich beschrieben: „Ein vollkommen guter Wille würde also eben sowohl unter objektiven Gesetzen (des Guten) stehen, aber nicht dadurch als zu gesetzmäßigen Handlungen genöthigt vorgestellt werden können, weil er von selbst nach seiner subjektiven Beschaffenheit nur durch die Vorstellung des Guten bestimmt werden kann. Daher gelten für den göttlichen und überhaupt für den heiligen Willen keine Imperativen.“67 Die eschatologische Vollendung bedeutet das Ende des Gesetzes als Imperativ, da Sollen und Wollen beim Vollendeten notwendig in eins fallen.

5.2 Die Vollendung der Menschheit als Gattung Ziel des menschlichen Individuums ist seine Vollendung zum Guten und zur Glückseligkeit. Dieses Ziel anzustreben ist Pflicht, weil es unbedingter Zweck der praktischen Vernunft ist. Kant hat darüber hinaus ausführlich die Vollendung der Menschheit als Gattung bedacht. Man hat in der doppelten Entfaltung der Moral- und Religionsphilosophie immer wieder einen Sprung gesehen, der sich vor allem im Übergang vom Zweiten zum Dritten Stück der Religionsschrift äußere.68 Hat dieses die menschliche Gattung zum Thema, betreffen die beiden vorausgehenden Stücke der Religions66 Vgl. I. KANTs Ausführungen in: GMS, 400, wonach der endliche Wille dadurch gekennzeichnet ist, dass er „mitten inne“ stehe „zwischen seinem Prinzip a priori, welches formell ist, und zwischen seiner Triebfeder a posteriori, welche materiell ist, gleichsam auf einem Scheidewege“ mit der Beschreibung eines heiligen Willens, von dem gilt: „[D]as Sollen ist hier am unrechten Orte, weil das Wollen schon von selbst mit dem Gesetz nothwendig einstimmig ist.“ (GMS, 414, Hervorhebungen im Original). 67 I. KANT: GMS, 414 (Hervorhebungen im Original). 68 Vgl. zur Diskussion A. HABICHLER: Reich Gottes, 190–227. Habichler seinerseits versucht, die Thematisierung der Gattung zu erklären, indem er darauf verweist, Kants Denken habe spätestens mit der dritten Kritik geschichtliche Züge angenommen. Das schlage sich auch in der Religionsschrift nieder. Dass Kants Denken mit der dritten Kritik geschichtsphilosophische Züge erhält, ist zutreffend. Fraglich ist nur, ob dadurch schon verständlich wird, dass Kant neben der Individualvollendung auch die Vollendung der Gattung in den Blick nimmt. Denn die reine Historisierung von Gegebenheiten erklärt noch nicht die Ausweitung der Perspektive vom Individuum auf die Gattung.

Die Vollendung der Menschheit als Gattung

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schrift noch das Individuum. Man muss, will man in der Ausweitung der Perspektive nicht einen unmotivierten oder unüberlegten Vorgang sehen, die Thematisierung der Gattung als einen Schritt begreifen, der sich organisch aus der Betrachtung der Varianten des Sittengesetzes ergibt. Schon die Grundlegung hat zum einen mit der Menschheitsformel des kategorischen Imperativs, zum anderen mit der Idee des Reiches der Zwecke die Perspektive auf die Gattung ausgeweitet. Kant versteht dort unter einem Reich „die systematische Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze.“69 Dasjenige gemeinschaftliche Reich, das alle vernünftigen endlichen Wesen miteinander verbindet, ist das moralische Reich der Zwecke, denn in ihm sind die Zwecke aller Menschen systematisch vereint.70 Die Menschheitsformel als Variante des Sittengesetzes fordert dementsprechend: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“71 Verständlich wird dieser Satz als Form des Sittengesetzes, wenn man das Folgende bedenkt: Das Sittengesetz ist selbst Bedingung der Möglichkeit von Zwecken, die der Mensch vernünftigerweise haben soll. Denn ohne es gäbe es „überall gar nichts von absoluthem Werthe.“72 Das Sittengesetz ist folglich erstens die Instanz, die denjenigen Zweck angibt, der Referenz für alle anderen möglichen Zwecke ist. Dieser Zweck ist zweitens die sittliche Überformung eines jeden natürlichen vernünftigen Menschen. Gefordert wird also die universal gültige Einsetzung des Sittengesetzes in die Funktion, Natur zu überformen. Diese Forderung betrifft nicht nur das Ich, sondern jeden Fall von Dasein vernünftig endlicher Wesen. Wenn das richtig ist, so gilt erstens, dass der Mensch als Träger des Sittengesetzes nicht von anderen als (bloßes) Mittel gebraucht werden darf. Zweitens ist es allgemeine Menschenpflicht, nicht nur sich selbst, sondern auch andere in ihrem Zweck zu befördern, was in concreto bedeutet: Es ist Jedermanns Pflicht, die Vollendung seiner selbst und jedes anderen zu besorgen.73 Das Sittengesetz stellt folglich nicht nur deshalb „einen jener Lichtpunkte dar, an denen die Wege des individuellen und des sozialen Interesses sich schneiden“74, weil es den Willen darauf einschränkt, Objekte zu 69

I. KANT: GMS, 433. Vgl. dazu die einschlägigen Ausführungen I. KANTs in: GMS, 432–436. 71 Vgl. I. KANT: GMS, 429 (Hervorhebungen im Original). 72 I. KANT: GMS, 428 (Hervorhebung im Original). 73 I. KANT bemerkt schon in GMS, dass zur Vollendung des Menschen neben seiner Sittlichkeit auch Glückseligkeit gehört, so dass es Pflicht ist, diese für den anderen herzustellen. Vgl. dazu GMS, 430. 74 G. SIMMEL: Was ist uns Kant?, 167. 70

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wollen, die alle anderen unter denselben Umständen auch wollen, so dass es den subjektiven Willen auf das allgemein Gewollte restringiert.75 Sondern die soziale Leistungskraft des Sittengesetzes zeigt sich darüber hinaus in der Forderung, positiv die Zwecke von Mitmenschen anstreben zu sollen – und dieser Gedanke wiederum mündet im oben schon erwähnten Begriff des Reichs der Zwecke. Darunter ist folglich ein Beziehungsgefüge von vernünftigen Wesen zu verstehen, die sich als Teilnehmer des Gefüges nach Gesetzen richten, die sicherstellen, „daß jedes derselben sich selbst und alle andere niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst“ behandelt.76 Kant hat, das lässt sich an diesen Überlegungen ablesen, gemeint, das Sittengesetz habe nicht nur die Vollendung des Individuums zu seinem Objekt, sondern auch die der Gattung. Danach muss es möglich sein, beide Objekte, nämlich das Heil des Individuums und das Heil der Menschheit, so zu verbinden, dass entweder das eine das andere befördert, oder so, dass beide Ziele gleichwertig nebeneinander angestrebt werden können, ohne Abstriche an einem der beiden machen zu müssen. Die hier vorgelegte These geht von letzterem aus: Ein Individuum verfolgt, wenn es seine eigene Vollendung besorgt, zugleich die Vollendung der Gattung und umgekehrt. Denn das eine Sittengesetz fordert, wie gezeigt, beides zugleich. Ein vermeintlich sittlicher Mensch vollzieht sich gerade dann nicht sittlich, wenn er nur seine eigene Vollkommenheit verfolgt. Und umgekehrt gilt: Eine sittliche Gemeinschaftsform realisiert Bonität erst dann, wenn jedes einzelne ihrer Glieder als Selbstzweck verstanden wird, dessen individuelles Heil einen unbedingten Wert darstellt. Die Vollendung der Gattung in der Welt ist gegenwärtig allerdings nicht realisiert. Die Differenz zwischen Sein und Sollen der Gattung muss analog zu derjenigen des Individuums aufgefasst und bearbeitet werden kann. Das Böse lässt sich nach Kant nicht nur als Individualsünde, sondern auch als Gattungsphänomen verstehen. Die Sünde nimmt in der Gattung eine beson75 Dies ist der Vorzug des Sittengesetzes, den der Soziologe G. SIMMEL ausmachen kann. Vgl. dazu insgesamt seinen Aufsatz: Was ist uns Kant? 76 I. KANT: GMS, 433 (Hervorhebungen im Original). Umstritten ist, ob Kant in GMS auch schon sittliche Gemeinschaften avisiert hat, oder ob mit dem Begriff des Reiches der Zwecke nicht vielmehr ein juridisches Gemeinwesen im Blick ist. A. HABICHLER: Reich Gottes, vertritt die These, es gäbe einen Zusammenhang zwischen dem Reich der Zwecke der Grundlegung und dem Reich Gottes der späteren Religionsphilosophie bei Kant (vgl. insbesondere 109–117). R. LANGTHALER: Kants Ethik, 34–79, dagegen meint gegen den Strom der Kantinterpreten, das Reich der Zwecke der Grundlegung als ein Reich des Rechts und nicht als Reich der Sittlichkeit interpretieren zu müssen. Es spricht Einiges dafür, dass Habichler mit seiner Einordnung Recht hat. So kann I. KANT in GMS Moralität als das wesentliche Signum des Reiches der Zwecke herausstreichen: „Moralität besteht also in der Beziehung aller Handlungen auf die Gesetzgebung, dadurch allein ein Reich der Zwecke möglich ist“ (434). Ein solcher Satz beschreibt unmöglich ein bloß juridisches Gemeinschaftswesen.

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dere Form an, die Kant auch das Reich des Bösen nennt. Ziel der Menschheit ist die Überwindung dieses Zustands, wozu sie als Gesamtgattung einen Annäherungsprozess an das Reich Gottes auf Erden durchlaufen muss, der in dessen Realisierung münden soll. Es wird in den folgenden Abschnitten also auch um die Entfaltung einer Geschichtsphilosophie gehen müssen, die die Historie als einen zielgerichteten Prozess auffasst. Wie sich sogleich zeigen wird, bedarf es zur Erreichung des Ziels einer besonderen Form der Vergemeinschaftung, die sich selbst religiös konstituiert weiß und vollzieht, denn ohne Religion ist auch die Sünde als Gattungsmerkmal nicht zu überwinden. Bevor näher auf diese Form der Gemeinschaft eingegangen werden kann, muss zunächst deutlich werden, gegen welche Widerstände in der Welt sie sich durchzusetzen hat, wenn sie ihr Ziel erreichen will. Es ist dazu der Zusammenhang von der Sozialisation des Menschen und dem Auftreten von Sünde deutlich zu machen. 5.2.1 Die Begünstigung der Sünde durch Vergemeinschaftung Man hat die Sündenlehre in Kants System nicht in ihrer ganzen Tiefe erfasst, wenn man sie allein im Rahmen einer Anthropologie des Individuums abgehandelt vermeint. Zwar hat die Sünde ihre Wurzel in einer verkehrten Metamaxime, deren Geltung sich auf das Subjekt beschränkt. Aber die Wahrscheinlichkeit eines Sündenvollzugs wird durch bestimmte Sozialformen derart erhöht, dass eine Besserung des Menschen ohne Wende der verderbten Sozialformen nicht absehbar ist. Ziel einer solchen Wende wäre eine dem gottgemäßen Leben förderliche Gesellschaft. Kant sieht in der sozialen Verflechtung des Menschen eine Quelle der Sünde: Wenn er sich nach den Ursachen und Umständen umsieht, die ihm diese Gefahr [der Sünde] zuziehen und darin erhalten, so kann er sich leicht überzeugen, daß sie ihm nicht sowohl von seiner eigenen rohen Natur, sofern er abgesondert da ist, sondern von Menschen kommen, mit denen er in Verhältnis und Verbindung steht.77

Diese Feststellung Kants steht ganz im Einklang mit seiner Entwicklung der Sündenlehre im Ersten Stück der Religionsschrift. Schon dort hatte er ausgeführt, der Mensch habe qua Vernunft78 die Fähigkeit, von sich selbst 77

I. KANT: Rel., 93. Es ist die Anlage für die Menschheit, also seine Vernunft an sich, die ihn vom Tier scheidet, die ihn aber auch anfällig für die Sünde macht, weil er mit ihrer Beanspruchung einen Vergleich seines eigenen Glücks mit dem anderer anstellen kann. Das Resultat dieser Fähigkeit ist der Versuch, sich über andere überheben zu wollen. Vgl. grundsätzlich zu I. KANTs Wesensbeschreibung des Menschen: Rel., 26–28. 78

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Abstand zu nehmen und auf Andere zu blicken. Moralrelevante Resultate dieser Fähigkeit sind „Eifersucht und Nebenbuhlerei.“79 Der solipsistisch Vereinzelte stünde gar nicht in der Gefahr, sich an den Verhältnissen des anderen zu messen; er wäre mit dem, was er darstellt und was er ist, zufrieden: „Er ist nur arm (oder hält sich dafür), sofern er besorgt, daß ihn andere Menschen dafür halten und darüber verachten möchten.“80 Nun ist aber der Mensch faktisch nie ohne Beziehung zu anderen seiner Art, und das Dritte Stück der Religionsschrift hat diese Tatsache als Problem für die Durchsetzung des Guten zum Thema. Denn wenn das Böse einen natürlichen Hang des Menschen darstellt, der insbesondere durch die Gattungszugehörigkeit begünstigt wird, muss das Konstruktionsprinzip einer Anthropologie diesen Konnex berücksichtigen. Kant setzt, um das Entstehen von Sünde am Individuum wahrscheinlich zu machen, nicht einmal ein verderbtes Beziehungsgefüge voraus, in das der Einzelne hineinsozialisiert wird. Zwar lässt sich so die faktische Habitualisierung des Bösen durch einzelne in der Geschichte der Menschheit als Aneignung und Abbildung schlechter Gewohnheiten erklären. Damit wäre aber erst die Bildung des einzelnen durch böse Prinzipien, die als solche in der Gattung zuvor schon da wären, erklärt, allerdings ohne den Ursprung der bösen Prinzipien verständlich machen zu können.81 Kants Erläuterungen leisten mehr, weil sie erklären, warum die Entstehung des Bösen aus der bloßen Struktur von Beziehungsgefügen wahrscheinlich ist. Der Mensch ist schon dann beständig der Gefahr der Sünde ausgesetzt, „wenn er unter Menschen ist, und es ist nicht einmal nöthig, daß diese schon als im Bösen versunken und als verleitende Beispiele vorausgesetzt werden; es ist genug, daß sie da sind, daß sie ihn umgeben, und daß sie Menschen sind, um einander wechselseitig in ihrer moralischen Anlage zu verderben und sich einander böse zu machen.“82 Die Vorstellung, andere, mit denen er in Beziehung steht, könnten besser gestellt sein als er selbst, treibt den Menschen in die Sünde. Die Neigung, sich über Mitmenschen erheben zu wollen, hat in dieser Vorstellung ihren Ursprung. Die Forderung des Sitten79

I. KANT: Rel., 27 (Hervorhebungen im Original). I. KANT: Rel., 93. 81 P. Schoonenberg hat auf katholischer Seite den Versuch unternommen, die klassische Erbsündenlehre ihrem Sinngehalt nach so zu verstehen, dass Sünde als Qualifizierung eines überindividuellen Gefüges zu verstehen ist, dem sich der Einzelne nicht zu entziehen vermag und in das er also hinein-situiert wird. Vgl. dazu: P. SCHOONENBERG: Theologie der Sünde, 115–214. Schoonenberg gelingt es allerdings nicht, einen letzten Grund für das Entstehen des sündigen Sozialgefüges anzugeben. Zwar meint er sagen zu können, dass die Sünde allmählich das Sozialleben des Menschen durchsetzt hat und mit der Menschheitsgeschichte also an Kraft gewinnt, allerdings kann er keine Gründe dafür angeben, dass die Sünde überhaupt anhebt, geschichtswirksam zu werden (209–213). 82 I. KANT: Rel., 94 (Hervorhebungen im Original). 80

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gesetzes, das Reich der Zwecke zu realisieren, wird durch diesen natürlichen Hang zur Überhebung über andere direkt konterkariert. Denn die Menschheitsformel fordert, nicht nur eigene Zwecke zu verfolgen, sondern die aller anderen gleichermaßen. Zwei anthropologische Grundkonstanten spielen bei der Entstehung des Bösen so zusammen, dass es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auftritt. Zum einen eröffnet die Anlage zur Menschheit, nämlich die Vernunft, die Fähigkeit zum neidischen Vergleich. Zum anderen besteht ein natürlicher Hang dazu, dem Trieb der Selbstliebe nachzukommen. Die Kombination beider Anlagen scheint die Entstehung des Bösen gleichsam unumgänglich zu machen. Der neidende Vergleich mündet in die Steigerung des Hangs zur Selbstliebe. Mit alledem ist nicht eine Kausalursache genannt, die die Sünde notwendig als Wirkung nach sich ziehen würde. Vielmehr bedeutet die Sozialisation des Menschen zunächst bloß eine Verstärkung seines Triebes der Selbstliebe. Der Grund für die Tatsache, dass der Mensch seinen Trieb der Selbstliebe der Achtung vor dem Sittengesetz axiologisch vorordnet, bleibt dem Menschen unerforschlich. In dieser Hinsicht muss die Sünde als unableitbares Faktum gelten.83 Unter der beschriebenen Voraussetzung kann ein Kampf gegen die Sünde nur dann zum Guten entschieden werden, wenn das Beziehungsgefüge durch Umformung als Quelle der Sünde ausgeschaltet wird. Die bloße Besserung von einzelnen in einem ansonsten bösen Umfeld setzt diese der Gefahr aus, sogleich wieder in die Sünde zurückzufallen. Steht der Erlöste nämlich auch nach seiner Revolution im beschriebenen bösen Beziehungsgefüge, ist er unumgänglich dem Neid und der Habsucht anderer ausgesetzt; er kann sich sodann dem Hang kaum entziehen, sich den selbstsüchtigen Handlungsmustern erneut hinzugeben. Es bedarf also einer besonderen Form der Vergemeinschaftung, die als solche nicht mehr Katalysator der Sünde ist84, sondern sich durch ein in ihr herrschendes Prinzip der Selbstlosigkeit auszeichnet. Dabei handelt es sich um eine Gemeinschaftsform, die dem Reich der Zwecke entspricht oder es zumindest befördert. Das in ihr herrschende Prinzip der Vergemeinschaftung muss den einzelnen auf eigene und fremde Moralität und Glückseligkeit zielen lassen. Zur Herstellung einer solchen Gemeinschaft taugt die Menschheitsformel des Sittengesetzes. Sie sei hier nochmals im Zitat geboten: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden 83

Vgl. dazu oben den Abschnitt 2.3. I. KANT geht sogar soweit zu behaupten, es gäbe Gemeinschaften, die bewusstes Interesse an der Fortsetzung des Bösen in der Menschheitsgeschichte haben: Er findet für diese Form der Vergemeinschaftung den Namen „Rotte des bösen Prinzips“ (Rel., 100, Hervorhebung im Original) und hat damit die Institutionalisierung des Bösen ins Auge gefasst. 84

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andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“85 Die Herstellung einer Gemeinschaft, in der ausnahmslos alle Individuen diesem Gesetz folgen, ist eine Pflicht sui generis, weil sie nicht die Pflicht eines Einzelnen gegen andere Einzelne betrifft, „sondern des menschlichen Geschlechts gegen sich selbst.“86 Kant bringt damit zum Ausdruck, dass es einer Anstrengung eigener Art bedarf, um ein solches Gemeinschaftsgefüge herzustellen. Der Fokus des eigenen Handelns muss dazu auf die Totalität des Zwecks aller Subjekte gerichtet werden. Der Handelnde konzentriert sich sodann nicht mehr auf relativ abgeschlossene Handlungssituationen, in denen er versucht, bestimmte für die jeweilige Handlungssituation gültige Zwecke zu verfolgen, sondern alles Handeln wird bewusst auf den letzten Zweck menschlichen Handelns ausgerichtet: das Reich der Zwecke. 5.2.2 Das Reich der Zwecke als Reich Gottes Das Reich der Zwecke als anzustrebendes höchstes Gut ist die Verbindung aller Menschen zu einer Weltgemeinschaft, in der ausnahmslos jeder Mensch sich dem Sittengesetz gemäss vollzieht. Um es herzustellen bedarf es einer besonderen Konzentration der Handelnden auf diesen Zweck. Das Sittengesetz in seiner Menschheitsformel gibt Anleitung dazu. Bei Realisierung des Reichs der Zwecke, wäre der Zustand der Welt Symbol87 dieses Gesetzes. Denn in diesem Fall würde die gesamte Menschheit ein systematisches Handlungsgefüge abgeben, in dem jede phänomenale Handlung die positive Darstellung des in der Menschheitsformel Geforderten wäre. Die rein noumenale Idee von einem Reich der Zwecke wäre durch ein Ideal in Raum und Zeit realisiert. Es ist angemessen diesem Ideal den Namen Reich Gottes auf Erden zu geben. Dafür gibt es mehrere Gründe. Der erste ist mittlerweile hinreichend bekannt und braucht hier nur noch kurz erwähnt zu werden: Wenn es plausibel ist, das Sittengesetz in religiösem Vollzug als Gesetz Gottes aufzufassen88, so gilt das auch von seinen Nebenformen: „Es muß also ein Anderer als das Volk sein, der für ein ethisches gemeines Wesen als öffentlich gesetzgebend angegeben werden könnte.“89 Das Reich der Zwecke als 85

I. KANT: GMS, 429 (Hervorhebungen im Original). I. KANT: Rel., 97. 87 Vgl. zum Symbolbegriff die Ausführungen oben zur Schematisierung des Sittengesetzes in Abschnitt 4.3.2. 88 Vgl. dazu den Abschnitt 2.2.3. 89 I. KANT: Rel., 99. Dass Kant dabei das Prinzip Autonomie nicht unterläuft macht er mit folgendem Nachsatz deutlich: „Gleichwohl können ethische Gesetze auch nicht als bloß von dem Willen des Obern ursprünglich ausgehend […] gedacht werden, weil sie alsdann keine ethische 86

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Ziel der Menschheitsformel kann folglich für den religiösen Menschen auch Reich Gottes heißen, wenn Gott als Offenbarer des Gesetzes vorgestellt wird. Ein weiterer Grund für die Herstellung einer Beziehung zwischen dem Reich der Zwecke und Gott liegt in der Art der Gesetzgebung, nach der sich die Weltgemeinschaft richten müsste. Sie zielt nämlich nicht auf Legalität, sondern auf Moralität. Das Gesetz, nach dem sich die intendierte Gemeinschaft vollzieht, ist die oben genannte Menschheitsformel, die eine subsidiäre Form des Sittengesetzes selbst ist. Um ein Gesetz durchsetzen zu können, bedarf es der Möglichkeit es zu exekutieren. Genau das ist Menschen im Fall des Sittengesetzes – und mithin auch im Fall der Menschheitsformel – nicht möglich, denn sie können die Gesinnung von Handelnden nicht anschauen. Das Vermögen dazu hat allein ein „Herzenskündiger“, der „auch das Innerste der Gesinnungen eines jeden zu durchschauen“90 vermag. Der Zustand, in dem sich die Menschheit gemessen am Ideal des Reiches der Zwecke befindet, ist nur Gott bekannt. Die Kenntnis des Zustandes der Menschengesellschaft ist aber unabdingbar, um die Durchsetzung des Gesetzes kontrollieren und lenken zu können. Sowohl Gesetzgebung als auch Ausbreitung einer ethischen Gemeinschaft muss dem vernünftigen Postulat nach von Gott mit den Eigenschaften der Allmacht und Allwissenheit erwartet werden. Daneben gibt die begrenzte Macht einzelner oder menschlicher Organisationen einen Grund für die religiöse Auffassung des Reiches der Zwecke ab. Für das Reich Gottes auf Erden ist es nämlich essentiell, das gesamte Menschengeschlecht zu umfassen.91 Es steht aber nicht in der Verfügungsgewalt von Menschen, auf die Gattung als Gesamtheit einzuwirken, sondern ihre Reichweite ist faktisch begrenzt auf mehr oder weniger große Teile der Menschheit. Weil menschliche Macht immer partikular ist, gleichzeitig aber die Pflicht besteht, ein Reich der Zwecke zu befördern, das die Menschheit als Ganze umgreift, bedarf es des Postulats eines allmächtigen Gottes, dem allein die Lenkung der gesamten Welt zugetraut werden kann. 5.2.3 Kirche als Volk Gottes Zwar ist die Menschheit weit davon entfernt, das Reich Gottes auf Erden realisiert zu haben. Kant meint aber, es sei nicht zu übersehen, dass es überall Formen der Vergemeinschaftung gibt, die prinzipiell dazu angelegt Gesetze und die ihnen gemäße Pflicht nicht freie Tugend, sondern zwangsfähige Rechtspflicht sein würde.“ (Hervorhebung im Original). 90 I. KANT: Rel., 99. 91 Vgl. I. KANT: Rel., 97f.

