Verpackungen der Literatur: Typografische und materielle Oberflächen literarischer Texte seit 1960 3837671399, 9783837671391

»[L]auter schönes Layout!« - Seit 1960 tritt ein Element der Literatur, nämlich ihr werbender Paratext, verstärkt auf de

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Verpackungen der Literatur: Typografische und materielle Oberflächen literarischer Texte seit 1960
 3837671399, 9783837671391

Table of contents :
Cover
Inhalt
1. Einleitung: Typografie‐Experimente im Szene‑Format
2. Poptypografie, Layoutoberflächen, Literaturformate
2.1 Oberflächenästhetik als Layout‐Emphase: LPs, Magazine, Bücher
2.2 »[D]en Rahmen […] in die Gescheitheit aufsprengen«: Parerga, Paratexte
2.3 Typografie und Autorschaft: »der Textperformator«
2.4 Buchkörper als Material: Buch‐ und Verlagsplastiken
2.5 »pop forms« vs. kulturindustrielle Formate: Glossy‐ und Pulp‐Magazines, Taschenbücher
2.6 »Instant steal!«: Ästhetik der Xerox‐Fotokopiertechnik
2.7 »But today we collect ads«: ›Pop‹ und Werbeoberflächen
3. Fluchtlinien der typografischen Oberfläche
3.1 Typografische Prätexte des 1960er‐›Pop‹
3.1.1 Vorreiter März Verlag: »der Verleger als Typograf«
3.1.2 »Psychedelisches Layout«: ›Hippie‹‐Typografien im Buchformat
3.1.3 »Colorful, appealing – gay!«: Fleckhaus’ twen und edition suhrkamp
3.1.4 New Journalism: Buch, Magazin, Typografie
3.2 Ein paradoxes Erbe: ›Pop‹‐ und Avantgardetypografien
3.2.1 »Coverkunst«: Peter Saville und die Futuristen
3.2.2 Typografie in Zeitschriften: Merz, El Lissitzky und Elaste
4. Typografische Oberflächenästhetik: ›Pop‹ und Zeitschriften
4.1 ›Punk‹‐Fanzines: Dilettantische Layouts
4.1.1 »Das Heft im Heft«: Goetz’ Der Sprengreiter
4.1.2 Oberflächen recycling: Krachts Yellow Eddie, Mode & Verzweiflung/F.S.K.
4.2 Frühe Pop‐ und ›Zeitgeist‹‐Zeitschriften: Aufwändiges Layout, Großformate
4.2.1 »INTELLEGAZINES«: Goetz’ Layout‐Polemiken in Spex
4.2.2 Prätext Interview: Warhol in Elaste
4.2.3 Redaktionelle Inhalte vs. Anzeigen: KKG, Elaste, Grüße & Anzeigen
4.2.4 Klatschspalten und Pop: März, Kid P, Jäger & Sammler
4.3 Zeitgeist groß aufgelegt: Layout‐ und Formatnormierung in Spex, Wiener, Tempo
5. Buchformate im ›Pop‹‐Layout: Strategien der Übersetzung
5.1 Taschenbuch‐Reihen etablierter Verlage
5.1.1 Fanzines in Buchform: rororo panther vs. Selbstverlag?
5.1.2 »edition suhrkamp‐zombies«: Spex, Suhrkamp, KiWi
5.2 ›Pop‹ und Konsumoberflächen: Buchumschläge, Werbetext, Logo
5.3 Buchförmige Werbung für KiWi: Hundert Hundertste Seiten
5.4 Buchplastiken: Kippenbergers »Verlags‐Look‐Appropriationen«
5.5 »Geniale Dilletanten«: ›Punk‹ im Merve‐Verlag
6. Reprisen der Oberflächenästhetik im Buch‐ und Zeitschriftenformat
6.1 Buchverpackungen revisited: Cover, Umschläge, Schuber
6.2 Anzeigen‐Peritexte: KiWi, Suhrkamp, Tempo, Der Freund
6.3 »Schimmernder Dunst«: Spiegelfoliencover mit stock footage
7. Fazit: Verpackungen, Oberflächen, Negative Dialektik?
Literatur
Internetquellen
Abbildungsverzeichnis
Dank

Citation preview

Ronald Röttel Verpackungen der Literatur

Literatur – Medien – Ästhetik Band 8

Editorial Die Buchreihe ist ein Forum für Arbeiten, die sich der Theorie und Ästhetik des Buches im Kontext der Frage nach der spezifischen Funktion und Medialität der Literatur widmen. Sie richtet sich an VerfasserInnen von Untersuchungen, die die ›Eigenmedialität‹ literarischer Texte und damit auch die Funktionen in den Blick nehmen, die Gestaltung, Typographie, Illustrationen, Einbänden und Paratexten sowie dem materiellen Format der Texte zukommen; gefragt wird nach dem Zusammenspiel von Aisthesis, (Medien-)Ästhetik und Poetik. Die Reihe soll ein Publikationsort für Forschung sein, die Literatur medien- bzw. form- oder materialästhetisch als spezifisch ›buchförmige‹ Kommunikation versteht und hieraus die Konjunktur einer materialorientierten Formensprache ableitet. Die Reihe wird herausgegeben von Torsten Hahn und Nicolas Pethes.

Ronald Röttel (Dr.), geb. 1989, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der BauhausUniversität Weimar. Zu seinen Forschungsinteressen gehören typografische Oberflächen der Literatur, populäre Zeitschriften und (post-)digitale Medienästhetiken.

Ronald Röttel

Verpackungen der Literatur Typografische und materielle Oberflächen literarischer Texte seit 1960

Zugl.: Dissertation Universität zu Köln, Philosophische Fakultät 2022. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der FAZIT-Stiftung und der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https ://dnb.dnb.de/ abrufbar.

© 2024 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839471395 Print-ISBN: 978-3-8376-7139-1 PDF-ISBN: 978-3-8394-7139-5 Buchreihen-ISSN: 2702-2188 Buchreihen-eISSN: 2703-0199 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Inhalt

1.

Einleitung: Typografie-Experimente im Szene-Format ...............................7

Poptypografie, Layoutoberflächen, Literaturformate ............................... 21 Oberflächenästhetik als Layout-Emphase: LPs, Magazine, Bücher...................... 23 »[D]en Rahmen […] in die Gescheitheit aufsprengen«: Parerga, Paratexte ............ 36 Typografie und Autorschaft: »der Textperformator« .................................. 45 Buchkörper als Material: Buch- und Verlagsplastiken.................................. 53 »pop forms« vs. kulturindustrielle Formate: Glossy- und Pulp-Magazines, Taschenbücher ....................................................................... 61 2.6 »Instant steal!«: Ästhetik der Xerox-Fotokopiertechnik ............................... 74 2.7 »But today we collect ads«: ›Pop‹ und Werbeoberflächen............................. 80

2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5

3. Fluchtlinien der typografischen Oberfläche ........................................ 87 3.1 Typografische Prätexte des 1960er-›Pop‹ ............................................. 88 3.1.1 Vorreiter März Verlag: »der Verleger als Typograf« ............................. 93 3.1.2 »Psychedelisches Layout«: ›Hippie‹-Typografien im Buchformat............... 100 3.1.3 »Colorful, appealing – gay!«: Fleckhaus’ twen und edition suhrkamp ............. 113 3.1.4 New Journalism: Buch, Magazin, Typografie .....................................120 3.2 Ein paradoxes Erbe: ›Pop‹- und Avantgardetypografien ...............................125 3.2.1 »Coverkunst«: Peter Saville und die Futuristen .................................127 3.2.2 Typografie in Zeitschriften: Merz, El Lissitzky und Elaste ....................... 132 4. Typografische Oberflächenästhetik: ›Pop‹ und Zeitschriften ......................137 4.1 ›Punk‹-Fanzines: Dilettantische Layouts............................................. 138 4.1.1 »Das Heft im Heft«: Goetz’ Der Sprengreiter .................................... 141 4.1.2 Oberflächen recycling: Krachts Yellow Eddie, Mode & Verzweiflung/F.S.K..........145 4.2 Frühe Pop- und ›Zeitgeist‹-Zeitschriften: Aufwändiges Layout, Großformate .......... 155 4.2.1 »INTELLEGAZINES«: Goetz’ Layout-Polemiken in Spex .......................... 156 4.2.2 Prätext Interview: Warhol in Elaste ............................................ 163 4.2.3 Redaktionelle Inhalte vs. Anzeigen: KKG, Elaste, Grüße & Anzeigen .............. 166 4.2.4 Klatschspalten und Pop: März, Kid P, Jäger & Sammler .........................174

4.3 Zeitgeist groß aufgelegt: Layout- und Formatnormierung in Spex, Wiener, Tempo....... 181 5. Buchformate im ›Pop‹-Layout: Strategien der Übersetzung ...................... 189 5.1 Taschenbuch-Reihen etablierter Verlage.............................................. 191 5.1.1 Fanzines in Buchform: rororo panther vs. Selbstverlag? .........................195 5.1.2 »edition suhrkamp-zombies«: Spex, Suhrkamp, KiWi ...........................201 5.2 ›Pop‹ und Konsumoberflächen: Buchumschläge, Werbetext, Logo .................... 208 5.3 Buchförmige Werbung für KiWi: Hundert Hundertste Seiten ............................213 5.4 Buchplastiken: Kippenbergers »Verlags-Look-Appropriationen«.......................219 5.5 »Geniale Dilletanten«: ›Punk‹ im Merve-Verlag ...................................... 224 6. 6.1 6.2 6.3

Reprisen der Oberflächenästhetik im Buch- und Zeitschriftenformat ............ 235 Buchverpackungen revisited: Cover, Umschläge, Schuber ............................ 236 Anzeigen-Peritexte: KiWi, Suhrkamp, Tempo, Der Freund ............................. 247 »Schimmernder Dunst«: Spiegelfoliencover mit stock footage ....................... 256

7. Fazit: Verpackungen, Oberflächen, Negative Dialektik? ........................... 265 Literatur ................................................................................271 Abbildungsverzeichnis ................................................................. 305 Dank .................................................................................... 311

1. Einleitung: Typografie-Experimente im Szene-Format

Nach der Einstellung der Printausgaben von Spex, Intro und NME – allesamt 2018 – kann von einem Ende der Zeitschrift als Leitformat der Popmusikkritik in Deutschland gesprochen werden.1 Dies gilt zumindest für ihre gedruckte Form; die digitalen Ausgaben der Zeitschriften produzieren zum Teil weiterhin Texte. Jedoch sind Medienwechsel dieser Art keineswegs folgenlos und gerade im Popkulturbetrieb, wo stets ein besonderes Augenmerk auf die visuellen Oberflächen gelegt wird, kommt dem Ende der Printversion von Magazinen mit ihrer Materialität und Haptik eine besondere Bedeutung zu. Eben diesem Zusammenhang ist die vorliegende Arbeit gewidmet, die den Diskurs um eine solche materielle ›Oberflächlichkeit‹, der erst nach seinem Ende in seiner Gesamtheit beobachtet werden kann, mit dem Fokus auf Format und Layout nachzuzeichnen versucht.2 Kernanalysebereich sind dabei verschiedene Zeitschriften der späten 1970er und frühen 1980er Jahre, die den Aspekt der typografischen Gestaltung, des Layouts, des visuellen Designs in besonderer Weise betonen. Ausgangspunkt dieses besonderen Interesses an der Gestaltung von Zeitschriften um 1980 sind sogenannte Fanzines.3 Bei diesen

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Vgl. Philipp Pabst/Hannah Zipfel: »›Bye SPEX! What’s next?‹ Zur Historisierung einer PopKulturzeitschrift«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 45 (2020), H. 1, S. 135–149; Thomas Hecken: »›Spex‹, ›Rolling Stone‹, ›Bravo‹« in: Pop (2018), H. 13, S. 85–90; Harun Maye: »Die Spex-Jahre«, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für Europäisches Denken 73 (2019), H. 836, S. 64–70. Andere Facetten des Zusammenhangs Pop/Zeitschriften werden nur peripher diskutiert. Hier wäre zum Beispiel auf den Konnex von Zeitschriften und die für Popkultur zentrale Gegenwartsemphase hinzuweisen, vgl. Eckhard Schumacher: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2003, S. 38–43. Schumacher widmet sich im ersten Kapitel auch dem Verhältnis von Pop, Literatur und Journalismus. Vgl. weiterhin »Thomas Meinecke im Gespräch mit Torsten Hahn und Christof Hamann: Sounds Diskurs«, in: Charlotte Jaekel (Hg.): transLIT 2018. Thomas Meinecke, Köln 2019, S. 101–117, hier S. 105. Die pointierteste Analyse der britischen und deutschen ›Punk‹-Fanzines stammt nach wie vor von Rolf Lindner: »Was sind Fanzines?«, in: ders. (Hg.), Punk Rock. Oder: Der Vermarktete Aufruhr, Frankfurt 1977, S. 76–79.

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Ronald Röttel: Verpackungen der Literatur

handelt es sich um Hefte, die ohne Mitwirken größerer Verlage erstellt und eigenhändig distribuiert wurden,4 und die als Format vor allem für das Ende der 1970er Jahre neu aufkommende Popkultur-Phänomen ›Punk‹ zentral waren.5 Von dort ausgehend schreibt sich dieses Interesse an Layoutoberflächen in der Popkultur zunächst in Szenezeitschriften für Popmusik und -kultur fort (Spex, Elaste),6 etwas später dann, Mitte der 1980er, in sogenannten ›Zeitgeist‹-Zeitschriften mit größerer Auflage (Tempo, Wiener etc.).7 Die Aufmachung der Fanzines zeichnet sich zuvorderst durch eine dem Do It Yourself -Credo entsprechende Heterogenität des Layouts aus (collagierte Papierschnipsel, uneinheitliches Schriftbild, verschiedenste Schrifttypen, handschriftliche und teils mit Filzstift geschriebene Passagen, auf der Schreibmaschine getippte Texte, Siebdruckelemente, mit Tesafilm zusammengehaltene Layouts). Die Popmagazine, insbesondere die ›Zeitgeist‹-Zeitschriften, präsentieren sich dagegen in Abkehr zur Fanzine-Ästhetik großformatig und in einem besonders aufwändigen, teils von Heft zu Heft variierenden Layout. Gerade diese Hefte sind vor allem für die an ›Punk‹ anknüpfende ›New Wave‹-Bewegung zentral. Nicht zuletzt spielen neben diesen der Popkultur zugehörigen Zeitschriften auch verschiedene Kunst-, Literatur- und Theoriezeitschriften eine Rolle, wie etwa das von Gaston Salvatore und Hans Magnus Enzensberger herausgegebene, in den 1980ern mehrfach für sein Layout prämierte Literaturmagazin TransAtlantik

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Zur Geschichte des self publishing siehe Annette Gilbert/Jan-Frederik Bandel/Tania Prill (Hg.): Unter dem Radar. Underground- und Selbstpublikationen 1965–75, Leipzig 2017; Annette Gilbert/Craig Dwarkin/Simon Morris [u.a.] (Hg.): Do or DIY: Zur Geschichte und Praxis des Selbstverlags, Köln 2013. Die Form des Bandes spiegelt dabei zum Teil den Inhalt, insofern diese dezidiert den (Format-)Rahmen wissenschaftlicher Publikationen in Frage stellt. Einen guten Überblick über die intellektuelle ›Punk‹-Szene bietet Alexa Geisthövel: »Böse Reden, fröhlich leiden. Ästhetische Strategien der punkaffinen Intelligenz um 1980«, in: Marcus Otto/Jens Elberfeld (Hg.), Das schöne Selbst. Zur Genealogie des modernen Subjekts zwischen Ethik und Ästhetik, Bielefeld 2009, S. 367–400. Vgl. zur Geschichte von Elaste den Artikel von Anne Kurr: Elaste 1981–1986, in: PopZeitschrift [https://pop-zeitschrift.de/2016/01/14/pop-archiv-januarvon-anne-kurr14-1-2016 /, zuletzt eingesehen am 10.10.2022]. Die Semantik der ›scene‹ bzw. Szene als Terminus für ein Netzwerk (jugendlicher) Gegen-, Alternativ- bzw. Underground-Kultur kommt in den 1960er Jahren auf. Vgl. hierzu Jan-Frederik Bandel: »Underground«, in: Moritz Baßler/Eckhard Schumacher (Hg.), Handbuch Literatur & Pop, S. 304–325, hier S. 304. Doch erst 1977 wird der deutsche Neologismus ›Szene‹ als Wort des Jahres ausgezeichnet, vgl. Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960–1990, München 2015, S. 138. Zum Konzept der ›Zeitgeist‹-Zeitschrift um 1980 siehe insbesondere Kristin Steenbock: Zeitgeistjournalismus. Zur Vorgeschichte deutschsprachiger Popliteratur: Das Magazin »Tempo«, Bielefeld 2020. Vgl. weiterhin Thomas Hecken: »Zeitgeist-Journalismus und Literatur«, in: Daniela Gretz (Hg.), Medialer Realismus, Freiburg i. Brsg. 2011, S. 247–269; Eckhard Schumacher: »Pop-Journalismus, Feuilleton, Literatur«, in: ders./Moritz Baßler (Hg.), Handbuch Literatur & Pop, Berlin/Boston 2019, S. 55–71.

1. Einleitung: Typografie-Experimente im Szene-Format

und verschiedene Zeitschriftenprojekte des Merve-Verlags (Dry, Schlau Sein, Dabei Sein).8 In allen genannten Magazinen finden sich Texte von mittlerweile zum Kanon der Gegenwartsliteratur gehörenden Autoren (Rainald Goetz, Christian Kracht, Thomas Meinecke), die in der Forschung unter dem Label ›Pop‹ bzw. Popliteratur firmieren.9 Die Texte der genannten Autoren zeichnen sich dabei dadurch aus, dass sie in besonderer Weise auch auf die Publikationsform samt ihrer Gestaltung reflektieren. Zentral sind dabei die Zusammenhänge von Typografie und Literatur, Tiefe und Oberfläche, Kunst und Werbung, Werk und Rahmen sowie Inhalt und ›Verpackung‹, womit im engeren Sinne Schutzumschläge und Buchschuber gemeint sind, im weiteren Verständnis aber auch die typografischen Oberflächen und die materielle Verfasstheit literarischer Texte. Denn die bereits vielfach in der Forschung ausgewiesene Oberflächenaffirmation und -ästhetik in pop-nahen literarischen Publikationen schließt die typografischen Oberflächen dezidiert mit ein.10 Parallel zu den Zeitschriftentexten publizieren dieselben Autor:innen Texte in Buchform, die sich zum Teil in gleicher Weise wie die Magazine durch eine besondere Emphase typografischer Elemente auszeichnen und so ihre eigene ›Verpackung‹ als zentrales Ele-

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Ebenfalls Teil an diesem Diskurs hat die Kunstzeitschrift Texte zur Kunst, für die das Layout jedoch nur am Rande eine Rolle spielt. Siehe hierzu das Vorwort der 9. Ausgabe der Texte zur Kunst: »Ein letztes Wort zum Ästhetizismus in eigener Sache: Die angekündigten drastischen Layout-Veränderungen haben wir auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Christian Philipp Müller hat in dieser Nummer kleinere Eingriffe in die Typografie vorgenommen, die uns einen merkwürdigen Mehr-Genuß beschaffen. Ist das verwerflich?« (Tom Holert/Isabelle Graw: »Vorwort«, in: Texte zur Kunst. Ästhetizismus (1993), H. 9, S. 2–3, hier S. 3). Vgl. hierzu Moritz Baßler: Der Deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten, München 2002; Eckhard Schumacher/Kerstin Gleba (Hg.): POP. Seit 1964, Köln 2007; Johannes Ullmaier: Von Acid nach Adlon und zurück. Eine Reise durch die deutschsprachige Popliteratur, Mainz 2006. Vgl. auch Diedrich Diederichsens Unterscheidung zwischen einem überaffirmativ-kritischen ›Pop 1‹ (Jelinek, Fichte, Brinkmann) und einem bloß noch affirmativ-ironischen ›Pop 2‹ (Stuckrad-Barre, Kracht): Diedrich Diederichsen: »Ist was Pop?«, in: ders.: Der lange Weg nach Mitte. Der Sound und die Stadt, Köln 1999, S. 272–286. Vgl. das Kap. ›Ästhetik der Oberfläche‹ aus Thomas Hecken: Pop. Geschichte eines Konzepts 1955–2009, Bielefeld 2009, S. 256–271; Olaf Grabienski/Till Huber/Jan-Noël Thon (Hg.): Poetik der Oberfläche. Die deutschsprachige Popliteratur der 1990er Jahre, Berlin/Boston 2011; Elena Beregow: »Nichts Dahinter – Pop-Oberflächen nach der Postmoderne«, in: POP. Kultur und Kritik (2018), H. 13, S. 154–173. Zu Oberflächenästhetik im Allgemeinen siehe Hans-Georg von Arburg: Mehr als Schein. Ästhetik der Oberfläche in Film, Kunst, Literatur und Theater, Zürich 2008. Gerade im Kontext kontemporärer Alltagsästhetik finden sich zudem kritische Positionen. So sieht etwa Byung-Chul Han in der immer weiter gesellschaftlich um sich greifenden »Ästhetik des Glatten« bzw. der »glatten Oberfläche« eine allgemeine Tendenz zur Glättung aller Widerstände und zur Akzeleration von Information, Kommunikation und Kapital. (Byung-Chul Han: Die Errettung des Schönen, Frankfurt a.M. 2015, S. 9–20.)

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Ronald Röttel: Verpackungen der Literatur

ment des Literaturbetriebs betonen.11 Eine nicht unwesentliche Rolle spielen dabei die kostengünstigen Paperback-Reihen und -Editionen der Großverlage (RoRoRoPanther, KiWi, edition suhrkamp).12 Obwohl sich die Arbeit auf einen Ausschnitt von knapp zwanzig Jahren, nämlich von 1977 (dem Aufkommen erster ›Punk‹-Fanzines) bis 1995 (der Einstellung von Tempo), konzentriert, werden auch historische Fluchtlinien des Diskurses in den Blick genommen. Das Interesse an der typografischen Oberfläche lässt sich etwa im Falle von popkulturellen Artefakten bis in die 1960er Jahre zurückverfolgen. In gleicher Weise wie sich die ›Punk‹- und ›New Wave‹-Ästhetiken der 1970er und 1980er in die typografischen Oberflächen der Magazine, Schallplatten und eben auch Bücher ihrer Zeit einprägen, bildet sich auch die ›Hippie‹-Kultur des vorangegangenen Jahrzehnts in den psychedelischen Layouts ab. Auch hier spielen Zeitschriften, nämlich die psychedelisch gestalteten Cover der sogenannten little mags, eine zentrale Rolle als Organe der Gegenkultur. Ebenso zentral sind visuelle Peritexte des ›Psychedelic Rock‹ wie die Coverdesigns von Schallplatten sowie Epitexte wie die Plakatentwürfe zu Konzerten. Von den kulturellen Zentren der USA ausgehend tradiert sich diese neue Typografie Ende der 1960er Jahre nach Deutschland und findet hier Eingang in die Gestaltung literarischer Buchveröffentlichungen. Zentrale Akteure sind dabei der Verleger Jörg Schröder (März, Melzer) sowie Rolf Dieter Brinkmann, Ralf-Rainer Rygulla und Rolf-Ulrich Kaiser (Acid, Fuck You (!), Pop? Underground? Nein! Gegenkultur!). Weiterhin sind die Buchpublikationen des Sounds-Kolumnisten Helmut Salzinger, insbesondere das im Sounds-Verlag erschienene Jonas Überohr – Live, exemplarisch für den Versuch, Pop-Journalismus in die Buchform zu übersetzen. Ebenso prägend für die Zeitschriftenexperimente der 1980er ist das von Willy Fleckhaus 1960 lancierte Magazin twen, das Anfang der 1980er Jahre sogar noch einmal neu aufgelegt wird, jedoch mit mäßigem Erfolg. Zudem finden sich immer wieder Verweise auf die Moderne, insbesondere den typografischen Konstruktivismus, Suprematismus, Funktionalismus und Futurismus (Lissitzky, Schwitters, Tschichold, Fortun-

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Bei Kracht, Goetz (und mit Abstrichen auch Meinecke) spielt die Gestaltung der Bücher eine wesentliche Rolle, vgl. Bernhard Metz: »›…mehr als ein Text!‹ Bücher, Buchgestaltung, Typographie bei Christian Kracht«, in: Matthias N. Lorenz/Christine Riniker (Hg.), Christian Kracht revisited. Irritation und Rezeption, Berlin 2018, S. 263–330; Lena Hintze: Werk ist Weltform. Rainald Goetz’ Buchkomplex ›Heute Morgen‹, Bielefeld 2020, S. 42–58; Torsten Hahn: »Kachel, Mosaik und Faden. Meinecke in Köln lesen«, in: C. Jaekel (Hg.), transLIT 2018, S. 35–43. Siehe zur besonderen Bedeutung der Taschenbuchreihen bei Suhrkamp, Kiepenheuer & Witsch und Rowohlt Raimund Fellinger: Kleine Geschichte der edition suhrkamp, Frankfurt a.M. 2003; Kiepenheuer & Witsch: Verlagsgeschichte: 1980–1999. Die 80er und 90er Jahre [kiwi-verlag.de 2021, https://www.kiwi-verlag.de/verlag/verlagsgeschichte/1980-1999-die-8 0er-und-90er-jahre, zuletzt eingesehen am 10.10.2022]; David Oels: Rowohlts Rotationsroutine. Markterfolge und Modernisierung eines Buchverlags vom Ende der Weimarer Republik bis in die fünfziger Jahre, Essen 2013, S. 187–258.

1. Einleitung: Typografie-Experimente im Szene-Format

ato Depero) und die dazugehörigen Zeitschriftenprojekte (Merz, Weschtsch). So lassen sich zwischen diesen beiden Epochen, obwohl sich die Überbietungslogik der Avantgarden und die Zitatästhetik im ›Pop‹ zunächst komplementär gegenüberzustehen scheinen, durchaus strukturelle Parallelen aufzeigen. Denn beide befragen auf ihre eigene Art das Verhältnis von Literatur-Ästhetik und typografischen Oberflächen. Abseits dieses auf pop-nahe Texte und Zeitschriften begrenzten Verweisungszusammenhangs ließe sich noch weiter in die Literaturgeschichte zurückblicken, denn die Zeitschrift hat als Publikationsmedium von literarischen Texten literaturgeschichtlich bereits eine lange Tradition vorzuweisen. Man denke etwa an die Bedeutung des Familienblatts für den deutschen Realismus, der nicht ohne die Publikationsmedien Zeitschrift und Zeitung und die damit einhergehenden Veränderungen im literarischen Markt zu verstehen ist.13 Ebenfalls zentral für den hier beobachteten Zusammenhang ist die Ende des 19. Jahrhunderts aufkommende Illustrierte und die damit einhergehende Erweiterung des Zeitschriften-Formats um Bildelemente als integralen Bestandteil.14 Blickt man noch weiter zurück, lassen sich bereits um 1800 Vorläufer einer Magazin-Ästhetik erkennen, die sich auf die typografischen Oberflächen der Zeitschrift kapriziert. Das von Anne Waak und Joachim Bessing betriebene Archiv für literarischen Journalismus legt hier einen Hinweis aus: »Es beginnt mit Kleists Berliner Abendblättern und endet in der Zukunft.«15 Auch wenn in der vorliegenden Arbeit ein engerer, sich auf pop-nahe Publikationen seit 1960 sowie explizite Verweise in die emphatische Moderne beschränkender Zusammenhang adressiert wird, lässt sich Kleists Zeitschrift durchaus als Vorläufer einer Material-Ästhetik verstehen, die auch die Machart späterer Fanzines auszeichnet.16 Noch 13

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Vgl. hierzu Rudolf Helmstetter: Die Geburt des Realismus aus dem Dunst des Familienblattes. Fontane und die öffentlichkeitsgeschichtlichen Rahmenbedingungen des Poetischen Realismus, München 1998; Manuela Günter: Im Vorhof der Kunst. Mediengeschichten der Literatur im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2015. Vgl. Willi W. Barthold: Der literarische Realismus und die illustrierten Printmedien. Literatur im Kontext der Massenmedien und visuellen Kultur des 19. Jahrhunderts, Bielefeld 2021. Für den Zusammenhang von Text und Gestaltung bei Zeitschriften im Kontext des literarischen Realismus Ende des 19. Jahrhunderts vgl. auch Andreas Beck/Nicola Kaminski/Volker Mergenthaler [u.a.] (Hg.): Visuelles Design. Die Journalseite als gestaltete Fläche, Hannover 2019. Joachim Bessing/Ingo Niermann/Anne Waak: Über uns [https://www.waahr.de/seiten/überuns, zuletzt eingesehen am 10.10.2022]. Parallelen ergeben sich zum einen im Hinblick auf die billige Qualität der Hefte: »[A]uf schlechtem Papier billig gedruckt und zu niedrigstem Preis ausgegeben – das erste Blatt wurde sogar gratis verteilt – waren sie [Die Berliner Abendblätter, RR] ihrem Format nach eher ein Flugzettel als eine Tageszeitung«. (Helmut Sembdner: »Nachwort«, in: Heinrich von Kleist (Hg.), Berliner Abendblätter, hg. von Helmut Sembdner, Wiesbaden 1980, S. 1–4, hier S. 1). Zum Teil handelte es sich Sembdner zufolge bei den Heften zudem um Raub-Collagen. Als

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Ronald Röttel: Verpackungen der Literatur

weiter zurückblickend ließe sich nicht zuletzt der besondere Umgang mit Buchformaten und Illustrationen zur Zeit des Barock als ferner Ausgangspunkt des hier beschriebenen Zusammenhangs bezeichnen,17 insofern man den Layout-Begriff auf die typografische Kultur begrenzt: Schriftbildlichkeit spielt zwar auch in der mittelalterlichen Manuskript-Kultur eine zentrale Rolle, doch bekommt das Schriftbild in der typografischen Kultur der Neuzeit eine grundlegend neue Bedeutung, da an die Stelle einer zuvorderst auditiven Literaturrezeption eine visuelle tritt.18 Im emphatischen Sinne rückt die Typografie als Kunstform und eigentlicher Bestandteil von Literatur jedoch erst um 1900 in den Fokus literarischer Produktion, was vermutlich auf die Medienkonkurrenz zu den neuen technischen Medien zurückzuführen ist. Das Ende der medialen Hegemonie der typografischen Übertragung von Information lässt die medienspezifische Oberfläche des Drucks in den Vordergrund rücken.19

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Material dienten andere Zeitungen, aus denen »Kleist seine Vorlagen ausschnitt und unbearbeitet zum Druck gab«. (Ebd., S. 4) Vgl. zur Bedeutung der typografischen Gestaltung bei Kleist Thomas Nehrlich: »Typographie als Bedeutungsträger bei Kleist«, in: Thomas Rahn/ Rainer Falk (Hg.), Typographie & Literatur, Frankfurt a.M./Basel 2013, S. 105–192. Zu einem Vergleich der Typografien um 1800 und 2000 siehe ders.: »Buch: Buchtypographie um 1800 und 2000 – Alexander von Humboldt und Jonathan Safran Foer«, in: Francesca Vidal/Arne Scheuermann (Hg.), Handbuch für Medienrhetorik, Berlin/Boston 2016, S. 257–290. Vgl. hierzu vor allem die Studie von Roger Chartier: Lesewelten. Buch und Lektüre in der frühen Neuzeit, Frankfurt a.M./New York 1985. Vgl. hierzu Marshall McLuhan: The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man, Toronto 1962. Noch für Dante und Thomas von Aquin, so McLuhan, war der Text bloß »the surface of a profound unity«, für den modernen Leser wird der Text hingegen buchstäblich zu einer typografischen Oberfläche. (Ebd., S. 114.) Wobei auch McLuhan mit Verweis auf E.A. Lowe darauf hinweist, dass der Buchdruck nur zur Akzeleration dieser Tendenz beitrug, die sich bereits vor seiner Erfindung ankündigt: »But the tendency for the visual to become ›explicit‹ and to break off from other senses has been noted even in the development of Gothic script. E.A. Lowe remarks: ›The Gothic script is difficult to read… It is as if the written page was to be looked at and not to be read.‹« (Ebd., S. 127.) McLuhan zitiert aus: E. A. Lowe: »Handwriting«, in: G. C. Crump/E. F. Jacob (Hg.), The Legacy of the middle ages, Oxford 1926, S. 197–226. Die in mittelalterlichen Büchern häufig anzutreffenden Glossen und Illustrationen gehören McLuhan zufolge jedoch eindeutig zur Manuskript-Kultur, da sie vor allem als Hilfestellung für den oralen Vortrag gedacht sind, vgl. M. McLuhan: The Gutenberg Galaxy, S. 109. Im Kontext der vorliegenden Arbeit, die sich auch mit Konsumästhetik und Popkultur beschäftigt, scheint es zudem erwähnenswert, dass McLuhan im typografischen Druck den ersten massenhaft produzierten Konsumgegenstand sieht, wodurch er Typografie und Warenästhetik als gleichursprünglich begreift: »We shall see that just as print was the first mass-produced thing, so it was the first uniform and repeatable ›commodity‹.« (Ebd., S. 125.) Ähnliches formuliert etwa die Informationstheorie der 1960er Jahre mit Blick auf den Medienwechsel vom Druck hin zu elektronischen Medien. Denn bloß die »semantische Information«, so Abraham A. Moles, sei übersetzbar und könne sowohl über den »Kanal der Schrift, des gesprochenen Wortes, des Radios oder des Bildschirms« kommuniziert werden. (Abraham A. Moles: Informationstheorie und ästhetische Wahrnehmung. Aus dem Französischen

1. Einleitung: Typografie-Experimente im Szene-Format

In methodischer Hinsicht fokussiert die vorliegende Arbeit dabei einen aus literarischen Texten, typografischen Entwürfen, Formaten, Verlagsprogrammen und Reproduktionstechniken bestehenden Zusammenhang. Die typografischen Oberflächen sind somit nicht nur Gegenstand der vorliegenden Arbeit, sondern zugleich auch methodische Grundlage, denn die Einheit des adressierten Zusammenhangs stiftet weder das Werk eines Autors, noch ein inhaltlicher Topos oder ein Motiv, sondern der materielle Verbund von Zeitschriften, Verlagsreihen, Buchschubern und seriell gestalteten Covern und Schutzumschlägen. Insbesondere den Zeitschriften kommt dabei eine wesentliche Rolle zu. Denn die verschiedenen Akteure der ›Punk‹-Fanzines, Popmusik- und ›Zeitgeist‹-Zeitschriften, wozu menschliche Akteur:innen (Autor:innen, Grafiker:innen, Verleger:innen, Leser:innen, Werber:innen) ebenso wie nicht-menschliche (Zeitschriften, Verlagsreihen und technische Vervielfältigungsmittel wie Xerox-Fotokopiergeräte, Distributionsorte wie Szene-Läden) zählen, bilden gemeinsam ein Netzwerk aus, welches die hier umrissene Arbeit nachzeichnet, ohne dabei in hoch und niedrig, kulturell wertvoll und alltäglich und damit vernachlässigbar zu differenzieren (anonyme Verfasser:innen von Leserbriefen nehmen darin einen ebenso hohen Stellenwert ein wie renommierte Autor:innen).20 Die Arbeit widmet sich insofern einem in philologischer Hinsicht herausfordernden Gegenstand, da insbesondere die zahlreichen apokryphen Publikationen der ›Punk‹-Fanzines und Szene-Zeitschriften qua eingeschriebenem Präskript auf ein schnelles Benutzen und ebenso schnelles Veralten und Vergessen ausgelegt waren. Die meisten der ›Punk‹-Fanzines und Szene-Zeitschriften um 1980 fielen durch das Raster der Literatur- und Kulturarchive und haben sich zum Teil nur in Fan-Archiven erhalten, sind teilweise aber auch schlichtweg nicht mehr aufzufinden. Die vorliegende Studie verbindet den netzwerktheoretischen Ansatz der Zeitschriftenforschung mit dem Textbegriff der Materialphilologie, der Texte nicht als

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von Hans Ronge in Zusammenarbeit mit Barbara und Peter Ronge, Köln 1971, S. 170). Dagegen sei die »ästhetische Information […] Kanal-spezifisch«. (Ebd., S. 171.) Und dies schließt für Moles nicht zuletzt die Typografie mit ein, an der sich die Trennung in semantische und ästhetische Information besonders deutlich abzeichnet: »Typografische Zeichen haben eine standardisierte Gestalt, die durch ihre semantische Funktion bedingt ist, darum herum befindet sich ein Freiheitsfeld, ein Feld für individuelle Variationen, die das Erkennen der semantischen Werte des Zeichens nicht verhindern.« (Ebd., S. 172.) Vgl. zu einem netzwerktheoretischen Blick auf Zeitschriften als Gegenstand einer kulturwissenschaftlichen Beobachtung Jutta Ernst/Oliver Scheiding: Introduction. Periodical Studies as a Transepistemic Field, in: dies./ders./Dagmar von Hoff (Hg.): Periodical Studies Today. Multidisciplinary Analysis, Leiden/Boston 2022, S. 1–26, hier S. 11. Zur grundlegenden Erweiterung des Akteur-Konzeptes um nichtmenschliche Wesen siehe Bruno Latour: On actor-network theory. A few clarifications. In: Soziale Welt 47, 1996, H. 4, S. 369–381.

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Ronald Röttel: Verpackungen der Literatur

abstrakte Sinnzusammenhänge, sondern stets als konkrete materiell verfasste Objekte begreift.21 Diese materielle Verfasstheit spielt für den hier analysierten Zweig der deutschsprachigen Literatur eine umso bedeutsamere Rolle, insofern die materielle Oberfläche der Literatur seit den 1960er Jahren nicht bloß als ästhetisches, sondern als konsumästhetisches und damit marktrelevantes Element im Literaturbetrieb reflektiert wird. Denn Artefakte des Popkulturbetriebs zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass sie die in der Hochkultur vorherrschende Hierarchie von Oberfläche und Tiefe bzw. ›Verpackung‹ und Inhalt invertieren. Dies gilt insbesondere für Schallplattenhüllen, Cover und Schutzumschläge, im erweiterten Sinne auch für Zeitschriftenlayouts und typografische Oberflächen insgesamt. Dabei ist zu beobachten, dass diese in ihren Verpackungsoberflächen nicht selten die Funktion derselben verhandeln, nämlich für das Produkt zu werben. Mein Vorschlag ist daher, ›Pop‹ im engeren Sinne (ob in der Musik, der Kunst oder der Literatur) in Abgrenzung zum Populären, für das zuvorderst Verkaufszahlen konstitutiv sind, als eine Strategie kultureller Artefakte zu definieren, in der eigenen Konsumoberfläche, d.h. der ›Verpackung‹ und visuellen Erscheinung, die eigene Warenförmigkeit zu artikulieren und – mitunter ironisch – zu reflektieren. Damit ist der Blick der vorliegenden Studie auch ein literatursoziologischer; er begreift die bewerbenden visuellen Oberflächen, mit anderen Worten die Covergestaltung und das Layout von literarischen Publikationen aber auch Anzeigen und andere Formen der Werbung als seit Beginn der 1960er Jahre stärker auf den Plan tretende Elemente einer Selbstpositionierung literarischer Publikationen innerhalb des ›literarischen Feldes‹.22 Ge21

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Diese Neuausrichtung der Philologie geht ursprünglich auf die material philology, einen in den 1990er Jahren aufkommenden Ansatz der englischsprachigen Mediävistik zurück, der Handschriften nicht als bloße Überlieferungsträger eines zu rekonstruierenden abstrakten Archetextes begreift, sondern als die ›eigentlichen‹ Untersuchungsgegenstände. In jüngster Zeit fand die Methode zudem Anwendung im Feld der periodical studies, was zum Teil mit einer strukturellen Ähnlichkeit von Manuskripttexten und Texten in Periodika zu tun hat. Vgl. hierzu insbesondere Nicola Kaminskis Artikel zur material philology im Handbuch Zeitschriftenforschung, in dem Kaminski diese These anhand dreier Kriterien erläutert, dem miszellanen Verbund der Texte, der rezeptionsinhärenten Rolle des visuellen Designs und einer der stillen Lektüre des Buchs entgegengesetzten, mehr auf Öffentlichkeit bedachten Rezeptionspraxis. Nicola Kaminski: Material philology, in: Oliver Scheiding/Sabina Fazli (Hg.): Handbuch Zeitschriftenforschung. Bielefeld 2022, S. 215–234. Vgl. zum kunstsoziologischen Konzept des ›Felds‹ Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Felds. Übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer, Frankfurt a.M. 2016. In diesem Zusammenhang scheint es zudem erwähnenswert, dass Bourdieu die Strategie der Pop Art, alltägliche Konsumgegenstände in den Kontext des Kunstmarktes zu überführen, als markanten Beleg für seine zentrale These anführt, dass ein ›Werk‹ von verschiedenen Akteuren des künstlerischen Felds zu allererst hervorgebracht wird. (Ebd., S. 455.) Zur Entwicklung des literarischen Felds seit den 1950er Jahren, die von der zunehmenden Bedeutung des materiellen Erscheinungsbildes von Texten, einschließlich ihrer visuellen Gestaltung und der Wahl des Formats, gekennzeichnet ist, siehe die literatursoziologische

1. Einleitung: Typografie-Experimente im Szene-Format

staltung, Layout und Format spielen in den Grabenkämpfen zwischen den etablierteren Institutionen der sogenannten Hochkultur und den Autor:innen, die aus dem Dunstkreis der verschiedenen Szene-Zeitschriften hervorgingen, eine gewichtige Rolle. Die ästhetische Strategie der ›Punk‹-Fanzines bestand etwa darin, die professionellen Layouts der Zeitschriftenverlage, die in ihrer gate keeper-Funktion gezielte Ein- und Ausschlüsse produzierten, in programmatischer Weise zu unterwandern. Die Arbeit nimmt demnach dezidiert Literatur in den Blick, die ihre medienspezifische typografische Oberfläche in besonderer Weise ausstellt und reflektiert.23 Dass die typografische Gestalt für jede Form von Literatur zentral ist, auch in ihrer unscheinbarsten Form, soll dabei nicht bestritten werden. Jedoch gewinnt die Typografie im Zusammenspiel der Diskurse und Metiers aus Popkultur, Zeitschriften und Werbung zusätzlich an Bedeutung.24 Wenn im Folgenden von Typografie die Rede ist, meint dies zuvorderst die Anordnung, das heißt Layout und Satz, nicht hingegen die dem Produktionsprozess des Layouts vorgelagerte Konzeption von Schrifttypen.25 Im Zentrum der hier umrissenen Studie steht die Gestaltung von Covern und Druckseiten und, da für die Beschaffenheit von gedruckten Artefakten nicht nur typografische Fragen von Belang sind, sondern auch das Verhältnis von Breite und Länge eines Druckerzeugnisses (sowohl in visueller als auch in haptischer Hinsicht) spielen zudem Formatentscheidungen eine gewichtige Rolle. Der

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Studie von Carolin Amlinger: Schreiben. Eine Soziologie literarischer Arbeit, Frankfurt a.M. 2021, S. 56–135. Eben jene Oberflächen-Dimension des Textes als literarisches Kriterium ernst zu nehmen, forderte insbesondere Jerome J. McGann bereits Anfang der 1990er Jahre. Jerome J. McGann: The Textual Condition, Princeton 1991. Vgl. weiterhin Susanne Wehde: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung, Tübingen 2000; Susanne Wehde: »Layout. Neuzeit/Moderne«, in: Till Dembeck/ Natalie Binczek/Jörgen Schäfer (Hg.), Handbuch Medien der Literatur, Berlin/Boston 2013, S. 164–168; T. Rahn/R. Falk (Hg.): Typographie & Literatur; Michael Glasmeier/Tania Prill (Hg.): Typografie als künstlerisches Ereignis, Hamburg 2016; Albert Ernst: Wechselwirkung. Textinhalt und typografische Gestaltung, Würzburg 2005; und nicht zuletzt die umfassende Studie von Bernhard Metz: Die Lesbarkeit der Bücher. Typografische Studien zur Literatur, Paderborn 2020. Der Position von Bernhard Metz, dass eine solche Herangehensweise unproduktiv sei, da die Bedeutung der Typografie für Texte von Autoren wie Apollinaire, Mallarmé und Schwitters offensichtlich sei und keiner weiteren Erklärung bedürfe, kann, ohne diesen Ansatz grundsätzlich kritisieren zu wollen, im Falle des hier diskutierten Kontextes schon aus empirischer Sicht nicht zugestimmt werden. Zumal diese Position schnell Gefahr läuft, die literaturgeschichtliche Historizität typografischer Dispositive aus dem Blick zu verlieren. In manchen Zeiträumen tritt die Bedeutung typografischer Gestaltung von Literatur offener zutage als in anderen und beides gründet zumeist in den jeweiligen literarischen Programmen. Vgl. B. Metz: Die Lesbarkeit der Bücher, S. 29. Zur doppelten Bedeutung von Typografie siehe Bernhard Metz: Die Lesbarkeit der Bücher. Typografische Studien zur Literatur, Paderborn 2020, S. 13.

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Formatbegriff, der nicht nur in der gegenwärtigen Literaturwissenschaft, sondern auch in den Medien- und Kulturwissenschaften Hochkonjunktur hat, eignet sich hier besonders, da er eine präzisere theoretische Beschreibung als der Begriff des Mediums erlaubt.26 Da nicht wenige Buchpublikationen aus der hier fokussierten Zeitspanne verschiedenste zuvor in periodischen Formaten erschienene Texte zusammenfassen, lässt sich die Funktion und Wirkung von verschiedenen Formaten am Gegenstand der vorliegenden Arbeit besonders gut beschreiben: Formatwechsel gelingen gerade nicht verlust- oder friktionsfrei, sondern rücken im Gegenteil das Format zuallererst in den Vordergrund und werfen zusätzlich die Frage nach dem Literaturbegriff selbst auf, d.h. inwiefern Formate daran beteiligt sind, Texte als Literatur auszuzeichnen. Die Arbeit begrenzt sich dabei auf die ästhetische und kulturelle Dimension von Formaten und geht weniger auf die epistemische Funktion von Formaten und typografischen Oberflächen ein.27 Die Arbeit gliedert sich dabei wie folgt: Zunächst werden einige grundlegende Aspekte systematisch analysiert, um das Verhältnis von Literatur, Zeitschriften und Oberflächen- bzw. Typografie im Allgemeinen auszuloten (Kap. 2). Genauer zu beleuchten ist hier etwa der Terminus der Oberflächenästhetik im Sinne einer Aufwertung der ›Verpackung‹ eines kulturindustriell gefertigten Gegenstands (Kap. 2.1). Ebenso zentral ist das Verhältnis von Typografie, Formatgestaltung und 26

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Vgl. zum Begriff des Formats sowie zum Verhältnis von Format und Literatur Carlos Spoerhase: Das Format der Literatur. Praktiken materieller Textualität zwischen 1740 und 1830, Göttingen 2018. Vgl. zum Formatbegriff in den Medien- und Kulturwissenschaften Axel Volmar: »Das Format als medienindustriell motivierte Form. Überlegungen zu einem medienkulturwissenschaftlichen Formatbegriff«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft (2020), H. 22, S. 19–30; Axel Volmar/Marek Jancovic/Alexandra Schneider (Hg.): Format Matters. Standards, Practices, and Politics in Media Cultures, Lüneburg 2020; Michael Niehaus: Was ist ein Format?, Hannover 2018; Stefanie Stallschus: »Format«, in: Jörn Schafaff/Nina Schallenberg/ Tobias Vogt (Hg.), Kunst-Begriffe der Gegenwart. Von Allegorie bis Zip, Köln 2013. Vgl. zur Rolle der Formate, der Verlage und der typografischen Oberflächen wissenschaftlicher Publikationen Michael Cahn: Der Druck des Wissens. Geschichte und Medium der wissenschaftlichen Publikation, Berlin 1991. Formate wurden in der Wissenschaftstheorie zudem zum Teil als wesentliche Bestandteile wissenspoetischer Zusammenhänge begriffen. So spiegelt sich beispielsweise nach Thomas Kuhn die Dynamik zwischen Paradigmenwechseln und der Institutionalisierung eines wissenschaftlichen Paradigmas in der Wahl der wissenschaftlichen Formate. Erstere finden sich zuvorderst in Büchern realisiert, letztere dagegen in Aufsatzform. Thomas Kuhn: The Structure of Scientific REVOLUTIONS, Chicago/London 2012, S. 89. Auch Ludwig Fleck erörtert in seiner wissenschaftstheoretischen Schrift aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert die Bedeutung von Formaten für die Ordnung des wissenschaftlichen Feldes und unterscheidet beispielsweise die ›Zeitschriftenwissenschaft‹ von der ›Handbuchwissenschaft‹, wobei erstere frühe Speerspitzen neuer Denkstile liefert und letztere zur Institutionalisierung eines solchen beiträgt. Ludwig Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt a.M. 2012, S. 146–164.

1. Einleitung: Typografie-Experimente im Szene-Format

Autorschaft. Wenn die Gestaltung der typografischen Oberflächen eines Textes einen integralen Bestandteil der literarischen Produktion ausmacht, erfährt auch der Begriff der Autor:in eine Erweiterung (Kap. 2.3). Darüber hinaus wird das Verhältnis von Werk und Rahmen genauer in den Blick genommen. Hierzu werden vor allem diejenigen Theorien des Rahmens herangezogen, die sich auf typografische Rahmen und den Formatrahmen literarischer Texte applizieren lassen (Kap. 2.2). Zudem hat die in den 1960ern aufkommende und Ende der 1970er Jahre massenhaft in Copy Shops zugängliche Reproduktionstechnik der Xerox-Fotokopiergeräte einen maßgeblichen Anteil an der Ästhetik der popkulturellen Druckerzeugnisse, insbesondere den ›Punk‹-Fanzines. Von Interesse ist dabei weniger eine historische und technische Beschreibung der Xerografie als vielmehr, wie diese Reproduktionstechnik seit den 1960er Jahren in der Medientheorie verhandelt wird und mitunter zu einem literarischen Sujet avanciert (Kap. 2.5). Darüber hinaus wird es um die Bedeutung von Formaten und typografischen Oberflächen für die Differenz zwischen sogenannter high- und low culture gehen. Insbesondere in Bezug auf das Taschenbuchformat findet in den 1960er Jahren eine hitzige Diskussion darüber statt, ob es sich bei diesem um ein Format der ›Kulturindustrie‹ oder eine Demokratisierung des Wissens qua Format handelt (Kap. 2.4). Nicht zuletzt wird die Rolle der Werbung, insbesondere der Anzeigen in Zeitschriften und Büchern, von Interesse sein (Kap. 2.6). An diese methodologischen Überlegungen anschließend werden dann historische Vorläufer des hier diskutierten Zusammenhangs thematisiert. Eine nicht unwesentliche Rolle spielt dabei der amerikanische New Journalism (Kap. 3.1.4), einerseits wegen der von dieser journalistischen Sonderform propagierten Engführung von Journalismus und Literatur, andererseits, da für diesen ein eigener typografischer Stil wesentlich ist. Zudem gilt es – wie bereits weiter oben angemerkt – die Typografien und Layouts des 1960er-›Pop‹ eines genaueren Blicks zu würdigen. Ein besonderes Augenmerk liegt hierbei auf der Cover-Gestaltung des März-Verlags und Jörg Schröders Doppelrolle als Layouter und Verleger (Kap. 3.1.1). Weiterhin werden die psychedelischen Layouts der ›Hippie‹-Ästhetik in Buchform von Interesse sein (Kap. 3.1.2) und nicht zuletzt die Typografien der Avantgardebewegungen des frühen 20. Jahrhunderts, die sich die Layouter der 1980er Jahre vielfach zum Vorbild nehmen. Cover-Designer, wie etwa Peter Saville, aber auch verschiedene deutsche Popzeitschriften, wie beispielsweise Elaste, zitieren die Stile der Avantgarden in programmatischer Weise (Kap. 3.2). Im Anschluss an diese Erörterung historischer und theoretischer Kontexte gliedert sich die Arbeit entsprechend der angesprochenen historischen Entwicklung und beginnt in den frühen 1980er Jahren mit einer Analyse des DIY-Formats der ›Punk‹-Fanzines vor dem Hintergrund der (Pop-)Kulturprogramme des sogenannten Genialen Dilletantismus (Kap. 4.1). Daran anschließend werden frühe Zeitschriften für Popmusik und popkulturellen ›Zeitgeist‹ thematisch (Kap. 4.2). Besonders

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Ronald Röttel: Verpackungen der Literatur

auffällig ist dabei, welche Rolle die Werbung als Innovationsmotor im TypografieDiskurs der 1980er Jahre einnimmt. Im Anschluss an die Typografiebewegungen der Avantgarden wird die Grenze zwischen Kunst und Werbung respektive Anzeigenteil und redaktionellem Teil neu verhandelt. Am Rande werden auch die aus Boulevardmagazinen entlehnten Klatschspalten der Szene-Zeitschriften wie Jäger & Sammler in Elaste Gegenstand der Beobachtung sein. Da sich solch ein experimentierfreudiger Umgang mit der typografischen Gestaltung und dem Format im Rahmen einer auf Profit bedachten (kultur-)industriellen Fertigung nicht auf Dauer stellen lässt, ist gegen Ende der 1980er zu beobachten, wie die Zeitschriften in Folge höherer Auflagenzahlen gezwungen sind, das Format zu normieren oder aber ihre Publikation einzustellen (Kap. 4.3). Und mit der Formatnormierung geht meist auch eine Normierung der Themen und Konzepte einher. Beispielsweise geht der Versuch des deutschen Wiener, an die Schreibweisen und Themen der experimentellen Hefte der frühen 1980er anzuknüpfen, nicht auf. Auch die typografischen Oberflächen rücken mehr und mehr in den Hintergrund und eine ästhetische Affirmation der (typografischen) Oberfläche bleibt im Literaturbetrieb bloß noch in Reprisen präsent. Das darauffolgende Kapitel nimmt Buch- und Verlagsprojekte in den Blick, die im Kontext der Zeitschriften entstehen und erörtert dabei die besondere Bedeutung von Formatwechseln bzw. -übersetzungen (Kap. 5). Beispielhaft sind hier Goetz’ Hirn und das in Buchform gebrachte Fanzine von Lorenz Lorenz’ Die Einsamkeit des Amokläufers. Darüber hinaus finden sich Szene-Romane, wie Christopher Roths 200D sowie Goetz’ Irre und Kontrolliert, die ein besonderes Augenmerk auf die ›Verpackung‹ des Buchs, das heißt die Gestaltung des Schutzumschlags, legen, und in den typografischen Oberflächen auf die Warenförmigkeit von Literatur reflektieren. Ebenso interessant sind Projekte wie die von Peter Glaser herausgegebene Anthologie Rawums, die Texte von Spex- und Elaste-Autor:innen versammelt. Darüber hinaus finden sich Romane wie etwa Joachim Lottmans Mai, Juni, Juli, die das Spex-Milieu thematisieren und dabei weniger das Produkt ›Literatur‹ in den Blick nehmen als vielmehr den Produktionsprozess von warenförmiger Literatur. Den meisten Texten ist dabei gemein, dass sie in den Taschenbuchreihen von Rowohlt, Kiepenheuer & Witsch und Suhrkamp erscheinen (Kap. 5.1). Darüber hinaus werden besondere Verlags- und Buchprojekte aus der Werbung und der bildenden Kunst untersucht, wie etwa das Meter Verlag-Projekt von Albert Oehlen und Wolfgang Büttner sowie die Appropriationen der Merve-, Reclam- und Rowohlt-Buchdesigns von Martin Kippenberger (Kap. 5.4). Ebenso von Interesse ist eine Buchpublikation der Werbeagentur GGK für den KiWi-Verlag, die sich, im Anschluss an die Concept Art-Anzeigen der von Michael Schirner und Diedrich Diederichsen geführten Werbeagentur, auch die Buchform als Medium ihrer ›Kunstwerbung‹ aneignen (Kap. 5.3). Zudem wird dem Interesse des von Peter Gente und Heidi Paris geführten Merve Verlags an der deutschen ›Punk‹-Kultur nachgegangen. Einerseits veröffentlicht Merve Anfang der 1980er einige Publikationen von Autor:innen der Berliner ›Punk‹-Szene, al-

1. Einleitung: Typografie-Experimente im Szene-Format

len voran den programmatischen Band Geniale Dilletanten. Andererseits finden sich zur selben Zeit mehrfach Äußerungen von Paris und Gente, die davon zeugen, dass sich die beiden Verleger:innen ihrem Selbstverständnis nach selbst mit der ›Punk‹Kultur identifizieren. Darüber hinaus ist der Merve Verlag wegen der von Jochen Stankowski gestalteten, ikonisch gewordenen Merve-Raute besonders beispielhaft für die Wirkung typografischer Oberflächen für das ›Image‹ von Verlagen und den Konsum von Büchern (Kap. 5.5). Abschließend werden Reprisen dieses Zusammenhangs Gegenstand der Beobachtung sein (Kap. 6). Beispielhaft hierfür ist unter anderem eine 2005, 10 Jahre nach Einstellung von Tempo, erscheinende Jubiläumsausgabe der Zeitschrift. Zudem finden sich auch in den 2000er Jahren vermehrt Buchcover, die zumeist implizit, aber mitunter auch explizit an den in der vorliegenden Arbeit adressierten Zusammenhang anschließen. So stammt etwa das Coverdesign von Christian Krachts zweitem, 2001 erschienenen Roman 1979 von Peter Saville, jenem Designer von Factory Records, der auch für die im deutschsprachigen Raum geführte Diskussion um die typografische Oberfläche in Spex, Elaste und Tempo einen zentralen Bezugspunkt darstellt. Ebenso beispielhaft hierfür sind Rafael Horzons Das weisse Buch, das auf das von Richard Hamilton gestaltete LP-Cover von The White Album der Beatles verweist, und der von Albert Oehlen, dem Herausgeber des Meter Verlags, gestaltete Buchschuber für die Goetz’sche Werkreihe Heute Morgen. Darüber hinaus knüpft Christian Krachts und Eckhart Nickels 2004 lanciertes Zeitschriften-Projekt Der Freund, das selbst ein besonderes Interesse an der visuellen und haptischen Qualität von Zeitschriften erkennen lässt, mittels expliziter Verweise an den Zeitschriftendiskurs der 1980er Jahre an. Weiterhin finden sich Publikationen, die an das in den 1980er Jahren virulente Experimentieren mit Anzeigen und werbenden Peritexten anknüpfen. Beispielsweise findet sich in besagter Tempo-Jubiläumsausgabe eine H&M-Anzeige, in der unter anderem Benjamin von Stuckrad-Barre als Fotomodell posiert. Ebenso beispielhaft für diesen Zusammenhang ist die bereits vielfach in der Forschung diskutierte Werbekampagne der Agentur Studio Achermann für Peek & Cloppenburg, für die unter anderem Stuckrad-Barre und Kracht als Fotomodelle engagiert wurden. Abschließend widmet sich die Arbeit einigen Reprisen dieses literarischen Interesses an Layout- und Buchoberflächen in den 2010er und 2020er Jahre – beispielhaft herangezogen werden hierfür die Buchpublikationen Jakob Noltes und Leif Randts –, die teils strukturell und teils explizit an die Diskussionen der 1960er, 1980er und 2000er anknüpfen und dabei nicht zuletzt die Bedeutung typografischer Buchoberflächen in einem weitestgehend (post-)digitalen Literaturbetrieb befragen, in dem die haptische Qualität von Büchern nochmal eine neue Bedeutung gewinnt.

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2. Poptypografie, Layoutoberflächen, Literaturformate

Mit der Einstellung der Hamburger Musikzeitschrift Sounds im Jahr 1982 und der damit einhergehenden Abwanderung einiger Autoren des Heftes zur Spex, wie etwa Diedrich Diederichsen, ändert sich sukzessive auch das Profil des damals noch jungen Kölner Magazins für Popmusik. In dem einstigen Fanzine, dessen konzeptueller Fokus zunächst weniger auf der Theoretisierung als auf einer betont subjektiven Beurteilung von Popmusik lag, finden sich nun auch kulturtheoretische Texte zu Popmusik und -kultur.1 Zudem erfährt das Format der Zeitschrift im Zuge der zunehmenden Popularisierung der Spex eine Anpassung an die Norm des Zeitschriftenmarkts.2 Eine gewisse typographische Experimentierfreudigkeit lassen aber auch noch spätere Ausgaben der Zeitschrift erkennen. Etwa findet sich auf dem Cover der Februar-Ausgabe der Spex von 1986 folgendes dilettantisch gekritzeltes ›poem‹ von Blixa Bargeld,3 dem Sänger der Berliner Industrial-Pioniere Einstürzende Neubauten: »seine schuhe sind zu spitz/[seine sch]uhe sind zu spitz/[um glaub]würdig zu sein/Falsch!/So wie er singt macht er/seine schuhe glaubwürdig/Poem von Blixa Bargeld«.4

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Vgl. insbesondere die Arbeiten von Ralf Hinz: Cultural Studies und Pop. Zur Kritik der Urteilskraft wissenschaftlicher und journalistischer Rede über populäre Kultur, Opladen/ Wiesbaden 1998; Ralf Hinz: »Cultural Studies und avancierter Musikjournalismus in Deutschland«, in: Andreas Hepp/Rainer Winter (Hg.), Kultur – Medien – Macht. Cultural Studies und Medienanalyse, Wiesbaden 2006, S. 255–266; Ralf Hinz: »Pop-Theorie und Pop-Kritik. Denkund Schreibweisen im avancierten Musikjournalismus«, in: Text+Kritik. Sonderband Pop-Literatur 10 (2003), H. 3, S. 297–310. Vgl. hierzu insbesondere Kap. 4.3 der vorliegenden Arbeit. Vgl. zum ästhetischen Programm des ›Dilletantismus‹ in den frühen 1980er Jahren den Band des Die tödliche Doris-Bandmitglieds Wolfgang Müller, insbesondere auch den einleitenden Kurztext Bargelds. Blixa Bargeld: »Zum Geleit«, in: Wolfgang Müller (Hg.), Geniale Dilletanten, Berlin 1982, S. 7. Vgl. zu den Vorlieben des Merve Verlags für die ›Punk‹-Kultur der 1980er das Kap. 5.5 der vorliegenden Arbeit. Blixa Bargeld: »Poem«, in: Spex (1986), H. 2, U1.

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Ronald Röttel: Verpackungen der Literatur

Abb. 1: Titelansicht des Februar-Heftes der Spex von 1986 (29,8 x 22,3 cm).

Während der Inhalt und die Form des Gedichts wenig Komplexität aufweisen, entwickelt das Layout des Geschriebenen eine spannende typografische Deixis zwischen den Bild- und Schriftelementen. Der Sinn des Textes wird erst dann klar, wenn man weitere typografische Elemente mit einbezieht, wie etwa das Coverbild jener Spex-Ausgabe, auf welches sich der Text von Bargeld bezieht (Abb. 1). Dabei handelt es sich um eine Schwarz-Weiß-Fotografie von Nick Cave, die den in den 1980ern in Berlin lebenden Musiker durch einen sehr hohen Bildkontrast ohne Bildtiefe darstellt. In Anlehnung an den typografischen Stil von ›Punk‹-Fanzines ist die Typografie des Covers zudem höchst heterogen und in programmatischer Weise dilettantisch. Zu sehen sind farbige und nichtfarbige sowie autografische und typografische Elemente, – und verschiedene Teile des Texts werden durch das Spex-Coverlogo verdeckt (weiter oben im Zitat durch die eckigen Klammern angezeigt). Das Cover-Arrangement der Spex bewirkt dabei eine bemerkenswerte Umkehrung der Verhältnisse von Werk und Rahmen bzw. Text und Paratext. Denn wohingegen üblicher Weise gerade das Cover beziehungsweise der Buchdeckel die ›Verpackung‹ des (literarischen) Textes ist, scheint die Funktion des Bargeld-Gedichts in umgekehrter Weise darin zu bestehen, die Zeitschriftenausgabe peritextuell zu rahmen. Dieses Beispiel aus der Spex deutet somit zwei Aspekte zugleich an, die im

2. Poptypografie, Layoutoberflächen, Literaturformate

Folgenden am Beispiel von Zeitschriften, Schallplatten und Buchumschlägen bzw. -covern erörtert werden sollen. Die im Folgenden besprochenen Beispiele aus dem Literatur-, Kunst-, und Popkulturbetrieb zeichnen sich erstens durch eine Hervorhebung typografischer Oberflächen aus, die integraler Teil des ästhetischen Programms sind, und zweitens durch die Umkehrung der Hierarchie von Text und Paratext, Werk und Rahmen respektive Inhalt und ›Verpackung‹. Denn die Verpackung ist in dem, was seit Beginn der 1960er Jahre in Kunst, Musik und Literatur als ›Pop‹ bezeichnet wird, mindestens so wichtig wie der Inhalt, tendenziell sogar wichtiger und dies schließt die Typografie zwingend mit ein. Insofern kann im Fall der PopTypografie im Zeitschriften-Diskurs der 1980er Jahre von einer Popularisierung des typografischen Diskurses gesprochen werden, der seiner Geschichte nach für gewöhnlich dazu tendiert, esoterisches Spezialwissen weniger Eingeweihten zu sein.5 Vor diesem Hintergrund widmet sich das nächste Kapitel der funktionellen Engführung verschiedener Verpackungen wie etwa Schallplattenhüllen, Buchumschläge und Zeitschriftenlayouts.

2.1 Oberflächenästhetik als Layout-Emphase: LPs, Magazine, Bücher Was genau mit Oberflächenästhetik gemeint ist, ist begrifflich nicht leicht zu fassen, da der Terminus verschiedenartige ästhetische Strategien bezeichnet. Teilweise ist damit – vor allem im Hinblick auf verschiedene Strömungen der bildenden Kunst – eine Reduktion der bildlichen Darstellung auf das Medium selbst, die Leinwand, gemeint, also die Negation einer Illusion von bildlicher Tiefe. Man denke etwa an die Bilder und Filme David Hockneys, auf den auch der Ausspruch »Surface is an Ilusion but so is depth«6 zurückgeht, der Christian Krachts zum Teil auf seine Tempo-Artikel zurückgehenden Band Der gelbe Bleistift als Motto vorangestellt ist. Im Fall von literarischen Texten meint die Aufwertung der Oberfläche dagegen zumeist eine Fokussierung der Oberflächen im Unterschied zu den hermeneutischen Tiefenstrukturen eines Textes. Die Bestimmung des Konzeptes bleibt dabei jedoch

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Vgl. hierzu Bernhard Metz’ Studie zur Typografie der Literatur, B. Metz: Die Lesbarkeit der Bücher, S. 23–27. Nämlich auf den Titel eines Hockney Films von 1988 A Day on the Grand Canal with the Emperor of China, or Surface is Illusion, But So is Depth; Christian Kracht: Der gelbe Bleistift. Reisegeschichten aus Asien, Köln 2000, S. 9. Der Band besteht hauptsächlich aus zuvor im Kontext von Krachts gleichnamiger Welt am Sontag-Kolumne publizierten Texten, erschienen von Februar 1999 bis Mai 2000. Der Text Zu früh, zu früh ist jedoch schon sehr viel früher, nämlich 1992, unter anderem Titel in Tempo erschienen. Christian Kracht: »good morning, vietnam«, in: Tempo (1993), H. 6, S. 36–45.