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sind, das Ziel der Menschheit zu verfolgen. Es handelt sich nicht um politische Gebilde, deren Zweck das durch äußerliches Recht geregelte Zusammenleben von abgegrenzten Gesellschaften ist, sondern um solche Gemeinschaften, die sich das Gesetz Gottes zu Eigen machen und die Realisierung des Reiches Gottes auf Erden anstreben. Kant nennt sie Kirchen: „Ein ethisches gemeines Wesen unter der göttlichen moralischen Gesetzgebung ist eine Kirche.“92 Er scheidet nun aber – und dies ist für den Fortgang der Überlegungen zu beachten – terminologisch die Gesellschaft wahrer und reiner Religion von geschichtlich positiven Glaubensarten. Reine Religion ist dann realisiert, wenn sich das Menschengeschlecht im Stand der Vollendung befindet. Das Reich Gottes auf Erden ist in diesem Fall wirklich, die Menschheitsformel des Sittengesetzes Norm jeder Handlung, das Böse aus der Menschheit verbannt, und es gibt auch keinen Anlass dazu, dass es sich irgend neu entzündet. Die Menschheit als Ganze gibt das symbolische Schema der Idee des Reiches Gottes ab. „Die wahre (sichtbare) Kirche ist diejenige, welche das (moralische) Reich Gottes auf Erden, so viel es durch Menschen geschehen kann, darstellt.“93 Unschwer lässt sich erkennen, dass die Menschheit sich in diesem Zustand nicht befindet. Vielmehr ist sie religionsphänomenologisch zersplittert in unzählige religiöse Partikulargemeinschaften, von denen jede für sich beansprucht, dem göttlichen Willen zu folgen: Es handelt sich bei ihnen um die soeben genannten Glaubensarten, die auf je unterschiedliche Art dem Gotteswillen nachzukommen meinen und sich deshalb als Volk Gottes verstehen. Charakteristisch für sie ist die Öffentlichkeit des sie konstituierenden Gesetzes, ohne die es unmöglich wäre, eine Gemeinschaft herzustellen, die sich spezifisch vom Rest der Menschheit abhebt. Mit dieser Feststellung ist ein strukturelles Problem ins Auge gefasst, das jede positive Glaubensart betrifft. Sie sehen sich allesamt der Schwierigkeit ausgesetzt, zwei Arten von Gesetzen gleichzeitig folgen zu sollen: dem göttlichen und überzeitlich gültigen Gesetz der Moralität einerseits, den Statuten, die den positiven Bestand der Kirche sichern, andererseits. Das Problem verschärft sich, wenn die Statuten als Offenbarung Gottes vorgestellt werden. Ihre Geltung wird, wenn sie sich nicht auf moralisch vernünftige Weise genetisieren lassen, plausibilisiert, indem man sie als gottgegeben erklärt.94 Wo dieser Mechanismus von Kirchen, die eigene 92

I. KANT: Rel., 101. I. KANT: Rel., 101. 94 I. KANT wählt zu Abschnitt V seines Dritten Lehrstücks der Religionsschrift folgende Überschrift: „Die Constitution einer jeden Kirche geht allemal von irgend einem historischen (Offenbarungs=) Glauben aus, den man den Kirchenglauben nennen kann, und dieser wird am besten auf eine heilige Schrift gegründet.“ (Rel., 102). 93

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Positivität als gottgegeben zu erklären, erst einmal gegriffen hat, sieht sich die Menschheitsformel des Sittengesetzes, also das Prinzip der reinen Religion, erheblicher Konkurrenz ausgesetzt. Denn nun scheint nicht mehr die Herstellung des Reiches Gottes Ziel der Kirchengemeinschaft zu sein, sondern wegen der vermeintlich göttlichen Qualität der eigenen Statuten, die Selbsterhaltung. So lässt sich die Zersplitterung der Menschheit in verschiedene Glaubensarten erklären. Sie stellen den wahren Glauben reiner Religion zu Gunsten der Beobachtung ihrer je besonderen Statuten zurück, weil ihnen nicht einleuchten will, „daß die standhafte Beflissenheit zu einem moralisch=guten Lebenswandel alles sei, was Gott von Menschen fordert.“95 5.2.4 Das Verhältnis von unsichtbarer zu sichtbarer Kirche Positive Glaubensgemeinschaften sind durch zwei Arten von Gesetzen bestimmt. Zum einen betreffen sie die Positivität der Kirchen, regeln ihre Organisation und ihren empirischen Selbstvollzug. Die andere Art der Gesetze zielt auf die Durchsetzung des Gottesreiches – es handelt sich streng genommen um ein einziges Gesetz, nämlich das Sittengesetz in der Menschheitsformel. Die Notwendigkeit der geschichtlichen Positivität einer Kirche und ihrer Statuten zur Ermöglichung einer Gemeinschaft, die das Böse in der Menschheit zu überwinden vermag, wird in der Kantliteratur oft übersehen. Vielmehr wird die von Kant beschriebene Gefahr der Idolatrie und des Afterdienstes, die sich mit den Statuten ergeben, bemerkt und betont. Wenn eine Glaubensgemeinschaft ihrem historischen Anfang und d.h. ihrem positiven Vergemeinschaftungsprinzip huldige, bringe sie nichts hervor als „geheimnisvolle Dogmen, Gnadenmittel, Sakramente, Übernatürlichkeiten und die Festlegung aller dieser Dinge in einem heiligen Buch. Sie fordert mit einem Wort den Supranaturalismus, aus dessen Wesen sich alle weiteren Folgen ergeben.“96 Diese Folgen werden sodann in den dunkelsten Farben gemalt: Sie bestehen beispielsweise im Religionswahn und in einem anthropomorphen Gottesbegriff, schließlich mündet der eigentümliche 95

I. KANT: Rel., 103. Ein Wort, das E. TROELTSCH: Das Historische, 96, Kant unter Berufung auf Reicke zuschreibt. Es soll sich nach Troeltschs Auskunft unter den sogenannten losen Blättern befinden, wird aber m.W. in der Akademieausgabe nicht geboten. Zumindest Troeltsch kann aber unter Rückgriff auf W. Dilthey auch die positiven Seiten der anthropomorphen oder schematisierten Religion bei Kant ausgedrückt finden, denn erst so wird sie – wie er sagt – „mitteilungsfähig, motivationskräftig, organisatorisch und belebend.“ (Das Historische, 120) – oder mit einem anderen Wort: geschichtlich wirkmächtig. Vgl. dazu W. DILTHEY: Der Aufbau der geschichtlichen Welt, 266–268. 96

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Alleinwahrheitsanspruch der zufälligen und positiven Kirchen nach derartiger Auffassung in Religionskriegen.97 Zwar ist es richtig, dass Kant diese Gefahren beschreibt. Das ist aber nur eine Sicht auf die positive Erscheinung von Kirchen. Eine andere räumt der je besonderen Erscheinungsform von Kirchen ein bestimmtes Recht ein. Denn ohne jede Positivität lässt sich die Konstitution einer Gemeinschaft, die sich anschickt, das göttliche Gesetz gegen das Böse in der Welt durchzusetzen, überhaupt nicht realisieren. Die Gemeinschaft derjenigen, die reine Religion vollziehen, bliebe ohne Positivierung unsichtbar, weil niemand die moralische Gesinnung der Glieder einzusehen vermag. Wenn die unsichtbare Kirche98 auch den Vorzug genießt, die einzig wahre Kirche zu sein, die Gottesdienst – und das heißt für Kant nichts anderes als moralisch sich zu vollziehen99 – in reiner Weise feiert, so birgt ihre Invisibilität zugleich den Nachteil, keine bewusste Vergemeinschaftung zu ermöglichen. Denn wo man vom Anderen seine Zugehörigkeit zur Kirche nicht weiß – und genau dies ist das Wesen der unsichtbaren Kirche –, kann es überhaupt nicht zu einer systematisch geordneten Gemeinschaft kommen, weil ihr unter diesen Umständen die öffentliche Gesetzgebung fehlt. Die Herstellung und Ausbreitung eines „System[s] wohlgesinnter Menschen“100 unter öffentlicher Gesetzgebung ist aber erforderlich, um die Sünde, die sich schon allein bei der Tatsache natürlicher Vergesellschaftung ergibt, zu überwinden. „Allein das Unsichtbare bedarf doch beim Menschen durch etwas Sichtbares (Sinnliches) repräsentiert, ja, was noch mehr ist, durch dieses zum Behuf des Praktischen begleitet und, obzwar es intellectuell ist, gleichsam (nach einer gewissen Analogie) anschaulich gemacht zu werden.“101 Entscheidend für die moralische Qualität einer Glaubensgemeinschaft ist, in welche Ordnung sie ihre Statuten zur rein moralischen Religion bringt. Fraglich ist also die Relation der sichtbaren zur unsichtbaren Kirche. Folgende Verhältnisweisen sind denkbar: Entweder die sichtbare Organisation von Kirche verhält sich indifferent zu Moralfragen: Man könnte sich wohl auch ein Volk Gottes nach statutarischen Gesetzen denken, nach solchen nämlich, bei deren Befolgung es nicht auf die Moralität, sondern bloß auf die Legalität der Handlungen ankommt, welches ein juridisches gemeines Wesen sein

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E. TROELTSCH: Das Historische, 96. I. KANT scheidet die unsichtbare von der sichtbaren Kirche in: Rel., 101. 99 Vgl. I. KANT: Rel., 104f: „Also ‚nicht die da sagen: Herr Herr! sondern die den Willen Gottes thun‘, mithin die nicht durch Hochpreisung desselben (oder seines Gesandten, als eines Wesens von göttlicher Abkunft) nach geoffenbarten Begriffen, die nicht jeder Mensch haben kann, sondern durch den guten Lebenswandel, in Ansehung dessen jeder seinen Willen weiß, ihm wohlgefällig zu werden suchen, werden diejenigen sein, die ihm die wahre Verehrung, die er verlangt, leisten.“ 100 I. KANT: Rel., 98. 101 I. KANT: Rel., 192. 98

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würde, von welchem […] Gott der Gesetzgeber (mithin die Verfassung derselben Theokratie) sein würde.102

In diesem Fall hätte die Kirche allerdings keinen Anspruch darauf, das Volk Gottes im Sinne der Sittlichkeit zu repräsentieren, denn dieses ist ganz im Gegensatz zum politischen Gemeinwesen eine Verbindung von Menschen nach dem Prinzip der Moralität – nicht der Legalität. Wenn Indifferenz als Verhältnisbestimmung ausscheidet, muss es ein differenzbildendes Kriterium geben, das den Unterschied zwischen den positiven Glaubensarten in ihrem Verhältnis zu der einen reinen Religion ausmacht. Nach kantscher Auffassung ist dies die Fähigkeit einer positiven Glaubensart, Vehikel oder Leitmittel für die reine Religion sein zu können. Darunter versteht Kant das Vermögen einer Glaubensart und ihrer Statuten, sich derart in den Dienst der Vernunftreligion zu stellen, dass deren Durchsetzung vorangetrieben wird. Wenn die Fähigkeit einer Glaubensart, Vehikel für die reine Religion zu sein, dasjenige Kriterium ist, nach dem sie ihren (moralischen) Wert erhält, kann es zwei unterschiedliche Ordnungsweisen zwischen positiver Glaubensart und reiner Religion geben: Entweder ordnet eine positive Glaubensart sich selbst dem Ziel der Menschheit unter oder über. Im Fall der Überordnung ist sie im Gegensatz zur wahren Kirche nicht in der Lage, Bewusstsein über ihren Zweck als Leitmittel zu erlangen und kann diesen folglich weder begreifen noch geordnet umsetzen. Glaubensarten, die so agieren, tragen zwar einen Kern religiöser Wahrheit in sich, subordinieren diesen allerdings den Erfordernissen ihrer positiven Selbstordnung. Die Konzeption derartiger Kirchen ist wesentlich auf Selbsterhaltung ihrer statutarischen Elemente ausgelegt. Sie feiern Gottesdienst um seiner selbst willen, bekennen ihren Glauben bloß formelhaft und fügen sich in ihrem religiösen Vollzug einer äußeren kirchlichen Form, ohne das Bewusstsein, dass dies alles Mittel zum Zweck der unsichtbaren Kirche ist. In ihnen kommt der schon bemühte Kern ihrer selbst – die wahre Religion – nicht zum Ausdruck. Dass eine jede Glaubensart ihn aber zumindest verdeckt in sich trägt, ist die feste Überzeugung Kants. Denn „eigentlich entspringt der Begriff von der Gottheit nur aus dem Bewußtsein dieser [d.i. rein moralischer] Gesetze, und dem Vernunftbedürfnisse, eine Macht anzunehmen, welche diesen den ganzen in einer Welt möglichen, zum sittlichen Endzweck zusammenstimmenden Effect verschaffen kann.“103 102 I. KANT: Rel., 99 (Hervorhebung im Original). Vgl. zur Definition eines juridischen allgemeinen Wesens I. KANT: Rel., 95: „Ein rechtlich=bürgerlicher (politischer) Zustand ist das Verhältnis der Menschen untereinander, so fern sie gemeinschaftlich unter öffentlichen Rechtsgesetzen (die insgesamt Zwangsgesetze sind) stehen.“ (Hervorhebungen im Original). 103 I. KANT: Rel., 104.

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Alle Glaubensarten haben folglich denselben Grund, ohne den Religion an sich unmöglich wäre: nämlich die Auffassung des Sittengesetz und aus ihm abgeleitete Pflichten als göttliche Gebote.104 Jede Glaubensart trägt diese religiös-vernünftige Variante in sich oder sie hat überhaupt keinen Anspruch darauf, Religion zu sein. Selbst „Dichtungen“ des Volksglaubens haben „hierdurch […] etwas von dem Charakter ihres übersinnlichen Ursprungs selbst“105 in sich. Im besten Fall ordnet sich die positive Glaubensart der Beförderung des übersinnlichen Kerns unter und ist sodann der Durchsetzung des Reiches Gottes auf Erden verpflichtet. Dies setzt allerdings eine besondere Verfassung der Glaubensart voraus. Erstens muss sie sich ihrer selbst in der Funktion des Leitmittels bewusst sein. Ekklesiologisch gesprochen muss die sichtbare Kirche sich selbst als transitive Institution einschätzen, die darauf zielt, die unsichtbare Kirche zu fördern und durchzusetzen. Dazu ist freilich „eine Auslegung der uns zu Händen gekommenen Offenbarung erfordert, d.i. durchgängige Deutung derselben zu einem Sinn, der mit den allgemeinen praktischen Regeln einer reinen Vernunftreligion zusammenstimmt.“106 Die wahre Kirche bildet dazu eine Hermeneutik der Selbstauslegung aus, die den Verweischarakter des Sichtbaren bewusst zu machen hat. Dies ist in der (christlichen) Kirche der recht verstandene Dienst der Pfarrer, und diesem Zweck hat sich alle Gelehrsamkeit der Kirchendiener unterzuordnen.107 Ein weiteres Charakteristikum der wahren positiven Kirche besteht in der Neigung, ihre partikular gültige Positivität zu Gunsten einer Weltgemeinschaft aufzugeben, die in jeder ihrer Handlungen ein Symbol des Reiches Gottes abgibt. Diese Haltung folgt schon aus dem Selbstverständnis, das in der eigenen Positivität nur den Mittel zu einem höheren Zweck sieht. Die Realisierung des Reiches Gottes auf Erden würde die Mittel zu seiner

104 So definiert I. KANT in: Rel., 153, Religion als die „Erkenntniß aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote.“ 105 I. KANT: Rel., 111. 106 I. KANT: Rel., 110. I. KANT präzisiert in VI des dritten Lehrstücks (Rel. 109–114), welcher hermeneutischen Schlüssel es bedarf, um dieser Aufgabe gerecht zu werden. Neben der genannten Prämisse, alle zur geschichtlichen Vergemeinschaftung notwendigen Prinzipien am Kriterium der Sittlichkeit zu messen, nennt Kant eine Voraussetzung für die Deutung von heiligen Schriften: nämlich eine besondere Form der Gelehrsamkeit, die den sittlichen Kern wahrer Religion aus ihnen herauspräpariert. 107 Vgl. dazu die Ausführungen I. KANTs in: Rel., 164–165. Beamte einer Kirche, die diesem Prinzip nicht folgen, leisten ihr keinen Dienst, sondern verlassen das Prinzip der wahren Kirche und suchen über willkürlich aufgestellte Regeln einen Frondienst in der Kirche aufzurichten, der nicht Gottes- oder Kirchendienst ist, sondern allein der Beherrschung der Kirchenglieder dient. Im Übrigen bemüht sich das gesamte Vierte Stück der Religionsschrift um eine Scheidung dieser beiden Prinzipien von kirchlichem Vollzug.

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Durchsetzung entbehrlich machen.108 Bei Verwirklichung des Reiches Gottes als Ziel der Menschheit bedarf es keiner von der Gesamtgesellschaft separierten Kirche mehr, weil das gesellschaftliche Leben der gesamten Menschheit109 reine Religion im Vollzug ist. Kant entwirft ein teleologisches Modell von Weltauffassung, das einer Gedankenfigur folgt, die sich so auch schon bei Lessing findet. Positive Glaubensarten enthalten danach einen vernünftigen Kern, der sich im Verlauf der Weltgeschichte immer deutlicher abzeichnet, indem sie ihre nichtvernünftigen Positivitäten als Mittel zum Zweck deuten oder hinter sich lassen. Der Entwicklungsprozess mündet in das Ideal der Vernunftreligion.110 Bei Richard Rothe findet sich der Gedanke der Selbstverflüssigung der Kirche wieder: [D]ie Idee der christlichen Gemeinschaft ist in ihrer vollendeten Form nicht die der Kirche, sondern die des christlichen, d.h. überhaupt des wahren und vollendeten Staats, in welche auch geschichtlich die Idee der christlichen Gemeinschaft aus ihrer anfänglichen Fassung unter der Form der Kirche nothwendig umschlägt.111

Unübersehbar ist die Parallele zu Kants transitiver Auffassung der positiven Kirche, deren Ziel im Reich Gottes liegt, bei dessen Erreichen die Positivität aufgegeben werden muss. Es gibt aber auch eine entscheidende Differenz zwischen Kant und Rothe, die ihren Grund in Rothes Pathos für den Staat als höchste Form menschlicher Vergesellschaftung hat. Zwar kann Rothe den anzustrebenden Staat als „die Wirklichkeit sittlichen Lebens“112 bezeichnen, also als eine Darstellung sittlicher Innerlichkeit seiner Glieder. Dieses sittliche Gebilde bedeutet nach Rothe allerdings nicht die Überwindung der Partikularität von politischen Gemeinschaften, sondern deren Existenzrecht wird ausdrücklich anerkannt.113 In ihnen kommt die Idee 108 Vgl. dazu I. KANT: Rel., 115: „Wenn also gleich […] ein historischer Glaube als Leitmittel die reine Religion afficiert, doch mit dem Bewußtsein, daß er bloß ein solches sei, und dieser als Kirchenglaube ein Princip bei sich führe, dem reinen Religionsglauben sich continuierlich zu nähern, um jenes Leitmittel endlich entbehren zu können, so kann eine solche Kirche immer die wahre heißen.“ (Hervorhebung im Original). 109 Dass reine Religion dazu fähig ist, die gesamte Menschheit zu erreichen, liegt an ihrer Vernünftigkeit. Es lässt sich zeigen, dass I. KANT im Streit der Facultäten für die Fähigkeit einer Glaubensart, Allgemeingültigkeit einfordern zu können, den Begriff der Orthodoxie verwendet hat. Vgl. dazu und zum Gebrauch des Begriffs Orthodoxie bei Kant überhaupt: J. BAUR, Philosophie im Ausgriff auf konkrete Religion. 110 Vgl. zu Lessings Bearbeitung des Problems P. KONDYLIS: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, 595–615. Lessing hat in seiner Erziehungsschrift die Ansichten des Nathans modifiziert. Hat er im Nathan noch gemeint, Judentum und Christentum seien parallele positive Erscheinungen der Humanitätsreligion, wird diese Parallelität in der Erziehungsschrift zu Gunsten eines Entwicklungsmodells aufgelöst. 111 R. ROTHE: Die Anfänge, § 15, 121f. 112 R. ROTHE: Die Anfänge, § 3, 13. 113 Vgl. dazu R. ROTHE: Die Anfänge, § 8.

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Sittlichkeit, durch den jeweiligen Charakter einer Nationalität geprägt, positiv zum Ausdruck.114 Rothe stellt sich die Vielheit der unterschiedlichen Nationalstaaten im Reich Gottes so zueinander organisiert vor, dass sie ein sittlich bestimmtes Ganzes ergibt. Kant hat zwar auch das politische Ideal von miteinander organisierten Staatengemeinschaften gekannt, aber er konnte darunter nicht schon das Reich Gottes verstehen. Warum das so ist, wird sogleich einleuchten, wenn man bedenkt, wie Kant das Verhältnis von Kirche und Staat bestimmt. Alle politischen Vergesellschaftungsformen folgen dem Prinzip Legalität, das Signum juridischer Gemeinschaften ist. Das Reich Gottes auf Erden dagegen ist eine Gesellschaft, deren Vereinigungsprinzip nicht auf Legalität, sondern auf Moralität aller ihrer Glieder beruht.115 Das Sittengesetz als alleiniges Organisationsprinzip der reinen Religion oder des Reiches Gottes, macht dieses mit allen sonstigen Gesellschafts- und Staatsformen schlicht inkommensurabel: „Ein ethisches gemeines Wesen […], als Kirche, d.i. als bloße Repräsentantin eines Staats Gottes, betrachtet, hat eigentlich keine ihren Grundsätzen nach der politischen ähnliche Verfassung.“116 Bei Realisierung des Gottesreiches auf Erden muss die politisch-juridische Organisation einzelner Staaten zu Gunsten der reinen Religion aufgegeben werden. Denn nicht nur das Handlungsprinzip der Legalität, sondern auch die bloß partikulare Gültigkeit juridischen Rechts ist zur Erreichung des Ziels der Menschheit zu überholen. „[W]eil die Tugendpflichten das ganze menschliche Geschlecht angehen, so ist der Begriff eines ethischen gemeinen Wesens immer auf das Ideal eines Ganzen aller Menschen bezogen, und darin unterscheidet es sich von dem eines politischen.“117 Man wird nach der hier vorgelegten Deutung Kants einschlägige Schriften, die sich mit der Idee von weltbürgerlichen Gemeinschaften aus politischer Sicht beschäftigen, von diesem Ziel einer Weltgemeinschaft ohne jedes Zwangsgesetz her deuten müssen. Kants Zum ewigen Frieden mit der Idee des Völkerrechts setzt „die Absonderung vieler von einander unabhängiger benachbarter Staaten voraus“118 und betrifft demnach das Verhältnis von Völkern mit differenter Kultur, Religion und Gesetzgebung. Der anzustrebende Zustand des Völkerfriedens muss aber von einer ihn noch 114

Vgl. R. ROTHE: Die Anfänge, § 3. Vgl. I. KANT: Rel., 98f: „Denn in einem solchen gemeinen Wesen sind alle Gesetze ganz eigentlich darauf gestellt, die Moralität der Handlungen (welches etwas Innerliches ist, mithin nicht unter öffentlichen menschlichen Gesetzen stehen kann) zu befördern, da im Gegentheil die letzteren, welches ein juridisches gemeines Wesen ausmachen würde, nur auf die Legalität der Handlungen, die in die Augen fällt, gestellt sind und nicht auf die (innere) Moralität, von der hier allein die Rede ist“ (Hervorhebungen im Original). 116 I. KANT: Rel., 102. 117 I. KANT: Rel., 96. 118 I. KANT: Zum ewigen Frieden, 367 (Hervorhebung im Original). 115

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überbietenden Idee reiner Religion her verstanden werden.119 In der Friedensschrift heißt es, die Verschiedenheit von Glaubensarten, die in unterschiedlichen Partikulargesellschaften auftreten, sei neben der Verschiedenheit der Sprache ein Grund für die Absonderung unterschiedlicher Partikulargemeinschaften. Die Differenzen bei Glaube und Sprache sind demnach, so lange sie bestehen, Grund für die Pluralität von Staaten. Nun ist mit dieser Bemerkung allerdings nicht ausgemacht, dass die Differenzen auf den Feldern Religion und Sprache prinzipiell unaufhebbar sind. Eine Anmerkung in der Friedensschrift gibt das Gegenteil zu verstehen, indem sie auf die einheitsbildende Idee hinter der Vielzahl von positiven Glaubensarten verweist.120 Die Idee einer für „alle Menschen und alle Zeiten gültige[n] Religion“121 lässt, ganz im Sinne der in der Religionsschrift vertretenen Ansicht, auch in der Friedensschrift die Glaubensarten „als Vehikel der Religion“122 erscheinen, die bei ihrer Realisierung in Reinheit jedwede kulturellen Differenz aufhebt, weil handlungsleitend sodann nicht mehr kulturelle Eigenarten, sondern die eine Vernunft ist. Kant hat den Völkerbund ewigen Friedens nicht als letztes Ziel der Menschheit verstanden, sondern als ein Durchgangsstadium, das durch das Ideal totaler Moralität des Menschengeschlechts überboten wird. Deutlich äußert sich Kant in dieser Hinsicht in seiner Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht von 1784. Ziel der Geschichte sei danach ein künftiger großer Staatskörper, „wovon die Vorwelt kein Beispiel aufzuzeigen hat.“123 Es handelt sich um das Ideal einer die gesamte Menschheit umfassende Gesellschaft, also um einen allgemeinen „weltbürgerlichen Zustand, als der Schooß, worin alle ursprüngliche Anlagen der 119 Die Interpreten der Friedensschrift sehen in dieser naturgemäß vor allem eine Abhandlung, die das politische Verhältnis von Staaten zueinander regelt. Zwar wird darauf aufmerksam gemacht, dass Kant keinen unüberbrückbaren Hiatus zwischen den Prinzipien der Politik und Moral gesehen hat (Vgl. dazu M. CASTILLO: Moral und Politik), und doch kann man in einer systematischen Verbindung von Staaten, die allerdings die Pluralität souveräner Völker und Staaten nicht grundsätzlich in Frage stellt, das angestrebte Ziel der Schrift sehen (Vgl. O. HÖFFE: Völkerbund oder Weltrepublik). Die hier vorgelegte Deutung kann sich einverstanden erklären mit der These, dass Politik mit Moral einherzugehen vermag, sie kann sich auch einverstanden erklären mit der Erklärung, dass die Herstellung von Frieden eine der bei Höffe diskutierten Formen der Weltrepublik annehmen muss, in der Staaten sich friedlich zueinander verhalten. Allerdings lassen sich all diese Formen der Gemeinschaftlichkeit nur als Vorformen des Ideals einer Weltgemeinschaft verstehen, in der jede Partikularität zu Gunsten eines rein moralischen Vollzugs der Menschheit aufgehoben ist: das Reich Gottes auf Erden. Es ist damit nicht gesagt, dass sich diese Weltgemeinschaft jemals in der Zeit erreichen ließe, es handelt sich allerdings um die handlungsleitende Idee, von der her auch alle Anstrengungen zur Herstellung eines Völkerbundes verstanden werden müssen. 120 Vgl. I. KANT: Zum ewigen Frieden, 367, Anm. 121 I. KANT: Zum ewigen Frieden, 367, Anm. (Hervorhebung im Original). 122 I. KANT: Zum ewigen Frieden, 367, Anm. 123 I. KANT: Idee zu einer allgemeinen Geschichte, 28.

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Menschengattung entwickelt werden.“124 Die Ausbildung aller Anlagen des Menschen meint vor allem die Überformung der tierischen Anlagen durch Vernunft zu Gunsten einer moralischen Kultur. Dieser Zustand der Menschengattung ist vollständig realisiert, wenn ausnahmslos alle Handlungen frei vom Naturzwang vollzogen werden und moralische Bonität aufweisen. Religiös gesprochen handelt es sich um das Reich Gottes, in dem der Wille des Gesetzgebers alle Handlungen bestimmt. Alle anderen Zustände der Menschheit, wie etwa Bündnisse von Völkern zum Frieden, verhalten sich dazu als Mittel zum Zweck. Die Reingestalt von Religion in der Zeit für erreichbar zu halten, ist nach Kant wohl überschwängliche Schwärmerei. Zwar spricht nach der Logik der praktischen Vernunft nichts dagegen, denn die Realisierung des Reiches Gottes muss, weil es die Bestimmung des Menschengeschlechts ist, möglich sein. Kant hat die Chancen auf die tatsächliche Durchsetzung des Gottesreiches auf Erden allerdings nicht günstig beurteilt: „Die Erfahrung spricht uns hierzu alle Hoffnung ab.“125 Sein Pessimismus ist nicht allein phänomenologisch genährt, sondern es gibt religionstheoretische Gründe für den empirischen Zustand der Menschheit, die jetzt zu erörtern sind. 5.2.5 Der Stand der Religionsgeschichte und die Stellung des Christentums Kants Eingangsbemerkung zur Religionsschrift, nach der „die Welt im Argen“126 liegt, betrifft nicht nur die moralische Verfassung aller Individuen als Individuen, sondern auch die Mehrzahl der Glaubensgemeinschaften. Ihnen mangelt es an Selbstdurchsichtigkeit, die notwendig wäre, um ihre Statuten als Mittel zum Zweck der reinen Religion zu verstehen. Die Religionsgeschichte, so Kant, nimmt ihren Anfang bei rein statutarischen Religionen und hat bis in die Gegenwart nur wenige Schritte in die richtige Richtung getan: Tempel (dem öffentlichen Gottesdienste geweihte Gebäude) waren eher als Kirchen (Versammlungsörter zur Belehrung und Belebung in moralischen Gesinnungen), Priester (geweihte Verwalter frommer Gebräuche) eher als Geistliche (Lehrer der reinen moralischen Religion) und sind es mehrentheils auch noch im Range und Werthe, den ihnen die große Menge zugesteht.127

Wenn die positiven Glaubensgemeinschaften weitgehend hinter ihrer Bestimmung zurückbleiben, so ist für sie – ganz analog zur Individual124

I. KANT: Idee zu einer allgemeinen Geschichte, 28 (Hervorhebungen im Original). I. KANT: Rel., 123 Anm. 126 I. KANT: Rel., 19. 127 I. KANT: Rel., 106 (Hervorhebungen im Original). 125

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eschatologie – eine Entwicklung durch die Zeit hin zur Vollkommenheit zu denken. Eine vernunftangemessene Philosophie der Religionen (Glaubensarten) ist durch deren transitive Auffassung gekennzeichnet.128 Ziel eines Modifikationsprozesses der Glaubensarten ist die schon beschriebene rein moralische Religion. Kants Prinzip der Geschichtsschreibung in der Religionsschrift folgt einer normativen Auffassung von Geschichte. Wenn er davon spricht, dass „eine allgemeine historische Darstellung“ den Vergleich der unterschiedlichen Glaubensarten „mit dem alleinigen, unveränderlichen, reinen Religionsglauben“129 vorzunehmen hat, so ist eindeutig vorausgesetzt, historische Veränderung könne sachangemessen nur dann beschrieben werden, wenn zugleich ihr Ziel vor Augen steht.130 Nun ist allerdings zu bemerken, dass Kant meint, es sei überhaupt erst dann sinnvoll von fortschreitender Entwicklung zu sprechen, wenn der Überschritt von der statutarischen zur über sich aufgeklärten Religion schon stattgefunden hat. Wo dieser Schritt nämlich noch nicht getan ist, gibt es gemessen an dem Ideal von Religion keine modifizierende Entwicklung, sondern nur Wiederholungen derselben statutarischen Struktur von Glaubensgemeinschaften. Voraussetzung für die Auffassung der Religionsgeschichte als Entwicklungsgeschichte ist der Auftritt einer Kirche, mit dem der Wechsel von der statutarischen zur symbolischen Selbstauffassung einmal gelungen ist.131 Die gesamte Religionsgeschichtsschreibung lässt sich nach kantscher Kriteriologie demnach systematisch auf zwei Phasen reduzieren: die Zeit der statutarischen Religionen und die Zeit der sogenannten wahren Glaubensarten. Es ist kaum angemessen, bei Kant von einem mehrstufigen 128 Das wird an dieser Stelle bloß konstatiert. Vgl. zur Begründung die Ausführungen in Abschnitt 5.3 zur Deutung der Weltgeschichte als Vollendungsgeschichte der Menschheit. 129 Beide Zitate stammten aus einem Satz in I. KANT: Rel., 124, der vollständig wie folgt lautet: „Der Kirchenglaube ist es daher allein, von dem man eine allgemeine historische Darstellung erwarten kann, indem man ihn nach seiner verschiedenen und veränderlichen Form mit dem alleinigen, unveränderlichen, reinen Religionsglauben vergleicht.“ 130 Das hat ganz ähnlich auch E. TROELTSCH: Das Historische, 25–37, gesehen. E. TROELTSCH meint, Kant bewege sich mit seiner transzendental-normativen Auffassung von Religion im Rahmen der Aufklärung, die einen insgesamt „unhistorischen Charakter“ (26) habe. Dieser Charakter werde erst mit dem 19. Jh. zu Gunsten der historischen Methodik überwunden. Allerdings hole Kant mit der Teleologie der KdU das Historische als ein Konzeptionsmoment der Religionsphilosophie ein. Damit aber, so fällt E. TROELTSCHs Urteil aus, handele sich Kant ein unlösbares Problem ein: nämlich dem historisch Faktischen einen Zug zur Normativität abgewinnen zu wollen (34f). Vgl. zur Teleologie von Kants KdU und der von Troeltsch aufgeworfenen Fragestellung, wie sich das Historische mit dem Normativen vertragen können soll, die Ausführungen unten zur Vollendung der Menschheit als Gattung, v.a. Abschnitt 5.3.1. Es sei darüber hinaus darauf hingewiesen, dass Troeltsch in seiner Absolutheitsschrift seinerseits versucht hat, das Problem einer Lösung zuzuführen, die ihren Ausgangspunkt nicht bei der Normativität, sondern bei der Historizität der Welt nimmt. 131 Vgl. I. KANT: Rel., 124f.

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Modell zu sprechen, in das die unterschiedlichen Glaubensformen eingeordnet werden. Er vertritt vielmehr ein radikal duplizitäres System, um Religionen zu klassifizieren. Grundsätzlich ist es jeder Glaubensart möglich, sich zu einer dem Reich Gottes dienstbaren Religion zu modifizieren. Kant schreibt diese Fähigkeit faktisch allein dem Christentum zu.132 Ob er mit dieser Einschätzung richtig liegt, soll hier nicht Thema sein. Vielmehr geht es allein darum, die Merkmale herauszupräparieren, die eine Glaubensart zur Beförderung des Reiches Gottes befähigen. Es wird sich zeigen, dass eine Glaubensart dazu eine Rechtfertigungslehre oder Elemente äquivalenter Funktion in sich tragen muss. Wenn dazu im Folgenden das Christentum als idealtypischer Repräsentat derartiger Glaubensformen betrachtet wird, soll damit kein grundsätzlicher Anspruch der Exklusivität des Christentums erhoben sein. Kant aber sah die Voraussetzungen für eine Beförderung des menschlichen Telos faktisch allein im Christentum gegeben. Stufungen, die für statutarische Religionen ausgeschlossen sind, können dann allerdings innerhalb des Christentums vorkommen, so dass nach Kant erst auf seinem Boden von einer allmählichen Annäherung an das Ideal zu sprechen ist. Kant sieht zwar auch innerhalb des Christentums nicht eine lineare Entwicklung hin zur reinen Religion133, meint aber insgesamt doch eine gerichtete Bewegung erkennen zu können. So lobt er die Jetztzeit, weil sie den „Keim des wahren Religionsglaubens, so wie er jetzt in der Christenheit zwar nur von einigen, aber doch öffentlich gelegt worden“134 ist, in sich trägt. Allerdings ist das Ziel einer Religion, die die gesamte Menschheit umgreift und also den Streit zwischen differenten Statuten aufhebt, nicht in absehbarer Nähe – es liegt sogar sehr fern.135 Größeres Gewicht muss an dieser Stelle auf den Umschwung gelegt werden, der aus Kants Sicht die Introduktion des Christentums in die Welt 132 Vgl. I. KANT: Rel., 125, wo Kant erst mit dem Überschritt vom Judentum zum Christentum eine Religion in die Weltgeschichte eintreten sieht, in der Entwicklung hin zum Ziel der Menschheit möglich ist. Diese Einschätzung Kants muss man nicht teilen. Man kann ebenso der Auffassung sein, dass auch das Judentum und andere Religionen die Fähigkeit haben, das Reich Gottes zu befördern. Es kommt hier allein darauf an, die strukturellen Erfordernisse aufzudecken, die zur Beförderung der moralischen Weltgemeinschaft vorhanden sein müssen. Die vorliegende Arbeit ist also nicht an der tatsächlichen Einschätzung des Judentums durch Kant interessiert und teilt sie auch nicht in jeder Hinsicht. 133 Vgl. I. KANTs Beschreibung der Streitigkeiten und Spaltungen innerhalb des Christentums in: Rel., 134f. 134 I. KANT: Rel., 131 (Hervorhebungen durch A.H). 135 Vgl. die Einschätzung, die I. KANT: Rel., 100, selbst gibt: „Die erhabene, nie völlig erreichbare Idee eines ethischen gemeinen Wesens verkleinert sich sehr unter menschlichen Händen, nämlich zu einer Anstalt, die allenfalls nur die Form desselben rein vorzustellen vermögend, was aber die Mittel betrifft ein solches Ganze zu errichten, unter Bedingungen der sinnlichen Menschennatur sehr eingeschränkt ist.“ (Hervorhebung durch A.H.).

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gebracht hat. Wenn dazu der Frage nachzugehen ist, in welchem Verhältnis das Christentum zum Judentum steht, wird damit nicht der Zweck verfolgt, beide Religionen einem wertenden Vergleich zu unterziehen. Kant hat gemeint, erst mit der Entlassung des Christentums aus dem Judentum sei der Überschritt zu einer wahrhaft moralischen Religion getan.136 Man wird dieses Urteil Kants so nicht teilen können, weil es faktisch das moralische Potential des Judentums unterschätzt. Es soll im Folgenden aber nicht um Kants Einschätzung des Judentums oder anderer positiver Religionen gehen. Vielmehr interessiert hier nur, auf welche Weise man mit Kant das Auftreten von dem Reich Gottes förderlichen Glaubensgemeinschaften erklärlich machen kann. Ist der Umschwung in der Geschichte hin zur wahren Kirche aus der Geschichte selbst verständlich zu machen? Wäre der christliche Glaube – an ihm denkt Kant das Problem durch – aus bestimmter Deutungsperspektive aus der Geschichte unableitbar, so würde es nahe liegen, sein Auftreten aus dieser Perspektive als das Resultat einer Offenbarung aufzufassen. Letzteres ist eigentlich eine Eigenart, die jede Glaubensgemeinschaft auszeichnet. Denn ihre positiven Formen sind nicht aus der Vernunft derivierbar, so dass Glaubensgemeinschaften ihre Statuten als gottgegeben deuten. Diese Form des Offenbarungsglaubens ist jetzt aber nicht im Blick. Vielmehr hebt sich das Christentum nach Kant von anderen Glaubensarten durch seine Tauglichkeit zur Beförderung der reinen Religion ab. Das Auftreten dieser spezifischen Differenz kann nicht auf natürliche Weise erklärt werden kann, weil es der Menschheit natürlich ist, sich in selbstreproduzierenden statutarischen Religionen zu vollziehen. Wie, so lautet die Frage nun spezifiziert, ist es möglich, dass in einer Welt voller afterdienerischer Religionen eine Glaubensart mit dem Anspruch, den afterdienerischen Selbstvollzug hinter sich zu lassen, das Licht der Welt erblickt? Die Genese der christlichen Religion muss ihrem Selbstverständnis nach unter Rücksicht auf die genannten Voraussetzungen auf einen „vom Himmel gesandten“137 Stifter zurückgehen. Das Problem und seine Lösung verhalten sich analog zu dem oben explizierten Verständnis der Erlösung138 des Menschen. Es ist möglich, den Eintritt des Christentums auf den freien Entschluss eines Einzelnen zurückzuführen, der sich selbst erlöst hat und sich sodann anschickte, durch die Stiftung einer nicht statutarisch sich vollziehenden Religion die Menschheit zu retten. Allerdings lässt sich diese Sicht der Dinge vor dem Hintergrund der Verderbnis der Gattung, die ihren Ausdruck in der Geschichte der statutarischen Religionen findet, nicht wahrscheinlich machen. Es setzt folglich ein reflektierendes Fragen ein, das 136

Vgl. dazu vor allem I. KANTs Ausführungen in: Rel., 125–130. I. KANT: Rel., 128. 138 Vgl. das Kapitel 3 oben. 137

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nach Gründen für den Wandel fragt. Letzte Gründe sind erst dann aufgesucht, wenn der Entschluss eines Religionsstifters, eine moralische Gemeinschaft zu gründen, auf Gott zurückgeführt wird. In der vor dem Christentum sich begebenden Geschichte des Judentums gibt es nach Kant Tendenzen, die eine solche Offenbarung in dem Sinne vorbereiten, dass ihr Gehalt verständlich wird. Kant meint, vor allem zwei Bedingungen in der Umwelt des Christentums ausmachen zu können, die sein inhaltliches Anliegen vorbereiten: einerseits die dem jüdischen Glauben eigentümliche Unterwerfung unter Gottes Willen, die aber gemessen am moralischen Glauben noch den Mangel aufweise, von rein statutarischer Art zu sein, weil sie nur auf die äußerliche Befolgung der Gesetze achte.139 Dieses Urteil Kants folgt offensichtlich einem Klischee, das die jüdische Religion verzeichnet. Es geht an dieser Stelle aber nicht um eine Beurteilung von Kants Einschätzung des Judentums, sondern darum, dass moralische Religionen – wie immer sie auch heißen mögen – einerseits bestimmte kulturelle Bedingungen voraussetzen, andererseits ihre eigene Genese auf Offenbarung zurückführen.140 Mit dem Einfluss der griechischen Philosophie auf das jüdische Volk sieht Kant andererseits das Prinzip Moralität im Sinne der praktischen Vernunft Einfluss auf die jüdische Religion erhalten.141 Gleichwohl nennt er das Auftreten Christi und mithin den Anfang des christlichen Glaubens eine Revolution, die sich nicht vollständig aus dem vorherigen Zustand ableiten lasse. Denn es lassen sich nach Kant im christlichen Glauben Elemente finden, die absolut neu auftreten und aus der Geschichte nicht derivierbar sind. Damit ist ein natürliches Verständnis der christlichen Religion nicht ausgeschlossen – es verhält es sich gerade umgekehrt. Der wesentliche Gehalt christlicher Religion ist vernünftig und mithin intersubjektiv vermittelbar, denn er zielt auf das Reich Gottes. Die christliche Religion kann „jeden 139 Damit geht für Kant einher, dass die Gesetze der jüdischen Religion wesentlich auf die Errichtung eines politischen Staates zielen und angeblich nicht auf Durchdringung der Menschheit mit moralischer Gesinnung. Vgl. I. KANT: Rel., 125–128. 140 Wie gesagt ist es nicht Aufgabe dieser Arbeit, zu untersuchen, ob und inwiefern Kant mit seiner Einschätzung des Judentums bloß Klischees transportiert. Man kann sich dieses Eindrucks jedenfalls nicht erwehren. Hier werden Kants Ausführungen in dieser Sache lediglich aufgenommen, um strukturell zeigen zu können, inwiefern er das Prinzip einer moralischen Glaubensart (und er meinte dies allein in der christlichen Religion verwirklicht zu sehen) als auf Offenbarung gefußt angesehen hat. Selbstverständlich ist auch nach Kant die grundsätzliche Möglichkeit der Realisierung wahrer Religion nicht allein dem Christentum vorbehalten, sondern ebenso jeder anderen Religion, die zur Beförderung von Moralität eignet. Die These der vorliegenden Arbeit lautet, dass es dazu einer Rechtfertigungsvorstellung oder eines Elements mit ähnlicher Funktion bedarf. Es ist unmöglich, die Potentialität zur Entfaltung derartiger Vorstellungen allein dem Christentum vorzubehalten. 141 Vgl. I. KANT: Rel., 128.

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Menschen von ihr praktisch hinreichend überzeugen.“142 Ihr Wesen hätte von der Menschheit auch auf natürliche Weise (durch den bloßen Gebrauch ihrer Vernunft) hervorgebracht werden können: „Es kann demnach eine Religion die natürliche, gleichwohl aber auch geoffenbart sein, wenn sie so beschaffen ist, daß die Menschen durch den bloßen Gebrauch ihrer Vernunft auf sie von selbst hätten kommen können und sollen.“143 Die eigentümliche Kombination von „hätten […] können und sollen“ im Schluss des Zitats ist auffällig. Sie erinnert an Kants Einschätzung des Individuums, dem er einerseits das Können von sittlichem Selbstvollzug unterstellt, weil es sich sittlich vollziehen soll, dem er andererseits die tatsächliche Realisierung von Bonität abspricht.144 Im Folgenden soll deutlich werden, inwiefern der Hang religiöser Gemeinschaften, sich in Glaubensfragen statutarisch zu vollziehen, analog zur Sünde des Einzelnen nicht ohne weiteres zu überwinden ist. Kant macht eine natürliche Prädestination des Menschen aus, die ihn meinen lässt, Verehrung Gottes heiße, beständig moralisch indifferente Leistungen vollbringen zu müssen.145 In der Menschheitsgeschichte wiederholt sich die moralische Problemlage des Individuums, insofern auch dieser Hang nicht natürlicherweise ausrottbar zu sein scheint. Der Hang zur Reproduktion der statutarischen Auffassung der Gottesbeziehung ist analog der Sünde des Einzelnen radikal. Zwei Gründe für die faktische Unhintergehbarkeit des Götzendienstes in Glaubensarten lassen sich ausmachen. Der erste betrifft die Selbstorganisation von positiven Glaubensarten, der zweite das Interesse des sündigen Individuums am statutarischen Gottesdienst. Der erste Grund liegt im Wesen der statutarischen Religion überhaupt. Jede Glaubensart, die ihre Statuten als Selbstzweck auffasst, wird eine Abweichung oder eine Unterordnung von ihnen unter einen anderen Zweck nicht zulassen, weil das die Außerkraftsetzung der Selbstzwecklichkeit bedeutete.146 Eine eigens eingesetzte Klasse von Gliedern der Kirche wird sich darin befleißigen, jede Devianz von der statutarischen Auffassung zu unterbinden: das afterdienerische Pfaffentum.147 So reproduziert sich jede 142

Beide Zitate: I. KANT: Rel., 157. I. KANT: Rel., 155 (Hervorhebungen im Original). 144 Vgl. dazu den Abschnitt 2.3. 145 Vgl. I. KANT: Rel., 102f. 146 Vgl. I. KANT: Rel., 133, Anm.: „Denn wegen des Hanges der Menschen zum gottesdienstlichen Frohnglauben, dem sie nicht allein vor dem moralischen (durch Beobachtung seiner Pflichten überhaupt Gott zu dienen) die größte, sondern auch die einzige, allen übrigen Mangel vergütende Wichtigkeit zu geben von selbst geneigt sind, ist es den Bewahrern der Rechtgläubigkeit als Seelenhirten jederzeit leicht, ihrer Heerde ein frommes Schrecken vor der mindesten Abweichung von gewissen auf Geschichte beruhenden Glaubenssätzen und selbst vor aller Untersuchung dermaßen einzujagen, daß sie sich nicht getrauen, auch nur in Gedanken einen Zweifel wider die ihnen aufgedrungenen Sätze in sich aufsteigen zu lassen.“ 147 Vgl. dazu I. KANTs Viertes Stück der Religionsschrift. 143

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statutarisch verfasste Kirche gleichsam systemisch selbst. Die Rolle des Einzelnen wird auf die Fügung in die Systemvorgaben reduziert, so dass Modifikationen selten sind und keinesfalls das götzendienerische Prinzip außer Kraft setzen. Sich dem statutarischen Prinzip hinzugeben, bereitet dem Individuum, sofern es sich im Stand der Sünde befindet, allerdings keine Schwierigkeiten, vielmehr besteht ein natürlicher Hang zu seiner Begrüßung – und damit ist man beim zweiten Grund für die Selbstreproduktion von idolatrisch sich vollziehende Kirchengemeinschaften. Die Neigung des Menschen, sich religiös statutarisch zu vollziehen, kann nur im natürlichen Hang zur Sünde liegen. Glaubensarten, die ihren Gliedern nichts als den legalistisch vollzogenen Kultus abfordern, sind dazu geeignet, ein gutes Gewissen trotz böser Gesinnung zu verschaffen. Sie dienen der Selbstkaschierung und Selbstreproduktion der Sünde. Das Auftreten der christlichen Kirche bedeutet nach Kant deshalb eine Revolution in der Religionsgeschichte, weil sie das statutarische Prinzip aller ihr vorausliegenden Glaubensarten durchbricht, obwohl deren Prinzip gerade darin besteht, eine derartige Revolution zu verhindern. Zwar muss dieser Durchbruch wegen der durch das Sittengesetz ermöglichten Freiheit grundsätzlich auch auf natürlichem Weg möglich sein. Jedoch muss eine natürliche Entstehung wahrer Religion vor dem Hintergrund der statutarischen Religionsgeschichte als außerordentlich unwahrscheinlich gelten. Kant konstatiert deshalb, es sei leicht erklärlich, dass der christliche Glaube seine eigene Genese auf Offenbarung zurückführt. Wegen der „Schwierigkeit, sich den Ursprung einer solchen […] Erleuchtung des Menschengeschlechts nach natürlichen Gesetzen begreiflich zu machen“, könne die Schrift, die die neue Glaubensart tradiert, „das Ansehen […] einer Offenbarung“148 erhalten. 5.2.6 Die Bedeutung der Rechtfertigungslehre für Genese und Modifikation des Christentums Kant meinte, erst mit der christlichen Kirchengeschichte eine gerichtete Entwicklung der Menschheit auf ihr Ziel hin ausmachen zu können. Der Durchbruch zur Selbstdurchsichtigkeit von Religion im Christentum ist dabei vorausgesetzt. Zu diesem Durchbruch ist die Fähigkeit erforderlich, die Sünde zu überwinden, denn erst wenn die in einer Glaubensgemeinschaft organisierten Menschen von dem natürlichen Zwang befreit sind, sich selbst lieben zu müssen, kann es ihnen gelingen, der Menschheitsformel des Sittengesetzes nachzustreben. Bedingung der Möglichkeit für die 148

I. KANT: Rel., 107.

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Überwindung der radikal gedeuteten Sünde ist die Bereitstellung einer Rechtfertigungstheorie oder funktionsäquivalenter Lehrgehalte durch eine Glaubensart. Dass Kant allein das Christentum zur Durchsetzung des Reiches Gottes befähigt sah, ist danach kein Zufall, weil es diejenige Glaubensart ist, die eine Rechtfertigungslehre zu ihrem Integral hat. Diese besondere Bedeutung der Rechtfertigungslehre für die Teleologie der Welt bei Kant auffinden zu wollen, mag zunächst überraschen – vor allem wenn man gewärtigt, dass die kantsche Entfaltung des Rechtfertigungstopos im Allgemeinen als unverständlich oder systemfremd eingeschätzt wird.149 Will man aber die Feststellung, die gleichfalls aller Orten gemacht wird, Kant sei ein systematisch denkender Philosoph gewesen150, nicht ad absurdum führen, so wird man der Rechtfertigungslehre einen systemimmanenten Sinn abgewinnen müssen – selbstverständlich, ohne anderen Systemteilen Gewalt anzutun. Viel weniger abwegig wirkt die vorgetragene These, Kant habe der Rechtfertigungslehre eine essentielle Funktion für das Christentum und für die Menschheitsgeschichte zugeschrieben, wenn man sich Folgendes klarmacht: Kant hat seine Darstellung der Religionsgeschichte im Dritten Stück der Religionsschrift151 unübersehbar mit der Entfaltung des Rechtfertigungsbegriffs verzahnt.152 Dieser Konnex ist sachlich angemessen, weil der Versöhnungsglaube unter Berücksichtigung der Radikalität der Sünde unabdingbar für die sittliche Besserung von Menschen ist. Ohne eine positive Glaubensart, die erstens den Versöhnungsgedanken bereitstellt und zweitens sich über ihre Transitivität zum Zweck der sittlichen Weltgemeinschaft im Klaren ist, scheint auch die Vollendung der Menschheitsgeschichte unmöglich zu sein. Jede Glaubensart aber, die diese beiden Kriterien erfüllt, eignet als Leitmittel für das Reich Gottes auf Erden. Wenn Rechtfertigungsglaube essentielles Konstitutionselement des christlichen Glaubens ist, erfolgt eine signifikante Entwicklung innerhalb 149 Vgl. jüngst nur R. WIMMER: Religionsphilosophie, der meint, gegen die Behandlung des Problems bei Kant „ließe sich eine Reihe kritischer Einwände vorbringen.“ (167). Der wichtigste bestehe darin, dass Kant den „Status des Glaubens an die Tilgung der Schuld“ nicht eindeutig angeben könne. (167). Aus anderem viel häufiger bemühten Grund kann C. DIERKSMEIER: Das Noumenon Religion, der Rechtfertigungslehre bei Kant nichts abgewinnen: „Die Absurdität endlichen Seins [in der natürlicherweise unüberbrückbaren Spannung von Sein und Sollen] wäre nicht ein Ausdruck sittlich gescheiterten menschlichen Lebens, sondern konstitutiv für endliches Leben überhaupt. Es wäre ausschließlich über einen gnädigen, allmächtigen Weltherrn zu retten. Ein solches Verständnis ist im Rahmen kritischer Transzendentalphilosophie abzulehnen.“ (45). Dierksmeier weiß sich denn auch nicht anders zu helfen, als alle entsprechenden Stellen bei Kant – und es sind nicht wenige – über Bord zu werfen. 150 Darauf weist ebenfalls C. DIERKSMEIER: Das Noumenon Religion, 2, hin. 151 Vgl. I. KANT: Rel., 115–124. 152 Der Rechtfertigungsgedanke erhält an dieser Stelle besondere Aufmerksamkeit obwohl er von I. KANT eigentlich schon zuvor in: Rel., 62–78 abgehandelt worden ist.

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des Christentums immer dann, wenn sich das Verständnis von der Rechtfertigung verschiebt.153 Alle anderen Elemente des Selbstverständnisses, wie sie in Dogmen und Bekenntnissen zum Ausdruck kommen, werden sodann ebenfalls modifiziert. Die unterschiedlichen Topoi einer Dogmatik müssten sich bei ihrer Entfaltung nach den Vorgaben der Rechtfertigungslehre richten. Hier kann mitnichten eine Typologie der christlichen Glaubensformen und ihrer Lehrausdrücke geboten werden. Vielmehr soll das Gesagte an einem einzigen Beispiel vorgeführt werden – nämlich am Verhältnis von Rechtfertigungslehre und Offenbarungsverständnis. Wenn das Verständnis der Rechtfertigungslehre sich überholt, müsste nach der gebotenen These sich auch der Offenbarungsbegriff verändern. Es gibt nach Kant grundsätzlich zwei Formen von Offenbarung, die sich in ihrem Modus, für einen Rezipienten verstehbar zu sein, unterscheiden. Zum einen kann das Offenbarte von der Art sein, dass es jedem durch sein Vernunftvermögen verständlich ist. Dies entspricht dem oben beschriebenen Fall einer Offenbarung, die in die Geschichte introduziert, was die Menschheit aus sich selber hätte freisetzen sollen, aber wegen der Radikalität des Reiches des Bösen faktisch nicht konnte. Offenbarung ist sodann die Bekanntmachung dessen, „was für die Menschen durch ihre eigene Schuld bis dahin Geheimniß war.“154 Das Auftreten des Christentums wäre in diesem Fall gleichzusetzen mit dem Auftreten einer vernunftgeleiteten Rechtfertigungslehre. Diese Variante von Rechtfertigungslehre wird durch die katholische Kirche vertreten, die den Anspruch erheben kann, die Repräsentantin von praktisch vernünftigen Offenbarungsgehalten zu sein.155 Streng genommen lässt sich ihr Glaubensinhalt also unabhängig von einer Offenbarung durch Christus verständlich machen. Das Prinzip der katholischen Rechtfertigungslehre ist überzeitlich gültig. Es gilt, weil es vernünftig ist, sogar unabhängig davon, ob jemand es glaubend für wahr hält oder nicht. Das lässt sich so vom reformatorischen Verständnis des Rechtfertigungsgeschehens nicht sagen. Dieses wird in seiner Entstehung vielmehr nur verständlich, wenn es auf besondere Offenbarung in Raum und Zeit zurückgeführt wird. Denn dass Versöhnung und Erlösung vollständig durch eine Leistung ab extra möglich sein sollen, ist der praktischen Vernunft zuwider. Um die lutherische Rechtfertigungslehre in ihrer Genese erklären zu können, bedarf es folglich der Annahme einer besonderen Offenbarung in der Geschichte. Das historische Christusereignis ist für den reformatorischen Glauben danach unhintergehbar. Aber auch die Aneignung der 153

Exemplarisch ist das oben am differenten Verständnis des Rechtfertigungsglaubens der katholischen und reformatorischen Tradition gezeigt worden. 154 I. KANT: Rel., 141. 155 Vgl. dazu den Abschnitt 4.2.