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eher metaphorisch.7 Eine weitere Fassung dieses Terminus adressiert dagegen die materielle Oberfläche von kulturellen Artefakten, nämlich ihre verpackende Hülle. Oberflächenästhetik wird im Sinne einer Aufwertung der Verpackung, also der werbenden Konsumoberfläche, verstanden, die von ihrer eigentlichen Funktion, das Produkt zu schützen und zu seiner Verbreitung beizutragen, entkoppelt wird. Diese ästhetische Strategie macht sich im Falle von Popschallplatten recht früh bemerkbar. Retrospektiv äußert sich etwa Thomas Hecken, der in den 1980er Jahren selbst Texte für Elaste und Spex verfasste, folgendermaßen zur Ästhetik der Oberfläche in der Popmusik: »Eine auffällige Oberfläche, die in keinem Zusammenhang zum Nutzen von technischen Geräten, Häusern, Möbeln steht, markiert das PopDesign. Die dekorative Verpackung von Gütern weitet das Oberflächen-Prinzip über solche Objekte entscheidend aus; die Ablösung des braunen Umschlags durch das Schallplattencover ist ein bedeutsames Beispiel dafür.« 8 Eine theoretische Auseinandersetzung mit der typografischen Oberflächenästhetik in der Popmusik lässt sich jedoch bereits in den 1980er Jahren nachweisen. Das Anfang der 1980er Jahre als Reaktion auf eine Hochphase des Covers in der Popmusik erscheinende Album Cover Album der britischen Schallplattencover-Designer Roger Dean und Storm Thorgerson führt zwei wesentliche Entwicklungsschritte des Covers in der Geschichte der Popmusik an. In den 1940er Jahren beginne die Popmusik erstmals »ein Bezeichnungssystem zu entwickeln: die Verpackung der aufgenommenen Musik trat zunehmend als wirkungsvoller Mittler zwischen Musiker und Publikum hervor.«9 Damit sei jedoch bloß der erste Schritt getan für die Aufwertung der Verpackung im Popmusik-Betrieb. Erst die psychedelische Rockmusik der 1960er Jahre setzt den Ausgangspunkt für eine Ausweitung des Autorisationsbereichs 7

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Vgl. Thomas Hecken: »Form und Oberfläche als Metapher. Probleme und Herausforderungen des literaturwissenschaftlichen und -theoretischen Form-Begriffs«, in: Torsten Hahn/Nicolas Pethes (Hg.), Formästhetiken und Formen der Literatur. Materialität – Ornament – Codierung, Bielefeld 2020, S. 23–40. Thomas Hecken: »Pop-Konzepte der Gegenwart«, in: POP. Kultur und Kritik (2012), H. 1, S. 88–107. Vgl. zur Geschichte der ›Verpackung‹ in der Konsumkultur Roger Behrens: »Parergon, Etui, Cover – Verhüllung von Klang: zur kritischen Theorie der Warenästhetik von Tonträgern«, in: Gérard Raulet/Burghart Schmidt (Hg.), Vom Parergon zum Labyrinth. Untersuchungen zur kritischen Theorie des Ornaments, Wien/Köln/Weimar 2001, S. 111–132. Insbesondere zur visuell-materiellen Oberflächen-Ästhetik von literarischen Texten vgl. Heinz Drügh: »Schreibweisen der Oberfläche und visuelle Kultur«, in: Claudia Benthien/Brigitte Weingart (Hg.), Literatur & Visuelle Kultur, Berlin/Boston 2014, S. 247–264. Dominy Hamilton: »Einleitung«, in: Storm Thorgerson/Roger Dean (Hg.), Das Buch der Schallplattenhülle. Aus dem Englischen von Arthur Kalkbrenner. Zürich 1980, S. 8–15, hier S. 8. Vgl. zur Geschichte der Warenverpackung als Schutzmantel, Werbefläche und Medium der Kunst, Frauke Engel: »Reiz der Hülle. Gebrauchsverpackung zwischen Schutzfunktion, Werbung und Kunst«, in: Susanne Bäumler (Hg.), Die Kunst zu Werben. Das Jahrhundert der Reklame, München 1996, S. 121–141.

2. Poptypografie, Layoutoberflächen, Literaturformate

der Popmusiker auf die verpackende Hülle ihres Produktes und markiert damit den Beginn für eine ästhetische Beschäftigung mit den Layout-Oberflächen in der Popmusik.10 So betont der englische Musikjournalist und Soziologe Simon Frith in seiner 1978 erschienenen Sociology of Rock die integrale Bedeutung der Verpackung für das popmusikalische Produkt, denn »as a commodity the records are [only then] completed [when] they are packaged«.11 Hieran anschließend, so Frith, ließe sich die Geschichte des Rock – und dies lässt sich ohne weiteres auf den Zusammenhang Popmusik insgesamt übertragen – bloß entlang ihrer verpackenden Oberflächen erzählen: Rock’s history has been similarly, if rather less significantly, bound up with changes in packaging, as companies have appeared who specialize in sleeve design. There is little evidence that cover design has any effect on the sales of records (often, in fact, covers seem to be aimed at attracting the retailer rather than the consumer) but successful musicians often seek to have control of their records’ packaging built into their contracts. The sleeve design is used to complement the music, as another form of creative expression; the costs of such ›artistic‹ packaging can be substantial.12 Frith zufolge steht die ›Verpackung‹ gerade nicht im Dienst der Plattenfirmen, sondern ist genauso Medium künstlerischen Ausdrucks wie die Musik, die auf der Schallplatte gespeichert ist. Diese Besonderheit der Popmusik, ihre werbende Verpackung als essenziellen Bestandteil zu begreifen, wird zudem um dieselbe Zeit in den typografischen Oberflächen der Popmusik selbst auf ironische Weise artikuliert und reflektiert. Beispielsweise ziert das zweite Album der britischen ›New Wave‹-Band XTC, die Diedrich Diederichsen 1980 in Sounds als »eine[s] der faszinierendsten Phänomene zeitgenössischer Musik«13 adelt, ein reines Typo-Cover und der darauf befindliche Text analysiert die werbende Funktion des »RECORD COVER[s]«14 im Popkulturbetrieb: […] instead of seducing you with a beautiful or haunting visual that may never tell you. We’re letting you know that you ought to buy this record because in essence it’s a PRODUCT and PRODUCTS are to be consumed and you are a consumer and this is a good PRODUCT. We could have written the band’s name in special lettering so that it stood out and you’d see it before you’d read any of this writing and possibly have bought it anyway. What we are really suggesting is that you are

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Vgl. D. Hamilton: Einleitung, S. 11. Simon Frith: The sociology of rock, London 1978, S. 86. Ebd. Vgl. hierzu auch R. Behrens: Parergon, Etui, Cover, S. 116. Diedrich Diederichsen: »Was ist Pop? XTCsNRG«, in: Sounds (1980), H. 2, S. 34–36, hier S. 34. XTC: Go 2, London: Virgin Records 1978.

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Ronald Röttel: Verpackungen der Literatur

FOOLISH to buy or not buy an album merely as a consequence of the design on its cover. This is a con because if you agree then you’ll probably like this writing – which is the cover design – and hence the album inside. But we’ve just warned you against that. The con is a con. A good cover design could be considered as one that gets YOU because YOU know it’s just a design for a cover. And this is the RECORD COVER.15 Das Coverdesign macht so auf die paradoxe Figur aufmerksam, dass auch die Kritik an der Warenästhetik von dieser vereinnahmt werden kann (Abb. 2). Auch in Deutschland gerät die Rolle der Verpackung Anfang der 1970er Jahre ins Sichtfeld einer theoretischen Beschäftigung mit Pop- bzw. Rockmusik,16 die sich jedoch nicht affirmativ wie Frith, sondern kritisch zu den manipulativen Oberflächen der popmusikalischen Konsumprodukte verhält. So expliziert etwa Wolfgang Fritz Haug in seiner 1971 erscheinenden Kritik der Warenästhetik anhand von Andy Warhols LP-Coverdesign für Sticky Fingers von den Rolling Stones die allgemeine Logik der Ware.17 Die, so Haug, von »Andy Warhol […] für einen amerikanischen Konzern [entworfene] Schallplattenhülle«,18 auf der sich ein in das Cover eingenähter, tatsächlich zu öffnender Jeans-Hosenstall befindet, verhandle die obszöne Struktur der Warenästhetik selbst, insofern sie »die Werbung für den Penis wieder rücküberträgt auf die Oberfläche einer andern Ware, eben einer Schallplatte.«19 Haugs Kritik der Warenästhetik steht dabei insgesamt ein für einen kritischen Umgang mit Konsumoberflächen und oberflächenästhetischen Programmen, die Gegenstand der vorliegenden Arbeit sind. Die von der Tiefe abgekoppelte Oberfläche sei Resultat einer »ästhetische[n] Abstraktion der Ware«,20 die die »Sinnlichkeit und [den] Sinn der Sache«21 voneinander ablöse und getrennt verfügbar mache. Die vorliegende Arbeit vertritt

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Ebd. Vgl. Hans-Jürgen Feurich: »Warengeschichte und Rockmusik«, in: Wolfgang Sandner (Hg.), Rockmusik. Aspekte zur Geschichte, Ästhetik, Produktion, Mainz 1999, S. 53–80, hier S. 58–59. Vgl. zur zentralen Bedeutung von Haugs Text für eine sich bis in das 21. Jahrhundert tradierende kritische Haltung zur Ästhetik der Ware und des Produkts, Heinz Drügh: »Einleitung«, in: ders./Björn Weyand/Bernhard Metz (Hg.), Warenästhetik. Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst, Frankfurt a.M. 2011, S. 9–44, hier S. 10–12. Wolfgang Fritz Haug: Kritik der Warenästhetik, Frankfurt a.M. 1971, S. 133. Vgl. hierzu Diedrich Diederichsen: »Was ist rund, schwarz und steckt in der Unterhose?«, in: ders.: Kritik des Auges. Texte zur Kunst, Hamburg 2008, S. 177–188. Diederichsen begreift die Schallplattenhülle als »Verpackung par excellence«, da sich in auffälliger Weise sowohl die Kritiker der ›Verpackungsästhetik‹ als auch diejenigen, die eine affirmative Haltung zu dieser einnehmen, zumeist die Schallplattenhülle als Beispiel herausgreifen würden. (Ebd., S. 168) W. F. Haug: Kritik der Warenästhetik, S. 133–134. Ebd., S. 78. Ebd.

2. Poptypografie, Layoutoberflächen, Literaturformate

demgegenüber die Position, dass die verschiedenen im Folgenden erläuterten oberflächenästhetischen Programme die auf ihren bloßen Sinn reduzierten textlichen und musikalischen Artefakte wieder konzeptionell um ihre Sinnlichkeit erweitern.

Abb. 2: Schallplattencover von XTC’s zweitem Album Go 2 von 1978 (31,5 x 31,5 cm).

Bei Haug wiederum ist die sich qua Abstraktion vollziehende Trennung von Sinn und Sinnlichkeit zunächst rein funktionell zu verstehen und materialisiert sich erst in einem zweiten Schritt als Prinzip in Form einer besonderen Aufwertung von Verpackungsdesigns: Zunächst bleibt die funktionell bereits abgelöste Gestaltung und Oberfläche, der bereits eigene Produktionsgänge gewidmet werden, mit der Ware verwachsen wie die Haut mit dem Körper. Doch bereitet die funktionelle Differenzierung die wirkliche Ablösung vor, und die schön präparierte Oberfläche der Ware wiederholt sich in der Verpackung, die indes nicht wie das bloße Einwickeln als Schutz vor den Gefahren des Transports gedacht ist, sondern als das eigentliche Gesicht, welch selbes statt des Warenleibs der potenzielle Käufer zunächst zu sehen bekommt und in das sich die Ware, wie die Tochter des Geisterkönigs in ihr Federkleid, einwickelt und ihre Gestalt verwandelt, um auf den Markt und ihrem Formwechsel entgegenzufliegen. Um dem Geld das Entgegengehen zu erleichtern, ist

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Ronald Röttel: Verpackungen der Literatur

man zunächst bei einer nordamerikanischen Bank, dann allgemein dazu übergegangen, nun auch die Scheckformulare in euphorisierenden Popfarben zu gestalten. Nachdem die Oberfläche der Ware sich von dieser abgelöst hat und zu ihrer zweiten Oberfläche geworden ist, die in der Regel unvergleichlich perfekter als die erste ist, löst sie sich vollends los, entleibt sich und fliegt als bunter Geist der Ware in alle Welt, zirkuliert drahtlos in jedes Haus, die wirkliche Zirkulation der Ware anbahnend.22 Die Loslösung des Tausch- vom Gebrauchswert spiegelt sich in den von den Tiefen des Sinns abgelösten farbigen Popoberflächen. Haugs kritischer Haltung im deutschsprachigen Diskurs der 1970er Jahre steht fast zeitgleich eine affirmative Diskursposition gegenüber, die die Popkulturindustrie und ihre Tendenz zur Aufwertung von Verpackungsoberflächen und werbenden Produktperitexten nicht als Synekdoche der kapitalistischen Warenlogik, sondern als kapitalismuskritischen Reflex begreift. Diese Position nimmt der Sounds-Redakteur und Buchautor Helmut Salzinger ein, der von späteren Sounds-Autoren wie etwa Diedrich Diederichsen als Begründer popjournalistischer Schreibweisen in Deutschland angesehen wird. In Swinging Benjamin seiner Auseinandersetzung mit Benjamins erstmals 1936 in französischer Übersetzung in der von Max Horkheimer begründeten Zeitschrift für Sozialforschung erschienenem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit stellt Salzinger Benjamins Thesen ›vom Kopf auf die Füße‹. Der Verlust der Aura des Kunstwerks sei Salzinger zufolge ein notwendiger Schritt innerhalb einer kulturellen Dialektik, da mit »der technischen Reproduzierbarkeit« immer auch schon »die technische Produzierbarkeit mitgegeben«23 sei. Die technische Vervielfältigung könne daher von der Kunst als künstlerisches Verfahren vereinnahmt und so unschädlich gemacht werden. In Swinging Benjamin kommt Salzinger zudem wenig überraschend auch auf Haugs zwei Jahre zuvor erschienene Kritik der Warenästhetik zu sprechen und kritisiert dabei vor allem Haugs Äußerungen zur Schallplattenhülle und insbesondere zu Warhols Cover-Design für Sticky Fingers:

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Ebd., S. 78–80. Helmut Salzinger: Swinging Benjamin, Frankfurt a.M. 1973, S. 97. Bemerkenswerterweise versteht Benjamin die Aura des Kunstwerks, die durch die technische Reproduzierbarkeit verloren geht, im Sinne einer Hülle: »Die Entschälung des Gegenstandes aus seiner Hülle, die Zertrümmerung der Aura« fordert, so könnte man es vorsichtig formulieren, eine neue Hülle, nämlich die Warenverpackung. (Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M. 1963, S. 15) Vgl. zudem zur Bedeutung der Buchgestaltung bei Walter Benjamin die Arbeit von Sven Schöpf: »SCHRIFT […] FÄLLT BEIM LESEN NICHT AB WIE SCHLACKE«. Die buchmediale Visualität von Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels, Bielefeld 2022.

2. Poptypografie, Layoutoberflächen, Literaturformate

Haugs Einwände gegen die Verpackungsästhetik sind deshalb undialektisch, weil er übersieht, daß die Verpackung in diesem Zusammenhang bereits selber Inhalt geworden ist. Das Album ist nicht bloß die Platte, sondern die Platte in einem ästhetischen-funktionalen Kontext, der das ganze Ding, das Album, zur eigentlichen Ware macht. Haug will natürlich nur die Platte. Es scheint, er kann nicht spielen. Darum entgeht ihm, wie weit die Ästhetisierung des gesamten Warenverkehrs im Konsumbereich bereits fortgeschritten ist. Warenkonsum ist Spiel.24 Salzinger fordert insofern einen spielerischen Umgang mit der Ware, der die spielerische Komponente der produktionsästhetischen Seite von (Pop-)Musik auch auf die Form ihrer Rezeption bzw. ihres Konsums überträgt. Salzinger nennt dabei noch einen weiteren zentralen Aspekt der Popmusik, nämlich dass ihre Ästhetik auf der Logik beruht, die Verpackung bzw. die Oberfläche zu priorisieren. Dabei hebt er an der werbenden Verpackung und ihrer Funktion im kapitalistischen Konsumsystem ihre dialektische Form hervor. Denn bei Schallplattenhüllen handele es sich um ausgezeichnete Waren, die ihren Warencharakter nicht »verleugne[n], sondern geradezu hervorkehr[en], um zugleich mit ihrem eigenen Warencharakter den unausweichlichen Warencharakter jeglicher gesellschaftlichen Beziehung im Kapitalismus zu denunzieren […].«25 Popmusik ist insofern eine Kunstform, die nicht mehr versucht, einen autonomen Eigenwert abseits der Konsumlogik zu behaupten, sondern den allgegenwertigen kulturindustriellen Rahmen jeder Form von kultureller Produktion markiert und reflektiert. Diese Tendenz zeigt sich bei der Schallplattenhülle sehr viel früher und in auffälligerer Weise als beim Buchcover, wohl auch deshalb, weil das Medium der Schallplatte für die Popkultur seit 1960 sehr viel relevanter ist als das Medium des Buches. Folgerichtigerweise richtet sich die Kritik Haugs zunächst vor allem gegen die aufwendig gestalteten Schallplattencover, nicht aber gegen besonders gestaltete Buchumschläge. Doch auch im deutschen Literaturbetrieb der 1970er Jahre stoßen Haugs Thesen zur Warenästhetik auf Kritik. So äußert sich bemerkenswerterweise neben Salzinger auch Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld in seiner Geschichte über die Buchgestaltung im Suhrkamp-Verlag Der Marienburger Korb zu Haugs Kritik der Warenästhetik, die in der von Unseld begründeten Taschenbuch-Reihe edition suhrkamp erscheint. Unseld diskutiert darin insbesondere Haugs Einwände in Bezug auf das Taschenbuch als Konsumformat der Literatur. Denn Unseld versteht die edition suhrkamp als Mittelglied zwischen einem Format, dass an einem konsumautonomen Ei24

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H. Salzinger: Swinging Benjamin, S. 106. In diesem Zusammenhang scheint es zudem erwähnenswert, dass Salzinger 75 ›Alternativübersetzungen‹ von The Rolling Stones-lyrics für das von Teja Schwaner, Jörg Fauser und Carl Weissner herausgegebene Rolling Stones Songbook anfertigte. Teja Schwaner/Jörg Fauser/Carl Weissner (Hg.): Rolling Stones Songbook, Frankfurt a.M. 1977. H. Salzinger: Swinging Benjamin, S. 107.

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Ronald Röttel: Verpackungen der Literatur

genwert der Literatur festhält und zugleich eine notwendig gewordene Übersetzung der Literatur in ein Konsumgut leistet.26 Schon allein die Auseinandersetzung Unselds mit dieser Frage zeigt zudem an, dass sich im Falle des Buchs, genauer des Buchcovers und des Schutzumschlags, eine ähnliche Kritik formulieren lässt, wie im Falle der Schallplatte. Denn der Schutzumschlag nimmt wie auch die Schallplattenhülle nicht nur eine schützende, sondern auch eine werbende Funktion ein und markiert laut Klaus Detjen vor allem wegen letzterer Funktion den Beginn moderner Buchgestaltung: Man kann vorbringen, daß die Geschichte des modernen Buchumschlags in dem Moment einsetzt, als man um den bis dahin geprägten oder bedruckten Einband (aus Leinen oder Papier) eine zusätzliche Hülle zum Schutz des Einbands legt, die gleichzeitig als Hinweis und Werbefläche für Autor, Titel und Verlag zu dienen hat.27 Über diese rein werbende und informative Funktion hinausgehend wohnt der Verpackung des Buchs, darauf weist Detjen hin, auch das Potenzial inne, selbst Teil des literarischen Textes zu werden. Gerade die Avantgarde-Strömungen des 20. Jahrhunderts begriffen den »Buchumschlag als grafische Oberfläche«28 und Erweiterung des literarischen Textes. Es lässt sich demnach festhalten, dass sich im Falle der Schallplattenhülle wie auch im Falle des Buchumschlags ähnliche Entwicklungen nachzeichnen lassen. Zudem finden, dies bemerkt Rolf Dieter Brinkmann 1969 in Der Film in Worten, durchaus auch Wechselwirkungen zwischen Bild und Text sowie Schallplattenund Buchgestaltung statt. Es handle sich nämlich, so Brinkmann, der die typografischen Oberflächen anders als Haug fokussiert statt diese abzuwerten, um »eine Bewegung […], die nicht mehr hauptsächlich durch Literarisierung bestimmt wird, doch auch keineswegs Literarisches ausschließt. Vermischungen finden statt – Bilder, mit Wörtern durchsetzt, Sätze, neu arrangiert zu Bildern und Bild-(Vorstellungs)zusammenhängen, Schallplattenalben, aufgemacht wie Bücher … etc.«29 Brinkmann meint damit vermutlich die aufwändig gestalteten, aufklappbaren LP-Klappcover, wie sie in den 1960er Jahren virulent wurden.30 In der Praxis der Textproduktion Brinkmanns wird dies ebenso ausgelotet. Brinkmanns Beitrag 26 27 28 29 30

Siegfried Unseld: Der Marienburger Korb. Über Buchgestaltung im Suhrkamp Verlag. Willy Fleckhaus zu Ehren, Hamburg 1976, S. 66. Vgl. Klaus Detjen: [Außenwelten] Zur Formsprache von Buchumschlägen, Göttingen 2018, S. 13. Ebd., S. 11. Rolf Dieter Brinkmann: »Der Film in Worten«, in: ders./Ralf-Rainer Rygulla (Hg.), Acid. Neue amerikanische Szene, Darmstadt 1969, S. 381–399, hier S. 384. Vgl. D. Hamilton: Einleitung, S. 14.

2. Poptypografie, Layoutoberflächen, Literaturformate

Wie ich lebe und warum (1970) in der im März Verlag erschienenen, von Renate Matthaei herausgegebenen Anthologie Trivialmythen, die sich als »Konzentrat der Oberfläche«31 begreift, besteht ausschließlich aus Bildern.32 Dennoch scheinen im Falle des Buches, vor allem des literarischen, die Hürden für eine solche Aufwertung der ›Verpackung‹ größer gewesen zu sein. So prangert etwa Rainald Goetz in einem Kommentar zu einem in seinem Debütroman Irre von 1983 abgedruckten Comicpanel aus einem Lustigen Taschenbuch, auf der Donald Duck seinen Unmut über das in dem Panel dargestellte Vorhaben dreier Akteure äußert, folgenden Umstand an: Warum gefällt dem Herrn Donald die Sache nicht? Sie wird doch schon im 33. Jahrgang unter der chefredaktionellen Verantwortung von Frau Doktor Erika Fuchs wöchentlich in den leuchtendsten Farben im Kupfertiefdruck auf ein Papier hingedruckt und dann vieltausendfach an die Jugend der Welt verkauft. Jeden normalen Menschen freut das sehr. Nur der BuchSchreiber muß neidig sein. Weil nie im Leben kriegt er einen Kupfertiefdruck. Sogar die Chinesische Folter für PsychatriePatienten, PsychatrieProfessoren und KulturLangweiler darf buchmäßig nur SchwarzWeiß daherkommen, obwohl sie bei mir daheim total bunt und drohend drohen darf.33 Goetz fordert so im Text selbst, dass die Gestaltungsmöglichkeiten typografischer Oberflächen auch im Falle der ›Chinesische[n] Folter für PsychatriePatienten, PsychatrieProfessoren und KulturLangweiler‹, mit anderen Worten Goetz’ Roman Irre über ein nüchternes SchwarzWeiß-Design hinausreichen sollen. Bemerkenswert ist hierbei, dass die von Goetz für das Buch eingeforderte ›auffällige‹ Oberfläche sich abermals an einem alternativen Medium orientiert, nämlich dem Comic, den Marshall McLuhan in Understanding Media nicht umsonst als Vorläufer des Fernsehens begreift.34 Anders als bei Literaturlayouts, die die bildliche Komponente des literarischen Textes in den Hintergrund treten lassen, beschränkt sich die typografische Dimension des Textes im Falle von Comics nicht auf eine nüchterne Gestaltung. Vielmehr rückt bei Comics die bildliche Dimension ins Zentrum und die textliche Komponente in den Hintergrund.

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Renate Matthaei (Hg.): Trivialmythen, Frankfurt a.M. 1970, S. 10. Vgl. zum Aufbau des Bandes Georg Stanitzek: »Etwas das Frieda Grafe gesagt hat«, in: Heinz Drügh/Björn Weyand/ Bernhard Metz (Hg.), Warenästhetik. Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst, Frankfurt a.M. 2011, S. 175–195, hier S. 192–193 und ders.: Essay – BRD, Berlin 2011, S. 168–188. Vgl. Rolf Dieter Brinkmann: »Wie ich lebe und warum (1970)«, in: R. Matthaei (Hg.), Trivialmythen, Frankfurt a.M. 1970, S. 67–73. Rainald Goetz: Irre, Frankfurt a.M. 1983, S. 275. Marshall McLuhan: Understanding Media. The extensions of Man, Berkeley 2013, S. 278–287.

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Ronald Röttel: Verpackungen der Literatur

Neben Schallplatten und Comics findet sich noch ein weiteres Medium, das der von Goetz eingeforderten Emphase der Gestaltung des materiellen Körpers literarischer Texte Vorschub leistet, nämlich die Zeitschrift. Ausgangspunkt der Anfang der 1980er Jahre aufkommenden Design-, und Layoutemphase im Kontext von Druckerzeugnissen ist also zunächst nicht das Buch, sondern aufwändig gestaltete Popmusik- und ›Zeitgeist‹-Magazine. Zumal sich bei diesen eine besondere Verzahnung von Format (aufwändige Layouts, großformatige Zuschnitte, farbige Hochglanz-Cover) und den besprochenen Inhalten und Haltungen (affirmativ statt kritisch, poppige Oberflächlichkeit statt Tiefsinn) bemerkbar macht. Mit der Emphase der typografischen Oberfläche geht so auch eine spezifische Ästhetik einher, die Oberflächlichkeit nicht länger abwertet, sondern als bedeutsame Dimension des (pop-)kulturellen Diskurses aufwertet. Wobei sich im Lager der Popjournalist:innen schnell auch eine ablehnende Haltung gegenüber der grassierenden Fokussierung von Oberflächen formuliert. Laut Diedrich Diederichsen, der dieser Tendenz zunächst ablehnend gegenübersteht, handelt es sich um eine Bewegung, die sich von England ausgehend schnell über Europa ausbreitet und ebenso schnell im Zeitschriften-Mainstream ankommt: Mit ›The Face‹ hat ja das ganze Elend begonnen. Vorher war die Stadtzeitungspest ja noch eine ehrlich-mufflig-scheissige gewesen, plötzlich sahen sie alle nach was aus, von Bremen bis Kassel und über Bochum-Nürnberg wieder zurück. Die wenigen Stadtzeitschriften, die weiter auf grau-schwarzem Dreckspapier Unbedarftheiten äußerten, wurden wie von selbst zu besten Freunden.35 Die Kritik richtet sich gegen Inhaltslosigkeit infolge einer Überbetonung der reinen Oberfläche, der reinen Form. Dass, was man an Popmusik so schätzt, nämlich die bunten Oberflächen, wird bezogen auf das Medium der Zeitschrift gerade nicht affirmiert, sondern kritisiert. Ironische Spitzen richten sich vor allem gegen die von The Face inspirierten, das Layout betonenden ›Zeitgeist‹-Zeitschriften in Deutschland, wie etwa Elaste, Tempo und Wiener. An der Spex hebt Diederichsen dagegen hervor, dass diese anders als »The Face, Tempo, Wiener […] einen Gegenstand (Musik) […] und nicht nur einen Anlaß (Anzeigengeschäfte)«36 habe. Demnach

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Diedrich Diederichsen: »Zeitschriften«, in: Spex (1986), H. 7, S. 49, hier S. 49. Ebd. Vgl. zum Verhältnis von redaktionellen Inhalten und Anzeigen ausführlich Kap. 4.2.3 der vorliegenden Arbeit. Vgl. hierzu auch Diederichsen, der sich in einem Gespräch zur Geschichte des Pop-Journalismus in Deutschland auch zu den zeitweise verfeindeten Lagern Tempo und Spex äußert und erneut Tempo dafür in die Kritik nimmt, bloß für »Anzeigenkunden geschrieben zu haben«. Diedrich Diederichsen/Erika Thomalla/Cornelius Reiber: »›Ich sage schon seit geraumer Zeit nicht mehr Ich‹. Ein Gespräch über Schreibentscheidungen und deutschsprachigen New Journalism«, in: Text+Kritik. Sonderband Literarischer Journalismus (2022), H. 6, S. 219–230, hier S. 227.

2. Poptypografie, Layoutoberflächen, Literaturformate

entspringt die Überbetonung der Oberfläche – was sowohl die typografische als auch die Oberfläche der Warenform miteinschließt – aus einem Mangel an Gehalt. ›Zeitgeist‹-Zeitschriften seien demnach anders als Musikzeitschriften inhaltlose und werbende Oberflächen, deren Machart ohne einen eigentlichen Gegenstand auskommt, was durch ein aufwändig gestaltetes Layout kompensiert wird. Dabei hatte auch Spex, also die Zeitschrift, in der sich diese Kritik an der Fokussierung typografischer Oberflächen lesen lässt, ähnlich wie jene dezidiert auf Layout-Experimente ausgerichteten ›Zeitgeist‹-Magazine, großformatig begonnen, allerdings – hier noch mehr in der Tradition der ›Punk‹-Fanzines stehend – auf dünnem Zeitungspapier in SchwarzWeiß gehalten. Doch dieser Umstand hält die SpexAutor:innen nicht davon ab, der Reihe nach gegen die Zeitgeistzeitschriften zu polemisieren. Die Hamburger Zeitschrift Sounds, für die viele der Spex Autor:innen wie etwa Diederichsen vor Ihrer Zeit in Köln schrieben, bleibt dagegen bis zur Einstellung des Heftes 1982 dem alten, ästhetisch in die frühen 1970er Jahre verweisenden Layout und Schriftzug treu, was nicht der ausschlaggebende Punkt für die Einstellung der Zeitschrift war, aber sicherlich dazu beigetragen hat, insofern der Avantgarde-Anspruch der Texte nicht mit deren Layout zusammen ging.37 Besonders beispielhaft hierfür ist eine Anekdote des Sounds-Redakteurs Jörg Gülden über den Grafiker der Sounds, die Gülden in einem Text erzählt, der sich in dem zweiten, thematisch dem ›Punk‹ gewidmeten Hefts von Rock Session, einem Musikmagazin des Rowohlt-Verlags, das in Kooperation mit der Sounds-Redaktion entstanden ist, abgedruckt findet: »Na, eines Tages, da war er ›der Punk‹. Von da an layoutete er unsere Zeitung zwar immer noch recht anständig, hielt jedoch nun rund 80 % des musikalischen Inhalts für uninteressant und betitelte uns fortan als ›langweilige, alte Fürze‹.«38 Das Urteil des Grafikers über die Sounds scheint sich dabei jedoch nicht ausschließlich auf die Musik sondern auch auf ihr Layout bezogen zu haben, das dieser sicherlich lieber weniger ›anständig‹ gelayoutet hätte, als dies von der Redaktion erwartet wurde. Dass Spex ihr typografisches Gewand anders als die Sounds an die Mode der frühen 1980er Jahre anpasste, war wesentlich für ihren Erfolg, aus der Perspektive ei37

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Vgl. zur besonderen Bedeutung von Sounds für die pop-nahe Literatur der 1980er und 1990er Jahre Thomas Hecken: »Literaturkritik und ›Sounds‹. Zu einer Vorgeschichte der Popliteratur«, in: André Menke: Die Popliteratur nach ihrem Ende. Zur Prosa Meineckes, Schamonis, Krachts in den 2000er Jahren, Bochum 2010, S. 121–149; Thomas Hecken: »Einige Zeitschriftenzitate rund um Meinecke in den Jahren 1982–86«, in: C. Jaekel (Hg.), transLIT 2018, S. 126–134. Vgl. außerdem Ronald Röttel: »›Sounds Diskurs‹: New Wave, frühe FSK, Diedrich Diederichsen«, in: C. Jaekel (Hg.), TransLit 2018, S. 118–125. Jörg Gülden: »Aus dem Tagebuch eines langweiligen alten Furzes«, in: Rock Session. Magazin der Populären Musik (1978), H. 2, S. 72–81, hier S. 72. Außerdem findet sich darin der britische ›Punk Roman‹ von Gideon Sams abgedruckt. Gideon Sams: »The Punk«, in: Rock Session. Magazin der Populären Musik (1978), H. 2, S. 33–71.

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Ronald Röttel: Verpackungen der Literatur

niger Spex-Autor:innen aber wohl mehr ein notwendiges Übel. Denn so wie Diederichsen beklagt auch Rainald Goetz in seinen frühen Publikationen in der Spex an verschiedener Stelle die übermäßige Betonung des Layouts in der Pop-Zeitschriftenkultur im Deutschland der frühen 1980er Jahre.39 In seinem ersten in der Spex veröffentlichten Text Gewinner und Verlierer kritisiert er vor allem das prototypische ›Zeitgeist‹-Magazin Elaste, für dessen Redakteure Layout und Format des Magazins essentiell seien, was für Goetz mit einem Mangel an Ideenreichtum einhergeht: Diese ganzen jungen Menschen, […] die […] von den 2 Ideen, die sie pro Jahr so haben, ein bißchen Fluxus, Luxus und Elaste machen, die teilen im Editorial mit: Wir wollen aufhören mit dem New Wave, normaler werden, alles viel normaler. – Aber warum denn Jungs, umgotteswillen, ist doch gerade so richtig lustig, Bodoni Univers halbfett und gewöhnlich Art Directors Club Preise, lauter schönes Layout, so ein schöönes Layout findet doch jeder finde ich auch total schöön könnte man ja auch noch mehr verschöönern […].40 Das für die vorliegende Arbeit titelgebende Zitat von Goetz zeigt so in deutlicher Weise den bestehenden Konflikt an, der die Zeitschriftenlandschaft der 1980er Jahre 39 40

Vgl. zur Bedeutung des Mediums Zeitschrift bei Goetz Thorsten Rudolph: irre/wirr: Goetz. Vom ästhetischen Terror zur systemischen Theorie, Paderborn 2008, S. 124–159. Rainald Goetz: »Gewinner und Verlierer«, in: Spex (1984), H. 2, S. 40–44, hier S. 43. Bei Fluxus Luxus handelt es sich um ein ebenfalls in München situiertes Kunstprojekt, wie aus einer Anzeige in Elaste für eine ›Produktausstellung‹ von Fluxus Luxus hervorgeht. Fluxus Luxus: »Fluxus Luxus«, in: Elaste (1982), H. 4/5, S. 86–87. Dass hier gerade die Schriftart Bodoni im Zentrum der Debatte um Nutzen und Kritik an der typografischen Oberfläche steht, ist zusätzlich bemerkenswert, da der Namensgeber der Type, Giambattista Bodoni, eine nicht unwesentliche Rolle in der Geschichte der Typografie einnimmt. Insbesondere dessen Manuale tipografico ist typografiegeschichtlich von besonderer Bedeutung. Vgl. Giambattista Bodoni: »Vorwort des Cavaliere Bodoni an den Leser«, in: ders.: Handbuch der Typografie [Manuale tipografico], hg. von Stefan Füssel, Köln 2016, S. 724–742. Dieses sollte zur Verbesserung der Typografie und zur Vorbereitung von Bodonis Idealen einer klassischen Typografie beitragen, in deren Zentrum, wie Bodoni im Vorwort zum Handbuch schreibt, »Anmut und Reinheit« (Bodoni: Vorwort, S. 725) stehen. Die Typografie und der Buchdruck werden darin zudem zur Kunst erhoben. Bodoni spricht dezidiert von der »typografischen Kunst« (ebd., S. 727) und »Kunst des Buchdrucks« (ebd., S. 728). Zudem findet sich in Bodonis Vorwort – den Idealen der klassischen Typografie entsprechend – eine Kritik am Zierrat und Ornament, wobei Bodoni konziliant je nach typografischem Kontext zwischen Ornamentablehnung und -affirmation vermittelt (vgl. ebd., S. 728–729). Was Bodoni ebenfalls an einer gelungenen Typografie hervorhebt und was in gewissem Sinne auf die Gestaltung von Hochglanzmagazinen voraus weist, ist die »Glätte der Typen« (ebd., S. 730) sowie »Glanz und Glätte der Oberflächen« (ebd., S. 731) des Papiers, wobei auch dies nicht übertrieben werden dürfe, so dass die Buchseite zu einer »blinkenden Fläche« (ebd., S. 732) würde. Bodoni antwortet dabei auf eine Kritik am Glanz der Buchseite, die das Lesen erschwere und ein wenig an gegenwärtige Medienkritik am Lesen auf dem iPad etc. erinnert.

2. Poptypografie, Layoutoberflächen, Literaturformate

bestimmt und insbesondere Goetz nimmt dabei eine besondere Rolle ein, da er diese Layoutemphase für die Literatur einerseits einfordert und an Elaste andererseits kritisiert. Goetz’ Verweis auf den Art Directors Club-Preis legt zudem einen weiteren Hinweis aus, der einen für den in der vorliegenden Arbeit adressierten Zusammenhang zentralen Diskursstrang eröffnet. Das deutsche Jahrbuch des Art Directors Club führt nämlich tatsächlich 1982 die Rubrik »Editorial – Gestaltung einer Zeitschrift«41 ein. Prämiert werden in der ersten Hälfte der 1980er Jahre unter anderem die Layouts der Zeitschriften Instant, Cult, TransAtlantik, für die auch Goetz schreibt,42 außerdem die Neuauflage der twen und nicht zuletzt gleich mehrfach Elaste, nämlich Heft 3 und Heft 4/5 im Jahrbuch von 198343 und Heft 7 im Jahrbuch von 1984.44 In der zweiten Hälfte der 1980er und Anfang der 1990er Jahre wird mehrfach auch Tempo prämiert, erstmalig 1987 für die Dezember-Ausgabe 1986, die Januar-Ausgabe 1987 sowie eine von der Tempo-Redaktion konzipierte Todesanzeige für Joseph Beuys.45 Der unter anderem von Willy Fleckhaus gegründete deutsche Art Directors Club, dessen Jahrbuch erstmalig 1965 erscheint,46 ist zudem nicht erst seit den 1980er Jahren eine maßgebliche Institution für die Bewertung von Designoberflächen und Zeitschriftenlayouts. Zwischen den verschiedenen Dekaden dieses Diskurses vermittelt wiederum ein literarischer Text, in dem nicht zuletzt auch Zeitschriften und Design eine Rolle spielen. So kommt nämlich der Erzähler von Jörg Fausers 1984 bei Ullstein erschienenem, jedoch in den späten 1960er Jahren situiertem Roman Rohstoff auf die Preise des Art Directors Club zu sprechen. In Fausers Roman, der unter anderem von der Konzeption der DIY-Zeitschrift Zero handelt, berichtet der autodiegetische Erzähler, er könne »das Layout der Zero Zeitung auch notfalls alleine basteln. Gut, den Preis der Art-Direktoren würde ich wahrscheinlich nicht bekommen, aber schließlich wollte ich jetzt ja auch ein richtiges Untergrund-Blatt machen.«47 Gerade hieran wird ein Unterschied zwischen den 1980er Jahren, in 41 42

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ADC: Art Directors Club Deutschland. Jahrbuch 1982, Düsseldorf 1982, S. 235. Rainald Goetz: »Reise durch das deutsche Feuilleton«, in: TransAtlantik (1981), H. 8, S. 12–23. Vgl. zur TransAtlantik und Goetz’ Text Christopher Busch: »Schreibhaltungen. Rainald Goetz’ früher Journalismus zwischen Verständigungstext und New Journalism«, in: Text+Kritik. Sonderband Literarischer Journalismus (2022), H. 6, S. 124–133, hier S. 127–130. ADC: Art Directors Club Deutschland. Jahrbuch 1983, Düsseldorf 1983, S. 250–251, 254–255. Vgl. hierzu auch das Kap. 4.2.3 der vorliegenden Arbeit. ADC: Art Directors Club Deutschland. Jahrbuch 1984, Düsseldorf 1984, S. 288–289. ADC: Art Directors Club Deutschland. Jahrbuch 1987, Düsseldorf 1987, S. 240–243, 270. ADC: Art Directors Annual für Werbung und Zeitschriften (1), Düsseldorf 1965. Jörg Fauser: Rohstoff, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1984, S. 92. Es gibt tatsächlich ein Untergrund- bzw. Alternativkultur-Blatt namens Zero, das in den 1970er Jahren erscheint, allerdings herausgegeben von Benjamin und Carl-Heinz Urselmann, vgl. hierzu: Helmut Hartwig: »KOMPOST und Kritik. Zur Ästhetik der Alternativszene«, in: Ästhetik & Kommunikation: Neue Lebensformen (1978), H. 9, S. 57–71, hier S. 62, 68. Die Zeitschrift Zero in Fausers autofiktionalem Roman steht dagegen wohl für die von Fauser mitherausgegebene Frankfurter

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Ronald Röttel: Verpackungen der Literatur

denen der Roman erscheint, und den 1960er Jahren, in denen der Roman spielt, deutlich. Denn eine solche kategorische Ablehnung der Institution des Art Directors Club gilt so für die Zeitschriftenmacher:innen 1980er Jahre nicht mehr. So finden sich neben Goetz und Diederichsen nicht wenige Akteure wie etwa Michael Schirner, denen an einer Integration der Szene und des sogenannten ›Untergrunds‹ in die Jahrbücher des Art Directors Club gelegen ist. Mit der Fokussierung von Konsumoberflächen in der ›New Wave‹-Kultur der 1980er Jahre geht auch eine – mitunter ironische – Affirmation der Bewertungsinstitutionen für Konsumästhetik und -oberflächen einher.48 Die Integration und Entmarginalisierung des Paratextes schließt insofern nicht nur die typografischen Peritexte wie Seitenlayouts, Cover und Umschläge mit ein, sondern auch die externen Epitexte, die die Qualität dieser typografischen Oberflächen bewerten, und die diese damit abgesehen von der individuellen Bewertung einzelner Zeitschriftendesigns als Elemente von Druckerzeugnissen strukturell aufwerten.

2.2 »[D]en Rahmen […] in die Gescheitheit aufsprengen«: Parerga, Paratexte Eine Aufwertung der ›Verpackung‹ impliziert auch eine allgemeine Aufwertung des Rahmens, was sich besonders gut im Falle von ›Zeitgeist‹-Zeitschriften beobachten lässt. Während Popmusikzeitschriften wie Spex Inhalte, nämlich Popmusik, rahmen, kaprizieren sich letztere auf den Rahmen selbst, die Zeitschrift. Ebendies äußert der Layouter der Spex Christoph Pracht – im Impressum späterer Hefte geführt unter dem Pseudonym CCCP (Creative Communication Christoph Pracht) – in einem Artikel in der Kölner Zeitschrift von 1986: War 1984 noch »die gute Popsingle« das Konzept schlechthin, wurde 1985 die »gute Zeitschrift« gemacht. Nullnummer und Projekt 1985: Tempo, Fritz, Magnum, Hollywood. Das neue Konzept ähnelt dem Popkonzept, gesucht wurde ein Zeitschriftenkonzept für den Zeitgeist.49 Bereits zwei Jahre zuvor stellt Pracht in einem kurzen Text in der Spex eine Chartlist für Zeitschriften zusammen, in der auch Elaste aufgeführt wird. Wie bereits im zuvor zitierten Artikel wirft er darin dem Heft vor allem Inhaltslosigkeit vor, insofern sich das ›Zeitgeist‹-Konzept als bloße Oberfläche entpuppe: »Elaste: Ein Zeitgeist-

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Zeitschrift Zoom, vgl. Anja Schwanhäußer: Stilrevolte Underground. Die Alternativkultur als Agent der Postmoderne, Hamburg/Hannover 2002, S. 80. Vgl. hierzu das Kap. 2.7 der vorliegenden Arbeit. Christoph Pracht: »Zeitschriften. Das Jahr der Konzepte«, in: Spex (1986), H. 1, S. 14.

2. Poptypografie, Layoutoberflächen, Literaturformate

Blatt, das vergißt, daß sich selbiger nicht von selbst einstellt, er muß gesucht und gefunden werden.«50 Noch konziser bringt es Rainald Goetz auf den Punkt in einer vom Autor selbst nicht autorisierten Veröffentlichung in der Spex. Einen persönlichen Brief von Goetz an Diederichsen ließ letzterer kurzerhand als Leserbrief in der Spex abdrucken, vermutlich auch weil Goetz darin gerade das Publikationsformat kritisiert: Oh Herr Diederichsen, das hat mir ja in den Augen weh getan, ihren Namen in dem Wecker- und Klemm- und deshalb KrampfLockerBlatt Spex lesen zu müssen. Da wäre mir ein hektographiertes Papier mit Ihren Gedanken eigentlich lieber. Es stimmt nämlich nur ganz selten, daß man den Rahmen von einem DummBlatt in die Gescheitheit aufsprengen kann, nur in dem man das Richtige sagt.51 Goetz’ Zweifel an der Sprengkraft interessanter Inhalte betont nicht nur die Bedeutung des Formatrahmens, sondern befragt im Allgemeinen die Rolle des ›Rahmens‹ in der Kunst. Der Leserbrief, der seinen Rahmen selbst nicht gewählt hat und diesem darum eine besondere Aufmerksamkeit schenkt, reflektiert so auf ähnliche Weise den Zusammenhang von Text und Rahmen wie die Kunsttheorie der späten 1970er Jahre. Dieses Kapitel widmet sich daher genau diesem Aspekt, um den nachfolgenden Einzelanalysen in den kommenden Kapiteln einerseits eine systematische Erörterung dieses Zusammenhangs voranzustellen und andererseits zu zeigen, wie die theoretischen Betrachtungen zum Teil selbst an diesem Diskurs um die Fokussierung typografischer und materieller Oberflächen partizipieren. So erscheint 1978 Jacques Derridas Die Wahrheit in der Malerei im Passagen-Verlag, in welchem Derrida eine »Theorie des Rahmens«52 und der Oberfläche vorlegt. Im Hinblick auf bildende Kunst – jedoch ausreichend abstrakt für eine Applikation auf literarische Texte – weist Derrida darin auf die materielle Seite von Kunstwerken hin, die er als ›parergonale Dimension‹ der Kunst ausweist.53 Derrida formuliert seine Theorie in Auseinandersetzung mit Kants »trancendentale[r] Ästhetik«,54 die methodologisch dafür geradezu prädestiniert zu sein scheint,55 bezieht sich dabei 50

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Christoph Pracht: »Zeitschriften ›83«, in: Spex (1984), H. 1, S. 28–29, hier S. 29. Interessant scheint auch, dass Pracht das für Popmusik typische wertende Ordnungsprinzip von Popmusik, nämlich die Chartlist, auf die Zeitschriftenlandschaft überträgt. Rainald Goetz: »Oh Herr Diederichsen«, in: Spex (1983), H. 3, S. 33. Jacques Derrida: Die Wahrheit in der Malerei. Aus dem Französischen von Peter Engelmann, Wien 1992, S. 62. Zur Parergonalität der Literatur vgl. Uwe Wirth: »Rahmenbrüche, Rahmenwechsel. Nachwort des Herausgebers, welches aus Versehen des Druckers zu einem Vorwort gemacht wurde«, in: ders. (Hg.), Rahmenbrüche, Rahmenwechsel, Berlin 2013, S. 15–57, hier S. 20–26. J. Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, S. 69. Denn Transzendental-Philosophie nimmt den Rahmen, d.h. die Bedingungen der Möglichkeit eines Dings, zunächst unabhängig von der Existenz des ›Dings an Sich‹, in den Blick.

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jedoch bloß auf eine recht kurze Stelle aus Kants Kritik der Urteilskraft, in der Kant die Parerga, oder Zierraten, wie Kant sie zunächst nennt,56 in zwei Typen unterteilt, nämlich solche, die, dem Formschönen ähnlich, über ihre reine Form wirken und solche, die ihre Wirkung über den materiellen Reiz erzielen. Die Frage nach dem Ergon und den Parergon stellt sich somit in doppelter Weise, einmal für den Kunstgegenstand und noch einmal für den Rahmen. Beide können bloßer Zierrat oder eben schön im kantischen Sinne sein: Selbst was man Zierraten (Parerga) nennt, d.i. dasjenige, was nicht die ganze Vorstellung des Gegenstandes als Bestandstück innerlich, sondern nur äußerlich als Zutat gehört und das Wohlgefallen des Geschmacks vergrößert, tut dieses doch auch nur durch seine Form, wie Einfassungen der Gemälde oder Gewänder an Statuen, oder Säulengänge um Prachtgebäude. Besteht aber der Zierrat nicht selbst in der schönen Form, ist er wie der goldene Rahmen, bloß, um durch seinen Reiz das Gemälde dem Beifall zu empfehlen, angebracht, so heißt es alsdann Schmuck und tut der echten Schönheit Abbruch.57 Dabei versteht die Derrida’sche Kant-Deutung das Beiwerk nicht als »überflüssige Äusserlichkeit«,58 sondern als Ausgleich eines »Mangels im Inneren des Ergons«.59 Ein Mangel an Tiefe, so könnte man auch formulieren, bewirkt eine Fokussierung des Äußerlichen, und insofern ist es nicht verwunderlich, dass Derrida ebenso auf die Oberfläche der Parerga zu sprechen kommt, die sich ihm zufolge gerade durch ihre Liminalität auszeichnet: »Die Parerga haben eine Dichte, eine Oberfläche, die sie nicht allein, wie Kant es wollte, vom ganzheitlichen Innen, vom eigentlichen Kör-

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Wobei dies für Derrida uneindeutig bleibt, insofern der Rahmen schwebend zwischen transzendentaler und akzidentieller Bestimmung verharrt bzw. seine ›Wahrheit‹ selbst bloß noch parergonal sein kann: »Ein Rahmen ist im Wesentlichen zusammengesetzt und deshalb zerbrechlich, das ist das Wesen oder die Wahrheit des Rahmens; wenn es eine solche gibt. Aber diese ›Wahrheit‹ vermag nicht mehr eine ›Wahrheit‹ zu sein, sie bestimmt nicht mehr die Transzendentalität als vielmehr die Akzidentialität des Rahmens, das heißt allein seine Parergonalität.« (Ebd., S. 94.) Den Begriff des Parergons, des Beiwerkes, als Gegenbegriff zum Ergon, dem Werk, fügt Kant erst in der zweiten Auflage der Kritik der Urteilskraft hinzu, vgl. R. Behrens: Parergon, Etui, Cover, S. 111. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Hamburg 2009, S. 78–79. Zu Kants Parergon-Begriff vor dem Hintergrund der Kunsttheorie um 1800 vgl. Till Dembeck: Texte rahmen. Grenzregionen literarischer Werke im 18. Jahrhundert (Gottsched, Wieland, Moritz, Jean Paul), Berlin 2007, S. 269–294. Vgl. zum Verhältnis von Kants Philosophie des ›Schemas‹ und der Materialität der Schrift Manfred Sommer: Stift, Blatt und Kant. Philosophie des Graphismus, Frankfurt a.M. 2020. J. Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, S. 80. Ebd.

2. Poptypografie, Layoutoberflächen, Literaturformate

per des Ergon, sondern ebenso vom Außen trennt […].«60 Diese abstrakte Nobilitierung des Parergonalen der Kunst findet sich an verschiedener Stelle im Werk Derridas auch in die konkrete Dimension von Buchmaterialitäten übersetzt. In Die Vorrichtung und der Rahmen, einem kurzen Text aus dem 1969 im PassagenVerlag erschienenen Band Dissemination, spricht er etwa von den »Oberflächeneffekt[en]«61 der Buchseite und begreift das Buch und die Typografie darin explizit als Rahmen. In einem 1992 während einer vom Collège International de Philosophie veranstalteten Tagung zur Aktualität der Psychoanalyse gehaltenen Vortrag diskutiert er wiederum die Bedeutung solcher Buch-Materialitäten, genauer des BuchEinbands, für Jacques Lacans Écrits-Werkausgabe von 1966. Gegenstand seiner Erörterung sei, so Derrida, nicht Lacan als Autor, der Fachbereich der Psychoanalyse oder gar ein über die Funktion des Autors zusammengehaltenes Werk, sondern der Moment des Einbindens der Écrits im Jahr 1966.62 Die Einheit des Diskurses wird somit nicht von einem konzeptuellen, sondern von einem materiellen Rahmen gestiftet: Der Einband (reliure) der Ecrits ist das, was sie zusammenhalten läßt und ihnen die festeste systemische Struktur, die formalisierteste Konstruktur, so formalisiert wie eben möglich, sichert. Wenn es denn einen Text gibt, der sich mehr als jeder andere in dieser Position und auf diesem Posten des Einbinders (relieur) hält, so ist dies genau das Seminar über den Entwendeten Brief.63 Derrida leitet so aus dem Moment des Einbindens der einzelnen Druckseiten der Lacan-Texte eine noch nicht weiter bestimmte ›symbolische Struktur‹ des Einbindens ab. Und nebst diesem materiellen Einband identifiziert Derrida einen zweiten vorgelagerten Einband, nämlich Lacans in den Écrits abgedrucktes Seminar zu Edgar Allen Poes Erzählung The purloined Letter. Lacans Seminar über die Poe’sche Detektivgeschichte, die um die dynamischen Orts- und Besitzerwechsel eines Briefes 60

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Ebd. So verstanden, ist gerade der Rand das zweifach Umrandete und insofern eigentliches Zentrum, von wo aus sich die Differenz Kunst/Umwelt zuallererst konstituiert: »Der parergonale Rahmen hebt sich seinerseits von zwei Hintergründen ab, aber in Bezug auf jeden dieser zwei Hintergründe; er geht im anderen auf. In bezug auf das Werk, das seinerseits als Hintergrund dienen kann, geht er in der Mauer auf […]. In bezug auf den Hintergrund, […], geht er im Werk auf, das sich von dem allgemeinen Hintergrund abhebt.« (Ebd., S. 81) Jacques Derrida: »Die Vorrichtung und der Rahmen«, in: ders.: Dissemination. Aus dem Französischen von Hans-Dieter Gondek, Wien 1995, S. 333–337, hier S. 337. Vgl. Jacques Derrida: »Aus Liebe zu Lacan«, in: ders.: Vergessen wir nicht – die Psychoanalyse!, hg. von Hans-Dieter Gondek, Frankfurt a.M. 1998, S. 15–58, hier S. 29. Vgl. hierzu ausführlich Christof Windgätter: »Vom ›Blattwerk der Signifikanz‹ oder: Auf dem Weg zu einer Epistemologie der Buchgestaltung«, in: ders. (Hg.), Wissen im Druck. Zur Epistemologie der modernen Buchgestaltung, Wiesbaden 2010, S. 6–51, hier S. 6–11. J. Derrida: Aus Liebe zu Lacan, S. 29.

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Ronald Röttel: Verpackungen der Literatur

gravitiert, legt diese als Bewegung des Signifikanten aus. Die Zeichenfolge ›lettre‹, die im französischen sowohl Brief als auch Buchstabe beutet, ist für Lacan vor allem aufgrund dieser Doppeldeutigkeit von zentraler Bedeutung, da sie so nicht nur die Bewegung, sondern zugleich auch die »Materialität des Signifikanten«64 symbolisiert. Der »Letter [Brief/Buchstabe]«65 kann zudem, so heißt es weiter, durchaus auch »im Sinne eines typografischen Elements«66 verstanden werden, wodurch sich bereits andeutet, dass auch die materielle Oberfläche von Druckerzeugnissen keine unwesentliche Rolle in Lacans Text spielt. Derrida appliziert nun wiederum Lacans vage Andeutungen zur typografischen Oberfläche auf die Materialität der Lacan’schen Werkausgabe, deren Titel Écrits, der sowohl ›Texte‹ als auch ›Schrifttypen‹ bezeichnet, bereits vermuten lässt, dass Lacans Theorien auch Eingang in die Form des Buchs gefunden haben.67 Zumal das Seminar zum entwendeten Brief eine besondere Stellung innerhalb der Reihenfolge einnimmt, in welcher die einzelnen Lacan-Texte in den Écrits angeordnet sind: Mit anderen Worten, die Écrits versammeln und binden all die Texte, aus denen sie zusammengestellt sind, in der chronologischen Ordnung (gemäß der »Diachronie«) ihrer früheren Veröffentlichung ein, mit Ausnahme genau des Seminars über den Entwendeten Brief, das, indem es am Kopf, an erster Stelle kommt, das »Privileg« (Lacans Wort) erhält, die synchronische Konfiguration der Gesamtheit bildlich darzustellen (figurer) und so das Ganze einzubinden (relier). Aus diesem Grunde ist es mir gerechtfertigt erschienen, mich in privilegierter Weise für dieses Privileg zu interessieren; und wenn ich mich dieses Wortes Einband bediene, des Einbandes (reliure), der zusammenhalten läßt im Moment des Lesens (lire) und des Wiederlesens (relire), so weil bei dem einen von zwei Malen, wo ich in meinem Leben Lacan begegnet bin und ein wenig mit ihm gesprochen habe, Lacan selbst zu mir vom Einband und eben vom Einband der Écrits gesprochen hat.68 So spiegelt die Text-Anordnung der Écrits, Derrida zufolge, eine zentrale Grundannahme von Lacans strukturaler Psychoanalyse, insofern diese der ›synchronischen Konfiguration‹ der symbolischen Ordnung eine größere Bedeutung beimisst als der diachronen Genese von Sprachen. Auch Derridas vermeintliche Anekdote über Lacan hat wiederum nicht die Funktion, ein Interesse des Autors am Einband nachzuweisen, sondern identifiziert – abermals auf einen zentralen Topos der Psychoanalyse verweisend – beim Autor selbst einen strukturellen ›Wiederholungszwang‹.

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Jacques Lacan: »Das Seminar über E.A. Poes ›Der entwendete Brief‹«, in: ders.: Schriften I, hg. von Norbert Haas, Weinheim/Berlin 1991, S. 7–40, hier S. 22. Ebd. Ebd. Vgl. C. Windgätter: Vom Blattwerk der Signifikanz, S. 6–11. J. Derrida: Aus Liebe zu Lacan, S. 30.

2. Poptypografie, Layoutoberflächen, Literaturformate

Denn bei den wenigen Begegnungen mit Derrida habe Lacan immer wieder vom Einband der Écrits und nicht, was sehr viel wahrscheinlicher gewesen sei, von etwas anderem gesprochen. Und auch eine weitere Anekdote Derridas über Lacan verweist auf die Argumentation des Seminars: Ich vergesse den Einband nicht, mit dem dies alles in Verbindung steht. Denn die andere Beunruhigung, die mir Lacan in Baltimore eingestand, betraf den Einband der Écrits, die noch nicht erschienen waren, aber deren Veröffentlichung unmittelbar bevorstand. Lacan war besorgt und auch ein wenig unzufrieden, schien es mir, mit denen, die ihm bei Seuil geraten hatten, alles in einem einzigen großen Band von mehr als neunhundert Seiten zu versammeln, dessen Einband nicht stabil zu sein und also auseinanderzugehen drohte: »Sie werden sehen«, sagte er mir und zeigte es mit den Händen, »das wird nicht halten.« Die Wiederveröffentlichung in zwei Taschenbuchbänden 1970 wird ihn beruhigt […] haben.69 Die Taschenbuchausgabe wird, wie es für die frühen 1970er Jahre noch erwartbar gewesen wäre, somit nicht als Schwundstufe des Hardcover-Einbands begriffen, sondern symbolisiert vielmehr eine adäquatere Form für die Einheit des Diskurses – wobei Derrida ein weiteres Mal das Format der Écrits auf den Inhalt ebendieser bezieht. Denn auch für Lacan ist die Materialität der Drucksache dafür prädestiniert, die Einheit eines Zusammenhangs oder Diskurses zu stiften, da der materielle Signifikant eine wirkliche »Teilung nicht zuläßt. Zerschneiden Sie einen Brief in kleine Teile, er bleibt der Brief […].«70 »Das kommt daher,« so Lacan weiter, »daß der Signifikant Einheit ist aufgrund einer Einzigkeit, da er infolge seiner Natur nur das Symbol einer Abwesenheit ist.«71 Das Auseinanderfallen der gebundenen Buchfassung der Écrits und die damit einhergehende Aufteilung der Texte auf zwei Taschenbücher symbolisiert so die Gleichzeitigkeit von Einheit und Vielheit, was abermals auf Lacans Text Bezug nimmt. Denn Lacan betrachtet »das einfache, in der Mitte durchgerissene Blatt und den unterbrochenen Kreis, wenn nicht gar den zerbrochenen Krug und ganz zu schweigen vom sich windenden durchgeschnittenen Wurm«72 als diejenigen Bilder, die ein solches Zusammenkommen zuallererst symbolisieren (und legt damit – gewissermaßen als Nebenprodukt – eine Interpretation von Kleists Der zerbrochne Krug vor). Noch stärker als Derrida geht Gérard Genette in seinem knapp zehn Jahre später, nämlich 1987, erschienenen ›Buch vom Beiwerk des Buches‹ Paratexte auf die Be-

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Ebd., S. 34. J. Lacan: Seminar, S. 22. Ebd., S. 23. Ebd.

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deutung der typografischen Oberflächen von Buchpublikationen ein.73 Unter Paratexten versteht Genette nicht zuletzt diejenigen Elemente eines Textes, durch das dieser »zum Buch wird«.74 Weiterhin heißt es, dass Paratexte, die Genette nochmals in Peri- und Epitexte unterscheidet, die »Rezeption und [den] Konsum [des Textes] in, zumindest heutzutage, der Gestalt eines Buches«75 ermöglichen. Für die vorliegende Arbeit werden vor allem die an das Buch gekoppelten Peritexte, weniger dagegen die Epitexte, wie etwa Interviews und Kritiken zentral sein (mit Ausnahme der Werbeanzeigen, die eine ebenso gewichtige Rolle spielen).76 Denn unter Peritexten versteht Genette nicht bloß Titel, Untertitel oder Klappentext, sondern auch

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Der Paratext schließt nämlich sehr wohl auch typografische Elemente mit ein, vgl. hierzu die Paratextdefinition von Georg Stanitzek. Entgegen eines – mitunter etymologisch begründeten – räumlichen Verständnis des Paratextes schlägt dieser eine Definition vor, die die materiellen Komponenten der Publikation miteinbezieht (Typografie, Layout etc.). Georg Stanitzek: »Buch: Medium und Form – in paratexttheoretischer Perspektive«, in: Ursula Rautenberg (Hg.), Buchwissenschaft in Deutschland: ein Handbuch, Berlin/New York 2010, S. 157–200. Zur Typografie als Rahmen vgl. auch Björn Ganslandt: »Typografische Rahmenbrüche«, in: U. Wirth (Hg.), Rahmenbrüche, Rahmenwechsel, Berlin 2013, S. 241–253. Annika Rockenberger und Per Röcken sprechen sich wiederum dezidiert gegen eine Applizierung des Paratextkonzeptes auf die Typografie aus, da es sich bei der Typografie im eigentlichen Sinne nicht um einen Text, sondern um die Materialisation des Textes, und damit eben auch nicht um einen Paratext handeln könne, vgl. Per Röcken/Annika Rockenberger: »TYPOGRAPHIE ALS PARATEXT? Anmerkungen zu einer terminologischen Konfusion«, in: Poetica 41 (2009), H. 3/4, S. 293–330, hier S. 327. Vgl. zum Konzept des Paratextes in der Literatur insgesamt zudem T. Dembeck: Texte rahmen, S. 1–24; Georg Stanitzek: »Texte, Paratexte, in Medien: Einleitung«, in: ders./Klaus Kreimeier (Hg.), Paratexte in Literatur, Film und Fernsehen, Berlin 2004, S. 3–19; und ebenfalls daraus Natalie Binczek: »Epistolare Paratexte: Über die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts in einer Reihe von Briefen«, in: G. Stanitzek/K. Kreimeier (Hg.), Paratexte in Literatur, Film und Fernsehen, S. 117–133; sowie Georg Stanitzek: Text and Paratexts in Media, in: Critical Inquiry 32 (2005), H. 1, S. 27–42. Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buchs. Aus dem Französischen von Dieter Hornig, Frankfurt a.M. 1989, S. 9. Ebd. Genettes Termini haben im Zuge der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der strukturell-medialen Bedeutung von Periodika für literarische Publikationen noch einmal eine terminologische Anpassungen erfahren. Die bekannte Genette’sche Begriffstrias, bestehend aus ›Epitext+Peritext=Paratext‹, wird dabei zugunsten einer auf den Publikationsort Zeitschrift angepassten Neudefinition verworfen. Der Peritext bildet hier keinen Unterbegriff von Paratext, sondern wird diesem zur Seite gestellt – der Epitext wiederum findet keine Verwendung. Peritext schreibt sich so her von peripher und meint alle dem Basistext direkt zugehörigen sich auf diesen direkt beziehenden Texteinheiten, Paratext hingegen – sich herschreibend von parallel – meint alle in einer Zeitung den Text begleitenden, sich nicht direkt auf diesen beziehenden Texte. Nicola Kaminski/Carsten Zelle/Nora Ramtke: »Zeitschriftenliteratur/Fortsetzungsliteratur: Problemaufriß«, in: dies. (Hg.), Zeitschriftenliteratur/Fortsetzungsliteratur, Hannover 2014, S. 7–39, hier S. 32–38.