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Rechtfertigung setzt besondere Offenbarung voraus, weil die praktische Vernunft sie zunächst als widersinnig erlebt. Sie bleibt für alle, denen eine solche Offenbarung nicht geschieht, intrikat und ist nur denen verständlich, die diese Offenbarung erreicht. Rechtfertigung im Sinne der Reformatoren kann also nur subjektiv im Glaubensmodus für wahr gehalten werden.156 Im Glaubensvollzug erlebt das Subjekt sich in einem Zustand der Befreiung von der Sünde, so dass das Prinzip Sittlichkeit, das zuvor außer Kraft gesetzt war, durch die Rechtfertigung handlungsbestimmend wird. Der Wert der reformatorischen Rechtfertigungslehre für die Menschheitsgeschichte ist durch die Notwendigkeit einer besonderen und zunächst in ihrem Inhalt widersittlichen Offenbarung folglich nicht herabgesetzt. Vielmehr besteht er darin, der praktischen Vernunft einen bestimmungsgemäßen Vollzug zu ermöglichen.157 Allerdings wäre es ein Missverständnis der reformatorischen Rechtfertigungslehre, wenn für sie in irgendeiner Weise der Status von Selbstzwecklichkeit beansprucht wird. Denn der Versuch, positive Ausgestaltungen der christlichen Kirche derart absolut zu setzen, dass ihnen der Vehikelcharakter verloren geht, ist ein Rückfall hinter den Stand der Menschheitsgeschichte, der mit der christlichen Religion gewonnen worden ist. Es bedeutete die Wiedereinsetzung des statutarischen Prinzips in der Religion. 5.2.7 Die Bedeutung der Offenbarung als historisches Ereignis. Der Anknüpfungs- und Kritikpunkt A. Ritschls und die erneute Umarbeitung von Kants Vorgaben durch dessen Schüler W. Herrmann Eine Neuerung der moralischen Gesinnung vereinzelter Menschen reicht zur Errichtung einer in der Geschichte wirkmächtigen Gesellschaft von Tugendgesinnten nicht hin. Vielmehr bedarf es dazu des Auftritts einer Gemeinschaft unter öffentlichen Gesetzen, die ihre Positivität nicht aufgeben darf bis das gesamte Menschengeschlecht nichts als reine Religion vollzieht. Die historische Genese der christlichen Kirche (wie die jeder anderen) in ihrer positiven Form lässt sich nur begreifen, wenn man ihre Geschichte bis auf ihre Initiation zurückverfolgt. Kant konstatiert, dass es der öffentlichen Lehre bedarf, um eine historische Institution wie eine Kirche zu gründen.158 Die christliche Kirche deutet ihre eigene Existenz als gottgegeben. Der Modus, in dem diese Selbstdeutung für wahr gehalten 156

Die rein formal gehaltenen Ausführungen in I. KANT: Rel., 115 werden hier auf das Problem der Rechtfertigungslehre angewendet. 157 Vgl. zur Rechtfertigung das Kapitel 4 oben. 158 Vgl. I. KANT: Rel., 145.

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wird, heißt Glauben. Der historische Lehrer (Jesus) als der Konstitutionsgrund von Kirche wird aus der Perspektive der Gemeinde gleichzeitig als der Offenbarer (Christus) aufgefasst, weil durch ihn der intelligible Wille Gottes geschichtlich offenbar und wirkmächtig wird – und zwar zur Durchsetzung des Reiches Gottes auf Erden. Dieses Konstruktionsprinzip Kants findet seinen Nachhall bei A. Ritschl, der sich ganz und allein auf die Positivität von Offenbarung und Gemeinde konzentriert, um von ihr her die christliche Religion zu explizieren, deren Wesen nur zugleich am Offenbarer und an der „besonderen Gemeinde von Gläubigen und Gottesverehrern“159 abzulesen ist. Ritschls Programm entledigt sich bei der Grundlegung von Religion in Differenz zu Kant aller transzendentalphilosophischen (und idealistischen) Begründungsversuche. Auch dasjenige Element von Religion, das Kant noch als allgemein-anthropologisch angesehen hat, weil es mit der praktischen Vernunft gegeben ist, wird bei Ritschl durch ein Offenbarungsereignis erklärt – nämlich der Begriff von Sittlichkeit. Ritschl geht einen zweistufigen Argumentationsweg, um zu plausibilisieren, dass Sittlichkeit sich ausschließlich vermöge positiv vorhandener Religion aufbaut und nicht aus dem Vernunftvermögen ableitbar ist. Zum einen versucht er Kants Erklärung der Genese von Moralität einer sie destruierenden Kritik zuzuführen160, die darauf hinausläuft, Kants Freiheitsbegriff und die ihm anhängenden transzendentallogischen Voraussetzungen von Handlungen sowie die aus ihm resultierenden religiösen Konsequenzen auf ihnen vorausliegende empirische Wurzeln zurückzuführen.161 Kant habe sich vor allem in seiner Religionsschrift durchgängig Themenstellungen der christlichen Tradition zugewendet, die sich gerade nicht aus der bloßen Vernunft erklären lassen. Und Ritschl folgert: Hätte Kant „mit der religiösen Idee Ernst gemacht“, so „hätte er den Standpunkt der bloßen Vernunft aufgeben und zu dem historischen Empirismus übertreten müssen.“162 Zum anderen versucht Ritschl seinen eigenen Zugang zu Religion streng so aufzubauen, dass ihr Konstitutionsgrund nichts als positive Offenba-

159

A. RITSCHL: Unterricht, § 1. Vgl. dazu auch C. AXT-PISCALAR, Einleitung, XVII–XX. Das geschieht bei A. RITSCHL in: RuV I, §§ 57f. 161 A. RITSCHL meint in RuV I, 438–459 zeigen zu können, dass Kants transzendentalphilosophische Grundlegung der Ethik nicht alle Formen von Sittlichkeit erklären kann. Darüber hinaus seien die religiösen Postulate Gottes, der Unsterblichkeit der Seele, der Versöhnung und der Begriff des Gottesreiches, von der Transzendentallogik her nicht plausibilisierbar. Ob Ritschls Kritik im Einzelnen stichhaltig ist, kann hier nicht diskutiert werden. Vgl. dazu ausführlich R. GEISLER: Kants moralischer Gottesbeweis, 117–129. Entscheidend für das hier Verhandelte ist allein die Absetzbewegung Ritschls von Kants transzendentalphilosophischem Zugang zu den Themen Sittlichkeit und Religion. 162 A. RITSCHL: RuV I, 452. 160

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rungswahrheit ist:163 „Es gibt keine Religion und hat keine gegeben, die nicht positiv wäre; die sogenannte natürliche Religion ist eine Einbildung. Jede gemeinsame Religion ist gestiftet.“164 Diese Absetzbewegung Ritschls von Kant legt es nicht gerade nahe, in diesem einen Vorläufer von jenem zu sehen, und doch lässt sich in mehrfacher Hinsicht genau dies zeigen: Erstens ist es evident und unzweifelhaft, dass Ritschl wie zuvor Kant Religion und Sittlichkeit als Korrelate aufgefasst hat, die notwendig aufeinander bezogen sind.165 Dementsprechend konnte Ritschl sich wohlwollend über Kants programmatische Verbindung von Religion und Sittlichkeit äußern: Die hohe Bedeutung, welche Kant für das Verständnis der christlichen Versöhnungsidee einnimmt, ist […] darin begründet, daß er die allgemeingiltigen Voraussetzungen des Gedankens von der Versöhnung in dem Bewußtsein von sittlicher Freiheit und sittlicher Schuld […] festgestellt hat.166

Sittlichkeit mit dem Ziel des Reiches Gottes ist für Ritschl überhaupt das wesentliche Thema, auf das hin alle Religionen angelegt sind.167 Nicht allen Religionen gelingt es aber, sich ihrer sittlichen Bedeutung bewusst zu werden. Religionen als Religionen verfolgen strukturell zunächst nur die Selbstbehauptung des Geistes gegen die Natur168, denn „alle Religion entspringt aus dem Contrast, in welchen sich die Menschen ursprünglich hineingestellt sehen, daß sie gemäß ihrer natürlichen Ausstattung unselbständige Theile der Welt sind, […] und daß sie gemäß ihrer geistigen Kraftausstattung sich von aller Natur unterscheiden, und sich zu einer übernatürlichen Bestimmung angelegt fühlen.“169 Die gewünschte Erhebung über die Naturwelt kann nun mehr oder weniger gelungen religiös umgesetzt werden. Wie stark das Gefühl der eigenen übersinnlichen Bestimmung so gefördert wird, dass dabei ein überweltlicher Gott als diejenige Instanz bewusst wird, die diese Bestimmung offenbart und durchsetzt, entscheidet darüber, ob es einer Religion möglich ist, das 163

Vgl. dazu M. NEUGEBAUER: Lotze und Ritschl, 94–97. A. RITSCHL: RuV III1, 474. Ganz in diesem Sinne auch DERS.: Unterricht in der christlichen Religion, § 48a). 165 Zumindest in der 3. Auflage von A. RITSCHLs RuV, wohl aber auch schon in der 2. Auflage, betreffen selbstständige Werturteile religiöser Art das Vermögen zur Sittlichkeit, während das Welterkennen nur noch mittelbar an den religiösen Vollzug gebunden wird, weil es einen kategorial anderen Vollzug des Subjekts darstellt. Vgl. dazu D. KORSCH: Glaubensgewißheit und Selbstbewusstsein, 47–55. 166 So der Eingangssatz in den § 56 von A. RITSCHLs RuV I (Hervorhebungen im Original). 167 Vgl. A. RITSCHL: Unterricht, § 10, und dazu C. AXT-PISCALAR: Einleitung, XXIVf. Vgl. zu den Parallelen und Differenzen zwischen Kants und Ritschls Begriffs des Reiches Gottes: C. AXTPISCALAR: Das gemeinschaftliche höchste Gut. 168 Vgl. dazu M. NEUGEBAUER: Lotze und Ritschl, 90–94. 169 A. RITSCHL: RuV I, 173f. 164

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sittlich kodierte Reich Gottes als Ziel der Menschheit bewusst zu machen und zu befördern.170 Die Eigentümlichkeit der christlichen Religion besteht darin, dass nur in ihr das Reich Gottes als Ziel der gesamten Welt vorstellig wird, das durch die Glaubensgemeinschaft unter ständiger Leitung Gottes realisiert werden soll und kann. Das sichert dem Christentum eine doppelte Vorrangstellung vor allen anderen Religionen. Erstens wird nur in ihm das Ziel der Welt erkannt, auf das hin allerdings alle anderen Religionen angelegt sind. Das Reich Gottes, ist der „Zielpunkt aller religiösen Kosmogonien“ und als solcher „der verallgemeinerte Sinn jeder besonderen religiösen Weltbetrachtung.“171 Die Menschheit strebt vermittelst von Religion die „sittliche Verbindung aller Menschen als Menschen“172 an, denn derartige Verbindung sichert dem Menschen Freiheit und das heißt insbesondere eine erhabene Stellung über die Natur. Weil dieses sittliche Ziel der Menschheit nur im Christentum erkannt wird, kann es Universalitätsanspruch erheben. Sein Geltungsanspruch umfasst nicht nur eine bestimmte Volks- oder Religionsgruppe, sondern die gesamte Gattung: „Die Erweiterung dieses Begriffs auf alle Menschen als Menschen d.h. als geistige Wesen, stellt das Reich Gottes zunächst in Gegensatz zu den engeren sittlichen Gemeinschaften.“173 Zweitens wird in Differenz zu anderen Religionsgemeinschaften im Christentum das Ziel der Welt nicht nur erkannt, sondern die christliche Gemeinde wird in die Lage versetzt, es auch tatkräftig zu verwirklichen.174 Dazu bedarf es der Einstellung der Gemeinde in den göttlichen Willen, wozu wiederum ihre Gottesferne durch Versöhnung beseitigt werden muss. Sünde als Gottesferne ist nämlich im Wesentlichen der Widerspruch der Menschheit gegen den Willen Gottes. Sie kommt zum Tragen in einem die gesamte Gattung umfassenden Reich des Bösen, wobei allerdings das Vermögen zur Bonität im Einzelnen nicht grundsätzlich ausgelöscht ist.175 Das wiederum ist Voraussetzung für die Möglichkeit der Neuerung des Menschen, ohne die das Ziel der Welt durch die Menschheit nicht umgesetzt werden könnte. Schon jetzt ist überdeutlich, dass Ritschl das religionsphilosophische Programm Kants aufnimmt und unter positivistischen Vorzeichen reformuliert. Alle bisher genannten Motive seiner Dogmatik sind bei Kant zumindest vorgeprägt, die Systeme gleichen sich zum Teil bis in die Einzelheiten. 170

Vgl. A. RITSCHL: RuV III1, 173–175. A. RITSCHL: Unterricht, § 12a. 172 A. RITSCHL: Unterricht, § 19. 173 A. RITSCHL: Unterricht, § 6. 174 Vgl. dazu C. AXT-PISCALAR: Einleitung, XXIVf, und F. WITTEKIND: Geschichtliche Offenbarung, 51–55. 175 Vgl. A. RITSCHL: Unterricht, § 39, und C. AXT-PISCALAR: Einleitung, XXXV. 171

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Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man die Funktion von Rechtfertigung und Versöhnung176 in Ritschls System bedenkt. Sie sind Mittel zum Zweck des Reiches Gottes. Denn nur vermittelst der Rechtfertigung und Versöhnung des Sünders durch Gott wird dieser in die Lage versetzt, sich den Willen Gottes derart zu Eigen zu machen, dass dessen Zweck zugleich sein Zweck wird: „Wenn Versöhnung von Sündern durch Gott gedacht werden soll, so ist dieselbe als das Mittel zur Herstellung des Gottesreiches aus der Liebe Gottes ohne Widerspruch denkbar.“177 Durch die Versöhnung wird die Gemeinde dazu befähigt, sich in den Dienst des Gottesreiches zu stellen, und zwar weil durch sie das mit der Sünde einhergehende Schuldgefühl überwunden wird. Ritschl versteht unter Sünde im Wesentlichen die Ablehnung der göttlichen Autorität, die mit der Ablehnung des göttlichen Gesetzes gleichbedeutend ist, das den Willen Gottes mit der Welt repräsentiert. Diese Entgegensetzung des Eigenwillens gegen die göttliche voluntas wird begleitet von Schuldbewusstsein, das sich vor allem derart äußert, dass auftretende Übel als Strafe wahrgenommen werden.178 Das so auftretende Strafbewusstsein ist Ausdruck für mangelndes Gottvertrauen. Die Sicherung der eigenen Weltstellung, wie sie von allen Religionen angestrebt wird, kann folglich unter der Bedingung des Mangels an Vertrauen auf Gott nicht von diesem erwartet werden, weil man Gott nicht als gütig, sondern als strafend wahrnimmt. Die Folge ist der Versuch, seine Weltstellung selbst sichern zu wollen. Der sündige Wille setzt sich dazu endliche Ziele, deren Realisierung jeweils als Selbstzweck erscheint, so dass sie in direktem Widerspruch zum Zweck „Reich Gottes“ stehen.179 Der so unternommene Versuch, die Herrschaft über die Welt zu erreichen, ist allerdings aus strukturellen Gründen zum Scheitern verurteilt, denn gegenüber der Welt kann „man sich mit eigenen Mitteln nicht behaupten […], da man von ihr alle Motive zum Handeln und Streben empfängt.“180 Ist das Verhältnis zwischen dem Subjekt und der Welt also unhintergehbar das der Wechselwirkung, kann eine Erhebung über die Welt nur gelingen, indem das Subjekt sich auf Ziele richtet, die nicht innerhalb dieser Struktur liegen. Es bedarf folglich, um das Verlangen des Menschen nach über die Welt

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Vgl. zur Differenz der Begriffe Rechtfertigung und Versöhnung R. SCHÄFER: Die Rechtfertigungslehre, 73f. Unter Rechtfertigung versteht Ritschl das synthetische Urteil, in dem der Sünder durch Gott gerecht gesprochen wird, während Versöhnung denselben Sachverhalt unter dem Aspekt der Aneignung des Urteils durch den Glaubenden meint. 177 A. RITSCHL: RuV III3, 309. Vgl. dazu auch R. SCHÄFER: Die Rechtfertigungslehre, 70–72. 178 Vgl. A. RITSCHL: RuV III3, § 42. 179 Vgl. A. RITSCHL: RuV III3, 326. 180 A. RITSCHL: RuV III3, 498.

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erhabener Stellung zu sichern, einer Ausrichtung auf ein übernatürliches Ziel, wie es das Reich Gottes darstellt.181 Dieses Ziel, das in der christlichen Religion zugleich den Zweck des göttlichen Willens vorstellt, vermag der Mensch sich allerdings nur unter der Voraussetzung der Versöhnung zu Eigen zu machen. Denn Versöhnung bedeutet vor allem, dass die Deutung von Übeln als Strafe von einem anderen Deutungsparadigma, das sich durch Vertrauen in Gottes Willen auszeichnet, abgelöst wird. Wenn dieses Vertrauen durch Versöhnung gewonnen ist, resultiert aus der Rechtfertigung als Schuldvergebung die Möglichkeit, sich Gottes Willen anzueignen, dessen Ziel die Durchsetzung des Reiches Gottes ist: „Durch die Vergebung der Schuld, die Verzeihung wird der Sünder, der sie sich aneignet, berechtigt, in dem Vertrauen auf den Gott, dessen Auctorität er hiemit anerkennt, ihm zu nahen, und sich über die Welt zu stellen, in welcher er nicht mehr seinen letzten Beweggrund findet.“182 Die Funktion183 der Versöhnung ist ebenso wie bei Kant die Überwindung der Sünde, deren Funktion wiederum darin besteht, die sittliche Vollendung der Menschheit zu ermöglichen. Ritschl hat das Ziel der Menschheit immer zugleich auch als das Ziel Gottes mit der Welt verstanden, so dass die Schöpfung der Welt allein um dieser Vollendung willen ist: „Dieser Gedanke wird im Christentum näher dahin bestimmt, daß die Welt geschaffen ist auf das Reich Gottes hin.“184 Auch diese Beziehung des Schöpfungsgedankens auf den Zweck der Welt ist schon bei Kant vorgenommen worden, der vermöge der teleologischen Urteilskraft meinte, die Welt als Weltganzes zielgerichtet auffassen zu können, so dass religiöser Vollzug die Schöpfung von diesem Zweck her versteht.185 Dass die einzelnen Elemente des theologischen Programms Ritschls ihre Wurzeln bei Kant haben, ist kaum zu bestreiten. Bleibt die Eingangs gestellte Frage, ob der Versuch Ritschls, sich bei der Grundlegung seines Systems von Kant abzusetzen, indem er dessen transzendentalphilosophischen Ansatz zu Gunsten eines positivistischen Zugangs zur Religion und 181 A. RITSCHL betont aus diesem Grund mit viel Pathos, dass es sich bei der Idee des Reiches Gottes um Übernatürliches handelt. Vgl. beispielsweise: Unterricht, § 8. 182 A. RITSCHL: RuV III3, 498. 183 Der Modus der Versöhnung kommt hier nicht in den Blick. Das hat zwei Gründe. Erstens konnte Ritschl der Idee des stellvertretenden Strafleidens, wie es sich bei Kant noch findet, nichts abgewinnen. Was die Modalität des Versöhnungsgeschehens durch Christus angeht, besteht zwischen Ritschl und Kant an dieser Stelle also eine unüberbrückbare Differenz. Zweitens hat Ritschl es abgelehnt, die Aneignung der Versöhnung durch das Subjekt derart zu beschreiben, dass einsichtig wird, wie es möglich ist, dass der Aneignungsakt zugleich subjektkonstitutive Wirkung hat. Diese Weigerung ist ihm von seinem Schüler W. Herrmann vorgehalten worden. Vgl. dazu D. KORSCH: Glaubensgewissheit und Selbstbewusstsein, 80–83. 184 A. RITSCHL: Unterricht, § 12. 185 Vgl. dazu die Ausführungen in Abschnitt 5.3 unten.

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Sittlichkeit ablehnt, einen diametralen Gegensatz zu Kant bedeutet. Die hier vorgelegte These lautet, dass selbst für dieses Unterfangen Ritschls schon Anknüpfungspunkte bei Kant selbst zu finden sind. Denn Kant hat die Positivität des Christentums als denjenigen Abschnitt in der Religionsgeschichte dargestellt, in dem die Idee des Reiches Gottes als Ziel des Handelns von Kirche bewusst wird. Um sich dieses Ziels bewusst zu werden, bedarf es nach reformatorisch kodierter Deutung einer Offenbarung Gottes, die durch die historische Person Jesus Christus repräsentiert wird. Der Punkt, an dem Ritschl sich von Kant entscheidend absetzt, betrifft also nicht die Wertschätzung von positiver Offenbarung, sondern die Genese von Sittlichkeit. Kant hat gemeint, mit der christlichen Religion werde moralisch positiv realisiert, was die überhistorische Vernunft ohnehin zum Ziel habe. Ritschl dagegen war der Auffassung, die unzeitlichen Überhänge abstreifen zu können und zu müssen. Was Sittlichkeit sei und welches Ziel sie verfolge, lasse sich überhaupt nicht ohne Rückgriff auf das in einer Religionsgemeinschaft positiv auftretende Begriffssystem entscheiden. Der Gedanke des Reiches Gottes könne folglich nicht, wie bei Kant angenommen, aus rein praktischer Vernunft erschlossen werden, sondern habe seinen Ursprung allein in der positiven Offenbarung Christi. Ritschl greift – ob bewusst oder unbewusst muss hier nicht entschieden werden – einen Gedanken auf, der bei Kant angelegt ist und radikalisiert ihn. Gemeint ist Kants Einsicht, dass die Durchsetzung von Sittlichkeit mit dem Ziel Reich Gottes in der Welt faktisch nicht ohne positive Vergemeinschaftung möglich ist, wie sie im Christentum vorstellig wird. Ritschl meint dabei aus unterschiedlichen Gründen die transzendentallogischen Operationen, die diesem Gedanken bei Kant noch vorausgehen, abschütteln zu müssen.186 Die Anlage der kantschen Religionsphilosophie ist durch Ritschl aufgenommen und produktiv umgearbeitet worden. Seine Theologie weist dabei eine Eigenart auf, die sich ebenfalls von Kant herleiten lässt. Er setzt bei ihrer Entfaltung einen besonderen Akzent bei der Menschheit als Gemeinschaft, indem er das Ziel der Welt mit dem Reich Gottes angibt. Das hat einen einfachen Grund: Sünde tritt nach Ritschl wesentlich als Phänomen von Gemeinschaften auf, und mit dieser Einsicht folgt er Kants oben schon explizierter Erkenntnis, dass der Mensch als soziales Wesen in besonderer Gefahr steht, sich sündig zu vollziehen. Ritschls Sündenlehre hat ihre Eigentümlichkeit entsprechend darin, den Einzelnen immer in seiner Ver186

Vgl. dazu A. RITSCHL: RuV I, §§ 57 und 58. Ein Grund für Ritschls positivistisches Vorgehen mag darin bestehen, dass er meint, Theologie auf diese Weise in einem Wissenschaftsbetrieb etablieren zu können, der ab Mitte des 19. Jh. zunehmend die Vorzüge der empirischen Methodik entdeckt.

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flochtenheit zu Anderen zu sehen. Die Abhängigkeiten sind dabei wechselseitig. Der Einzelne eignet sich durch sein Hineingestelltsein in das Reich der Sünde ein widergöttliches Handlungsprinzip an187, er trägt aber durch sein böses Handeln seinerseits auch zur Erhaltung des Reiches des Bösen bei, das seinen Ausdruck auch in bösen Institutionen findet. Der Begriff vom Reich der Sünde lässt sich verstehen als ein der Sache angemessenes Surrogat für den Erbsündegedanken188 – und zwar weil er das Phänomen sozialer Verflochtenheit des Menschen so zur Sprache bringt, dass die faktische Unhintergehbarkeit von Sünde indiziert ist. Zwar wird die Sünde erst durch ihre Ergreifung durch den Einzelnen fortgepflanzt, Ritschl konstatiert allerdings, es bestehe kaum eine Möglichkeit, sich ihr zu entziehen, denn es gäbe eine „fast unwiderstehliche Macht der Versuchung“189 sich ihr hinzugeben. Er behauptet, wie vor ihm Kant, zumindest empirische Allgemeinheit von Sünde.190 Der Grund für ihre faktische Unhintergehbarkeit liegt nach Ritschl in der schon genannten Sozialform, die die Sünde annimmt. So findet sie ihren Niederschlag in „gemeinsamen Gewohnheiten und Grundsätzen“191, nach denen Menschen sozialisiert werden. Sie gibt auf diese Weise ein gleichsam autopoietisches System ab. Der Sünde ist nur beizukommen, wenn sie in einer besonderen Form von Sozialität überwunden wird, und dies ist der Grund für Ritschls besonderes Interesse an der Gemeinschaft. Er scheint damit Kants gleichlautendes Ergebnis adaptiert zu haben, nach dem es der besonderen Sozialisierung in Kirchen bedarf, die auf die Überwindung des Bösen im Reich Gottes zielen. Zwar hat Ritschl sich darum bemüht, das Christentum als diejenige Religion zu plausibilisieren, in dem zwei Ziele gleichzeitig verfolgt werden. Zum einen zielt es auf die Herstellung des Gottesreiches als der beschriebenen Gemeinschaft, zum anderen auf die Erhebung des Einzelnen über die Natur, so dass er als Teil der Welt „den Wert eines Ganzen hat.“192 Er hat sich trotz der Formulierung dieser „Doppelbeziehung“193 des Christentums den Vorwurf seines Schülers Wilhelm Herrmann zugezogen, seine Theologie sei defizient, weil sie dem Einzelnen und seinem Erlösungserleben zu 187 Vgl. A. RITSCHL: Unterricht, § 39. Ritschls Reich der Sünde, wie er es dort beschreibt, erinnert stark an Kants Reich des Bösen, wie es in dessen Religionsschrift zu Beginn des Dritten Stückes entfaltet wird. 188 Vgl. A. RITSCHL: RuV III3, 326. 189 A. RITSCHL: Unterricht, 55. 190 Dass A. RITSCHL genau die empirische Allgemeinheit von Sünde im Auge hat, wie sie sich bei Kant findet, lässt sich ablesen an: RuV III3, 358: „Also daß es eine sündlose Lebensentwicklung geben kann, ist weder a priori, noch gemäß den Bedingungen der Erfahrungen in Abrede zu stellen. Denn auch nur durch die Summierung aller Erfahrungen erreichen wir die Ueberzeugung von dem allgemeinen Walten der Sünde.“ 191 A. RITSCHL: Unterricht, 55. 192 A. RITSCHL: RuV III3, 489. 193 A. RITSCHL: RuV III3, 489.