2. Poptypografie, Layoutoberflächen, Literaturformate

die »äußere Aufmachung des Buches«.77 Auch nicht textliche, rein visuelle Elemente können eine peritextuelle Funktion innehaben: Meistens ist also der Paratext selbst ein Text: Er ist zwar noch nicht der Text, aber bereits Text. Doch muss man zumindest den paratextuellen Wert bedenken, den andere Erscheinungsformen annehmen können: bildliche (Illustrationen), materielle (alles, was zu den typografischen Entscheidungen gehört, die bei der Herstellung eines Buchs mitunter sehr bedeutsam sind) […].78 Des Weiteren sei, so Genette, ein starker Anstieg der verpackenden und werbenden Peritexte des Buches zu beobachten, der zu einem Zurückdrängen vorgelagerter, älterer Verpackungen ins Buchinnere führe. Dem zu Grunde liege eine Maschinerie der Verlage die eine Oberflächenmultiplikation vorantreibe und die zu einer sukzessiven Aushöhlung der Tiefe führe: Durch die Gesamtheit dieser peripheren Elemente wird der »eigentliche« (?) Umschlag paradoxerweise ins Buchinnere abgedrängt und zu einer zweiten (oder eher ersten) Titelseite gemacht. Bei der Entstehung des gedruckten Buches war gerade diese Seite der bevorzugte Ort für den verlegerischen Paratext. Der gedruckte Umschlag diente dann als Wiederholung oder nahm ihr manche ihrer Funktionen ab. Denselben Zweck erfüllen heute der Schutzumschlag, die Bauchbinde und eventuell der Schuber für den Umschlag: Anzeichen einer Entfaltung, manche würden sagen, einer Inflation der Möglichkeiten (das heißt der möglichen Träger) für den Paratext. Hinsichtlich der Verpackung ließen sich noch weitere Etappen vorstellen: Schuberschutzhüllen, Schutzhüllenschützer usw., ganz zu schweigen von dem Einfallsreichtum der allein beim Werbematerial für die Buchhändler und letztlich für die Kundschaft aufgeboten wird: Plakate, Vergrößerungen von Umschlägen und andere Spielereien.79 Genette definiert so Oberflächenästhetik als eine Dynamik, die Tiefe dadurch herstellt, immer neue vorgelagerte Oberflächen zu produzieren, die die vorhergehenden ins Buchinnere zurückdrängen, um eine nicht vorhandene Tiefe durch tiefer liegende Oberflächen zu kompensieren. So erscheint der Genette’sche Text letztlich selbst in besonderer Weise in seinen zeitlichen Entstehungszusammenhang, nämlich die späten 1980er Jahre, eingebunden, und zwar als theoretische und in Teilen kritische Antwort auf die diagnostizierte Ausweitung der (typografischen) Oberfläche.

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G. Genette: Paratexte, S. 11. Ebd., S. 14. Ebd., S. 36.

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Jacques Dugast wiederum formuliert Anfang der 2000er Jahre im Anschluss an Genettes Paratextkonzept und Derridas Begriff des Parergons eine »Ästhetik des Beiwerks«,80 die explizit auch die typografischen Außenwelten des Buchs miteinschließt. Dazu zählt er die »Wahl des Formats«,81 »die Grundfarbe oder Art des Papiers«82 und die »schützenden Paratexte des Buches« wie etwa »Schutzumschläge[], […] doppelte[] Einbände[] und Schuber[]«.83 Als Verpackung schützen diese längst nicht mehr nur, vielmehr sind sie ebenso wie Format und typografische Darstellung integraler Bestandteil der literarischen Publikation. Literarische Epochen, so Dugast, erkenne man bereits an der »Typographie, dem Umbruch«.84 Daher müssten »Parerga und Paratexte als vollwertige, für die ästhetische Wirkung eines literarischen Textes konstitutive Elemente anerkannt werden können«,85 und somit auch die typografischen Oberflächen der Texte.86 Dementsprechend kann man auch im Bereich der (literarischen) Theoriebildung der 1970er, 1980er und 1990er Jahre von 80 81 82 83 84 85 86

Jacques Dugast: »Parerga und Paratexte. Eine Ästhetik des Beiwerks«, in: G. Raulet/B. Schmidt (Hg.), Vom Parergon zum Labyrinth, S. 101–110, hier S. 110. Ebd., S. 102. Ebd. Ebd., S. 104. Ebd., S. 102. Ebd., S. 110. Dabei handelt es sich um eine Forderung, die etwa Georg Simmel in seinem kurzen Text zum Bildrahmen hundert Jahre zuvor noch kategorisch ausgeschlossen hatte: »Es ist dieselbe Rangverkennung, wenn man dem Rahmen einen ästhetischen Selbstwert verleihen will: durch figürliche Ornamente, durch den eigenen Reiz der Farbe, durch Formung oder Symbolik, die ihn zum Ausdruck einer selbstgenügsamen Kunstidee machen. Alles dies verschiebt die dienende Stellung des Rahmens gegenüber dem Bilde. Wie der Rahmen einer Seele nur ein Körper sein kann, nicht aber wieder eine Seele – so kann ein Kunstwerk, das etwas für sich ist, nicht als Rahmen das Für-sich-Sein eines anderen betonen und stützen: die Resignation, deren er dazu bedarf, schließt das Kunstsein aus.« (Georg Simmel: »Der Bildrahmen. Ein ästhetischer Versuch«, in: ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908, hg. von Rüdiger Kramme, Angela Rammstedt und Otthein Rammstedt Frankfurt a.M. 1995, S. 101–108, hier S. 105.) Simmels Theorie des Rahmens scheint daher weniger adaptierbar. Ebenso wenig ergiebig in diesem Zusammenhang ist Erving Goffmans Theorie der Rahmenanalyse, da es diesem weniger um eine Ästhetik des Beiwerks geht, als vielmehr um sozio-kulturelle Deutungsrahmen. Hervorzuheben ist jedoch, dass Goffman den Gegenstandsbereich seiner Analyse auf Kunst und Kultur insgesamt und insbesondere auch auf die sogenannte low-culture ausweitet, vgl. Erving Goffman: Frame Analysis. An Essay on the Organization of Experience, Boston 1986, S. 15. Die folgende Aussage von Thomas Meinecke zum Genre als Interpretationsrahmen wäre wiederum sehr gut mit Goffmans Ansatz theoretisierbar, liegt jedoch nicht im Fokus der vorliegenden Arbeit: »Und warum schreibe ich dann überhaupt Roman drunter? – Diesen Vorwurf höre ich ständig. Ich finde aber die Anmaßung schöner zu sagen: ›Das ist ein Roman‹, also diesen Rahmen weiter zu behalten, während der Gegenstand nicht wirklich reinpasst oder eben anders als bisher. Baselitzmäßig, auf dem Kopf sozusagen, oder seitlich oder vielleicht sogar über die Ränder raushängend.« (Uwe Wirth: »Rahmen/Wechsel/Brüche. Ein Ge-

2. Poptypografie, Layoutoberflächen, Literaturformate

einer Aufwertung des Rahmens und einer damit einhergehenden Umkehrung des Verhältnisses zwischen Rahmen und ›eigentlichem‹ Kunstwerk, zwischen typografischer Oberfläche und inhaltlicher Tiefe sprechen.

2.3 Typografie und Autorschaft: »der Textperformator« Im Impressum der bei Kiepenheuer & Witsch erschienenen Erstauflage von Rolf Dieter Brinkmanns Gedichtband Die Piloten, auf dessen Buchumschlags-Cover sich eine unter anderem aus Comic Helden und Pin-Up-Girls zusammengesetzte Collage findet (Abb. 3), ist folgender Satz zu lesen: »Die Collage des Schutzumschlages wurde vom Autor angefertigt.«87 Obwohl es sich hierbei wohl mehr um eine programmatische Aussage handelt als um ein Faktum, da Brinkmann den Umschlag sicherlich nicht ohne Mithilfe von Typograf und Grafikdesigner angefertigt haben wird, ist an ihr dennoch Brinkmanns ästhetisches Interesse an typografischen Oberflächen ablesbar.88 Die an Popkultur interessierte Literatur der späten 1960er Jahre scheint hier insofern vorbildlich für den Diskurs um die typografischen Oberflächen der Literatur in den frühen achtziger Jahren zu sein. So weiß man aus den Aufzeichnungen des Verlegers Siegfried Unseld, dass »Rainald Goetz seinen Umschlag [zu Irre, Vf.] selbst entworfen«89 hat. Zudem adressiert die Gestaltung der Oberfläche seines Romandebüts gezielt die ›Punk‹- und ›New Wave‹-Musikszene der 1980er Jahre und richtet sich bewusst nach deren ästhetischen Vorlieben. Denn Goetz interessiert sich, so Unseld, zuvorderst für die Funktion des Buchumschlags, zwischen Literaturproduzent:innen und -konsument:innen zu vermitteln: »Ein sympathischer Punk […]. Weiß alles, was er will bis ins Detail. Hauptprogramm, Buch für sich, kein Fleckhaus/Suhrkamp-Umschlag, sondern ein Umschlag, der die Szene erreicht.«90

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spräch mit Thomas Meinecke«, in: ders. (Hg.), Rahmenbrüche, Rahmenwechsel, S. 371–387, hier S. 372). Rolf Dieter Brinkmann: Die Piloten, Köln 1968, S. 114. Vgl. G. Stanitzek: Buch: Medium und Form, S. 180. Koppelt man Autorschaft insgesamt an die typografische Herstellung des Buches, handelt es sich stets um geteilte Autorschaft, die nicht bloß den Verfasser des Textes, sondern auch die Typografen, Setzer, Grafikdesigner miteinschließt, vgl. B. Metz: Die Lesbarkeit der Bücher, S. 31. Siegfried Unseld: »Notiz vom 03.06.1983, München«, in: DLA Marbach, SUA: Suhrkamp/01 Verlagsleitung Unseld, Siegfried: Chronik (1983). Zit. n. L. Hintze: Werk ist Weltform, S. 45. Vgl. hierzu auch insgesamt die Arbeit von Hintze, die Goetz’ Interesse an der äußeren Aufmachung seiner Bücher noch über die 1980er Jahre hinaus verfolgt. Siegfried Unseld: »Reisebericht 25.-27.02.1983, München«, in: DLA Marbach, SUA: Suhrkamp/01 Verlagsleitung Unseld, Siegfried, Chronik (1983). Zit. n. L. Hintze: Werk ist Weltform, S. 45. Dass sich Goetz hier so vehement gegen das Fleckhaus-Design ausspricht, liegt somit weniger an dem Design selbst. Goetz spätere Publikationen basieren allesamt auf dem Fleckhausdesign für die edition suhrkamp. Vgl. hierzu Kap. 5.1.2 der vorliegenden Arbeit.

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Abb. 3: Titelansicht von Rolf Dieter Brinkmanns Die Piloten von 1969 (22 x 14 cm).

So wird deutlich, in welch engem Zusammenhang dieses gesteigerte Interesse von Goetz an der Gestaltung seiner Romane mit der ›Punk‹- und ›New Wave‹-Szene und damit nicht zuletzt auch ihren Leitmedien, den Fanzines und Zeitschriften steht. An beiden Beispielen wird zudem deutlich, dass Autorschaft die typografischen Oberflächen des Buchs mitunter miteinschließt. Autorschaft, dies zeigen die beiden Beispiele, begrenzt sich für Brinkmann und Goetz nicht auf den literarischen Text allein, sondern schließt auch seine materielle Gestalt, und wie diese zu konzipieren ist, mit ein. Insofern erscheint es lohnenswert, der vorliegenden Arbeit, die sich im weiteren Verlauf in detaillierter Form mit Covern und Layouts befasst, die von den Autor:innen selbst stammen oder von diesen mitgestaltet wurden, eine historische und systematische Erörterung einer solchen programmatischen Erweiterung von Autor:innenschaft voranzustellen. Ein Verständnis von Autorschaft, das die typografischen Oberflächen des literarischen Textes miteinschließt, hat etwa Roland Barthes – dessen Texte selbst Eingang in die edition suhrkamp gefunden haben und die damit zum Teil selbst Gegen-

2. Poptypografie, Layoutoberflächen, Literaturformate

stand der vorliegenden Arbeit sind –91 in seiner 1970 in der französischen Literaturzeitschrift La Quinzaine littéraire erschienenen mit L’esprit de la lettre betitelten Rezension von Robert Massins La lettre et l’image vorgeschlagen. Bei diesem Buch von Massin, einem der wichtigsten französischen Typografen der 1970er Jahre und langjährigen Art Director beim französischen Verlagshaus Gallimard, handelt es sich um eine historische Untersuchung des Zusammenhangs von Bedeutung und Bildlichkeit der Buchstaben in Literatur, Malerei und Werbung von den Anfängen in der frühen Neuzeit bis hinein in das Zeitalter der Massenmedien.92 Dabei beobachtet Massin ein intrikates Verhältnis zwischen der typografischen Gestaltung von Literatur auf der einen Seite und der Typografie von Werbung und Zeitschriften auf der anderen.93 Im selben Zug wie letztere, die populären Druckerzeugnisse eine ästhetische Qualität, eine Tiefe hinzu gewinnen würden, sei, Massin zufolge, erstere, die Literatur dazu angehalten, ihre typografische Präsentation ernst zu nehmen: Die schönsten visuellen Gedichte findet man wahrscheinlich in der zeitgenössischen Reklame. Die Plakate, Prospekte, Zeitungsannoncen, Schutzumschläge, Zeitschriften […]. Die Metteure sind Dichter geworden, und zur selben Zeit entdecken die Dichter, die bis vor kurzem dem Drucker die Sorge überließen, ihre Werke in eine Form zu bringen, daß ein wesentlicher Teil der dichterischen Botschaft auf die typografische Präsentation angewiesen ist.94 So vergrößert sich der Handlungsraum des Autors, womit zugleich auch das Konzept von Autorschaft eine Erweiterung erfährt und nunmehr auch Aspekte des 91

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Fleckhaus Coverentwurf für die deutsche Übersetzung von Barthes S/Z stellt sich laut Unseld als Versuch dar, Barthes symbolisches Spiel mit den beiden Buchstaben in die Struktur der Buchoberfläche zu übersetzen. S. Unseld: Der Marienburger Korb, S. 87–88. Vgl. zur Bedeutung von Robert Massin für den europäischen Diskurs um eine Erneuerung des Grafikdesigns Anfang der 1960er Jahre auch den Exkurs zu Mediengestaltung um 1968 in dem von Jan-Frederick Bandel, Anette Gilbert und Tania Prill herausgegebenen Band Unter dem Radar, die Massin in einem Atemzug mit dem deutschen Grafikdesigner Willy Fleckhaus und dem Verleger und Typografen Jörg Schröder nennen. A. Gilbert/J.-F. Bandel/T. Prill (Hg.): Unter dem Radar, S. 337. Fleckhaus Coverentwurf für die deutsche Übersetzung von Barthes S/Z stellt sich laut Unseld als Versuch dar, Barthes symbolisches Spiel mit den beiden Buchstaben in die Struktur der Buchoberfläche zu übersetzen. S. Unseld: Der Marienburger Korb, S. 87–88. Vgl. zum Verhältnis von Literatur, Typografie und Werbung vor allem das Kap. 2.7 der vorliegenden Arbeit. Robert Massin: Buchstabenbilder und Bildalphabete. Aus dem Französischen von Philipp Lu idl und Rudolf Strasser, Ravensburg 1970, S. 235. Vgl. hierzu auch das Kap. ›Köper, Geist, Bild. Zur Sinnlichkeit der Typografie‹ aus Anette Geiger: Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs, Bielefeld 2018, S. 225–252; dies.: »Körper, Bild, Buchstabe. Zur Sinnlichkeit der Typografie«, in: Michael Glasmeier/Tania Prill (Hg.), Typografie als künstlerisches Ereignis, Hamburg 2016, S. 143–160.

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Buchseitenlayouts und der Umschlagsgestaltung miteinschließt. Die Schrift, so wiederum Barthes in seiner Rezension von Massins Grundlagenwerk zum Verhältnis von Schriftsinn und Schriftbild, sei nicht nur Zeichen, sondern zugleich auch grafische Oberfläche und damit »Ausgangspunkt für eine Bilderwelt«.95 Barthes wiederum exemplifiziert dies jedoch zunächst nicht an einem Buchdesign, sondern anhand eines LP-Covers, nämlich der Schallplattenhülle des Albums »Yellow Submarine der Beatles«.96 Die beiden ›l‹-Minuskeln des Wortes ›Yellow‹, die zugleich die Periskope eines Untersee-Bootes bildlich andeuten, seien ein prägnantes Beispiel dafür, »daß der Buchstabe nicht der Laut ist«,97 »der in der Schrift bloß umgestaltet würde«.98 Vielmehr ließen sich die Buchstaben nach Barthes antireduktionistischer Semiotik nicht auf den Laut, den sie symbolisieren, reduzieren, sondern würden wie alle Medien stets auch etwas eigenes, vom jeweiligen Sinn losgelöstes hinzufügen, was im Falle der Buchstaben eben Ihre Bildlichkeit sei, die mitunter auch darstellende Züge annehme. Vor diesem Hintergrund plädiert Barthes in seiner Rezension für ein Redesign des klassischen Autorschaftskonzepts: Uns obliegt es, dieses materielle Feld nicht zu beschneiden, indem wir die die [sic!] phantastische Summe dieser Buchstaben-Figuren auf eine Galerie von Auswüchsen und Träumen zurechtstutzen. Der Spielraum, den wir dem einräumen, was man als das Barocke bezeichnen kann, ist der Ort schlechthin, an dem der Schrift-

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Roland Barthes: »Der Geist des Buchstabens«, in: ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt a.M. 1990, S. 105–109, hier S. 106. Vgl. hierzu auch am Beispiel ägyptischer Hieroglyphen den Text Im Schatten junger Medienblüte von Jan Assmann: »Unter dem Begriff der Semantizität sei der erste Aspekt bezeichnet und alles zusammengefaßt, was für das Funktionieren des Zeichens als Zeichen unabdingbar wichtig ist. Unter dem Begriff der Materialität wollen wir den zweiten Aspekt bezeichnen und alles zusammenfassen, was als sinnliche ›Trägermaterie‹ dient und so oder anders beschaffen sein kann, ohne dass die Funktionalität des Zeichens davon beeinträchtigt sein muß. Ein ›R‹ kann in Stein gemeißelt, auf Papier geschrieben, in Rinde geritzt, in Fraktur, Bodoni, Garamond oder Helvetica gedruckt sein ohne seine Bedeutung, seinen Bezug auf das Phonem [r] im mindesten zu affizieren.« (Jan Assmann: »Im Schatten junger Medienblüte. Ägypten und die Materialität des Zeichens«, in: Hans U. Gumbrecht/K. L. Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt a.M. 1988, S. 141–160, hier S. 143). Yoko Tawada hat in diesem Zusammenhang auf eine Besonderheit phonetischer Schriften hingewiesen. Da phonetische Schriften, entgegen der Funktionsweise ideogrammatischer Schriftsysteme, über den Umweg des Lauts gehen müssen und nicht direkt über das Bild, wird deren Bildlichkeit, da ohne semantische Funktion, frei für Assoziationen und Konnotationen. Vgl. Yoko Tawada: Verwandlungen. Tübinger-Poetikvorlesungen, Tübingen 1998. R. Barthes: Der Geist des Buchstabens, S. 106. Ebd. Ebd.

2. Poptypografie, Layoutoberflächen, Literaturformate

steller, der Maler, der Graphiker, mit einem Wort der Textperformator, arbeiten soll.99 Die Ende der 1960er Jahre von Barthes begonnene und unter anderem von Foucault weitergeführte Debatte um den ›Tod des Autors‹, an dessen Stelle nach Barthes der Leser und Foucault zufolge die écriture tritt, erhält so eine interessante Fußnote. Denn konträr zur Negation des klassischen Autorbegriffs zugunsten anderer Akteure der Bedeutungskonstitution von Literatur wie eben dem Leser oder aber der Schrift selbst schlägt Barthes mit dem Begriff des ›Textperformators‹ eine dezidierte Erweiterung des Autorbegriffs vor: »[D]as Schwarzweiß, in dem sich jede Identität aufzulösen beginnt, angefangen mit derjenigen des schreibenden Körpers,«100 adressiert insofern nicht bloß metonymisch die Schrift, sondern in gleicher Weise auch den typografischen Raum der Buchseite. Hinzu kommt, dass Barthes’ einschlägiger Text erstmalig 1967 nicht auf französisch, sondern in englischer Übersetzung in der Ausgabe 4/5 des New Yorker Multimedia-Magazins Aspen – a magazine in a box veröffentlicht wurde (Abb. 4).101 Der experimentelle Charakter der Zeitschrift, die sich als Sammelbecken für neue Denkformen in Kunst, Popmusik und Kulturtheorie verstand, schloss auch ihre äußere Form mit ein, insofern das standardisierte und serielle Zeitschriftenformat als Reglementierung empfunden wurde. Wie aus 99

Ebd., S. 109. Dabei fällt auf, dass Barthes das Handlungsfeld des ›Textperformators‹, dessen Autorisationsbereich nicht nur textuelle, sondern auch graphische Elemente umfasst, mit der Epoche des Barocks bzw. vielmehr dem barocken Stil in Verbindung bringt. Das Barocke als Begriff erinnert dabei weniger an die statische Konzeption der Literaturepoche als vielmehr an Friedrich Nietzsches in Vom Barockstile formuliertes Verständnis des Barocken als Stilbegriff beziehungsweise periodische Epoche. Als wiederkehrender Stil antwortet das Barocke auf die jeweils klassischen Phasen der Kunstgeschichte. Der für den Barockstil typische Manierismus, oder wie Nietzsche es nennt, »überreiche[], drängende[] Formtrieb[]« ließe sich in diesem Sinne auch auf die Materialität der Literatur selbst beziehen. (Friedrich Nietzsche: »Erste Abtheilung: Vermischte Meinungen und Sprüche«, in: ders.: Sämtliche Werke Bd. 2, hg. von Mazzino Montinari und Giorgio Colli, Berlin/New York 1988, S. 479–534, hier S. 437.) Zur allgemeinen Bedeutung von Buchformat und -druck im Barock vgl. Franz M. Eybl: »Das Zeitalter des Buchs. Buch- und Verlagswesen im Barock«, in: Elisabeth Klecker/Christian Gastgeber (Hg.), Barock. Die Geschichte der Buchkultur 7, Graz 2015, S. 75–90. Vgl. weiterhin Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt a.M. 1991. 100 Roland Barthes: »Der Tod des Autors«, in: Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Matias Martinez [u.a.] (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, S. 185–193, hier S. 185. 101 Roland Barthes: »The Death of the Author«, in: Aspen. The magazine in a box (1967), H. 4/5, n.p. Vgl. zur Bedeutung des Magazins für die Geschichte experimenteller Underground-Publikationen Alessandro Ludovico: Post-Digital Print. The Mutation of Publishing since 1894, Eindhoven 2012, S. 40. Vgl. zur Publikationsgeschichte des Textes und zum größer angelegten Rahmenprojekt Sarasine Carlos Spoerhase: Autorschaft und Interpretation. Methodische Grundlagen einer philologischen Hermeneutik, Berlin 2007, S. 20–21.

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einem der ersten Ausgabe beigefügten Brief des Herausgebers Phyllis Johnson hervorgeht, wurde dem die Idee einer multimedialen Erweiterung des eigenen Formats in die Dreidimensionalität entgegengesetzt, so dass das ›magazine in a box‹ neben gedruckten Seiten auch Tonbänder, Filmrollen und Plakate enthielt: For this first issue, we’ve started out with a rather dignified format, but who knows what the next issue will be! Perhaps the booklets will be done in the manner of illuminated manuscripts or Japanese scrolls. Perhaps each will be a different size and color. Perhaps they’ll include blueprints, a bit of rock, wildflower seeds, tea samples, an opera libretti, old newspapers, jigsaw puzzles. In short, »Aspen« is the first three-dimensional magazine.102 Die Ausgabe 4/5 etwa, in der Barthes Text über den Tod des Autors erscheint, beinhaltet neben zahlreichen Druckseiten auch eine Schallplatte und eine Filmrolle. Diese dreidimensionale Erweiterung des eigenen Formats, das sich nicht auf die Brochürenform begrenzt, sondern, wie es der Name der Zeitschrift bereits vermuten lässt, im Gewand einer Box erscheint, betrifft jedoch Johnson zufolge nicht nur den redaktionellen Teil der Zeitschrift, sondern zugleich auch den Anzeigen- bzw. Werbeteil des Hefts: »Our advertisers are going 3-D too, and planning to put in samples and swatches – even the product itself. For example, in forthcoming issues, you’ll find a ski lipstick, a tiny salt spoon, a new perfume.«103 Darüber hinaus spielen mitunter auch die Cover der Ausgaben eine zentrale Rolle, insofern diese nicht als bloßes Beiwerk begriffen werden, sondern ebenso konzeptuell gestaltet werden wie alle anderen Elemente der Zeitschrift. Das Cover der dritten Ausgabe designte etwa Andy Warhol in Anlehnung an die Gestaltung der Produkt-Verpackung eines Waschmittels (Abb. 5 u. 6).104 Das Magazin-Cover ist dabei Teil einer Reihe weiterer, zum Teil bekannterer Werke Warhols wie etwa die Brillo Box und die Cambell’s Soup Cans, die ebenfalls das Design von Produktverpackungen adaptieren, um die Grenzen zwischen Kunst und Waren- bzw. Konsumästhetik auszuloten.

102 Phyllis Johnson: »Letter«, in: Aspen. The Magazine in a Box 1 (1965), n.p. 103 Ebd. 104 Andy Warhol: »Front- und Rückseite «, in: Aspen. The magazine in a box (1966), H. 3, U1.

2. Poptypografie, Layoutoberflächen, Literaturformate

Abb. 4: Fotografie der Ausgabe 4/5 von Aspen – a Magazine in a Box von 1967.

Bemerkenswert an dem New Yorker Magazin ist neben seiner experimentellen Form auch die Auswahl der Inhalte. In der Ausgabe 4/5 findet sich neben Barthes The Death oft the Author beispielsweise ein Essay von Susan Sontag über die Aesthetics of Silence105 sowie ein »poster-sized mosaic of pages«106 von Marshall McLuhans und Quentin Fiores The medium is the Massage. Medientheorie wird hier in programmatischer Weise in Form eines Posters artikuliert. Letzteres erscheint so als Radikalisierung von Fiores typografischer Adaption von McLuhans Medientheorie, die laut Werbetext auf dem Umschlag der britischen Erstausgabe bei Penguin als Anpassung der Buchform an das elektronische Zeitalter gedacht war: »With the aid of the typographical and design ingenuity of Quentin Fiore, this book has been made an inventory of effects, an exposition of McLuhan’s prophecies of the electronic age which may shatter one’s sense of what a book is for ever.«107 Insofern spiegelt die Form des Heftes und auch des Magazins insgesamt die darin formulierten Thesen

105 Susan Sontag: »The Aesthetics of Silence«, in: Aspen. The magazine in a box (1967), H. 4/5, n.p. 106 Marshall McLuhan/Quentin Fiore: »The Medium is the Massage«, in: Aspen. The magazine in a box (1967), H. 4/5, n.p. 107 Marshall McLuhan/Quentin Fiore: The Medium is the Massage. An Inventory of Effects, London 1967, U4.

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wider, dass Printprodukte im elektronischen Zeitalter durch die Medienkonkurrenz mit elektronischen Medien gezwungen sind, sich multimedial und dreidimensional zu erweitern.

Abb. 5 u. 6: Front- und Rückseite der dritten Ausgabe von Aspen – a Magazine in a Box von 1966.

Barthes ist jedoch nicht der einzige Literaturtheoretiker, der Mitte der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts für ein weiteres Verständnis von Autorschaft argumentiert. Im Anschluss an Barthes ist es vor allem Roger Chartier, der in Lesewelten, seiner Studie zur frühneuzeitlichen Edition der Blauen Bücher, die aus fünf Aufsätzen aus der Zeit seit 1982 und einer längeren Einleitung besteht, für eine Erweiterung des Textbegriffs und damit einhergehend auch für ein erweitertes Autorschaftsmodell plädiert: Autoren schreiben […] Texte, die zu gedruckten Objekten werden. Dieser Unterschied, eben der Raum, in dem sich der Sinn entwickelt, ist zu oft vergessen worden, nicht nur von der klassischen Literaturgeschichte, die das Werk an sich als abstrakten Text begreift, dessen typografische Formen ohne Belang sind […].108 Typografische Qualitäten seien nicht bloße Accessoires des Textes, sondern integraler Bestandteil. Dies zeige sich nicht zuletzt daran, so Chartier, dass »ein schrift108 R. Chartier: Lesewelten, S. 12.

2. Poptypografie, Layoutoberflächen, Literaturformate

lich verankerter Text eine neue Bedeutung und einen neuen Status erhält, wenn sich die Dispositive des typographischen, zum Lesen bestimmten Objekts verändern.«109 Chartier überträgt so den von Foucault geprägten Begriff des Dispositivs vom Diskurs selbst auf seine typografische Realisation. Foucault hatte in seiner 1969 erschienenen Studie zur Archäologie des Wissens zwar auch die Bedeutung der Materialität von Aussagen im Diskurs hervorgehoben, aber gerade typografische Unterschiede als unwirksam betrachtet. Am Beispiel von »verschiedenen Ausgaben der Fleur du Mal« betont er, dass, obwohl »weder die Schrifttypen, noch die Tinte, noch das Papier, […] und die Anordnung der Zeichen« identisch sind, sich die künstlerische Aussage der jeweiligen Ausgaben nicht voneinander unterscheiden.110 Insgesamt hat die Aufmerksamkeit für die Typografie als integraler Bestandteil des gedruckten Buchobjektes nicht so sehr zum Tod des Autors geführt, sondern vielmehr zu einer Transformation von Autorschaft, die sich auf kollektivere Formen, aber auch auf singuläre Akte der Autorschaft verlagern kann, die das Layout in den Vordergrund stellen.

2.4 Buchkörper als Material: Buch- und Verlagsplastiken Ab 1986 vertrieb die Spex neben den Ausgaben des Magazins auch verschiedene Bücher, die sich entweder mit popkulturellen Phänomenen befassten oder aus der Feder von Autor:innen stammten, die der Redaktion des Kölner Magazins nahestanden. Teil des Sortiments dieses sogenannten »Buchservice«111 der Spex war zudem eine Auswahl von Publikationen, die in dem von den beiden bildenden Künstlern Albert Oehlen und Werner Büttner gegründeten Meter Verlag erschienen sind, der, so der Werbetext in der Spex, auf dem Konzept beruhte, gerade so viele Bücher zu veröffentlichen, »bis sie aneinandergereiht einen Meter ergeben«.112 Der Verlag der beiden Künstler war nicht bloß als Publikationsorgan der verlegten Texte gedacht, sondern zugleich auch als konzeptuelles Kunstwerk angelegt, bei dem der Rahmen einen ebenso hohen Stellenwert einnimmt wie die darin veröffentlichten Inhalte. Die einzelnen Bücher des Meter Verlag sind insofern ›Form‹ und ›Medium‹ (bzw. Format und Material) zugleich, nämlich Form der einzelnen Texte, insofern die Texte im Buchformat erscheinen, und Medium einer Buch- bzw. Verlags-Plastik, insofern die einzelnen Bücher selbst Material eines plastischen Kunstwerks sind. Das 109 R. Chartier: Lesewelten, S. 8 110 Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 2015, S. 149. Vgl. hierzu Carlos Spoerhase: »Was ist ein Werk? Über philologische Werkfunktionen«, in: Scientia Poetica (2007), H. 11, S. 276–344, hier S. 316. 111 Spex: »Das gute Buch«, in: Spex (1986), H. 6, S. 56. Vgl. hierzu auch Kap. 5 der vorliegenden Arbeit. 112 Ebd.

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Format der Bücher entspricht in etwa der Größe von Reclam-Heftchen (18,5 x 12 cm) und auf den Covern der Bücher, die im Meter Verlag erscheinen, finden sich durchweg verschiedene Illustrationen von Albert Oehlens Vater Alfred Oehlen.113 Die Rahmenbedingungen des Verlagsprojekts der beiden bildenden Künstler werden in einem 1987, zwei Jahre nach der Lancierung des Verlags, erschienenem Artikel im Kunstforum konzise beschrieben: Als Werner Büttner und Albert Oehlen vor zwei Jahren einen Verlag gründeten, bedurften sie exakt vier Dinge. Erstens eines Porträts des Illustrators Adolf Oehlen, dem Vater von Albert Oehlen, zweitens eines Brettes und drittens zweier Hämmer. Mit diesen Utensilien entwarfen sie das Programm des Verlages. Das Vaterporträt kündete dabei von der optischen Aufmachung künftiger Publikationen. Alle Bücher sollten ausschließlich mit Cartoons des Künstlervaters illustriert werden. Die drei übrigen Dinge gaben dem Verlag Rahmen und Namen. Aus Brett und Werkzeug montierten die Künstler ein Bücherbord, das die Hämmer als seitliche Buchstützen abschlössen. Dabei wurden sie derart installiert, daß sich zwischen ihren Schlagflächen ein Raum von exakt einem Meter Länge erstreckte. So gesellte sich zum Bildprogramm ein Produktionssoll. Es galt exakt so viele Bücher zu publizieren, daß sie genau den einen Meter des erstellten Bücherbordes ausfüllen. Folglich stand auch der Verlagsname fest: Meterverlag.114 Das Konzept des Meterverlages basierte somit nicht bloß auf einer mehr oder minder abstrakten Idee, sondern einer konkreten materiellen Apparatur, die die im Verlag erscheinenden Bücher einrahmen und die Publikationsmenge des Verlages in materieller Form auf eine – nach Addition aller Buchrücken der im Verlag publizierten Werke – Länge von einem Meter begrenzen sollte. Der Artikel im Kunstforum weist hier zurecht darauf hin, dass es sich bei diesem materiell gefassten Programm des Verlages um ein durchaus ambitioniertes Projekt handelt, da es einer großen Anzahl der schmalen Bücher (die Buchrückenbreite der Publikationen übersteigen selten einem Zentimeter) bedürfe, um das fabrizierte Bücherbord in Gänze auszufüllen:

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»Cover and illustrations by Alfred Oehlen«. Albert Oehlen/Werner Büttner: Angst vor nice, Hamburg 1985, S. 2. Anonymus: Meter Verlag, in: Kunstforum: Realkunst – Realitätskünste (1987), H. 91, S. 242–243, hier S. 242. In einem Eintrag zum Meter Verlag auf der Artype-Archivseite der Sammlung Paul Heimbach, die die Cover aller im Meter Verlag erschienenen Bücher aufführt, heißt es zudem, dass die »Illustrationen für die Bücher […] aus einer Plastiktüte gefüllt mit Karikaturen [stammen], die Albert und Markus Oehlen aus dem Nachlaß ihres Vaters zur Verfügung stellten.« (Artype [https://www.artype.de/Sammlung/Bibliothek/m/meterverlag .htm, zuletzt eingesehen am 10.10.2023]).

2. Poptypografie, Layoutoberflächen, Literaturformate

Und ginge es nach jenem fiktiven Raum, der seiner Er-Füllung entgegensieht, müßte der Verlag noch etliche Jahrzehnte existieren. Die bislang erschienenen Bücher weisen eine Gesamtdicke von 4,6 cm auf. Bei konstantem Wachstum dürfte es also noch knapp 41 Jahre dauern, bis das Maß voll ist.115 Auch die insgesamt neun erschienenen Publikationen (der Artikel im Kunstforum bezieht sich nur auf die ersten sechs Publikationen) erreichen nicht einmal annähernd den programmatisch geforderten Umfang von einem Meter. Der von Oehlen und Büttner konstruierte Rahmen des Bücherbordes füllt sich somit nicht in Gänze mit Inhalt, wodurch die Buchplastik unabgeschlossen bleibt und sich auf insgesamt neun Buchpublikationen beschränkt. Das erste Buch, das im Meter Verlag erscheint, ist Angst vor nice, wobei es sich um die englische Übersetzung des Ausstellungskataloges Wahrheit ist Arbeit handelt.116 Büttner und Oehlen hatten 1984 gemeinsam mit Martin Kippenberger unter selbigem Titel im Museum Folkwang in Essen ausgestellt. Weiterhin im Meter Verlag erschienen sind Werner Büttners In Praise of Tools and Women und Diedrich Diederichsen Elektra. Schriften zur Kunst, das bereits zuvor in der Spex erschienene Artikel und Kritiken sowie Texte für Ausstellungskataloge von Jutta Koether und Kippenberger enthält.117 Außerdem Teil der Meter Verlag-Buchplastik sind Michael Würthles Embauche Au Balkan. 24 elastische Seiten und The Happy End of Kafka’s Amerika, das zwei Texte enthält, nämlich Mayo Thompson Gorki & Co. und 33 Songs von The Red Crayola. Ebenso Teil der Verlagsplastik sind Sven Åke Johanssons Gedichte und Gesänge, Lord Timothy Dexters Ein Happen für die Wissenden und nicht zuletzt Martin Kippenbergers Café Central. Skizze zum Entwurf einer Romanfigur, wobei es sich wohl um die bekannteste Veröffentlichung des Verlagsprojektes handelt (Abb. 7).118

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Ebd., S. 243. Die Übersetzung erfolgte »in collaboration with the authors«. Ebd. Diedrich Diederichsen: Elektra. Schriften zur Kunst, Hamburg 1986. Kippenberger bewirbt darin unter anderem Goetz’ Bücher Irre und Krieg: »Welche Strafe setzt es für Argumente, die nicht weiter reichen als ›Aber er ist erfolgreich‹. Da empfehle ich wärmstens und verbindlich, auf Vorschläge von Reinhard Götz einzugehen. Birne zerschlagen Zitate. Sätze und Seitenangaben selber suchen in Irre + Krieg.« (Martin Kippenberger: Café Central. Skizze zum Entwurf einer Romanfigur, Hamburg 1987, S. 164).

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Abb. 7: Titelansicht von Martin Kippenbergers Café Central von 1987 (18,5 x 12 cm).

Oehlens und Büttners Verlagsplastik lässt sich dabei als Teil einer Reihe von ähnlichen Buch- und Verlagsprojekten in den 1970er und 1980er Jahren begreifen wie etwa Martin Kippenbergers Kunstbücher, denen die vorliegende Arbeit ein eigenes Kapitel widmet, oder Jörg Schröders März Verlag, welcher ebenfalls ein konzeptuelles Werk aus Buchgestaltungen, die Verlagswerbungen und Messeständen darstellt.119 Dieser Zusammenhang, der sich über Zeitschriften, Verlage, bildende Künstler:innen und Literat:innen der 1970er und 1980er Jahre erstreckt, lässt sich zum Teil auch anhand direkter Bezüge nachweisen. Denn die von den beiden Konzeptkünstlern herausgegebene Verlagsplastik, die den Verlag und die Materialität der produzierten Bücher nicht bloß als Kommunikationsträger der Textinformation nutzt, sondern zugleich auch als plastisches Kunstwerk inszeniert, stößt allen voran beim Gründer des März Verlags Jörg Schröder auf Resonanz. Im Literaturteil des Tempo-Jahresrückblicks 1986 äußert sich dieser in äußerst positiver Weise zum Verlagsprojekt von Oehlen und Büttner: »Sehr gut waren die ersten fünf Bücher des

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Vgl. zu Jörg Schröder und zum März Verlag das Kap. 3.1 der vorliegenden Arbeit.

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Meter-Verlages, herausgegeben von Werner Büttner und Albert Oehlen. Diese Bücher hätte ich auch verlegt.«120 Dass Schröder die Bücher selbst gerne herausgegeben hätte, scheint, wie gesagt, damit zusammenzuhängen, dass auch die Publikationen des März Verlags einen Fokus auf die ästhetische Qualität der plastischen Dimension der Literatur legen. Schröders Bücher fallen durch ihre besonders gestalteten Covers und typografischen Oberflächen im Wortsinne aus dem Rahmen. Auch im Falle des März Verlags dient der Buchkörper nicht allein als Format der Literatur, vielmehr wird der Plastizität der Literaturformate ein ästhetischer Eigenwert zuerkannt. Da die plastische Qualität literarischer Publikationen für viele der in der vorliegenden Arbeit besprochenen Texte zentral ist, scheint es lohnenswert, dem Analyseteil der Studie eine theoretische Rahmung voranzustellen, die die Funktion und den Eigenwert der plastischen Dimension von Buchkörpern in den Blick nimmt. Zentral ist hierbei die Frage, wann ein Buch, das einen besonderen Fokus auf seine materielle und typografische Oberfläche legt, aufhört Format und Medium eines (literarischen) Textes zu sein, und es sich eher um Buchkunst im emphatischen Sinne handelt. Der Fokus der vorliegenden Arbeit, die eine zuvorderst literaturwissenschaftliche Perspektive einnimmt, liegt auf Büchern, die im emphatischen Sinne Format eines (literarischen) Textes sind, jedoch werden, um die genannte Grenze beschreiben zu können, auch Werke der bildenden Kunst Gegenstand der Analyse sein. Besonderes Augenmerk liegt hierbei auf konzeptuellen Kunstprojekten, die Buchkörper und -oberflächen plastisch inszenieren, da diese die Grenze zwischen Literatur und bildender Kunst, Werk und Beiwerk sowie – so viel sei vorausgeschickt – mitunter auch Kunst und Nicht-Kunst verhandeln. Die Literatur wird jedoch nicht erst plastisch, wenn sie, wie im Falle des Meter Verlags, in ein plastisches Kunstwerk überführt wird, vielmehr liegt der besondere Wert dieser Plastik darin, das sie diese Seite der Literatur in besonderer Weise hervorkehrt. Damit basiert Oehlens und Büttners Meter Verlag auf einer ästhetischen Strategie, die Jacques Rancière 2008 im Zuge einer Auseinandersetzung mit Marcel Broodthaers’ skulpturaler Adaption von Mallarmés Un coup de deś theoretisch als Reflexion auf die materielle und disziplinäre Ausdifferenzierung der Kunst beschrieben hat. Auch in diesem Fall fügt Broodthaers’ Skulptur die Plastizität nicht hinzu, sondern kehrt sie allenfalls hervor. Die Plastizität der Skulptur ist Rancière zufolge nämlich bereits im Gedicht Mallarmés angelegt, denn auch die Buchseite

120 Zit. n. Helmut Ziegler: Deutsche Literatur? Ein Glück, daß wir Thomas Bernhard noch haben, in: Tempo (1987), H. 1, S. 48.

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bestehe aus einem »materiellen Raum«121 und einem »virtuellen Raum«.122 In letzterem vollzieht sich die Semiose, die Sinnlichkeit und Sinn zusammenführt; mit ersterem ist der grafische Aufbau, d.h. das Format und die Typografie des Textes, gemeint. Mallarmés Poetik des Würfelwurfs markiert so für Rancière den Ausgangspunkt einer Ästhetik der Oberfläche, die sich seit Beginn der literarischen Moderne als Alternativprogramm zur eigentlichen Moderne abspielt. Dem üblichen Narrativ, demnach sich die Kunst der Moderne nach dem Bruch mit dem »Regime der Darstellung«123 auf ihre jeweils eigene Materialität fokussiert hätte, stellt Rancière ein alternatives Narrativ entgegen: In Folge dieses ästhetischen Regimewechsels innerhalb der Kunst begannen »die Materialitäten selber […], ohne Vermittlung auseinanderzufallen«124 und damit hätte sich die Oberfläche zu einem besonderen Ort der Kunst entwickelt: Alle diese Fälle setzen eine Idee der Fläche um, die dem Paradigma der Moderne strikt entgegengesetzt ist: Die Oberfläche ist hier nicht die Wächterin über die Reinheit der Kunst mittels der malerischen Reinheit. Sie ist im Gegenteil eine Fläche des Austausches, auf der die Vorgehensweisen und die Materialien der Künste ineinander übergehen […].125 Diese Ästhetik der Oberfläche tradiert sich Rancière zufolge von Mallarmé über die Avantgarden bis in die Programme der Konzept- und Popkunst der 1960er Jahre. Allen gemein ist dabei, dass sie sich an einem für die Moderne zentralen theoretischen Problem der Kunst abarbeiten:

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Jacques Rancière: »Der Raum der Wörter. Von Mallarmé zu Broodthaers«, in: Sabine Folie (Hg.), UN COUP DE DEŚ. Bild gewordene Schrift. Ein ABC der nachdenklichen Sprache, Köln 2008, S. 26–38, hier S. 27. Vor diesem Hintergrund erscheint es interessant, dass Vilém Flusser in Lob der Oberflächlichkeit eine medienhistorisch fundierte Anthropologie entwirft, die die Entwicklung der Kunst von der Skulptur als zeitlosem Raum über das Bild als raumloser Fläche bis zur Schrift als flächenlosem Zeichen als kontinuierlichen Abstraktionsprozess in der frühen Menschheitsgeschichte skizziert. Aus dieser Perspektive erscheint Schriftkunst, die zur typografischen Fläche, ja sogar zum dreidimensionalen Raum des Buchformats zurückkehrt, als ein medien-anthropologischer Atavismus. (Vgl. Vilém Flusser: Lob der Oberflächlichkeit. Für eine Phänomenologie der Medien, in: ders.: Schriften I, hg. von Stefan Bollmann und Edith Flusser, Bensheim/Düsseldorf 1993, S. 9–22.) 122 Ebd. 123 Ebd., S. 28. 124 Ebd. Zu Rancières Begriff des ästhetischen Regimes vor dem Hintergrund moderner Kunst vgl. auch das Kapitel ›Von den Regimen der Kunst und der mäßigen Relevanz des Begriffs der Moderne‹ aus Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien. Aus dem Französischen von Jürgen Link, Berlin 2008. 125 J. Rancière: Der Raum der Wörter, S. 29.

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Die von Mallarmé festgelegte poetische Kunst enthält diese verwirrende Lehre, welche die Futuristen und Surrealisten, die Pop- und Konzeptkünstler wieder entdecken und auf ihre Weise gestalten sollten: Dort, wo die Kunst nicht mehr von Normen beherrscht wird, wo sie, nach seiner eigenen Formulierung sich selbst beweisen muss, sich selbst von der Nicht-Kunst unterscheiden muss, kann sie dies nur tun, indem sie sich mit einer anderen Form der Nicht-Kunst identifiziert. So wird das Gedicht bei Mallarmé zum räumlichen Umriss und Gegenstand der Welt.126 In dieser Hinsicht sind die ästhetischen Programme der Oberfläche als Reaktion auf die Autonomisierung der Kunst zu verstehen. Durch ihr Autonom-Werden ist die Kunst gezwungen, sich selbst zu bestimmen und sich von Nicht-Kunst abzugrenzen, indem sie sich mit dieser identifiziert. Durch diese paradoxe Figur gelingt es der Kunst, diese Differenz fortwährend zu reproduzieren. So ist der literarische Text zugleich ein typografischer, ein gelayouteter, ein gestalteter Gegenstand, bestimmt von zwei mitunter gegenläufigen Tendenzen. Das Material arbeitet an der Oberfläche an der Auflösung der Differenz von Kunst und Umwelt und der künstlerische Gegenstand bleibt darum bemüht, sich systemisch als Kunstwerk zu reproduzieren.127 Die Formulierungen Rancières diesbezüglich erinnern dabei an die systemtheoretische Frage nach der Unterscheidung von Kunst und Nicht-Kunst, für welche die Materialität der Kunst eine ebenso besondere Rolle spielt. Im Gegensatz zu anderen Teilsystemen der Gesellschaft ist der Code der Kunst nicht vorgegeben, sondern muss durch das einzelne Kunstwerk fortwährend neu definiert werden. Die Frage nach Kunst und Nicht-Kunst wird somit ins Kunstwerk selbst verlagert. Zentral ist hierbei für Niklas Luhmann, dass kunstförmige Kommunikation auf »Wahrnehmungsmedien«128 zurückgreift. Um allerdings als Kunstwerk wahrgenommen zu werden, muss das Kunstwerk nicht bloß eine Form haben, sondern es muss auch »eine Grenze der Form geben«,129 die das Kunstwerk von seiner Umwelt unterscheidet. Luhmann präzisiert dies in der Formel: »Marked space/Grenze/unmarked

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Ebd., S. 31. Torsten Hahn etwa zeigt zudem am Beispiel der modernen Literatur, dass dies nicht nur für Kunstformen wie die Bildhauerei und die Architektur gilt, sondern auch für hybride Kunstformen wie die Literatur, deren Grenze, das Buch, einerseits in die Tiefe der Bedeutung weist und andererseits an der Oberfläche der typografischen Gestaltung der Buchseite verbleibt, die den Rezipienten nicht nur zum Lesen, sondern auch zum Sehen einlädt. Torsten Hahn: »Die skulpturale Form der Literatur. Das Buch als ästhetisches Artefakt mit paradoxer Tiefe (Übersetzungsketten)«, in: ders./Nicolas Pethes (Hg.), Formästhetiken und Formen der Literatur. Materialität – Ornament – Codierung, Bielefeld 2020, S. 337–356. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, S. 78. Ebd.

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space«.130 Er unterscheidet dabei zwei Typen von Kunstwerken. Einerseits den »typische[n] Fall«, »ein durch Anfang/Ende oder durch Rahmen oder durch eine Bühne isoliertes Kunstwerk, das die Umgebung ignoriert und auch nicht in sie eingreift«,131 und den Rezipienten auffordert, den Rahmen zwar zunächst wahrzunehmen, um das Kunstwerk als Entität rezipieren zu können, aber dabei zugleich auch wegzudenken. Andererseits gibt es nach Luhmann auch Kunstformen, wie etwa die Skulptur und die Architektur, die »die Aufmerksamkeit nicht nach innen, sondern nach außen [lenken]. Das Werk erlaubt keinen Tiefenblick, kein Eindringen unter die Oberfläche (was immer die Oberfläche über Masse, Volumen, Material verraten mag).«132 Anders gesagt: Es gibt Oberflächenkunst und Tiefenkunst, bzw. solche Kunst, die auf Sinn, und solche, die auf Wahrnehmung abhebt. In beiden Fällen ist die Grenze unverzichtbar und gibt eine Richtung an, entweder nach innen in die Tiefe oder nach außen an die Oberfläche. Hierbei muss die Grenze selbstverständlich nicht rein funktional bleiben, sondern kann selbst auch einen ästhetischen Eigenwert ausbilden, so wieder Luhmann: »Die Grenze kann selbst als Form gestaltet sein – als Portal, als Ornament, als Bewegung auf der Oberfläche der Skulptur, als prächtiger oder auch nur: gut gewählter Bilderrahmen. Aber wenn man dies nachvollzieht, sieht man sie schon nicht mehr als Grenze, sondern beobachtet Formenunterschiede – eins ergibt sich aus dem anderen –, die man dem Kunstwerk selbst zurechnet.«133 Die Grenze wird somit selbst zum Kunstwerk, was zu der paradoxen Situation führt, dass die Grenze nun zugleich Grenze und nicht mehr Grenze, da dem Werk selbst zugehörig, ist. Vor dem Hintergrund dieser theoretischen Überlegungen Luhmanns und Rancières erscheinen skulpturale Adaptionen von literarischen Texten bzw. Kunstprojekte, die den Buchkörper plastisch inszenieren, als Versuch, die Grenze zwischen Kunst, die auf Wahrnehmung abhebt, und solcher, die zuvorderst mit Sinn operiert, konzeptuell aufzulösen. Dabei verhandeln jene Projekte nicht zuletzt auch die Grenze zwischen ›Kunst‹ und ›Nicht-Kunst‹ auf die von Rancière beschriebene paradoxe Art, insofern sie beim Übertritt von der textlichen in die bildende Kunstförmigkeit umkehren, was Kunst und was Rahmen, was Oberfläche und was Tiefe, was Werk und was Beiwerk ist.

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Ebd. Ebd., S. 79. Ebd. Ebd.

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2.5 »pop forms« vs. kulturindustrielle Formate: Glossy- und PulpMagazines, Taschenbücher In seinem zunächst in der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung erschienenen und dann in Hirn zusammen mit seinen Spex-Artikeln wiederveröffentlichten Text Was ist ein Klassiker? propagiert Rainald Goetz einen Klassiker-Begriff, der sowohl den bildungsbürgerlichen Kanon als auch Popmusik-Hits miteinschließt und der demnach nicht in high- und low culture unterteilt. Zunächst müsse, so Goetz, »allabentlich, allnächtlich […] auf Streife«134 gegangen werden, um die »Szenegesichter«135 zu beobachten: »[A]lles wird beharrlich überprüft und registriert, gespeichert und anderntags frühmorgens, während der Blutalkoholspiegel sinkt, wird alles aufgeladen mit Schillers Briefen aus dem heißen Weimarer Sommer von 1787, mit Lexikonartikeln über Arcimboldi, Triest, schon bin ich bei Winckelmann, dann kommt schnell noch die Bildzeitung und Julie Burchills neuste Kolumne in The Face, aufladen aufladen, aufladen mit Goethes Winckelmann-Aufsatz, der fette so fette dicke schöne Klötze als Unterüberschriften hat […].«136 Kassiert werden dabei nicht nur die Grenzen zwischen high- und lowcultere, sondern zugleich auch die zwischen Nacht- und Tag-Leben, Rezeption und Produktion sowie Szene und Universität. Zudem hebt Goetz überraschenderweise nicht auf die typografischen Oberflächen von Burchills The Face-Text ab, sondern auf die von Goethes Aufsatz zu Winckelmann, – wodurch dieser implizit anzeigt, dass die typografischen Oberflächen der Literatur seit jeher einen ästhetischen Eigenwert besitzen.137 134 135 136 137

Rainald Goetz: »Was ist ein Klassiker?«, in: Süddeutsche Zeitung vom 22/23.08.1983, S. 82. Ebd. Ebd. Nicht ganz so überraschend ist dies eingedenk der Tatsache, dass die Winkelmann’sche Formel von der »edle[n] Einfalt, und […] stille[n] Größe« des deutschen Klassizismus durchaus auch die typografischen Oberflächen der Werke miteinschließt. (Johann J. Winckelmann: Gedanken ueber die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst: [nebst Erläuterung dazu], Dresden/Leipzig 1756, S. 21). Vgl. zur Bedeutung der Typografie für die deutsche Klassik Wulf D. von Lucius: »Anmut und Würde. Zur Typografie des Klassizismus in Deutschland«, in: Monika Estermann/Michael Knoche (Hg.), Von Göschen bis Rowohlt. Beiträge zur Geschichte des deutschen Verlagswesens, Wiesbaden 1990, S. 33–63. Vgl. weiterhin Paul Raabe: »Schiller und die Typographie der Klassik«, in: Imprimatur. Ein Jahrbuch für Bücherfreunde. Neue Folge (1958–1960), H. 2, S. 152–171. Typografie spielt für Verleger und Typografen der deutschen Klassik wie etwa Georg Joachim Göschen und Friedrich Justin Bertuch insgesamt eine nicht unwesentliche Rolle. Letzterer veröffentlicht 1793 in dem von ihm selbst mitherausgegebenen Journal des Luxus und der Moden einen Artikel über ›Typografischen Luxus‹. Ganz im Geiste der Aufklärung müsse dieser einem »raisonierten Prinzip« folgen und stets zum »besseren typografischen Geschmack« der deutschen Leserschaft beitragen. (Friedrich Justin Bertuch: »Ueber den Typographischen Luxus. Mit Hinsicht auf die neue Ausgabe von Wielands sämtlichen Werken«, in: Journal des Luxus und der Moden (1793), H. 9, S. 599–608, hier S. 600, 605). Nicht zuletzt finden sich im Zeitschriften-Diskurs der 1980er

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Goetz’ Kunstverständnis positioniert sich hier ganz in der Tradition der von Leslie Fiedler in den 1960er Jahren in seinem Text cross the border, close the gap geforderten Aufhebung der Grenze zwischen high und low culture, unterhaltender und ernster Kunst bzw. Hochkultur und Trivialkultur. Die Überquerung dieses Grabens impliziert dabei mehrere Aspekte zugleich, die Fiedler der Reihe nach diskutiert. Beispielsweise fordert Fiedler die Aufhebung der Grenzen zwischen Literaturproduktion, -kritik und -rezeption, denn die Literaturkritik sei ein Nebenprodukt ›moderner‹ Literatur und für Literatur der 1960er Jahre unbrauchbar. Ebenso obsolet seien die Grenzen zwischen den Kunstdisziplinen wie etwa Literatur auf der einen Seite und Popmusik auf der anderen. Ein weiterer mitunter weniger beachteter Aspekt dieses zu überwindenden Grabens zwischen high und low culture betrifft das Publikationsformat. Ob etwas der Hoch- oder Trivialkultur zugeordnet wird, bestimmt nicht zuletzt auch die materielle Verfasstheit der Publikationen: »pulp magazines«,138 »hardcover edition[s]« und »paperback edition[s]«139 spiegeln und reproduzieren fortwährend die Differenz von high und low. Fiedlers erklärtes Ziel, nämlich den Graben zwischen Hoch- und sogenannter Trivialkultur zu schließen, adressiert demnach auch den Formatrahmen einer jeweiligen Veröffentlichung. Darüber hinaus spiegelt nicht zuletzt auch die Publikationsgeschichte des Textes die Überquerung der Grenze von high und low culture. Fiedlers Text ist sowohl in seiner deutsch- als auch in seiner englischsprachigen Erstpublikation in einem Periodikum erschienen. Die erste Veröffentlichung findet sich in deutscher Übersetzung in der September-Ausgabe der FAZ-Magazin-Beigabe Christ und Welt von 1968 unter dem Titel Das Zeitalter der neuen Literatur, aufgeteilt auf zwei Ausgaben der Zeitschrift.140 Fiedlers Text geht wiederum zurück auf einen, wie es in einem Jahre mehrfach Anspielungen auf die Zeitschrift. So zieht etwa Diedrich Diederichsen in einem Anzeigentext für Michael Schirners Werbeagentur GGK eine Traditionslinie vom Journal des Luxus und der Moden bis zum Münchner ›Zeitgeist‹-Blatt Elaste. Vgl. Michael Schirner/ Diedrich Diederichsen: »GGK-Anzeige«, in: Elaste (1984), H. 8/9, S. 54–55. Außerdem spielt eine Rubrik in Hans-Magnus Enzensbergers Zeitschrift TransAtlantik auf die Zeitschrift aus dem 18. Jahrhundert an. 138 Leslie Fiedler: »cross the border, close the gap«. In: Playboy (1969), H. 12, S. 151, 230, 252–258, hier S. 153. Pulp Magazines sind darüber hinaus auch insgesamt ein prägnantes Beispiel dafür, wie sich die materielle Verfasstheit von Publikationsformaten in Texte hineinschreibt. Das Genre der pulp fiction etwa geht auf sein ursprüngliches Publikationsorgan zurück, nämlich den aus Pulpe, einem holzhaltigen, billigen Papier bestehenden Zeitschriften. Vgl. Lawrence Davidson/Frank M. Robinson: Pulp Culture: The Art of Fiction Magazines, Oregon 1998. Ebenfalls bemerkenswert ist, dass die Pulp-Semantik zu einem populären Sujet im Pop-Diskurs avanciert. Man denke beispielsweise an Quentin Tarantinos Film Pulp Fiction und an die britische Band Pulp, deren Bandname sich wiederum auf Mike Hodges Film Pulp von 1972 bezieht. 139 Dieses und das vorherige Zitat aus: L. A. Fiedler: cross the border, S. 156. 140 Leslie A. Fiedler: »Das Zeitalter der neuen Literatur. Die Wiedergeburt der Kritik«, in: Christ und Welt vom 13.09.1968, S. 9–10; Leslie A. Fiedler: »Das Zeitalter der neuen Literatur. India-

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einleitenden Text in Christ und Welt heißt, »anhand nur weniger Notizen gehaltenen Stegreifvortrag mit dem Titel The case for Post-Modernism«141 zurück, den Fiedler im Juni 1968 »im Theatersaal der alten Universität in Freiburg bei Hitzegraden nahe dem Siedepunkt […] [im Rahmen des] so gut wie nicht beachte[ten] Symposium Für und wider die zeitgenössische Literatur in Europa«142 abhielt. Die erste in englischer Sprache abgefasste Veröffentlichung wiederum erfolgt ein Jahr später und zwar der Forderung des Textes gemäß nicht im Feuilleton einer Hochkulturzeitung, sondern im ›man’s entertainment magazine‹ Playboy.143 Der von Werbeanzeigen, pornografischen Filmstills und Aktfotografien umrahmte Text scheint im Playboy, was seine ›Verpackung‹ anbelangt, zu sich gekommen zu sein, erhebt Fiedler doch darin unter anderem die Pornografie zur Kunstform und zum Prototyp einer nach-modernen Literatur. Zudem erhält der Text erst jetzt seinen programmatischen Titel cross the border, close the gap. Fiedlers Text im Playboy ist in drei Blöcke aufgeteilt, die sich über knapp achtzig Seiten des Hefts erstrecken, wodurch dieser noch einmal stärker mit den ihn unterbrechenden pornografischen Inhalten verwoben wird.144

ner, Science Fiction und Pornographie: die Zukunft des Romans hat schon begonnen«, in: Christ und Welt vom 20.09.1968, S. 14–16. 141 L. A. Fiedler: Die Wiedergeburt der Kritik, S. 9. 142 Ebd., S. 8. 143 Dies scheint zunächst überraschend. Jedoch verfolgte das Herren-Magazin in den späten 1960ern die Absicht, die redaktionellen Inhalte des Heftes um (kultur-)theoretische Texte zu erweitern, vgl. Philipp Felsch: »Das Bunny schaut nach links«, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 15 (2021), H. 3, S. 61–63. Eine nochmalige Veröffentlichung des Textes, nun mit dem ins Deutsche übertragenen Titel der Playboy-Fassung, findet sich in der von Jörg Schröder herausgegebenen März-Anthologie Mammut: Leslie A. Fiedler: »Überquert die Grenze, schließt den Graben!«, in: Jörg Schröder (Hg.), Mammut. März Texte 1&2 1969–1984, Herbstein 1984, S. 673–697. 144 L. A. Fiedler: cross the border, S. 151, 230, 252–258.

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Abb. 8: Karl Wirsums Illustration zu Leslie Fiedlers cross the border, close the gap in der Dezember-Ausgabe des Playboy von 1969.

Auch die redaktionelle Rahmung des Textes im Playboy unterscheidet sich stark von der in Christ und Welt. In letzterer werden Fiedlers Beiträge in Form einer thesenorientierten Zusammenfassung des Textes eingeleitet: Leslie A. Fiedler, der streitlustige Verfechter der literarischen »Nach-Moderne«, spricht heute, im zweiten Teil seines Aufsatzes, über die Zukunft des Romans in unserer technologischen Epoche. Ehe wir dem amerikanischen Literaturprofessor, Romancier und Kritiker wieder das Wort geben, resümieren wir kurz die Thesen, die er in der letzten Ausgabe vortrug. Erste These: Der Kunstroman der »Moderne«, die zwischen den Weltkriegen herrschte, hat ausgespielt und mit ihm seine Vertreter, wie Thomas Mann, Joyce und Proust. Zweite These: Die »Moderne« ist an ihrer Rationalität, ihrer Sucht zur Analyse zugrunde gegangen. Dritte These:

2. Poptypografie, Layoutoberflächen, Literaturformate

In das Dilemma ist auch die zeitgenössische Kritik verwickelt, die mit ihrem Vokabular des »New Criticism« und der »werkimmanenten Interpretation« Bücher beurteilt, die schon weiter sind. Vierte These: Romanciers über Vierzig werden Schwierigkeiten haben, sich auf die Zukunft einzustellen, die Kritik wird nur überleben, sofern sie sich zum Kunstwerk erhebt. Fünfte These: Gewisse aktuelle formalistische Schulen, wie der »nouveau roman« der Franzosen, dürfen keineswegs mit der nachmoderne verwechselt werden, sie sind nur Nachzügler der »Moderne«. Sechste These: Die »nach-moderne Literatur« lebt schon mitten unter uns. Sie ist kunstfeindlich, magisch, frivol und liebt den Marktplatz. Siebente These: Das höchste Ziel der künftigen Literatur ist, endlich die Lücke zwischen Elite- und Massenkultur zu schließen, sozusagen die klassenlose Literaturgesellschaft herzustellen.145 Im Gegensatz zu dieser feuilletonistischen Diskussion des Textes, die diesen diskutiert und seine Argumentationslinien nachzeichnet, bleibt Fiedlers Text im Playboy auf den ersten Blick unkommentiert. Jedoch wird durchaus auf die Thesenführung des Textes im Playboy bezuggenommen, nämlich in Form einer zum Teil auch aus kurzen Wortphrasen bestehenden Illustration des Künstlers Karl Wirsum, die Fiedlers Text visualisiert (Abb. 8). Zu sehen sind Figurationen der von Fiedler beschworenen »pop forms«146 der post-modernen Literatur wie »western, science fiction und pornography«.147 Am oberen Rand findet sich der von Fiedler diagnostizierte Zustand der Literatur und Literaturkritik zu Papier gebracht: »CONDITION IS VERY CRITICAL«.148 Gleich darunter findet sich in runden Klammern die kranke, ›moderne‹ Literatur: »(THE ILL LITERATE)«.149 Im Zentrum des Bildes finden sich wiederum die Grenzen, die es zu überqueren gilt: »IT’S CURTAINS«.150 Unterhalb der Beschriftungen wird die abdankende Literatur der Moderne dargestellt, flankiert von zwei Figuren, die die neuen Kunstformen darstellen, dem Western, verbildlicht von einer weiblichen Figur im Cowboy-Kostüm und der Pornografie, dargestellt von einer weiblichen Figur in Burlesque-Kleidung. Direkt über dem Bildzentrum findet sich die Science-Fiction, dargestellt von zwei sich gegenüberstehenden Roboter-Büsten. Dementsprechend verdeutlicht der Text die Differenz und Aufhebung der kritisierten Grenzen auf performative Weise, wobei gerade die visuellen Oberflächen, wie die Illustration, der magazintypische Schriftsatz sowie die ihn umrahmenden Anzeigen, Fotografien und Comic-Bildstrecken, eine wesentliche Rolle spielen.

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L. A. Fiedler: Indianer, Science Fiction und Pornographie, S. 14. L. A. Fiedler: cross the border, S. 152. Ebd., S. 153. Karl Wirsum: »Illustration zu Leslie Fiedlers cross the border, close the gap«, in: Playboy (1969), H. 12, S. 151. 149 Ebd. 150 Ebd.

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Fiedler ist wiederum nicht der einzige Kulturtheoretiker der 1960er Jahre, der sich für die Differenz von Hochkultur und niederer Kultur sowie der Reproduktion dieser Differenz in Formaten und typografischen Oberflächen interessiert, (wobei Fiedlers Ansatz jedoch auszeichnet, dass er diese Differenz als literaturtheoretische und kulturpolitische Konstruktion der Moderne begreift). Denn fast zur selben Zeit, nämlich 1967, veröffentlicht Theodor W. Adorno sein Résumé über Kulturindustrie, als Teil seines Essay-Bandes Ohne Leitbild. Parva Aesthetica, – wobei eine Publikation im Playboy wohl nahezu undenkbar gewesen wäre. Darin vertritt er im Gegensatz zu Fiedler die These, dass der Brückenschlag zwischen Hochkultur und niederer Kultur nicht erst provoziert werden müsse, sondern als Folge einer Industrialisierung der Kultur längst im Gange sei: Sie [die Kulturindustrie] zwingt auch die jahrtausendlang getrennten Bereiche hoher und niederer Kunst zusammen. Zu ihrer beider Schaden. Die hohe wird durch die Spekulation auf den Effekt um ihren Ernst gebracht; die niedrige durch ihre zivilisatorische Bändigung um das ungebärdig Widerstehende, das ihr innewohnte, solange die gesellschaftliche Kontrolle nicht total war.151 Erstmalig formulierte Adorno seine Thesen zur Kulturindustrie bekanntlich bereits 1947 zusammen mit Max Horkheimer als Teil ihrer Dialektik der Aufklärung, in der das Autorenduo unter anderem »Film, Radio, Magazine«152 als maßgebliche Akteure der Kulturindustrie identifizieren, da sie jedwede Individualität der Kunst kassieren und in einen von der Warenform vorgegebenen Rahmen fügen würden. Im Falle der Magazine sind damit konkret die »Schnittmuster[] von Magazinumschlägen« samt der darauf befindlichen »konfektionierten Gesichter[] der Filmhelden«153 gemeint, wodurch die Warenform, in diesem Falle die der Zeitschrift, ihren jeweiligen Inhalt gewissermaßen formal vorzeichne. Darüber hinaus verbildliche das Format der populären Zeitschrift pars pro toto ein »[V]erschmelzen [von] Reklame und Kulturindustrie«:154 Reklame wird zur Kunst schlechthin, mit der Goebbels ahnungsvoll sie in eins setzte, l’art pour l’art, Reklame für sich selber, reine Darstellung der gesellschaftlichen Macht. In den maßgebenden amerikanischen Magazinen Life und Fortune

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Theodor W. Adorno: »Résumé über Kulturindustrie«, in: Charis Goer/Stefan Greif/Christoph Jacke (Hg.), Texte zur Theorie des Pop, Leipzig 2013, S. 16–22, hier S. 16. Theodor W. Adorno/Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947, S. 144. Ebd., S. 185. Ebd., S. 194.

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kann der flüchtige Blick Bild und Text der Reklamen von denen des redaktionellen Teils schon kaum mehr unterscheiden.155 Anhand der amerikanischen Hochglanz-Illustrierten werde so die kulturindustrielle Vereinnahmung der Kunst insgesamt offenbar, insofern die Form jedweden Inhalt notwendig in eine Ware und seine ästhetischen Oberflächen in verpackende Werbung verwandele. Daher gälte, so Adorno und Horkheimer, für das »Magazin auf Glanzpapier«, dass »dessen literarischer Inhalt – und handle es von Michelangelo – mehr noch als die Annoncen die Funktion von Geschäftsbericht, Herrschaftszeichen und Reklame erfüllt.«156 Adorno und Horkheimer vertreten in diesem Sinne einen Oberflächendeterminismus in der Kunst und in der Kultur, insofern die jeweilige Konsumform bzw. das jeweilige Format und nicht deren Inhalt über die ästhetische Wertigkeit eines Artefaktes bestimmen. Adornos und Horkheimers Ausführungen zur Kulturindustrie in der Dialektik der Aufklärung sind wiederum Teil eines größeren Projekts zur historischen Dialektik von Mythos und Aufklärung,157 in der, dies lässt sich aus einem Text Adornos zum Satzzeichen von 1956 entnehmen, nicht zuletzt auch typografische Elemente wie etwa die bildliche Dimension von Buchstaben eine Rolle spielen: »Sie [Buchstaben, Vf.] dienen nicht bloß beflissen dem Verkehr der Sprache mit dem Leser […], sondern ebenfalls hieroglyphisch einem der im Sprachinneren sich abspielt.«158 Und in eben dieser Differenz zwischen Innen und Außen bzw. Buchstabensinn und seiner ›hieroglyphischen‹ Bildlichkeit vollzieht sich Adorno zufolge die Dialektik zwischen Aufklärung und Mythos. In Folge des Widerstreits zwischen Logos und Mythos verstecke sich letzterer während des »19. Jahrhundert[s] […] in der Typographie«,159 beziehungsweise der typografischen Oberfläche, da er aus den Tiefen der Bedeutung verbannt wurde. Daran anschließend nimmt Adorno die Entwicklung der Typografie selbst in den Blick, wobei der in der Geschichte der Typografie so zentrale Wechsel von der Fraktur zu Antiqua-Type ähnlich kulturpessimistisch beäugt wird wie die populären Formate der Kulturindustrie: »Wenig fehlt darum, und man möchte für die wahren Satzzeichen nur die der deutschen Fraktur halten, deren graphisches Bild allegorische Züge bewahrt, und die der Antiqua für bloße säkularisierte Nachbilder.«160 Der Wechsel von Fraktur zur weniger ornamentalen und funktionalisti155 156

Ebd., S. 193. Ebd., S. 272. Vgl. zum Zusammenhang von Kunst und Reklame die Kap. 2.7, 4.2.3 und 5.3 der vorliegenden Arbeit. 157 Vgl. ebd., S. 10. 158 Theodor W. Adorno: »Satzzeichen«, in: ders.: Noten zur Literatur I, Gesammelte Schriften 11, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1996, S. 106–113, hier S. 106. 159 Ebd. 160 Ebd., S. 107. Zum historischen Streit um Antiqua- und Fraktur-Typen vgl. S. Wehde: Typographische Kultur, S. 216–219.

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scheren Antiqua wird so als bedeutsamer Schritt einer Vorgeschichte der Industrialisierung, Standardisierung und Funktionalisierung von Kultur verstanden. Bei dieser Industrialisierung der Kultur spielen nach Adorno nicht nur typografische Elemente, sondern auch Formatfragen eine Rolle, und diese Tendenz ist nicht nur bei Hochglanzmagazinen, sondern auch, wie in einem Bericht Adornos von der Frankfurter Buchmesse 1959 zu lesen ist, auf dem Buchmarkt zu beobachten. Dabei nimmt Adorno insbesondere die typografischen Oberflächen und die Formate der Bücher in den Blick. Wie auch im Falle der Hochglanzmagazine kritisiert Adorno, dass die »Bucheinbände […] zur Reklame für das Buch geworden«161 sind. Darüber hinaus beobachtet er auf der Buchmesse eine »Übertreibung der Formate, auftrumpfend wie disproportional breite Autos, oder die Plakatwirkung allzu intensiver und auffälliger Farben«.162 Die Überbetonung der typografischen Oberflächen geht für Adorno einher mit der zunehmenden Industrialisierung von Kultur, denn die Buchoberflächen stünden vor allem im Dienst der Konsumentenwerbung. Auf Grundlage dieser Beobachtungen stellt Adorno wiederum die Vermutung an, dass sich der Wandel der Buchoberflächen auf die Medienkonkurrenz zu populären Formaten und die modernen Neurungen alltäglicher Konsumästhetik zurückführen lasse: »[I]nsgesamt drängt sich auf, daß sich die Bücher dessen schämen, daß sie überhaupt noch welche sind und nicht Trickfilme oder von Neonlicht beschienene Schaufenster«.163 In Anschluss an diese Thesen Adornos formuliert auch Hanz Magnus Enzensberger Anfang der 1960er Jahre eine Kritik des Taschenbuch-Formats, wobei Enzensberger dafür plädiert, den Begriff der ›Kulturindustrie‹ durch den der »Bewußtseins-Industrie«164 zu ersetzen, da ersterer suggeriere, dass sich der beschriebene Zusammenhang auf Kultur eingrenzen ließe. Enzensberger versteht die »buntlackierte[n] Früchte«165 der Taschenbuchverlage als kulturindustrielle Formate par ex161

Theodor W. Adorno: »Bibliographische Grillen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.10.1959, S. 26, hier S. 26. Vgl. hierzu P. Felsch: Der lange Sommer, S. 35. 162 T. W. Adorno: Bibliographische Grillen, S. 26 163 Ebd. 164 Hans M. Enzensberger: »Bewußtseins-Industrie«, in: ders.: Einzelheiten I: Bewußtseins-Industrie, Frankfurt a.M. 1962, S. 7–15, hier S. 8. 165 Hans M. Enzensberger: »Bildung als Konsumgut. Analyse der Taschenbuch-Produktion (1958; rev. 1962)«, in: ders.: Einzelheiten I: Bewußtseins-Industrie, Frankfurt a.M. 1962, S. 134–166, hier S. 134. Vgl. hierzu auch Heinz Gollhardts Beitrag zum Taschenbuch als Medium der Massenkultur von 1969, der auf Enzensbergers Kritik Bezug nimmt, dem Taschenbuchformat jedoch ein emanzipatorisches Potenzial zuschreibt. Durch einen chaotischeren gesellschaftlichen Informationsaustausch befördere das Format einen Wandel »des ›kulturkonsumierende[n] Publikum[s]‹ in ein kritisches Publikum von Informierten«. Heinz Gollhardt: »Das Taschenbuch im Zeitalter der Massenkultur. Vom Bildungskanon zum ›locker geordneten Informationschaos‹«, in: Georg Ramseger/Werner Schoenicke (Hg.), Das Buch zwischen gestern und morgen. Zeichen und Aspekte, Stuttgart 1969, S. 122–132, hier S. 131. Vgl. u.a. P. Felsch:

2. Poptypografie, Layoutoberflächen, Literaturformate

cellence: »Das Dilemma ist ungemein charakteristisch für alle Branchen der Kulturindustrie, in die das Verlagswesen mit dem Taschenbuch nahtlos eingegangen ist. Es macht die literarische Produktion endgültig zu einem Appendix seiner finanziellen und technischen Apparatur.«166 Der Verlag wird so laut Enzensberger zur Marke degradiert. Die Gestaltung von Einband und Buchumschlag sind in erster Linie konsumästhetisch formatiert und dienen zuvorderst kapitalistischen Interessen. Die Außenseite des literarischen Textes wird so zur konsumgerechten Verpackung sowie zum Werbemittel für das Produkt: Das bescheidene Verlagssignet auf dem Vorsatzblatt ist zum Warenzeichen geworden, das an hervorragender Stelle, bunt und lakonisch, auf dem Umschlag prangt. Der Käufer hat es mit einem Markenartikel zu tun. Seit der Erfindung des Buchdrucks war das literarische Erzeugnis immer auch schon Ware, aber erst hier im Markenartikel, kommt dieser Warencharakter zu sich selbst. Der Einband wird zur normierten Verpackung. Ihm fällt die wichtige Rolle zu, sich mit dem Käufer über das Buch zu verständigen. Diese Verständigung ist im Gegensatz zu der Vermittlung, die der Buchhändler oder der Kritiker zu leisten vermag, immer einseitig. Ihr Medium ist nicht die Vernunft, sondern der Reiz. Nicht allein das graphische Geschick des Entwerfers, sondern vor allem die Forderungen der Verkaufspsychologie mit ihren Tests und Manipulationskünsten bestimmen das Aussehen des Taschenbuches. Es wird zum Plakat seiner selbst, die Reklame wird ihm auf den Leib gebunden. Die Kaschierung, der Lack, die flüchtige Aura seiner Unberührtheit verklärt zu einem reinen Konsumgut.167 Das Taschenbuch verdrängt somit nicht bloß das hochwertigere hard cover als Leitformat der Literatur, sondern tritt auch als Verständigungsmedium zwischen Literaturproduzent:innen und -konsument:innen an die Stelle der Literaturkritik. Zudem betrifft die kulturindustrielle Normierung der Literatur auch die Typografie und die Cover der Taschenbücher: »Die Herstellung wird vom Format bis zum Satz, von der Bindung bis zum kleinsten Detail der Aufmachung vereinheitlicht. Von besonderer Wichtigkeit ist die Standardisierung der Titelbilder, die meist von ständigen Teams entworfen werden.«168 Gerade anhand der standardisierten und entinDer lange Sommer, S. 36–37; ders.: »Der Leser als Partisan«, in: Zeitschrift für Ideengeschichte (2012), H. 4, S. 35–49, hier S. 46; A. Gilbert/J.-F. Bandel/T. Prill (Hg.): Unter dem Radar, S. 299; Thomas Hecken: »Die Stellung der Ästhetiken zum Konsum«, in: Heinz Drügh/Moritz Baßler (Hg.), Konsumästhetik. Umgang mit käuflichen Gegenständen 2019, S. 27–48, hier S. 43–44. 166 H. M. Enzensberger: Bildung als Konsumgut, S. 142. 167 Ebd., S. 137–138. 168 Ebd., S. 142. In seiner radikalsten Ausprägung äußert sich diese Tendenz des TaschenbuchFormats, darauf hat Stephen Greenblatt hingewiesen, im Falle von Best-Sellern »durch den Barcode, den die Taschenbuchausgabe auf dem Titelblatt wiedergibt.« (Stephen Greenblatt: Schmutzige Riten. Betrachtungen zwischen Weltbildern. Aus dem Amerikanischen von Jere-

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dividualisierten Reihencover, wie sie in den 1960er Jahren vermehrt aufkamen, zeigt sich für Enzensberger der Höhepunkt der kulturindustriellen Vereinnahmung des Literaturbetriebs. Wohl auch, da es sich bei dem Prinzip der Serialität ganz grundsätzlich um eine kulturindustrielle Logik handelt.169 Insofern scheint es nicht verwunderlich, dass Enzensberger, der zeitweise ein Mitspracherecht bei der Verlagsprogrammplanung von Suhrkamp hatte, Siegfried Unselds 1963 lancierte Antwort auf die ›Taschenbuchrevolution‹,170 die edition suhrkamp während der Konzeptionsphase der Reihe scharf kritisierte. Hiervon berichtet Unseld in Der Marienburger Korb, seiner kleinen Geschichte zur Buchgestaltung im Suhrkamp-Verlag.171 Unseld lässt darin zudem auch seine Lektüre von Enzensbergers bei Suhrkamp erschienener Textsammlung Einzelheiten Revue passieren, in der sich besagter Text zum Taschenbuchformat abgedruckt findet: »Auf Seite 118 meines Exemplars der 1962 erschienenen Einzelheiten steht noch heute am Rande mein großes ›Nein!‹«172 Auf besagter Seite formuliert Enzensberger seine Kritik am Taschenbuch, als Format der ernsten Literatur. Ähnlich wie Enzensberger äußert auch Max Frisch, der zu der Zeit ebenfalls in die Verlagsentscheidungen bei Suhrkamp eingebunden war, Kritik an Unselds Vorhaben. In einem Brief an Unseld vom 6. Juli 1962

my Gaines, Berlin 1991, S. 118). Im Kontext von Greenblatts Kulturpoetik spielen nicht zuletzt auch Publikationsformate eine Rolle, wenn es darum geht, sogenannten »Transmigrationen« von ›kultureller Energie‹ nachzuspüren. Greenblatt zufolge gibt es transparentere und intransparentere Formate. Erstere »erlauben uns einen Blick auf den sozialen Prozeß, durch den Objekte, Gesten, Rituale und Sätze gestaltet und aus einer Zone der Schaustellung in eine andere verschoben werden.« Letztere, wie zum Beispiel »– Bücher – verbergen diesen Prozeß in aller Regel. So daß wir den irreführenden Eindruck von Festigkeit erhalten und kaum etwas von den historischen Transaktionen spüren, durch welchen die großen Texte, die wir studieren, gestaltet worden.« (Ebd., S. 9). 169 Vgl. Georg Stanitzek: Etwas das Frieda Grafe gesagt hat, S. 186–187; ders.: »Gebrauchswerte der Ideologiekritik«, in: Oliver Jahraus/Mario Grizelj (Hg.), Theorietheorie. Wider die Theoriemüdigkeit in den Geisteswissenschaften, München 2011, S. 231–260, hier S. 242–243. 170 Vgl. hierzu den bereits 1974 erschienenen Text des deutschen, nach England emigrierten Typografen des Londoner Penguin-Verlags Hans Schmoller: »The paperback Revolution«, in: Asa Briggs (Hg.), Essays in the history of publishing. In celebration of the 150th anniversary of house of Longman 1724–1974, London 1974, S. 283–318. Vgl. darüber hinaus den auch für den deutschen Sprachraum besonders instruktiven Aufsatz von Ben Mercer: »The Paperback Revolution. Mass-circulation Books and the Cultural Origins of 1968 in Western Europe«, in: Journal of the History of Ideas 72 (2011), H. 4, S. 613–636. Vgl. zum Konzept der ›Taschenbuchrevolution‹ als mediale Ausprägung der 1968er Revolte in Deutschland Jan-Frederick Bandel/Georg Stanitzek: »Broschüren. Zur Legende vom ›Tod der Literatur‹«, in: Caspar Hirschi/ Carlos Spoerhase (Hg.): Bleiwüste und Bilderflut. Geschichten über das geisteswissenschaftliche Buch (Kodex: Jahrbuch der Internationalen Buchwissenschaftlichen Gesellschaft, Jg. 5), Wiesbaden 2015, S. 59–90. 171 S. Unseld: Der Marienburger Korb, S. 26–28. 172 Ebd., S. 27.

2. Poptypografie, Layoutoberflächen, Literaturformate

äußert dieser die Gefahr eines Bedeutungsverlustes der Marke Suhrkamp durch die hauseigene Taschenbuchreihe: »Suhrkamp in Leinen, Suhrkamp in Dosen, Suhrkamp als Brotaufstrich, Suhrkamp, Suhrkamp, der Name wird grassieren, je weniger er heißt.«173 Eine Erweiterung der Produktpalette um literarische Veröffentlichungen im Taschenbuchformat führe unweigerlich zu einer Inflation des Markennamens Suhrkamp, wobei Frisch bei seiner Argumentation ironischer Weise selbst konsumlogisch argumentiert. Gerade anhand solcher Äußerungen wird deutlich, welche Bedeutung die Wahl des Formats der Literatur für den Diskurs der 1960er Jahre hat. Unseld wiederum antwortet auf die ihm entgegengebrachte Kritik mit dem in programmatischer Weise hybriden Konzept eines nicht taschenbuchförmigen Taschenbuchs: »Eine Reihe sui generis sollte entstehen, Taschenbücher, und doch keine ›Taschenbücher‹. Auch hier das Äußere eine Äußerung des Inneren. Kein Lack, keine Folie, nichts Glänzendes, kein zierendes Ornament […].«174 Das Äußere sollte nicht nur ein neutrales Medium und Format des Inneren sein, sondern mit diesem interagieren. Zudem verzichtete man bewusst auf eine Nennung des Formats Taschenbuch auf dem ReihenCover, wie dies für Taschenbücher um die Zeit üblich gewesen sei. Es ging darum, ein Taschenbuch auf den Markt zu bringen, dessen äußere Aufmachung sich vom herkömmlichen Taschenbuch abgrenzen sollte, wobei die Gestaltung der äußeren Form eine wesentliche Rolle spielte. Das Design der edition suhrkamp geht zurück auf den deutschen Typografen und Art Director Willy Fleckhaus, der sich nach seiner frühen Schaffensphase, in der er sich zuvorderst mit der Gestaltung von Zeitschriftenlayouts beschäftigte, der Reihen- und Buchgestaltung in Sigfried Unselds Suhrkamp-Verlag zuwendet. Fleckhaus’ Entwurf der edition suhrkamp vermittelt dabei zwischen typografischer Tradition und Innovation. Das schlichte Typo-Layout der Cover wird von den knalligen Farben kontrastiert, deren Farbverlauf ursprünglich graduell zwischen den Textgattungen vermitteln sollte (von Blau für Epik zu Rot für Dramatik), was jedoch aus Gründen der Praktikabilität aufgeben werden musste. In der finalen Konzeption folgen die Farben der einzelnen Bücher dem Verlauf des Sonnenspektrums. So heißt es etwa im Ankündigungsprospekt zur edition suhrkamp: »Die ›edition suhrkamp‹ schafft keinen neuen ›Buchtyp‹. Sie wahrt die Tradition. Ihr Erscheinungsbild ist bekannt, konservativ, bewährt: kartoniert . . . farbige, typografisch gestaltete Umschläge (die Farbe der Umschläge folgen dem Sonnenspektrum…) keine Glanzfolie, kein Lack; Reklame findet auf dem Umschlag nicht statt.«175 Die Taschenbücher der edition suhrkamp sollten keineswegs als reine auf

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Zit. n. R. Fellinger: Kleine Geschichte der edition suhrkamp, S. 25. Vgl. zur Etablierung von Suhrkamp als Marke C. Windgätter: Vom Blattwerk der Signifikanz, S. 24–25. S. Unseld: Der Marienburger Korb, S. 41. Zit. n. R. Fellinger: Kleine Geschichte der edition suhrkamp, S. 29.

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Profitmaximierung angelegte Konsumgüter missverstanden werden, wobei wohl vor allem die Enzensberger’sche Kritik am Taschenbuch aus dem Ankündigungstext spricht. Beispielhaft für diesen Zusammenhang wäre neben der edition suhrkamp auch die in den 1980ern von Jakob Taubes geleitete Taschenbuchreihe Theorie von Suhrkamp. In dem 1987 bei Merve erschienenen Band Ad Carl Schmitt. Gegenstrebige Fügung, der Jacob Taubes Interesse an Carl Schmitt nachspürt, findet sich unter anderem ein Streitgespräch zwischen Taubes und Kurt Sensheimer abgedruckt, wobei nur die Redebeiträge Taubes transkribiert und in den Band aufgenommen wurden. In diesem Gespräch kommt Taubes auch auf die Bedeutung der SuhrkampTaschenbücher für den Intellektuellen-Diskurs der BRD der 1960er Jahre zu sprechen: In der Konfiguration Suhrkamp-Theorie, da muß ich Habermas verteidigen, war er immer gegen die ldee, daß wir Schmitt in die Suhrkamp-culture aufnehmen. Und es waren Karl Markus Michel und Jacob Taubes, die mit dem Gedanken spielten. Und es sei zur Ehre von Schmitt gesagt, daß er sagte, ›also nein, in die Suhrkamp-culture gehe ich nicht‹. So hat auch Heidegger abgelehnt, der sehr viel Geld versprochen bekam, um »Sein und Zeit« als Taschenbuch bei Suhrkamp zu veröffentlichen, eine Summe, die jenseits der sonstigen Marktpreise war. So haben die beiden Rückgrat gehabt und gesagt, ›nein, Suhrkamp-culture ist nicht unsere culture‹.176 Der Begriff der ›Suhrkamp Culture‹ geht wiederum auf einen Artikel des US-amerikanischen Komparatisten George Steiner im Times Literary Supplement von 1973 zurück, in welchem Steiner über Adornos Rolle im deutschen Theoriediskurs der 1960er Jahre reflektiert: »Like Bloch and Walter Benjamin, Adorno has profited formidably from what one might call ›the Suhrkamp culture‹ wich now dominates so much of German high literature and interllectual ranking. Almost singlehanded, by force of cultural-political vision and technical acumen, the publishing firm of Suhrkamp has created a modern philosophical canon.«177 Indem Steiner darauf 176

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Jacob Taubes: Ad Carl Schmitt. Gegenstrebige Fügung, Berlin 1987, S. 49. Zu Jakob Taubes Rolle als Verlagsberater bei Suhrkamp und seinem Mitwirken an dem Hervorbringen der sogenannten ›Suhrkamp Culture‹ vgl. Morten Paul: »Vor der Theorie. Jacob Taubes als Verlagsberater«, in: Zeitschrift für Ideengeschichte (2012), H. 4, S. 29–34, hier S. 34. Vgl. hierzu auch P. Felsch: Der lange Sommer, S. 61. George Steiner: »Adorno: Love and Cognition«, in: Times Literary Supplement vom 09.03.1973, S. 253–255, hier S. 255. Vgl. hierzu C. Windgätter: Vom Blattwerk der Signifikanz, S. 18. Zum Begriff der ›Suhrkamp Kultur‹ vgl. weiterhin Philipp Felsch: »Das Unbehagen der Suhrkamp-Kultur. Kommentar zu Ulrich Raulffs und Marie Luise Syrings Porträt der französischen Zeitschrift Traverses«, in: ZMK Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung. ANT und die Medien 4 (2013), H. 2, S. 77–81.

2. Poptypografie, Layoutoberflächen, Literaturformate

aufmerksam macht, dass Adornos Popularität zum Teil auf Suhrkamp und seine Theorie-Taschenbücher zurückzuführen ist, weist er implizit auch auf die vertrackte Situation hin, dass Adorno, trotz seiner Applikation des Kulturindustrie-Begriffs auf das Taschenbuchformat, selbst in der Kulturindustrie aufgegangen ist. Grundsätzlich ist dabei bemerkenswert, dass vermeintlich nebensächliche Formatfragen so kontrovers diskutiert werden und dass sich die Differenzen zwischen dem konservativen und dem progressiven Theorie-Lager auch in der Wahl der Formate und ihrem Verhältnis zu den typografischen Oberflächen des Textes spiegeln.178 Diese Ablehnung des Taschenbuch-Formats durch konservative Intellektuelle in Deutschland lässt sich bemerkenswerterweise historisch bis in die literarische Moderne zurückverfolgen. Denn auch Stefan George, so lässt es sich einem Brief an Karl Wolfskehl entnehmen, spricht sich vehement gegen das Taschenbuchformat sowie gegen Werbeanzeigen in seinen Büchern aus: eben erhalten vom sogenannten Insel-verlag ein klebeheftchen mit so schamlosen so unsäglich schmierigen anpreisungen dass dagegen ein S-fischer noch vornehm erscheint. Es ist ein zeichen dafür, dass den schreibenden menschen von heute das letzte gefühl für adel und würde abhanden kam – wenn sie nach solchen herbeigeführten oder nur zugelassenen ansudelungen noch weiter zu atmen wagen…179 Das Taschenbuch bleibt für George unweigerlich ein Produkt der Massenkultur und für eine solche hat George bekanntlich nicht viel übrig: »Schon eure Zahl ist Frevel«,180 heißt es nicht zuletzt in Georges Gedichtzyklus Der siebente Ring. Zudem verwandelt das Taschenbuch die Literatur in eine Ware, die beworben werden muss und eben auch selbst bewerben kann. Darüber hinaus lässt sich Georges Ästhetizismus, der auch das Format der Literatur miteinschließt, nicht mit der Klebebindung und den Anzeigen-Peritexten in Einklang bringen. Denn das ästhetizistische 178

Suhrkamps Feindlichkeit gegenüber nicht textlichen Elementen des Buchs greift nicht zuletzt auch auf die Abbildungen über, die zeitweise verdächtig schlecht reproduziert werden, vgl. Jost Philipp Klenner: »Suhrkamps Ikonoklasmus«, in: Zeitschrift für Ideengeschichte (2012), H. 4, S. 82–91; P. Felsch: Der lange Sommer, S. 161. 179 Stefan George: »Brief an Karl Wolfskehl v. 16.12.1903«, in: Birgit Wägenbaur/Ute Oelmann (Hg.), Von Menschen und Mächten, München 2015, S. 520. 180 Stefan George: »Der Siebente Ring. Die tote Stadt«, in: ders: Sämtliche Werke Bd. 6/7, hg. von der Stefan George Stiftung, Stuttgart 1982–1984, S. 30–31, hier S. 31. Vgl. zur Bedeutung der Typografie und Buchgestaltung bei Stefan George Wulf D. von Lucius: »Buchgestaltung und Typographie bei Stefan George«, in: Achim Aurnhammer/Wolfgang Braungart/Stefan Breuer [u.a.] (Hg.), Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch, Berlin/Boston 2012, S. 467–497. Vgl. weiterhin Günter Baumann: »Medien und Medialität«, in: Achim Aurnhammer/Wolfgang Braungart/Stefan Breuer [u.a.] (Hg.), Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch, Berlin/ Boston 2012, S. 683–708.

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Programm Georges schließt die typografischen Oberflächen seiner Literatur zwingend mit ein, wobei ironischerweise auffällt, dass sich Georges zusammen mit Georg Bondi herausgegebene Publikationen des George Kreises selbst des Prinzips einer typografischen corporate identity bedienen. Der George Kreis samt seiner Inszenierungspraktiken auf Autorenfotos sowie seiner Publikationsorgane und -strategien bildet so nicht zuletzt auch eine Marke aus. Zusammenfassend wird also das Paradox einer Selbstpositionierung im literarischen, kulturellen und intellektuellen Feld durch materielle Oberflächen wie die typografische und grafische Gestaltung von Buchobjekten deutlich. Auch die bewusste Ablehnung von Oberflächeneffekten wie im Falle Georges und Adornos zeitigt im Kontext der medialen Umgebung des 20. Jahrhunderts eben solche und ist als spezifische Markenästhetik erkennbar.

2.6 »Instant steal!«: Ästhetik der Xerox-Fotokopiertechnik In einem 1998 in Hans Magnus Enzensbergers Theorie-Zeitschrift Kursbuch erschienenem Text setzt Friedrich Kittler Luhmanns Theorie der Ausdifferenzierung der Medien, in der jedes überkommene Medium stets eine neue Funktion oder Nische zugewiesen bekomme, die Idee eines bloßen mimetischen Fortschreibens »fraktaler Abbildungen«181 gegenüber. Demnach blieben überkommene Medien bloß noch in den (Benutzer-)Oberflächen neuer Medien erhalten, wobei Kittler die Form des Xerox-Fotokopiergeräts beispielhaft als eine eben solche hauntologische Reproduktion anführt: »Büroschreibtische alias Desktops lieferten der Firma Xerox das ausdrückliche Vorbild, um Mensch-Computer-Schnittstellen zur sogenannten graphischen Benutzerfreundlichkeit zu verhelfen.«182 Kittler zufolge schreibt sich die Marke Xerox so an bedeutsamer Stelle in die Geschichte der Produktions-, Reproduktions- und Verbreitungstechniken von Schrift ein, da sie einerseits an vergangene Schreibgeräte wie eben den Schreibtisch anschließt und andererseits die Grundlage für gänzlich neue Produktions- und Reproduktionsmöglichkeiten schafft, in dem es die technische (Re-)produktion von Schrift- und Bilderzeugnissen personalisiert und jedem zugänglich macht. Die Firma Xerox schafft damit nicht zuletzt auch die Grundlage für die Produktion von ›Punk‹-Fanzines und DIY-Zeitschriften aller Art der 1980er Jahre. In einer Sonderausgabe des Frankfurter Magazins Instant von 1986 zu einer DIY-Ausstellung von Fanzines, Szene- und ›Zeitgeist‹-Zeitschriften der späten 1970er und

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Friedrich Kittler: »Bewegliche Lettern. Ein Rückblick auf das Buch«, in: Kursbuch. Das Buch (1998), H. 133, S. 195–200, hier S. 199. Enzenzbergers 1965 lancierte Zeitschrift Kursbuch spielt als eine der ersten Theorie-Zeitschriften in Deutschland wiederum eine nicht unwesentliche Rolle in der Geschichte der Theorie, vgl. P. Felsch: Der lange Sommer, S. 63. F. Kittler: Bewegliche Lettern, S. 199.

2. Poptypografie, Layoutoberflächen, Literaturformate

frühen 1980er Jahre findet sich nebst zahlreicher Abbildungen der gezeigten Hefte – ausgestellt werden unter anderem Mode & Verzweiflung- und Elaste-Ausgaben sowie eine Ausgabe des Sprengreiters – ein einleitender Text von Hubert Kretschmer, dem damaligen Kurator der Ausstellung und heutigen Inhaber des Münchener Archivs AAP (Archive Artist Publications), das sich auf Zeitschriften-, Popkultur und diverse Künstlerpublikationen spezialisiert hat. Der Kurator der Ausstellung Kretschmer fasst darin den medienästhetischen Zusammenhang der Fanzines und Popzeitschriften konzise zusammen: einige zeitschriften erschienen nur einmal,/viele gibt es nur in geringen auflagen,/manche wechseln ständig das format,/andere haben sich über längere zeit behauptet,/und dennoch: einige erscheinen in höheren auflagen,/und die allermeisten erscheinen unregelmäßig,/tauchen im buchhandel kaum auf und sind in vertrieben so gut wie nicht präsent,/denn oftmals werden diese publikationen von den künstlern und ihren freunden direkt ›an den mann gebracht‹./Die preise sind dementsprechend niedrig und sollen meist nur die produktionskosten einspielen./die ›instant‹-medien, wie polaroid, xerox, video und cut-up typografie spielen dabei eine ebenso entscheidende rolle, wie die rasante entwicklung auf dem gebiet des kleinoffset-schnelldruckes, die es erlaubt, innerhalb kürzester zeit zu günstigen preisen kleine auflagen in gängigen formaten herzustellen.183 Auffallend ist, dass die Wahl des Publikationsortes, d.h. der Zeitschrift Instant, nicht zufällig gewählt zu sein scheint, da der Titel der Zeitschrift wohl auch die medientechnische Innovation der ›Instant‹-Medien wie eben auch Xerox reflektiert. Was die instantanen Medien ermöglichen, ist eine Art Gegen-Presse, die in kleinen Auflagen aufgrund der höheren Produktionsgeschwindigkeit schneller auf das Zeitgeschehen reagieren können und so an den im Zeitschriftenmarkt etablierten Magazinen vorbei schreiben. Nicht zuletzt ermöglichen die neuen Druck- und Kopiermedien neue Layout-Techniken wie die cut-up-Typografie, womit die für Fanzines typische Montagetechnik gemeint ist, die Schnipsel aus verschiedenen anderen Zeitschriften und Druckerzeugnissen sowie eigene handschriftliche oder auf Schreibmaschinen getippte Texte remontiert. Kretschmer sieht darin das für Popmusik und -kultur typische Konzept einer »recycling-kunstbewegung […], die davon ausgeht, daß die gesamte wirklichkeit als archiv zur verfügung steht«.184 Dabei handelt es 183

Hubert Kretschmer/Franz Aumüller/Thomas Feicht/James Nitsch: »Exposition: Instant Media«, in: Instant (1986), H. 16, n.p. 184 Ebd. Man knüpft so noch einmal an die für die Moderne um 1900 zentrale künstlerische Verfahrenstechnik der Collage an, die ursprünglich in ähnlicher Weise materialästhetisch konzipiert war. Die Bezeichnung schreibt sich von coller her, dem französischen Wort für kleben und ist auch zu Anfang eng mit dem neuen Massenmedium Zeitschrift verbunden. Zu den Collage- und Montagemethoden der historischen Avantgardebewegungen vgl. Enno Stahl: Anti-Kunst und Abstraktion in der literarischen Moderne (1909–1933), Frankfurt a.M. 1997,

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sich um die Geburt dessen, was sich in den 1990er Jahren, beispielsweise in der Prosa von Mode & Verzweiflung-Herausgeber Thomas Meinecke, als literarisches Verfahren etablieren wird, nämlich Zitat-Pop.185 Die späteren Alben von Meineckes Band FSK, die er gemeinsam mit einigen anderen Herausgeber:innen der Zeitschrift Mode & Verzweiflung gründete, wie auch seine späteren Romane basieren allesamt auf demselben Prinzip, bereits bestehende Versatzstücke aus der Musik, Kunst und Literaturgeschichte in eine neue, remontierte Anordnung zu bringen und in einen neuen Kontext zu überführen. Die Annahme, dass sich dieses Prinzip auch im Falle von FSK und Meineckes Romanen zum Teil aus der Medientechnik der Xerografie ableitet, scheint auch insofern plausibel, als dass Meinecke als Herausgeber von Mode & Verzweiflung selbst in dieser Zeitschriftenkultur sozialisiert wurde. Auch für den britischen Medienwissenschaftler Alessandro Ludovico, der eine umfassende Geschichte des Drucks seit 1894 vorgelegt hat, stellt die Xerografie eine bedeutende Zäsur in der historischen Entwicklung von Drucktechnologien dar. In seiner Kulturgeschichte des Drucks zeichnet Ludovico nach, wie die Xerografie bzw. das Fotokopieren die Drucktechnik der Mimeografie als Leitverfahren der technischen Reproduktion von Schrift und Bild ablöst und wie sich dies auf die (Pop-)Kultur auswirkt: This was first marketed by Xerox in the 1960s for use in offices (although the basic principle of ›electrostatic printing‹ had been described as far back as the 18th century). Later, in the 1970s, the technology gradually became available to the general public, through coinoperated machines or in specialised copy shops. A blackand-white copy of any original could now be created cheaply and instantaneously, opening up endless new possibilities for small-print productions. Photocopying made its appearance just before the beginning of the mid-1970s Punk cultural revolution, which quickly and wholeheartedly embraced this new medium, for its particular aesthetic qualities as well as its properties as a means of communication. Publishing a zine, or printing a flyer, was now easier than ever. Punk zines became an integral element of the Punk culture, making full use of the medium’s black-and-white aesthetic, and with a playful attitude towards the photocopying process itself (for example, the shades and contrasts obtained by re-copying a copy, the ability to ›photograph‹ objects placed directly upon the scanning window, and the strange effects that could be created by moving the original during the scanning process) – which would also inspire the later Copy Art movement.186 S. 34–50. Vgl. weiterhin Bernd Storz (Hg.): Aspekte der Collage in Deutschland. Von Schwitters bis zur Gegenwart, Reutlingen 1996. 185 Vgl. Thomas Ernst: »Pop, Plagiat und Persönlichkeitsrechte. Thomas Meineckes Romanpoetik und das Recht«, in: Text+Kritik: Thomas Meinecke (2021), H. 231, S. 46–56. 186 A. Ludovico: Post-Digital Print. The Mutation of Publishing since 1894, S. 43–44. So interessiert sich auch Andy Warhol Ende der 1960er Jahre für die Xerografie. Andy Warhols Popism endet etwa mit dem Hinweis darauf, dass Warhol ein Xerox-Fotokopiergerät für die Facto-

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Xerox bildet insofern nicht bloß die technische Grundlage für ›Punk‹-Fanzines sowie vergleichbare Zeitschriftenprojekte der späten 1970er und frühen 1980er Jahre, sondern provoziert gleichermaßen eine ästhetische Auseinandersetzung mit dem Medium, infolgedessen die Xerografie von den Herausgeber:innen der ›Punk‹-Fanzines zum Formprinzip erhoben wird: Photocopying proved essential to Punk culture for a number of reasons: it guaranteed individual freedom of expression, it encouraged a do-it-yourself attitude, and it was cheap and accessible. Furthermore, the freedom to sample and juxtapose images led to the production of collages that enabled the Punk zinester to re-appropriate media in new and liberating ways – techniques which remain in use in various forms to this day.187 So liefert das Medium gewisse Voreinstellungen, die die für Fanzines insgesamt typische Zitat- beziehungsweise Plagiat-Ästhetik gewissermaßen vorzeichnen. Dies geht einher mit einer programmatischen Ablehnung von künstlerischer Originalität und unterminiert zugleich das juristische Konzept von geistigem Eigentum, wie es sich seit dem 18. Jahrhundert im Literatur- und Kulturbetrieb etabliert hat.

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ry angeschafft habe. Andy Warhol/Pat Hackett: POPism. The Warhol Sixties, London 2007, S. 461. Darüber hinaus finden sich in I’ll be your Mirror mehrfach Belege für Warhols Interesse an Xerox, etwa in einem Interview mit Glenn Suokko über die Bedeutung von Computern, wie etwa dem Amiga, für die Pop-Art: »GLENN: How do your friends feel about computer art generally? ANDY: They all like it. They have been using the xerox, and they can’t wait until they can use this because there are so many people into xerox art. You do it and then take the stuff to the xerox store and do the prints there.« (Andy Warhol/Guy Wright/Glenn Suokko: »Andy Warhol: An Artist and His Amiga«, in: K. Goldsmith (Hg.), I’ll Be Your Mirror, S. 632–652, hier S. 646). Denn neue Reproduktionstechniken ermöglichen neue Druck-Oberflächen und damit auch neuartige Kunst. Des Weiteren erwähnt Warhol beispielhaft die Kunst Jean-Michel Basquiats, der, laut Warhol, alle seine Gemälde mit Xerox überziehe und so ein besonderes Spannungsverhältnis zwischen dem Genre des Gemäldes und dem Medium Xerox kreiere: »Well, this friend of mine, named Jean-Michel Basquiat, goes to the xerox machine and puts xerox all over his paintings. So, if we had a printer right here I could do it this way and just sign it as a print. But, I guess if printers ever get really big, like a twenty by thirty or thirty by forty, then it would really be great. GSW: So you don’t see any problem? Something you do on the computer can be re-created pixel for pixel, an exact duplicate?« (Ebd., S. 642–643). Indem Basquiat seine Gemälde mit Xerox als Original (re)produziert, paradoxiert er die vermeintliche Einzigartigkeit seiner Werke. So verwandelt Basquiat seine analogen Gemälde in digitale Information, die so potenziell Pixel für Pixel reproduzierbar sind. Warhol selbst nutzt Xerox ebenfalls für Selbstportraits, die er als Bildbeigabe zu einem Playboy-Artikel über sich selbst in der Novemberausgabe von 1969 veröffentlicht. (Vgl. Andy Warhol: »Self-Portraits«, in: Playboy (1969), H. 9, S. 132–133, hier S. 133). A. Ludovico: Post-Digital Print, S. 44. Vgl. zur Geschichte des Erfinders der Fotokopiertechnik Chester Carlson David Owen: Copies in Seconds. Chester Carlson and the birth of the Xerox machine, New York/London/Toronto/Sydney 2005.

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Dieser Zusammenhang wird wiederum in der ›Punk‹- und ›New Wave‹-Kultur selbst reflektiert, beispielsweise in den lyrics des 1979 auf dem Londoner Label Do it Records erschienenen Songs Zerox der britischen Band Adam & the Ants. Darin wird Plagiat-Ästhetik durch einen Vergleich mit dem Xerox-Fotokopiergerät illustriert: »I steal your chords, Zerox machine«.188 Weiterhin heißt es darin:»Collect up the ideas and duplicate/Filling up the forms, send them off tonight/And you’ll be the owner of the copyright«.189 Zudem lässt sich ein solches Interesse von ›Punk‹- und ›New Wave‹-Bands an der Xerografie auch in Deutschland beobachten. Laut Wolfgang Müller, dem Herausgeber des Merve-Bandes Geniale Dilletanten, trat »der spätere Technostar Westbam in einer eigens für den Abend zusammengestellten Band: ›Kriegsschauplatz Tempodrom‹« 1981 beim Festival der Genialen Dilletanten im Berliner Tempodrom unter dem Pseudonym »Frank Xerox«190 auf. Der damals sechzehnjährige ›Frank Xerox‹, mit bürgerlichem Namen Maximilian Lenz, reichte zudem einen Beitrag für den bei Merve erschienenen Band Geniale Dilletanten ein, den Müller, wie dieser später berichtet, jedoch ablehnte.191 Dabei ist WestBam nicht der erste in Deutschland, der sich auf die Xerox-Fotokopiertechnik bezieht. Die Firma Rank Xerox, die 1963 mit großangelegten Anzeigenkampagnen nach Deutschland expandieren,192 rücken bereits im Laufe der 1960er Jahre in den Fokus der beiden deutsche Literaten Rolf Dieter Brinkmann und RalfRainer Rygulla. 1970 etwa erscheint ein Gedicht mit dem Namen Frank Xerox’ »wüster Traum« in der Zeitschrift Merkur, das, so Rygulla, als »eine Verbeugung vor der fabelhaften Erfindung der Fotokopie«193 gedacht war. Der kurze Text wiederum war ursprünglich Teil einer Anthologie mit dem Titel Frank Xerox’ wüster Traum und andere Kollaborationen, die bei März in Planung war, jedoch aufgrund von Brinkmans

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Adam and the Ants: »Zerox«, in: Dirk Wears White Sox, London: Do It Records 1979. Ebd. Wolfgang Müller: Subkultur Berlin 1979–1989. Freiheit, Hamburg 2013, S. 221. Ebd., S. 324. Und auch der Merve Verlag zeigt sich Ende der 1970er Jahre nicht nur interessiert an der ›Punk‹-Kultur, sondern auch an der mit dieser intrikat verwobenen Medientechnik der Xerografie. Philipp Felsch berichtet etwa, dass der Merve-Verleger Peter Gente sich in den 1980er Jahren eine Art Archiv aus »gummierten Xerox-Kopien« anlegte. (P. Felsch: Der lange Sommer, S. 35). Die Anzeigenkampagne wird zudem prämiert. Werbung in Deutschland: »Rank Xerox: Mit Coupons«, in: Werbung in Deutschland. Jahrbuch der deutschen Werbung (1964), S. 209–211, hier S. 209. Ralf-Rainer Rygulla: »Zu den Briefen des jungen Dichters 1961 bis 1970«, in: Karl-Eckhard Carius (Hg.), Brinkmann. Schnitte im Atemschutz, München 2008, S. 116–121, hier S. 121. Darin heißt es etwa: »Die Milchstraße ist die größte Kopieranstalt des Alls.« Auch darüber hinaus ist die Kopie bestimmendes Thema des Gedichts. Rolf Dieter Brinkmann/Ralf-Rainer Rygulla: »Frank Xerox’ ›wüster Traum‹«, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für Europäisches Denken 24 (1970), H. 268, S. 747.

2. Poptypografie, Layoutoberflächen, Literaturformate

unerwartetem tödlichen Unfall in London nie fertig gestellt wurde.194 Dabei hatte Brinkmann sogar schon den Einband der Publikation vorkonzipiert, wie es die später veröffentlichten Notizen von Brinkmann zu Frank Xerox verraten: »Einband: richtiger steifer & dicker Papp-Einband wie bei Kinder-büchern (mit gebundenem Satzblock darin) etc./Umschlagentwurf nach einem Foto aus dem Starkalender der Columbia-Film-Gesellschaft 1969«.195 Wie auch bei der im März-Verlag erschienenen Anthologie Acid von Brinkmann und Rygulla spielten Buchoberflächen bei der Planung dieser Publikation eine wesentliche Rolle. Bei dem Titel der geplanten Anthologie handelt es sich um eine Parodie des Firmennamens Rank Xerox GmbH, auf welchen Brinkmann auch explizit Bezug nimmt. Brinkmann zufolge trugen die Fotokopierer der amerikanischen Firma wesentlich dazu bei, dass die Literatur in einem für sie neuen Umfeld gezwungen war, neue Formen zu entwickeln. Man könne nicht so tun, schreibt Brinkmann 1960 in seinem Vorwort zu Lunch Poems, der von ihm herausgegebenen Lyrik Frank O’Haras, »als lebten ›Dichter‹ nur mit kostbarsten gedanklichen Wertgegenständen, in einer Welt ohne Schlager, Schlagzeilen und Kinoplakate, ohne ganzseitige Reklamen für Cinzano, Rank Xerox«.196 Denn Xerox, so Brinkmann in seinem Vorwort zu Silver Screen, verändere die Welt von Grund auf, man lebe »im Zeitalter der Ablichtungen (Xerox) […], der unbegrenzten Vervielfältigungsmöglichkeit, die den abgelichteten Gegenstand qualitativ verändern«.197 Insbesondere Brinkmanns Beobachtung (oder vielmehr medientheoretische These), dass mit der neuen Reproduktionstechnik auch eine qualitative Veränderung des reproduzierten Gegenstands einhergeht scheint bemerkenswert, da so mediengeschichtliche Zäsuren nicht nur zu einer Erneuerung des Abbilds, sondern damit auch der abgebildeten Welt führen. Direkt im Anschluss an diese Äußerung zitiert er wiederum Marshall McLuhans und Quentin Fiores The Medium is the Massage, für die die Xerografie ebenfalls eine Zäsur in der Geschichte der Reproduktionsmedien markiert: »›Die Xerographie –

194 Vgl. Jörgen Schäfer: »The Making of Pop-Literature. Rolf Dieter Brinkmann und sein Kölner Freundeskreis«, in: Marcus S. Kleiner/Dirk Matejovski/Enno Stahl (Hg.), Pop in R(h)einkultur. Oberflächenästhetik und Alltagskultur in der Region, Essen 2008, hier S. 113–114. Vgl. auch Ralf-Rainer Rygulla: »FRANK XEROX’ WÜSTER TRAUM und andere Kollaborationen«, in: Literaturmagazin. Sonderheft Rolf Dieter Brinkmann (1995), H. 36, S. 51–56, hier S. 55. 1978 erscheint zudem eine 7’’-Single auf dem Londoner Label Artista der Band Frank Xerox and the Copy Cats. Frank Xerox and the Copy Cats: Judy in Disguise, London 1978. 195 Rolf Dieter Brinkmann: »Notizen zu ›Frank Xerox‹«, in: Literaturmagazin. Sonderheft Rolf Dieter Brinkmann (1995), H. 36, S. 56, hier S. 56. 196 Rolf Dieter Brinkmann: »Über Frank O’Haras Gedichte«, in: Frank O’Hara: LUNCH POEMS UND ANDERE GEDICHTE, hg. von Rolf Dieter Brinkmann, Köln 1969, S. 62–66, hier S. 65. Nochmals abgedruckt in Rolf Dieter Brinkmann: Der Film in Worten. Prosa Erzählungen Essays Hörspiele Fotos Collagen 1965–1974, Reinbek 1982, S. 211. 197 Rolf Dieter Brinkmann (Hg.): SILVER SCREEN. Neue amerikanische Lyrik, Köln 1969, S. 27.

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geistiger Diebstahl für alle – kündet die Zeiten des Sofortbuches an.‹«198 Auf die von Brinkmann zitierte Stelle folgen im Text McLuhanns und Fiores zudem noch Überlegungen darüber, welche Konsequenzen mit dem »instant publishing«199 einhergehen: »Anybody can now become both author and publisher. Take any books on any subject and custom-make your own book by simply xeroxing a chapter from this one, a chapter from that one–instant steal!«200 McLuhan und Fiore zufolge führt die neue Möglichkeit der sofortigen Reproduktion von Büchern und Zeitschriften zu einer radikalen Demokratisierung des Literaturbetriebs, zu einer Nivellierung der in ihm geschaffenen Handlungsrollen und zu einem programmatischen Verzicht auf Originalität. Gerade an letzterem Punkt wird ersichtlich, warum die Xerografie im Zuge ihrer massenhaften Verbreitung durch Copyshops in den späten 1970er Jahren ein so inniges Verhältnis mit den ›Punk‹- und ›New Wave‹-Zeitschriften eingeht, denn auch diesen bedeutet Originalität nicht viel, vielmehr sind sie interessiert am (typografischen) Zitat und Plagiat. Insgesamt wird so deutlich, dass die Xerographie für die Literatur und die Popmusik seit 1960 eine zentrale Grundlage für künstlerische und kulturelle Neuerungen bzw. Kompositions- und Formprinzipe darstellt und dass dieser Umstand zugleich auch von den verschiedensten Akteuren aus besagten Feldern selbst beobachtet und thematisch in der eigenen ästhetischen Produktion verarbeitet wurde.

2.7 »But today we collect ads«: ›Pop‹ und Werbeoberflächen ›Pop‹ und Werbung scheinen intrikat verwoben, denn die Aufwertung von Werbung zum zeitweiligen Usurpator der Kunst markiert nicht zuletzt in Teilen den Beginn der britischen Pop Art. Die beiden Architekten Allison und Peter Smithon, Mitglieder der Independent Group, einer für die britische Pop Art zentralen Vereinigung, stellen beispielsweise in ihrem 1959 im Londoner Ark Magazine veröffentlichten Artikel But today we collect ads fest, dass die populäre Werbung in ein Konkurrenzverhältnis zur bildenden Kunst getreten sei und letztere gezwungen habe, sich von Grund auf neu auszurichten: Advertising has caused a revolution in the popular art field. Advertising has become respectable in its own right and is beating the fine arts at their old game.

198 Ebd. Vgl. Markus Fauser/Dirk Niefanger/Sybille Schönborn (Hg.): Brinkmann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Berlin 2020, S. 289–292. 199 M. McLuhan/Q. Fiore: The Medium is the Massage, S. 123. 200 Ebd. Philipp Felsch verfolgt zudem, welchen Effekt die neue Technologie des Offset-Drucks auf die 1974 vom Merve-Kollektiv propagierte ›Zerschlagung des bürgerlichen Copyright‹ hatte, vgl. P. Felsch: Der lange Sommer, S. 74–75.

2. Poptypografie, Layoutoberflächen, Literaturformate

We cannot ignore the fact that one of the traditional functions of fine art, the definition of what is fine and desirable for the ruling class and therefore ultimately that which is desired by all society, has now been taken over by the ad-man.201 Produkt dieser durch die Werber provozierten Revolution ist nach den Smithsons die Pop Art, die das Autorenduo als Konglomerat der Fine Arts und Werbung versteht. Werbung scheint demnach ein Ausgangspunkt für diejenigen Kunst- und Kulturformen zu sein, die man mittels der Vorsilbe ›Pop‹ spezifiziert, wie etwa Pop Art, -Musik, -Kultur und -Literatur. Ein solches Interesse an Reklame findet sich auch in der deutschen Literaturlandschaft der 1960er Jahre. Rolf Dieter Brinkmann etwa gibt 1969 zusammen mit Ralf-Rainer Rygulla die Anthologie Acid in dem von Jörg Schröder neugegründeten März Verlag heraus. In seinem Nachwort zu besagtem Band, der verschiedene amerikanische Autoren versammelt, die Brinkmann und Rygulla damals als Vorhut einer neuen Literatur ansahen, kommt Brinkmann nicht zuletzt auch auf die Bedeutung der Reklame zu sprechen. Nicht das Zentrum interessiere ihn, sondern Randbereiche wie »Anzeigen, [und] der Vorspann im Kino«,202 da diese an den Rändern eine Oberfläche ausbilden, die keine Tiefe mehr braucht: »[D]ie Reklame hat sich effektiver ausgewirkt … ein langer Zug von Bildern, die vor dem Produkt, für das sie werben, ihre Eigenbewegung durchgesetzt haben«.203 Was Brinkmann demnach an der Reklame interessiert, ist ein Autonom-Werden der Oberfläche, der Peripherie, mit anderen Worten: der paratextuellen Rahmung. Werbung ist die fortlaufende Oberfläche, die sich von der Tiefe des beworbenen Produkts emanzipiert und so beispielhaft vorführt, dass die ästhetischen Oberflächen der Konsumwelt nicht ausschließlich im Dienst des Produkts stehen. Ebenso wie im Falle der sich an Popkultur abarbeitenden Literatur der späten 1960er Jahre finden sich ähnliche Beobachtungen auch in Texten der 1980er Jahre:

201 Alison Smithson/Peter Smithson: »But Today We Collect Ads«, in: ARK. The Journal of the Royal College of Art (1956), H. 18, S. 48–50, hier S. 48. Vgl. hierzu Torsten Hahn: »›WALLPAPER ART‹. Zur Ästhetik seriell gestalteter Oberflächen«, in: POP. Kultur und Kritik (2013), H. 3, S. 156–173, hier S. 157. 202 R. D. Brinkmann: Der Film in Worten, S. 381. Vgl. zur Textsorte des Vorspanns den folgenden Band von Alexander Böhnke/Rembert Hüser/Georg Stanitzek (Hg.): Das Buch zum Vorspann: ›The title is a shot‹, Berlin 2006; und insbesondere den darin befindlichen Text von Georg Stanitzek: Vorspann (titles/credits, générique), in: ders./Böhnke/Hüser (Hg.): Das Buch zum Vorspann, S. 8–20. Vgl. weiterhin ders.: Reading the title sequence (Vorspann, Générique), in: Cinema Journal 48 (2009), H. 4, S. 44–58. 203 Ebd., S. 382. Vgl. hierzu Ralf Fiedler/Harald Bergmann: »Poets on advertising. R. D. Brinkmann und W. S. Burroughs zum Thema der Werbung«, in: Literaturmagazin: Sonderheft Rolf Dieter Brinkmann (1995), H. 36, S. 157–160.

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Ronald Röttel: Verpackungen der Literatur

»Rundum fliegen die Lichter der Reklamen«,204 schreibt Peter Glaser etwa 1984 in Ein Explosé, seinem einleitenden Text zu der vom ihm herausgegeben Anthologie Rawums. Dadurch sei die Literatur gezwungen, sich an neue Wahrnehmungsgewohnheiten anzupassen. Weiterhin finden sich in den 1980er Jahren zahlreiche Verstrickungen zwischen bildender Kunst, Werbung und Popkultur. So plädiert beispielsweise Michael Schirner, der bis 1985 die Düsseldorfer Werbeagentur GGK und ab 1985 dann das GGK-›Spin-off‹ KKG leitete (in der Diedrich Diederichsen als Werbetexter tätig war), dafür, Werbung als Kunst zu betrachten, da Werbung in der Konsumgesellschaft an die Stelle von Kunst getreten sei und ihre gesellschaftliche Funktion usurpiere. Schirner expliziert seine These in dem 1988 erschienenen Band Werbung ist Kunst, der seine Werbekampagnen mit den Agenturen GGK und KKG Revue passieren lässt: Die Werbung hat heute die Funktion übernommen, die früher die Kunst hatte: die Vermittlung ästhetischer Inhalte ins alltägliche Leben. Diese Funktion hat die moderne Kunst nicht mehr. Sie findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Die Massen-kulturellen Ausdrucksformen wie Werbung, Pop-Musik oder Mode sind an die Stelle der früheren Kunst getreten.205 Schirner wiederum führt nicht nur Diedrich Diederichsen, der, wie bereits erwähnt, zeitweise als Werbetexter tätig war, an die Werbung heran. So bittet er etwa auch mehrere Autor:innen von Spex und Tempo, sich für das von ihm mitherausgegebene Jahrbuch des deutschen Art Directors Club von 1986 zu Thema Werbung zu äußern. Schirner erläutert seine Idee hierzu im Vorwort zu besagtem Jahrbuch wie folgt: »Die Idee für diesen Teil des Buchs war, einmal Leute über Werbung schreiben zu lassen, die keine Werbung machen. Auf Diederichsen trifft das nur zum Teil zu: Er ist Redakteur bei der Spex und Texter bei KKG.«206 Bei den Texten handelt es sich jedoch keineswegs ausschließlich um Lobpreisungen der Werbung. Gerade Diederichsens Text liest sich mehr oder minder als Abrechnung mit der Werbung, 204 Peter Glaser: »Zur Lage der Detonation – Ein Explosé«, in: ders. (Hg.), Rawums. Texte zum Thema, Köln 1984, S. 9–21, hier S. 12. 205 Michael Schirner: Werbung ist Kunst, München 1988, S. 12. Vgl. zur Geschichte der beiden Werbeagenturen und zu ihren Projekten und Anzeigen auch die von Schirner mitkuratierte Seite des Zang Institute of Art and Media [http://de.sz-iam.com/unsere-historie/, zuletzt eingesehen am 10.10.2022]. Vgl. weiterhin zum Verhältnis von Werbung und Literatur Martina Allen/Ruth Knepel (Hg.): Poetik und Poesie der Werbung. Ästhetik und Literarizität an der Schnittstelle von Kunst und Kommerz, Bielefeld 2017; Urs Meyer: Poetik der Werbung, Berlin 2010. 206 Michael Schirner: »Andere Stimmen«, in: Art Directors Club Deutschland. Jahrbuch 1986, Düsseldorf 1986, S. 374. In den Jahrbüchern des deutschen Art Directors Club werden Anfang der 1980er Jahre mehrfach Werbekampagnen von KKG und GGK als auch zahlreiche Layouts und Cover von Elaste und Tempo prämiert, vgl. hierzu Kap. 4.2.3 der vorliegenden Arbeit.

2. Poptypografie, Layoutoberflächen, Literaturformate

dem Job des Werbetexters und nicht zuletzt mit seiner Zeit bei GGK.207 In jener Rekapitulation erläutert er aber auch die Gründe für sein anfängliches Interesse an der Werbung: 1982 glaubten alle Menschen, die Welt existiere nicht mehr, stattdessen werde eine Simulation der Welt veranstaltet. Nicht wenige meinten, daß die Werbung zu einem guten Teil an der Veranstaltung dieser Simulation beteiligt sei. Zeichensysteme, Zeichensysteme, Ramtamtam. Deswegen gingen 1984 alle für ein Jahr in die Werbung.208 Mit dieser Erläuterung, die den Werbekomplex als Maschinerie zur Produktion referenzloser Zeichen begreift, verweist Diederichsen implizit auf Jean Baudrillards in den 1980er Jahren virulente These von der Agonie des Realen, ausformuliert in der gleichnamigen, 1978 bei Merve erschienenen Schrift.209 Dass auch die Werbung bei diesem gesamtgesellschaftlichen Prozess eine wesentliche Rolle spiele, hatte Baudrillard bereits in seinem zweiten Buch über die Konsumgesellschaft von 1970 angedeutet. Dem »Advertising Medium«210 ist darin ein eigenes Kapitel gewidmet und Baudrillard bestimmt die Werbung als postmodernes Objekt par excellence, da an ihr die Logik der Massenmedien insgesamt ablesbar sei. Werbung zeichne sich vor allem dadurch aus, dass sie nicht auf eine Wirklichkeit verweise, sondern bloß auf andere Zeichen: In this sense, advertising is perhaps the most remarkable mass medium of our age. […] It is not, then, its contents, its modes of distribution or its manifest (economic and psychological) objectives which give advertising its mass communication function; it is not its volume, or its real audience (though all these things are important and have a support function), but its very logic as an autonomized medium, i.e. as an object referring not to real objects, not to a real world or a referential dimension, but from one sign to the other, from one object to the other, from one consumer to the other.211

207 In der Tempo findet sich ein Interview, das einen Einblick in Diederichsens Arbeitsalltag bei GGK gibt: »Gesprächsort: Diedrich Diederichsens Büro im Düsseldorfer GGK Gebäude. Blick auf Dü’Dorfs schmuddelige Skyline. Auf dem Boden liegen verstreut: Neue LP’s (Jeff Lorber, Human Leaque), Ausgaben von ELASTE, KICKER, TIP und Jägermeister »Ich trinke weil«-Fotos.« Vgl. Carsten Krumfuß: »Der Papst«, in: Elaste (1985), H. 11, S. 40–41, hier S. 40. 208 Diedrich Diederichsen: »Freiheit macht Arbeit«, in: Art Directors Club Deutschland. Jahrbuch 1986, Düsseldorf 1986, S. 376–386, hier S. 376. 209 Jean Baudrillard: Agonie des Realen, Berlin 1978. 210 Jean Baudrillard: The Consumer Society: Myths and Structures, London 1998, S. 125. 211 Ebd.

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Diederichsens Interesse an der Werbung scheint also teilweise durch die Lektüre von Baudrillard beeinflusst worden zu sein, dessen Bücher Diederichsen in den späten 1970er Jahren für Sounds rezensierte.212 Darüber hinaus erhoffte sich Diederichsen, dass das Arbeiten als Werbetexter ein anonymes Schreiben frei von Autorschaft ermöglichen würde, was sich in der Praxis jedoch nicht bewahrheitete: Was mich an der Werbung anfangs faszinierte: Hervorbringen semikünstlicher Art, Sinnstiftungen, doch ohne Autor, Paradies des Anonymischen. Nur sind die betroffenen den ganzen Tag mit nichts anderem beschäftigt, als das durch den giftigen Ehrgeiz ihres giftigen Egos geweckte Bedürfnis nach Autorschaft, nach namentlicher Nennung […] durchzusetzen und zu befriedigen, mithin das Paradies abzuschaffen.213 Das anfängliche Versprechen anonymer Autorschaft und einer damit einhergehenden Textproduktion frei von einem Akkumulationsbemühen von kulturellem Kapital, schlug demnach schnell in sein Gegenteil um. Diederichsens Äußerung verweist dabei zudem abermals auf die Literatur- und Kulturtheorie der 1980er Jahre, nämlich die von Barthes und Foucault angestoßene Diskussion um die Funktion von Autorschaft. Das von Diederichsen imaginierte Paradies der Werbung erinnert an den von Foucault beschriebenen Raum, der nicht vom »Funktionsprinzip«214 der Autorschaft beherrscht werde, das die »freie Zirkulation, die freie Handhabung, die freie Komposition, Dekomposition und Rekomposition von Fiktion behindert.«215 Dabei fällt auf, dass die Werbung für die Pop-, Kunst- und Theorie-Diskurse der 1980er Jahre in vielerlei Hinsicht als Projektionsfläche dient. Darüber hinaus zeichnen sich die Texte und Romane der Autoren, die zunächst für besagte Zeitschriften oder Werbeagenturen schreiben, gerade dadurch aus, dass sie vor den werbenden Epitexten ihrer Texte nicht die Augen verschließen, sondern diese als integrale Teile der Literatur begreifen. Zumal es sich bei eben jenen werbenden Epitexten, wie sich noch zeigen wird, zum Teil um ausgezeichnete Paratexte handelt, die den Diskurs um die (typografische) Oberfläche, der sich auf Literatur, Kunst, Werbung und Zeitschriften aufteilt, als Relais miteinander vernetzen. Es sind also gerade diese, in der verstärkten Aufmerksamkeit für die Werbung in den Blick rückenden, Bestandteile von Texten, ihre Typografie, ihre Anordnung, ihre materielle Gestaltung, an denen

212 Diedrich Diederichsen: »Bücher. Neues. No Fun«, in: Sounds (1979), H. 10, S. 48–49, hier S. 48. 213 D. Diederichsen: Freiheit macht Arbeit, S. 378. 214 Michel Foucault: »Was ist ein Autor?«, in: ders.: Schriften zur Literatur, ders.: Schriften zur Literatur, hg. von Daniel Defert und François Ewald, Frankfurt a.M. 1988, S. 7–31, hier S. 30. 215 Doch auch für Foucault bleibt die Idee eines autorfreien Raums nicht mehr als ein Romantizismus, da nach dem Verschwinden der Autor-Funktion bloß neue Funktionsprinzipen der Reglementierung auftauchen würden, vgl. ebd., S. 30–31.

2. Poptypografie, Layoutoberflächen, Literaturformate

sich die fundamentalen ästhetischen und konzeptuellen Verschiebungen des PopZusammenhangs ablesen und entwickeln lassen.