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wenig Interesse beimesse. Das besondere Interesse Herrmanns gilt folglich dem Individuum. Die Entfaltung seines theologischen Programms folgt seinem Lehrer Ritschl aber in mehrfacher Hinsicht, wobei näheres Hinsehen deutlich macht, dass die tragenden Elemente seiner Theologie ebenfalls bei Kant vorgezeichnet sind. So ist Herrmann klar, Religion mit dem Vermögen zur Sittlichkeit verknüpfen zu müssen: „Eine unsittliche Religion ist nicht nur widerwärtig, sondern sinnlos.“194 Denn auch Herrmann sieht die Bestimmung menschlichen Lebens in sittlicher Autonomie, weil es nur durch sie möglich ist, über die eigene Natur und die Abhängigkeiten von der Welt hinauszukommen. Zwar ist es Herrmann selbstverständlich, dass derartige Selbständigkeit nur durch und am Anderen – und letztinstanzlich an Jesus – zu gewinnen ist195, doch meint er, gerade in seiner Konzentration auf den Einzelnen entscheidend über Ritschl hinausgekommen zu sein, dem er einen Defekt im Verständnis des subjektiven Glaubenserlebnisses bescheinigt, das aus seiner Konzentration auf dogmatisch-metaphysische Themenstellungen resultiere.196 Herrmann – so die hier vertretene These – nimmt denjenigen Teil der kantschen Religionsphilosophie auf, der nicht die Vollendung der Gattung, sondern die Bestimmung des Individuums betrifft. Eines der Ziele seiner Umarbeitung der kantschen Vorgaben bestand darin, die Religion aus der genetischen Abhängigkeit vom Vermögen zur Sittlichkeit zu befreien. Herrmann versucht dazu unter Rückgriff auf Schleiermacher Religion als ein eigentümliches Erleben zu beschreiben, das als solches zwar – und darin folgt er wiederum Kant – in enger und notwendiger Verflechtung mit dem sittlichen Denken steht, aber doch nicht durch dieses geschaffen wird. Wogegen sich Herrmann am kantschen Denken wendet, ist dessen Auffassung von Religion als logisches Produkt der zu Ende gedachten praktischen Vernunft. Die Postulatenlehre Kants, die der praktischen Vernunft notwendig anhängt, gehe an dem Bewusstsein von Religion vorbei, weil es sich um ein rationales und objektives Konstrukt der Vernunft handelt, das gerade nicht dazu eigne, das rein subjektive und persönliche Erleben von Religion zu erklären. Herrmann hatte für Kant an dieser Stelle nur das scharfe Urteil übrig, dieser sei, mit seinem Hang, ein rationales System von Lehren zu 194 So W. HERRMANNs Urteil in: Ethik, 109 (Hervorhebungen im Original). Vgl. dazu grundsätzlich auch § 18 seiner Ethik. 195 Es soll hier nicht im Einzelnen ausgeführt werden, warum Herrmann meint, insbesondere die Vertrauenswürdigkeit des Anderen sei Voraussetzung zur Ausbildung eines autonomen Charakters. Vgl. dazu und zur Rolle Jesu in diesem Geschehen D. LANGE: Wahrhaftigkeit als sittliche Forderung. 196 Das bedeutet eine bewusst gesetzte Spitze gegen Ritschl, dessen Vorhaben gerade der Überwindung metaphysischer Allgemeinwahrheiten, wie sie sich aus der Vernunft ergeben sollen, galt.

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errichten, „im Wesentlichen über den Gesichtskreis des orthodoxen Religionsunterrichts nicht hinausgekommen.“197 Schleiermacher und vor ihm Luther sei es um einiges besser gelungen, das Wesen von Religion zu erfassen, weil sie es als ein persönliches Erleben beschrieben haben. Damit sei ein Bewusstsein von rein subjektiver Geltung gemeint: „Ob aber das bei ihm zutreffe, daß in freier Hingabe sein eigenes Leben zu seiner Wahrheit kommt, muß jeder selbst beantworten. Kein Anderer kann ihn davon überzeugen, daß es geschehen sei oder geschehen müsse.“198 Die grundsätzliche Beziehung von Religion auf das Thema der Sittlichkeit, wie sie durch Kant vorgegeben und durch Ritschl zu ihm gelangt ist, gibt Herrmann allerdings nirgends auf. Denn nur der in sittlicher Not Stehende sucht Rettung bei der Religion. Eine aufrichtige sittliche Selbstbeurteilung fördert nämlich das eigene moralische Versagen zu Tage: also das Böse oder die Sünde. Das Böse besteht im Wesentlichen darin, wollend seiner Natur nachzukommen, die sich vor allem um sich selbst sorgt. Herrmann diagnostiziert eine Trägheit des Menschen, die ihn im Bösen verharren lässt. Der Mensch verfehlt deshalb seine Bestimmung, die darin besteht, sich über seine Natur zu erheben, um in derart gewonnener Freiheit eine „wahrhaftige geistige Gemeinschaft“199 herzustellen. Kant hatte die Sünde ganz strukturanalog noch als die Überordnung der sinnlichen Triebfeder über die Achtung vor dem Sittengesetz beschrieben, zu der der Mensch einen natürlichen Hang aufweise. Herrmann ist der Auffassung, allein Religion könne Erlösung von dem Bösen verschaffen. Sie ist definitionsgemäß das Erlebnis der Befreiung aus der natürlichen Verstrickung in das Böse und damit zugleich die Konstitution einer Persönlichkeit. Das leuchtet ein, wenn man sich klar macht, dass für Herrmann Erlösung gleichbedeutend mit der gehorsamen Hingabe an den göttlichen Willen ist: „Der religiöse Gedanke zu voller Klarheit gebracht lautet so: Gott herrscht so in uns, daß wir uns in freier Tat das auferlegen, was sein Wille ist.“200 Weil die persönliche Aneignung dieses Willens zugleich die Erhebung des Menschen über die Gesetze der Natur bedeutet, gewinnt er derart eine Persönlichkeit. Aber nur dort, wo sich der Einzelne zugleich unterscheidbar von Anderem abhebt, hat er Individualität. Dazu muss erstens das Gesetz der Natur durchbrechen, denn dieses ist genauso wie das allgemeingültige Sittengesetz aller Individualisierung entgegen:

197

W. HERRMANN: Ethik, 94. W. HERRMANN: Ethik, 93. Vgl. dazu auch Herrmanns für die Realencyklopädie für protestantische Theologie abgefassten Artikel: Religion. 199 W. HERRMANN: Ethik, 51. 200 W. HERRMANN: Ethik, 48. 198

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Was an dem Menschen wissenschaftlich faßbar oder allgemeingültig ist, ist entweder Natur oder sittliche Aufgabe, und die Erkenntnis unserer sittlichen Verpflichtung sowohl wie die Erkenntnis unserer Naturbestimmtheit löst den Gedanken eines eigenen Lebens in uns auf.201

Über den sittlichen Überstieg über das natürliche Lebens hinaus bedarf es folglich zweitens noch einer persönlichen Aneignung des göttlich-sittlichen Willens, der dem Individuum unverwechselbare Selbständigkeit gewährleistet. Denn erst mit der Aneignung wird der göttliche Wille an einem Individuum real, indem es so seinem bestimmten sittlichen Beruf nachkommt: „Unter dem sittlichen Beruf verstehen wir also die Begrenzung der sittlichen Aufgabe [...] Die Begrenzung der sittlichen Aufgabe besteht darin, daß wir auf dem Weg immer an das natürlich gegebene anknüpfen müssen.“202 Wie es vermittelst des christlichen Versöhnungsglaubens möglich ist, sich in seinen sittlichen Beruf einzustellen, muss hier nicht im Einzelnen erörtert werden. Die Erlösung des Subjekts zu sittlicher Erneuerung bedeutet jedenfalls eine totale Wende, die der Mensch von sich aus nicht zu Stande gebracht hätte und die in Abhängigkeit von der Erfahrung Christi als Versöhner steht.203 Sie besteht im Wesentlichen darin – und darauf ist nun vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen zu Kants Versöhnungs- und Erlösungslehre nochmals aufmerksam zu machen –, dass ein Subjekt dazu befähigt wird, seiner sittlichen Bestimmung nachzukommen. Dabei wird ein übernatürliches Handlungsprinzip – religiös gesprochen der Wille Gottes – derart angeeignet, dass das Subjekt dieses Handlungsprinzip in Raum und Zeit verwirklicht. Was Herrmann als sittlichen Beruf bezeichnet, dem das Subjekt nach seiner Erlösung nachkommen soll, ist bei Kant vorgezeichnet als die symbolische Schematisierung des Sittengesetzes durch den Einzelnen. Dass diese Schematisierung nach Kant bei religiöser Auffassung der Welt und des Selbst – ebenso wie bei Herrmann – die Umsetzung des göttlichen Willens bedeutet, bedarf ebenso kaum der Erwähnung wie die Tatsache, dass auch Kant in der sittlichen Erneuerung des Subjekts eine völlige Umwälzung sah, die nur vermittelst der Versöhnung des Menschen mit Gott zu Stehen kommen kann. Man kann sich im Übrigen fragen, ob Herrmanns Vorwurf an Kant, dessen Verständnis von Religion gehe in der rationalen Konstruktion von Postulaten auf und könne den Erlebnischarakter von Religion deshalb nicht beschreiben, nicht fehl201

W. HERRMANN: Ethik, 92. W. HERRMANN: Ethik, 145 (Hervorhebungen im Original). 203 Vgl. dazu näher W. HERRMANN: Ethik, §§ 20f. Auch Herrmann hat wie Ritschl für den von Kant noch vertretenen Gedanken der stellvertretenden Strafe zur Genugtuung nichts übrig. Vielmehr meint Versöhnung bei ihm das Erlebnis von Gottes Güte, die wiederum am Erleben Christi aufgeht. 202

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geht. Denn Kant hat ganz gegen Herrmanns Vorurteil einen Begriff von Glauben gehabt, nach dem dieser ein subjektives Fürwahrhalten von Glaubensinhalten meint204, das wohl dem herrmannschen religiösen Erlebnis recht nahe kommen dürfte. Ritschls wie Herrmanns Theologie sind, das zeigt schon dieser kurze Abriss, Deutungsvarianten der Religionsphilosophie Kants. Dessen Doppelbedeutung der Erlösung als Erneuerung des Individuums und der Gattung findet sich bei Ritschl wieder, Herrmann konzentriert sich sodann auf das individuelle Erleben des Glaubenden, das er zwar sowohl bei Ritschl als auch bei Kant vermisst, das tatsächlich aber doch bei Kant vorgezeichnet ist als subjektiver Glaubensvollzug des Individuums.

5.3 Die Vollendung der Gattung als Implikat der Weltdeutung 5.3.1 Der Anspruch des Christentums auf Absolutheit und die Anfrage der historischen Wissenschaft Das Selbstverständnis der christlichen Kirche, nach dem sie sich erstens durch Offenbarung konstituiert weiß und zweitens eine besondere Valenz im Vergleich zu anderen Glaubensarten zuschreibt, weil sie meint, durch sie allein könne die Menschheit ihr Ziel erreichen, kann nach dem Vorausgesagten mit Kant plausibel gemacht werden. Man sieht derartige Selbstbeschreibung des Christentums allerdings in der Moderne wirkmächtiger Kritik ausgesetzt. Die historistische Infragestellung solcher Absolutheitsansprüche ist am pointiertesten bei Ernst Troeltsch ausgesprochen. Ist es nämlich Signum der Moderne „einer restlos historischen Anschauung der menschlichen Dinge“205 den Vorzug vor jeder anderen Selbst- und Weltexplikation zu geben, so fällt es schwer, dem Ansatz, das Christentum trage ein historisch unableitbares Element in sich, durch das es zudem besondere Valenz erhält, zuzustimmen. Und zwar muss man sich, folgt man Troeltsch, an beiden Behauptungen stoßen, die die Exklusivität des Christentums sichern sollen. Sowohl die ahistorische Ableitung des Christusereignisses als auch die Behauptung, mit diesem Ereignis sei ein qualitativ einmaliges Gut in die Weltgeschichte eingetreten, das das Ziel dieser Geschichte in sich trage, können vor der historischen Betrachtungsweise keinen Bestand haben. Troeltsch hatte derartige Ansprüche des Christentums aus Sicht des Historikers als unhaltbar entlarvt, weil jeder Versuch, sie geltend zu ma204 205

Vgl. dazu oben den Abschnitt 3.4. E. TROELTSCH: Absolutheit, 112.

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chen, die Isolierung des Christentums von allem Nichtchristlichen zur Voraussetzung hat. Diese „Entgegensetzung des Christentums gegen alles Nichtchristliche“206 ist Teil einer Immunisierungsstrategie, die gerade das vermeiden will, was in der Moderne nach Troeltsch aber unvermeidlich geworden ist: nämlich mittels kritischer Quellenanalyse und psychischer Analogieschlüsse die zuvor einzigartig geglaubten Lehren „in den Fluß des Geschehens“207 der Welt derart aufzulösen, dass sie in ihrer Besonderheit gerade aus diesem Fluß vollständig erklärt werden können. Das Christentum mit den durch Kant herausgearbeiteten Eigenarten scheint beider Kardinalvergehen, die man aus der Sicht Troeltschs begehen kann, schuldig, indem es beide Varianten unzulässiger Apologie auf sich anwendet. Erstens sind diejenigen Argumente zu nennen, die sich auf die Annahme supranaturalistischer Ereignisse stützen. Troeltsch beschreibt deren gängiges Muster wie folgt: [I]ndem alles Menschliche subjektiv, irrtumsfähig, sündig und kraftlos bleibt, bedarf es einer aus übermenschlichen göttlichen Kräften hervorgehenden Darbietung, die als göttlich gerade in ihrer die Analogie mit allem menschlichen Geschehen aufhebenden Form erkannt wird.208

Freilich, so Troeltsch, muss für derartige Auffassung der Wirklichkeit eine „Sonntagskausalität“209 angenommen werden, die dem modernen Bewusstsein schlicht nicht mehr einleuchten kann. Das Christentum schreibt sich zweitens selbst eine Sonderstellung unter den Religionen zu, weil es meint, nur innerhalb seiner Kirche könne menschliches Heil verwirklicht werden. Dazu stellt es die Historie unter die Perspektive eines allgemeinen Begriffs, der normativ an die Geschichte angelegt wird. Zudem wird behauptet, die Geschichte nähere sich vermöge der supranatural gegründeten christlichen Kirche tatsächlich dieser Norm. Kants Beschreibung des Christentums gleicht nun genau dem Muster einer idealistischen Entwicklungstheorie, wie Troeltsch sie beschreibt und auch an Kant kritisiert.210 Diese Auffassung von Geschichte falle in sich 206

E. TROELTSCH: Absolutheit, 116. E. TROELTSCH: Absolutheit, 114. Ganz analog konnte Troeltsch auch argumentieren, um allem Anspruch der von ihm sogenannten dogmatischen Methode in der Theologie eine Absage zu erteilen. Vgl. dazu die Ausführungen E. TROELTSCHs in seiner berühmt gewordenen Schrift: Über historische und dogmatische Methode in der Theologie. 208 E. TROELTSCH: Absolutheit, 124. 209 E. TROELTSCH: Absolutheit, 125. 210 Vgl. E. TROELTSCH: Das Historische, 130, wo es über die Auffassung des christlichen Theismus bei Kant heißt: „Dieser Theismus selbst beruht auf einer axiomatischen persönlichen Weltanschauung, die in ihrer Deutung […] dem Christentum verwandt ist und für Kant aus ihm entsprang. Er sichert deshalb eine Auffassung der geschichtlichen Gesamtentwicklung, die im Christentume eine die höchste Vernunftnotwendigkeit und empirische Aktualisierung vereinigende 207

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zusammen, so Troeltsch, wenn man einsehen würde, was er selbst und mit ihm die moderne Geschichtswissenschaft dazu zu sagen haben: Die Historie kennt keinen Allgemeinbegriff, aus dem sie Inhalt und Reihenfolge des Geschehenden ableiten könnte, sondern nur konkrete, individuelle, jedesmal im Gesamtzusammenhang bedingte, im Kerne aber unableitbare und rein tatsächliche Erscheinungen.211

Troeltschs Verfahren, nach dem ein Ereignis bloß als dieses Ereignis ohne Bedeutung über es hinaus zu begreifen ist, leuchtet intuitiv ein, gibt aber doch ein Problem auf. Schon die Aufklärungszeit hatte bemerkt, dass der historistische Versuch, Geschichte ohne jedes teleologische Moment begreifbar machen zu wollen, sich kontraproduktiv auf das Vorhaben von Geschichtsschreibung auswirkt. Denn wie sollten die einzelnen historischen Begebenheiten nach ihrer Relativierung noch den Begriff einer Gesamtanschauung rechtfertigen können, ohne den das Unternehmen einer Geschichtsschreibung nur die zusammenhanglose Akkumulierung von isoliert Einzelnem ist?212 Es bedarf zur sinnvollen Geschichtsschreibung einer Perspektive, die der Geschichte Einheit zu geben vermag. Das hat auch Troeltsch gesehen und gefordert. Ohne solche Perspektive ließe sich zwar Veränderung beschreiben, die Geschichtsauffassung würde aber nichts ergeben als die Beschreibung einer „ruhelose[n] See endloser Hervorbringungen und Auflösungen“213, wie Troeltsch sagt. Denn ohne ein „Gesamtbild“214 von Geschichte entwerfen zu können, zerfällt diese in eine unübersehbare Vielzahl von Fragmenten, „die jeden beherrschenden Sinn und Zweck der Geschichte zu verschlingen scheinen.“215 Es kann an dieser Stelle den von Troeltsch vorgenommenen Überlegungen zur Bearbeitung dieser Schwierigkeiten nicht nachgegangen werden. Vielmehr muss das Augenmerk darauf gelenkt werden, wie sich von Kant her mit der aufgeworfenen Problematik umgehen lässt. Seine Theorie von normgeleiteter Manifestation des verborgenen Weltgrundes anerkennen muß. Aber freilich steht diese Entwicklungslehre in einer unüberwindlichen Spannung zu der Grundidee der Kritik.“ 211 E. TROELTSCH: Absolutheit, 140. 212 Vgl. zur Genese der historistischen Problemstellung und ihrer Bearbeitung in der Aufklärung P. KONDYLIS: Aufklärung, 421–468. 213 E. TROELTSCH: Absolutheit, 167. Dass, will man der Geschichte einen Sinn abgewinnen, diese unter eine Perspektive zu stellen ist, die ihr diesen verleihen kann, ist bei I. KANT im zweiten Teil der KdU festgehalten worden, wie unten noch auszuführen ist (Vgl. die Abschnitte 5.2 und 5.3). 214 So E. TROELTSCH schon im Ersten Kapitel von: Absolutheit (115). 215 E. TROELTSCH: Absolutheit, 166. Es ist nicht Aufgabe dieser Arbeit, die Troeltsch’schen Lösungsversuche in ihrer Leistungskraft zu untersuchen und auch nicht, ob Troeltsch dabei einen transzendentalen Deutungsrahmen beansprucht oder gar seinerseits eine metaphysische Deutungskomponente in seine Erläuterungen einträgt, die er doch zuvor so hartnäckig bekämpft hat. Hier geht es nur darum, mit Troeltsch den Problemhorizont aufzureißen, den die historisierende Moderne mit sich bringt.

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Geschichte mit Zug zu einem Ziel und dessen Initiierung durch das Christentum scheint jedenfalls vor solchen Zerfallstendenzen geschützt. Will man sich Kants Urteil über das Christentum anschließen, muss man vor dem Hintergrund der durch Troeltsch angezeigten Probleme Folgendes zeigen können: Dass es und aus welchen Gründen es sinnvoll ist, eine Deutung von Geschichte von einer ein Gesamtbild ermöglichenden Norm her zu geben; dass es zudem notwendig ist, diese Norm als absoluten Wert für die Geschichte anzunehmen, der durch die Gattung Mensch angestrebt werden soll. Und sodann wäre zu zeigen, dass die christliche Religion eine geschichtlich wirksame Macht ist, die das durch die Norm indizierte Ziel erreichbar macht. Das gesamte Verfahren darf dabei seinerseits nicht unter den Verdacht geraten, es behaupte dies alles aus bloß apologetischen Gründen. Das Geforderte muss deshalb durch ein Verfahren gesichert werden, das der Anfrage durch die historisierende Weltbetrachtung überhoben ist. Dieser letzte Schritt ist methodisch der wohl anspruchsvollste und nur durch eine Gedankenoperation zu leisten, die einen Grund für derartige Auffassung von Geschichte präsentieren kann, der selbst geschichtsenthoben ist. Es liegt nahe, einen solchen überzeitlichen Grund von Geschichtsdeutung in Kants Philosophie der Transzendentalität gegeben zu sehen, weil sie gedankliche Operationen beschreibt, die definitionsgemäß nicht dem Zeitlauf unterstehen. Kant hat das Problem einer Teleologie der Welt bekanntlich im zweiten Teil seiner dritten Kritik behandelt.216 Die dort gegebene Theorie der teleologischen Urteilskraft soll nun soweit zur Sprache kommen, wie es nötig ist, um die in der Religionsschrift reklamierte Stellung des Christentums auch für eine Moderne verständlich zu machen, deren Geschichtsauffassung genau diese Stellung auszuschließen scheint.217 5.3.2 Das Ziel der Welt Kant formuliert im zweiten Teil seiner Kritik der Urteilskraft eine teleologische Ethikotheologie, die die Natur und schließlich die Welt als Ganze so anschaut, als ob in ihr eine zweckmäßige Ordnung anzutreffen sei. Damit will zweierlei gesagt sein. Erstens gibt es eine Auffassung der Welt, nach der diese sich auf ein Ziel hinbewegt. Dabei ist nicht mehr nur der Mensch 216

Vgl. I. KANT: KdU, B 265–482. Dabei kann es nicht Anspruch der Arbeit sein, eine vollständige Explikation der teleologischen Urteilskraft zu bieten. Es geht im Folgenden vielmehr darum, Kant soweit wie nötig zu folgen, um seine Theorie für die Selbsteinordnung der christlichen Religion fruchtbar machen zu können. 217

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als Einzelner oder als Gattung im Blick, sondern seine Vollendung wird als das Ziel der Gesamtschöpfung verstanden. Zweitens wird der Entwicklungsgang des Weltganzen so gedeutet, dass er den Menschen zu seinem Ziel hat, dessen Vernunftbefähigung ihn prädestiniert, die Weltgeschichte zu einem Abschluss zu bringen. Gott als Schöpfer bringt nach derartiger Weltdeutung die Welt nicht nur in Existenz, sondern organisiert und leitet sie nach dem Zweck seines Reiches. Schon diese Skizze der teleologischen Auffassung der Welt nährt den Verdacht, hier werde aus der Welt etwas herausgelesen, das sie selbst nicht in sich trägt. Denn wie soll beispielsweise vor dem Hintergrund moderner Naturwissenschaften plausibel werden können, dass sie zweckmäßig zur Erreichung eines Ziels organisiert ist? Die bloße Betrachtung von Erscheinungen kann im Lauf der Welt gerade keinen zielgerichteten Prozess ausmachen. Ereignisse werden nach den Naturwissenschaften durch das Gesetz der Kausalität erklärt, nach dem Wirkungen von ihren Ursachen her bestimmt sind. Die teleologische Auffassung von Wirklichkeit setzt aber gerade das Gegenteil voraus, wenn sie meint, den Lauf der Welt von ihrem Ziel, also von der Wirkung, her erklären zu können. Kant hat den Einwand der modernen Naturwissenschaften gegen jede flache Auffassung der Welt nach Zwecken selbst formuliert: Es gibt, so sagt er, zunächst keinen Grund für die Annahme, dass „Dinge der Natur einander als Mittel zu Zwecken dienen“218, denn wir nehmen die Natur „nicht als intelligentes Wesen“219 wahr. Wenn die Natur dennoch zweckorientiert angesehen wird, kann dies nur problematisch geschehen, und das heißt zuvorderst: Sie wird angeschaut, „als ob die Zweckmäßigkeit in ihr absichtlich sei.“220 Die Entstehung und Entwicklung der Welt muss in diesem Fall analog zu einem technischen Prozess aufgefasst werden.221 Technische Prozesse setzen einen Verstand voraus, der sich begrifflich einen Zweck setzt, dessen Realisierung die nach dem Begriff geordnete Natur ist. Bei Übertragung dieses Vorgangs auf die Schaffung der Welt wird angenommen, ein Begriff von Welt gehe der Schaffung und dem Ablauf der Welt voraus. Es lässt sich absehen, dass ein teleologisches Weltverständnis Gott als diejenige Instanz annimmt, die den idealen Begriff von Welt vor ihrer Realisierung bildet. Soll es sich bei diesen Überlegungen nicht um bloße Phantasterei handeln, muss man zeigen können, dass sich die teleologische Weltwahrnehmung vom menschlichen Erkenntnis- und Reflexionsvermögen her verständlich machen lässt. Die folgenden Ausführungen gelten also der Plausibilisierung teleologischer Weltdeutung. 218

I. KANT: KdU, B 267. I. KANT: KdU, B 268. 220 I. KANT: KdU, B 308 (Hervorhebung durch A.H.). 221 Vgl. dazu insgesamt I. KANT: KdU, B § 61 und § 68. 219

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5.3.2.1 Die Besonderheit von organischer Natur und die reflektierende Urteilskraft Kant ist der Auffassung, es gebe in der Natur Formen, die sich in ihrer Entstehung und Organisation nicht ohne weiteres aus einem rein mechanistischen Naturverlauf verständlich machen lassen, sondern zu einer besonderen Form der Deutung von Wirklichkeit herausfordern.222 Es geht um organische Wesen, deren einzelne Bestandteile in einer Ordnung zueinander stehen, die durch das Prinzip eines blinden Naturmechanismus scheinbar nicht erklärbar ist. Sie haben eine innere Organisation, in der Ursache und Wirkung sich wechselweise bedingend aufeinander bezogen sind – und zwar zur Selbsterhaltung. Die Ursache zeitigt in einem organischen Wesen eine Wirkung, die wiederum in ihrer Wirkung die Klasse von Elementen reproduziert, durch die sie selbst bedingt worden ist. „Ein organisiertes Product der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist.“ Mehr noch: „Nichts in ihm ist umsonst, zwecklos, oder einem blinden Mechanismus zuzuschreiben.“223 Der reine Naturmechanismus von Ursache und Wirkung enthält in sich nichts, das derartige Organisation von Materie zu Leben nahe legen würde. Er scheint folglich ungeeignet dazu, das Auftreten lebender Formationen in der Natur zu erklären. Die Konstellation, in der das Subjekt einen Zustand der Organisation erkennt, dessen Existenz nicht durch blinde Kausalität erklärbar zu sein scheint, versetzt es in Verwunderung224 und lässt es nach Gründen für die eigentümliche Organisation fragen. Die so initiierte Suche nach Gründen für den Zustand der Wirklichkeit wird von der reflektierenden Urteilskraft vorgenommen. Sie ist weiter oben im Rahmen der Vorstellung der Theorie des Erhabenen schon einmal zur Sprache gekommen.225 Hier soll nochmals an ihre spezifische Funktionsweise erinnert werden, die sie von der bestimmenden Urteilskraft unterscheidet. Dabei wird sich ihre Eignung für die Suche nach Gründen für das Auftreten von organischer Natur erklären.