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3. Fluchtlinien der typografischen Oberfläche

Eine theoretische Beschäftigung mit den verpackenden Oberflächen in Popkultur und Kunst setzt ein mit der Pop Art der 1960er Jahre. Der wohl bekannteste Vertreter der britischen Pop Art, Richard Hamilton, hält 1960 einen Vortrag auf einer Konferenz zum Thema Popular Culture and personal Responsibility, die von der National Union of Teachers in London ausgerichtet wurde. Darin verteidigt er die Popkultur gegen ihre Kritiker und kommt in dem Zuge auch auf die bereits thematisierte Umwertung von Inhalt und Verpackung in der Pop Art und -kultur zu sprechen. In der »pop art«,1 worunter Hamilton auch alltägliche Konsumprodukte versteht, sei »the package […] of greater importence than the content«.2 Dies gründet, laut Hamilton, vor allem darin, dass Pop Art ein Konsumgut sei: »In its efforts to gain and hold the affection of the mass audience a product must aim to project an image of desirability as strong as that of any Hollywood star. It must have gloss and glamour, and evoke a yearning for possession.«3 Eine wesentliche Rolle in Hamiltons Überlegungen spielen daher auch »the glossy magazines with the biggest circulations«,4 wie etwa »Vogue, Harpers, Bazaar, Life and Look«.5 Laut Hamilton seien Produktoberflächen besondere Orte der Popkultur, da sich in sie kulturelle Neuerungen eindrücken würden und so zum Ausdruck kämen. Ob es sich bei diesen Produktoberflächendesigns um Buchgestaltung, Zeitschriftenlayouts oder das Karosseriedesign von Automobilien handele, spiele dabei eine untergeordnete Rolle: The automobile is assimilated so completely into our culture now that it’s idiosyncratic reflections of human whims and subconscious desires occur as fluently as changes in women’s fashions or book design or magazine layout and it

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Richard Hamilton: »Popular Culture and Personal Responsibility«, in: ders.: Collected Words 1953–1982, S. 150–156, hier S. 151. Mit Pop Art meint Hamilton hier jedoch nicht Kunst in Museen, die sich an konsumästhetischen Designs abarbeitet, sondern die eigentlichen Konsumgegenstände. Vgl. zu dieser Unterscheidung T. Hahn: ›WALLPAPER ART‹, S. 157. R. Hamilton: Popular Culture and Personal Responsibility, S. 152. Ebd. Ebd., S. 154. Ebd.

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says much for the ingenuity of men that metal is bend to his whim as easily as cloth or paper.6 Mit dem Zeitschriftenlayout sind vor allem die »glossies«,7 d.h. jene besonders aufwändig gelayouteten Hochglanzillustrierten gemeint; das Buchdesignbeispiel bezieht sich vor allem auf die Differenz zwischen »paperpacks«8 und »clothboundbooks«,9 auf die Hamilton einige Absätze zuvor eingeht.10 Hamiltons Ausführungen verdeutlichen dabei als Zeitdokument, dass der Diskurs um die typografische Oberfläche der 1980er Jahre auf eine Tradition aufbaut und diese Traditionslinie gilt es im Folgenden nachzuzeichnen. Die Studie wird sich insbesondere auf die deutsche Tradition seit 1960 konzentrieren, aber auch die relevanten amerikanischen und britischen Akteur:innen, die für den deutschen Diskurs beispielhaft waren, zur Kontextualisierung heranziehen.

3.1 Typografische Prätexte des 1960er-›Pop‹ Der August/September-Ausgabe der Spex von 1983 ist ein Gedicht Rolf Dieter Brinkmanns, nämlich Wolken aus dem Band Standfotos, als Motto vorangestellt. Dass Spex hier auf Brinkmann verweist, ist wenig verwunderlich, denn gerade was ein Interesse an der Oberfläche anbelangt, scheint Brinkmann vorbildlich für den Diskurs der 1980er Jahre zu sein. Zwischen der Literatur Brinkmanns sowie der Literatur, die aus dem Dunstkreis der Pop-Zeitschriften der 1980er hervorgeht (Goetz, Kracht etc.), ist bekanntlich in der Forschung bereits hinsichtlich zahlreicher Aspekte eine geistige Nähe nachgewiesen worden. Bei dem gemeinsamen Interesse an typografischen Oberflächen handelt es sich demnach um einen weiteren Aspekt, der anzeigt, dass sich die an Popkultur interessierte Literatur der 1980er Jahre in der Tradition des 1960er-›Pops‹ verorten lässt, wofür insbesondere die Literatur Brinkmanns und Ralf-Rainer Rygullas beispielhaft ist.11 Unter ›Oberflächen‹ versteht Brinkmann vor 6 7 8 9 10

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Ebd. Vgl. T. Hecken: Pop. Geschichte eines Konzepts, S. 266. R. Hamilton: Popular Culture and Personal Responsibility, S. 154. Ebd., S. 151. Ebd. Das Auto hingegen zieht Hamilton vor allem deswegen als Beispiel heran, weil auch bei diesem technischen Gegenstand das Oberflächendesign über seine Originalität entscheidet: »The main method for promoting change is body-styling, so the automobile coach-building industry uses the techniques of haute couture.« (Ebd., S. 152). Vgl. hierzu Eckhard Schumacher/Kerstin Gleba (Hg.): POP. Seit 1964, Köln 2007; J. Ullmaier: Von Acid nach Adlon und zurück; und Diedrich Diederichsens Unterscheidung zwischen ›Pop 1‹ und ›Pop 2‹: Diedrich Diederichsen: »Ist was Pop?«, in: ders.: Der lange Weg nach Mitte. Der Sound und die Stadt, Köln 1999, S. 272–286. Teilweise tun sich zudem direkte Verbindungslinien zwischen den beiden Diskursen auf. In einem Text aus der zweiten Ausgabe der

3. Fluchtlinien der typografischen Oberfläche

allem das Alltägliche, aber zugleich auch das sinnlich Wahrgenommene. Beide Bedeutungsebenen der Oberflächen-Metaphorik, die Fokussierung auf die sinnliche, perzeptive Dimension der Materialität eines kulturellen Artefakts und die Bevorzugung einer Alltagsästhetik gegenüber avantgardistischer Kunst, betonen die nichtsignifizierenden Teile der Literatur gegenüber ihrer signifizierenden, d.h. sinnstiftenden Seite. So entwirft Brinkmann in seinen Anmerkungen zu meinem Gedicht ›vanille‹, erstveröffentlicht in März Texte 1, der ersten Ausgabe der Verlagszeitschrift des März Verlags, eine paradoxe Figur der Oberfläche. Für ihn seien »gewöhnliche Sachen schön, weil sie nichts bedeuten, und daß sie nichts bedeuten ist ihre Tiefe – je weniger ›etwas‹ Bedeutung hat, desto mehr ist es ›es selbst‹ und damit Oberfläche, und allein Oberflächen, wie jeder weiß, sind ›tief‹!«12 Dass Brinkmanns Poetik der Oberfläche auch die typografischen Oberflächen der Literatur miteinschließt, lassen bereits die Bewertungskriterien vermuten, die er für die ›neue Literatur‹ vorschlägt, nämlich: »›Attraktivität‹ oder ›Un-Attraktivität‹«,13 wobei die Attraktion der Literatur nicht zuletzt auch von ihrer materiellen Oberfläche ausgeht. In Der Film in Worten, seinem Nachwort zu Acid, exemplifiziert Brinkmann die von ihm ins Feld geführte Ästhetik der Oberfläche anhand der glatten typografischen Oberflächen von Mode-Illustrierten. In den glatten Oberflächen, die ohne die »kostbare Patina«14 der Tradition auskämen, sieht er den Ausgangspunkt einer Ästhetik des Alltags und der reinen Gegenwart: wo sollte sich die Tradition als vergessener Rest überlebten Bewusstseins in den Photos von Vogue-Beauties festsetzen? Es ist nur Glätte … die Oberfläche eines

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von Jörg Schröder herausgegeben Verlagszeitschrift März Texte findet sich etwa ein Kommentar zu Rainald Goetz Klagenfurt-Performance. Frank-Wolf Matthies: »Instandsetzung des Echo-Raums«, in: Jörg Schröder (Hg.), Mammut. März Texte 1&2 1969–1984, Herbstein 1984, S. 1097–1103, hier S. 1102. Vgl. hierzu auch das Kapitel ›Materialität der Medientechnik‹ aus Matthias Bickenbach: »Materialität«, in: Markus Fauser/Dirk Niefanger/Sybille Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, S. 88–92, hier S. 91. Rolf Dieter Brinkmann: »Anmerkungen zu meinem Gedicht ›Vanille‹«, in: Jörg Schröder (Hg.), März Texte 1, Darmstadt 1969, S. 141–144, hier S. 142. Die Übersetzung übernimmt teilweise Bedeutungen, teilweise aber bloß den phonetischen Klang des Wortes, teils auch nur das Schriftbild und orientiert sich ab und an am Layout des Originals. Ebenso oft weicht es aber auch davon ab. In den Anmerkungen der Anthologie heißt es hierzu: »Der vorliegende Text […] stellt den Versuch dar, ohne Kenntnis der Fremdsprache (in diesem Fall des Französischen) ein Gedicht zu übertragen nach dem im Augenblick des Lesens sich einstellenden Oberflächenverständnisses.« (Jörg Schröder (Hg.): März Texte 1, Darmstadt 1969, S. 304). R. D. Brinkmann: Anmerkungen, S. 142. R. D. Brinkmann: Der Film in Worten, S. 388. Brinkmanns Argumentation folgt an dieser Stelle dem Gesamtkonzept des Sammelbandes, dessen Interesse an der amerikanischen Literatur darin gründet, dass diese aufgrund ihrer im Vergleich zu Europa viel jüngeren literarischen Tradition eine umso gegenwärtigere Literatur hervorbringe. Ebd.

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Bildes, wie die Glätte einer Haut, über die Fingerspitzen zärtlich hinwegtasten […]. Die Beschränkung auf die Oberfläche führt zum Gebrauch der Oberfläche und zu einer Ästhetik, die alltäglich wird.15 Darüber hinaus lässt sich bei Brinkmann eine Ausweitung dieser Poetik der Oberfläche auf die Layouts der Buchseiten seiner Literatur beobachten. Dies zeigt sich zum Beispiel in der typografischen Gestaltung von Brinkmanns Gedicht vanille, auf das sich die zuvor zitierten poetologischen Anmerkungen Brinkmanns beziehen. Bei der typografischen Oberfläche des Gedichts handelt es sich gewissermaßen um ein disparates typografisches Ensemble verschiedenster Schrifttypen, Schriftgrade und Textbausteine, bestehend aus ausgeschnittenen kurzen Zeitungsnachrichten, Todesanzeigen und Bildern aus Illustrierten, wobei der Text zum Teil autoreflexiv Bezug auf das Layout und den Druck nimmt.16 Zudem befindet sich im Anhang des Buchs die handschriftliche Korrektur einer Druckfahne des Gedichts, die Brinkmanns besonderes Interesse am Layout der vanille-Buchseiten nachweist.17 Brinkmann übersetzt so die literarische Produktionsstrategie des cut up, die auf William S. Burroughs zurück geht, in die typografische Oberfläche seines Textes.18 Dieser Verweis auf Burroughs technisches Verfahren scheint nicht zuletzt deshalb naheliegend, weil das von Jörg Schröder herausgegeben März Texte 1 auch einen Text von Burroughs enthält, in dem die Begriffe ›cut up‹ und ›fold in‹ erläutert werden: Textseiten werden z.B. in 4 Teile zerschnitten, die Teile werden neu gruppiert, & es ergeben sich neue Anordnungen von Wort&Bild-Komplexen – Beim Schreiben meiner beiden letzten Bücher, NOVA EXPRESS und THE TICKET THAT EXPLODED, habe ich eine Variation der cut-up-Methode verwendet, die ich fold-in-Methode nenne: – Eine Textseite, von mir selbst oder einem anderen, wird in der Mitte der Länge nach gefaltet und auf eine andere Seite Text gelegt – die beiden Texthälften

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Ebd., S. 388. Siehe auch das ebenfalls in Acid abgeduckte Gedicht des Andy Warhol-Assistenten Gerard Malanga, welches das »Gesicht das aus der Illustrierten herauskommt« zum Thema hat. (Gerard Malanga: »Nach Luft schnappen«, in: Rolf Dieter Brinkmann/Ralf-Rainer Rygulla (Hg.), Acid. Neue amerikanische Szene, Darmstadt 1969, S. 363). Vgl. Rolf Dieter Brinkmann: »Vanille«, in: Jörg Schröder (Hg.), März Texte 1, Darmstadt 1969, S. 106–140, hier S. 140. Vgl. Jörg Schröder (Hg.): März Texte 1, Darmstadt 1969, S. 305. Auf besagter Seite finden sich dann vor allem mit Pfeilen eingezeichnete Korrekturen des Layouts und der Schrifttypen, vgl. ebd., S. 306. Vgl. hierzu insbesondere Sigrid Fahrer: CUT-UP. Eine literarische Medienguerilla, Würzburg 2009. Vgl. weiterhin Johannes Ullmaier: »Cut-up, über ein Gegenrinnsal unterhalb des Popstroms«, in: Text+Kritik. Sonderband Pop-Literatur 10 (2003), H. 3, S. 133–146. Außerdem lässt sich ein Verweis auf die in besonderer Weise an der typografischen Oberfläche literarischer Texte interessierten Calligrammes Apollinaires vermuten, auf welchen Brinkmann ebenso in Vanille Bezug nimmt, vgl. R. D. Brinkmann: Vanille, S. 112.

3. Fluchtlinien der typografischen Oberfläche

werden ineinander-›gefaltet‹, d.h. der neue Text entsteht dadurch, daß man halb über eine Texthälfte & halb über eine andere liest –19 Es handelt sich also um eine Produktionsweise, die sich an bereits vorhandenem Material orientiert und so ein mosaikartiges Gewebe aus (pop-)kulturellen Verweisen bildet, das sich aus dem Archiv des Alltags speist: »Tageszeitungen, Zeitschriften, Briefe & Unterhaltungen«20 werden gefaltet, zerschnitten und neu arrangiert. Es ist zudem kein Zufall, dass beide Texte im März Verlag erscheinen, da dieser, wie im folgenden Kapitel der vorliegenden Arbeit erörtert wird, sich als einer der ersten Verlage in Deutschland durch seine auffälligen Layoutoberflächen hervortat. Brinkmann und Schröder sind jedoch nicht die einzigen, die sich im deutschsprachigen Raum der 1960er Jahre für Burroughs begeistern. Beispielsweise scheint auch Elfriede Jelineks 1970 erschienenes Romandebüt wir sind lockvögel baby! von Burroughs’ Gestaltungsprinzip beeinflusst. Der Roman collagiert verschiedenste Versatzstücke von den »beatles« über Comics wie »batman und robin« bis hin zu den sogenannten »wondermaids der ›glossy magazines‹«,21 und die dem Roman zugrunde liegende Cut up-Poetik beschränkt sich nicht allein auf den Produktionsprozess, sondern bezieht auch den Rezipient:innen mit ein. Der Leser wird in einer dem Romantext vorgelagerten »gebrauchsanweiseung«22 zum Buch »aufgefordert die schere zur hand zu nehmen und den titel selbst auszuwählen«.23 Die geforderte Selbstermächtigung des Lesers folgt dabei einem kulturpolitischen Programm, das sich als Grundlage der Möglichkeit von gesellschaftlichen Veränderungen versteht: »sie sollen dieses buch sofort eigenmächtig verändern. Sie sollen die untertitel auswechseln. Sie sollen hergehen & sich überhaupt zu VERÄNDERUNGEN außerhalb der legalität hinreißen lassen«.24 Die Differenz von aktivem Produzieren und passivem Rezipieren wird als Ausdruck eines grundlegenden Hierarchieprinzips der Gesellschaft verstanden und das neue Buch, das wiederum eine neue Rezeptionsweise fordert, soll gewissermaßen die (kulturelle) Revolte vorbereiten, indem es diese allgegenwärtige Differenz zumindest im Bereich des Literaturbetriebs nivelliert.

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William S. Burroughs: »Die Zukunft des Romans«, in: Jörg Schröder (Hg.), März Texte 1, Darmstadt 1969, S. 145–147, hier S. 145–146. Ebd., S. 146. Elfriede Jelinek: wir sind lockvögel baby!, Reinbek 1970, n.p. Ebd. Ebd. Ebd.

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Abb. 9: Titelansicht von Elfriede Jelineks wir sind lockvögel baby! von 1970 (19 x 11 cm).

Zudem befinden sich auf der Rückseite der Buchseite, auf der diese Gebrauchsanweisung abgedruckt ist, vorperforierte Alternativtitel des Romans im visitenkartengroßen Format. Der von der Autorin vorgeschlagene Titel wir sind lockvögel baby! ist wiederum ebenfalls auf ein visitenkartengroßes Papier gedruckt und bloß in einen durchsichtigen, oben offenen Plastikcouvert eingelegt, der sich auf der Vorderseite des aus Plastik bestehenden Buchumschlags befindet, dessen Gestaltung an das Design eines Notizbuchs erinnert (Abb. 9). Der Titel des Romans lässt sich so ohne weiteres austauschen, wodurch die Autorin die Werkherrschaft über den Peritext – zumindest programmatisch – aufgibt und an den Leser übergibt. Allerdings bietet sich diese Möglichkeit nur auf dem Frontcover, denn der von der Autorin festgelegte Titel befindet sich ebenfalls auf dem Buchrücken, der sich nicht ablösen lässt. Alternative Titel sind beispielsweise »der zauber der montur & sein nachlassen«,25

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E. Jelinek: wir sind lockvögel baby!, n.p.

3. Fluchtlinien der typografischen Oberfläche

»liebe machen in geschützten fichten«26 oder »die verabschiedung der begleiter«.27 Auffällig ist auch, dass das gesamte Buch typografisch einheitlich gestaltet ist, nicht nur der eigentliche Romantext ist in Helvetica Minuskeln gesetzt, sondern auch der Verlagstext, das Impressum und nicht zuletzt auch die Buchanzeigen des Rowohlt Verlages, wodurch zugleich auch die Differenz von Text und Peritext nivelliert wird.

3.1.1 Vorreiter März Verlag: »der Verleger als Typograf« In der Dezember-Ausgabe der Spex von 1986 findet sich ein Interview mit dem Gründer des März Verlags Jörg Schröder, dem »Erfinder des erweiterten Verlegertums«,28 wie Diedrich Diederichsen, der das Interview zusammen mit Jutha Koether und Albert Oehlen führt, in seiner Einleitung schreibt. Mit dem Begriff des ›Erweiterten Verlegertums‹ fasst Diederichsen Schröders besonderen Umgang mit dem März Verlag zusammen, der für Schröder nicht nur Mittel zum Zweck ist, nämlich Bücher zu verlegen, sondern Selbstzweck, in dem Sinne, dass es sich bei dem Verlag weniger um ein Geschäftsmodell als um Konzeptkunst handelt. In dem erwähnten Text in der Spex, der dem Interview vorangestellt ist, spricht Diederichsen auch über eine Rezension der zweiten Ausgabe der März Texte, die er ursprünglich für Der Spiegel geschrieben hatte, und von einer weiteren Rezension von Rainald Goetz. Die beiden Rezensionen der 1984 von Jörg Schröder herausgegebenen zweiten Ausgabe der März Verlagszeitschrift wurden jedoch nie im Spiegel abgedruckt. Laut Schröder, der die beiden Texte in den März Vorinformationen für Buchhandel und Presse Juli-November 1985 veröffentlichte, weil man beim Spiegel »zwei Verrisse [von] Rainald Goetz und Diedrich Diederichsen«29 erwartet habe und stattdessen Lobreden auf den MärzVerleger erhielt. Einmal mehr wird deutlich, wie wichtig es ist, in einem Diskurs, der sich einer Hierarchisierung verweigert, auch Material werblicher Art ernst zu nehmen. Goetz kommt in seiner Rezension ebenso wie Diederichsen auf Schröders besondere Interpretation des Verlegertums zu sprechen. Denn Schröder »tut zur

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Ebd. Ebd. Diedrich Diederichsen: »Der Verleger als Schamane und Schuhputzer«, in: Spex (1986), H. 12, S. 48–55, hier S. 48. Vgl. hierzu Jan-Frederik Bandels äußerst instruktive Geschichte des März Verlags. Jan-Frederik Bandel: »NachMärz oder Eine kleine März-Geschichte der Bundesrepublik«, in: Jan-Frederik Bandel/Barbara Kalender/Jörg Schröder (Hg.), Immer radikal, niemals konsequent. Der März Verlag. Erweitertes Verlegertum, postmoderne Literatur und Business Art, Hamburg 2011, S. 165–292. Jörg Schröder: »Worum Der Spiegel sich drückt. Das drucken wir«, in: Jörg Schröder (Hg.), März Vorinformationen für Buchhandel und Presse Juli-November 1985, Herbstein 1985, S. 18–30.

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Tarnung so, als sei er von Hauptberuf Verleger«,30 jedoch sei der Verlag vielmehr selbst kunstförmig und nicht bloß eine Form der Literaturproduktion und -distribution. Diederichsen wiederum hebt in seiner Rezension hervor, dass Schröders 1969 veröffentlichte erste Ausgabe der März Texte eben »Pop. Und keine Literatur«31 war, womit wohl nicht zuletzt auch die darin befindlichen Texte Rolf-Dieter Brinkmanns und Ralf-Rainer Rygullas gemeint sind. Doch auch die Form der März Texte hatte wohl einen ebenso großen Anteil daran, dass der Band von Diederichsen als popkulturelles Artefakt rezipiert wird. Obwohl die März Texte nicht über zwei Ausgaben hinauskommen – zwischen denen obendrein fünfzehn Jahre lagen –, waren sie ursprünglich als regelmäßiges Periodikum konzipiert. Auf dem Buchumschlags-Werbetext heißt es etwa: »Die MÄRZ TEXTE werden so interessant und attraktiv sein, daß eine Art Buch-Zeitschrift entsteht, deren Anspruch über die Präsentation der jeweils in Kürze geplanten Titel hinausgeht.«32 Schon der Begriff der ›Buch-Zeitschrift‹ zeugt von dem Versuch, die (typografische) Attraktivität von Zeitschriften auf das Format des Buches zu übertragen und gleichzeitig die Grenze zwischen dem Verlagsprodukt und der Verlagswerbung aufzulösen, denn Verlagskataloge oder Almanache haben in der Regel vor allem eine Werbefunktion.33 Schröders Bedeutung für den ›Pop‹ der 1960er Jahre, womit vor allem die zahlreichen Veröffentlichungen von Brinkmann und Rygulla gemeint sind, die auf eine Verschmelzung von Popkultur und Literatur abzielen, kann kaum überschätzt werden. Denn die Karrieren der beiden Autoren und die Geschichte von Schröders März Verlag sind intrikat miteinander verwoben. Beispielsweise waren Brinkmann und Rygulla, wie Schröder in seinem Verlagsklatsch-Roman Siegfried verrät, anwesend, als man sich auf den Verlagsnamen einigte (der Name geht schlicht auf den Monat der Verlagsgründung zurück)34 und die von Rygulla und Brinkmann herausgegebene Anthologie Acid fungierte Schröder zufolge als »Pilotbuch für März«.35 Vorbildlich ist Acid dabei nicht bloß mit Blick auf die darin abgedruckten Texte, sondern 30

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Rainald Goetz: »Das große Universum. Herr Bundesrepublik erzählt«, in: Jörg Schröder (Hg.), März Vorinformationen für Buchhandel und Presse Juli-November 1985, Herbstein 1985, S. 18–26, hier S. 18. Diedrich Diederichsen: »Ohne Titel«, in: Jörg Schröder (Hg.), März Vorinformationen für Buchhandel und Presse Juli-November 1985, Herbstein 1985, S. 26–30, hier S. 27. J. Schröder (Hg.): März Texte 1, U2. Besonders fällt dies bei der zweiten Ausgabe auf: »Ende April 1969 erschienen die März Texte 1. Wir lassen jetzt, 15 Jahre später, das MAMMUT los. Damit es sich nicht im ewigen Eis der Unterkalkulation zur Ruhe legen muß, haben wir von diesem Buch eine Mäzenatenausgabe von 150 nummerierten Exemplaren gedruckt, auf bestem Papier und in Seidenleinen gebunden. / In Zukunft möchten wir jedes Jahr ein Mammut machen, vorausgesetzt sie lieben dieses.« (Jörg Schröder: Mammut. März Texte 1&2 1969–1984 – Mäzenatenausgabe –, Herbstein 1984, S. 2.) Jörg Schröder/Ernst Herhaus: Siegfried, Frankfurt a.M. März 1972, S. 208. Ebd., S. 212.

3. Fluchtlinien der typografischen Oberfläche

ebenso im Hinblick auf die typografische Gestaltung des Bandes, die, wie aus den Copyrights des Buches hervorgeht, auf Brinkmann, Rygulla und Schröder zurückgeht.36 Wobei Jörg Schröder einige Jahrzehnte später berichtet, dass Rygulla und Brinkmann größtenteils bloß beigesessen hätten, als er den Buchumschlag für Acid anfertigte. Schröder »überrumpelte sie als Typograf«37 und entschied über die Layout- und Einbandgestaltung größtenteils eigenhändig. Unabhängig von der Frage der Urheber:innenschaft, die nicht abschließend beantwortet werden kann, zeichnet sich der Band durch seine auffällige Gestaltung aus, die das besondere Interesse aller drei Beteiligten an der Materialität der Literatur erkennen lässt. Die Erstpublikation von Acid ist großformatig, der Einband ist zweilagig und besteht aus neun gestanzten Quadraten, unter denen sich collagierte Aktfotos befinden. Besagte Fotografien sind im Maßstab vergrößert, so dass, ähnlich wie in den Bildern Roy Lichtensteins, die einzelnen Punkte der Benday Dot-Drucktechnik sichtbar werden (Abb. 10). Dass sowohl Schröder als auch Brinkmann Wert auf das äußere Erscheinungsbild von Büchern legen, führt wiederum zum Zerwürfnis zwischen Verleger und Autor. So war Brinkmanns Wechsel von März zu Kiepenheuer & Witsch vor allem dadurch motiviert, dass diesem das von Jörg Schröder entworfene »gelb-rot-schwarze[] März-Erscheinungsbild«38 nicht zusagte. Brinkmann sah in den »gelben Einheitsumschläge[n]«39 wohl einen Eingriff in seine Werkherrschaft als Autor, denn die typografischen Oberflächen spielten für Brinkmann, wie Rygulla sehr viel später verrät, meist bereits während der Entstehung seiner Texte eine wesentliche Rolle: »[B]ei allen seinen Büchern fertigte er parallel zum Sammeln und Schreiben der gemeinsamen Gedichte einen provisorischen Buchumschlag an und listete Vorschläge für das Layout auf.«40

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»Gesamtgestaltung: Rolf Dieter Brinkmann & Ralf-Rainer Rygulla & Jörg Schröder«. Rolf Dieter Brinkmann/Ralf-Rainer Rygulla (Hg.): Acid. Neue amerikanische Szene, Darmstadt 1969, S. 419. Jörg Schröder: »Schröder erzählt. Zum harten Kern«, in: Karl-Eckhard Carius (Hg.), Brinkmann. Schnitte im Atemschutz, München 2008, S. 124–129, hier S. 126. Es handelt sich bei dem Beitrag um einen gekürzten Wiederabdruck eines ursprünglich 1992 im März-Verlag erschienenen Textes von Schröder, der Teil der größer angelegten Reihe Schröder erzählt war, die an die Klatsch Romane Schröders aus den 1970er Jahren anknüpfte. Jörg Schröder: Schröder erzählt. Zum harten Kern, Fuchstal-Leeder 1992. Georg Stanitzek zufolge erzähle Schröder eben jenen Vorgang wie eine »psychedelisch-rauschhafte typografische Orgie«. (Georg Stanitzek: »März & Gespenster«, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für Europäisches Denken 67 (2013), H. 765, S. 154–161, hier S. 158). J. Schröder: Schröder erzählt, S. 127. Ebd. R.-R. Rygulla: Zu den Briefen des jungen Dichters, S. 121.

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Abb. 10: Titelansicht von Rolf Dieter BrinkAbb. 11: Titelansicht von Jörg Schröders manns und Ralf-Rainer Rygullas Acid von 1969 März Texte von 1969 (13 x 21 cm). (20 x 29 cm).

Bei Kiepenheuer & Witsch hingegen durfte er die Außenwelten seiner Texte wieder individuell gestalten. Im Impressum der von Brinkmann herausgegebenen Anthologie Silver Screen, deren äußere Aufmachung vor allem dadurch auffällt, dass nicht bloß der von Brinkmann gestaltete Schutzumschlag, sondern auch die Kanten der Buchseiten schwarz eingefärbt sind, wird Brinkmann mit als Gestalter für den Buchumschlag aufgeführt.41 Weiterhin ist Brinkmann für das Cover und das Layout der von ihm bei Kiepenheuer & Witsch herausgegeneben Lunch Poems von Frank O’Hara verantwortlich.42 Die beiden von Brinkmann individuell gestalteten Buchumschläge unterscheiden sich dabei stark voneinander und stehen damit in diametralem Gegensatz zur konzeptionellen Homogenität der seriell angelegten Märzumschläge. Denn bei März steht die Marke des Verlags im Vordergrund, die in den Oberflächen der Verlags-Publikationen (re)produziert wird und die so ein besonderes Interesse an Konsumästhetik erkennen lassen. 41 42

»Schutzumschlag: R. D. Brinkmann, Köln & EXIT, Köln » R. D. Brinkmann (Hg.): SILVER, S. 4. »Gesamtausstattung: R. D. Brinkmann, Köln«. F. O’Hara: LUNCH POEMS UND ANDERE GEDICHTE, S. 84. Dem Buch ist ein eingeklebtes Erratum mit zahlreichen Korrekturen orthografischer Fehler vorangestellt. Der so ausgestellte Dilettantismus mutet dabei an wie ein Vorreiter des Programms der ›Genialen Dilletanten‹ der frühen 1980er Jahre.

3. Fluchtlinien der typografischen Oberfläche

Dem Typografen Hans Peter Willberg zufolge adaptieren die März-Cover, die Schröder unter dem Pseudonym F. Block anfertigt, die typografischen Strategien der Werbung und des Verpackungsdesigns von Markenwaren (vgl. Abb. 11): Die Umschlagkonzeption des März-Verlages schließlich übernimmt die Gestaltungsmittel aggressiver Werbung in bewußt übertriebener Form: jeder Umschlag des Verlages schreit einem den Verlagsnamen entgegen, schwarz und rot auf grellem Gelb in einer Schrift namens ›Fette Block‹ (daher der Gestalter-Name hinter dem sich der Verleger als Typograf verbirgt).43 Konsumästhetik wird im typografischen Gesamtkonzept der März-Verlagscover somit nicht kritisiert, sondern pragmatisch affirmiert. Denn auch die literarische Welt ist gezwungen, sich an die allgemein vorherrschenden Standards des Produktdesigns der Konsumwelt der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts anzupassen. Darüber hinaus interessiert sich Schröder nicht nur für die Umschlaggestaltung der März-Publikationen, sondern auch für das Buchformat an sich. Dies geht aus einem Interview hervor, das Brinkmann und Rygulla mit ihrem Verleger führen. Allein die verkehrte Konstellation von Interviewer und Interviewtem in dem in der ersten Ausgabe von März Texte abgedruckten Interview ist auffällig. Nicht der Verleger interviewt seine Autoren zu Werbe- und Marketingzwecken, sondern die Autoren interviewen ihren Verleger. Noch bemerkenswerter sind jedoch die Kommentare aller Gesprächsteilnehmer zur Aktualität des Buchformats: SCHRÖDER: […] Weshalb Bücher? Wahrscheinlich interessiert mich besonders daran, was in so einem Medium wie dem Buch, das an sich so als anachronistisch verschrien ist, noch drin ist. Dazu interessieren mich eben bestimmte Tendenzen, die eben doch zeigen, daß ein Buch nicht anachronistisch ist, also ein Buch, das eben anders aussieht als Bücher, die im traditionellen Sinne hergestellt werden oder hergestellt worden sind. […] BRINKMANN: Das heißt also, daß durch das Aufkommen neuer Medien, neuer Kommunikationsformen, z.B. sagen wir mal des Fernsehens, weil das ja grad so aktuell ist, das Buch und das heißt: sowohl schreiben wie verlegen wie lesen, also alles, was zum Buch gehört, das

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Hans P. Willberg: Buchkunst im Wandel. Die Entwicklung der Buchgestaltung in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a.M. 1984, S. 200–201. Vgl. zur Wahl der Schrifttype ›fette Block‹, die Schröder sich von den Dadaisten leiht, J. Schröder: Schröder erzählt, S. 11. Vgl. zu Schröders Coverentwürfen auch Rainer Groothuis: Wie kommen die Bücher auf die Erde? Über Verleger und Autoren, Hersteller, Verkäufer und Gestalter, die Kalkulation und den Ladenpreis, das schöne Buch und Artverwandtes. Nebst einer kleinen Warenkunde, Köln 2007, S. 120–121.

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Medium Buch erst entschlackt worden ist, daß völlig neue und eigenständige Möglichkeiten an dem Buch sichtbar werden.44 Die Medienkonkurrenz zwischen ›dem Buch‹ und den technischen Medien der 1960er Jahre führt demnach nicht zum Verschwinden des Buchs. Vielmehr ist es dieser Wettbewerb, der es Schriftstellern, Verlegern und Lesern erst ermöglicht, das Potenzial des Mediums voll auszuschöpfen. Auch Rygulla betont im Anschluss an Brinkmann und Schröder, dass es darum gehen müsse, »Bücher attraktiver zu machen« und zwar vom »Inhalt und von der Aufmachung her«.45 So geht es Rygulla, Brinkmann und Schröder nicht zuletzt auch darum, die ›Verpackung‹ der Literatur, das heißt die typografische Oberfläche des Buchumschlags, attraktiver zu machen. Die Aussagen unterstreichen dabei die weiter oben angestellten Beobachtungen zu Schröders Umschlagentwürfen, die von einem genuinen Interesse an der warenästhetischen Dimension des Buchs zeugen. Damit gewinnt jedoch, darauf weist Brinkmann hin, eine paradoxe Figur Kontur. Denn wenn man Literatur auf ihre werbende und zum Kauf anregende Verpackung reduziere, sei sie letztlich nicht mehr von anderen Konsumgütern unterscheidbar: Wenn wir eben gesagt haben, daß alles mehr Oberfläche sein sollte, verdinglicht werden müßte, ein Buch wie meinetwegen eine Zigarette, wo liegt dann der Unterschied zwischen einem Buch wie, sagen wir mal Burroughs’ TICKET THAT EXPLODES und der Lord Extra Zigarette, die du gerade rauchst?46 Brinkmann, Rygulla und Schröder sind dabei nicht die einzigen, die sich im deutschsprachigen Raum der späten 1960er und frühen 1970er Jahre zur besonderen Bedeutung der ›Verpackung‹ äußern. Beispielsweise veröffentlicht Wolfgang Fritz Haug 1971 seine Kritik der Warenästhetik, in der Haug auch die besondere Rolle der verpackenden Oberflächen von Kulturgütern diskutiert, was in Kapitel 2.1 der vorliegenden Arbeit bereits ausführlicher diskutiert wurde. Ebenso beispielhaft für diesen Zusammenhang ist ein 1964 erschienener Band des Wirtschaftsjournalisten und Begründers des Kunstkompasses Willi Bongard mit dem Titel Fetische des Konsums, einer Anthologie zuvor in Die Zeit erschienener Artikel über Marken, Warenund Konsumästhetik. Darin zieht Bongard nicht zuletzt auch die Verpackung von 44

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Jörg Schröder: »Interview mit einem Verleger (à la Paris Review Interview)«, in: ders. (Hg.), März Texte 1, Darmstadt 1969, 283-295, hier S. 288. Vgl. zum Diskurs um die Modernisierung typografischer Oberflächen in den 1960er Jahren und die besondere Rolle Jörg Schröders als Herausgeber des März Verlags, A. Gilbert/J.-F. Bandel/T. Prill (Hg.): Unter dem Radar, S. 337–338; und das Kapitel zur Warenästhetik, in welchem besagtes Interview mit Schröder ebenfalls Erwähnung findet, ebd., S. 299–300. J. Schröder: Interview mit einem Verleger, S. 289. Ebd., S. 290.

3. Fluchtlinien der typografischen Oberfläche

Markenzigaretten beispielhaft für die Wichtigkeit der verpackenden Oberflächen von Konsumobjekten heran: »Zigaretten sind mehr als nur in Papier eingewickelter Tabak. Was nachgefragt wird, ist vor allem das ›Drum und Dran‹ einer Marke, darunter nicht zuletzt die Packung.«47 Am Beispiel der Flasche des Mundwassers von Odol ließe sich wiederum nachvollziehen, »daß das Produkt selbst und dessen Herstellung für einen Markenartikel von beinahe untergeordneter Bedeutung sind im Vergleich zur Aufmachung«.48 Dies zeige sich nicht zuletzt daran, »daß sich ›Odol‹ in der Vorstellung der Verbraucher heute viel eher mit der Kontur der Flasche als mit deren Inhalt verbindet.«49 Noch deutlicher zeigt sich die Wichtigkeit der Verpackungsoberfläche anhand des Verpackungsdesigns der Coca Cola-Flaschen, für die sich Anfang der 1960er Jahre aus ähnlichen Gründen auch Andy Warhol interessiert. Die Coca Cola-Flasche sei, so Bongard, die »vollkommenste Verpackung überhaupt«:50 »Dem eigentlichen Erfolgsgeheimnis wird man mit chemischen Analysen gewiß nicht auf die Spur kommen. Viel interessanter erscheint beispielsweise die merkwürdig profilierte Flasche, die unzweifelhaft ›mitkonsumiert‹ wird und als wesentlicher Bestandteil von Coca-Cola angesehen werden muß.«51 Denn die Flasche von Coca Cola, so heißt es dort weiter, sei die »vollkommenste Verpackung überhaupt«.52 Dabei lässt sich insgesamt beobachten, dass das in den 1960er Jahren vermehrt einsetzende Interesse an Konsumästhetik – sowohl im Hinblick auf Produktdesigns als auch mit Blick auf die Pop Art, denn auch zu dieser äußert sich Bongard –,53 wie weiter oben ausgeführt, auch im Literaturbetrieb, genauer anhand der Gestaltung von Büchern bemerkbar macht. Im Vorwort zum Buch berichtet Bongard zudem von einem bemerkenswerten Leserbrief, der anzeigt, wie ungewöhnlich eine journalistische Beschäftigung mit Warenästhetik in den 1960er Jahren war: Als ich vor Jahren in der Zeit zum ersten Mal über ›Persil‹ schrieb, tat ich das zum gelinden Entsetzen nicht nur meiner Kollegen, sondern wahrscheinlich auch vieler Leser. Über einen Markenartikel – dessen Aufstieg, Niedergang und erfolgreiches Comeback zu schreiben, galt als eine Sünde des traditionellen Wirtschaftsjournalismus. Als ich es wagte, mit ›Ernte 23‹ und ›Rama‹ fortzufahren, lief ich Gefahr, mich vollends in Verruf zu bringen. ›Nach allgemeiner Ansicht ist wohl eine

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Willi Bongard: Fetische des Konsums. Portraits klassischer Markenartikel, Hamburg 1964, S. 63.. Ebd., S. 13. Ebd., S. 17. Ebd. W. Bongard: Fetische des Konsums, S. 85. Ebd. Vgl. Willi Bongard: Kunst und Kommerz. Zwischen Passion und Spekulation, Oldenburg/ Hamburg 1967.

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Vorrausetzung für eine gute Zeitung die klare Trennung zwischen Anzeigen und redaktionellem Teil‹, schrieb mir ein Leser aus München. ›Es wundert mich daher sehr, daß in der Zeit jetzt laufend Artikel erscheinen, die in ihrer Gesamtheit . . . doch nur als Werbung für die Werbung, indirekt also für ihre Anzeigenabteilung verstanden werden müsse.‹ Ich schrieb ihm zurück, daß ich es mit der Trennung von Redaktion und Anzeigenteil in der Tat sehr ernst nähme, so ernst, daß ich nicht deshalb auf die Behandlung von Themen verzichten wolle, weil ein Verdacht der Stimmungsmache für das Anzeigengeschäft entstehen könne.54 Während Bongard also, durch die Wahl seiner Themen, nämlich Produktverpackungen, die Zeit-Leserschaft provoziert, und so innerhalb des Diskurses einer kulturtheoretischen und literarischen Reflexion von konsumästhetischen Oberflächen, dem sich die vorliegende Arbeit widmet, eine Avantgarde-Stellung einnimmt, scheint für ihn, wie aus dem vorigen Zitat hervorgeht, eine konzeptuelle Auflösung der Grenze zwischen redaktionellem Teil und Anzeigenteil, wie sie für den Zeitschriftendiskurs der 1980er Jahre zum Teil programmatisch wird, noch undenkbar.55 Anhand des Zitats lassen sich demnach sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede zwischen der Reflexion von Konsumästhetik, Werbung und Anzeigen im Zeitschriften-Milieu der 1980er einerseits und der Beobachtung dieser Zusammenhänge im journalistischen Diskurs der 1960er Jahre andererseits aufzeigen.

3.1.2 »Psychedelisches Layout«: ›Hippie‹-Typografien im Buchformat Herbert Marcuse fordert in seinem 1969 zunächst in englischer Sprache erschienenen Essay on Liberation, der im selben Jahr auf Deutsch unter dem Titel Versuch einer Befreiung in der edition suhrkamp veröffentlicht wurde, eine ›Neue Sensibilität‹ ein. Marcuses Schrift zufolge, bei der es sich um eine Nobilitierung der sinnlichen Wahrnehmung handelt, könne Befreiung vor allem dadurch erwirkt werden, neue Wahrnehmungsräume zu eröffnen. Als Beispiel einer solchen Erweiterung der Sinne führt er unter anderem den psychedelischen Rock der 1960er Jahre an. Das »›psychedelische‹ Suchen«56 ist Marcuse zufolge kein Eskapismus, sondern eine besondere Form der Gesellschaftskritik, die den gesellschaftlich festgelegten Rahmen der visuellen, akustischen und taktilen Wahrnehmung auflöse: »Die heutigen Rebellen wollen neue Dinge in einer neuen Weise sehen, hören und fühlen, sie verbinden Befreiung mit dem Auflösen der gewöhnlichen und geregelten

54 55 56

Ebd., S. 9–10. Vgl. hierzu Kap. 4.2.3 der vorliegenden Arbeit. Herbert Marcuse: Versuch über die Befreiung, Frankfurt a.M. 1969, S. 61.

3. Fluchtlinien der typografischen Oberfläche

Art des Wahrnehmens.«57 Damit sind nicht nur drogeninduzierte Erfahrungen gemeint, sondern auch die auditiven Erlebnisse während psychedelischer Rockkonzerte einschließlich der visuellen Effekte von Stroboskopen und nicht zuletzt die psychedelische Typografie auf Plattencovern, Flyern und Plakaten.58 Dabei findet bereits Ende der 1960er Jahre auch eine akademische Auseinandersetzung mit der neuartigen Typografie statt. Beispielsweise äußert sich der deutsche nach Kalifornien emigrierte Typograf Peter Selz 1968 zur »Typographie der psychedelischen Plakate«.59 Darin führt Selz die neuartige Typografie auf die besonderen Rezeptionserfahrungen zurück, die Besucher von Rockkonzerten und -festivals machen würden: Die gesamte Oberfläche wird aktiviert, und die Typographie spielt eine strukturelle Rolle in der Gesamtgestaltung. [Es wird] versucht, die Empfindungen und die Atmosphäre der Rocktänze und der psychedelischen Lichterspiele einzufangen. Die op-Farben [Abk. Optische Kunst, Vf.] ziehen sogleich die Blicke auf sich, und die hemmungslose Anwendung von Komplementärfarben passt zu den stroboskopischen Lichteffekten und den ohrenzerreissenden Tönen aus den Lautverstärkern. Alles trägt zur Betäubung von Auge und Ohr an diesen Tanz-Konzerten bei. Wird der Betrachter vom Plakat gefesselt, muss er versuchen die verwickelte Botschaft zu entziffern. Das eigentliche Plakatpublikum, Hippies und »Blumenkinder«, haben sich rasch an die neue Typographie gewöhnt; sie ist zu einer Art Geheimbotschaft geworden. Tatsächlich haben einzelne Gestaltungselemente für sie eine besondere Bedeutung: die Buchstaben scheinen sich um die eigene Achse zu drehen, was sich auf die Erfahrungen mit LSD bezieht, das gleiche gilt für die grellen und fließenden Farben und die rotierenden Muster, die in manchen Plakaten anzutreffen sind.60

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Ebd. Vgl. zum Konzept der ›Neuen Sensibilität‹ Ende der 1960er Jahre, die sich auch bis in den von Jörg Schröder geleiteten März Verlag übersetzt, Georg Stanitzek: »Das ›Stromlinienbaby‹, die neue Sensibilität. (New York – London – Reinbek)«, in: Text+Kritik. Sonderband Literarischer Journalismus (2022), H. 6, S. 61–80; Jan-Frederik Bandel: »Unter dem Radar. Underground- und Selbstpublikation 1965–1975«, in: Michael Glasmeier/Tania Prill (Hg.), Typografie als künstlerisches Ereignis, Hamburg 2016, S. 35–48, hier S. 41. Philipp Felsch bemerkt zudem, dass das Programm der ›Neuen Sensibilität‹ auch in den Merve Verlag Einzug hielt, P. Felsch: Der lange Sommer, S. 82. Einen guten Einblick bietet hier Bernd Caillouxs autofiktionaler Roman Das Geschäftsjahr 1968/69, der von zwei Unternehmern erzählt, die – wie der Autor selbst – Ende 1960er Jahre durch den Verkauf von »discoreife[n] Stroposkop-Blitzlicht[ern]« an »Psychedelic-Clubs« zu Geld kommen. (Bernd Cailloux: Das Geschäftsjahr 1968/69, Frankfurt a.M. 2005). Vgl. hierzu P. Felsch: Der lange Sommer, S. 220. Peter Selz: »Das Hippie-Plakat«, in: graphis. die internationale Zeitschrift für visuelle Kommunikation 24 (1968), H. 135, S. 70-77, 91-92, hier S. 73. Ebd., S. 70–73.

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Es zeigt sich demnach eine dezidierte Verbindung zwischen popkulturellen Inhalten und ihrem typografischen Ausdruck, wie sie sich in ähnlicher Weise am Beispiel der ›Punk‹- und ›New Wave‹-Layouts der 1970er und 1980er Jahre beobachten lässt, welche in den folgenden Kapiteln der vorliegenden Arbeit Thema sind. Insofern lässt sich dieser Zusammenhang zwischen den Themen und Inhalten popkultureller Strömungen auf der einen Seite und ihrer typografischen Darstellung auf der anderen in vielen Bewegung und Dekaden der Popmusik beobachten. Eine weitere Parallele zwischen den psychedelischen Typografien und den typografischen Oberflächen der 1980er Jahre besteht darin, dass beide bewusst vergangene typografische Epochen zitieren. Dem »Hippie-Graphiker bedeutet Originalität nichts«,61 schreibt Selz weiterhin – und was die typografischen Trends der Moderne für die ›Pop‹-Typografen der 1980er Jahre sind, ist der Jugendstil für die ›Hippie‹Grafiker. Wobei bei der psychedelischen Typografie, mehr noch als bei den Jugendstilplakaten, die Buchstaben selbst die Funktion des Ornaments übernehmen und mehr die Bildlichkeit als die Lesbarkeit der Buchstaben voranstellen. Dabei sind die Hippieplakate bei all ihrer Zitierfreudigkeit jedoch keineswegs als epigonal zu bezeichnen, da sie sich offensichtlicherweise in vielerlei Hinsicht von ihren typografischen Vorbildern absetzen. Zudem scheint der Fokus auf Typoplakate bei den psychedelischen Typografen, wenn auch nicht unbedingt originell, so doch zumindest ungewöhnlich für die 1960er und 1970er Jahre, insofern die Plakate dieser Zeit tendenziell in den Gegenpol ausschlagen. En vogue sind Bildplakate, die die typografischen Elemente auf ein Minimum reduzieren.62 Gleiches gilt für die Schallplattenhüllen der psychedelischen Rockmusik, die im Kontext dieser Zeit zum ersten Mal überhaupt neben der akustischen vor allem auch die visuelle Dimension von Pop-Produkten betonen.63 Darüber hinaus findet sich die Ende der 1960er Jahre virulente psychedelische Typografie nicht nur auf den Werbeplakaten und den Schallplattenhüllen der Popmusik, sondern auch auf den 61 62

63

Ebd., S. 73. Max Gallo: Geschichte der Plakate, Herrsching 1975, S. 277. Für Gallo beginnt die Geschichte des modernen Plakats mit der Französischen Revolution, in der sie eine wesentliche Rolle für die eskalative Dynamik der Guillotine spielen, ebd., S. 15–40. Die Geschichte der Plakate basiert für Gallo wiederum auf der Entwicklung von Typoplakaten hin zu den reinen Bildplakaten der 1960er Jahren – die seltsam verzerrten Typoplakate der ›Hippies‹ arbeiten auch in dieser Hinsicht im Sinne einer counter culture gegen diesen Mainstream. Für Gallo wiederum sind solche subversiven Versuche notwendig zum Scheitern verurteilt, da die Medien und Formate des Kapitals, wie eben Werbeplakate, jedwede Subversion für sich vereinnahmen würden. (Vgl. ebd., S. 288). Diedrich Diederichsen: »Psychedelische Begabungen«, in: ders.: Kritik des Auges. Texte zur Kunst, Hamburg 2008, S. 75–106, hier S. 76–78. Vgl. außerdem zur Popularität des ›Psychedelischen‹ Ende der 1960er Jahre, Diedrich Diederichsen: »Veiling and Unveiling: The Culture of the Psychedelic«, in: Christoph Grunenberg (Hg.), Summer of Love. Art of the psychedelic Era, London 2005, S. 85–98.

3. Fluchtlinien der typografischen Oberfläche

typografischen Oberflächen literarischer Buch- und Zeitschriften-Publikationen. Diese literarische Variante der psychedelischen Bewegung schwappt ebenso wie ihr popmusikalisches Pendant Ende der 1960er Jahre aus den USA in den deutschsprachigen Raum über, wobei der Bezug auf die amerikanischen Vorbilder stets präsent bleibt. Beispielhaft hierfür ist unter anderem die 1969 von Rolf-Ulrich Kaiser herausgegebene »Buchcollage«64 Underground? Pop? Nein! Gegenkultur!, die Kaisers Reise durch die Zentren der amerikanischen counter culture, New York und Kalifornien, dokumentiert. Dabei plädiert Kaiser, wie schon der Titel verrät, dafür, den Zusammenhang unter dem Begriff ›Gegenkultur‹ zusammenzufassen und argumentiert gegen die alternativen Begriffe ›Pop‹ oder ›Underground‹, – jedoch ohne Erfolg, wie sich aus heutiger Sicht sagen lässt. Im deutschsprachigen Raum haben sich anders als in den englischsprachigen Ländern, in welchen sich die Semantik der counter culture durchgesetzt hat, die Semantiken ›Pop‹ und ›Underground‹ etabliert. Die Anthologie fällt nicht nur durch das besondere Format der Buchcollage auf, sondern ebenso durch das damit eihergehende, eher buchuntypische psychedelische Layout (Abb. 12). Dieses ist äußert heterogen, es finden sich verschiedenste Schrifttypen und Schriftfarben. Auch die Buchseiten sind zum Teil eingefärbt. Die Schrift steht nur äußerst selten waagerecht im Layout der Buchseite. Darüber hinaus finden sich darin die für die ›Hippie‹-Ästhetik typischen Ornamente, Illustrationen und Comic Strips abgebildet. Die zentrale Bedeutung des Layouts für die Publikation spiegelt sich auch im peritextuellen Rahmen des Buches wider, genauer gesagt in den Angaben zur Autor:innenschaft auf dem Buchumschlag. Auf der Titelseite steht nicht nur Rolf-Ulrich Kaiser, der Autor und Herausgeber der schriftlichen Teile der Publikation, sondern ebenso exponiert auch der Urheber seiner typografischen Oberflächen Rainard Hippen.65 Ebenso auffällig ist der spielerische Umgang mit den Schmutzseiten der Buchpublikation, der die Trennung von Text und (werbendem) Peritext bewusst unterläuft. Die bibliografischen Angaben über Verlag, Publikationsdatum und Druckwerk sowie die Widmung finden sich typografisch eingewoben in collagierte, an die Werbetypografie der Nachkriegszeit erinnernde historische oder gar rein fiktive Anzeigen für ›Hosenglätter‹ und ›Ohrenschützer‹.66 Darüber hinaus besticht der Band 64

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Rolf-Ulrich Kaiser: Underground? Pop? Nein! Gegenkultur!, Köln/Berlin 1969, S. 3. Vgl. hierzu J.-F. Bandel: Unter dem Radar, S. 46. Vgl. zur buchmedialen Ausprägung der ›Hippie-Ästhetik‹ das Kapitel zum Maro Verlag in J.-F. Bandel/G. Stanitzek: Broschüren, S. 79–86. »Layout Rainard Hippen«. R.-U. Kaiser: Underground? Pop? Nein! Gegenkultur!, S. 3. Der spielerische Umgang mit Anzeigen ist eine weitere Facette, die den Oberflächendiskurs der 1960er mit dem der 1980er Jahre verbindet. Dies kommt beispielsweise auch in einem darin befindlichen Interview mit Tuli Kupferberg zur Sprache: »Popular Poetry. Pop Poetry. Real Advertisement. As they appeard in newspapers, magazines, in direct mail. No word has been added. There are genuine ads. Parts of some ads have been omitted. But these are the very texts. These are for real.« (Ebd., S. 51).

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durch drei Vorwörter, wobei es sich bei den ersten beiden Vorwörtern jedoch nicht um Texte des Herausgers Kaiser, sondern um collagierte Zitate handelt. Nur das dritte geht auf den Herausgeber zurück, worin dieser eine Rezeptionsanweisung vorgibt und die Funktion der ›Buchcollage‹ benennt: diese buchcollage wurde nicht für theoretiker gemacht. Diese buchcollage ist für leser, die informationen brauchen, jetzt und nicht für die ewigkeit, denen das leben spaß macht. In diesem buch wird keine theorie der gegenkultur entwickelt, sondern einblick in das leben der gegenkultur und informationen über ihren aktuellen zustand: ein kleiner teil der informationen, die es bereits über die gegenkultur gibt. Dieses buch hat fehler und wird verbessert werden. – verzichte auf die distanz und lies.67

Abb. 12: Titelseite aus Rolf-Ulrich Kaisers Underground? Pop? Nein! Gegenkultur! von 1969 (24 x 18 cm).

67

Ebd., S. 8.

3. Fluchtlinien der typografischen Oberfläche

Abb. 13: Titelansicht von Ralf-Rainer Rygullas FUCK YOU! von 1968 (20 x 13 cm).

Die Wahl der antitheoretischen Form basierte demnach nicht bloß auf einem ästhetischen Urteil. Vielmehr spiegelt die Formatoberfläche der ›Buchcollage‹ das Programm der Publikation wider. Es ging den Herausgebern nicht darum, einen theoretischen Rahmen zu produzieren, sondern darum, Material zu anzusammeln, um eine Zustandsbeschreibung zu geben und zugleich Netzwerke der Gegenkultur auszubilden. Die typografische Oberfläche wird somit als politische Praxis begriffen, woraus eine programmatische Unabgeschlossenheit des Buchs resultiert. Darüber hinaus setzt sich der Band inhaltlich mit der Bedeutung von Layoutoberflächen und Vervielfältigungsmedien auseinander. Paradigmatisch sind hierfür die zahlreichen amerikanischen Magazine, über die sich die counter culture vervielfältigt und die sich zum Teil auch, ebenso wie die Plakate, durch ihr »psychede-

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lisches Layout«68 hervortun. In einem Interview mit dem Literaten und Sänger der Popband The Fugs Ed Sanders über sein Magazin Fuck You kommt zudem die Formatdifferenz zwischen Buch und Magazin zur Sprache: Es gibt hier so etwas wie eine Vervielfältiger-Revolution. […] Wir kümmern uns nicht mehr um die traditionelle Buchherstellung und schaffen unsere eigene Vervielfältiger-Gegenkultur. Wir haben Magazine herausgegeben, die nicht sehr teuer sind und in einem Tag produziert werden können.69 Die counter culture wird somit von Ed Sanders zuvorderst als mediale Volte begriffen. Dabei geht es vor allem um kulturelle Akzeleration, die durch die kleinen Formate und die billige Produktionsweise der Magazine ermöglicht wird. Auch in diesem Punkt ist die Magazinkultur der 1960er Jahre vorbildlich für die Machart der ›Punk‹Fanzines der 1980er Jahre, die mit ganz ähnlichen Argumenten aufwarten. In beiden Dekaden wird das Zine als Möglichkeit begriffen, an den festen, institutionalisierten Strukturen des Publikationsbetriebs vorbei zu veröffentlichen, auch um Vorgaben und Regeln zu umgehen, die mit dem auf ökonomischen Profit bedachten Rahmen des Publikationsgeschäfts einhergehen: »Ed holt einige dieser Magazine herbei. Billiges, holzhaltiges Papier, farbig. Texte, Pamphlete, Zeichnungen. Bilder. Viele seiner Magazine sind nur in einer einzigen Ausgabe und Auflage erschienen, dann war ihm schon ein besserer Titel eingefallen. Spontaneität bestimmt die Verlagslinie.«70 Einzig das Magazin Fuck You – A Magazin for the Arts, bei dessen dritter Ausgabe Andy Warhol in die Covergestaltung involviert ist,71 erscheint in knapp einem Dutzend Ausgaben. Das Konzept der Zeitschrift, das sich dem editorialen Teil der Hefte entnehmen lässt, schließt zudem an das ästhetische Programm der psychedelischen Typografie an. Ähnlich wie im Falle der ›Hippie‹-Plakate scheinen die typografischen Oberflächen von den psychedelischen und halluzinativen Erfahrungen mit Drogen und Strobo-Lichteffekten inspiriert zu sein. In der achten Ausgabe des Magazins heißt es etwa im Untertitel: »FUCK YOU/a magazine of the Arts printed by it’s hallucination, fug-press ®«72 Ein andermal gibt sich das Magazin folgenden Beinamen:

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Ebd., S. 204. Ebd., S. 18. Vgl. zur Vorgeschichte von kleinen, abseitigen, nicht professionellen Zeitschriften und Buchpublikationen in den 1960er Jahren insbesondere mit Blick auf den Wandel, der sich in den typografischen Oberflächen der Druckerzeugnisse abzeichnete A. Gilbert/J.-F. Bandel/ T. Prill (Hg.): Unter dem Radar, S. 1–5. R.-U. Kaiser: Underground? Pop? Nein! Gegenkultur!, S. 18. Ed Sanders: »Editorial«, in: FUCK YOU/a magazine of the arts (1965), H. 5, n.p.: »OUR THIRD ANNIVERSERY MAD MOTHEFUCKER ISSUE! COVER BY ANDY WARHOL FROM HIS EVIL COUCH MOVIE« (Ebd., n.p.) Ebd.

3. Fluchtlinien der typografischen Oberfläche

»FUCK YOU/a magazine of the BRAIN BLOB STROBO-SUCK!«.73 Die erfahrungserweiternde Funktion der LSD-Trips und der Lichtshowelemente wird so auf die typografische Oberfläche der Zeitschrift übertragen. Ed Sanders’ Magazin spielt dabei nicht nur in Kaisers Anthologie eine Rolle, sondern ist ebenso titelgebendes Vorbild für die von Ralf-Rainer Rygulla herausgegebene Anthologie Fuck You (!), die 1968 im Melzer Verlag erscheint, der zu dieser Zeit von dem späteren Gründer des März Verlags Jörg Schröder geführt wird. Im Vorwort kommt Rygulla dabei ebenso auf die besondere Bedeutung der vielen kleinen Magazine zu sprechen, da auch die Wahl des Formats für den literarischen underground wesentlich ist: Der Abscheu, den man vor dem Super-Kommerzialismus und Perfektionismus empfindet, drückt sich schon in der Form der Publikationsmittel aus, in denen Autoren des Untergrunds veröffentlichen. Die wichtigsten sind die little mags, kleine Zeitschriften, die oft mit bewusster Primitivität hergestellt werden, und in den vielen Buchhandlugen, LSD shops, Kleiderboutiquen und Diskotheken in der New Yorker East Village, in San Francisco und Los Angeles – Schwerpunkte der literarischen Underground-Bewegung – angeboten werden. Trotz der kleinen Auflagen haben diese hektographierten Hefte überlokale Bedeutung, denn viele der schon berühmt gewordenen Autoren, lassen weiterhin Arbeiten in ihnen veröffentlichen. Profitlose Ein-mann-Betriebe, diese Zeitschriften stellen ihr Erscheinen nach ein paar Ausgaben oft ein, und einige erlangen nach ihrem Eingehen Berühmtheit. Eines der ersten Magazine, das zu Reputation gelangte, war das von Ed Sanders edierte FUCK YOU/A Magazine for the Arts, das die New Yorker Polizei aus Gründen der Obszönität beschlagnahmte, um, laut Sanders, sich daran aufzugeilen. Überhaupt wehrt man sich von offizieller Seite gegen diese Publikationen heftig. Immer wieder müssen sich die Herausgeber mit Hilfe von Geldsammlungen, an denen sich viele Zeitschriften beteiligen, aus der Untersuchungshaft freigekauft werden. Daneben gibt es hunderte von kleinen Pressen, die sehr billig Bücher und Hefte herausbringen und die auf bibliophilen Anspruch fast immer verzichten.74

73 74

Ebd. Ralf-Rainer Rygulla: FUCK YOU (!) Underground Poems/Untergrund Gedichte, Darmstadt 1968, S. 128–129. Brinkman spricht in seinen Notizen zu Silver Screen zudem von der »Epoche der literarischen little mags«. R. D. Brinkmann (Hg.): SILVER, S. 19. Dabei scheint nicht zuletzt der kleine Umfang der ›little mags‹ eine besondere Rolle für das subversive Potenzial dieser Publikationsmedien zu spielen. Vgl. hierzu auch Carlos Spoerhase: »Kleine Magazine, große Hoffnungen«, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für Europäisches Denken 69 (2015), H. 3, S. 72–79. Vgl. zur Medien-Geschichte der kleinen Form Michael Gamper/Ruth Mayer (Hg.): Kurz & Knapp. Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bielefeld 2017.

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Der Band fällt darüber hinaus durch sein besonderes Design auf, das an die psychedelische Typografie der ›Hippie‹-Grafiker erinnert. Die Covergestaltung setzt sich zusammen aus wild verlaufenden Buchstaben in grellen, fließenden Farben, unregelmäßig auf der Seite verteilt. Darüber hinaus spielt das Design mit der Physiognomie der Buchstaben, die nicht nur den Titelschriftzug ausbilden, sondern zugleich auch in das pornografische Bildmotiv integriert sind. Das Ausrufezeichen im Titel der Anthologie stellt so zugleich einen Phallus in der Hand des abgebildeten nackten Frauenkörpers dar. Dass die ›Verpackung‹ der in der Anthologie versammelten Texte einen ebenso großen Stellenwert für die Publikation einnimmt wie deren Inhalt, zeigt sich nicht zuletzt auch daran, dass der Grafiker, Peter Kröger, den Buchumschlag signiert (Abb. 13).75 Der Urheber des Buchumschlags findet demnach nicht erst, wie für die Gestalter des Buchcovers sonst üblich, auf den Schmutzseiten des Buchs Erwähnung, sondern als Autograph auf dem Cover wie bei einem Gemälde. Zudem verzichtet der Herausgeber des Bandes, Ralf-Rainer Rygulla, auf eine namentliche Nennung auf dem Buchcover. Exemplarisch für den hier besprochenen Kontext, nämlich literarische Bücher der 1960er Jahre, die den typografischen Stil der psychedelischen Plakate und Schallplatten adaptieren, ist auch ein Buchumschlag des deutschen Typografen Werner Rebhuhn, auf den u.a. einige Umschlaggestaltungen der RowohltTaschenbuchreihe rororo bildmonographien und die rot-schwarzen Buchumschläge der deutschen Übersetzungen der Werke Jean Paul Sartres zurückgehen. Gemeint ist Rebhuhns Design für den Buchumschlag zu Hubert Fichtes zweitem Roman Die Palette, der wie Kaisers Buchcollage den typografischen Stil der psychedelischen Plakate zitiert (Abb. 14).76 Werner Rebhuhns »[S]piele[n] mit der ›HippieÄsthetik‹« stellt dabei Rainer Groothuis’ Geschichte und Warenkunde des Buchs zufolge eine zentrale Zäsur in der Geschichte des Buchumschlagsdesigns dar.77 Der Buchumschlag besteht aus einer metallgoldfarbenen Folie und die darauf befindlichen Angaben zur Publikation, d.h. Autorname, Romantitel, Verlagsname und die Spezifizierung der Textsorte, sind in einer Schrifttype gesetzt, die an Peter Selz’ Beschreibung der ›Hippie‹-Plakate erinnert. Auch in diesem Fall handelt es sich um ›grelle und fließende Farben‹, ›rotierende Muster‹ und ›sich um die eigene

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»Umschlagentwurf: Peter Kröger«. R.-R. Rygulla: FUCK YOU (!), U4. »Schutzumschlag und Einband von Werner Rebhuhn«. Hubert Fichte: Die Palette, Reinbek 1968, U3. Der von Christian Cruxin gestaltete Schutzumschlag seines Roman-Debüts Das Waisenhaus entsprach dagegen noch einer modernistischen Formsprache, vgl. Hubert Fichte: Das Waisenhaus, Reinbek 1965, S. 196. twen bringt zudem Hubert Fichtes Leseperformance von Die Palette mit Musik von Ian and the Zodiaks und Ferre Grignard & Co auf Schallplatte heraus. Willy Fleckhaus gestaltet das Schallplattencover. twen: »Beat und Prosa. Hubert Fichte im Starclub«, in: twen (1966), H. 12, S. 94–97. Groothuis: Wie kommen die Bücher auf die Erde?, Köln 2007, S. 127.

3. Fluchtlinien der typografischen Oberfläche

Achse drehende Buchstaben‹.78 Verlag und Autor scheinen dabei Wert auf eine ansprechende ›Verpackung‹ des literarischen Textes gelegt zu haben, was von einem Bewusstsein dafür zeugt, dass ein Roman immer auch ein Konsumprodukt ist, zumal der literarische Text dies gegen Ende selbst reflektiert. Auf den letzten Seiten finden sich autofiktionale Passagen, in denen die Autorfigur den ökonomischen Rahmen des Romans reflektiert. So leihe ihm sein Verleger »Ledig«,79 gemeint ist Heinrich Maria Ledig-Rowohlt, »im Monat so viel, wie Loddl«,80 eine Romanfigur, die als Hafenarbeiter arbeitet, »im Hafen fest verdient.«81 Dennoch beneide man ihn »um die 3 mal 12 mal 800 Miesen«82 obwohl dies bei »zweihundert Stunden im Monat«83 bloß »Stundenlohn vier Mark«84 mache. Dabei ist der autofiktionale Erzähler sich durchaus darüber im Klaren, dass er, in dem er ökonomische Aspekte der Literaturproduktion offenlegt, einen Tabubruch begeht: »– I gitt!/– Ein junger Dichter rechnet!/– Wohlfahrtstaat! – Konsum! Konsum! […] Kauft, Leute, die Palette, kauft! Kauft!«85 Fichtes Roman reflektiert so die eigene Warenförmigkeit und verwandelt diese zugleich in ein literarisches Sujet. Der spielerische Umgang mit Wirklichkeit und Fiktion wird darüber hinaus mit dem zuvor beschriebenen ökonomischen Rahmen der Romanproduktion rückgekoppelt: »Meine Fiction ist nicht ganz ohne Non-Fiction. Trotzdem kann ich mich auf den Kopf stellen, solange die Palette nicht in Rowohlts Deutsche Enzyklopädie erscheint […] bleibt es eben bloß ein Novel.«86 Denn in erster Linie bestimmt nicht der Text selbst, sondern der paratextuelle Rahmen darüber, welchem Genre der Text zugeordnet wird. Auf diesen Effekt des Rahmens wiederum beruft sich der Erzähler des Romans bzw. der Autor Hubert Fichte, wenn er gegen seinen Verleger wettert: »Meine Schulden bei Ledig-Rowohlt – Fiction, wenn ich sie in diesem Zusammenhang erwähne.«87 Der Fiktionalisierungseffekt des literarischen Textes, der die autobiographischen Elemente Fichtes in Autofiktionen verwandelt, schließt die ökonomischen Rahmenbedingungen der Literaturproduktion so mit ein, ohne, und darin liegt die Ironie der Aussage, den Autor von seinen Schulden befreien zu können.

78 79 80 81 82 83 84 85 86 87

Vgl. Dirk Linck: »Hubert Fichte: Die Palette«, in: M. Baßler/E. Schumacher (Hg.), Handbuch Literatur & Pop, S. 370–383, hier S. 380. H. Fichte: Die Palette, S. 345. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 345–346. Ebd., S. 351. Ebd., S. 360.

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Abb. 14: Titelansicht von Hubert Fichtes Die Palette von 1968 (19 x 11,5 cm).

Vor dem Hintergrund dieser Textpassagen fällt nicht zuletzt der goldmetallene, stark glänzende Buchumschlag von Fichtes Roman ins Auge. Denn die glänzende Oberfläche setzt ganz dezidiert auf eine Ästhetik des Reizes, die zumeist mit Konsumästhetik und eben auch ›Pop‹ assoziiert wird. Metallene Umschläge wiederum sind, dies lässt sich einem 1973 in Basel gehaltenen Vortrag von Suhrkamp-Buchumschlagsgestalter Willy Fleckhaus entnehmen, Ende der 1960er Jahre modisch. Fleckhaus selbst schlug nämlich für die Suhrkamp Taschenbuch-Reihe eben solche metallenen Umschläge vor, die jedoch, so Fleckhaus, bei Suhrkamp auf nicht allzu großen Anklang stießen: »[I]ch zeigte dem Verleger Umschläge in Metallfarben, Kupfer und Stahl, Eisen und Silber (allerdings kein Gold). […] Aber niemand im Verlag wollte das Metallische. Die Popwelle, die sich damals gerade silberfarben bekleidete, machte diese Farbe unmöglich und bei Kupfer sagte jemand: ›Es ist wie bei Mö-

3. Fluchtlinien der typografischen Oberfläche

venpicks.‹ Damit war mit Pop und Mövenpick Metallic tot.«88 Dass der Verweis der Suhrkamp-Verantwortlichen auf die ›poppigen‹ Bucheinbände im gleichen Atemzug mit der Assoziation von Mövenpick-Verpackungen fällt, verweist einmal mehr auf die strukturelle Nähe von Pop- und Konsumästhetik. Beispielhaft für die von Willy Fleckhaus angesprochenen silbermetallenen Pop-Buchumschläge ist etwa die von Renate Matthaei herausgegebene Anthologie Grenzverschiebung, die unter anderem Texte von Elfriede Jelinek und Hubert Fichte enthält und die ein von Hannes Jähn gestaltetes metallisch-silbernes Cover ziert (allerdings in Kombination mit einer nüchternen schwarzen Schrifttype).89 Ebenso beispielhaft ist die Reihe »SILVER BOOKS«90 des Melzer-Verlags, in dem wie bereits weiter oben erwähnt auch RalfRainer Rygullas Anthologie Fuck You (!) erscheint und eine Reihe weiterer poppiger Buchveröffentlichungen. Jörg Schröder verwandelt Melzer Ende der 1960er Jahre von einem Verlag für Judaica zu einem Verlag für poppige und pornografische Literatur, was sich zum Teil auch auf die typografischen Oberflächen der Publikationen auswirkt.

Abb. 15 u. 16: Titel- und Rückansicht von Carl Weissners Cut Up von 1969 (20 x 13 cm).

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Willy Fleckhaus: »Arbeiten aus meiner vielseitigen Tätigkeit. Basel, 9.11.1973«, in: Hans-Michael Koetzle/Carsten M. Wolff (Hg.), Fleckhaus. Deutschlands erster Art Director, München/ Berlin 1997, S. 275–279, hier S. 277. Renate Matthaei (Hg.): Grenzverschiebung. Neue Tendenzen in der deutschen Literatur der 60er Jahre, Köln 1970. Melzer: Melzers Surf Rider, Darmstadt 1970.

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In der Reihe ›SILVER BOOKS‹ erscheint unter anderem die von Carl Weissner herausgegebene Anthologie Cut Up, die zum Teil auch amerikanische Autoren, wie etwa Burroughs und Brion Gysin versammelt, auf den die Idee des Cut up ursprünglich zurück geht (Abb. 15 u. 16). Das Cover des Bandes wurde von Abraham Melzer, dem Sohn des Verlagsgründers, entworfen und scheint von Andy Warhols künstlerischer Vorliebe für Silberfolie inspiriert zu sein, – man denke etwa an die silver screen-Portraits, die Silver Factory oder die Silver Pillows. Der Buchumschlag ist mit einer silberglänzenden Folie überzogen und die auf Front- und Rück-Cover versteilten Angaben zum Band, d.h. Verlagsname, Titel und die Namen der Beiträger, sind wiederum in einer Schrift gesetzt, die an die ornamentalen Schrifttypen der psychedelischen Plakate erinnert.91 Weissner ist darüber hinaus Anfang der 1970er Jahre mit weiteren Publikationen in Erscheinung getreten, die die Oberflächen des Textes mitreflektieren. Beispielsweise gibt Weissner zusammen mit Jörg Fauser und Jürgen Ploog die ersten drei Ausgaben des Literatur-Magazins Gasolin 23 heraus, in welchem die Herausgeber ihre Texte mit denen amerikanischer Autoren wie Burroughs und Bukowski mischen und dabei gezielt das Urheberrecht missachten. Denn durch die Aufnahme der Texte der bekannteren, oftmals amerikanischen Autoren handelt es sich bei den Ausgaben der Zeitschrift gewissermaßen um Raubdrucke.92 Bemerkenswert ist auch der lange Erscheinungszeitraum des Periodikums, das dadurch eine verbindende Funktion zwischen dem Pop-Autorenkreis der 1960er und dem der 1980er einnimmt. Im zweiten Heft von 1973 findet sich ein – vermutlich fingierter – Brief von Rolf Dieter Brinkmann abgedruckt, der sich über eine unautorisierte Publikation eines seiner Texte in der ersten, »mittlerweile verschollenen«93 Ausgabe, wie es auf einem Werbeflyer zu Gasolin 23 von 1973 heißt, der Zeitschrift beschwert.94 In der letzten Ausgabe, die 1986 erscheint, findet sich wiederum ein kurzer Text des Münchners Lorenz Lorenz abgedruckt, der sonst vor allem für Spex und Elaste schreibt und mit seinem ›Punk‹-Fanzine Die Einsamkeit des Amokläufers – das zudem auch in Buchform erscheint – in der Münchener Szene der 1980er Jahre Maßstäbe setzt.95 Detailliertere Ausführungen zu Lorenz’ Fanzine und seiner Adaption des Heftes in Buchform sowie seiner Rolle im Zeitschriftenmilieu der 1980er Jahre folgen in Kapitel 5.1.1 der vorliegenden Arbeit. Der kurze Hinweis muss an 91 92

93 94 95

Carl Weissner: Cut Up. Der sezierte Bildschirm der Worte, Darmstadt 1969. Vgl. zu Fausers Beteiligung an dem Underground-Magazin Matthias Penzel/Stephan Porombka: »Aus der Werkstatt der Cut Up-Brigade. Über den Zusammenhang von Jörg Fausers literarischen und journalistischen Textexperimenten«, in: Text+Kritik. Sonderband Literarischer Journalismus (2022), H. 6, S. 24–45. Jörg Fauser, Carl Weissner und Jürgen Ploog geben von 1970 bis 1971 außerdem gemeinsam das Frankfurter Magazin Ufo sowie das Magazin Zoom heraus, vgl. A. Schwanhäußer: Stilrevolte Underground, S. 55. Gasolin 23: Werbe-Flyer 1973–1974, n.p. Gasolin 23: »Lettres«, in: Gasolin 23 (1973), H. 2, S. 4. Lorenz Lorenz: »Honneger in Cambodia«, in: Gasolin 23 (1986), H. 9, S. 30.

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dieser Stelle genügen, um anzuzeigen, wie sich zwischen den Zeitschriften der verschiedenen Dekaden zum Teil allein schon über die Autor:innen der Zeitschriften Verbindungslinien ergeben.

3.1.3 »Colorful, appealing – gay!«: Fleckhaus’ twen und edition suhrkamp Eine weitere Verbindung zwischen den 1960er und 1980er Jahre ergibt sich durch die von Willy Fleckhaus gegründete Zeitschrift twen, die nach ihrer Einstellung im Jahr 1971 Anfang der Achtziger Jahre noch einmal neu aufgelegt wird, allerdings mit nur mäßigem Erfolg, was nicht unbeobachtet bleibt. Etwa thematisiert ein 1984 erschienener Spex-Artikel von Rainald Goetz den Misserfolg des Revivalprojektes, wobei Goetz im Konsumverhalten der Jugend ein hilfreiches Regulativ erkennt: »es spricht sehr für den deutschen Twen, daß er das neue Twen vor zwei Jahren ganz schnell hat eingehen lassen, indem er es nicht gekauft hat«.96 Das Scheitern des Relaunches der Zeitschrift in den 1980er Jahren schmälert jedoch nicht die Bedeutung, die sie bei der grundlegenden Erneuerung der Zeitschriftengestaltung in den späten 1950er Jahren hatte und welche insbesondere mit dem Einsatz von Farben zu tun hatte. An einem kurzen Text in twen von Willy Fleckhaus mit dem schlichten Titel Farbe, wird ersichtlich, welche Rolle die typografische Komponente der Farbe für den deutschen Typografen spielt: »Wir wollen die erste Zeitschrift in Europa sein, die mit der Farbe einen neuen Weg geht«,97 heißt es darin. Auf dem Cover von besagter November-Ausgabe der twen von 1961, in dem sich Fleckhaus’ Text abgedruckt findet, wird Fleckhaus Programm für twen zudem exponiert beworben und zugleich parodiert: »Jetzt vierfarbig und teurer« (Abb. 17).

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Rainald Goetz: »Fleisch«, in: Spex (1984), H. 5, S. 39–45, 53, 55, hier S. 45. Willy Fleckhaus: »Farbe«, in: twen (1961), H. 6, S. 57–67, hier S. 62. Ein weiterer Text von Fleckhaus thematisiert die Ästhetik des Reflexes. Willy Fleckhaus: »Reflex«, in: twen (1962), H. 2, S. 58–66.

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Abb. 17: Cover der November-Ausgabe der twen von 1961 (33,5 x 26,5 cm).

Fleckhaus’ Karriere als Gestalter beginnt Anfang der 1950er Jahre als Layouter für Aufwärts, der in Köln erscheinenden Jugendzeitschrift des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Ab 1959 ist er verantwortlich für das Layout der Studentenzeitschrift Student im Bild98 und noch im selben Jahr erscheint die zunächst als einmalige Beigabe zu Student im Bild angedachte Lifestyle-Zeitschrift twen,99 die als Vorreiter der großformatigen und aufwändig gelayouteten ›Pop‹-Zeitschriften der 1980er Jahre angesehen werden kann.100 Fleckhaus selbst pflegt zu der in den 1960er Jahren erst98

Vgl. Hans-Michael Koetzle: »Unsere Menschen erfreuen, belehren, unterhalten. Willy Fleckhaus als Zeitschriftengestalter«, in: Hans-Michael Koetzle/Carsten M. Wolff/Michael Buhrs [u.a.] (Hg.), Fleckhaus. Design, Revolte, Regenbogen, Köln 2016, S. 24–106. 99 Der Name der Zeitschrift verweist auf den konzeptuell angedachten Adressatenkreis des Heftes, nämlich die »deutschen Twens«, die anders als die amerikanischen »›beats‹« und die britischen »angry young men« nicht aufbegehren würden, ohne dabei jedoch konformistisch zu sein. (twen: »Editorial«, in: twen (1959), H. 1, S. 97). 100 Vgl. Hans-Michael Koetzle/Carsten M. Wolff (Hg.): Fleckhaus. Deutschlands erster Art Director, München/Berlin 1997, S. 40–86.

3. Fluchtlinien der typografischen Oberfläche

malig virulent werdenden Semantik ›Pop‹ jedoch ein zwiespältiges Verhältnis. Dies lässt sich einem 1969 in der Zeitschrift Format erschienenen Interview mit Fleckhaus entnehmen, in dem er zu seinem Verhältnis zur Pop Art befragt wird. Für twen habe er bewusst nie »Pop-Typografie«101 verwendet, da diese, so Fleckhaus, nicht den funktionalen Ansprüchen des Zeitschriftenformats gerecht werden: »Eine Zeitschrift muß lesbar sein, leicht lesbar. Denn sie ist ein Konsum-Artikel, nicht ein Anguck-Artikel.«102 Konsum ist für Fleckhaus an den Prozess des Lesens gekoppelt, ein bloßes Sehen des Textes scheint dagegen nicht ausreichend. An dieser Aussage wird Fleckhaus’ Mittelstellung deutlich: Einerseits ist Konsum für ihn nicht von vorneherein negativ konnotiert. Andererseits lehnt er ebenso eine ›reine‹ – nicht mehr funktionale, das heißt einen Inhalt vermittelnde, sondern dekorative – Konsumoberfläche ab. Doch genau das wird der Pilotausgabe des von Fleckhaus gestalteten Magazins von der deutschen Leserschaft vorgeworfen, nämlich dass sie oberflächlich sei. Beispielhaft dafür sind mehrere Leserbriefe, die in der zweiten Ausgabe von twen abgedruckt wurden und die die Wirkung der neu lancierten Zeitschrift auf die deutsche Zeitschriften-Leserschaft der 1950er Jahre dokumentieren. Dort heißt es an einer Stelle, das Magazin sei »[m]ehr seicht als flach«.103 Einem weiterer twen-Leser polemisiert in eine ähnliche Richtung: »Nachdem ich mir interessehalber Ihren twen aneignete, gelang es mir nicht einmal, mir mit dieser ›duften Zentralschaffe‹ den Hintern abzuwischen, da das Papier entschieden zu glatt ist.«104 Ein anderer Leser beschimpft twen als »Reklame-, Sexual-, Halbstarken-, Snob- usw. -zeitschrift«105 , wobei neben den für die Zeit provokanten Inhalten vor allem die vielen aufwändig gestalteten Anzeigen in twen ins Visier der Kritik geraten. Die Redaktion von twen wiederum reagiert auf die Vorwürfe, die der »kostspieligen Aufmachung«106 der Zeitschrift und ihrer »reiche[n] Bestückung mit Groß-Anzeigen«107 entgegengebracht wird, mit einer Stellungnahme, in der sie ihren Kritikern entgegnen, dass

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Willy Fleckhaus: »Über den Umgang mit Fotografen und Fotografien. Ein Gespräch mit Willy Fleckhaus«, in: H.-M. Koetzle/C. M. Wolff (Hg.), Fleckhaus, S. 272–275, hier S. 274. Ebd. Sabine Brackebusch: »Mehr seicht als flach«, in: twen (1959), H. 2, S. 10. Ralf Redinger: »Entschieden zu glatt«, in: twen (1959), H. 4, S. 5. Georg Müller: »Wer den Pfennig nicht ehrt«, in: twen (1959), H. 2, S. 13. In einem weiteren Brief wird twen wiederum vorgeworfen, dass es sich bei der »Februar-twen-Hülle« um eine Kopie des Esquire-Covers vom März 1959 handele. (Fritz Goller: »schämt euch«, in: twen (1960), H. 6, S. 4). Die beiden Cover weisen durchaus eine nicht von der Hand zu weisende Ähnlichkeit auf. Dies wird von der twen-Redaktion auch nicht bestritten. Vielmehr druckt man beide Zeitschriftencover zum Abgleich in der Leserbrief-Rubrik der sechsten Ausgabe ab. twen: »In kleinen Dosen«, in: twen (1959), H. 2, S. 20. Ebd.

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man den Inhalt der Zeitschrift auch »in kleinen Dosen«108 verpacken könne, falls die Leserschaft eine solche Verpackung vorzöge. Von einem ebenso ironischen Umgang mit der twen entgegengebrachten Kritik zeugen die Anzeigen-Parodien in den frühen Ausgaben der Zeitschrift, die zum Teil erfundene Produkte bewerben und von einigen twen-Lesern durchaus wohlwollend aufgenommen werden: »Herrlich, Eure Anzeigen-parodien in jedem Heft. Sie sind so geschickt gemacht, daß ich zunächst alle Anzeigen durchkämme. Sie sind die einzige Zeitschrift, die es wagt, Anzeigenplantagen mit Wildwuchs zu durchsetzen«,109 heißt es etwa in einem Leserbrief. Twen ist somit Ausgangspunkt eines spielerischen Umgangs mit Werbeanzeigen, wie er vor allem für die von Michael Schirner und Diedrich Diederichsen geleitete Werbeagentur GGK in den 1980er Jahren programmatisch wird.110 Darüber hinaus waren beide, Fleckhaus in den 1950er Jahren und Schirner in den 1980ern, Mitglied im Art Directors Club Deutschland, wobei beide sowohl Teil der Jury waren als auch zu den Preisträgern gehörten.111 Beispielsweise wird Fleckhaus’ twen-Entwurf, so heißt es im ersten Jahrbuch des deutschen Art Directors Club von 1965, für die »beste Art Direction einer Zeitschrift«112 und »konsequente Herausbildung eines unverwechselbaren Zeitschriftengesichts«113 prämiert. Zusätzlich zu seiner Auszeichnung für die Art Direction von twen erhält Fleckhaus zudem einen Preis für die Gestaltung der edition suhrkamp, die wie alle prämierten Produkte im Jahrbuch vorgestellt werden. Besagte Doppelseite des Jahrbuchs zeigt neben der edition suhrkamp auch das – ebenso von Fleckhaus gestaltete – Schallplattencover der 31. Ausgabe der twen-Jazz-Reihe sowie ein Fluggeschirr der Deutschen Lufthansa, wobei sich die edition suhrkamp nahtlos einfügt (Abb. 18). In den Oberflächen des Designs spielen die Unterschiede zwischen Suhrkamp-Reihe, Jazz-Schallplatte und Lufthansa-Service eine eher untergeordnete Rolle.

108 Ebd. 109 Charlotte Jacobs: »Herrlich«, in: twen (1963), H. 6, S. 11. Vgl. außerdem twen (1963), H. 5, S. 11; twen (1963), H. 6, S. 7; Twen (1963), H. 7, S. 11. 110 Vgl. hierzu insbesondere Kap. 2.7 und Kap. 4.2.3 der vorliegenden Arbeit. 111 Willy Fleckhaus: »Die Jury«, in: ADC (Hg.), Art Directors Annual für Werbung und Zeitschriften (1), Düsseldorf 1965, n.p. 112 ADC (Hg.): Art Directors Annual, n.p. Vgl. zu Fleckhaus Rolle beim Art Directors Club Deutschland H.-M. Koetzle/C. M. Wolff (Hg.): Fleckhaus, S. 210–213. 113 ADC (Hg.): Art Directors Annual, n.p. Anhand der einleitenden Worte zum Band, die vor allem aus Definitionsversuchen des art directors bestehen, lässt sich wiederum beobachten, wie dieser Begriff in Deutschland Mitte der 1960er Jahre eingeführt wird. Vgl. ebd. Auch im Impressum der frühen twen Hefte heißt es zunächst: »Bildredaktion und Gestaltung: Willy Fleckhaus«. (twen: »Impressum«, in: twen (1959), H.1, S. 2). Ab 1960 heißt es dann für kurze Zeit »Chefredaktion: Willy Fleckhaus (Bild und Gestaltung)«. (twen: »Impressum«, in: twen (1960), H. 9, S. 98). Und erst ab Mitte 1963 wird Fleckhaus als Art Director von twen aufgeführt.

3. Fluchtlinien der typografischen Oberfläche

Abb. 18: edition suhrkamp im 1. Art Directors Annual für Werbung und Zeitschriften von 1965.

Fleckhaus entwirft mit der edition suhrkamp, darauf weist dieser selbst in einem Vortrag von 1973 hin, eine Art Buchplastik, in der die einzelnen Bücher bloß farbige Bausteine sind: »Ich weiß von Buchkäufern, die diese Bibliothek komplett besitzen möchten. Statt Frisch oder Beckett kauft man zwei Grüne, um die Lücke zu stopfen. Mancher kauft auch ein Meter Buch oder zwei.«114 Der literarische Text wird so zum Accessoire seiner ›Verpackung‹. Nicht zuletzt, so wiederum Fleckhaus in eben jenem Vortrag, taucht die edition suhrkamp in den 1960er Jahren vermehrt als »Dekorationsartikel in Modehaus-Katalogen«115 auf. Suhrkamp-Bücher wie Wolfgang Fritz Haugs Kritik der Warenästhetik oder Hans Magnus Enzensbergers Einzelheiten werden so zur dekorativen Oberfläche der Konsumwelt umfunktioniert, wobei der Kontrast zwischen Inhalt und Publikationskontext wohl nicht größer sein könnte.116 Nicht zuletzt ist der Warenkatalog für Enzensberger ein ausgezeichnetes Medium der sogenannten »Bewusstseins-Industrie«,117 die Enzensberger als die ihm zufolge adäquatere Bezeichnung für das vorschlägt, was Adorno und Horkheimer als ›Kulturindustrie‹ bezeichnet hatten, da der Begriff Adornos/Horkheimers suggeriere, dass sich der adressierte Zusammenhang auf die sogenannte ›Kultur‹ eingrenzen ließe. So schreibt Enzensberger 1960 eine Rezension des Neckermann-Kataloges,

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W. Fleckhaus: Arbeiten aus meiner vielseitigen Tätigkeit, S. 276. Vgl. Siegfried Unseld: »Er ließ sich eher punktuell inspirieren. Ein Gespräch mit Siegfried Unseld«, in: H.-M. Koetzle/C. M. Wolff (Hg.), Fleckhaus, S. 232–233, hier S. 233. Vgl. H.-M. Koetzle/ C. M. Wolff (Hg.): Fleckhaus, S. 167. Vgl. hierzu insbesondere Kap. 2.1 der vorliegenden Arbeit. H. M. Enzensberger: Bewußtseins-Industrie, S. 7.

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die in Die Zeit veröffentlicht wird, und mit der er eine systematische Analyse des Warenhauskataloges vorlegt: Der Bestseller dieses Herbstes ist unter Ausschluß der (literarischen) Öffentlichkeit erschienen; kein Hahn hat nach ihm gekräht, kein Rezensent hat ihn unter die Lupe genommen. Auf der Frankfurter Buchmesse sah man sich vergeblich nach ihm um. Nicht von einem Roman ist hier die Rede, sondern von einem Sach- und Handbuch, das ein eingehendes Studium verlangt. Keiner unter seinen Benutzern stellt es ungelesen in den Bücherschrank, griffbereit liegt es auf den Küchentischen. Es umfaßt knapp vierhundert Seiten in Quarto und ist üppig, beinahe ausschweifend illustriert. Dabei kostet es nur zwei Mark […].118

Abb. 19: Doppelseite aus der September-Ausgabe der twen von 1969.

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Hans M. Enzensberger: »Unsere kleinbürgerliche Hölle. Der Herbstkatalog eines deutschen Versandhauses – Eine ungewöhnliche, aber nicht unergiebige Rezension«, in: Die Zeit vom 25.11.1960 [https://www.zeit.de/1960/48/unsere-kleinbuergerlichehoelle?utm_referrer =https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F, zuletzt eingesehen am 14.10.2023].

3. Fluchtlinien der typografischen Oberfläche

Dieser heimliche Bestseller ist für Enzensberger zudem ein besonderes Beispiel für die ›Bewusstseins-Industrie‹, da sein Autor das Kapital selbst sei. Es ist nicht nur ein Buch, das zu einem Konsumgut geworden ist, insofern sein Wert an den Verkaufszahlen gemessen wird, sondern sein Inhalt selbst entspringt der Logik und den Prozessen der Konsumwelt. Insofern scheint er für Enzensberger ein Produkt der Bewusstseins-Industrie par excellence zu sein: Der Katalog des Versandhauses N. in Frankfurt ist ein Bestseller ohne Autor. Er ist anonym nicht nur, weil er eine Gruppe unbekannter Werbetexter zu seinen Verfassern hat, sondern in einem weit radikaleren Sinn. Jene Werbetexter gehorchen den Anweisungen ihres Managements. Diese Anweisungen aber gehorchen ihrerseits der Verkaufsstatistik.119 Dass die von Enzensberger zuhauf kritisierte Taschenbuchreihe des Suhrkamp Verlags nun als Dekor in Versandhauskatlogen auftaucht und gemeinsam mit Lufthansa-Fluggeschirr auf einer Buchseite abgebildet wird, scheint vor diesem Hintergrund bemerkenswert. Als Dekor innerhalb der Modehauskataloge werden die Reihen der edition suhrkamp auf ihre dekorative Oberfläche reduziert und sind selbst Teil der von Enzensberger kritisierten Bewusstseinsindustrie. Zudem zeigt sich die dekorative Funktion der edition suhrkamp noch an anderer Stelle. In einem twen Artikel von 1969, der den Einrichtungsstil der späten 1960er Jahre thematisiert, dessen »Neobarock des Pop«,120 wie es darin heißt, sich vor allem durch glänzende Oberflächen und knallige Farben auszeichnet, findet sich beispielhaft ein Wohnzimmer abgebildet. Teil des Interieurs ist sowohl eine Ausgabe der twen als auch eine Reihe der edition suhrkamp, die beide neben Glastisch, farbigem Vinyl und Chrom-Lampe als ›Pop‹-Accessoires fungieren (Abb. 19).121 Die Inszenierung des Wohnungsinnenraums erinnert dabei nicht zuletzt an Richard Hamiltons Collage von 1956 Just What Is It That Makes Today’s Home So Different and So Appealing? Die Collage des wohl bekanntesten Vertreters der britischen Pop Art zeigt ähnlich wie das Bild in twen die Einrichtung eines Wohnraums. Zudem befindet sich exponiert im Bildmittelpunkt der Collage, die im Titel nach der besonderen Anziehungskraft der neuen Einrichtungs-Gegenstände wie etwa dem Fernseher und dem Tonbandgerät fragt, ein ›Lollipop‹, auf den – so lautet zumindest eine Herleitung – das Label der Pop Art zurück geht. Eben jener ›Appeal‹, der wohl als charakteristische Eigenschaft der kulturellen Artefakte bezeichnet wird, die man seit Anfang der 1960er unter dem Label ›Pop‹ subsumiert, ist es auch der mit der Gestalt

119 Ebd. 120 Rüdiger Dilloo: »Vier Wände zehn Jahre«, in: twen (1969), H. 9, S. 78–79, hier S. 79. 121 Vgl. H.-M. Koetzle/C. M. Wolff (Hg.): Fleckhaus, S. 167. Vgl. hierzu C. Windgätter: Vom Blattwerk der Signifikanz, S. 17.

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der edition suhrkamp in Verbindung gebracht wird. So forderte der Psychoanalytiker Alexander Mitserlich nachdem Fleckhaus einen ersten farblosen Entwurf für eine gemeinsam mit Unseld bei Suhrkamp geplante Reihe zur Psychoanalyse vorgelegt hatte, ein, dass die Gestalt der Bücher so wie die der edition suhrkamp sein müsse, nämlich: »colorful, appealing – gay!«122 Die Forderung nach Farbe, Anziehungskraft und gayness scheint im Falle einer Buchreihe zur Psychoanalyse – auch wenn das Begehren auch hier eine zentrale Rolle spielt – bemerkenswert. Dass die Gestalt der edition suhrkamp, an der sich nach ihrem ersten Erscheinen alle weiteren Entwürfe Fleckhaus’ messen lassen mussten, in den 1960er Jahren ›Pop‹-Appeal hatte, lässt sich zudem einer Anekdote Siegfried Unselds über Andy Warhol entnehmen: »Eines Tages war Warhol bei mir, und ich führte ihn durch mein Haus«, auch durch die Räumlichkeiten, in denen Unseld »alle Wände der edition suhrkamp stehen« gehabt habe: »[E]r sah das, und ich habe selten so einen begeisterten Menschen gesehen. Er sagte: ›Ich nehme das sofort in mein Museum!‹ Er hatte eine kunstgewerbliche Abteilung im Museum of Modern Art in New York.«123 So wird deutlich, dass Fleckhaus, obwohl sich dieser gegen den dysfunktionalen Manierismus der ›Pop-Typografie‹ aussprach, selbst eine durchaus eigene, nämlich schlichte, funktionalistische und minimalistische Version von ›Pop-Typografie‹ hervorgebracht hat. Es handelt sich dabei um eine in sich widerstreitende Oberfläche, die sich aus schlichten, gut lesbaren Schrifttypen und geraden Linien einerseits sowie knalligen – und mitunter auch mettallglänzenden – Farben andererseits zusammensetzt. Unabhängig von der Intention des Suhrkamp Grafikers Fleckhaus wurde und wird die edition suhrkamp in popkulturellen Kontexten rezipiert und auch selbst als dem Hochkulturbetrieb enthobenes popkulturelles Artefakt konsumiert.

3.1.4 New Journalism: Buch, Magazin, Typografie Von zentraler Bedeutung für den Zusammenhang von Zeitschriften und Literatur ist zudem der auf den amerikanischen Journalisten und Schriftsteller Tom Wolfe zurückgehende New Journalism. Wolfe propagierte unter dieser Bezeichnung einen Journalismus, der auch betont subjektive Elemente zuließ, statt zu versuchen, objektiv von subjektiv erlebten Geschehnissen zu berichten. Noch einen Schritt weiter geht die Forderung Wolfes, die Differenz zwischen Fakt und Fiktion zu unterlaufen, wodurch eine Nähe der Texte des New Journalism zu literarischen Texten entsteht.124 Wolfes journalistische Schule stieß dabei nicht nur in den USA, sondern auch in

122 Zit. n. S. Unseld: Der Marienburger Korb, S. 65. 123 S. Unseld: Er ließ sich eher punktuell inspirieren, S. 233. 124 Vgl. hierzu Niels Werber: »Factual Fiction. Zur Differenzierungsgeschichte von Literatur und Journalismus aus systemtheoretischer Perspektive«, in: Bernhard Pörksen/Joan K. Bleicher (Hg.), Grenzgänger. Formen des New Journalism, Wiesbaden 2004, S. 160–192.

3. Fluchtlinien der typografischen Oberfläche

Deutschland auf Resonanz. Bereits in den 1970er Jahren lässt sich in Deutschland ein aufkeimendes Interesse am New Journalism beobachten. Allen voran ist es Jörg Gülden, der den amerikanischen Ansatz, journalistische mit literarischen Schreibweisen zusammenzubringen, in Deutschland populär macht. Güldens dahingehende Versuche finden sich vor allem in der deutschen Musikzeitschrift Sounds, für die er in den 1970er Jahren eine Zeitlang unter dem Pseudonym ›Dr. Gonzo‹ Artikel im Stile des New Journalism verfasst.125 Güldens Pseudonym verweist dabei auf eine der Hauptfiguren, nämlich ›Dr. Gonzo‹, aus Hunter S. Thompsons Roman Fear and Loathing in Las Vegas, der ursprünglich auf eine Veröffentlichung im Popmagazin Rolling Stone zurückgeht.126 Auf eben jenen nach Las Vegas reisenden Journalisten geht zudem der von Hunter S. Thompson geprägte Alternativbegriff zum New Journalism zurück, nämlich der ›Gonzo‹-Journalismus. Von der Popularität dieser neuen aus Amerika kommenden journalistischen Ansätze in Deutschland zeugt zudem ein Interview mit Hunter S. Thompson, dass sich in der zweiten Ausgabe der unter anderem von Gülden für den Rowohlt Verlag konzeptualisierten Reihe Rock Session abgedruckt findet.127 Nachdem das Interesse deutscher Popjournalisten am New Journalism Ende der 1970er Jahre zunächst abebbte und von anderen Schreibweisen abgelöst wurde,128 stand er zum Teil abermals Pate für den deutschen ›Zeitgeist‹-Journalismus der späten Achtziger, insbesondere für das ästhetische Programm Tempos.129 So finden sich sowohl Verweise auf Wolfe als auch gleich mehrere Artikel von Hunter S. Thompson in den Tempo Ausgaben der späten 1980er Jahre.130 Wolfes Roman Fegefeuer der

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Vgl. hierzu vor allem folgenden Artikel von Thomas Hecken, der einige Rezensionen von Dr. Gonzo alias Jörg Gülden analysiert. Thomas Hecken: »Punk-Rezeption in der BRD 1976/77 und ihre teilweise Auflösung 1979«, in: Martin Seeliger/Philipp Meinert (Hg.), Punk in Deutschland. Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld 2013, S. 247–260. Vgl. weiterhin Erika Thomalla: »Literarischer Journalismus. Deutschsprachiger New Journalism seit den 1970er Jahren«, in: Text+Kritik. Sonderband Literarischer Journalismus (2022), H. 6, S. 5–23, hier S. 12–13. 126 Hunter S. Thompson: Fear and Loathing in Las Vegas, New York 1972; Hunter S. Thompson: »Fear and Loathing in Las Vegas. A savage journey to the heart of the American dream«, in: Rolling Stone vom 11.11.1971 [https://www.rollingstone.com/feature/fear-and-loathing-inlas-vegas-204655/, zuletzt eingesehen am 10.10.2021]. 127 Hunter S. Thompson: »Was der gute Doktor so alles erzählt… Hunter S. Thompson über Carter, Kokain, Adrenalin und die Geburt des Gonzo-Journalismus«, in: Rock Session. Magazin der Populären Musik (1978), H. 2, S. 284–301. 128 Vgl. D. Diederichsen/E. Thomalla/C. Reiber: Ich sage schon seit geraumer Zeit nicht mehr Ich. 129 Zur New Journalism-Adaption in Tempo vgl. Bernhard Pörksen: »Die Tempojahre. Merkmale des deutschsprachigen New Journalism am Beispiel der Zeitschrift Tempo«, in: ders./J. K. Bleicher (Hg.), Grenzgänger, S. 307–336. 130 Hunter S. Thompson: »Quayle, der Bruchpilot«, in: Tempo (1988), H. 9, S. 18; Hunter S. Thompson: »Die Rache des Schwächlings«, in: Tempo (1988), H. 4, S. 34–35.

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Ronald Röttel: Verpackungen der Literatur

Eitelkeiten des »Großmeisters des New Journalism« beziehungsweise des »Pop-Reporter[s], Klatschonkel[s] und Society-bastard[s]«131 wird von Tempo als eines der besten Bücher der 1980er Jahre ausgezeichnet. Ebenfalls in Tempo zu lesen, ist ein Artikel über Thompson, der eine der zentralen Ideen des New Journalism wiederaufleben lässt, nämlich die bereits weiter oben erwähnte Absage an die vermeintliche Objektivität journalistischer Berichterstattung: Was immer sie in den orthodoxen Journalistenschulen sagen, es ist falsch. Halt’ dich raus, sagen sie. Dich gibt es nicht. Deine Gedanken, Hoffnungen, Träume, Sehnsüchte, Fehler, Versagen, Ängste, Visionen… vergiss es. Du bist lediglich ein kabelloses Mikrofon, so ’ne Art Medium. Halt dich raus. Und halt uns raus. Kein Wort über Internes. Wie wir über Geschichten reden, wenn niemand zuhört. Das geht den Leser nichts an. Journalismus ist ein wildes Geschäft, schmutzig sowieso, natürlich auch korrupt.132 Dem entgegen setzt der New Journalism voll auf Subjektivität, da jede objektive Wirklichkeit in Teilen immer subjektive Konstruktion bleibt, wodurch der Versuch objektiv zu schreiben hinfällig wird. Dass die Tempo-Autor:innen sich abermals für den New Journalism interessieren, scheint nicht zuletzt auch mit dem Profil der ›Zeitgeist‹-Zeitschrift zusammen zu hängen, die sich mehr als teilhabendes Organ der Popkultur, denn als bloßes Aufzeichnungsmedium verstand. Und dies führt zurück zum Ursprung der Wolfe’schen Idee. Denn ein weiterer Aspekt, der den New Journalism auszeichnet, gravitiert um den Publikationsort der Texte, nämlich Zeitschriften, genauer: wie diese zu einem möglichen Format der Literatur werden können. Denn Literatur zu veröffentlichen, war, so Wolfe in der Einleitung zu seiner Anthologie New Journalism, in den 1950er und 1960er Jahren dem Buchformat vorbehalten gewesen und jeder Journalist mit literarischen Ambitionen schielte stets auf eine Veröffentlichung in Buchform: The scene was strictly for novelists, people who were writing novels, and people who were paying court to The Novel. There was no room for a journalist unless he was there in the role of a would-be novelist or simple courtier of the great. There was no such thing a literary journalist working for popular magazines or newspapers. If a journalist aspired to a literary status—then he had better have a sense and the courage to quit the popular press and try to get into the big league.133

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Tempo: Die hundert besten Bücher der 80er Jahre, S. 125. Vgl. zur besonderen Bedeutung des Klatsches für das Zeitschriftenmilieu der 1980er Kap. 4.2.4 der vorliegenden Arbeit. Helge Timmerberg: »Hart, härter, Hunter«, in: Tempo (1986), H. 4, S. 38–42, hier S. 18. Thomas K. Wolfe: The New Journalism. With an Anthology edited by Tom Wolfe and E.W. Johnson, San Francisco/London 1973, S. 8.

3. Fluchtlinien der typografischen Oberfläche

Populäre Zeitschriften waren, so Wolfe, weniger dazu geeignet, literarische Qualitäten auszuweisen. Doch gerade solche, nämlich »popular (›slick‹) magazines«134 , boten Wolfe zufolge den ›Neuen Journalisten‹ zuallererst die Möglichkeit eines Experimentierfeldes zur Entwicklung neuer Schreibweisen. Außerdem eröffneten diese ›oberflächlichen‹ Zeitschriften einen neuen Raum der Literatur, nämlich den der Typografie. Die ›popular magazines‹, so Wolfe, brächen mit der zurückgenommenen buchförmigen Typografie der etablierten Zeitschriften, was sich auch auf die darin publizierten Texte auswirke. Das ›Neue‹ am New Journalism mache sich daher nicht nur in den Schreibweisen bemerkbar, sondern auch in typografischen Eigentümlichkeiten wie etwa »certain mannerisms, the lavish use of dots, dashes exclamation points, italics, and occasionally punctuation that never existed before : : : : : : : : : : and interjections […]. This was natural enough, because many of these devices stood out even before one had read a word. The Typography actually looked different.«135 Wolfes besonderer typografischer Stil lässt sich beispielsweise anhand des Titels seines Artikels There goes (VAROOM! VAROOM!) that Kandy Kolored (THPHHHHH!) tangerine-flake Streamline baby (RAHGHHHH!) around the bend (BRUMMMMMMMMMMMMMMM…….) in der November-Ausgabe des Esquires von 1963 beobachten – wobei die onomatopoetischen Einschübe im Titel in vielfach größerer Schrittgröße gesetzt wurden als die restlichen Titelworte.136 Dass Wolfe wiederum zu solchen Mitteln greifen konnte, scheint auch damit zusammenzuhängen, dass solche ›slick magazines‹ eine alternative Rezeptionsmöglichkeit zum Lesen von bedruckten Seiten in den Vordergrund stellen, nämlich das bloße Sehen, das auf die reine Rezeption der Oberflächen abzielt, gegenüber dem Lesen, dass diese Oberflächen nivelliert, um zu den Tiefen der Bedeutung zu gelangen. Wenig überraschend steuern auch Wolfes Texte mit dem zunehmenden Erfolg des Autors auf die Buchform zu. In Deutschland ist es der Rowohlt-Verlag, der die Texte von Wolfe Anfang der 1970er Jahre publiziert. Beispielsweise veröffentlicht Rowohlt die deutsche Übersetzung von Wolfes The kandy-colored Tangerine-Flake Streamline Baby, der Buchfassung jenes oben benannten Esquire-Artikels. Nur folgerichtig scheint dabei, dass Wolfes Bücher von einem ebenso großen Interesse an der typografischen Oberfläche zeugen wie seine Artikel in populären Zeitschriften. Nicht 134 135 136

Ebd., S. 25. Ebd., S. 21. Thomas K. Wolfe: »There goes (VAROOM! VAROOM!) that Kandy Kolored (THPHHHHH!) tangerine-flake Streamline baby (RAHGHHHH!) around the bend (BRUMMMMMMMMMMMMMMM……)«, in: Esquire (1963), H. 11 [https://classic.esquire.com/there-goesvaroom-varoom-that-kandy-kolored-thphhhhhh-tangerine-flake-streamline-baby/, zuletzt eingesehen am 14.10.2023].

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Ronald Röttel: Verpackungen der Literatur

zuletzt wurde die Gestaltung des Covers von Das bonbon-farbene tangerin-rot gespritzte Stromlinienbaby von der Stiftung Buchkunst zu einem der ›schönsten deutschen Bücher 68‹ gekürt.137 Das Vorwort zum Jahrbuch der Stiftung Buchkunst stammt wiederum von Hans Peter Willberg. Der deutsche Typograf betont darin zuvorderst die Offenheit der Jury für das »experimentierende Spiel«, das »unbekümmerte Drauflosdrucken« und nicht zuletzt auch das »wohlfeile Taschenbuch«.138 Das gerade letzteres kein Ausschlusskriterium für eine gelungene Buchgestaltung ist, zeugt von der Progressivität der Bewertungskriterien. Denn das ›wohlfeile Taschenbuch‹ stand in den 1960er Jahren im Verdacht ein Komplize der Kulturindustrie zu sein.139 Auch die deutsche Übersetzung von Tom Wolfes Radical Chic erscheint 1972 im Taschenbuchformat, nämlich in der von Christian Cruxin für Rowohlt entworfenen Buchreihe ›Das Neue Buch‹, worin Wolfes Texte als »Musterbeispiele[] des ›neuen Journalismus‹«140 aus »der amerikanischen Pop-Szene«141 beworben werden. Dass Wolfes Bücher auch für die Popszene der 1980er Jahre eine Rolle spielten, zeigt wiederum Diedrich Diederichsens Rezension des Buches für die Sounds von 1979. Die zeitliche Differenz zwischen dem Erscheinungsdatum der deutschen Fassung von Radical Chic und der Veröffentlichung der Rezension ergibt sich draus, dass Diederichsen das Buch aus »der Rowohlt-Reihe, ›das neue Buch‹« erst über die »Ramschkästen« »deutsche[r] Großstädte[]«142 erreicht habe. Darüber hinaus scheint noch hervorhebenswert, dass Diederichsen, dessen Artikel sich unter anderem auch mit der Mediendifferenz von langsamen Büchern und schnellen Schallplatten auseinandersetzt, Wolfes Buch beispielhaft für nicht ›behäbige‹ Bücher anführt: »Bücher sind schwerfällig. Wie kann ein unbekanntes Buch meine Aufmerksamkeit erlangen. Platten sind so schnell, Filme auch.«143

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Stiftung Buchkunst (Hg.): Die schönsten deutschen Bücher 68, Frankfurt a.M. 1968, S. 7. Vgl. zur Geschichte der Buchoberflächen von Tom Wolfes The kandy-colored Tangerine-Flake Streamline Baby G. Stanitzek: Das Stromlinienbaby, S. 75. 138 Hans P. Willberg: »Vorwort«, in: Stiftung Buchkunst (Hg.), Die schönsten deutschen Bücher 68, Frankfurt a.M. 1968, n.p. 139 Vgl. hierzu insbesondere Kap. 2.5 der vorliegenden Arbeit. 140 Thomas K. Wolfe: Radical Chic und Mau Mau bei der Wohlfahrtsbehörde, Reinbek 1972, U4. 141 Ebd. 142 D. Diederichsen: Bücher. Neues. No Fun, S. 48. 143 Ebd. Dabei vertritt Diederichsen eine Position, die sich Anfang der 1980er Jahre vermehrt lesen lässt. Beispielsweise schwingt diese Differenz auch in Peter Glasers manifest-artigem Vorwort Ein Explosé zu seiner als KiWi-Taschenbuch erschienenen Anthologie Rawums mit, wenn es darin heißt: »Das beste Buch des Jahres ›81 ist eine Schallplatte: ›Monarchie und Alltag‹ von den Fehlfarben.« (P. Glaser: Zur Lage der Detonation, S. 14–15).

3. Fluchtlinien der typografischen Oberfläche

3.2 Ein paradoxes Erbe: ›Pop‹- und Avantgardetypografien In der Oktober-Ausgabe der Spex von 1985, in welcher unter anderem auch Goetz’ Artikel Und Blut erscheint, findet sich gleich auf der zweiten Seite des Heftes, oberhalb des Inhaltsverzeichnisses ein Zitat des deutschen Expressionisten Franz Jung. In dem kurzen Ausschnitt resümiert Jung die Bedeutung der von Franz Pfemfert herausgegebenen Zeitschrift Die Aktion für die expressionistische Literatur der vorletzten Jahrhundertwende: Um Franz Pfemfert, den Herausgebern der »Aktion«, hatte sich ein Kreis von jungen Dichtern gesammelt, der mit Recht als die junge literarische Generation gewertet werden konnte. Wer überhaupt etwas auszusagen hatte, in welcher Form auch immer, in glatten oder holprigen Versen, es kam auf den Willen zur Aussage an, hatte Zugang zu der Zeitschrift; er war willkommen. Dieser zunächst auf die Jugend beschränkte Kreis schien durch nichts aneinander gebunden. Es war auch kein eigentliches Profil vorhanden, das man der literarischen Bewegung, sofern eine solche überhaupt vorhanden gewesen ist, hätte zuweisen können. All dies ist später und rückwirkend erfolgt.144 144 Franz Jung: »Der Weg nach unten«, in: Spex (1985), H. 10, S. 3. Was den Umgang mit typografischen Oberflächen anbelangt, scheint die expressionistische Zeitschrift jedoch weniger vorbildlich. Insgesamt bleibt das Layout dem 19. Jahrhundert verhaftet. Erst mit der 14. Ausgabe, im April 1921, kommt der Wechsel von der Fraktur- zur ›moderneren‹, da funktionaleren Antiqua-Type. Im Laufe der folgenden Jahrgänge finden sich dann vermehrt auch expressionistische Illustrationen auf den Covers und innerhalb der Hefte, jedoch weiterhin recht spärlich auf die Hefte verteilt. Auch reflexive Stellen, die sich zum eigenen Format oder zur Typografie äußern, sucht man vergeblich. Der Typenwechsel erfolgt kommentarlos, die vermehrt abgedruckten Illustrationen finden bloß einmal im Zusammenhang mit einer Preiserhöhung der Zeitschrift Erwähnung: »Das Einzelheft ›Aktion‹ kostet nunmehr 20 Pfg. Diese Preiserhöhung ist eingetreten, ganz unabhängig von der Tatsache, dass wir auch gute Zeichnungen reproduzieren werden.« (Die Aktion: »Mitteilung des Verlags«, in: Die Aktion. Wochenzeitschrift für Politik, Literatur und Kunst (1912), H. 14, S. 440). Vielmehr als die typografischen werden die politischen Potenziale des Formats und die Gefahren der Kulturindustrie diskutiert. So Pfemfert, in einem Artikel über die eigene Zeitschrift und die deutsche Presselandschaft insgesamt: »Wir agitieren mittels der Schnellpresse; wir nennen das kämpfen. Kämpfen wir? […] Wir überschätzen die Agitationswerte des gedruckten Wortes […]. Unsere Presse hat längst aufgehört, eine Macht zu sein. Sie ist eine Gewalt, eine Gewalttätigkeit. Wir werden ihr nichts antun, wenn wir ihr mahnend, sanft, mit Vernunftsgründen zu begegnen suchen. Hinter ihren Inseratenwällen fühlt sie sich zu sicher. Was können, was müssen wir also tun?« (Franz Pfemfert: »Die Presse«, in: Die Aktion. Wochenzeitschrift für Politik, Literatur und Kunst (1912), H. 15, S. 454). Dabei scheint die Presse als Agitationsmittel vor allem bedroht von ihrer kulturindustriellen Vereinnahmung. Die zunehmend mehr werdenden Inserate gefährden das politische Profil der Zeitschrift. Vgl. zu diesem Zusammenhang Walter Benjamins Text Der Autor als Produzent, welcher auch auf die politische Form der Aktion zu sprechen kommt. Gerade das Format der Zeitschrift birgt für Benjamin besondere ästheti-

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Da Jungs Aussage über die Bedeutung der Zeitschrift für die literarische Bewegung, die im Nachhinein als Expressionismus bezeichnet wurde, an so prominenter Stelle in der Spex zitiert wird, scheint es naheliegend, das Zitat als eine Art Selbstverständnis der Spex-Redaktion zu lesen. Auch die Kölner Zeitschrift verstand sich in den 1980er Jahren wohl als Sammelbecken noch nicht auf den Begriff gebrachter avantgarder Tendenzen, was sich zum Teil auch bestätigen wird. Denn die Spex und später Tempo sind bekanntlich Ausgangspunkt jener literarischen Stilrichtung, die in der literaturwissenschaftlichen Forschung als ›Pop‹ oder ›Popliteratur‹ bezeichnet wird.145 Auch im Falle dieser Oberbezeichnungen handelt es sich um rückwirkend konstruierte Begriffe, die eine disparate Menge von Autor:innen zusammenfassen, denen zunächst allein gemein war, dass sie in eben jenen populären Zeitschriften publizierten und in den Redaktionskreisen dieser Magazine verkehrten. Neben diesem Hinweis in der Spex finden sich zudem auch in zahlreichen weiteren Zeitschriften der 1980er Jahre Verweise auf die literarische Moderne, insbesondere die Avantgarde-Zeitschriften des Futurismus, Konstruktivismus, Suprematismus und Dadaismus, die sich ebenso wie die Pop-Zeitschriften der 1980er Jahre durch ihr besonderes Interesse an der Typografie und dem Format auszeichnen.146 In der ersten Ausgabe des von Marc Sargent herausgegebenen Münchener Fanzines Vivat findet sich etwa eine Anzeige der aus Goetz’ Debütroman Irre bestens bekannten Münchener ›Punk‹-Kneipe Damage.147 Besagte Anzeige besteht aus einer Collage, die zum Teil einen Text des deutschen Lyrikers und Typografen Kurt Schwit-

sche wie politische Potenziale. Walter Benjamin: »Der Autor als Produzent«, in: ders.: Der Autor als Produzent. Aufsätze zur Literatur, hg. von Sven Kramer, Stuttgart 2012, S. 228–249, hier S. 233–235. Vgl. zur Bedeutung von Anzeigen für das Zeitungswesen des frühen 20. Jahrhunderts das Kapitel ›Die Zunahme der Anzeigen und deren Wirkungen auf die Presse‹ in Viktor Matajas Die Reklame von 1909, Viktor Mataja: Die Reklame. Eine Untersuchung über Ankündigungswesen und Werbetätigkeit im Geschäftsleben, München/Leipzig 1926, S. 190. 145 Vgl. hierzu insbesondere die Karin Steenbocks Arbeit zur Vorgeschichte der deutschen Popliteratur am Beispiel von Tempo. K. Steenbock: Zeitgeistjournalismus. 146 Vgl. hierzu das Kapitel ›Von der Gebrauchstypografie zur Kunsttypografie der Avantgarden‹ in S. Wehde: Typographische Kultur, S. 343–461. Vgl. zur Bedeutung der Typografie für die literarische Moderne zudem Carlos Spoerhase: Linie, Fläche, Raum. Die drei Dimensionen des Buches in der Diskussion der Gegenwart und der Moderne (Valéry, Benjamin, MoholyNagy), Göttingen 2016. 147 Der allgemeinen Mode Fanzines zu veröffentlichen, folgten auch die Szene-Kneipen. So gibt etwa auch die Münchener Punk-Kneipe Damage eine »Zeitschrift für Punk«, wie sich das Fanzine selbst beschreibt, unter dem Titel Damage-de-luxe heraus. Damage-de-luxe: »Anzeige«, in: Damage-de-luxe (1979), n.p. Marc Sargent gibt zusammen mit Rainald Goetz auch die dritte Ausgabe des Münchener Fanzines Der Sprengreiter heraus. Vgl. hierzu Kap. 4.1.1 der vorliegenden Arbeit.

3. Fluchtlinien der typografischen Oberfläche

ters beinhaltet.148 Die zweite Ausgabe des Fanzines knüpft hieran an und widmet sich in Gänze einer Erneuerung des Dadaismus. So heißt es im Impressum des mit »Neo-Dada« untertitelten Hefts: »[D]ieses Magazin ist als Neuschöpfung, als Hommage an Dada, als Markstein der Wende der art pour l’art europäischen schaffens gedacht«.149 Dass der Begriff Neo-Dada in besagtem Münchener ›Punk‹-Fanzine, das sich zuallererst mit zeitgenössischer Popkultur und -musik beschäftigt, fällt, deutet zudem auf eine strukturelle Nähe zwischen der popkulturellen Stilrichtung ›Punk‹ und Dada hin, wie sie bereits Andy Warhol behauptet hatte. Das, was man heute unter Pop Art fasst, firmierte anfangs Warhol zufolge unter dem Label »NeoDada«:150 » Dada must have something to do with Pop–it’s so funny, the names are really synonyms.«151 Zudem finden sich noch zahlreiche weitere Avantgardezitate in den Pop- und ›Zeitgeist‹-Zeitschriften der 1980er Jahre und insbesondere die Typografien der Zeitschriften nehmen immer wieder auf dadaistische und konstruktivistische Typografen Bezug, welche im Folgenden eines genaueren Blicks gewürdigt werden sollen.152 Zitiert wird dabei nicht die Programmatik der Avantgarde selbst, sondern bloß ihre typografische Oberfläche. Hierbei spielen, so viel sei an dieser Stelle als theoretischer Rahmen vorrausgeschickt, die ästhetischen Strategien von popkulturellen Artefakten – womit hier sowohl die Pop Art als auch vergleichbare literarische und journalistische Programme gemeint sind – und die Avantgarde-Programme der emphatischen Moderne paradox ineinander. Während erstere auf Logiken des Anschlusses, des Zitierens setzen, setzen die Avantgarden auf den umstürzenden Neuentwurf.

3.2.1 »Coverkunst«: Peter Saville und die Futuristen In der Februar-Ausgabe der Spex von 1983 findet sich die deutsche Übersetzung eines zunächst in The Face publizierten Textes von John Savage abgedruckt, der sich mit der Bedeutung von Oberflächen im Pop beschäftigt. In einem kurzen Text des Spex-Redakteurs Wilfried Rütten, der in die Thematik des Artikels einleitet, heißt es etwa, dass »Pop« dazu tendiere »Verpackung wichtiger als Inhalt erscheinen zu las-

148 Anonymus: »Damage Anzeige«, in: Vivat. Privates Magazin für destruktiven Realismus (1979), H. 1, S. 2–3. 149 Ronnie Pattex/Marc Sargent/Ernst Auerbacher: »an die Stadt münchen«, in: Vivat. Privates Magazin für destruktiven Realismus (1980), H. 2, S. 17. 150 Andy Warhol: »What Is Pop Art? Answers from 8 Painters, Part I«, in: K. Goldsmith (Hg.), I’ll Be Your Mirror, S. 79–88, hier S. 87. 151 Ebd. 152 Vgl. B. Ganslandt: Typografische Rahmenbrüche, S. 251.

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sen«,153 so dass »Cover, Poster, Videos und Anzeigen«154 im Pop nicht bloß nützliches Beiwerk seien, sondern einen wesentlichen Stellenwert einnähmen, wenn nicht gar wichtiger seien als der eigentliche Inhalt eines Produkts. Dies macht Savage vor allem am Beispiel von Peter Saville, dem in Manchester der 1980er Jahre ansässigen Hausdesigner von Factory Records, fest: Die Gefahr ist natürlich groß, daß der Designer wichtiger als die Gruppe wird. Die Gefahr wurde mit Savilles wachsendem Einfluss immer deutlicher. Seine letzten Entwürfe für die Ultravox Cover ›Quartett‹ und ›Hymn‹ sind perfekte Beispiele für eine Cover-Kunst […]. Solche ›Errungenschaften‹ repräsentieren einen Höhepunkt der Überlegenheit von ›Style‹ gegenüber Inhalt.155 Damit scheinen alle zentralen Facetten einer Ästhetik der Oberfläche konzise zusammengefasst: Verpackung über Inhalt, Plattencover über Musik, Werbung über Beworbenes, ›Style‹ über Gehalt. Ebenso interessant wie Savages Beschreibungen des britischen Popkulturbetriebs der 1980er Jahre ist Savages Hinweis auf Savilles historische Vorbilder. Denn dieser orientiert sich in besonderem Maße an den Typografien und Typografietheorien des frühen Zwanzigsten Jahrhunderts, insbesondere den Publikationen Jan Tschicholds: Saville fing an mit dem Entwurf von Factory-Postern und -Covers. Seine offensichtliche Anlehnung an die Poster der Futuristen und an die Typographie eines Jan Tschichold paßten perfekt zum ›Maschinen‹- und ›Industrie‹-Image von Factory. Tschichold veröffentlichte bereits 1928 sein Buch ›Die neue Typographie‹, in der er eine neue beinahe klassische Einfachheit vorschlug und die viktorianischen (wilhelminischen) Ornamente verwarf.156

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Wilfried Rütten: »Einleitung zu John Savage ›Plünderer‹« (1983), H. 2, S. 29. Zur selben Diagnose kommt auch Richard Hamilton. Vgl. hierzu die Einleitung zu Kap. 2 der vorliegenden Arbeit. W. Rütten: Einleitung zu John Savage ›Plünderer‹, S. 29. John Savage: »Plünderer«, in: Spex (1983), H. 2, S. 29–31, hier S. 30. Im Original erschienen in der britischen Zeitschrift The Face: John Savage: »The Age of Plunder«, in: The Face (1982), H. 1, S. 43–49. Bezeichnend für die popinhärente Logik des Plünderns ist, dass selbst der SavilleArtikel davon nicht verschont bleibt. So beschäftigt sich ein Artikel in der Novemberausgabe der Tempo von 1989 mit eben demselben Zusammenhang: »Keine Charts ohne gesamplete Hits. Keine Hits ohne gesamplete Melodien. Aber gesamplete Plattenhüllen? Immer häufiger werden auch Cover gecovert. Als ironisches Zitat, frecher Diebstahl oder ehrfürchtige Referenz. TEMPO zeigt, wie sich die Popmusik seit 30 Jahren selbst beklaut.« Thomas Huetlin: »Der große Klau«, in: Tempo (1989), H. 11, S. 140–144. J. Savage: Plünderer, S. 30.

3. Fluchtlinien der typografischen Oberfläche

In der ursprünglichen, in The Face erschienenen Version des Savage Textes findet sich dort neben verschiedenen Pop-Schallplattenhüllen auch ein typografischer Entwurf Tschicholds für den Schweizer Pharmakonzern F. Hoffmann La Roche & Cie mit folgender Unterschrift abgedruckt: »Jan Tschicholds original booklet cover, 1965, exemplifying the cool neoclassical type and simple pragmatic layout that have become the trademark of the influential Peter Saville.«157

Abb. 20: Reprint der Titelansicht der Abb. 21: Cover der New Order 7’’ Everything’s Gone ersten Ausgabe der Dinamo Futurista Green/Procession von 1982 (18,3 x 18,3 cm). von 1933 (41 x 20 cm).

Zudem bleibt es im Falle der Cover-Entwürfe Savilles nicht bei einer bloßen Anlehnung an den typografischen Stil der Avantgarden. Zwei Entwürfe Savilles für New Order, nämlich die Coverdesigns für Movement und Processing/Everythings gone green (Abb. 21),158 gehen auf typografische Entwürfe des italienischen Futuristen Furtunato Depero zurück. Savilles Cover zu ersterem basiert auf einem Poster für die Ausstellung Futurismo Trentiono von 1932 und letzteres auf Deperos Entwurf der ersten Ausgabe der von ihm herausgegebenen futuristischen Zeitschrift Dinamo Futurista (Abb. 20).159

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J. Savage: The Age of Plunder, S. 49. Dies wird noch einmal interessant für den Cover-Entwurf von Christian Krachts Roman 1979. Vgl. hierzu Kap. 6.1 der vorliegenden Arbeit. Fortunato Depero: »Zeitschriften-Cover«, in: Dinamo Futurista (1933), H. 1. Auf der ersten Seite findet sich ein Grußwort Marinettis an Depero, auf der zweiten Seite das Manifest A B C del Futurismo in 11 Punkten. Bei Depero lässt sich ebenso ein künstlerisches Interesse am

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Ebenso beispielhaft für diesen Zusammenhang sind Savilles Entwürfe für das Typosignet der von Saville gegründeten Designagentur Grafica Industria und das Coverdesign für das Album Architecture & Morality der britischen Band Orchestral Manoeuvres in the Dark, die beide ebenfalls den Stil des Futurismus und Suprematismus zitieren. Sowohl die Qualität als auch die Quantität der Beispiele zeigt so an, dass sich die Popmusik der 1980er Jahre in programmatischer Weise an den Oberflächendesigns der (typografischen) Moderne bedient. Savage Verweis auf Jan Tschicholds Werk Die Neue Typographie von 1928 scheint zudem nicht weniger relevant, da das Werk von zentraler Bedeutung für die typografischen Innovationen des 20. Jahrhunderts ist.160 Tschichold verfolgt darin zwei Anliegen: Einerseits handelt es sich bei dem Buch um ein Kompendium der ›Neuen Typografie‹, das konkrete Anweisungen zur Gestaltung, Norm-Tabellen für Formate, Layouts sowie Vorschläge für sinnvolle Klischeeanordnungen beinhaltet. Andererseits zeugt Tschicholds Buch auch von einem kultur- bzw. medienwissenschaftlichen Interesse. Denn es geht ihm darum, die ›modernen‹ Tendenzen in der Typografie in einem größeren Zusammenhang zu verorten, in dem sowohl die abstrakte Malerei als auch die funktionalistische Architektur sowie die technische Modernisierung der Gesellschaft durch das Ingenieurswesen eine Rolle spielen. Tschicholds Verständnis von moderner Typografie folgt dabei dem für die Zeit zentralen Louis Sullivan’schen Diktum des Funktionalismus, nämlich »form follows

Format des Buchs beobachten. So gibt er etwa das sogenannte Bolted Book heraus, das so heißt, weil die Buchseiten von zwei großen Mutternschrauben zusammengehalten werden. Die Form des Buches würde so, Depero zufolge, den Futurismus repräsentieren: »ECCEZIONALE PRESENTATIONE TIPOGRAFICA FUTURISTA – EDITIONE MACCINARIA IMBOLLONATA«. Das Buch sei kein übliches Buch und auch keines über den Futurismus, sondern selbst ein futuristisches Kunstwerk: »›DEPERO FUTURISTA‹ non ha nulla a che fare con i soliti libri. – Esse rappresenta di per se stesso un oggetto artistico, un’opera d’arte tipicamente futurista.« (Fortunato Depero: Dinamo Futurista, Milano/New York/Paris/Berlin 1927.) 160 Vgl. zum Übergang von einem primär handwerklich orientierten zu einem kunsthandwerklichen, d.h. gestalterische Aspekte berücksichtigenden Typografiediskurs zu Beginn des 20. Jahrhunderts und zur Rolle Jan Tschicholds Thomas Rahn: »Druckschrift und Charakter. Die Semantik der Schrift im typographischen Fachdiskurs und in der Textinszenierung der Schriftproben«, in: Text. Kritische Beiträge (2006), H. 11, S. 1–31. 1987 wird Tschicholds Text im Berliner DIY-Verlag Brinkmann & Bose nochmals neu aufgelegt. Das Zusammentreffen von Text und Verlag ist keineswegs zufällig, denn auch für Brinkmann & Bose spielt die Typografie eine besondere Rolle. Vgl. hierzu insbesondere Michael Hagner: »Wahnsinn und Bibliophilie. Das erste Buch von Brinkmann und Bose«, in: Nach Feierabend. Züricher Jahrbuch für Wissensgeschichte (Wissen, ca. 1980) (2016), H. 11, S. 133–144. Vgl. weiterhin den Katalog zur gleichnamigen Ausstellung von Erich Brinkmann/Rike Felka/Eva Linhart/Klaus Theweleit: 30 Jahre Brinkmann + Bose: Double Intensity, Berlin 2011.