222

Vgl. zum Folgenden vor allem I. KANT: KdU, B §§ 64–66. I. KANT: KdU, B 295f (Hervorhebungen im Original). 224 I. KANT drückt sich zumeist stärker aus: Er meint offensichtlich, die organische Organisation von Natur setzte nicht nur in Verwunderung, sondern könne kausalmechanisch gar nicht erklärt werden (so KdU, B §§ 64, 68, 71 u.ö.). Der Grund für das Einsetzen der reflektierenden Urteilskraft liegt nach Kant also in der Unableitbarkeit gewisser Naturprodukte nach mechanistischer Auffassung. Ob diese Einschätzung heute durch die Naturwissenschaft eventuell Bestätigung finden kann oder in Zweifel gezogen werden muss, kann hier nicht Thema sein. Aber auch wenn die Reflexion über die Natur nicht mehr notwendig sein sollte, um einen vermeintlichen Mangel der Naturwissenschaft auszugleichen, so ist sie doch wenigstens möglich. Sie allein kann der Natur als Ganzer einen Sinn im Sinne eines Zwecks unterlegen. 225 Vgl. den Abschnitt 3.6.1. 223

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Der Modus der Urteilskraft sich bestimmend zu vollziehen, wird im Erkenntnisakt in Anspruch genommen. Sie bezieht sodann Angeschautes auf Begriffe des Verstandes, um das Angeschaute dessen Gesetzmäßigkeiten gemäß zu bestimmen. Hier ist nun aber nicht dieser Modus der Urteilskraft von Interesse, sondern derjenige, in dem sie über Sachverhalte reflektiert. Bei dieser Tätigkeit wird nicht Angeschautes unter schon vorausgesetzte Begriffe gebracht, sondern über empirisch schon Erkanntes so reflektiert, dass der Begriff, der das Erkannte in seinem Dasein und seiner Form verständlich machen würde, durch diese Reflexion erst aufgesucht wird. Die Wirklichkeit, wie sie dem Subjekt erscheint, wird von der reflektierenden Urteilskraft auf Allgemeinbegriffe bezogen, die den Zustand der Wirklichkeit erklären können. Dabei handelt es sich um ein Verfahren, das im Verlauf der vorliegenden Arbeit implizit schon mehrfach in Anspruch genommen worden ist. Immer dort, wo von einen mehrstufigen Reflexionsprozess die Rede war, durch den ein Letztgrund beispielsweise für das Auftreten des Faktums Sittengesetz oder der Faktizität des Bösen aufgesucht wird, ist die hier intendierte Reflexionstätigkeit der Urteilskraft vorausgesetzt gewesen. Hier soll die Tätigkeit der reflektierenden Urteilskraft am Beispiel der organischen Natur expliziert werden: Das Dasein von lebenden Organismen lässt das Subjekt reflektierend nach Gründen für dieses Dasein suchen. Kant ist der Überzeugung, dass Menschen sich das Phänomen lebendiger Natur nicht anders erklären können als durch die Annahme, sie sei Produkt eines Willens, der sich ihr Dasein zum Ziel gesetzt hat: [I]ch kann nach der eigenthümlichen Beschaffenheit meiner Erkenntnißvermögen über die Möglichkeit jener Dinge und ihre Erzeugung nicht anders urtheilen, als wenn ich mir zu dieser eine Ursache, die nach Absichten wirkt, mithin ein Wesen denke, welches nach der Analogie mit der Causalität eines Verstandes productiv ist.226

Gottes Wille ist danach Bedingung der Möglichkeit für das Auftreten organischer Natur. Legt man den Akzent im gebotenen Zitat auf das ich urteile, wird klar: Es handelt sich um Naturbetrachtung, die einem rein subjektiven Prinzip folgt. Die Annahme, die Natur sei teleologisch durch einen verständigen Willen zur Hervorbringung von Leben organisiert, ist durch das reflektierende Subjekt gemacht und kann in der Natur objektiv nicht aufgefunden werden. Als subjektives Prinzip kann sie nicht andemonstriert werden: Objektiv können wir also nicht den Satz darthun: es ist ein verständiges Urwesen; sondern nur subjektiv für den Gebrauch unserer Urtheilskraft in ihrer Reflexion über

226

I. KANT: KdU, B 333.

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die Zwecke in der Natur, die nach keinem anderen Princip als dem einer absichtlichen Causalität einer höchsten Ursache gedacht werden können.227

Die Annahme, ein Verstand habe die Welt nach Zwecken geordnet, folgt einem Deutungsprinzip, in dem die leblose Welt vermittelst der reflektierenden Urteilskraft einen Zweck erhält: nämlich organische Natur hervorzubringen. Das Subjekt schaut die Welt dabei an, als ob sie durch dieses teleologische Prinzip bestimmt sei. Das Prinzip ist aber tatsächlich nicht in der Welt, sondern allein im Subjekt selbst zu finden.228 Denn wollte man die Welt tatsächlich nach absichtlich wirkenden Ursachen konstituiert wissen, müsste der Begriff des Naturzwecks ein Prinzip der bestimmenden Urteilskraft sein. Die erkennende Vernunft nimmt, wie beschrieben, die Urteilskraft tatsächlich in bestimmender Weise in Anspruch, wobei sie Angeschautes Begriffen zuordnet. Keiner der dabei in Anspruch genommenen Begriffe des Verstandes (Kategorien) lässt aber eine teleologische Naturbetrachtung zu. Jede bestimmende Erkenntnis von Natur, die diese meint teleologisch aufzufassen, hat das auf Zwecke gerichtete Moment in sie hineingespielt, statt es aus „objektiven Gründen zu erkennen.“229 Die Einsicht in die bloß subjektive Geltung reflektierender Urteile, sollte nicht über die Leistungskraft derartiger Wirklichkeitsdeutung hinwegtäuschen. Denn wenn das Subjekt die reflektierend erschlossene Deutung (im Modus des Glaubens) für wahr hält, ist es ihm möglich, dem Weltganzen einen Sinn abzugewinnen, der sich aus seinem Zweck ergibt. Das bedarf eigener Erklärung, denn bisher war lediglich die Rede davon, dass sich das Subjekt vermittelst der Urteilskraft das Dasein von organischen Entitäten von einem Willen her erklärt, der sich diese zum Zweck setzt. Das Weltganze auf dieselbe Weise erklären zu wollen, bedeutet allerdings einen weit höheren Anspruch zu erheben. 5.3.2.2 Die reflektierende Urteilskraft und das Reich Gottes als Zweck der Welt Kant hat gemeint, dass beispielsweise ein Baum als organisiertes Naturprodukt, das sowohl sich als Individuum als auch seine Gattung selbsterhaltend reproduziert230, nur durch eine besondere Art der Erklärung in seinem Auftreten verständlich gemacht werden kann: nämlich durch eine Kausalität nach Zwecken. Danach hat lebendige Natur ihre organisierte Form nicht vermittelst des reinen Naturmechanismus, sondern ist Folge einer Ursache,

227

I. KANT: KdU, B 335f. Vgl. I. KANT: KdU, B 269f; 308; 332 u.ö. 229 I. KANT: KdU, B 268. 230 I. KANT bietet das Beispiel des Baums in: KdU, B 287f. 228

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die ihrerseits Wirkung einer Idee vom Telos der Natur ist.231 Die Realisierung der Wirkung durch die Ursache ist der Idee von dieser Wirkung nachgängig. Das bedeutet ein Verständnis von Naturprodukten, wonach diese ihren ersten Grund nicht in einer Ursache haben, sondern in einem Zweck, der analog zu menschlichen Zwecken nach Begriffen Grund für die Realisierung des Naturprodukts ist.232 Entweder, und das ist nun entscheidend, ist dieser Begriff Grund für ein einzelnes organisch organisiertes Ding. In diesem Fall wird dieses durch den unterstellten Willen realisierte Produkt unmittelbar als Zweck angesehen. Oder das Produkt wird in einem weiteren Reflexionsschritt wiederum als Mittel zu anderen (höherstufigen) Zwecken gedeutet. Der durch die Urteilskraft unterstellte Zweck ist in diesem Fall nicht schon durch die Realisierung einer einzelnen zweckmässig organisierten Entität gegeben, sondern sie wird als Teil eines Systems von Zwecken gedeutet. Dieses System wird abermals als ein organisches Ganzes verstanden, das sich selbst erhält. Um das Beispiel des Baumes aufzunehmen: Er wäre nun nicht nur als Individuum und Gattung innerlich zweckmäßig organisiert angesehen, sondern ihm würde auch eine äußere Zweckmäßigkeit unterlegt werden233, die ihn in ein System von Zweckmäßigkeiten einbindet. Der Mensch weitet seinen Blick für Zweckmäßigkeiten also zunehmend aus. „Ein Ding seiner innern Form halber als Naturzweck beurtheilen, ist ganz etwas anderes, als die Existenz dieses Dinges für Zweck der Natur halten.“234 Mit der Suche nach äußeren Zwecken von Lebewesen hebt ein Reflexionsverfahren zur Suche nach Zweckmäßigkeiten an, das prinzipiell nicht Halt macht, sondern immer wenn ein Zweck erschlossen ist, sogleich auch über diesen hinaus fragt. 231

I. KANT drückt sich wie folgt aus: Es geht um „ein Verhältnis der Ursache zur Wirkung, […] welches wir als gesetzlich einzusehen uns nur dadurch vermögend finden, daß wir die Idee der Wirkung der Causalität ihrer Ursache, als die dieser selbst zum Grunde liegenden Bedingung der Möglichkeit der ersteren unterlegen.“ (KdU, B 279). 232 Die Evolutionstheorie erklärt das Auftreten von organischem Leben und die Stufen des Organischen im Sinne der modernen Naturwissenschaft nicht teleologisch. Denn wenn jede Mutation in der lebendigen Natur nichts als eine zufällige Veränderung genetischen Erbmaterials bedeutet, die einen Organismus zu Tage fördert, der in der gegebenen Umwelt einen Vorteil vor anderen Organismen hat, wird der neu aufgetretene Organismus sich notwendig durchsetzen. Ein derartiges Muster macht die (notwendige) Ordnung der Welt verständlich aus einem Mechanismus, dem gerade kein Ziel inhäriert. Vgl. exemplarisch für eine Auffassung der Wirklichkeit nach diesem Prinzip: J. MONOD: Zufall und Notwendigkeit. Wäre dies tatsächlich die einzig mögliche Art der Weltauffassung würde sich das reflektierende Suchen nach Zielen der Welt, von denen her ihre (lebendige) Organisation verständlich gemacht werden könnte, verbieten. Die naturwissenschaftliche Betrachtung der Welt kann in ihr nämlich keinen Plan entdecken, der sie auf ein Ziel zulaufen sehen würde. 233 Vgl. zur Differenzierung von innerer und äußerer Zweckmäßigkeit I. KANT: KdU, B § 63. Letztere wird dort definiert als „Zuträglichkeit eines Dinges für andere“ (KdU, B 282f). 234 I. KANT: KdU, B 299.

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Durch Ausweitung des Blicks kann der Gesamtnatur eine Zweckmäßigkeit abgewonnen werden. Das Verfahren, der Natur Zweckmäßigkeit in ihrer Organisation beizulegen, macht nämlich nicht bei der organischen Natur Halt, sondern begreift sie als Teil eines noch größeren zweckmäßig organisierten Systems, das auch die unbelebte Natur einschließt.235 [S]o ist kein Boden den Fichten gedeihlicher, als ein Sandboden. Nun hat das alte Meer, ehe es sich vom Lande zurückzog, so viele Sandstriche in unsern nordlichen Gegenden zurückgelassen, daß auf diesem für alle Cultur sonst so unbrauchbaren Boden weitläufige Fichtenwälder haben ausschlagen können […]; und da kann man fragen, ob diese uralte Absetzung der Sandschichten ein Zweck der Natur war zum Behuf der darauf möglichen Fichtenwälder. Soviel ist klar: daß wenn man diese als Zweck der Natur annimmt, man jenen Sand auch, aber nur als relativen Zweck einräumen müsse, wozu wiederum der alte Meeresstrand und dessen Zurückziehen das Mittel war.236

Die Betrachtung von organisierten Wesen nach ihrer äußeren Zweckmäßigkeit macht es erforderlich, jeweils einen Zweck anzugeben, der das Wesen selbst übersteigt. Jedes System organisierter Zweckmäßigkeit hat danach einen Zweck, der höherstufiger ist als das System selbst. Der Baum als zweckmäßig organisiertes Wesen ist zweckmäßig für das Natursystem, in dem er steht. Dieses System ist wiederum zweckmäßig organisiert für das nächsthöhere System. Schließlich gelangt man bei diesem Verfahren, die äußere Zweckmäßigkeit eines organisierten Systems auf seinen Zweck zu beziehen, auf den Begriff des Naturganzen als Zweck. Allerdings ist dieses Naturganze wiederum zweckmäßig organisiert – und so wirft sich die Frage auf, was der äußere Zweck dieser Zweckmäßigkeit ist. Er kann nicht innerhalb der Natur selbst aufgesucht werden. Das ist so, weil das Naturganze derart organisiert verstanden wird, dass in ihm selbst nichts den Status von Selbstzwecklichkeit für sich reklamieren kann. Vielmehr dient sogleich jeder Zweck auch wieder als Mittel zu anderen Zwecken. Kant nennt die äußere Zweckmäßigkeit von Naturwesen entsprechend relativ.237 Selbst der Mensch als Naturwesen kann sich davon nicht ausnehmen, auch Mittel zu sein: Man könnte auch […] sagen: Die gewächsfressenden Thiere sind da, um den üppigen Wuchs des Pflanzenreichs, wodurch viele Species derselben erstickt werden würden, zu mäßigen; die Raubthiere, um der Gefräßigkeit jener Gränzen zu setzen; endlich der Mensch, damit, indem er diese verfolgt und vermindert, ein gewisses Gleichgewicht unter den hervorbringenden und den zerstörenden Kräften der Natur gestiftet werde.

235

Vgl. dazu grundsätzlich I. KANT: KdU, B § 67. I. KANT: KdU, B 280f. 237 I. KANT: KdU, B § 63. 236

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Und so würde der Mensch, so sehr er auch in gewisser Beziehung als Zweck gewürdigt sein möchte, doch in anderer wiederum nur den Rang eines Mittels haben.238

Der äußere Zweck, den das Naturganze hat, kann folglich nicht ein Naturprodukt sein, denn ein solches ist im System der Natur zugleich immer auch Mittel.239 Der Endzweck der Welt muss deshalb „ganz außerhalb der physisch=teleologischen Weltbetrachtung“240 liegen. Er ist von übernatürlicher Art. Die Doppelnatur des Menschen befähigt ihn grundsätzlich dazu, letzter Zweck der Natur zu sein. Er ist endliches Naturwesen und übernatürliches Vernunftwesen zugleich. Seine Sinnenart stellt ihn in das System der zweckmäßig organisierten Natur ein, seine Intelligibilität macht ihn zu einem potentiellen letzten Zweck des Naturganzen, weil sie dieses übersteigt. Der gesuchte Selbstzweck, für den die gesamte Naturwelt der reflektierenden Urteilskraft nur als Mittel erscheint, ist nach Kant die Sittlichkeit der menschlichen Gattung: „[N]ur im Menschen, aber auch in diesem nur als Subjecte der Moralität ist die unbedingte Gesetzgebung in Ansehung der Zwecke anzutreffen, welche ihn also allein fähig macht, ein Endzweck zu sein, dem die ganze Natur teleologisch untergeordnet ist.“241 Die Realisierung von Moralität der menschlichen Gattung ist der einzige denkbare letzte Zweck des Naturganzen, der einerseits nur durch Naturüberhebung realisiert wird, zu dem sich die Natur aber doch wie ein Mittel verhalten kann, weil der Mensch ohne seine Natur nicht existent wäre. Darüber hinaus stellt Sittlichkeit der menschlichen Gattung einen Selbstzweck dar, der als solcher nicht Mittel zu anderen Zwecken ist. Die Herstellung von Sittlichkeit als Zweck kann nicht vom Lauf der Natur erwartet werden. Denn zu ihrer Erreichung bedarf es der am Sittengesetz orientierten Entwicklung der Gattung Mensch. Der Endzweck der Welt wird nur durch eine „Cultur der Zucht“ befördert, deren Wesen „in der Befreiung des Willens von dem Despotism der Begierden, wodurch wir, an gewisse Naturdinge geheftet, unfähig gemacht werden, selbst zu wählen,“242 liegt. Kant hat die gesamte Kulturarbeit des Menschen diesem letzten Zweck unterordnen können. Denn der Prozess, in dem der Mensch sich aus seinem rein natürlichen Zustand mehr und mehr erhebt und ihn auf diese Weise Kunst, Wissenschaft und Sitten ausbilden lässt, der ihn also in einen Zustand der Verfeinerung seiner übersinnlichen Anlagen im weitesten Sinne versetzt, bereitet „den Menschen zu einer Herrschaft vor, in welcher 238

I. KANT: KdU, B 383. Vgl. grundsätzlich dazu auch I. KANT: KdU, B § 82, insbesondere B 382. 240 I. KANT: KdU, B 300. 241 I. KANT: KdU, B 399. 242 I. KANT: KdU, B 392. 239

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die Vernunft allein Gewalt haben soll.“243 Dieser letztgenannte Zustand kann nicht wiederum als Mittel zu einem höheren Zweck begriffen werden, weil er das höchste vollkommene Gut der praktischen Vernunft ist: „Von dem Menschen nun […] als einem moralischen Wesen, kann nicht weiter gefragt werden: wozu (quem in finem) er existiere. Sein Dasein hat den höchsten Zweck selbst in sich.“244 Weil aber Menschen nicht nur nach Moralität streben, sondern auch nach Glückseligkeit, vollziehen sie sich erst dann im vollendeten Sinne sittlich, wenn sie neben Moralität auch Glück für die Gattung realisieren wollen.245 Indem sie dies tun, streben sie das Reich Gottes auf Erden an. Reflexionsresultate, die zunächst nur die physische Welt betreffen, werden durch das Verlangen nach Angabe eines Selbstzwecks mit einem sie übersteigenden übersinnlichen Begriff verknüpft.246 Durch den Reflexionsgang wird auf diese Weise erschlossen, „daß auch die Schöpfung, d.i. die Welt selbst ihrer Existenz nach einen Endzweck habe.“247 Erst durch dieses Urteil, nach dem die Zweckmäßigkeit der Natur auf den letzten Zweck der Welt bezogen wird, erhält die Schöpfung als Ganze einen Sinn oder Wert. Von hier aus lässt sich im vollen Sinne verstehen, was Kant schon in der Grundlegung ausgesprochen hat: dass „die Verstandeswelt den Grund der Sinnenwelt, mithin auch der Gesetze derselben enthält.“248 Der Grund der Schöpfung ist danach die Durchsetzung des Reiches Gottes, das durch die Geschichte der Menschheit angestrebt werden soll.249 243

I. KANT: KdU, B 395. I. KANT: KdU, B 398. 245 Vgl. dazu den Abschnitt 5.1.3. Moralität ist bei der Herstellung des vollendeten höchsten Guts immer Bedingung der Möglichkeit von Glückseligkeit. Das Verhältnis kann im sittlichen Vollzug nicht umgekehrt werden. 246 I. KANT spricht davon, dass die Erkenntnisse der physischen Teleologie mit denen der moralischen Vernunft „verbunden“ werden (KdU, B 435). In § 88 der KdU geschieht diese Verbindung durch die Gleichsetzung der Gottesbegriffe, die sich aus der reflektierenden Urteilskraft und der praktischen Vernunft ergeben. § 86 führt die Erweiterung der teleologischen Urteilskraft durch die Ethikotheologie der praktischen Vernunft ein als „ein Urtheil, dessen sich selbst der gemeinste Verstand nicht entschlagen kann.“ (KdU, B 410). Der tiefere Grund dahinter ist das Verlangen der Vernunft, letzte Gründe aufzusuchen. Es macht danach keinen Sinn, bei einer reinen Physikoteleologie stehen zu bleiben. Denn diese liefert nichts als „Dinge ohne Endzweck“, die erst dadurch einen Wert erhalten, dass man einen Endzweck voraussetzt, „in Beziehung auf welchen die Weltbetrachtung selbst einen Werth habe.“ (KdU, B 410f). 247 I. KANT: KdU, B 430. 248 I. KANT: GMS, 453 (Hervorhebungen im Original). 249 Es bedeutet deshalb ein völliges Missverständnis der kantschen Theorie, wenn man den zitierten Satz der GMS so versteht als meine er, dass die wirkliche Welt in ihrem Jetztzustand sich schon nach ihrem intelligiblen Prinzip richte. So versteht A. DORSCHEL: Kritik, 39, Kant. Er meint sodann Kants dualistischer Aufriss seiner Philosophie kranke daran, dass das „an sich Gute“ der noumenalen Welt „einer ihm nicht entsprechenden Welt und Natur gegenüber“ stehe. Aus diesem Grund solle dem Anspruch nach bei Kant die intelligible Welt zwar den Grund der sinnlichen abgeben, könne es aber nicht. Vielmehr stünden beide beziehungslos nebeneinander. Vgl. § 21 bei 244

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Daraus folgt erstens: Es gibt nichts in der Welt, weder Zustand noch Geschichtsprozess, das bei der Weltdeutung durch die reflektierende Urteilskraft nicht diesem einen Zweck dienen würde – nämlich der Verwirklichung der Sittlichkeit der Gattung Mensch. Von dieser Beobachtung aus lässt sich zurückkommen auf eine These, die weiter oben250 behauptend aufgestellt worden ist: Wenn ausnahmslos alles in der Welt durch die reflektierende Urteilskraft als zweckmäßig für das Telos der Welt aufgefasst wird, dann gilt das auch für Zustände oder Abläufe, die für sich betrachtet der Erreichung des Ziels zu widerstreiten scheinen. Selbst das Böse muss unter dieser Perspektive als zweckmäßig für den Zweck Reich Gottes beurteilt werden. Allerdings kann es Zweckmäßigkeit nur unter dem Vorbehalt haben, überwunden zu werden, denn die Analyse des Begriffs des Reiches Gottes als geschichtliches Telos schließt das Vorhandensein von moralischer Verfehlung aus. Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse kann man zweitens die oben aufgeworfene Frage, ob es sinnvoll ist die Religionsgeschichte normativ aufzufassen, einer Antwort zuführen. Wenn es der reflektierenden Urteilskraft natürlich ist, die Welt auf ihren unbedingten Zweck hin zu befragen, muss die gesamte Weltgeschichte zielgerichtet gedeutet werden. Die Religionsgeschichte ist dabei von besonderem Interesse, weil sie mit den positiven Glaubensarten denjenigen Teil der Weltgeschichte fokussiert, der allein zur Vollendung der Welt führen kann. Denn Glaubensarten haben ihre Bestimmung darin, das Reich Gottes auf Erden durchzusetzen, dessen Realisierung zugleich die Realisierung des Zwecks der Welt bedeutete. Die normative Auffassung der Welt- und Religionsgeschichte liegt also in der Konsequenz der reflektierenden Urteilskraft und der praktischen Vernunft. Sie ist, jedenfalls wenn man Kant folgen will, nicht per se Werkzeug der selbstimmunisierenden Apologie von Glaubensarten, wie die historistische Kritik es unterstellt hat. Sowohl die praktische Vernunft als auch die reflektierende Urteilskraft sind nach Kant geschichtsenthobene Fähigkeiten des Menschen, die als solche Bedingung der Möglichkeit von sinnvoller Geschichtsbetrachtung sind.251 A. DORSCHEL. Diese durch Hegel inspirierte Kritik an Kant geht fehl, weil sie den historischen Zug der kantschen Verhältnisbestimmung von übersinnlicher und sinnlicher Welt verkennt. Die sinnliche Welt hat für den Glaubenden ihren Grund im übersinnlichen Willen Gottes, der jene nur um ihres Zieles oder Zweckes willen schafft. Der Grund ist hier also kein ursächlicher Grund im Sinne des Prinzips Kausalität, sondern ein teleologischer Grund des Zwecks. 250 Vgl. dazu Abschnitt 2.3.6 oben. 251 Ganz analog zu dieser Logik hat E. TROELTSCH selbst eine Betrachtung der Geschichte mittels normativer Maßstäbe gefordert, die das Deutungsparadigma eines Kulturkreises abgeben, aber doch keine Absolutheit für sich reklamieren können (vgl. etwa das dritte Kapitel seiner Absolutheitsschrift). Diese Wertmaßstäbe befinden sich allerdings in einem Kampf miteinander, in dem der „absolute, wandellose, durch nichts temporär bedingte Wert“, der „überhaupt nicht in der

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Ob man berechtigt ist, einer bestimmten Glaubensart eine Sonderstellung in der Religionsgeschichte einzuräumen, hängt wie beschrieben davon ab, ob sie gemessen an der Norm reiner Religion einen Vorzug vor anderen Glaubensarten genießt. Es ist gezeigt worden, dass Kant keinesfalls der Auffassung ist, alle Glaubensarten hätten dieser Norm gegenüber differenzlos die gleiche Stellung. Das entscheidende Kriterium für den Rang einer positiven Glaubensart besteht in der Fähigkeit, Leitmittel für die reine Religion zu sein. Zu dieser Fähigkeit ist Selbstdurchsichtigkeit im Sinne der Einsicht in die eigene Leitmittelfunktion erforderlich. Das Christentum ist nach Kant die einzige positive Glaubensform, die diese Kriterien erfüllt. Es ist aber grundsätzlich nicht ausgeschlossen, dass auch andere Glaubensarten die Vehikelfunktion zur Herstellung des Reiches Gottes übernehmen können. 5.3.3 Das Verhältnis von Individuum und Gattung bei der Vollendung Den normativen Zweck der Welt zu erkennen, ist Bedingung der Möglichkeit dafür, dem eigenen Leben einen Wert abgewinnen zu können, der über den relativen Wert von Naturdingen hinausgeht. Vermittelst des Bewusstseins Endzweck der Welt zu sein, sprechen sich Menschen (selbst und gegenseitig) Würde zu, worunter Kant bekanntlich einen inkommensurablen Wert verstanden hat.252 Es handelt sich um einen „Werth, den wir unserem Leben selbst geben durch das, was wir nicht allein thun, sondern auch so unabhängig von der Natur zweckmäßig thun, daß selbst die Existenz der Natur nur unter dieser Bedingung Zweck sein kann.“253 Das Christentum ist diejenige Glaubensart, in der systematisch die Würde des MenGeschichte, sondern in dem Jenseits der Geschichte“ (E. TROELTSCH: Absolutheit, 170) liegt, angestrebt wird. Derartige Aussagen rücken Troeltsch zumindest in die Nähe des kantschen Programms. Denn offenbar setzt auch die Geschichtsauffassung Troeltschs eine absolute Norm voraus. Welchen ontologischen Status diese Norm hat, ist nun allerdings fraglich. Bei Kant handelt es sich mit dem Begriff des Reiches Gottes um eine Norm, die vermittelst der praktischen Vernunft transzendentalen Status beanspruchen kann. Und das heißt in diesem Zusammenhang vor allem: Kant gibt einen Referenzpunkt für Geschichte an, der seinerseits nicht durch den Geschichtsverlauf relativiert werden kann, der vielmehr von der Geschichtswissenschaft in Anspruch genommen werden muss, wenn sie ein in sich systematisch geordnetes Ganzes sein soll und nicht nur eine Anhäufung von untereinander beziehungslosen Fakten – was aber die Nivellierung des Wissenschaftsbegriffs selbst bedeutete. 252 Vgl. I. KANT: GMS, 427–429. 253 Das Zitat findet sich in einer Anmerkung in I. KANT: KdU, B 395 (Hervorhebung durch A.H.), die den Wert des Lebens zum Thema hat. Das gebotene Zitat scheint Würde nur demjenigen zuzusprechen, der an sich sittlichen Selbstvollzug aktualisiert hat. Das ist allerdings nicht unbedingt notwendig, um den absoluten Wert des Menschen zu erkennen. Denn schon die Bewusstmachung der Bestimmung reicht aus, um den unüberbietbaren Wert des Menschen erkennen zu können.

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schen thematisch ist, weil es das Ziel der Welt beständig vor Augen hat und anstrebt. Genaueres Hinsehen fördert allerdings eine Schwierigkeit zu Tage. Denn welchen Wert, so fragt man sich, hat denn der Einzelne innerhalb des noch unabgeschlossenen Prozesses der Weltgeschichte? Wenn nämlich allein die Idee des Reiches Gottes den Statuts der Selbstzwecklichkeit beanspruchen kann, scheint der Einzelne als Teil der Weltgeschichte, die für sich selbst nur den Status eines zu überwindenden Stadiums hat, zum Mittel des Selbstzwecks degradiert zu sein. Das nährt den Verdacht, das Individuum habe keinen Selbstwert, sondern sei innerhalb des Geschichtsprozesses nichts als Mittel zum Reich Gottes als Zweck. Das Problem ist durch G.E. Lessing pointiert zur Sprache gebracht worden.254 Er hat gesehen, dass ein Theoriegebäude, wenn es sich durch Konzentration auf die Erziehung des Menschengeschlechts auszeichnet, innerhalb seiner Mauern dem Individuum den ihm gebührenden Wert kaum zusprechen kann. Denn wenn von unüberbietbarem Wert allein das anzustrebende vollendete Menschengeschlecht ist, kann der Einzelne, der bloß Teil des Entwicklungsprozesses auf dem Weg zum Ziel ist, nur als Mittel zum Zweck verstanden werden. Diese Konsequenz lässt sich aber nicht mit einem Verständnis in Kongruenz bringen, das dem Einzelnen unendlichen Wert zuspricht, weil es eine göttliche Bestimmung für ihn gibt. Lessings Lösung des Problems liegt in der Idee der Palingenesie, denn nur wenn der Einzelne „mehr als einmal auf dieser Welt vorhanden gewesen“255 ist, ist es ihm möglich, sich zu vollenden, und zwar indem er schließlich auch am realisierten Telos der Welt teilhat.256 Bei Kant tritt dasselbe Problem in anderem Gewand auf. Denn wenn seine Geschichtsphilosophie der dritten Kritik die Vollendung der Menschheit als Ziel der Welt formuliert, ließe sich in ihrem Rahmen die Vollendung des Einzelnen nur dann denken, wenn er zufällig am Ende des Entwicklungsprozesses stehen würde. Kant hat zur Rettung der Würde des Einzelnen nicht wie Lessing die Vorstellung von der Palingenesie als Lösung angeboten, sondern seine dualistische Konzeption von Philosophie hat es ihm erlaubt, eine intelligible Welt anzunehmen, die der irdischen Welt jenseitig ist und in der der Einzelne sich vollendet. Wie der Prozess der Individualvollendung im Einzelnen zu denken ist, ist oben ausführlich

254

Vgl. G.E. LESSING: Erziehung, §§ 22 und 92. Es handelt sich seitdem um ein klassisches Problem der Eschatologie. Um einen Überblick über seine Bearbeitung in der Zeit von der Aufklärung bis zur Hegelschule zu erhalten, eignet sich gut: P. CORNEHL: Die Zukunft der Versöhnung. 255 G.E. LESSING: Erziehung, § 94. 256 So wird Lessing auch von E. HIRSCH: Geschichte IV, 128, gedeutet.

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besprochen worden.257 Hier stellt sich nun die Frage, ob sich einsichtig machen lässt, dass Kant offensichtlich zwei Ziele des Menschen gleichwertig nebeneinander stellt: nämlich seine individuelle Vollendung und die der Gattung. Der Schlüssel zur Beantwortung der Frage ist die Doppelstellung des einen Sittengesetzes. Zum einen verlangt es in seiner Normalform von jedem Einzelnen seine Vollendung, zu deren Durchsetzung er als Individuum unsterblich sein muss. Die Menschheitsformel des Sittengesetzes verlangt zum anderen die Vollendung der Gesamtgattung. Der Einzelne hat in der Funktion, Teil der Geschichte zu sein, durch die das Reich Gottes auf Erden durchgesetzt wird, in der Tat nur die Valenz eines Mittels zum Zweck. Dass er darüber hinaus einen absoluten Wert im Sinne der Würde hat, garantiert ihm einzig seine praktische Vernunft, durch die er zugleich auch einen Selbstzweck darstellt, dessen Vollendung im Jenseits stattfindet. Auch im Jenseits steht der Einzelne bei seiner moralischen Vollendung in einer Welt, die es ihm erlaubt, sich moralisch zu vollziehen und gleichzeitig glückselig zu sein. Es handelt sich dabei folglich um eine Welt, die analog zum Begriff des Reiches Gottes gedacht wird. 5.3.4 Die Vermittlung von Moralität und Glückseligkeit im Reich Gottes auf Erden Die Aufmerksamkeit muss nochmals auf die diesseitige Welt gerichtet werden. Dass die Vollendung des Individuums neben seiner vollendeten Moralität auch seine durchgehende Glückseligkeit erfordert, ist bereits ausführlich zur Sprache gekommen.258 Soll dieser Konnex auch Gültigkeit für das Reich Gottes auf Erden haben, müsste sich zeigen lassen, dass die Umwandlung der Natur zu einem Zustand, in dem sie der Menschheit Glück bereitstellt, einen weiteren Endzweck neben der Moralität darstellt. 257

Vgl. Abschnitt 5.1. Vgl. dazu den Abschnitt 5.1.3. und I. KANT: KdU, B 423f: „Denn die „subjektive Bedingung, unter welcher der Mensch […] sich unter dem obigen Gesetze [dem moralischen Gesetz] einen Endzweck setzen kann, ist die Glückseligkeit. Folglich, das höchste in der Welt mögliche und, so viel an uns ist, als Endzweck zu befördernde physische Gut ist Glückseligkeit: unter der objektiven Bedingung der Einstimmung des Menschen mit dem Gesetze der Sittlichkeit, als der Würdigkeit glücklich zu sein“ (Hervorhebungen im Original). Dieser Gedanke kündigt sich schon in der Grundlegung an, wenn es dort heißt: „[I]n Betreff der verdienstlichen Pflicht gegen andere ist der Naturzweck, den alle Menschen haben, ihre eigene Glückseligkeit. Nun würde zwar die Menschheit bestehen können, wenn niemand zu des andern Glückseligkeit was beitrüge, dabei aber ihr nichts vorsätzlich entzöge; allein es ist dieses doch nur eine negative und nicht positive Übereinstimmung zur Menschheit als Zweck an sich selbst, wenn jedermann auch nicht die Zwecke anderer, so viel an ihm ist, zu befördern trachtete. Denn das Subjekt, welches Zweck an sich selbst ist, dessen Zwecke müssen, wenn jene Vorstellung bei mir alle Wirkung thun soll, auch, so viel möglich, meine Zwecke sein“ (GMS 430, Hervorhebungen im Original). 258

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Es wäre danach dem Menschen als Gattung nicht nur aufgetragen, dem göttlichen Willen sittlich zu entsprechen, sondern auch der Natur eine Gestalt zu geben259, die neben dem moralischen Vollzug auch Glückseligkeit der Gattung ermöglicht: Wir sind a priori durch die Vernunft bestimmt, das Weltbeste, welches in der Verbindung des größten Wohls der vernünftigen Weltwesen mit der höchsten Bedingung des Guten an denselben, d.i. der allgemeinen Glückseligkeit mit der gesetzmäßigsten Sittlichkeit, besteht, nach allen Kräften zu befördern.260

Das Reich der Zwecke als Ziel der Schöpfung bedeutet nicht allein die systematische Verbindung aller Menschen zu moralischer Bonität, sondern es stellt zugleich Glückseligkeit für die gesamte Gattung sicher.261 An dem Gedanken der Verbindung von Sittlichkeit und Glückseligkeit im Ziel der Welt hatte Albert Schweitzer moniert, hier würden zwei Prinzipien komponiert, die, wenn man der reflektierenden Urteilskraft folgt, nicht zusammengehören.262 Zwar sei Glückseligkeit ein Moment des höchsten vollendeten Guts des Individuums, denn dieses strebe tatsächlich nicht nur nach Moralität, sondern auch nach Glück. Allerdings – so Schweitzer – mache es keinen Sinn, neben der Moralität auch die Glückseligkeit der Gattung als Ziel der Welt auszugeben. Als moralisch sich vollziehende Gesellschaft erreiche die Menschheit einen übernatürlichen Zustand, der einen adäquaten Endzweck der Welt vorstelle.263 Glückseligkeit könne nicht 259 Die Pflicht, der Natur qua Sittengesetz die Form einer intelligiblen Welt zu verschaffen, ist schon in der Analytik der Kritik der praktischen Vernunft festgestellt: „Dieses Gesetz soll der Sinnenwelt, als einer sinnlichen Natur […] die Form einer Verstandeswelt, d.i. einer übersinnlichen Natur verschaffen“ (I. KANT: KpV, A 74, Hervorhebungen im Original). Die Verfassung dieser übersinnlichen Natur muss nach den Überlegungen der Dialektik der KpV nicht bloß Sittlichkeit, sondern auch Glückseligkeit aller in ihr befindlichen Menschen ermöglichen. 260 I. KANT: KdU, B 429. 261 Eine derart zum Reich Gottes umgewandelte Welt ist nach Kant also das Objekt menschlicher Pflicht. Ihre Durchsetzung ist aber für Menschen aus doppeltem Grund unmöglich: Unter Berücksichtigung der Möglichkeiten von Menschen, die der Widerständigkeit der Natur nur endliche Kräfte entgegenzusetzen haben, müsste ein Prozess der Umwandlung der Welt erstens unendlich lang dauern, würde sogar unabgeschlossen bleiben, weil die Natur und die in ihr herrschenden Gewalten nicht derart beherrschbar sind, dass sie der Menschheit beständig Glück bereiten. Von der Menschheit kann die Herstellung einer Welt, in der sie sich moralisch vollzieht und gleichzeitig glückselig ist, aber zweitens auch aus handlungstheoretischen Gründen nicht erreicht werden. Denn sobald sich Menschen moralisch vollziehen, stellen sie ihr Begehren, glückselig werden zu wollen, hinter den moralischen Antrieb zurück. Das Resultat sind Handlungen, die gerade nicht darauf zielen, den Antrieb zur Selbstliebe zu befriedigen. Soll sich trotzdem Glückseligkeit für die Menschheit einstellen können, muss die Welt durch Gott derart gelenkt werden, dass sich Glückseligkeit zu Moralität fügt. 262 Vgl. dazu insgesamt A. SCHWEITZERs Ausführungen in: Religionsphilosophie, 290–311. Schweitzers These fußt auf der Annahme, die Kritik der praktischen Vernunft vertrete einen anderen Begriff vom höchsten Gut als die anderen religionsrelevanten Schriften Kants. 263 Vgl. A. SCHWEITZER: Religionsphilosophie, 291.

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ebenso Endzweck der Menschheit sein, weil mit ihr gerade kein übernatürlicher Zustand angestrebt werde, sondern nur ein Verlangen, das im Rahmen des Menschen als Naturwesen auftaucht. Als Naturwesen ist der Mensch bloß zweckmäßiges Wesen, das als solches nicht den Status von Selbstzwecklichkeit beanspruchen kann. Der Endzweck der Welt sei nach dem Gedankengang der KdU folgerichtig allein der „Mensch als moralisches Wesen.“264 Schweitzer setzt voraus, dass der Begriff des höchsten vollendeten Guts aus der Kritik der praktischen Vernunft nicht mit dem aus der dritten Kritik vereinbar sei. Sein Argument lässt sich nicht leichthin abtun, denn tatsächlich folgt die Entwicklung des Begriffs vom höchsten Gut in der zweiten und dritten Kritik unterschiedlichen Begründungsgängen. In der zweiten Kritik geht es darum, das höchste Gut eines endlichen vernünftigen Wesens zu benennen, während die reflektierende Urteilskraft der dritten Kritik streng genommen nicht ein Gut für den Menschen, sondern den Zweck der Welt aufsucht. Dieser Zweck kann tatsächlich nicht unvermittelt neben Moralität auch Glückseligkeit der Menschheit sein. Soweit führt Schweitzer seine Kritik zu Recht durch. Ob man ihm allerdings in seinem Verdikt folgen muss, das Glückseligkeitstheorem sei „in gar keiner Beziehung zur Idee des Menschen als moralischen Endzweckes der Welt“265, ist eine andere Frage. Denn wenn die Menschheit ihr Ziel darin hat, auf Erden eine Form anzunehmen, in der jeder Einzelne sich nicht nur für sich, sondern auch in seiner Bezogenheit auf andere moralisch vollzieht, so bedeutet dies nach der Menschheitsformel des Sittengesetzes, dass jeder Mensch sowohl seinen Zweck, aber auch die Zwecke aller anderen zu befördern habe. Der höchste vollendete Zweck jedes Menschen besteht nun aber nicht nur in Moralität, sondern auch in Glückseligkeit. Zwar muss jene auch bei der Realisierung des Reiches Gottes auf Erden Bedingung für diese sein.266 Glückseligkeit als Ziel des Menschen ist aber aus dem Reich Gottes nicht ausgeschlossen. Vielmehr bleibt dieses Begehren in der Menschheit bestehen, weil Menschen mit subjektiven Triebfedern ausgestattet sind. Soll die Menschheit vollendet werden, kann dies nur unter der Bedingung einer Ordnung der Natur geschehen, die ausnahmslos alle Menschen durchgehend Glück erfahren lässt, sofern sie sich moralisch vollziehen. Man wird Schweitzer folglich darin zustimmen können, dass Glückseligkeit der Menschheit nicht unmittelbar als Zweck der Welt angesehen werden kann. Begründeter Zweck der Welt ist der Mensch nur vermittelst 264

A. SCHWEITZER: Religionsphilosophie, 300. A. SCHWEITZER: Religionsphilosophie, 298. 266 Physische Glückseligkeit kann nach I. KANT: KdU, B 424, nur „unter der objektiven Bedingung der Einstimmung des Menschen mit dem Gesetze der Sittlichkeit, als der Würdigkeit glücklich zu sein“ (Hervorhebung im Original), Endzweck der Welt sein. 265

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seiner intelligiblen Fähigkeit zur Sittlichkeit. Weil aber sittlicher Vollzug neben Moralität auch Glückseligkeit der Menschheit anstrebt, ist Glückseligkeit der Menschheit durch das Sittengesetz in seiner Menschheitsformel vermittelter Zweck der Welt. Kant hat das Wesen des Menschen nicht in bloßer Geistigkeit aufgehen sehen. Der Mensch ist vielmehr als Leib-SeeleEinheit Zweck der Welt und deshalb gilt: „In dem höchsten für uns praktischen […] Gute werden Tugend und Glückseligkeit als nothwendig verbunden gedacht.“267 5.3.5 Gott als Schöpfer und Vollender der Welt Bisher ist noch nicht darauf reflektiert worden, durch welche Kausalitäten das Reich Gottes auf Erden realisiert werden soll. Die Frage hat mehrere Dimensionen, die im Folgenden soweit zur Sprache kommen, als sie den Gedanken von Sein und Wirken eines theistisch konzipierten Gottes betreffen. Wenn die Vollendung der Welt voraussetzt, dass die menschliche Gattung stetig das Schema des Begriffs vom Reich Gottes abgibt, muss sie das moralisch Böse in jeder Hinsicht hinter sich gelassen haben. Dass dazu neben der Erlösung des Einzelnen die Bildung einer Kirche notwendig ist, ist oben hinreichend ausgeführt worden.268 Dabei sollte deutlich geworden sein, dass unter Berücksichtigung der Radikalität des Bösen sowohl die Erlösung durch Versöhnung als auch die Errichtung einer entsprechenden Kirche einen Gott voraussetzt, der „allgütig und zugleich gerecht“269 ist. Denn der Mensch selbst ist zur Überwindung der Sünde weder als Individuum noch in der Gattung fähig. An dieser Stelle soll die Aufmerksamkeit aber auf eine andere Dimension des theistischen Gottesgedankens gerichtet werden, die durch die Ausweitung des Gedankens der Teleologie auf das Weltganze motiviert ist. Die dritte Kritik hat gezeigt, dass es möglich ist, der gesamten Weltgeschichte einen zielgerichteten Ablauf zu unterstellen, der mit der Vollendung der Menschheit zu seinem Ziel kommt. Die teleologische Auffassung der Welt setzt einen Willen voraus, der sich den Zweck einer vollendeten Welt gesetzt hat. Dieser Wille und seine Zwecksetzung ist, folgt man der reflektierenden Urteilskraft, Grund der Existenz der Welt.270 Der oben beständig mitgeführte Verstand, der die Welt nach Zwecken setzt und organisiert, ist folglich Gott in seiner Schöpferfunktion. 267

I. KANT: KpV, A 204. Vgl. dazu Abschnitt 5.2. 269 I. KANT: KdU, B 414 (Hervorhebungen im Original). 270 Vgl. I. KANT: KdU, B §§ 87 und 88. 268

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Wird die Funktion Gottes darauf reduziert, die Naturwelt als Ganze innerlich zweckmäßig einzurichten, liegt der Entwurf einer Physikotheologie vor. Die reflektierende Urteilskraft bleibt in ihrem Prozess, Zwecke für die organisierte Verfassung der Welt aufzusuchen, aber auf halbem Wege stehen, wenn sie die Zweckmäßigkeit der Natur nicht auf einen letzten ihr äußerlichen moralischen Zweck zu beziehen vermag. Gott als Schöpfer ist folglich nicht angemessen beschrieben, wenn sein Wille nicht als moralischer Wille zur Sprache kommt, der die Welt um ihrer moralischen Vollendung willen in Existenz gebracht hat. Physikotheologie ist deshalb allenfalls „Vorbereitung (Propädeutik) zur Theologie“271, die erst als Ethikotheologie vernunftgemäß durchgeführt ist. Die Eigenschaftslehre Gottes muss folglich im Rahmen einer Ethikotheologie272 entwickelt werden. Allmacht ist ein notwendiges Prädikat Gottes, denn nur vermöge dieser Eigenschaft ist es möglich, dass er die ganze Natur dem höchsten Zweck stimmig macht. Die Welt muss im Verlauf ihres Vollendungsprozesses phänomenal bestimmte Gestaltungen annehmen, die ihre Ursache nicht im Kausalmechanismus haben, sondern im Begriff vom Ziel der Welt. Die sinnliche Wirklichkeit muss folglich zwei inkommensurablen Prinzipien folgen: der mechanistischen Kausalität einerseits und der endzwecklichen Kausalität andererseits. Es scheint, als ließen sich die beiden Prinzipien nicht miteinander vermitteln, denn Kausalität nach Zwecken setzt einen freien Willen voraus, der sich ein Ziel setzt, und sie ist damit grundsätzlich verschieden von der total determinierten Kausalität nach dem Naturgesetz. [W]enn ich dasselbe Product als Naturzweck annehme, kann ich nicht auf eine mechanische Erzeugungsart desselben rechnen und solche als constitutives Princip zur Beurtheilung desselben seiner Möglichkeit nach annehmen und so beide Principien vereinigen. Denn eine Erklärungsart schließt die andere aus.273

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I. KANT: KdU, B 410. I. KANT unterscheidet von ihr eine Physikotheologie, die auf dem Boden einer reflektierenden Urteilskraft zu Stande kommt, die ihren Reflexionsgang auf die Welt dort beendet, wo die Zweckmäßigkeit der Natur erkannt worden ist. Die Ordnung lässt auf „einen verständigen Welturheber“ (KdU, B 472. Hervorhebung im Original) schließen. Zum Abschluss gebracht wird der Reflexionsgang aber erst durch eine Ethikotheologie, die nach letzten Zwecken fragt und auf den Begriff eines moralischen Welturhebers zielt. Die Idee von Gott erhält im Übrigen den Status objektiver Realität nur vermittelst der Idee vom ethischen Endzweck. Denn dieser ist durch die praktische Vernunft objektiv gewiss. Die bloße Physikotheologie dagegen kann objektive Realität für Gott in seiner Funktion als verständige Weltursache nicht verbürgen, weil die bloß theoretisch (nicht praktisch) reflektierende Urteilskraft ohne jede moralische Ergänzung zwar subjektiv auf einen verständigen Welturheber schließen kann, dieser aber allein dadurch niemals objektive Realität erlangt (Vgl. dazu I. KANT: KdU, B § 88 und B 475–478). 273 So die Problemanzeige in I. KANT: KdU, B 357. 272

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Eine Vereinigung zweier kontradiktorischer Prinzipien ist nur möglich in einem dritten, das beide umgreift und so kompatibel zueinander machen kann: „Nun ist aber das gemeinschaftliche Princip der mechanischen einerseits und der teleologischen Ableitung andrerseits das Übersinnliche, welches wir der Natur als Phänomen unterlegen müssen.“274 Gott als dieses Übersinnliche275 muss deshalb allmächtig sein, weil er ausnahmslos die gesamte Natur zur Erreichung des Telos lenken können muss. M.a.W. muss Gott als allmächtige Kausalität gedacht werden, die, einer creatio continua gleich, den Weltprozess zielführend begleitet, diesen aber zugleich mechanistisch ablaufen lässt. Die Integration beider opponierender Kausalitätsprinzipien ist darüber hinaus nur möglich, wenn das integrierende Dritte etwas anderes ist als die beiden zu Integrierenden: Das Princip, welches die Vereinbarkeit beider in Beurtheilung der Natur nach denselben möglich machen soll, muß in dem was außerhalb beiden […] liegt, […] d.i. im Übersinnlichen, gesetzt und eine jede beider Erklärungsarten darauf bezogen werden.276

Gott muss folglich in seiner Bezogenheit auf die Welt ihr zugleich transzendent gedacht werden, so dass in diesem Deutungsgefüge jede Form von monistischen Erklärungsversuchen ausgeschlossen ist.277 Das gesuchte Dritte muss different von der Welt sein, wenn es beide sich gegenseitig ausschließende Kausalitäten, nach denen sie sich richten soll, miteinander vereinigen können soll. Allein eine der reflektierenden Urteilskraft folgende278 dualistische Auffassung von Wirklichkeit ist folglich im Stande, eine angemessene Welterklärung zu leisten, wenn für diese eine Vereinigung beider Ursachenklassen, die den Weltlauf bestimmen, denknötig ist. 274

I. KANT: KdU, B 358 (Hervorhebung im Original). I. KANT verwendet in KdU, B § 78, den Gottesbegriff nicht ausdrücklich, meint aber, es sei nach der teleologischen Auffassung möglich, einen „obersten Verstand[e]“ (KdU, B 362) anzunehmen, der sich der Naturmechanik als Mittel zur Durchsetzung des Weltziels bedient. 276 I. KANT: KdU, B 357. 277 Vgl. dazu im Einzelnen auch I. KANT: KdU, B §§ 72–74. Kant zeigt dort, dass zur Erklärung der Teleologie der Welt weder Denkfiguren hinreichen, die realistisch der Materie selbst schon einen zielgerichteten Zug einschreiben noch solche, die wie die spinozistische alle Erscheinungen auf eine substratähnliche Einheit zurückführen. Erstere handeln sich das Problem ein, dass der Naturmechanismus die Zweckmäßigkeit, die sie ihm unterstellen, nirgends tatsächlich an den Tag legt. Der Spinozismus andererseits, so Kant, „will [zwar] einen Erklärungsgrund der Zweckverknüpfung (die er nicht läugnet) der Dinge der Natur angeben, und nennt bloß die Einheit des Subjekts, dem sie alle inhärieren.“ (KdU, B 325). Spinozistische Theorien können also, so Kant, die Zielgerichtetheit der Natur nicht erklären, wenn sie auch den Anspruch darauf erheben. 278 I. KANT weist immer wieder darauf hin, dass die Vereinigung beider Prinzipien, die hier im Sinne des Theismus ausgedeutet wird, „nur auf einem Grunde der Erörterung (Exposition) derselben für die reflectirende Urtheilskraft beruhen könne.“ (KdU, B 358. Hervorhebung im Original). 275

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Mit dieser Integrationsfunktion ist der tiefere Grund dafür genannt, dass Kant eine theistische Theologie für möglich und notwendig hält.279 5.3.6 Die Integration von menschlicher Freiheit und göttlicher Allmacht Neben seinen Eigenschaften, einen moralischen280 Willen zu haben, allgütig281 und allmächtig282 zu sein, muss Gott allwissend gedacht werden. Denn nur mit dieser Fähigkeit ist es ihm möglich, das Innerste der moralischen Gesinnungen der Menschen ablesen zu können.283 Das Wissen um den moralischen Zustand der Menschheit ist notwendig, um die Welt zu ihrem Ziel zu lenken. Denn nur bei Kenntnis des jeweiligen moralischen Weltzustands kann dieser zielgerichtet über sich hinausgetrieben werden. Gottes gubernatio erstreckt sich folglich nicht allein auf die nicht-menschliche Natur, sondern ebenso auf die Menschheitsgeschichte. Kirchen können sich selbst als Mittel deuten, deren sich Gott zur Durchsetzung seines Willens bedient. Ist das richtig, steht man vor einem Problem besonderer Art. Es muss das Verhältnis von menschlicher Freiheit zu Gottes allmächtiger Vorsehung und Lenkung bestimmt werden. Nach allen bisher gewonnenen Einsichten dieser Arbeit kann es auf die Frage, ob es eine von der göttlichen gubernatio unabhängige Freiheit des Menschen (-geschlechts) gibt, nur ambivalente Antworten geben. Erstens ist es dem Menschen eigentümlich, mit dem Faktum des Sittengesetzes ein unmittelbares Freiheitsbewusstsein zu haben. Ergebnis der hier vorliegenden Untersuchungen ist aber auch284, dass die praktische Vernunft und das mit ihr gegebene Autonomiebewusstsein sich selbst verdankt wissen. Sie können sich nicht selbst setzen, sondern stehen in Abhängigkeit von einem Faktum, das als datum nur akzeptiert werden 279 Das wird bei J. LÖWISCH: Kants gereinigter Theismus, übersehen. Löwisch führt aus, ein Theismus lege sich schon nahe, weil die physische Welt vor der reflektierenden Urteilskraft eine vernünftige Ordnung aufweise. Zwar ist dem soweit zuzustimmen. I. KANT hat in KdU, B §§72f insbesondere den Monismus Spinozas zur Erklärung der Zweckmäßigkeit der Natur abgelehnt. Aber Löwisch verpasst es, den tieferen Grund für eine theistische Theologie zu nennen, der darin besteht, dass die Vernunft einen Gott postulieren muss, der unterschiedliche, aufeinander nicht reduzible Prinzipien des Weltlaufs miteinander verbinden können muss. 280 Eine Theologie, die Gott nicht Moralität zuschreibt, sondern in ihm bloß einen Willen sieht, der der Welt eine zweckmäßige, aber eben nicht auf das überweltliche Reich Gottes gerichtete, Form gibt, ist unzureichend, um letzte Gründe für die Verfassung der Welt angeben zu können. Sie wäre reine Physikotheologie, die durch Ethikotheologie zu überwinden ist. In letzterer ist Gott allerdings unumgänglich moralisches Wesen. 281 Zur Versöhnung und Rechtfertigung der Menschheit. 282 Zur Schöpfung und Lenkung der Welt. 283 Vgl. I. KANT: KdU, B 414. 284 Vgl. dazu insbesondere den Abschnitt 2.2.3.