3. Fluchtlinien der typografischen Oberfläche

function«.161 Auf das Feld der Typografie übertragen, meint dies vor allem eine Abkehr vom typografischen Ornament, nämlich den Serifen der Antiqua Typen, wie es Adolf Loos in seiner 1908 erschienenen Schrift Ornament und Verbrechen propagiert,162 auf die nicht zuletzt auch die Popmusik der 1980er Bezug nimmt. So benennt sich die Ost-Berliner ›New Wave‹-Band Ornament und Verbrechen, nach dem bekannten Werk von Loos. Tschichold wiederum knüpft an Loos und Sullivans Thesen an und plädiert für einen typografischen Funktionalismus. Typografische Oberflächen müssten Tschichold zufolge aus den Funktionen des Gegenstands, d.h. des Textes, heraus entwickelt werden. Darüber hinaus bemerkt Tschichold, dass die sogenannte ›neue Typographie‹ nicht nur das Buchformat beträfe, sondern auch Zeitungen, Zeitschriften und nicht zuletzt Reklame, die man als Typograf ebenso ernst nehmen müsse: Aber ich deutete schon oben an, daß das Buch heute nicht mehr wie früher die ausschließliche Form des Gedruckten ist. Ein großer und wesentlicher Teil erscheint in Form von Zeitschriften und Zeitungen, als Reklame usw. […] Von geringfügigen Ausnahmen (die sich übrigens auf literarische Zeitschriften beschränken) abgesehen, haben die Buchkünstler also auf dem wichtigen Gebiete der Zeitschriften und Zeitungen ihre Anschauungen nicht zu verwirklichen vermocht. Das große Gebiet der Reklame schaltete für sie von vorneherein aus.163 Laut Tschichold erfordere jedes dieser Formate eine ganz eigene Typografie. Die meisten der Zeitschriften- und Zeitungs-Layouts seien aus typografischer Sicht jedoch noch stark am Buch orientiert und blieben ihrer Gestaltung nach »buchmäßige Zeitschrift[en]«.164 Tschicholds Text schließt zudem mit einem kurzen Kapitel über das ›neue Buch‹, in dem er prognostiziert, dass die durch Zeitschriften und Reklame eingeführten gestalterischen Neuerungen auf das Layout des Buches zurückwirken werden.165 So entzündet sich in Tschicholds Typografie-Handbuch ein kulturtheo161

Louis Sullivan: »The Tall Office Building Artistically Considered«, in: Leland M. Roth (Hg.), America Builds: Source Documents in Architecture and Planning, New York 1983, S. 340–346, hier S. 346. 162 Vgl. Adolf Loos: »Ornament und Verbrechen«, in: ders.: Sämtliche Schriften in zwei Bänden, hg. von Franz Glück, Wien 1962, S. 276–288, hier S. 276–278. 163 Jan Tschichold: Die Neue Typographie, Berlin 1987, S. 28. 164 Ebd., S. 26. Wie diese neue Zeitschrift auszusehen hat, lässt sich in mehreren Kapiteln zum typografischen Design von Zeitschriften, Zeitungen und Illustrierten sowie zur Gestaltung von Anzeigen in Zeitschriften nachlesen. 165 Tschichold bemerkt dies dabei drei Jahrzehnte früher als Walter Benjamin, der diesen Umstand in seiner erstmalig 1928 im Broschürenformat bei Rowohlt erschienenen Schrift Einbahnstraße kulturtheoretisch ausformulieren wird: »Die Schrift, die im gedruckten Buche ein Asyl gefunden hatte, wo sie ihr autonomes Dasein führte, wird unerbittlich von Reklamen auf die Straße hinausgezerrt und den brutalen Heteronomien des wirtschaftlichen Chaos

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retischer Diskurs, der sich über verschiedene Stationen und Zweige bis in die 1980er Jahre tradiert.

3.2.2 Typografie in Zeitschriften: Merz, El Lissitzky und Elaste Nicht nur die italienischen Futuristen und Tschichold finden Erwähnung im PopDiskurs der 1980er Jahre. Auch auf den russischen Avantgardisten El Lissitzky wird Bezug genommen, nämlich in Elaste. Das zunächst in Hannover, später in München ansässige Magazin legt ein besonderes Augenmerk auf die typografische Gestaltung der Hefte, was nicht zuletzt auch daran liegt, dass die Zeitschrift von drei Grafikdesignern herausgegen wird, und das Layout einer Ausgabe lehnt sich an die suprematistische und konstruktivistische Formkunst an. Im Editorial zur Elaste-Doppelausgabe 4/5 heißt es etwa: Elaste ist ein Kulturkontinuum: Du brauchst keine andere Zeitung neben ihr. Für Elaste gibt es keine ideologischen Tabus, deshalb benutzen wir sie alle. P.L.O., Liga, Kennedy, Lissitzky, Hammer und Sichel, Freud und Leid, in dieser Ausgabe. Mao in der folgenden. Tabus sind Mode. Ost-West: Die Feindbilder werden abgebaut. Sie sind nur noch Schmuckstücke für eine neue Ästhetik. Im Osten geht die Grafik auf.166 Durch die Verwandlung ideologischer Standpunkte in bloße Accessoires bzw. Oberflächen werden deren untereinander bestehende Differenzen kassiert und können als ›Schmuckstücke einer neuen Ästhetik‹ beliebig remontiert werden. Der Verweis auf Lissitzky geht dabei beinahe unter; in der äußeren Aufmachung des Elaste-Heftes tritt der Verweis auf den russischen Suprematisten dagegen umso deutlicher hervor.

unterstellt.« (Walter Benjamin: »Einbahnstraße«, in: ders.: Gesammelte Schriften IV, hg. von Tillman Rexroth, Frankfurt a.M. 1991, S. 83–148, hier S. 103). Die zunehmend in den Vordergrund der menschlichen Wahrnehmung tretende Oberfläche der Schrift verhindert den Blick in die Tiefen, wodurch sich die Ruhe des ›alten Lesens‹ verabschiedet und von einer neuen Art des Lesen ersetzt wird: »Und ehe der Zeitgenosse dazu kommt, ein Buch aufzuschlagen, ist über seine Augen ein so dichtes Gestöber von wandelbaren, farbigen, streitenden Lettern niedergegangen, daß die Chancen seines Eindringen in die archaische Stille des Buches gering geworden sind.« (Ebd.) Der aufwändig gestaltete typografische Paratext ›Welt‹ lenke so sehr die Aufmerksamkeit auf sich, dass ein Aufschlagen des Buchs und einfaches Lesen der Buchseiten verunmöglicht wird. Dies bewirke wiederum, dass die Schrift »immer tiefer in das graphische Bereich [sic!] ihrer neuen exzentrischen Bildlichkeit vorstößt […].« (Ebd., S. 104.) Dies zeigt sich ebenso anhand der Erstpublikation von Benjamins Buch, auf dessen Cover sich ebenfalls ein typografisches ›Gestöber von wandelbaren, farbigen, streitenden Lettern‹ abgebildet findet. 166 Elaste: »Software«, in: Elaste (1982), H. 4/5, S. 3.

3. Fluchtlinien der typografischen Oberfläche

Abb. 22: Magazinseite aus der Elaste- Abb. 23: Zeitschriften-Cover der elften Ausgabe der Ausgabe 4/5 von 1982 (38,3 x 29,6 cm). Zeitschrift Wendingen von 1921 (32.9 x 31.8 cm).

Das Layout des Heftes zitiert nämlich den typografischen Stil Lissitzkys. Die Buchstaben der Überschriften sind durchweg gespiegelt und erinnern so an die typografische Oberfläche kyrillischer Texte. Am offensichtlichsten tritt die LissitzkyReferenz jedoch im Layout der Plattenkritik des Liedermachers Heinz Rudolf Kunze zum Vorschein (Abb. 22). Sowohl die monochromen, an die Gemälde Mondrians und Malewitsch erinnernden Rechtecke, als auch das um ca. 35 Grad gedrehte Layout und der wie ein Blumenstrauß zum rechten Heftrand hin aufgefächerte Textblock zitieren den Stil des russischen Suprematisten, der auch Zeitschriftencover wie etwa das Cover der elften Ausgabe der niederländischen Zeitschrift Wendingen von 1921 gestaltete, auf prägnante Weise (vgl. Abb. 23).167 Es lohnt sich daher, sich nochmals die Zeitschriftenprojekte der Avantgarden anzuschauen, die anders als Die Aktion, weniger das Agitationspotenzial des Zeitschriftenformats interessiert als vielmehr die vom Format bereitgestellten Möglichkeiten einer rein typografischen Revolution. Beispielhaft hierfür ist etwa Kurt Schwitters Zeitschrift Merz, welche als Zentralorgan des gleichnamigen dadaistischen Kunstkonzeptes dienen sollte und in der sich nicht wenige programmatische Texte der ›Neuen Typografie‹ finden.168 So skizziert etwa Lissitzsky in der vierten Ausgabe von Merz eine Topographie der Typographie. Darin definiert er 167

Heinz R. Kunze: »Wordpower«, in: Elaste (1982), H. 4/5, S. 33; El Lissitsky: »Cover«, in: Wendingen (1921), H. 11, U1. Das Frank Lloyd Wright gewidmete Heft enthält zuvorderst Architekturfotografien und Anzeigen. 168 Vgl. zur Bedeutung der Typografie für die Avantgarden sowie zu den Zeitschriftenprojekten Lissitzkys und Schwitters’: Lothar Lang: Konstruktivismus und Buchkunst, Leipzig 1990, S. 39–76, 179–201.

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die neue Typografie in Anlehnung an den architektonischen Funktionalismus als Gegenentwurf zu einer ornamentalen Oberflächenästhetik: »Die Gestaltung des Buchraumes durch das Material des Satzes nach den Gesetzen der typografischen Mechanik muß den Druck- und Zugspannungen des Inhalts entsprechen.«169 So wie die Form des Gebäudes aus den an den Ingenieur gestellten Herausforderungen hervorgehen soll, so soll auch das Layout aus dem Inhalt, d.h. den ›Druck- und Zugspannungen des Textes‹ abgeleitet werden. In der 11. Ausgabe von Merz lässt Schwitters ebenfalls seine Thesen über Typografie folgen, in denen er zwei Bereiche der Typografie für besonders geeignet hält, die ›Neue Typografie‹ produktiv voranzutreiben, nämlich die Zeitschrift und die Reklame.170 Vor allem letztere sei deshalb wegweisend, weil sie sich nicht mehr um die Werke einzelner Künstler bemühe, sondern auf rein typografische Lösungen setze: »Heute beginnt die Reklame ihren Irrtum der Wahl von Individualisten einzusehen und bedient sich statt der Künstler für ihre Reklamezwecke der Kunst, oder deutlicher gesagt: DER TYPOGRAPHIE.«171 Bezeichnenderweise besteht der gesamte Inhalt des Heftes aus Reklame, genauer »Typo-Reklame«,172 wie es auf dem Cover des Heftes heißt, die Schreibutensilien der Marke Pelikan, nämlich Tusche, Schreibband und Radierer bewirbt.173 Dabei fällt auf, dass sich Lissitzky und Schwitters dieses Interesse an Reklame und Anzeigen mit den Popmusik- und ›Zeitgeist‹-Zeitschriften der 1980er Jahre teilen. Dies scheint damit zusammenzuhängen, dass die typografische Oberflächengestaltung den funktionalen Kontext des Textes (Literatur, Journalismus, Werbung usw.) zunächst außer Acht lassen kann, da sich diese Textformen in der Oberfläche nicht unterscheiden.174

169 El Lissitzky: »Topographie der Typographie«, in: Merz (1923), H. 4, S. 47. 170 Vgl. hierzu das Kapitel ›Zeitungs- und Werbetypographie als Modelle dadaistischer Textgestaltung‹ in: S. Wehde: Typographische Kultur, S. 191–199. 171 Kurt Schwitters: »Thesen über Typographie«, in: Merz (1924), H. 11, S. 91. 172 Kurt Schwitters: »Cover (Untertitel)«, in: Merz (1924), H. 11. 173 Um 1900 bestand eine Werbestrategie der Marke Pelikan darin, verschiedene Künstler:innen für ihr Produktdesign und ihre Werbung zu engagieren, vgl. Eugen Leitherer/Hans Wichmann: Reiz und Hülle. Gestaltete Warenverpackungen des 19. und 20. Jahrhunderts, Basel 1987, S. 258–261 174 Vgl. zur Bedeutung von Anzeigen für die äußerliche Aufmachung von Zeitschriften um 1900 das von Paul Ruben herausgegebene Sammelwerk Die Reklame: »Eines der besten und beliebtesten Mittel ist das Inserat; ich glaube wohl annehmen zu können, daß gerade in Deutschland diese Reklameart mit an erster Stelle steht, und die Reklameverbraucher dürfen sich schmeicheln, daß sie einen großen Anteil haben an dem inneren Wert und der äußeren Gestaltung unserer Zeitschriften und Zeitungen. Nicht die Abonnenten, sondern die Reklameverbraucher geben dem Verleger die Möglichkeit, sein Organ zu verbessern.

3. Fluchtlinien der typografischen Oberfläche

Wer die Reklame als unerwünschten Auswuchs bekämpft, dem möge man diese Tatsache entgegenhalten, und er wird zugeben müssen, daß ohne Inserate der Inhalt unserer Blätter und die Ausstattung, Papier und Druck versagen würden.« (Paul Ruben: »Drucksachen in Schriftsatz«, in: Paul Ruben (Hg.), Die Reklame. Ihre Kunst und Wissenschaft, Berlin 1913, S. 231–251, hier S. 227). Im zweiten Band von Rubens Die Reklame findet sich darüber hinaus ein Text, der sich mit der reinen Materialität der Reklame auseinandersetzt, und gerade die Haptik des Papiers ins Zentrum ihrer Wirksamkeit rückt: »Nicht der Text, nicht die Drucktype, auch nicht die Form einer Drucksache reizen zum näheren Betrachten, sondern das Material, das als Grundlage dient: Das Papier. Die Aufmachung ist schön, sagen wir und erweisen damit unbewußt in den meisten Fällen dem verwendeten Papiermaterial unsere Referenz. Es ist merkwürdig, daß dem Papier noch fast gar keine Aufmerksamkeit gewidmet wurde, es für die besonderen Zwecke der Reklame auszustatten.« (Karl Günther: »Papier und Reklame«, in: Paul Ruben (Hg.), Die Reklame. Ihre Kunst und Wissenschaft, Berlin 1914, S. 299–304, hier S. 300–301).

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4. Typografische Oberflächenästhetik: ›Pop‹ und Zeitschriften

Im Dezember-Heft der Spex von 1985 findet sich ein Leserbrief, der in einem fingierten Dialog mit Rainald Goetz die bestehende Konkurrenz zwischen den beiden Zeitschriften Spex und Elaste in polemischer Weise auf das bloße Format reduziert: »Oh! Das hätte ich beinahe vergessen. SPEX, also IHR, also SIE, WER? Hat habt hattet werdet haben ELASTE eingeholt. ENDGÜLTIG. Ihr seid genauso groß. Ihr seid LÄNGER. ELASTE ist BREITER. Oh!«1 An Spex wird der größere Seitenumfang, an Elaste das breitere Format hervorgehoben. Anhand dieses Leserbriefs wird dabei deutlich, welche besondere Bedeutung das Format und die materielle Oberfläche für die Zeitschriften der frühen 1980er Jahre einnehmen. Gerade weil sich diese nicht nur anhand der Zeitschriftengestaltungen zeigt und in den Editorials der Redaktionen nachlesen lässt, sondern auch in der durch Leserbriefe dokumentierten Rezeption der Zeitschriften sichtbar wird, bestätigt sich die Relevanz von Format und Layout für den popkulturellen Diskurs der 1980er Jahre umso mehr. Ausgangspunkt dieses Interesses an typografischen Oberflächen sind die ›Punk‹-Fanzines der späten 1970er Jahre. Hollow Skai, unter anderem Herausgeber des Fanzines No Fun, beschreibt in einem 1980 in der Hamburger Zeitschrift Sounds erschienenen Artikel, wie die neuen typografischen Stilelemente, in denen sich die subversive Haltung der Hefte ausdrückte, schnell auch von den größeren Zeitschriften der Musikpresse wie auch der Werbung aufgriffen wurden: Unsere xerokopierten, mittels Matrize vervielfältigten und z.T. handgeschriebenen, häufig mit Heftklammern zusammengehaltenen Fanzines entwickelten weiterhin grafische Ideen, die schon bald auch von SOUNDS imitiert wurden. […] Das Verfahren der Montage aus Fotos und Schlagzeilen bzw. der aus Buchstaben

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Wobei der Text zum Teil an Goetz’ polemischen und parataktischen Schreibstil erinnert, was den Verdacht erlaubt, dass der Text auf eben jenen zurückgeht oder dass dieser auf die ein oder andere Art in die Produktion des Textes involviert war. Basil Blu: »Heute war Rainald Goetz bei mir. Er meinte, Spex sei beschissen. Jack Kerouac war auch da«, in: Spex (1984), H. 12, S. 52.

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Ronald Röttel: Verpackungen der Literatur

der Tagespresse zusammengesetzten Wortcollagen nach Art von Erpresserbriefen setze sich durch und wurde schon bald sowohl von der Musikpresse als auch von der Werbung verwendet.2 Die typografische Innovation der Fanzine-Layouts schreibt sich dabei in den Layouts von Popmusik- und ›Zeitgeist‹-Zeitschriften wie Spex und Elaste fort, bis sie Ende der 1980er Jahre wieder weniger experimentellen Zeitschriften-Oberflächen weichen muss. Beispielhaft hierfür sind die deutsche Ausgabe der Zeitschrift Wiener und die späteren Ausgaben der Tempo. Diese Entwicklung, die von den Fanzine-Herausgeber:innen entworfenen Designs angestoßen wurde, soll im Folgenden nachgezeichnet werden. Der Layoutstil wird zunächst von Zeitschriften mit größerer Auflage appropriiert und um aufwändigere Formate ergänzt, kann sich dort jedoch nicht durchsetzen, da diese Layouts und Formate zu teuer in der Produktion waren, um im Zeitschriftengeschäft lukrativ zu sein.

4.1 ›Punk‹-Fanzines: Dilettantische Layouts In einer der frühsten im deutschsprachigen Raum veröffentlichten kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen ›Punk‹ von 1978 vermerkt Rolf Lindner, dass sich »[u]m den Punk herum […] Ansätze eines alternativen Informations- und Distributionsnetzes mit eigenen Zeitschriften (›fanzines‹)«3 bildete. Diese »von den Punk-Fans entwickelte Alternativ-Presse«,4 die Lindner wiederum

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Hollow Skai: »SOUNDS – (K)ein Fanzine. Spontaneität, Ungebundenheit, Freiräume«, in: Sounds (1980), H. 6, S. 46, 48, hier S. 46. Der Text erscheint in der 1979 von Diedrich Diederichsen eingeführten Rubrik ›SOUNDS Diskurs‹, die einen Versuch darstellt, Popkultur und Theorie zusammenzubringen, vgl. R. Röttel: Sounds Diskurs. Rolf Lindner: »›Punk rules, o.k.!‹«, in: Ästhetik und Kommunikation: Rock (1978), H. 31, S. 56–63, hier S. 61. Wobei der Name ›Fanzine‹ streng genommen missverständlich ist, da es sich bei Fanzines vor dem Aufkommen der ›Punk‹-Fanzines, wie Lindner bemerkt, um »Zeitschriften im ›Pop‹- und ›Bravo‹-Stil« handelte, »die ausschließlich einem Star oder einer Stargruppe gewidmet sind.« Diese Fanzines waren zudem eine Art »Promotions/Werbemethode der Plattengesellschaften«: »Auf diesem Hintergrund erscheint der Begriff ›Punk fanzine‹ als zumindest irreführend, wenn nicht falsch, war doch eine der ursprünglichen Absichten der Punk Fanzine-Hersteller, das Monopol der Musikpresse zu durchbrechen und eigene Formen der Kommunikation, bei der jeder mitmachen kann, zu finden.« (Rolf Lindner: »Was sind Fanzines?«, in: Rolf Lindner (Hg.), Punk Rock. Oder: Der Vermarktete Aufruhr, Frankfurt 1977, S. 76–79, hier S. 76). R. Lindner: Punk rules, o.k.!, S. 62.

4. Typografische Oberflächenästhetik: ›Pop‹ und Zeitschriften

in der Tradition der Alternativpresse der 1960er Jahre verortet,5 beständen zuvorderst aus »(hand- und schreibmaschienengeschriebene[n], xerokopierte[n] oder über Matrize vervielfältigte[n] Blätter[n] […]).«6 Weiterhin wird für die FanzineLayouts auf verschiedene ›DIY‹-Mittel wie etwa Schere, Klebstoff, Filzstift, Tesafilm, Fixogum zurückgegriffen.7 Fanzines zeichnen sich dabei durch absichtlich dilettantische Layouts aus, um sich bewusst von den »langweilige[n] Layout[s]«8 der etablierten Zeitschriften abgrenzen, wie es beispielsweise in einem Interview mit den einschlägigen Fanzine-Machern in Deutschland heißt, das 1980 in der vierten Ausgabe der Rock Session erscheint. Weiterhin heißt es dort: »In Sprache und Aufmachung unterscheiden sie sich erheblich von etablierten Zeitschriften. […] Aufmachung und Layout sind bei vielen Fanzines schön chaotisch und stehen im krassen Gegensatz zum herkömmlichen Bild.«9 Der Dilettantismus ist im Falle der Fanzine-Produktion programmatisch und geht einher mit dem ›Do-It-Yourself‹Credo der ›Punk‹-Ästhetik. Denn die Autor:innen einzelner Artikel, wie es dort

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H. Hartwig: KOMPOST und Kritik, S. 69. Vgl. weiterhin Schwanhäußer, die insbesondere den Merve-Band Geniale Dilletanten in der Tradition der Alternativpresse der 1960er und 1970er Jahre verortet: A. Schwanhäußer: Stilrevolte Underground, S. 82–83. R. Lindner: Punk rules, o.k.!, S. 62. Linder bemerkt zudem, dass die von der ›Punk‹-Kultur herausgebildete Ästhetik der etablierten Musik-Presse bloß zuarbeiten würde, indem sie neue Konsumoberflächen schaffe, die wiederum vermarktet werden könnten. Vgl. Uwe Husslein: »Fanzines – ein popkultureller Marktfaktor?«, in: Uwe Husslein/Ralf Bornowski (Hg.), Fanzines – …they are like wild, exotic mushrooms…: Reader und Index zu deutschsprachigen Fanzines, Wuppertal 1996, S. 12–15, hier S. 13. Husslein zeigt sich darüber hinaus ebenso interessiert an den typografischen Oberflächen pop-naher Buchpublikationen: Uwe Husslein: You can’t judge a book by looking at the cover: Bibliographie deutschsprachiger Rock- und Popbücher, Augsburg 1996. Vgl. insbesondere auch zum typografischen Design von ›Punk‹-Fanzines, -Flyern und Schallplattencovers, Alex Ogg/Russel Bestley: Design und Punk. Posters + Flyers + Fanzines + Album Covers, Höfen 2012. Vgl. zu Fanzines im allgemeinen R. Hinz: Cultural Studies und Pop, S. 143–155; Thomas Lau: Die heiligen Narren. Punk 1976–1986, Berlin/New York 1992, S. 101–103; Marion Heck/Uwe Husslein: »Roots of Fan(zine)dom«, in: Ralf Bornowski/Uwe Husslein (Hg.), Fanzines – …they are like wild, exotic mushrooms…: Reader und Index zu deutschsprachigen Fanzines, Wuppertal 1996, S. 7–11; Uwe Husslein (Hg.): Fandom Research. Reader und Index zur Fanzine-Szene. Fanzine-Index 1998, Mainz 1989; Uwe Husslein/Lothar Surey (Hg.): Zines! – Fandom Research 2001, Reader und Index zur Fanzine-Szene, Mainz 2001; Jens Neumann (Hg.): Fanzines – Wissenschaftliche Betrachtungen zum Thema, Mainz 1997; Martin Büsser: »Musikmagazine und Fanzines in Deutschland«, in: Testcard. Beiträge zur Musikgeschichte (1996), H. 2, S. 175–189; Jens Neumann (Hg.): Fanzines 2. Noch wissenschaftlichere Betrachtungen zum Medium der Subkulturen, Mainz 1999. Nick Mansur: »Fanzines«, in: Rock Session. Magazin der Populären Musik (1980), H. 4, S. 198–218, hier S. 198. Ebd., S. 198–199.

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weiter heißt, seien oftmals nicht nur für ihre Texte verantwortlich, sondern würden diese auch »auch selber layouten.«10 Ausgangspunkt dieses programmatisch gewordenen Dilettantismus – der explizit an Goethes Überlegungen zum Dilettantismus anschließt – ist das am 4. September 1981 in Hamburg stattfindende Festival Genialer Dilletanten, bei dem unter anderem Thomas Meineckes F.S.K.11 sowie Wolfgang Müller, der Herausgeber des Merve Bandes Geniale Dilletanten, mit der Band Die tödliche Doris auftreten. Bereits an der inkorrekten Orthografie des Titels wird das ästhetische Programm der genialen Dilettanten ablesbar. Auch im Kontext von ›Punk‹-Fanzines sind inkorrekte orthografische Schreibweisen programmatisch und entsprechen der positiven Umdeutung des Dilettantismus. Orthografische Fehler, wie sie sich vor allem in den Kapiteln zu ›Punk‹-Typografien häufen, werden daher explizit nicht mit einem [sic!] versehen, da es sich nicht um Fehler im eigentlichen Sinne handelt, sondern um Stilmittel.12 In besagtem, gleichnamigen Merve-Band wird dies sowohl auf der typografischen Oberfläche des Buchcovers durch eine inkorrekte Verteilung der Spatien zwischen den darauf abgedruckten Autor:innennamen zur Darstellung gebracht als auch inhaltlich verhandelt: »In der Ankündigung der ›großen Untergangsshow‹, dem ›Festival der genialen Dilletanten‹ fällt dem Kulturprofi die eigenartige Schreibweise des Wortes ›Dilettant‹ auf.«13 Dabei verkenne der Kulturprofi, dass »die ›Falsch‹-Schreibung des Wortes«14 programmatischen Charakter habe: »Das Ver-spielen ,das Ver-schreiben als positiver Wert, als Möglichkeit zu neuen ,noch unbekannten Ausdrucksformen zu gelangen, soll möglichst universell angedeutet werden.«15 An der Form des Zitats wird zudem deutlich, dass dies auch die Interpunktion miteinschließt. Hinzu kommt, dass die besondere Schreibweise nicht aus einer konzeptuellen Überlegung heraus entstand, sondern selbst schon auf einem naiven Rechtschreibfehler beruhte: Auf den Ankündigungsflyern schleicht sich ein häufig vorkommender Rechtschreibfehler in das Wort ›Dilettant‹ ein. Abweichend vom Duden wird er zum ›Dilletanten‹. Die Flyer sind bereits gedruckt, niemand bemerkt den Recht-

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Ebd., S. 200. Jürgen Teipel: Verschwende deine Jugend. Ein Doku-Roman über den deutschen Punk und New-Wave, Frankfurt a.M. 2001, S. 273. Vgl. Wolfgang Müller (Hg.): Geniale Dilletanten, Berlin 1982. Vgl. auch den Band zur Münchener Ausstellung Geniale Dilletanten Leonhard Emmerling/Mathilde Weh: Geniale Dilletanten. Subkultur der 1980er Jahre in Deutschland, Ostfildern 2015. Wolfgang Müller: »Die wahren Dilletanten«, in: ders. (Hg.), Geniale Dilletanten, S. 9–20, hier S. 9. Ebd., S. 10. Ebd.

4. Typografische Oberflächenästhetik: ›Pop‹ und Zeitschriften

schreibfehler, der nun zum Druckfehler geworden ist. Erst Tage später fällt er auf und wird begrüßt.16 Der Rechtschreibfehler verstetigt sich zum Druckfehler und avanciert erst dann zum ästhetischen Programm. So diktiert nicht das Konzept, sondern ein Fehler, der sich in den Prozess der technischen Vervielfältigung einschleicht und so in der typografischen Oberfläche manifestiert. Die Entstehungsgeschichte des Konzepts reflektiert und löst so das Paradox auf, das mit dieser programmatischen Form des Dilettantismus einhergeht, nämlich das dieser letztlich vorwiegend bewusste und keine naiven Fehler produziert.

4.1.1 »Das Heft im Heft«: Goetz’ Der Sprengreiter Auch Rainald Goetz ist seinen Ausführungen in Irre zufolge Ende der 1970er Jahre für kurze Zeit in München an der Produktion eines Fanzines namens Auswurf beteiligt: AUSWURF hatte das Fanzine geheißen, daß wir in diesem Sommer gemacht haben, so wie alle in diesem Sommer irgendein Fanzine gemacht haben. Das beste Fanzine hat ein Pickliger junger Mann bei den sonntäglichen FreiluftKonzerten im Theatron mit gehemmt linkischen Bewegungen verkauft. […] Dann habe ich meinen AuswurfAufsatz so genannt: Softies, Gorleben, und die untertänigste Bitte um noch mehr Staat. Lederbejackt, sonnenbebrillt und frischverletzt blutend bin ich mit den weniger aufdringlich verkleideten Freunden abends durch die einschlägigen Lokale gezogen und habe gerufen: AUSWURF 2 MARK!17 Mit dem pickligen Jungen ist, wie aus einer anderen Stelle aus Irre hervorgeht, die Münchner Szenegröße Lorenz Lorenz, mit bürgerlichem Namen Lorenz Schröter, gemeint, mit besagtem Fanzine wiederum dessen Die Einsamkeit des Amokläufers: »Lorenz Lorenz, so wie ein Jahr vorher, in dem Jahr, wo wir alle diese Fanzines gemacht haben, über seine Einsamkeit des Amokläufers, das linkischste und pickeligste Fanzine Münchens. Sakrament!, habe ich den damals um seine Frechheit beneidet.« 18 (vgl. Abb. 24) Neben seiner Mitarbeit an Auswurf gibt Goetz noch ein weiteres Heft heraus, das in der Fluchtlinie der Fanzines und ihrer Ästhetik verortet werden kann. Goetz gestaltet nämlich eine Ausgabe des von Marc Sargent lancierten Münchener Zeitschriftenprojekts Der Sprengreiter, das auf dem Konzept beruhte, dass die einzelnen Hefte der Zeitschrift jeweils von wechselnden Herausgeber:innen

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W. Müller: Subkultur Berlin, S. 220. R. Goetz: Irre, S. 239. Das Fanzine ist nicht mehr aufzufinden. Ebd., S. 319. Lorenz Lorenz: »Wichtiger Hinweis«, in: Die Einsamkeit des Amokläufers (1978), H. 1, n.p. Insgesamt erscheinen von 1978–1982 sechs Ausgaben des Münchener Fanzines.

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herausgegeben und gestaltet wurden (Abb. 25).19 Die erste Ausgabe wird etwa von Thomas Meinecke, die vierte Ausgabe von Michaela Melián, die fünfte und sechste Ausgabe von Justin Hoffman (ebenfalls Mitglied der Band F.S.K.) herausgegeben.20 Besagtes Heft erscheint zudem, verpackt von einer weiteren Zeitschrift, der Nullnummer des ebenso aus München stammenden Magazins Grüße & Anzeigen.21 Diese Kaskade von Zeitschriften und Herausgeber:innen, lässt erahnen, dass es sich hierbei nicht um eine pragmatische Publikationslösung handelt, sondern um ein ästhetisches Konzept, das auf Rekursionen beruht. Dass »[d]as Heft im Heft«,22 wie es auf dem Cover von Grüße & Anzeigen heißt, dabei mit Der Attentäter einen Text von Goetz beinhaltet, der bereits kurz zuvor in Merkur veröffentlicht wurde, deutet zusätzlich darauf hin, dass es im Falle dieser Publikation weniger um den Text als vielmehr um die Verpackung, d.h. die Zeitschrift geht, die sich mehr als konzeptuelles Kunstwerk, denn als neutrales Publikationsmedium geriert. Bereits der Titel Grüße & Anzeigen verweist in ironischer Weise auf eine Ästhetik des Peripheren, des Paratextuellen, der Oberfläche.23 Hinzu kommt, dass dem Text ein Dossier aus verschiedensten ausgeschnittenen Zeitungs- und Zeitschriftenschnipseln beigefügt wurde, das sich in der Erst-Publikation in Merkur Anfang 1985 nicht findet.24 Solche ›Dossiers‹ finden sich vermehrt in Goetz frühen Publikationen als Beigaben zu den Fließtexten – etwa auch in Das

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Rainald Goetz: »Cover«, in: Der Sprengreiter: Kriegszeitschrift, hg. v. Rainald Goetz, H. 7, als Teil von Grüße & Anzeigen (1985), H. 0, n.p. Der Sprengreiter: Kriegszeitschrift, hg. v. Thomas Meinecke (1984), H. 1; Der Sprengreiter: Kriegszeitschrift, hg. v. Gottfried Eisert (1984), H. 2; Der Sprengreiter: Kriegszeitschrift, hg. v. W. Krueger (1984), H. 3; Der Sprengreiter: Kriegszeitschrift, hg. v. Michaela Melián (1984), H. 4; Der Sprengreiter: Kriegszeitschrift, hg. v. Justin Hoffmann (1984), H. 5; Der Sprengreiter: Kriegszeitschrift, hg. v. Justin Hoffmann (1984), H. 6. So heißt es etwa in einer Rezension des Heftes in der Spex: »In der Mitte transportiert die Zeitschrift huckepack die Siebte Nummer des ›Sprengreiters‹, eine schon lange empfehlenswerte Zeitschrift, die jeweils von anderen wechselnden Persönlichkeiten gestaltet wird und diesmal Rainald Goetz’ ›Der Attentäter‹ plus Collagen-Beigaben enthält, ein Text, der bis jetzt nur ein paar ›Merkur‹-Esoterikern bekannt ist.« (Spex: »Neue Zeitschriften«, in: Spex (1986), H. 2, S. 44). Grüße & Anzeigen: »Cover«, in: Grüße & Anzeigen (1985), H. 0, U1. Vgl. hierzu vor allem das Kap. 4.2.3 der vorliegenden Arbeit. Der Redaktionsschluss für besagte Merkur-Ausgabe ist jedoch bereits Oktober 1984. Es überrascht nicht, dass die von Karl-Heinz Bohrer herausgegebene Kulturzeitschrift ›für europäisches Denken‹ der typografischen Oberflächengestaltung ihres Periodikums weit weniger Aufmerksamkeit widmet. Dieses scheint vielmehr, wie für wissenschaftliche Zeitschriften üblich, betont schlicht gelayoutet und insgesamt rein auf Funktionalität hin ausgerichtet. Rainald Goetz: »Der Attentäter«, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für Europäisches Denken (1982), H. 2, S. 506–521. Der Text erscheint noch ein drittes und viertes Mal in Goetz’ Büchern Hirn und Kronos.

4. Typografische Oberflächenästhetik: ›Pop‹ und Zeitschriften

Polizeirevier und Wir Kontrolle Welt, die in den von Micheal Rutschky herausgegebenen Jahresberichten 1982 und 1983 erscheinen.25

Abb. 24: Zeitschriften-Cover der dritten Ausgabe von Die Einsamkeit des Amokläufers von 1978.

Doch im Unterschied zu den Dossiers, die diesen beiden Texte beigefügt wurden, hat das Dossier in Der Sprengreiter einen Titel, nämlich Der Alkoholiker A.O.,26

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Rainald Goetz: »Das Polizeirevier«, in: Michael Rutschky (Hg.), 1982. Ein Jahresbericht, Frankfurt a.M. 1983, S. 211–264; Rainald Goetz: »Wir Kontrolle Welt«, in: Michael Rutschky (Hg.), 1983 Tag für Tag. Der Jahresbericht, Frankfurt a.M. 1984, S. 68–107. Gerade letzteres kommt dem Dossier in Grüße & Anzeigen der Form nach sehr nahe. Es finden sich Bildstrecken vom Autor sowie sich teils überlagernde Schnipsel aus Überschriften und einzelnen Titeln oder Worten. Hinzu kommen die von Goetz auf der Schreibmaschine getippten Texte sowie zwei Stempel, nämlich [Kontrolliert] und [Sachlich und rechnerisch richtig]. Ersterer findet sich auch im Goetz’schen Dossier in Grüße & Anzeigen. Außerdem finden sich im Dossier zu Wir Kontrolle Welt Schnipsel der The Face-Autorin Julie Burchill und Diedrich Diederichsens Spex-Kolumne Krieg und Frieden, ebd., S. 99. Beide Texte erscheinen nochmals in Kronos Rainald Goetz: »Das Polizeirevier«, in: ders.: Kronos. Berichte, Frankfurt a.M. 2003, S. 11–70; Rainald Goetz: »Wir Kontrolle Welt«, in: ders.: Kronos. Berichte, Frankfurt a.M. 2003, S. 71–121. Es wäre zu vermuten, dass die Initialen ›A.O.‹ im Titel des Heftes für Albert Oehlen stehen, da dieser auch darin Erwähnung findet, Rainald Goetz: Hirn, Frankfurt a.M. 1986, S. 161.

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und teilt sich in elf monatliche Ausgaben auf: »I. Januar 1984«, »II. Februar 1984«, »III. März 1984«, »IV. April 1984«, »V. 24. Mai 1984«, »VI. Juni 1984«, »VII. Juli 1984«, »VIII. August 1984«, »IX. September 1984«, »X. Oktober 1984« und »XI. November 1984«.27 Zudem erinnert die typografische Oberfläche des Goetz’schen Dossiers, das sich aus Zeitschriftenschnipseln, eigenen Fotografien sowie handschriftlichen und auf einer Schreibmaschine angefertigten Ergänzungen zusammen setzt, an den typografischen Stil von ›Punk‹-Fanzines. Ein weiteres Layout-Element, das an die ›Fanzine‹-Layouts erinnert, ist ein Stempel, dessen Lettern das Wort »KONTROLLIERT«28 ausbilden. Mit diesem ist jede Seite der Zeitschrift versehen. Besonders bemerkenswert ist dabei im Kontext der vorliegenden Arbeit, dass der Titel von Goetz’ zweitem Roman Kontrolliert wohl auf eben jenen bürokratischen Stempel zurückgeht, wodurch sich eine direkte Verbindung zwischen Goetz’ fanzineartigen Dossiers und seinen Romanen ergibt. Dazu passt auch, dass das RAF-Symbol auf dem ersten Blatt der Bildbeigaben auf Kontrolliert vorausweist. Dieses befindet sich nämlich ebenfalls in Kombination mit einer Portraitaufnahme von Goetz auf dem Buchumschlags-Cover der Erstausgabe des Romans. In besagtem Dossier nimmt Goetz zum Teil auch Bezug auf andere Popmagazine. Es findet sich etwa ein Cover der britischen, großformatigen und besonders aufwändig gestalteten ›Lifestyle‹-Zeitschrift Blitz. Ein anderes Foto zeigt Goetz, wie er in einer Wiener-Ausgabe blättert.29 Außerdem findet sich darin ein mit der Schreibmaschine beschriebenes Blatt, versteckt im typografischen Chaos der ›Cut up‹-Collage, in dem Goetz seine Zeit bei der Spex resümiert, wobei er ebenfalls auf die beiden Titel seiner Buchveröffentlichungen Krieg und Hirn Bezug nimmt: 1984/Jahr des Todes,/also Jahr des Lichts,/danke ich Spex, der Redaktion und dem verborgenen Leser, alles, meinen Heiligen Krieg zur Vernichtung des Schlechten und Verbesserung des Guten, also all mein Hirn, also alle meine Lust. Aus der MUSIK, in die Kritik der Musik, in die Philosophie, in die Kritik der Metaphysik, Kant, in die Kritik der Metaphysikkritik, Heidegger, in die materiale positive Wissenschaft, in die PHYSIK, in die Atomphysik, Heisenberg, in die Astrophysik, in die Physikkritik, in die angewandte Mathematik, führte mich so auf notwendigem Weg mein Schreiben für die Spex an die neue Aufgabe heran, meine Arbeit an der WELTFORMEL. Hawking und Ich. […]/All mein Sinnen: Ich nur ich/Mein ganzes Trachten: Arbeit/All mein Streben: Welt30

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Dieses und die vorhergegangen Zitate aus R. Goetz: »Der Attentäter«, n.p. R. Goetz: Hirn, S. 151. Vgl. ebd., S. 163. Ebd., S. 171.

4. Typografische Oberflächenästhetik: ›Pop‹ und Zeitschriften

Abb. 25: Zeitschriften-Cover der von Rainald Goetz kuratierten Ausgabe von Der Sprengreiter von 1985.

Trotz aller darin enthaltenen Polemik – wie etwa der Engführung von Popmusikkritik und Kants kritischer Transzendentalphilosophie – wird anhand dieses Zitats dennoch deutlich, welche Rolle der Publikationskontext Spex für Goetz’ frühe Textproduktion spielt. Die zunächst in Spex publizierten Texte lassen sich insofern auch nach ihrer buchförmigen Publikation bei Suhrkamp nicht gänzlich aus ihrem ursprünglichen Publikationszusammenhang herauslösen. Vielmehr scheint den Texten nach wie vor die Signatur ihres ursprünglichen Publikationsformats anzuhängen.

4.1.2 Oberflächen recycling: Krachts Yellow Eddie, Mode & Verzweiflung/F.S.K. Eine der ersten Veröffentlichungen Christian Krachts, die Kurzgeschichte Yellow Eddie, erscheint 1983 in der Juni/Juli-Ausgabe des von Hans Nieswandt zusammen mit

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Alfred Knödler herausgegebenen Fanzines Guten Morgen. Journal für Kunst und Zuversicht. Dies geschah mehr oder minder durch einen Zufall, da beide in den frühen 1980er Jahren, so Nieswandt, in der Bodenseeregion zu Schule gegangen seien.31 Der Text von Kracht stellt dabei eine Ausnahme dar, da es sich um einen externen Beitrag handelt. Größtenteils wurden die Texte von den beiden Herausgebern selbst geschrieben, da diese das Heft, so Nieswandt, vor allem dazu nutzten, ihre »privaten Obsessionen aus[zu]leb[en].«32 Pate gestanden habe dabei unter anderem »das spezielle Kolumnen-Wesen, das seinerzeit in der Hamburger Zeitschrift Sounds gepflegt wurde […]«.33 Typisch für Fanzines ist der in Guten Morgen vorherrschende programmatische Dilettantismus, der sich sowohl anhand der absichtlich falschen Rechtschreibung des Heftmonats als auch anhand des betont unregelmäßigen Erscheinungsrhythmus des Periodikums bemerkbar macht.: »GUTEN MORGEN MAGAZIN FÜR KUNST UND ZUVERSICHT/IM JUNIE UND JULI/ERSCHEINT UNZUVERLÄSSIG«.34 Der Fanzine-Publikationskontext dieses frühen Textes von Kracht ist dabei Teil einer Reihe weiterer Verweise auf die ›Punk‹- und ›New Wave‹-Ästhetik der 1980er Jahre im Werk Krachts. Beispielsweise findet sich in der Facebook-Bildstrecke In Youth is Pleasure, die den Titel des zweiten Romans des britischen Malers und Schriftstellers Danton Welch von 1945 zitiert, ein Foto, datiert auf 1983, das den jungen Kracht, vermutlich auf dem Betzberg nahe Schloss Salem, in voller ›New Wave‹-Montur zeigt. Ein vergleichbares Foto von 1986 findet sich auf der Facebook-Seite der von Kracht zusammen mit Nickel herausgegebenen Literaturzeitschrift Der Freund. Zu sehen sind darauf Kracht und Nickel in jungen Jahren in einem Hotelspeisesaal, vermutlich in Kairo, da das Foto mit dem Titel des auf dem ersten The Cure Album Three imaginary Boys befindlichen Songs Fire in Cairo untertitelt ist. Außerdem findet sich ein 31

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Vgl. Nieswandt in einer Email an den Vf. der vorliegenden Arbeit: »Ja, wie das Leben so spielt war ich quasi Christian Krachts erster Verleger – wir amüsieren uns darüber immer gerne, wenn wir uns mal zufällig irgendwo sehen. Hintergrund: wir haben damals – sprich: in den frühen 80er Jahren – beide am Bodensee gelebt, ich in Friedrichshafen, wo ich das ganz normale, humanistische Graf-Zeppelin-Gymnasium besucht habe; er dagegen ging auf das berühmte Internat in Salem. Das Fanzine ›Guten Morgen – Journal für Kunst und Zuversicht‹ habe ich zusammen mit einem Freund aus Ravensburg, Alfred Knödler, gemacht und wir haben es in sogenannten Szeneläden handverkauft. In einem dieser Szeneläden, vermutlich in Ravensburg, erstand ein Hamburger Mitschüler von Christian Kracht unser Heft. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob Christian an dem Abend dabei war oder nicht, jedenfalls haben wir uns bald darauf in Salem getroffen und Christian hat gefragt, ob er in der nächsten Ausgabe einen Text veröffentlichen könnte. Und so kam es dann auch.« (Hans Nieswandt: Betr. Guten Morgen Fanzine, Email an RR vom 5.9.2020). Ebd. Ebd. Hans Nieswandt/Alfred Knödler: »Cover«, in: Guten Morgen. Magazin für Kunst und Zuversicht (Juni/Juli 1983), H.-Nr. unbek., U1.

4. Typografische Oberflächenästhetik: ›Pop‹ und Zeitschriften

Gruppenfoto von Kracht und drei weiteren Mitschülern im Spetzgarter Jahrbuch von 1985, der Abiturzeitschrift von Schloss Salem, das den Stil von ›New Wave‹-Bandfotos zitiert. Dass es sich dabei um ein explizites Zitat handelt, lässt sich dem Jahrbuch ebenfalls entnehmen. Denn in besagtem Salem-Jahrbuch findet sich zudem ein Gedicht von Christian Kracht, worin dieser für eine Ästhetik des Zitats eintritt: »[I]n Wahrheit zählt die Kunst des/Zitats«.35 Der Publikationskontext steht somit in einer Reihe mit zahlreichen anderen »Punk«- und »New Wave«-Referenzen im Frühwerk des Autors. Krachts Beitrag in Heute Morgen entpuppt sich dagegen wenig typisch für ›Punk‹-Fanzines als, um einen topischen Wortlaut der ›Punk‹-Kultur zu verwenden: ›boring old fiction‹. Auch das Layout des Textes ist schlicht gehalten; der Text wird illustriert von zwei auf den Inhalt der Kurzgeschichte verweisenden Fotografien mit dokumentarischem Charakter, auf denen jeweils Arbeiter beim Heumachen zu sehen sind. Die Kurzgeschichte Yellow Eddie erzählt von der Reise eines amerikanischen Ehepaars durch die USA. Der Fahrer des Wagens, Eddie, ebenfalls autodiegetischer Erzähler der Geschichte, nimmt die während der Fahrt vorbeirauschende Landschaft wie ein ästhetisches Farbspiel war, was die Geschichte in der Tradition des Ästhetizismus verortet.36 Nachdem das Reisepaar die »grünen Hügel«37 Nebraskas passiert, domi-

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Chris Kracht: »Ohne Titel«, in: Spetzgarter Jahrbuch (1985), S. 43. Zit. n. Christine Riniker: »In Search Of a Character«. Christian Krachts Selbstinszenierungspraktiken im Autorenfoto«, in: Heinz Drügh/Susanne Komfort-Hein (Hg.), Christian Krachts Ästhetik, Berlin 2019, S. 57–78, hier S. 58. Zu Krachts Facebook-Posts siehe: Christian Kracht [https://www.facebook.com/m r.christiankracht/photos/in-youth-is-pleasure-part-1-christian-kracht-baden-württembergwinter-1983/10153533950881758/zuletzt eingesehen am 10.10.2022]; und Der Freund [https:/ /www.facebook.com/der.freund.magazine/photos/101527 47584487445, zuletzt eingesehen am 10.10.2022]. Die verstreute Facebook-Bildstrecke findet sich ebenfalls im Band Christian Kracht revisited abgedruckt. Christian Kracht: »In Youth is Pleasure. Christian Krachts Bildstrecke auf Facebook«, in: M. N. Lorenz/C. Riniker (Hg.), Christian Kracht revisited, S. 563–570. Christian Kracht: »Yellow Eddie«, in: Guten Morgen. Magazin für Kunst und Zuversicht (Juni/Juli 1983), H.-Nr. unbek., n.p. Eingedenk Krachts Interesse an Comics, mitunter auch historischen, wäre zumindest zu vermuten, dass es sich hierbei zudem um einen Verweis auf Richard F. Outcaults Comic The Yellow Kid handelt, der gemeinhin als erster populärer Comic angesehen wird und dem der yellow journalism seinem Namen verdankt. Denn der für das 19. Jahrhundert in Amerika typische Ausdruck für einen bloß an der Steigerung der Auflage interessierten Boulevardjournalismus geht ursprünglich auf besagten Comic Strip zurück, dessen Funktion – der Comic war zumeist auf dem Cover der Zeitungen abgebildet – darin bestand, die Konsumenten zum Kauf anzuregen. Christina Meyer: »Richard F. Outcault: The Yellow Kid Abstract«, in: Sebastian Domsch/Dan Hassler-Forest/Dirk Vanderbeke (Hg.), Handbook of Comics and Graphic Narratives, Berlin/Boston 2021, S. 361–378. C. Kracht: Yellow Eddie, n.p.

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niert das »große[] gelbe[] Meer«38 von »gelbem Weizen«39 Wyomings und die ebenso »gelbe, einsame, staubige Straße«,40 die sich bloß noch von dem »schwarzblaue[n] Himmel«41 absetzt. Sogar die Buchstaben eines Straßenschildes an der Staatsgrenze von Wyoming fügen sich in dieses monochrome Bild: »Einmal, das einzige mal, kamen wir an einem Schild vorbei. Verwittert stand es am Rande der Straße, die gelben Buchstaben blätterten ab und gaben das alte Holz frei.›WELCOME TO WYOMING! THE RANCHING STATE‹«.42

Abb. 26: Cover des Fanzines Guten Morgen von 1983.

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Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

4. Typografische Oberflächenästhetik: ›Pop‹ und Zeitschriften

Eben dieser fehlende Farbkontrast ist wiederum die Ursache für einen Unfall, bei dem das Auto des Paares mit einem Jungen mit »strohblonde[m] fast gelbe[m] Haar«43 zusammenstößt, der plötzlich aus den gelben Weizenfeldern auftaucht. Auch den Anblick des Unfallopfers kann der Ästhetizist Eddie bloß als Farbkomposition wahrnehmen: »Aus der Sommersprossen bedeckten Nase sickerte ein schmaler Streifen Rot«44 und dies, einem Gemälde gleich, wiederum »umrahmt von gelbem, warmem Licht«.45 Die frühe Erzählung scheint hier Ausgangspunkt des Kracht’schen Interesses für Ästhtetizismus zu sein. Denn auch im späteren Werk Krachts finden sich immer wieder Verweise auf den Ästhetizismus, mit dem sich, dies sei an dieser Stelle mit Blick auf den theoretischen Fokus der vorliegenden Arbeit angemerkt, die Popästhetik ihr Interesse an der ästhetischen Oberfläche teilt. So führt etwa die von Christian Kracht und Eckhart Nickel in Kathmandu – dem Redaktionssitz ihrer Zeitschrift Der Freund – zusammengestellte ›Kathmandu Library‹ unter anderem Karl-Joris Huysmans’ À Rebours auf und die Figur des Mavrocordato in Krachts zweitem Roman 1979 erinnert mit seinen Vorlieben für monochrome Malzeiten an die Hauptfigur Des Esseintes aus Huysmans’ Roman.46 Zudem scheint es erwähnenswert, dass der Ästhetizismus sein Interesse an ästhetischen Oberflächen ebenso wie Kracht, dessen Romancover im Folgenden noch Thema der vorliegenden Arbeit sein werden, auch auf die eigenen Buchoberflächen ausweitet.47 Und auch die ›Verpackung‹ der Kracht’schen Kurzgeschichte fällt in 43 44 45 46

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Ebd. Ebd. Ebd. Der Freund [https://www.derfreund.com/library.php, zuletzt eingesehen am 10.10.2022]. Christian Kracht: 1979, Köln 2001, S. 104. Insbesondere die Figur des Dandys findet sich zudem in beiden Strömungen, vgl. Alexandra Tacke/Björn Weyand (Hg.): Depressive Dandys. Spielformen der Dekadenz in der Pop-Moderne, Köln/Weimar/Wien 2009. Bemerkenswert ist auch, dass sich dieses Interesse, ausgehend von Mallarmé, als Kette von Verweisen bis in den Ästhetizismus tradiert. So nimmt etwa Karl-Joris Huysmans À rebours Bezug auf Mallermés Buchveröffentlichungen sowie deren materielle Verfasstheit und typografische Gestalt. Des Esseintes, die Hauptfigur aus Huysmanns Roman, besitzt nämlich einige ausgezeichnete, einzelne Seiten, »neun an der Zahl« (Karl-Joris Huysmanns: Gegen den Strich. Aus dem Französischen von Hans Jacob, Leipzig/Weimar 1978, S. 249) von Mallarmés »einzigartigen Exemplaren« (ebd.) der »ersten beiden ›Parnasse‹« (ebd.) »in wilde Eselshaut gebunden, unter einer hydraulischen Presse satiniert, mit Aquarellfarben silberwellig bemalt und mit alten Vorsatzpapieren versehen waren, die schon etwas erloschen waren und etwas von der Anmut welker Dinge hatten, die Mallarmé in einem so köstlichen Gedicht besingt.« (Ebd.) Auch der Titel ist von »hervorragenden Kalligraphen in erhabenen, bunten Initialbuchstaben gezeichnet und, wie alte Manuskripte, mit Gold punktiert […]« (ebd.). Das Programm des Ästhetizismus, nämlich die Reduktion der Welt auf ihre Oberflächen, schließt somit auch die Literatur mit ein, denn die literarischen Texte, in denen sich dieses Programm manifestiert, reduzieren auch ihre literarischen Vorbilder auf die Oberfläche, nämlich die des Bucheinbands. Dies zeigt sich ebenfalls im Fall von Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray, in

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zweierlei Weise auf. Denn das Heftcover ziert eine gelb eingefärbte SchwarzweißFotografie eines mit Patronengürtel behangenem jungen Soldaten (Abb. 26).48 Der darauf abgebildete ungarische Revolutionär Deák Gábor, Mitstreiter der Revolution vom 23. Oktober 1956 verwandelt sich dabei auf der typografischen Oberfläche des Fanzines in radical chic.49 Zumal es sich wohl um ein beliebtes Bildmotiv um die Zeit handelt, denn das Plattencover des Albumdebüts Pacific Street der britischen Band The Pale Fountains von 1984 recycled dieselbe Fotografie – woran auch noch einmal ersichtlich wird, dass Originalität in diesem Diskurs eine untergeordnete Rolle spielt.50 Auch Thomas Meinecke gibt Ende der 1970er Jahre eine in DIY-Manier gefertigte Zeitschrift heraus, die, ähnlich wie Nieswandts Guten Morgen, ein besonderes Interesse an den typografischen Oberflächen erkennen lässt. Zusammen mit Michaela Melián, Wilfried Petzi und anderen, lanciert Meinecke 1978 das, wie es im Editorial der zweiten Ausgabe heißt, »Gewinner-Journal«51 Mode & Verzweiflung, mit dem die Herausgeber:innen sich im Feld der zahlreichen, wie es dort ebenso heißt, »Verlierer-Zeitschriften«52 behaupten wollen. Aus dem Dunstkreis des Heftes gehen – wohl inspiriert vom Warhol’schen Konzept der Factory – mehrere Parallelprojekte hervor, wovon eines die 1980 gegründete Band Freiwillige Selbstkontrolle, kurz: ›F.S.K.‹ ist. So heißt es etwa in der sechsten Ausgabe der Zeitschrift von 1983 im Impressum: Roman »DER STÜRMER« ist ein MODE & VERZWEIFLUNG Produkt/4 KAISERLEIN ist ein MODE & VERZWEIFLUNG Produkt/ERASMI/STEIN DESIGN ist ein MODE &

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der Wilde Bezug auf À rebours nimmt. So beginnt das elfte Kapitel des Romans mit einem impliziten Verweis auf Des Esseintes, »the wonderful young Parisian« (Oscar Wilde: The Picture Of Dorian Gray, London 2000, S. 123): »For years, Dorian Gray could not free himself from the influence of this book. Or perhaps it would be more accurate to say that he never sought to free himself from it. He procured from Paris no less than nine large-paper copies of the first edition, and had them bound in different colours, so that they might suit his various moods and the changing fancies of a nature over which he seemed, at times, to have almost entirely lost control.« (Ebd.) Der von Des Esseintes betriebene Farben-Ästhetizismus wird so von Gray, indem er neun Exemplare des Buchs beordert und verschiedenfarbig einbinden lässt, auf das Buch selbst übertragen. Vgl. H. Nieswandt/A. Knödler: Cover, U1. Emi Serrano [https://twitter.com/emil784/status/1079048441710424065?lang=el, zuletzt eingesehen am 10.10.2022]. Vgl. zur militärischen Oberfläche in der Popmusik E. Beregow: Nichts Dahinter, S. 161f. The Pale Fountains: Pacific Street, London: Virgin Records 1984. Mode & Verzweiflung: »Lieber Kunstfreund!«, in: Mode & Verzweiflung (1979), H. 3, S. 2. Ebd. Außerdem wird im Editorial der zweiten Ausgabe ironisch auf das Oppositionspaar Oberfläche/Tiefe bezuggenommen: »In dieser schweren Stunde unseres Landes bleibt MODE + VERZWEIFLUNG nicht an der Oberfläche, sondern weist auf die tiefere Bedeutung der Geschehnisse hin.« Mode & Verzweiflung: »Lieber Kunstfreund!«, in: Mode & Verzweiflung (1978), H. 2, S. 2.

4. Typografische Oberflächenästhetik: ›Pop‹ und Zeitschriften

VERZWEIFLUNG Produkt/FREIWILLIGE SELBSTKONTROLLE ist ein MODE & VERZWEIFLUNG Produkt53

Abb. 27: Album Cover von F.S.K.’s Goes Underground von 1984 (31,5 x 31,5 cm).

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Insbesondere der Satz zu F.S.K. wird sich isoliert später auch auf den Schallplattenveröffentlichungen der Band wiederfinden, vgl. Mode & Verzweiflung: »Lieber Kunstfreund!«, in: Mode & Verzweiflung (1983), H. 6, S. 25. Verschiedenste Medien zu bespielen ist dabei bei Thomas Meinecke und F.S.K. Programm. Dazu gehört das Oszillieren zwischen Musik, Literatur und bildender Kunst ebenso wie das Spiel mit Mündlichkeit und Schriftlichkeit sowie das Publizieren in verschiedenen Printformaten wie Zeitschriften, Büchern und Ausstellungskatalogen. Siehe Thomas Meinecke/Thomas Palzer/Berg Lauchstaedt: »Das jüngste Gericht geht in Berufung [1985]«, in: Kunstverein München: Katalog zur Ausstellung Wolfgang Achmann, Michael Böhmer, Hans-Jörg Mayer, Michaela Melián vom 22.01.-13.02.1988 im Kunstverein München, München 1988, n.p.; Thomas Meinecke/Thomas Palzer/Berg Lauchstaedt: »Das jüngste Gericht [1989]«, in: Michaela Melián: Michaela Melián, Neuchâtel 1992, S. 55–74. Ursprünglich wurde der Text, welcher verschriftlichte Oralität darstellen soll, wiederum mündlich bei einer Lesung mit dem Titel SAGE & SCHREIBE im November 1985 in München vorgetragen, vgl. Andreas Bach: »Nächte der langen Messer«, in: Spex (1986), H. 4, S. 50.

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Auch die Strategie der bewussten Aneignung von Konsumbegriffen wie ›Produkt‹ scheint von Warhols ›Factory‹-Idee inspiriert zu sein. Bei der Zeitschrift handelt es sich, was die Texte anbelangt, nicht direkt um ein ›Punk‹-Fanzine, sondern, wie Thomas Meinecke in einem YouTube-Clip von 2017 verrät, in dem er die Hefte durchblättert und kommentiert, um »eine Zeitschrift, die eine Literaturzeitschrift vielleicht sein würde, aber es nicht verraten würde«.54 Im Hinblick auf die Distribution der Hefte und ihre typografische Gestaltung kann man jedoch durchaus von einem ›Fanzine‹ sprechen. So erfolgte dem Impressum der Hefte zufolge der »Druck im Selbstverlag«55 und die einzelnen Ausgaben, so wieder Meinecke in besagtem YouTube-Clip, wurden in Eintausender-Auflagen »per Hand verkauft.«56 Die Texte waren »getippt auf Matrizen, die man zum Drucker brachte«57 und das Layout wurde durch für Fanzines typische typografische DIY-Elemente ergänzt. Beispielsweise wurden in die Magazinseiten »Letrasetfiguren, die man eigentlich auf Architekturplänen hat, reingerubbelt«.58 Die Typografie entspricht somit durchaus den im Magazin gepflegten Schreibweisen, die Meinecke als »New Wave-Texte«59 bezeichnet.

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Thomas Meinecke [https://www.youtube.com/watch?v=5VwG6uiQhtg, zuletzt eingesehen am 10.10.2022]. Thomas Meinecke übersetzt darüber hinaus für Suhrkamp die in Buchform gebrachten sogenannten ›magazines‹ von Adam Green, die von ihrer Aufmachung stark an die Fanzines der späten 1970er Jahre erinnern: »Eine Zeitlang sammelte Adam Green seine Textproduktion jenseits der Musik in Fanzines, den sogenannten magazines. Jetzt sind diese […] erstmals als Buchform erhältlich.« (Adam Green: magazine, aus dem Englischen von Thomas Meinecke, Frankfurt a.M. 2005, S. 2). Das Buch beinhaltet sowohl Anzeigen für Thomas Meineckes The Church of John F. Kennedy als auch Andreas Neumeisters Gut Laut und Rainald Goetz’ Rave sowie eine Anzeige von Rough Trade für die Alben Adam Greens, womit noch einmal der Zusammenhang des ›Suhrkamp-Pops‹, der zum Teil selbst auf eine Anzeige des Suhrkamp Verlags in der Spex zurück geht, in den werbenden Paratexten des Buchs reproduziert wird. (Ebd., S. 125–128). Vgl. hierzu detaillierter Kap. 4.2.3 der vorliegenden Arbeit. Mode & Verzweiflung: »Impressum«, in: Mode & Verzweiflung (1978), H. 2, S. 2. T. Meinecke [https://www.youtube.com/watch?v=5VwG6uiQhtg, zuletzt eingesehen am 10.10.2022]. Ebd. Ebd. Ebd.

4. Typografische Oberflächenästhetik: ›Pop‹ und Zeitschriften

Abb. 28: Cover der achten Ausgabe von Mode & Verzweiflung von 1986 (31 x 23,7 cm).

Insgesamt ist das Layout der Zeitschrift dabei als heterogen zu bezeichnen. Die Cover der ersten drei Ausgaben bestehen aus schlichten Kohlezeichnungen, die ab der vierten Ausgabe von poppigeren Bildsujets abgelöst werden. Inspiriert von der für ›New Wave‹ typischen ›Camp‹-Ästhetik finden sich auf dem Cover der vierten Ausgabe Schaufensterpuppen in Militäruniformen abgebildet. Auf dem Cover der fünften Ausgabe ist »Michaela Melián [als] Cover-Girl«60 zu sehen, wobei sich der Mode & Verzweiflung-Schriftzug auf einem Mode & Verzweiflung-Merchandiseprodukt befindet, nämlich dem T-Shirt, das Melián trägt. Die sechste Ausgabe bricht dann vollends mit dem Layout und Format der vorausgegangenen. Das Heft ist bunt, großformatig und auf Hochglanzpapier gedruckt und enthält ein

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Mode & Verzweiflung-Poster. Der Druck der siebten Ausgabe erfolgt dann wieder im kleineren Format, ohne Farbe, auf normalem Papier und erinnert dem Stil nach an eine Kondolenzanzeige.61 Meinecke zufolge sähe das Cover »wie ein Grabstein aus«,62 was den Eindruck, dass das Layout des Covers die Oberflächenästhetik der Bestattungsindustrie zitiert, bestätigt. Die achte und letzte Ausgabe führt dieses konzeptuelle Spiel mit den typografischen Oberflächen der Hefte fort. Das Heft ist farbig bedruckt und aufwändiger gestaltet, jedoch im Din-A-4-Format. Das Covermotiv wiederum setzt sich aus zusammengelegten Teilen der zerschnittenen Fotografie eines entkleideten Frauenkörpers zusammen, dessen Scham von einem Revolver verdeckt wird (Abb. 28).63 Bemerkenswert an besagtem Cover ist dabei weniger das Motiv als vielmehr die Herstellungsweise. Es handelt sich dabei nämlich um recyceltes Material, wobei sich das Mode & Verzweiflung-Heft in diesem Fall aus dem eigenen Fundus bedient. Denn bei der zerschnittenen Fotografie handelt es sich um das Cover des dritten F.S.K.-Albums Freiwillige Selbstkontrolle goes Underground (Abb. 27). Auf besagter F.S.K.-LP findet sich zudem ein »CoverText«64 von Spex-Autor Diedrich Diederichsen, der typografisch eher an ›Lyrics‹ als an einen Fließtext erinnert und der noch einmal verdeutlicht, wie sich der ›Pop‹Diskurs der 1980er Jahre über verschiedenste Formate miteinander vernetzt.65 Was beide Fanzines, also Guten Morgen und Mode & Verzweiflung, somit vereint, ist ihr Interesse am ästhetischen Verfahren des Oberflächen-recyclings, welches zwei für die Zeit typische ästhetische Strategien miteinander verbindet, nämlich Zitatästhetik (ein Werk entsteht aus der Rekombination bereits bestehender Versatzstücke) einerseits und Oberflächenästhetik (die Nobilitierung ästhetischer Oberflächen im Gegensatz zu hermeneutischen Tiefenstrukturen) andererseits. Während am Beispiel des Fanzines Heute Morgen besonders auffällt, dass nicht nur das Verfahren des Zitierens, sondern zum Teil auch einzelne Zitatmotive damals in Mode gewesen zu sein scheinen (das Motiv des Ungarischen Revolutionärs findet sich auf zwei unabhängig voneinander entstandenen Covers), bestätigt sich im Falle des FSK-

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Mode & Verzweiflung: »Zeitschriften-Cover«, in: Mode & Verzweiflung (1984), H. 7, U1. T. Meinecke [https://www.youtube.com/watch?v=5VwG6uiQhtg, zuletzt eingesehen am 10.10.2022]. Erasmi/Stein: »Cover«, in: Mode & Verzweiflung (1986), H. 8, U1. Diedrich Diederichsen: »Cover-Text«, in: Freiwillige Selbstkontrolle: Goes Underground, Hamburg: ZickZack 1985, U3. Ebd. Diederichsen geht darin vor allem auf den Titel Venus im Pelz#2 ein, womit noch einmal der Verweis auf The Velvet Underground hervorgehoben wird. Venus im Pelz#2 verweist ebenso wie der Titel des Albums Goes Underground auf Andy Warhols Factory-Band und deren Song Venus in Furs, allerdings in der Rückübersetzung auf den ursprünglichen Prätext Venus im Pelz des österreichischen Schriftstellers Leopold von Sacher-Masoch. The Velvet Underground: The Velvet Underground & Nico, Santa Monica: Verve 1967.

4. Typografische Oberflächenästhetik: ›Pop‹ und Zeitschriften

Plattenentwurfs, der qua recycelter Bildfläche mit dem Mode & Verzweiflung-Magazincover verbunden ist, die konzeptionelle und praktische (beide Cover stammen von der Grafikerin Susanne Erasmi) Verschränkung von Band und Zeitschrift.