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kann und auch immer akzeptiert wird. Ganz analog zu dieser Ambivalenz, die das Auftreten von autonomer Freiheit in Abhängigkeit beschreibt, kann der Mensch zweitens den Grund für seine moralische Qualität nur in Widersprüchen erklären. Denn einerseits muss er sich vermöge seines Freiheitsbewusstseins seine moralische Qualität selbst zuschreiben, andererseits, kann er in einem auf letzte Gründe reflektierenden Prozess sich selbst in seinen Entscheidungen nur in Abhängigkeit von Gottes Willen begreifen.285 Die Abhängigkeit der Freiheit von Gott kann dabei nur im Glaubensvollzug als wahr begriffen werden.286 Für die hier aufgeworfene Frage, wie göttliche Allmacht und menschliche Freiheit miteinander zu vermitteln sind, bedeutet dies Folgendes: Nichtreligiöses Bewusstsein wird sich selbst als frei erfahren, und es wird in dieser Selbstauffassung auch keiner logischen Schwierigkeit ausgesetzt, weil es nicht mit einer allmächtigen Instanz rechnet, die das eigenmächtige Freiheitsbewusstsein fraglich erscheinen lassen würde. Erst religiöse Selbstund Weltauffassung steht vor der Schwierigkeit, beides integrieren zu müssen. Es liegt in ihrer Konsequenz, sich selbst als unfrei zu begreifen. Die dabei selbstbewusste Unfreiheit ist allerdings nicht mit der Unfreiheit des Tieres zu vergleichen. Denn das religiöse Bewusstsein vom unfreien Willen wird erst durch einen auf das eigene Freiheitsbewusstsein vorgenommenen Reflexionsgang gewonnen. Es setzt also Freiheitsbewusstsein, das vom Tier nicht erreicht wird, unhintergehbar voraus. 5.3.7 Reflektierende Urteilskraft und Glaube Es ist erneut auf den Status der vorausgegangenen Ausführungen zur Vollendung der Welt hinzuweisen, um ihren Wahrheitswert erschließen zu können. Es handelt sich durchweg um Überlegungen, die der reflektierenden Urteilskraft folgen. Sowohl die Idee vom Reich Gottes als Zweck der Welt als auch die Idee von Gott dem Schöpfer und Vollender der Welt werden durch einen besonderen Reflexionsgang auf die Wirklichkeit gewonnen. Sie sind, weil sie nicht durch einen Erkenntnisakt der theoretischen Vernunft erschlossen werden, genauso wenig im Modus des Wissens für wahr zu halten wie beispielsweise die weiter oben besprochene Idee von der Rechtfertigung.287 Auch die zuletzt beschriebene zweckhafte Weltauffassung kann nur glaubend für wahr gehalten werden. Das bedeutet wiederum nicht, dass derartiger Glaube völlig aus der Luft gegriffene Phantasterei 285

Vgl. dazu den Abschnitt 2.3.6. Vgl. dazu den Abschnitt 3.4. 287 Vgl. zum Rechtfertigungspostulat das Kapitel 4. 286

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wäre. Vielmehr legt er sich nahe, weil das menschliche Erkenntnisvermögen in einer Kombination aus reflektierender Urteilskraft und praktischer Vernunft die Welt auf diese Weise wahrnehmen lässt. Dass ein Subjekt das so Erschlossene auch für real hält, ist allerdings nur durch und im Glauben möglich, dessen Vollzug nicht willentlich durch das Subjekt erzeugt werden kann, sondern sich einstellt. Der Glaubensvollzug wird die Weltgeschichte als einen zielgerichteten Prozess ablaufen sehen, der sich nach der Idee des Schöpfers richtet. In diesen Ablauf kann die Naturkausalität als Mittel zum Zweck eingeschrieben werden. Sie stellt den Modus dar, in dem das Ziel der Welt erreicht wird.288 Dass die Welt nicht durch blindes mechanisches Walten der Natur regiert wird, sondern sich in der Totalität ihrer Teile sinnvoll und zielgerichtet verhält, setzt Gottes gubernatio voraus. Durch sein beständiges Einwirken auf die Schöpfung treibt er sie auf ihr Ziel hin: das Reich Gottes, in dem Moralität und Glückseligkeit sich für Menschen nicht ausschließen, sondern koexistierend realisiert sind. Gott ist danach folgerichtig erst dann hinreichend erfasst, wenn er der Welt allgegenwärtig gedacht wird, um sie durch die Geschichte ihrem Ziel zuzuführen.289 Er tut dies auf mehrfache Weise. Zunächst muss die Natur durch ihn eine zweckmäßige Ordnung einnehmen, innerhalb derer auch der Mensch als dualistisch verfasstes Wesen mit der Potentialität zu Moralität auftaucht. Dessen moralische Verfehlung muss vermittelst Religion überwunden werden, wozu die (christliche) Kirche allein fähig ist, deren Genese innerhalb der Religionsgeschichte als göttliche Offenbarung verstanden werden kann. Die wahre Kirche stellt ihre Glieder vermittelst Rechtfertigung und Erlösung in den Willen Gottes ein. Durch sie wird die Menschheit auf das Ziel der Welt gerichtet.

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Vgl. dazu grundsätzlich I. KANT: KdU, B § 78 und § 80. I. KANT spricht von der göttlichen Qualität der Allgegenwart ausdrücklich in: KdU, B 414.

Literatur

IMMANUEL KANTS Werke werden nach der sogenannten Akademieausgabe (AA) zitiert. Es handelt sich um die von der ursprünglich Preußischen, dann Deutschen Akademie der Wissenschaften besorgte Ausgabe: „Kants gesammelte Schriften“ (1902 ff). Dabei wird im Text, soweit die Akademieausgabe die Paginierung von Originalausgaben bietet, Bezug auf diese genommen. Andernfalls bezieht sich die Nennung von Seitenzahlen auf die Zählung der Akademieausgabe. Einige Schriften werden abgekürzt wiedergegeben, wobei die Kürzel Folgendes bedeuten: GMS = Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (kurz: Grundlegung) (1785): AA IV, 385–464. KdU = Kritik der Urteilskraft (1790): AA V, 165–486. KpV = Kritik der praktischen Vernunft (1788): AA V, 1–164. KrV = Kritik der reinen Vernunft: 1. Auflage (1781): AA IV, 1–252; 2. Auflage (1787): AA III, 1–552. MdS = Metaphysik der Sitten (1797): AA VI, 203–494. Rel. = Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (kurz: Religionsschrift) (1793): AA VI, 1–202. Alle anderen Schriften Kants werden so wiedergegeben, dass der Titel unmissverständlich erschlossen werden kann. Es handelt sich über die genannten Titel hinaus um: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798): AA VII 117–334. Das Ende aller Dinge (1794): AA VIII, 325–340. Der Streit der Fakultäten (1798): AA VII, 1–116. Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft (1790): AA XX, 193–251. Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784): AA VIII, 15–32. Muthmasslicher Anfang der Menschengeschichte (1786): AA VIII, 107–124. Träume eines Geistersehers (1766): AA II, 315–384. Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee (1791): AA VIII, 253–272. Zum ewigen Frieden (1795): AA VIII, 341–386.

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Namen- und Sachregister

Achtung (vor dem Sittengesetz) 14, 18, 27, 33, 65, 71ff, 75ff, 79ff, 90f, 107, 118, 132f, 153, 155, 159, 165, 177, 198, 209, 216, 221, 250 Anfechtung 33, 199, 201, 203, 212 Anthropologie 14, 43, 71, 82f, 88, 90, 104, 130, 219, 220 Aristoteles 52 Augustin 82f, 150 Autonomie 15, 22, 28, 50f, 55f, 63, 66ff, 72, 108, 157, 222, 249 Beruf (sittlicher) 251 Blumenberg, H. 24, 112, 178 Bonität 18f, 26f, 32, 36, 43, 52, 54, 86, 91, 102, 105, 110, 121, 157, 160, 162f, 169, 177, 179, 181, 199, 202f, 209, 218, 232, 237, 244, 268 Böses, böse 17–20, 24–27, 29–34, 36f, 40f, 43, 53, 55–59, 61, 69, 71, 76ff, 80– 100, 102ff, 108f, 112, 118f, 121, 134, 136f, 149ff, 161, 163ff, 172f, 178, 180, 182, 195ff, 199, 202f, 206ff, 212f, 218–221, 224ff, 238, 240, 244, 248, 250, 258, 264, 270 – Radikalität des Bösen 17–20, 25ff, 29f, 33f, 37, 40f, 43, 69, 71, 76f, 82–89, 92, 97, 100, 102, 108f, 112, 118, 121, 136, 151, 161, 164, 171, 178, 196, 212, 234, 237, 239, 240 Bultmann, R. 204 Christentum 15, 23, 37, 43, 71, 229, 232, 234ff, 238ff, 244ff, 252f, 255, 265 – christlich 9, 14, 17, 23, 26, 41, 43, 71, 77, 82, 84, 88, 90, 108, 150, 180, 187, 190, 228f, 235f, 238–244, 246f, 251ff, 255, 275 Christologie, christologisch 34, 50, 142, 176, 180ff, 185, 188 Christus 33ff, 69, 142, 166, 170, 174, 177– 182, 185–190, 192f, 213, 240, 242, 246f Dilthey, W. 225 Ding an sich 36, 46– 49, 60, 64– 67, 73, 95, 109, 111, 197 Dogmatik, dogmatisch 11, 14, 22, 71, 82, 115, 117, 203, 240, 244, 249, 253

dualistisch 61, 266, 272, 275 Einbildungskraft 13, 124–131, 182f, 205 Erhabene, erhaben etc. 31, 106, 122– 125, 127– 133, 135f, 212, 246, 257 Erkenntnistheorie, erkenntnistheoretisch 11ff, 48 Erlösung 18ff, 25f, 29–32, 34f, 40, 71, 88, 91ff, 102ff, 107–114, 116– 123, 133f, 136f, 140, 151f, 160– 168, 170ff, 176– 180, 188ff, 194, 196f, 212f, 235, 240, 250, 251f, 270, 275 – Erlösungslehre 20, 23, 103ff, 113, 151, 251 – Selbsterlösung 19, 23, 29, 33, 88, 91, 108, 136, 164 Eschatologie, eschatologisch 33, 35f, 170, 196, 209f, 215f, 266 Individualeschatologie 36, 196, 233 Eschaton 203– 206, 208f, 211 Faktum Sittengesetz 28f, 45, 62, 65–72, 79, 90, 93, 95, 107f, 134, 151, 187, 188, 200, 221, 273 Fichte, J.G. 156f Gattung (Menschheit) 18, 20, 29f, 35ff, 39, 41, 43, 50, 54, 70, 74, 78ff, 82, 97–102, 142, 151, 156, 160, 164, 179f, 182, 185, 187, 198f, 210, 216–225, 227, 229– 238, 240, 244, 246f, 249, 252, 255f, 259f, 262–270, 273, 275 Genugtuung 33, 166, 171f, 174, 176–180, 251 Gericht 106f, 145, 206, 215 Gerichtsurteil 207, 209 Geschichte (siehe auch Historie) 23, 35, 38, 41, 51, 70, 82, 98, 167, 179f, 188f, 220, 231ff, 235ff, 240f, 252–255, 263–267, 275 – Menschheitsgeschichte 36, 96, 98, 220f, 237, 239, 241, 273 – Religionsgeschichte 12, 232f, 238f, 247, 264f, 275 Gesinnung 57, 89, 104, 111, 118, 120, 151, 160f, 165f, 171– 176, 181, 194, 199– 202, 206f, 209, 211, 223, 226, 236, 238, 241

286

Namen- und Sachregister

– Gesinnungsethik 22, 24, 148, 171 – Gesinnungswandel, Gesinnungsänderung 173, 175 Gewissen 105ff, 136, 145, 190f, 209, 214, 238 – Gewissensreligion 21, 148 – Gewissensurteil 106 Glaube 11, 30, 33, 37, 41, 95, 112–117, 139–145, 147, 162, 165f, 170, 175, 178ff, 189, 191–200, 203, 213f, 224f, 227, 236, 239f, 242, 252, 259, 275 – Glaubensinhalt 33, 70, 115ff, 189, 198f, 240, 252 – Glaubensvollzug 34, 37, 116, 139, 142f, 146, 197ff, 241, 252, 274f – Glaubenszweifel 116f, 197ff, 203 – Glaubensart 15, 18, 37, 41, 68f, 167, 179f, 188, 190, 224f, 227ff, 231, 233, 235– 239, 252, 264f Glaubensgemeinschaft 37, 225f, 232f, 235, 238, 244 Glückseligkeit, glückselig 15, 33, 36, 54, 75f, 111, 121f, 152f, 155–165, 169, 173f, 177, 186f, 198f, 209ff, 216f, 221, 263, 267– 270, 275 Gnade 24, 83, 107f, 121, 138f, 168, 170, 175, 178 – Gnadenakt (Gottes) 24, 121, 175, 212 – Gnadengedanke 24f – Gnadenhandeln (Gottes) 28, 113, 145 Goethe, J.W. 82, 84 Gott 11, 13f, 16–20, 22– 25, 28, 30–38, 41f, 67–71, 75f, 83, 95f, 99ff, 103ff 107, 109–114, 116f, 120, 122, 124, 135f, 138–142, 144–148, 151f, 156f, 160–166, 168–175, 178ff, 182f 186f, 189–197, 199ff, 206, 210ff, 215f, 218f, 222–232, 234–237, 239, 242–248, 250f, 256, 258f, 263– 275 – Gottes Allmacht 16, 75f, 96, 101, 156, 179, 186, 210f, 223, 239, 271–274 – Gott als Allwissender 223, 273 – Gott als Allgegenwärtiger 275 –Gott als Allgütiger 270, 273 – Gottes Dasein 11, 16, 69, 75, 114 – Gottes gubernatio 95f, 273, 275 – Gott als Richter 32, 106, 161, 163, 174, 179, 206f – Gott als Schöpfer 101, 156, 179, 256, 270f, 274 – Gott als Vollender 101, 270, 274

Gottebenbildlichkeit, gottebenbildlich 31, 90f, 100, 102, 122, 196, 198, 203, 207, 208, 215 Handeln, Handlung 14–17, 19, 27f, 30, 34, 41ff, 50, 52ff, 56, 58ff, 66, 73f, 81, 86– 91, 93– 96, 111f, 119f, 123, 132f, 150, 155f, 158, 163, 171, 181–186, 193, 195, 199, 201f, 208, 210, 216, 218, 222, 224, 226, 228, 230, 232, 242, 245, 248, 268 – Handlungscharakter 85ff, 110, 119f, 172, 194f, 200, 207 Hegel, G.W.F. 38, 46, 51f, 144, 264 Heidegger, M. 13, 54 Heiligung 32, 71, 92, 119, 121, 143, 146f, 168f, 197, 200, 203, 212 Heiligungsprozess/-fortschritt 34, 93, 119, 142, 169, 174, 194, 196–200, 202, 212f Herder 82ff Herrmann, W. 22f, 69, 204, 241, 246, 248– 252 Heteronomie, heteronom 28, 67, 157ff, 185, 215 Hirsch, E. 23f, 69, 82, 112, 144, 148, 178, 266 Historie, historisch 33, 35, 69f, 115f, 166, 179f, 188f, 219, 224f, 229, 233, 240ff, 247, 252ff, 264 historistisch 252, 254, 264 Höchstes Gut 16f, 19, 28, 35, 42, 101, 151f, 155–162, 186, 209, 222, 243, 263, 268f – vollendetes 36, 157ff, 161, 268f Holl, K. 23, 69, 107, 120, 143–148, 170, 190f, 214f Individualität 204f, 250 Individuum 20, 35f, 39, 54, 80, 102, 180, 186, 196, 203, 205f, 208, 210, 216–220, 222, 232, 237f, 249, 251f, 259f, 265– 268, 270 intelligibel 29f, 35f, 46, 48f, 60f, 64, 67, 70, 73, 75, 80, 88, 93, 94f, 107f, 110f, 131, 152, 242, 263, 266, 268, 270 Intelligibilität 262 Jaspers, K. 84, 92 Jerusalem, J.F.W. 82 Kaftan, J. 21ff Katholizismus, katholisch 21f, 25, 32, 34, 37, 109, 113ff, 162, 167, 169, 170ff, 175f, 194, 220, 240 Kausalgesetz 43, 47 Kausalmechanismus 49, 58, 64, 66, 271 Kierkegaard, S. 90 Kirche, kirchlich, Ekklesiologie etc. 22, 28, 36ff, 99f, 114f, 167, 180, 223 –230,

Namen- und Sachregister 232f, 235, 237f, 240ff, 247f, 252f, 270, 273, 275 Leitmittel 38, 227ff, 239, 265 Lessing, G.E. 229, 266 Luther, M. 21–26, 32f, 89, 95f, 106f, 120, 137–149, 170, 190–195, 212–215, 250 – lutherisch 21, 23, 30, 32– 35, 138f, 141, 143, 149, 167, 168, 240 Maxime 41, 51, 56, 59, 79, 85–88, 92, 94, 100, 108, 110, 118f, 120, 122, 150, 164, 193f, 199, 202f, 206f – Urmaxime, Metamaxime 27, 59, 61, 88, 92– 95, 102, 109–112, 118–121, 136f, 150f, 172ff, 181, 195–200, 202, 203, 206–209, 211, 219 Metaphysik 11, 13f, 17, 21, 25, 51, 54, 74, 99 Naturkausalität 38, 44, 46f, 56, 73, 151, 184, 275 Nicolai, F. 82f Nomismus 24 noumenal 15, 29, 34ff, 48, 59f, 63f, 67, 73f, 95, 108f, 111, 123, 125, 128, 159, 204, 206, 208, 222, 263 Noumenalität 15, 49, 160 Offenbarung 40, 61, 66f, 69, 95, 103, 114, 164, 177, 179, 180, 187, 189, 197, 224, 228, 235f, 238, 240ff, 244, 247, 252, 275 – Offenbarungsglaube 235 Pflicht 17f, 51–54, 59, 67, 105, 108, 119, 121, 132–135, 145, 155, 161, 163, 201, 209, 211, 216f, 222f, 228, 237, 267, 268 Philosophie 9, 11, 14, 21, 23, 25f, 28, 32, 35, 40f, 43, 45, 48, 50ff, 61, 65, 69ff, 81f, 134, 196, 229, 233, 236, 255, 263, 266 – Geschichtsphilosophie 14, 36f, 70, 219, 266 – Religionsphilosophie 12ff, 16f, 19f, 24ff, 28, 30, 32, 39–42, 50, 79f, 83, 98, 108, 112, 149, 216, 218, 233, 239, 247, 249, 252, 268f Postulat 16, 19, 24, 28, 36, 41, 71, 75, 101, 111f, 114, 116f, 151, 156, 160, 179f, 183, 196f, 203, 211, 223, 242, 251 Protestantismus, protestantisch 21ff, 25, 69, 104, 149, 167, 169 Rationalismus 11, 22, 229 Rechtfertigung 14, 25f, 31f, 34f, 37, 40, 71, 103, 114, 120, 137–149, 160, 166–169, 171f, 176, 180, 188f, 192f, 195, 197, 201, 203, 213ff, 240f, 245f, 273ff

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– Rechtfertigungsgedanke 9, 25f, 104, 178, 239 – Rechtfertigungsglaube 24f, 33f, 37, 93, 115, 137, 143, 144, 149, 165, 170f, 176, 178, 197, 202, 239f – Rechtfertigungslehre 20, 23–26, 32–35, 103, 113, 115, 137f, 140f, 143f, 145– 151, 160, 167f, 170ff, 178, 189, 194, 214f, 234, 238– 241, 245 Reform (der Sinnesart) 120, 198 Reformator 25, 88f, 106, 165, 170f, 197, 212, 241 reformatorisch 26, 31, 35, 89f, 104, 112, 148, 162, 167, 169, 171, 176, 179, 180, 181, 188, 240f, 247 Reich der Zwecke 75, 217f, 221ff, 268 Reich Gottes 16, 20, 36ff, 42, 75f, 96, 99, 114, 160f, 216, 218f, 222–225, 229–232, 234ff, 239, 242, 244–248, 259, 263f, 266–270, 273ff Reinhold, C.L. 81, 282 Religion 12ff, 16–21, 23, 26, 37, 39, 41, 67, 69, 70, 83, 105, 107f, 111, 145f, 148f, 151, 157, 161, 182, 187f, 190ff, 201, 204, 219, 224–230, 232–239, 241ff, 246–251, 255, 265, 275 Religionstheorie, religionstheoretisch 19f, 34, 37, 39, 232 religiös 12, 14, 16–19, 23, 34f, 38, 42, 67– 70, 91, 95, 102, 105, 109ff, 113, 142, 146, 160, 186, 197, 201, 219, 222ff, 227f, 238, 242ff, 250ff, 274 Revolution (der Denkungsart) 108, 118, 120f, 172ff, 189, 196f, 199, 221, 236, 238 Ritschl, A. 22f, 69, 139, 171, 187, 242–252 Rothe, R. 229f Scheler, M. 52 Schelling, F.W.J. 90 Schema, Schematisierung 34, 70, 126, 131, 181– 184, 186, 222, 224, 251, 270 Schiller, F. 84, 90 Schleiermacher, F.D.E. 15, 23, 249f Schuld 24, 31, 33f, 71, 84, 97, 103f, 148, 151f, 161– 166, 171–178, 180, 188, 190f, 194, 197, 239f, 243, 246 – Schuldbewusstsein 103, 151, 245 – Schuldgefühl 24, 148, 245 Schweitzer, A. 39–42, 268f Selbstbestimmung 29, 55, 61, 76, 91 Selbstliebe 17, 33, 72, 78, 80f, 90, 145, 165, 199, 212, 215, 221, 268 Simmel, G. 217f

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Namen- und Sachregister

simul iustus et peccator 137f, 144, 194 Sinn 37f – Sinn von Welt oder Geschichte 38, 254, 259, 263 Sinnenwelt 47, 49, 60, 63, 65, 67, 73, 75, 113, 158, 160, 182f, 202f, 263, 268 Sittlichkeit, sittlich 14f, 17, 22ff, 26, 30–37, 43, 54, 56, 62, 64, 66, 69, 75f, 80, 86, 89, 97, 100f, 104f, 111, 118, 120ff, 131, 133f, 136, 140ff, 144, 146–149, 152– 160, 162ff, 166, 170f, 179, 181, 183– 187, 191f, 194, 200f, 204, 208–212, 217f, 227–230, 237, 239, 241–244, 246f, 249ff, 262–265, 267–270 Spalding, J.J. 82 Storr, G.C. 69f Sünde, Sünder 17–20, 25f, 28f, 31f, 34–37, 57, 69, 71, 76, 82ff, 87–90, 92ff, 97, 99f, 102–107, 109, 118, 120f, 123, 133–144, 146–150, 161ff, 165f, 168, 171–174, 177f, 190f, 194f, 197, 200, 203, 212ff, 218–221, 226, 237ff, 241, 244–248, 250, 270 – Erbsünde 20, 29, 31, 33, 43, 82, 89, 92, 102, 108, 151, 161, 164, 167, 171, 176, 178, 180, 197, 199 – Erbsündegedanke 84, 162, 197, 248 – Erbsündenlehre 43, 77, 83, 86, 88, 150, 220 Sündenerkenntnis 136 Sündenfall 84, 90, 118 Sündenlehre 26, 61, 69, 76, 82, 90, 92, 97, 150, 219, 247 Symbol, Symbolisierung 177, 182–185, 188, 202, 222, 228 Teleologie, teleologisch 37f, 40, 42, 96, 160, 198, 229, 233, 239, 246, 255f, 258ff, 262ff, 270, 272 Theologie 9, 11, 21ff, 25, 30, 39f, 69, 82, 89f, 112, 120, 135, 138f, 141, 143ff, 147, 170, 220, 247f, 250, 252f, 271, 273 – Ethikotheologie 13, 16, 21, 113, 255, 263, 271, 273 – Physikotheologie 271, 273 Tillich, P. 90 Töllner, J.G. 82 Transzendentes, transzendent 30, 111, 272 Tridentinum 34, 115, 167

Triebfeder 14, 18, 27, 40, 43, 54, 71f, 77– 81, 90f, 94, 99, 105, 118, 122, 152, 159, 165, 177, 198, 212, 215f, 250, 269 Troeltsch, E. 40, 149, 225f, 233, 252–255, 264f Tugend 83, 119, 209, 223, 270 Unglaube 117, 199, 203 Unsterblichkeit, unsterblich 11, 36, 39, 41, 71, 111, 161, 183, 196, 203, 210, 242, 267 Urbild, urbildlich 74, 101, 185, 188 Urteilskraft 38f, 96, 113, 123f, 128, 131, 182, 184, 198, 201, 246, 255, 257–260, 262ff, 268– 274 – reflektierende 124f, 131, 258f, 264, 271, 275 Verantwortlichkeit, verantwortlich 57f, 81, 89, 91, 93, 150f, 172 Versöhnung 31–34, 38, 93, 102f, 161–167, 170ff, 176ff, 186, 188–191, 194, 196f, 240, 242–246, 251, 266, 270, 273 – Versöhnungsgedanke 239 – Versöhnungsglaube 162, 170, 189, 197, 199, 239, 251 – Versöhnungslehre 31, 137, 152, 162, 172, 175, 176, 181 Wahlfreiheit, wahlfrei 54, 56–61, 80f, 91, 94, 107f, 110, 112, 197 Wille 11, 16ff, 27, 29f, 34–37, 41, 44, 48, 50–65, 67, 70, 72–96, 99ff, 103f, 107– 112, 115–118, 123, 130, 145–148, 152– 160, 165, 168f, 173, 181–187, 192ff, 196, 201ff, 208f, 211ff, 215–218, 222, 224, 226, 232, 236, 242, 244ff, 250f, 258ff, 262, 264, 268, 270f, 273ff Willkür 48, 57ff, 79, 94, 107, 119, 122 Zweck 11, 15f, 20, 35ff, 40, 54f, 57, 74, 84, 89, 96, 100f, 124, 127, 151, 154, 160ff, 179, 183, 185f, 189, 198, 216ff, 222, 224, 227f, 232, 235, 237, 239, 245f, 254, 256f, 259–267, 269, 270f, 274f Endzweck 20, 37, 41, 227, 262f, 265, 267ff, 271 Selbstzweck 37, 54, 95, 151, 161, 179, 218, 237, 245, 262f, 266f Zweckmäßigkeit, zweckmäßig 124f, 127, 255f, 260–265, 269, 271ff, 275