4.2 Frühe Pop- und ›Zeitgeist‹-Zeitschriften: Aufwändiges Layout, Großformate In der ersten Ausgabe von Elaste von 1981 heißt es im Editorial, die Zeitschrift solle »wie ein Bilderbuch betrachte[]t«66 werden, das »[w]ir [die Herausgeber] für Dich [die Rezipient:in] stylen.«67 Auch die Bedeutung des Titels Elaste ist nicht unwesentlich für diesen Zusammenhang, so heißt es weiter im Editorial des ersten Heftes: »Elaste, substantiviert von elastisch, ist in allen Trends und avantgardistischen Entwicklungen ein plastischmacher. Wir zimmern und fugen. A Magazzin for Media Mutante.«68 Diese Elastizität beschränkt sich jedoch nicht bloß auf die beschriebenen Inhalte des Heftes, sondern adressiert, so die Herausgeber des Blatts im Editorial zur dritten Ausgabe, ebenso Format und Layout des Magazins: »Als Zeitschrift kann Elaste auf überflüssige Einschränkungen, wie zum Beispiel ein kontinuierliches Erscheinungsbild verzichten. Komplexität ist Elaste’s Kontinuität.«69 Dabei handelt es sich um einen Punkt im Programm der Zeitschrift, der sich in der materiellen Gestalt der Folgeausgaben durchaus bestätigt. Bloß zweimal, nämlich bei Heft 7 und Heft 11 und ein weiteres Mal bei Heft 12/13 und 14, wird beispielsweise derselbe Elaste-Schriftzug auf dem Cover beibehalten. Ansonsten ändert sich dieser, wie auch die meisten anderen typografischen Stilelemente der Zeitschrift, von Ausgabe zu Ausgabe. Wie wichtig den Elaste-Herausgebern etwa die großformatige Erscheinungsweise des Magazins ist, wird anhand des Covers der zehnten ElasteAusgabe ersichtlich, die, wohl mehr notgedrungen als gewünscht, im kleineren Format erscheint. Auf dem Cover heißt es nämlich recht exponiert, direkt unter dem Titel, in Großbuchstaben: »ZU KLEIN!« 70 (Abb. 29) Diese Affirmation der aufwändig gestalteten typografischen Oberfläche grenzt sich dabei dezidiert von der ›Punk‹-Typografie der Fanzines ab, deren Layouts, wie auch deren Inhalte, mehr auf Subversion, Kritik und Gegenöffentlichkeit abzielen. Die typografische Strategie von Elaste scheint hingegen dem allgemeinen ›New Wave‹-Credo zu entsprechen, und zwar in dem Sinne, dass sie Kritik am (typografischen) Mainstream mittels

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Elaste: »Plaste und Elaste«, in: Elaste (1981), H. 1, n.p. Ebd. Ebd. Elaste: »Intim«, in: Elaste (1982), H. 3, n.p. Elaste: »Cover«, in: Elaste (1984), H. 10, U1.

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subversiver Affirmation äußern. Bei dieser Deklinationsform der Kritik handelt es sich um eine für die Zeit typische paradoxe und vor allem flüchtige Figur der Sozialund Kulturkritik, die nicht auf Dauer gestellt werden konnte. Sie war sozusagen die Antithese innerhalb einer dialektischen Bewegung der Kritik, die in Ermangelung einer Synthese notwendigerweise wieder in ihren Ursprung zurückschlagen musste.

Abb. 29: Cover der zehnten Elaste-Ausgabe von 1984 (32,7 x 25,4 cm).

4.2.1 »INTELLEGAZINES«: Goetz’ Layout-Polemiken in Spex Im Frühwerk von Rainald Goetz lässt sich eine geradezu euphorisch-affirmative Haltung gegenüber der Musikzeitschrift Sounds beobachten, Spex dagegen nimmt

4. Typografische Oberflächenästhetik: ›Pop‹ und Zeitschriften

für ihn zunächst keine so gewichtige Rolle ein. So konstatiert Goetz in seinem Romandebüt Irre: »Sie hat Sounds geheißen und war Deutschlands Rettung.«71 Goetz überaus positive Meinung von Sounds hat dabei vor allem mit Diedrich Diederichsen zu tun. Als dieser 1982 nach der Einstellung des in Hamburg ansässigen Magazins für Popmusik zur Spex wechselt, richtet sich auch Goetz’ Blick auf die Kölner Zeitschrift, die er zunächst jedoch sehr kritisch beäugt. Dies wird anhand eines privaten Briefs von Goetz an Diederichsen deutlich, den letzterer ohne Goetz’ Zustimmung als Leserbrief in der Spex abdrucken lässt: Oh Herr Diederichsen, das hat mir ja in den Augen weh getan, ihren Namen in dem Wecker- und Klemm- und deshalb KrampfLockerBlatt Spex lesen zu müssen. Da wäre mir ein hektographiertes Papier mit Ihren Gedanken eigentlich lieber. Es stimmt nämlich nur ganz selten, daß man den Rahmen von einem DummBlatt in die Gescheitheit aufsprengen kann, nur in dem man das Richtige sagt. […] Sie müssen sich Ihnen schon was anderes einfallen lassen, am besten logisch ein eigenes Forum. Wie gesagt: Ich täte auch hektographierte Blätter von Ihnen und dem guten Teil der SOUNDSler kaufen, und vielleicht ein paar tausend andere gescheite Leute auch. Das wäre dann die Kreation des INTELLIGENZINES und das wäre dann auch kein Schade für das arme dumme Deutschland. In Sorge um Ihren begnadeten Kopf, Dr. phil. Dr. med. Rainald Goetz72 Anhand von Goetz erster, wenn auch nicht autorisierter Publikation in der Spex zeigt sich zudem, dass Goetz dem Format der Pop-Zeitschriften insgesamt kritisch gegenübersteht und Sounds eher als Ausnahme wahrnahm. Goetz’ Antwort auf Diederichsens hingeworfenen Fehdehandschuh lässt aufgrund der Latenz des von Diederichsen und Goetz gewählten Kommunikationsmediums, nämlich der ›Leserbriefe‹-Rubrik in der Spex, etwas auf sich warten und erscheint erst zwei Spex-Ausgaben später. In einem Leserbrief, den er diesmal explizit zum Druck in der Spex autorisiert, teilt er gegen Diederichsen und die Spex-Redaktion aus: »An solche wie euch schreibe ich nie nie nie einen Leserbrief, ich bin doch nicht blöd, nur diesen hier.

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R. Goetz: Irre, S. 298. In Subito, jenem Text den Goetz blutüberströmt in Klagenfurt vorgelesen hatte, heißt es wiederum: »Sounds ist Deutschlands Rettung gewesen.« (R. Goetz: Hirn, S. 17). In Kontrolliert finden sich dann auch negative Äußerungen zu Sounds und den darin publizierten Texten, die Goetz nunmehr als »Pappmachéartikel« bezeichnet, da es sich bloß um Plagiate des britischen Pop-Journalismus handele: »In Sounds stand nicht aus welchen Zeitungen aus England welcher Gedanke übernommen worden war, es wurde nicht gesagt, an welchen intellektuellen Tränken so ein besserer Musikschreiber untertags noch bißchen hingenippt hatte, mit wessen Hilfe.« (Rainald Goetz: Kontrolliert, Frankfurt a.M. 1988, S. 147). R. Goetz: Oh Herr Diederichsen, S. 33. Vgl. hierzu Eckhard Schumacher: »›… nur in München weiß noch keiner, daß ’82 vorbei ist‹. Pop-Schreibweisen in ›Sounds‹, ›Spex‹ und ›Elaste‹«, in: Text+Kritik. Sonderband Literarischer Journalismus 22 (2022), H. 6, S. 109–123, hier S. 114.

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Das ist jetzt ein Leserbrief, den möchte ich gefälligst hingedruckt haben. Ihr Hosenseidel.«73 Diederichsen wiederum antwortet gleich im selben Heft und rechtfertigt seine Autorschaft bei Spex einerseits mit seiner eigenen Faulheit, die von Goetz vorgeschlagene Idee der selbstverlegten Hektografien umzusetzen. Andererseits könne man gewisse Qualitäten der Spex, nämlich die Auflage, den Leserkreis und das Konzept nicht leugnen: Es ehrt mich natürlich, daß sich Dr. med. Dr. phil. Rainald Goetz um meinen Kopf sorgt. Schließlich hat er den besten Artikel geschrieben, der je in Konkret erschienen ist. Aber was soll ich tun? Mein Mitteilungsbedürfnis ist grenzenlos und so schlecht fand ich Spex noch nie, eher zu bieder als zu locker was wirklich schlimm wäre. Aber ich würde auch für schlechtere Zeitschriften schreiben (»Wer schreibt, der bleibt…« Anm. d. Red.) Regel: wer einen Text nicht kürzt oder verfremdet, darf ihn drucken. Wer einen Text kürzt oder verfremdet, muß etwas anderes zu bieten haben. Z.B. eine hohe Auflage, einen interessanten Leserkreis oder ein interessantes redaktionelles Konzept. Die Idee der fliegenden Blätter scheitert an meiner Faulheit. Reaktionen von Rainald Goetz bekam ich für einen Artikel in Spex, was prinzipiell für dieses Forum spricht, ich glaube kaum, daß er eine andere Musikzeitschrift liest.74 Umso bemerkenswerter scheint es daher, dass Goetz nur wenige Monate später selbst seinen ersten Text mit dem Titel Gewinner und Verlierer in der Spex publiziert, was wohl wiederum damit zusammenhängt, dass Goetz darin in erster Linie die Zeitschriften-Szene der 1980er thematisiert. Allen voran kritisiert er darin Elaste, die in einigen Artikeln, auf Goetz Bezug genommen hatten und Goetz nicht im aller besten Licht dargestellt hatten.75 Mit den »2 Ideen, die sie pro Jahr so haben«76 bliebe der Herausgebern der Zeitschrift bloß die Möglichkeit, die typografische Oberfläche auszugestalten, um den Mangel an Inhalten zu kompensieren: »Bodoni Univers halbfett und gewöhnlich Art Directors Club Preise, lauter schönes Layout, so ein schöönes Layout findet doch jeder finde ich auch total schöön könnte man ja auch noch mehr verschöönern […].«77 Besagte Stelle in Elaste, auf die sich Goetz in seiner Tirade bezieht, geht sogar noch viel stärker auf die typografische Oberfläche und das Format der Elaste-Ausgabe ein, nennt den Umfang des Heftes, die Papierqualität, das exakte Format: »Editorial Elaste Nr. 7 umfasst 92 Seiten, 100 g/qm holzfrei, 297 x 380 x 6mm, Elaste Nr. 7 erscheint in doppelter Auflage.

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Rainald Goetz: »Ihr Riesenarschlöcher«, in: Spex (1983), H. 5, S. 12. Diedrich Diederichsen: »Krieg und Frieden«, in: Spex (1983), H. 4, S. 17. Vgl. Lorenz Lenz: »Rainald«, in: Elaste (1983), H. 7, S. 7; Lorenz Lorenz: »Bücher«, in: Elaste (1983), H. 7, S. 86. R. Goetz: Gewinner und Verlierer, S. 43. Ebd.

4. Typografische Oberflächenästhetik: ›Pop‹ und Zeitschriften

Elaste Nr. 7 wurde in der Bodoni und Univers, halbfett und gewöhnlich, gesetzt. […] Wir wollen aufhören mit dem New Wave, normaler werden; alles viel normaler.« Weiterhin heißt es dort in Form eines Dialogs zwischen den Herausgebern der Zeitschrift: »C.R.: ›Wir können ausmessen wie hoch 20.000 Hefte sind.‹ – M.R. holt ein Maßband. ›Ach ja, dann haben wir noch den Preis vom Art Directors Club gewonnen.‹ Th.E. mißt 10 Hefte: ›6 cm.‹ – Chr.W.: ›12 m.‹ – Th.E.: ›Nein, 129 m!‹«78 Eine Antwort von Elaste auf Goetz’ Polemik in Gewinner und Verlierer lässt wiederum nicht lange auf sich warten: »Rainald der Gartenzwerg von Herr Unseld hat den Ball brav angenommen. In ELASTE 7 wurde er 2mal erwähnt. Im ABC von Lorenz Lenz Rainald und von Lorenz Lorenz auf der Bücherseite: ›Hallo Rainald Goetz, selber lesen, dann brauchst du nicht mehr bei Diedrich Diederichsen abschreiben.‹ Nun hat er in Spex fünf Seiten verjammert.«79 Dass die Goetz’sche Kritik an Elaste zuvorderst die Überbetonung der typografischen Oberfläche und das damit einhergehende Fehlen von Gehalt adressiert, ist dabei auf den ersten Blick als zumindest leicht widersprüchlich zu bezeichnen, da auch Goetz ein besonderes Augenmerk auf das Layout seiner Texte legt. Denn auch Goetz’ erster Spex-Artikel zeichnet sich, wie auch die folgenden Artikel, die Goetz in Spex publiziert, durch ein für Spex’sche Verhältnisse sehr eigentümliches Layout aus. Jedoch scheint dieser Fokus auf das Layout seiner eigenen Texte zunächst vor allem dadurch motiviert, dass seine Texte sich bereits durch ihre typografische Oberfläche von den restlichen, in Spex publizierten Texten abheben. Der Text wirkt durch seine monolithische, beinahe buchseitenförmige Erscheinung wie ein Fremdkörper in der Spex. Nicht nur ist er mit fünf vollen Magazinseiten doppelt bis dreifach so lang wie alle anderen Texte der Ausgaben, sondern auch frei von den üblichen Paratexten eines Zeitschriften-Layouts. Weder findet eine typografische Durchmischung mit anderen Texten, noch eine Rahmung durch Anzeigen statt. Ferner unterscheiden sich Schriftsatz und Bildanordnung vom üblichen Layout der Spex. Üblicherweise teilt sich die Seite in vier bis sechs kleinere Textspalten, wobei die zum Text gehörigen Bild-Klischees zumeist im selben Raster wie die Textspalten gesetzt werden. Im Fall von Gewinner und Verlierer sind es bloß zwei größere Spalten. Hinzu kommt, dass der Text von zufallsartig auf den Magazinseiten verteilten, nicht an das Textraster des Seitenlayouts gebundenen und unterschiedlich groß skalierten Ausschnitten und Zooms ein und derselben Fotografie des Autors bebildert wird. Die eigentümliche typografische Anordnung der Abbildungen lässt das Autorenfoto dabei beinahe in den Hintergrund rücken. Zumal durch den starken Zoom auf die spezifische Oberflächenstruktur der Fotografie die einzelnen Druckpunkte sichtbar werden, wodurch mehr das darstellende Medium als der dargestellte Autor in den Vordergrund rückt. Die Darstellung erinnert dadurch entfernt an die Bilder 78 79

Elaste: »Editoral«, in: Elaste (1983), H. 7, S. 11. Elaste: »Redaktorial«, in: Elaste (1984), H. 8/9, S. 13.

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Roy Lichtensteins, welche die benday dots des Bilddrucks als Stilelement einsetzen. Durch den nahen Zoom verlagert sich der Fokus des Bildes, wie bei Lichtenstein, weg vom Sujet hin zur medialen Oberfläche. Außerdem findet sich im Inhaltsverzeichnis des Heftes ein zweites Foto von Goetz. Bei diesem handelt es sich um den Ausschnitt einer Party-Fotografie, die sich bereits in einem vorausgegangenen Heft der Spex abgedruckt fand. Goetz ist hier mit einer Frau auf einer Party der Galerie Franz Dahlem in Köln zu sehen. Die Bildunterschrift verweist ironisch auf Goetz’ Klagenfurt-Auftritt: »Aufschneider Goetz mit Bewundererin«.80

Abb. 30: Magazinseite der Juli-Ausgabe der Spex von 1984.

Dass Goetz Artikel so durch seine für das Layout der Zeitschrift untypische Form aus dem Rahmen fällt, bleibt auch von den Leser:innen der Spex nicht unbemerkt. 80

Peter Bömmels: »1983. Rheinland«, in: Spex (1983), H. 10, S. 38–39, hier S. 39.

4. Typografische Oberflächenästhetik: ›Pop‹ und Zeitschriften

Mehr noch als das eigentümliche Layout erregt vor allem der überbordende Umfang des Textes Empörung bei den Spex-Leser:innen: »Betr.: Den Gewinner R.G. […] So müssen die Spex Leser 5 (!) volle Seiten universeller Szene- und Trendkritik im rebellischen Stil der 60er ertragen. Ran ans Werk: Im irren Outfit der New Wave Generation wird uns Rainald G. ein Buch, dicker und moderner als ›Der Butt‹ bescheren. Alles Gute, Whopper, Berlin«81 heißt es in einem Leserbrief. Ein weiterer hebt ebenso auf den überdimensionierten Umfang und den idiosynkratrischen Inhalt des Textes ab: »Sehr geehrter Herr Goetz! Wenn Sie beim Durchlesen dieser Zeilen daran denken, daß in China vielleicht gerade ein Besen umfällt, dann sollten sie darüber einen Artikel schreiben (vielleicht noch etwas länger?)«.82 Um hier nur zwei Reaktionen beispielhaft herauszugreifen, denn allein die schiere Anzahl von Leserbriefen, die auf Goetz’ Text Bezug nehmen, ist bemerkenswert.83 Die Unpopularität der ihrer Form nach äußerst idiosynkratischen Texte Rainald Goetz’ bei der Leserschaft der Spex lässt sich auch daran bemessen, dass Klara Drechsler die Unwirtschaftlichkeit von Spex wenige Jahre später zum Teil auf die provokanten, ›seitenlangen Artikel‹ von Rainald Goetz zurückführt: Unser Beruf aber ist es, Monat für Monat zähneknirschend über dem Meer der Widersprüche zu schweben, Hass, Gewalt und schwärzestes Sektierertum zu überwinden, und eine Zeitung herzustellen, in der sich unsere Welt zu lesbarer Form zurechtgeknüllt, sortiert und geläutert wiederfindet. Was ist der Dank, der uns damit zuteilwird? Keiner freut sich, mit der SPEX unterm Arm gesehen zu werden. Verdammt. Zum Dank an EUCH, geliebte Leser, finden sich in der einhundertsten Nummer nur seitenlange Artikel, die euch garantiert nicht interessieren, und die euch, wenn sie euch interessieren, zu Unmutsäußerungen und Gegendarstellungen in großem Stil anregen werden. Ihr könntet z.B. auch euer Abo kündigen. KAHLSCHLAG!!! Ein riesiger, lockerer Text von Rainald Goetz, den niemand lesen

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Whopper: »Betr.: Den Gewinner R. G.«, in: Spex (1984), H. 3, S. 54. Christoph Wiesner: »Sehr geehrter Herr Goetz!«, in: Spex (1984), H. 3, S. 54. Gerade der Umfang des Goetz’schen Spex-Textes fällt in besonderer Weise aus dem Rahmen. Vgl. zur Bedeutung des Umfangs literarischer Texte und der Skalierung als ästhetischer Kategorie Carlos Spoerhase/Steffen Siegel/Nikolaus Wegmann (Hg.): Ästhetik der Skalierung, Hamburg 2020. Weitere Texte: »JA!JA! und rainald goetz hat recht mit seiner phänomenalen Überschrift: ›nachts‹ und dem Text: ›BIER‹. Seine Ausführungen zum Thema ›BBIER‹ entsprechen meiner Wahrheit […]« (Mr. »Turn-down-day«: »JA! JA!«, in: Spex (1984), H. 3, S. 55); »An Spex! Als 1. Vorsitzender des ›Komitee für verkannte Künstler‹ rufe ich alle Freunde der Gerechtigkeit auf: Kauft ›Beaty Stab‹ in Massen! Wir brauchen ABC!/Gez. Held König/P.S. Das Buch ›Irre‹ von R. Goetz braucht keiner zu kaufen, der ist ja so bekannt« (Anonymus: »An Spex!«, in: Spex (1984), H. 3, S. 55).

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will außer wahnsinnigen FAZ Redakteuren und Leuten, die eben auf Goetz stehen.84 Drechsler bezieht sich darin offensichtlich auf eben jenen prototypischen shit storm im Druckmedium, welcher von Goetz erstem Text in der Spex ausgelöst wurde, und beschwört einen eben solchen – wohl auch aus Marketing-Gründen – erneut herauf. Denn auch wenn Goetz’ Texte nicht der unterhaltenden, leicht konsumierbaren Form einer Pop-Zeitschrift zu entsprechen scheinen, provozieren sie dennoch eine bemerkenswerte Menge an Anschlusskommunikation bei der Leserschaft der Spex. Auf die Kritik, die Goetz in den Leserbriefen entgegengebracht wird, antwortet Goetz wiederum mit einem kürzeren Text in der Spex mit dem Titel I.C.H., in dem er ein weiteres Mal die Überbetonung der Oberfläche kritisiert, die er als Symptom eines Mangels an Inhalt respektive Tiefe begreift. Nur handelt es sich diesmal nicht um Prosa, sondern um einen lyrisch formatierten Text: Ich/Kann auch/Ganz anders:/Anstatt heilig/FLEISCH/Leidenschaftlich/164 tausend/Argumente vorwärts/Rück und vor vor wärts/Krieg kriegen/Celerrime docte pulchre zu/Wuchern verbergen in/164 von mir von wem sonst/Leidenschaftlich/ Gelebten verdammten Geschichten/Reichtum Verschwendung Zittern/Blank/ Bloß/KNOCHEN/Faulheit Armut Form/Anenzephalus nickt/Ein Gedickt/Schöön: Für meine eine/Hirnzelle 1 Idee/Bitte Groß Drucken/Daß wichtiger wird/Die Dummheit/Bewiesen hiermit/Kann auch/Ich85 In der Metaphorik von ›Fleisch‹ und ›Knochen‹ wird so dem reichen Gehalt die bare Form gegenübergestellt, womit Goetz die ›leeren‹ Oberflächen der Zeitschriftenkultur der frühen 1980er Jahre parodiert. Zumal der Text sich selbst mittels der Kofferwortkonstruktion aus ›Gedicht‹ und ›dick‹ die Textsorte des ›Gedickt[s]‹ zuweist, welche auf die Größe des Schriftgrades der Buchstaben anspielt, in denen der Text gesetzt ist. Denn die Layouter der Spex sind der im Text geäußerten Bitte nachgekommen, diesen besonders groß zu drucken (vgl. Abb. 30). Ebenso interessant ist der paratextuelle Rahmen, in dem Goetz ›Gedickt‹ abgedruckt wird. Es handelt sich dabei nämlich um die Rubrik »Schnell & Vergänglich«.86 Im Gegensatz zu Goetz anderen in Spex publizierten Texten, deren buchseitenförmiges Layout bereits auf die spätere Buchveröffentlichung in Hirn typografisch vorausdeutet, affirmiert I.C.H. – wenn auch in ironischer Weise – das typografische Dispositiv der Popzeitschrift

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Clara Drechsler: »Geliebte Leser«, in: Spex (1989), H. 7, S. 4–5, hier S. 4. Rainald Goetz: »I.C.H.«, in: Spex (1984), H. 7, S. 6. Ein ähnliches Gedicht, das mit demselben Akronym unterzeichnet ist, findet sich auch noch einmal in Der Attentäter. R. Goetz: Der Attentäter, n.p. Spex: »Schnell & Vergänglich«, in: Spex (1984), H. 7, S. 6.

4. Typografische Oberflächenästhetik: ›Pop‹ und Zeitschriften

und die damit einhergehende Inskription des Mediums, keine Texte von Dauer zu produzieren.

4.2.2 Prätext Interview: Warhol in Elaste Es scheint nicht übertrieben, Andy Warhols Zeitschrift Interview als Archetyp jener Popmagazine zu bezeichnen, die ein besonderes Augenmerk auf Format und Layout legen. Die großformatige Zeitschrift erscheint das erste Mal 1969, ursprünglich unter dem Titel inter/VIEW.87 Die Hervorhebung von ›VIEW‹ in der ursprünglichen typografischen Darstellung des Titels betonte dabei noch stärker die Doppeldeutigkeit des Titels, der einerseits das Konzept der Zeitschrift benennt, denn diese beinhaltete ausschließlich Interviews, und anderseits auf die von den Herausgebern bevorzugte Rezeptionsweise der großzügig gelayouteten und mit vielen Bildern versehenen Zeitschrift anspielt, nämlich das ›Sehen‹. Das Konzept von Interview beruhte unter anderem, wie Warhol in einem Interview mit Glenn O’Brian, dem ersten Herausgeber der Zeitschrift verrät, auf folgender Beobachtung: »I always thought it should be for new people, but I guess there aren’t enough new people to buy it. You go to these rock concerts, and they can fill up a place with 30,000 people. It’s funny. They aren’t the same people who look at magazines.«88 Warhol begreift Zeitschriften demnach als ›Pop‹ im eigentlichen Sinne, der seiner massenweisen Verbreitung nicht kritisch gegenübersteht, sondern sich im Gegenteil darüber definiert. Die Popästhetik äußert sich zudem auch in der Aufmachung der Zeitschrift. Interview erscheint von der ersten Ausgabe an großformatig, zunächst jedoch in Form gehefteter Blätter mit wenigen Farben und auf minderwertigem Papier gedruckt. Anfang der 1980er Jahre entwickelt sich die Zeitschrift dann zu einem aufwändiger gestalteten Heft, was der ehemalige Herausgeber und spätere Kolumnist der Zeitschrift, Glenn O’Brian in seiner Kolumne auch eigens hervorhebt: I’ve been contributing here for a while now and there have been a few changes. Interviews printing, and its pulp, it’s ›body‹, you might say has gotten better: better reproduction, greater durability etc. I appreciate this, and I pledge that the better the paper stock is, the better this column will be.89 Mit der Verbesserung der Papierqualität, so O’Brien, gehe auch eine Verbesserung der Texte einher. Je besser das Papier ist, desto länger lassen sich die Texte lesen 87

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Andy Warhol: »Cover«, in: inter/VIEW. A Monthly film Journal (1969), H. 1. Das als Kunstprojekt der Factory mit kleiner Auflage geplante Magazin entwickelte sich im Laufe der 1970er Jahre zur auflagenstarken Zeitschrift. Glenn O’Brien: »Interview: Andy Warhol«, in: K. Goldsmith (Hg.), I’ll Be Your Mirror, S. 440–517, hier S. 464. Glenn O’Brien: »GLENN O’BRIEN’S BEAT«, in: Interview (1981), H. 2, S. 58.

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und desto langlebiger müssen diese auch sein. Damit deutet sich in Interview bereits jene Verschränkung von Inhalt und Oberfläche an, die in den Zeitschriften der Achtziger Jahre programmatisch wird. Die Vorbildhaftigkeit von Interview für die deutschen Pop-Zeitschriften der frühen 1980er Jahre ist jedoch nicht nur struktureller Art, sondern lässt auch anhand mehrerer direkter Verweise aufzeigen. Die Interview-Kolumne Glenn O’Brians Glenn O’Brian Beat war etwa Thomas Meinecke zufolge Vorbild für die Autoren von Sounds und Spex. Dies verrät der Herausgeber von Mode & Verzweiflung im Interview mit Max Dax, dem Spex-Chefredakteur der späten 2000er Jahre, der zudem eine Zeitschrift namens Alert herausgab, die dem Konzept von Interview nachempfundenen war.90 Die Sounds-Autoren übernehmen von O’Brian unter anderem auch dessen Stil, nämlich die assoziative Schreibweise, aber auch die Vorliebe der Popjournalisten für Klatsch scheint zum Teil auf Interview zurückzugehen.91 Diese Vorbildfunktion von Interview für der ›Punk‹-Fanzines, Popmusik- und ›Zeitgeist‹-Magazinen der späten 1970er und frühen 1980er Jahre bestätigt sich zudem darin, dass O’Brian mehrfach Gastbeiträge für Sounds und Spex verfasst. In der dritten Ausgabe der ebenso wie Interview großformatigen Zeitschrift Elaste von 1982 findet sich darüber hinaus ein Interview mit Warhol, welches ebenfalls eine Nähe zu Interview anzeigt. Für ein »Gespräch mit dem Publisher der Interview«92 kampieren die Elaste-Herausgeber am Flughafen in Hannover, wodurch es ihnen gelungen sei, Warhol auf seiner Fahrt in die Innenstadt zu begleiten, um ihm ein Exemplar von Elaste zu präsentieren und ihn anschließend zu einem Interview zu bewegen: Wir übereichen Andy Warhol eine Ausgabe der ersten ELASTE. »Oh nice! It’s your magazine?« Bis dahin wussten wir nicht, daß er die ELASTE schon kannte. Auf dem Rücksitz des BMW von Dr. Carl Haenlein, blätterte er seelenruhig im Magazin. Ebenso schleppend ging es stadteinwärts. Manager Fred Hughes und Dr. Carl Haenlein führten den mittlerweile schon 54 Jahre alten Warhol in Tempo 40 durch Hannover. Andy W. blätterte derweil nur in der ELASTE.93 Besagtes Interview findet dann der Redaktion der Elaste zufolge während einer Abendveranstaltung statt, zu der Warhol geladen war. Besonders auffällig ist dabei

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Vgl. Max Dax/Thomas Meinecke [https://www.youtube.com/watch?v=gDy9VFcnSyQ, zuletzt eingesehen am 10.10.2022]. Warhols Beiträge und auch die Bob Colacellos speisen sich vor allem aus dem Klatsch und Tratsch der New Yorker Partyszene. Vgl. zur Affirmation von Klatsch als journalistische Form das Kap. 4.2.4 der vorliegenden Arbeit. Thomas Elsner/Christian Wegner/Michael Reinboth: »Andy Warhol«, in: Elaste (1982), H. 3, S. 30–34, hier S. 32. Ebd.

4. Typografische Oberflächenästhetik: ›Pop‹ und Zeitschriften

die Dynamik, die sich während des Interviews entwickelt, denn Warhol, der eigentlich der Interviewte ist, arbeitet gezielt gegen diese Verteilung der Handlungsrollen an und repositioniert sich mehr und mehr zum Interviewer der Elaste-Herausgeber: WARHOL: Warum bist Du kein Fotomodell?/Andy ist ein begeisterter Interviewer/ ELASTE: ohne Worte/WARHOL: Wann kommt ihr zu uns nach New York? Ihr habt die richtige Ausstrahlung./ELASTE: Danke! Aber New York ist teuer./WARHOL: Wann bist Du auf dem ELASTE-Cover zu sehen?/ELASTE: Ich habe dich auch noch nie auf dem INTERVIEW gesehen.94

Abb. 31: Cover der dritten Elaste-Ausgabe von 1982 (38,3 x 29,6 cm).

Die von Warhol provozierte Umkehrung von Interviewer und Interviewtem geht sogar soweit, dass Warhol verlangt, nicht sein Gesicht auf dem Cover zu zeigen,

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Ebd.

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sondern das von Thomas Elsner, dem interviewenden Elaste-Redakteur. Die Herausgeber kommen Warhols Wunsch jedoch nicht nach. Das Cover der Elaste-Ausgabe zeigt nicht Elsners Gesicht, sondern das von Warhol in Form einer kolorierten Zeichnung – und zwar im Stil der Covergestaltung von Interview, die ebenfalls gezeichnete Porträts der in der jeweiligen Ausgabe interviewten Prominenten zierte (Abb. 31). Darüber hinaus findet sich am Ende der Ausgabe eine mit dem Typosignet der Zeitschrift bedruckte Papierserviette, die von Andy Warhol unterschrieben und mit einem Gruß an Elaste versehen ist: »$ers for ELASTE«.95 Sowohl der von Warhol signierte, eher ungewöhnliche Elaste-Werbeartikel als auch die Warhol’schen Glückwünsche für mehr wirtschaftlichen Erfolg verweisen dabei auf die in Warhol’s Pop Art-Fibel The Philosophy of Andy Warhol formulierte Idee der ›Business Art‹. Anders als ›Art Art‹ begreift diese ihre eigene Vermarktung nicht als notwendiges Übel, sondern als Teil der Kunst: »Business art is the step that comes after Art. I started as a commercial artist, and I want to finish as a business artist. After I did the thing called ›art‹ or whatever it’s called, I went into business art.«96 Hierbei handelt es sich um ein Konzept, dass für die in deutschen Pop-Zeitschriften vorangetriebene Affirmation von konsumästhetischen Paratexten wie Anzeigen und Covers insgesamt Pate stand. Der verlegerische und vermarktende Paratext rückt in der Konsumgesellschaft von den Rändern ins Zentrum der künstlerischen Produktion und Rezeption, wodurch sich eine Verschiebung von Werk und Rahmen respektive Produkt und Werbung vollzieht, welche Thema des folgenden Kapitels sein wird.

4.2.3 Redaktionelle Inhalte vs. Anzeigen: KKG, Elaste, Grüße & Anzeigen Es überrascht nicht, dass die ersten ›Punk‹-Fanzines den Werbeteil der Zeitschriften, mit anderen Worten die Anzeigen, kritisch betrachteten und diese in ihrer eigentlichen Funktion, nämlich zusätzliche Einnahmen für Zeitschriften zu generieren, aus den Fanzines ausschlossen. »FALLS IHR IRGENDWELCHE ANZEIGEN AUFGEBEN WOLLT, SCHREIBT BITTE NUR AN MARY-LOU MONROE. ALLE ANZEIGEN SIND KOSTENLOS«97 heißt es etwa im Editorial der ersten Ausgabe von The Ostrich, dem ersten deutschsprachigen ›Punk‹-Fanzines, das Ende der 1970er Jahre aus dem Dunstkreis der Düsseldorfer ›Punk‹-Kneipe Ratinger Hof 95 96

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Andy Warhol: »Autogramm auf Elaste-Papierserviette«, in: Elaste (1982), H. 3, S. 89. Andy Warhol: THE Philosophy of Andy Warhol (From A to B and Back Again), New York 1975, S. 92. Vgl. zu Warhols Konzept der ›Business Art‹ im Hinblick auf die werbenden Peritexte und Buchoberflächen des deutschen ›Literatur-Pop‹ der 1990er Jahre, Torsten Hahn: »LiteraturPop. Pop als Referenzrahmen literarischer Formen«, in: Schliff (2019), H. 10, S. 136–146. The Ostrich: »Impressum«, in: The Ostrich (1977), H. 1, n.p. Im Editorial selbst bezeichnet sich das Heft noch als »MAGAZINE«, wodurch ersichtlich wird, dass sich die Semantik des Fanzines im ›Punk‹-Milieu der späten 1970er wohl erst sukzessive etabliert. Lou Monroe: »Hi Punks!«, in: The Ostrich (1977), H. 1, n.p.

4. Typografische Oberflächenästhetik: ›Pop‹ und Zeitschriften

hervorging. Die Anzeigen werden so von ihrer eigentlichen Funktion, der Finanzierung der Zeitschrift, entbunden, um den Eindruck zu vermeiden, dass es sich bei The Ostrich selbst um ein Produkt der Konsumgesellschaft handelt, das in die Ströme des Kapitals eingebunden ist. Man antizipiert damit einen für die Zeit nicht unwahrscheinlichen Vorwurf. Denn das linke Musikmagazin Sounds ist Anfang der 1980er Jahre vielfach der Kritik ausgesetzt, der Warenform aufgesessen zu sein, wozu Diedrich Diederichsen 1981 in Sounds Stellung bezieht: »SOUNDS ist abhängig von Anzeigen. Diese werden von einem nicht unerheblichen Teil aus der Schallplattenindustrie akquiriert. SOUNDS hat erwiesenermaßen, zu meiner Zeit jedenfalls, nie sein redaktionelles Konzept von dieser Abhängigkeit beeinflussen lassen.«98 Besonders wichtig scheint Diederichsen zu sein, dass die Trennung zwischen dem Anzeigenteil und dem redaktionellen Teil von Sounds gewahrt bleibt und es keinen Einfluss der Plattenindustrie gibt. Im Gegensatz zu den ›Punk‹-Fanzines und Sounds begegnen die späteren ›New Wave‹-Zeitschriften den Anzeigen dagegen nicht mit Kritik, sondern mit einer ironisch gebrochenen affirmativen Haltung. Die für popkulturelle Artefakte typische Affirmation von Werbung zeigt sich so im Besonderen auch am Beispiel von Werbeanzeigen in Musikzeitschriften.99 Dabei geht es vor allem um die konzeptionelle Integration von Werbung und Marketing in die Sphäre der Kunst und die damit einhergehende Auflösung der Grenze zwischen diesen beiden Bereichen, nämlich zwischen redaktionellen Texten einerseits und werblichen Peritexten wie Anzeigen andererseits. Zentrale Akteure dieses Zusammenhangs sind Michael Schirner und Diedrich Diederichsen mit ihren Werbeagenturen GGK und KKG, die nicht wenige Anzeigen für ihre Agentur in Zeitschriften wie Spex, Elaste und der im New Mag Verlag herausgegebenen TransAtlantik schalteten.100 Dies verrät etwa Schirner in seinem Buch Werbung ist Kunst, das einen Großteil seiner Werbeprojekte und Anzeigenkampagnen resümiert: Bei einigen unserer Anzeigen waren wir unsere eigenen Auftraggeber, was gar nicht so einfach ist, wenn man auf sich hören muss. Es waren Anzeigen, die für die Agentur warben, meist in Zeitschriften, denen wir durch die Anzeigen etwas helfen wollten (Transatlantik, Elaste, Spex etc.). Für Marianne Schmidt, die Herausgeberin von Enzensbergers Transatlantik, machten wir die Anzeige, die nahezu bis auf den Nullpunkt reduziert ist und nicht mehr sagt, als daß diese Anzeige 98

Diedrich Diederichsen: »Von der Industrie bezahlt? Gedanken zu Rock-Session 5 (Sound Diskurs)«, in: Sounds (1981), H. 7, S. 51–53, hier S. 52. 99 Vgl. hierzu auch das Kapitel zur ›(Re)produktion von Konsumzeichen‹ aus K. Steenbock: Zeitgeistjournalismus, S. 162–176. 100 Vgl. zur Geschichte und Bedeutung der von Hans Magnus Enzensberger und Gaston Salvatore herausgegebenen Zeitschrift Kai Sina: TransAtlantik. Hans Magnus Enzensberger, Gaston Salvatore und ihre Zeitschrift für das westliche Deutschland, Göttingen 2022.

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von GGK ist: eine weiße Doppelseite, auf der oben links ganz klein steht »GGKAnzeige«.101 Gerade anhand jener Anzeigen, die nicht von Kunden der Werbeagentur in Auftrag gegeben wurden, zeigt sich der konzeptuelle Ansatz von Schirner, Werbung als Kunst zu begreifen, am deutlichsten. Eine GGK-Anzeige in Elaste besteht komplementär zu der von Schirner erwähnten Anzeige in TransAtlantik aus einer völlig überproportional großen Menge an Werbetext, der zuvorderst Szene-Klatsch enthält.102 Der Text stammt, wie Schirner in Werbung ist Kunst verrät, von seinem damaligen Werbetexter Diederichsen: »Diedrich Diederichsen, mein Texter, mag die Münchener Szene nicht besonders und schrieb einen entsprechenden Anzeigentext […].«103 Diederichsens Text bezieht dabei in erster Linie auf das Editorial der vorrausgegangenen Ausgabe von Elaste: »That was Then, But this is now.« (ABC) »Spaß beiseite.« (Lenin). Soso, Elaste. Das soll also jetzt die »Normalität« sein, die im letzten Heft (Editorial) vollmundig angekündigte? Das soll die derzeit so dringend nötige Weisheit sein? Na ja. Weisheit auf Münchnerich eben. (»Weniger New Wave«, Editorial). Glaube nie einem Münchener, der dem New Wave abschwört. Das können die nämlich gar nicht. Für die wurde New Wave doch erst richtig schön, als sie so einen bunten, unverbindlichen Münchener Charakter bekam, das war für die das Paradies, da mußten die sofort eine Zeitschrift machen. Jetzt verkaufen die zwar eine etwas weniger zänkisch gelayoutete Version von New Wave, weil ja die New Waver auch alle so in die Mittzwanziger gerutscht sind und glauben prompt, sie hätten den eigenen National-Charakter überwunden: die Schwabinger Gutgelauntheit. Das können die uns doch nicht erzählen. Das haben die doch sogar schon selber gemerkt, indem sie sich Klatsch und eine gewisse Lebensart aus Hamburg holen. Aber, um Himmels willen, welche Misogynie als Lebenslüge von Dorau und Kid P. Die Frauen seien alle Verbrecher. So etwas muß einem Schwabinger, der an Frauen die Harmlosigkeit und sonnige Beliebigkeit schätzt, natürlich superexotischgewagt und weit vorn vorkommen. Daneben darf dann die bunte Pop-Welt weitergedeihen oder ihr Gedeihen vortäuschen. Denn nur in München weiß noch keiner, daß ’82 vorbei ist. […] (GGK Düsseldorf).104 Bei besagtem Editorial, auf das Diederichsen sich im Werbetext der Anzeige bezieht, handelt es sich bemerkenswerterweise um dasselbe, auf das auch Rainald

101 M. Schirner: Werbung ist Kunst, S. 154. 102 Vgl. zur Funktion von Szene-Klatsch Kap. 4.2.4 der vorliegenden Arbeit. 103 Ebd. Vgl. hierzu E. Schumacher: »… nur in München weiß noch keiner, daß ’82 vorbei ist«, S. 118. 104 M. Schirner/D. Diederichsen: GGK-Anzeige, S. 54–55.

4. Typografische Oberflächenästhetik: ›Pop‹ und Zeitschriften

Goetz sich in Gewinner und Verlierer bezieht.105 Der Hinweis auf Kid P und Andreas Dorau bezieht sich wiederum auf einen Text der beiden, der sich in eben jener Ausgabe der Zeitschrift abgedruckt findet und der seiner Form nach passenderweise mehr wie eine Anzeige als ein redaktioneller Beitrag gelayoutet ist. Es handelt sich um einen nicht sehr umfangreichen slogan-artigen Text, der sich über eine ganze Doppelseite des Heftes erstreckt. Die Elaste-Redaktion führt die GGK-Anzeige zudem im Inhaltsverzeichnis auf, was für werbende Peritexte unüblich ist und die Gleichrangigkeit von redaktionellem Teil und Anzeigenteil in Elaste wiederum peritextuell unterstreicht: »GGK-Anzeige. D.D. über New Wave und ELASTE«.106 Zudem antwortet die Redaktion wiederum mit einer fingierten Anzeige im selben Heft, wobei sie ironisch auf den Namen der Werbeagentur Bezug nehmen: »Einfach nackt wie Isabelle Adjani + Ursula Andreas + Brigitte Bardot + Senta Berger + Ingrid Bergmann + Claudia Cardinale + Geraldine Chaplin + Joan Collins + Doris Day + Cathrine Debeuve + Bo Dereck + Marlene Dietrich + Diedrich Diederichsen [usw.] [FKK-Anzeige]«.107 Die Polemik richtet sich dabei, wie der Namensreihe der Anzeige zu entnehmen ist, gegen den Werbetexter der Anzeige Diederichsen, dessen Akt sich mit dem von zahlreichen Hollywoodstars messen lassen muss, und tendenziell weniger gegen den Geschäftsführer der Werbeagentur Schirner (wohl weil dieser sich ausdrücklich positiv über das Heft äußerte). Bei einer weiteren in Elaste geschalteten GGK-Anzeige handelt es sich wiederum um das Negativ von besagter TransAtlantik-Anzeige (Abb. 32). Sie besteht aus einer geschwärzten Doppelseite mit klein gedrucktem Werbetext, der sich auf die Nennung des Inserenten beschränkt: »GGK-Anzeige«.108 Indem sie die Werbung auf ihre Form reduziert und auf einen Inhalt verzichtet, negiert sie auch die eigentliche Funktion der Werbung und nähert sich damit der Kunst an, die sich unter anderem durch Autonomie auszeichnet. Den konzeptuellen Ansatz dieser Unternehmungen GGKs formuliert Schirner wiederum während einer Jury-Diskussion des Art Directors Club-Preises für das interessanteste Zeitschriftendesign, bei dem Elaste den ersten Platz belegte, die sich in Teilen in der zusammengelegten zwölften und dreizehnten Ausgabe der Elaste abgedruckt findet.109 Darin zählen Schirner und der Kunsthistoriker Bazon Brock verschiedene Gründe für die Auszeichnung von Elaste auf, wobei die bereits erwähnte Entdifferenzierung von ›Anzeigenteil‹ und ›redaktionellem Teil‹ eine besonders zentrale Rolle einnimmt:

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Vgl. Kap. 3.2.1 der vorliegenden Arbeit. Elaste: »Inhaltsverzeichnis«, in: Elaste (1984), H. 8/9, S. 13. Elaste: »FKK-Anzeige«, in: Elaste (1984), H. 10, S. 15. M. Schirner/D. Diederichsen: GGK-Anzeige. In Elaste findet sich wiederum eine Anzeige für das ADC-Jahrbuch, vgl. Art Directors Club: »ADC-Jahrbuch«, in: Elaste (1985), H. 12/13, S. 12.

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Brock: Die drei anderen vorgeschlagenen Objekte sind einer neuen Kategorie von Zeitungen und Zeitschriften zuzurechnen, von denen es ja viele gibt, und von denen ELASTE eines der führenden ist. Es sind konsequente Medien insofern, als in ihnen zwischen redaktionellem Teil und Anzeigenteil kein Unterschied gemacht wird.110

Abb. 32: GGK-Anzeige in der Juli-Ausgabe der Elaste von 1983.

Hervorgehoben wird an Elaste demnach vor allem das Unterlaufen der Differenz von redaktioneller Tiefe und werbender Oberfläche.111 Die Herausgeber von Elaste nehmen darauf wiederum in ironischer Weise Bezug, wenn sie das Editorial des Heftes, in dem die Unterredung der Preisverleihung erscheint, als »REDAKTORIAL«112 betiteln und so noch einmal ihren redaktionellen Beitrag zum Heft hervorheben. Auch die Zeitschrift Grüße & Anzeigen, die wie Elaste aus München stammt, aber nicht über die so genannte Nullnummer hinauskam, mit der im Allgemeinen die Pilotausgabe einer Zeitschrift bezeichnet wird, die dazu dient, den Markterfolg eines Zeitschriftenkonzepts abzuschätzen, basiert auf diesem Konzept, worauf schon

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Michael Schirner: »Werber«, in: Elaste (1984), H. 8/9, S. 94. Schirner wiederum führt den Ursprung dieser Idee auf ein New Yorker Zeitschriftenprojekt zurück, nämlich den Manhattan-Katalog: »Schirner: Ein Musterbeispiel für das Konzept dieser Hefte gibt es seit Jahren in New York. Das ist der MANHATTAN-KATALOG. Der einzige redaktionelle Beitrag im Blatt ist das Vorwort des Herausgebers. Er schreibt, er hätte sich entschieden, die Redaktion endlich herauszulassen, weil es sehr, sehr viel Interessanteres gäbe, nämlich Anzeigen und diese Anzeigen sind das Heft.« (Ebd., S. 94). Elaste: Redaktorial, S. 13.

4. Typografische Oberflächenästhetik: ›Pop‹ und Zeitschriften

der Titel hinweist. Die Zeitschrift beinhaltet ausschließlich ›Grüße‹ und ›Anzeigen‹ und kommt gänzlich ohne redaktionelle Inhalte aus. Neben den Anzeigen und Grüßen, von denen eine Anatol Nitsches Remake von Warhols Lonesome Cowboys mit Rainald Goetz in einer der Rollen bewirbt, beinhaltet Grüße & Anzeigen zudem eine weitere Zeitschrift, nämlich die von Goetz herausgegebene Ausgabe von Der Sprengreiter.113 Goetz’ Beteiligung an dem Zeitschriftenprojekt deutet dabei nicht zuletzt darauf hin, dass auch dieser an der darin propagierten Auflösung der Grenze zwischen Text und werbendem Paratext interessiert zu sein scheint. Auch über seine Mitarbeit an Grüße & Anzeigen hinaus zeigt sich bei Goetz ein Interesse am WerberDasein und insbesondere den werbenden Paratexten der Literatur. In seinem ersten Artikel in der Spex Gewinner und Verlierer erwähnt er beispielsweise Schirners Werbeagentur GGK114 und in den Bildbeigaben zu Das Polizeirevier lässt der autofiktionale Erzähler des Textes recht unvermittelt verlauten, »[l]ieber […] ein erfolgreicher Werbetexter«115 als ein Schriftsteller zu sein. Darüber hinaus erweitert Goetz seine Werkherrschaft als Autor dezidiert um die werbenden Epitexte seiner Literatur. 1986, im gleichen Jahr, in dem Goetz’ erster Text in der Spex erscheint, findet sich ebenso eine Werbeanzeige des Suhrkamp-Verlags für Krieg und Hirn in der Spex, die im übertragenen und literalen Sinne die Handschrift des Autors trägt (Abb. 33).

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Vgl. hierzu vor allem Kap. 4.1.1 der vorliegenden Arbeit. R. Goetz: Gewinner und Verlierer, S. 42. R. Goetz: Das Polizeirevier, S. 237.

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Abb. 33: Anzeige des Suhrkamp Verlags in der September-Ausgabe der Spex von 1986 für Rainald Goetz’ Krieg und Hirn.

4. Typografische Oberflächenästhetik: ›Pop‹ und Zeitschriften

Besagte emblematisch aufgebaute Anzeige besteht aus dem handschriftlich verfassten Titel des darin beworbenen Werks, einem in einer serifenlosen Type gesetzten Werbetext und den üblichen Informationen zu Autor, Verlag und Buchpreis sowie einer Zeichnung, die von der folgenden darunter gesetzten in handschriftlichen Versalien gedruckten Bildbeschreibung eingefasst wird: »ICH HÄLT WELT«.116 Die Phrase verweist auf das Motiv der Zeichnung, die einen Körper darstellt, der eine Kugel auf den Schultern trägt, und präzisiert diese insofern, als dass es sich dabei um eine Weltkugel handelt. Das Motiv verweist dabei auf den griechischen Mythos des Titanen Atlas, der der griechischen Mythologie nach die Welt auf seinen Schultern trug. Zeichnung und Ekphrasis verbinden zudem den werbenden Peritext mit einem Text von Goetz und damit das Werk mit dem Beiwerk. In Goetz’ Text Der Attentäter, der zunächst in der Spex und ein weiteres Mal in Hirn erscheint, findet sich nämlich eine ganz ähnliche Zeichnung, mit einer ebenso ähnlichen Formel untertitelt: »WELT/FORMEL/ICH«.117 Darüber hinaus erinnert die Zeichnung dem Stil nach stark an Goetz’ Bildbeigaben zu Irre, wodurch auch bei Goetz ein Unterlaufen der Differenz von Werk und werbenden Rahmen erkennbar wird. Dies bestätigt sich zudem in dem unterhalb der Zeichnung zu findenden Werbetext, der stilistisch kaum von Goetz’ dramatischen Texten, die dieser bewerben soll, zu unterscheiden ist. Insbesondere die dialogische Form des Textes, der wie ein Selbstgespräch über die Bedeutung des Theaters um 1980 anmutet, scheint mehr der dramatischen Textsammlung Krieg, die dieser bewirbt, zu entsprechen, als der Form eines Werbetextes. Auch handelt es sich nicht um einen Auszug aus einem der dramatischen Texte, die die Textsammlung Krieg zusammenfasst. In jedem Fall hat man es mit einem äußerst unkonventionellen Werbetext zu tun, der mehr ein poetologisches Interesse zu verfolgen scheint, als das er beabsichtigen würde, einen rhetorischen Werbeeffekt beim Leser der Anzeige zu erzielen, – wobei wiederum eine paradoxe Figur entsteht, insofern ein solcher Werbeeffekt gerade auch durch einen Bruch mit den Stilkonventionen von Anzeigentexten erreicht werden kann: –WARUM KRIEG?/– ICH HABE PLÖTZLICH EINEN FRÜHEREN GERUCH GEROCHEN./–LEIBER?/– BÜHNE, MODER, FINSTERNIS./– DIE GESCHICHTE?/– REVOLUTION UND TOTSCHLAG./– WELCHE KUNST?/– ICH STEHE UNTER AUFSICHT./– WER SPRICHT?/– DER ERSTE./– WAS IST THEATER?/– TOD.118 Erst weiter unten findet sich dann der informative Teil der Anzeige, in dem über Autor, Titel, Genre, Umfang, Verlag und Distribution der Bücher berichtet wird: »Rainald Goetz/KRIEG Stücke/HIRN Schrift Zugabe/es 1320. 2 Bände. DM 28,–/edition

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Suhrkamp: »Krieg-Anzeige«, in: Spex (1986), H. 9, S. 63. R. Goetz: Hirn, S. 171. Suhrkamp: Krieg-Anzeige, S. 63.

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suhrkamp/In allen Buchhandlungen«.119 Der über die verschiedenen Text- und Bildelemente sowie nicht zuletzt die Handschrift des Autors, die auch in seinen literarischen Publikationen vorzufinden ist, mit Goetz’ Werk verschaltete Teil der Anzeige überwiegt aber klar diesen informativen Part. Die Anzeige ist so Ausgangspunkt einer Reihe weiterer Anzeigen, in die der Autor selbst involviert sein wird, und auf die an anderer Stelle der Arbeit noch einmal eigens eingegangen wird.120

4.2.4 Klatschspalten und Pop: März, Kid P, Jäger & Sammler Als Andy Warhol in einem Interview mit George Gruskin nach seinen Leseeinflüssen gefragt wird, nennt Warhol weder literarische noch theoretische Texte, sondern Klatschkolumnen: »I read the gossip columns . . .«121 erwidert dieser seinem Interviewer, was keineswegs ironisch oder polemisch gemeint ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Warhols Interesse an Klatschspalten ist genuin und zeugt von einer strukturellen Verwandtschaft von Klatsch und Pop Art, die mit der Vorliebe beider für Oberflächlichkeit zusammenhängt. Pop Art priorisiert visuelle Oberflächen gegenüber hermeneutischen Tiefen und Klatsch behauptet, private Einblicke in das Leben populärer Menschen zu ermöglichen, also eine intime Tiefe herzustellen, um dabei nur glatte Oberflächen zu produzieren.122 Zudem interessiert sich nicht nur die Kunst der 1960er Jahre für Klatschspalten, sondern ebenso auch die Medientheorie. So behaupten etwa Marshal McLuhan und Quentin Fiore in The Medium is the Massage, das an der Klatschspalte als Form die Signatur der Medienlandschaft der 1960er Jahre ablesbar sei: The older, traditional ideas of private, isolated thoughts and actions – the patterns of mechanistic technologies – are very seriously threatened by new methods of instantaneous electric information retrieval, by the electrically computerized dossier bank – that one big gossip column that is unforgiving, unforgetful and from which there is no redemption, no erasure of early »mistakes«. We have already reached a point where remedial control, born out of knowledge of media and their total effects on all of us, must be exerted. How shall the new environment be programmed now that we have become so involved with each other, now 119 Ebd. 120 Vgl. Kap. 6.2 der vorliegenden Arbeit. 121 George Gruskin/Andy Warhol: »Who Is This Man Andy Warhol«, in: K. Goldsmith (Hg.), I’ll Be Your Mirror, S. 379–442, hier S. 397. 122 Dabei überträgt man die Klatsch- und Tratsch-Inhalte der Boulevardzeitungen in das Format der Pop-Zeitschrift. Vgl. zum Boulevard-Journalismus insbesondere Steffen Burkhardt: »Boulevard-Journalismus«, in: Siegfried Weischenberg/Hans J. Kleinsteuber/Bernhard Pörksen (Hg.), Handbuch Journalismus und Medien, Konstanz 2005, S. 31–35; Johannes Raabe: »Boulevardpresse«, in: Hans-Bernd Brosius/Günter Bentele/Otfried Jarren (Hg.), Lexikon Kommunikations- und Medienwissenschaft, Wiesbaden 2013, S. 33–34..

4. Typografische Oberflächenästhetik: ›Pop‹ und Zeitschriften

that all of us have become the unwitting work force for social change? What’s that buzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzing?123 Die Klatschspalte repräsentiert so pars pro toto die Form der Gesellschaft der 1960er Jahre, die über ihre elektronischen Leitmedien definiert wird. Die Akzeleration von sozialer Kommunikation durch elektronische Medien kulminiert in einem permanenten Rauschen, das dann gar kein Soziales mehr zu lässt und den Raum des Privaten gänzlich nivelliert. Was bleibt, ist allgegenwärtige Öffentlichkeit. Auch im Zuge der Oberflächenaffirmation im ›New Wave‹ der 1980er Jahre avanciert Klatsch zu einer zentralen Größe. Die folgenden Ausführungen begrenzen sich dabei auf die Zeitschriften-Rubrik der Klatschspalte und können Klatsch als soziale Kommunikationsform nur am Rande behandeln, was in der Soziologie aber auch schon vielfach geschehen ist.124 Ein Einfallstor in diesen Diskurs über Klatsch und insbesondere Klatschspalten in der Popkultur in Deutschland seit 1960 bietet Diedrich Diederichsens Analyse der Popszene der 1980er Jahre Sexbeat. So widmet Diede123 M. McLuhan/Q. Fiore: The Medium is the Massage, S. 12. 124 Für Pierre Bourdieu ist Klatsch beispielsweise ein subversiver Sprechakt machtloser Subjekte, über welchen auf Umwegen machtvoll, das heißt wirklichkeitsbeeinflussend gesprochen werden kann: »Kein sozialer Akteur, der nicht auch im Rahmen seiner Möglichkeiten Anspruch darauf erhöbe, zu benennen und benennend die Welt zu gestalten: Klatsch, Verleumdung, Beleidigungen, Elogen … entsprechen – nur eben in der kleinen Münze des Alltags – jenen feierlichen Kollektivakten der Ernennens, Feierns oder Verurteilens, die den allgemeinen anerkannten Autoritäten obliegen.« (Pierre Bourdieu: Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches, Wien 1990, S. 71). Ein Bezug zu den Autoren der frühen, subversiven ›Punk‹-Fanzines und zu Kid P, der erstmals in Leserbriefen an Sounds, also aus einer schwachen Autorenposition heraus, mit Klatsch und Tratsch auf sich aufmerksam machte, wäre hier aber durchaus möglich. Niklas Luhmann hingegen vermerkt in seinem Zettelkasten folgende Notiz, in der er das Gerücht und den Klatsch funktional zunächst gleichbehandelt: »19,4b9 Für den Begriff des Gerüchtes bzw. des Klatsches ist es unwesentlich, ob die mitgeteilten Gehalte wahr sind oder nicht; es kommt lediglich darauf an, ob sie authentisch sind oder nicht.« (Niklas Luhmann: ZK I Zettel 19,4b9, in: ders.: Digitalisierter Zettelkasten. Niklas Luhmann Archiv [https://niklas-luhmann-archiv.de/bestand/zettelkasten/zettel/ZK_1_NB_19-4 b9_V, zuletzt eingesehen am 19.10.2013]). Luhmann zufolge handelt es sich bei Klatsch insofern um Kommunikation, die zunächst, ähnlich wie Literatur, nicht auf Wahrheit verpflichtet ist, jedoch auf Authentizität. Pop-Kommunikation hingegen zeichnet sich vor allem dadurch aus, die Kategorie des Authentischen ironisch auszuhöhlen und auch der Klatsch korrumpiert sozusagen seine ihm angedachte Form und versucht weder wahre noch authentische Aussagen zu formulieren. Vgl. zur Sozialform des Klatsches insbesondere Jörg R. Bergmann: Klatsch. Zur Sozialform der diskreten Indiskretion, Berlin/Boston 2022; und zur Wechselbeziehung von Klatsch und Literatur Gerhard Kurz: Klatsch als Literatur, Literatur als Klatsch, in: Wolfgang Braungart (Hg.): Kitsch. Faszination und Herausforderung des Banalen und Trivialen, Berlin/Boston 2002, S. 71–82; und zur literarästhetischen Dimension des Indiskreten seit 1960 Johannes Franzen: Indiskrete Fiktionen. Theorie und Praxis des Schlüsselromans 1960 – 2015, Göttingen 2018.

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richsen dem Klatsch in Sexbeat ein eigenes Kapitel,125 in dem er die Geschichte von Klatsch als Zeitzeuge konzise zusammenfasst und zugleich einer materialistischmarxistischen Lesart unterzieht: Einer der ersten, der konsequent private Informationen über Kulturbeteiligte in die Öffentlichkeit geschafft hat, war der Verleger Jörg Schröder, der in seinen Büchern ›Siegfried‹ und ›Cosmic‹ sowie in mehreren Beiträgen der von ihm herausgegebenen Anthologie ›Mammut‹ genau und unter Nennung voller Namen schildert, wie sein Leben als Verleger und interessierter Zeitgenosse, von allen möglichen Dubiositäten und Lebenslügen, verklärten Ungereimtheiten und dialektisch ineinandergreifenden, persönlichen wie strukturell motivierten Wahrheitsunterdrückungsmechanismen gekreuzt wird. In der Zeitschrift »Sounds«, für die ich zeitweilig als Redakteur arbeitete, führte ein junger Journalist, der als Kid P. schrieb, die Methode ein, die Verlautbarungen der anspruchsvollen Popstars mit ihren privaten Schmutzigkeiten zu konfrontieren, kurz darauf wurde Klatsch in ganz Hipland entdeckt: »Elaste« hielt sich mit Szeneklatsch über Wasser, Stadtzeitschriften publizierten Klatschspalten, die im selben Maße harmloser wurden, wie ihre Funktion vom Verbreiten unterdrückter Wahrheiten zum Erwähnen vollständiger Namen möglichst der kompletten Leserschaft. Ganz am Schluß hat dann sogar »konkret« eine Klatschspalte veröffentlicht, eine Art linker »Small Talk«, deren Brisanz ebenfalls nie an die von Gremliza oder »titanic« zitierten Fundstücke bereits veröffentlichter Peinlichkeiten heranreichte.126 Jörg Schröders Siegfried handelt zuvorderst von Schröders Zeit als Werbegrafiker bei Kiepenheuer & Witsch und Verlagsleiter bei Melzer sowie von der Gründung der deutschen Dependance von Olympia Press durch Schröder.127 Auch in Cosmic findet sich größtenteils Klatsch, beispielsweise über einen für TransAtlantik geschriebenen

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Diedrich Diederichsen: Sexbeat, Köln 2010, S. 152. Vgl. zur Funktion von Klatsch in der ›Punk‹Szene der 1980er Jahre auch A. Geisthövel: Böse Reden, fröhlich leiden, S. 388. D. Diederichsen: Sexbeat, S. 152. Vor dem Hintergrund der Marx’schen und Althusser’schen Kapitalismuskritik interpretiert Diederichsen, wie bereits aus dem vorangegangenen Zitat ersichtlich wird, Klatsch als Instrument zur dialektischen Überwindung der kapitalistischen Widersprüche und damit zur Demontage des gesellschaftlichen Überbaus: »Nur wer also eine materialistische Moral beherzigt, kann Klatsch richtig einsetzen, nur als materialistische Waffe ist er tauglich.« (Ebd.) Daher interessiert ihn auch weniger der Szeneklatsch, sondern der Klatsch der Verlagshäuser und anderer machtvoller Institutionen des Kulturbetriebs. (Ebd., S. 154). Der Verlag veröffentlicht vor allem pornografische Literatur, was sich im Falle Schröders nicht bloß auf ökonomische Beweggründe reduzieren lässt, sondern ebenso dem (pop-)kulturellen Zeitgeist entspricht. Ungefähr zeitgleich formuliert Leslie Fiedler seine Thesen zur Pornografie als neue Form der Literatur, die sich nicht ohne Grund in März Texte 1&2 wieder abgedruckt finden. Vgl. L. A. Fiedler: Überquert die Grenze, schließt den Graben!, S. 673–697.

4. Typografische Oberflächenästhetik: ›Pop‹ und Zeitschriften

Klatsch-Artikel – in diesem Sinne Klatsch zweiter Ordnung – über einen kommunalen SPD-Verbund, dem Schröder zeitweise angehörte. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, wie Schröder die TansAtlantik allein wegen ihrer typografischen Oberfläche abwertet: »Das Heft kam an, dieses TRANSATLANTIK mit dieser komischen New Yorker Gebrauchsgraphik auf dem Titel, mein Autorenexemplar, und ich habe es durchgeblättert, auch ein bisschen darin gelesen, meine Sache gelesen – das Ding ist langweilig von vorne bis hinten, und ich fand auch mein Ding langweilig, muß wohl auch am Medium liegen.«128 Darüber hinaus finden sich in der zweiten, knapp fünfzehn Jahre nach der ersten Ausgabe der von Schröder herausgegeben März Texte, wie auch schon am Rande in Siegfried, einige Klatschgeschichten über Rolf Dieter Brinkmann. In erzählt: SO-JA-BOHNEN berichtet Schröder etwa von einigen Peinlichkeiten des Autors bei einer Lesung, bei der Brinkmann sein in März Texte 1 erschienenes Gedicht ›Vanille‹ vortrug.129 Am Beispiel von Schröders KlatschBüchern, der zeitweise als Verleger von Brinkmann und Rygulla einige zentrale Texte des 1960er-›Pop‹ herausgab, wird so deutlich, dass sich die Traditionslinie vom ›Pop‹-Literaturdiskurs der 1960er Jahre bis in den der 1980er auch im Falle dieses Teilbereichs, nämlich: Klatsch, nachzeichnen lässt. Die Sounds-Artikel von Kid P, mit bürgerlichem Namen Andreas Banaski, thematisieren in erster Linie den Szene-Klatsch deutscher Großstädte der frühen 1980er Jahre und haben die Funktion, die verschiedenen Stadt-Szenen des nicht zentralistisch organisierten Deutschlands miteinander zu vernetzen.130 Ausgangspunkt von Kid P’s Szene-Klatsch sind bemerkenswerterweise jedoch nicht Kid P’s Artikel in Sounds, sondern frühe Leserbriefe, in denen er vor allem Klatsch über SoundsAutoren verbreitet, noch bevor er selbst Autor von Sounds ist. Banaski nutzt diese Zeitschriften-Rubrik als Einfallstor, um sich in das Blatt hineinzuschreiben. Dabei deutet sich zudem bereits an, worum es bei dieser Szene-Variante des Klatsches geht, nämlich anzuzeigen, dass man zum inneren Kreis der Szene gehört. Über den Sounds-Autor Hans Keller schreibt er etwa: »Wann kommt endlich in der SOUNDS Hans Keller als Starschnitt, in voller Größe (1,55m), mit seinem Gigolobärtchen, dekolletiertem T-Shirt, schwarzen Handschuhen!!«131 Einem Artikel Diederichsens 128 129

Jörg Schröder/Uwe Nettelbeck: Cosmic, Berlin/Schlechtenwegen 1982, S. 55. Jörg Schröder: »erzählt: SO-JA-BOHNEN«, in: Jörg Schröder (Hg.), Mammut. März Texte 1&2 1969–1984, Herbstein 1984, S. 439–453, hier S. 447. 130 Kid P: »Die Wahrheit über Hamburg!«, in: Sounds (1982), H. 5, S. 28–30; Kid P: »Neues und Böses über Düsseldorf«, in: Sounds (1981), H. 1, S. 14–15. Der Zusammenhang von Klatsch und literarischen Netzwerken im Pop-Diskurs 1980er Jahre in Deutschland weist dabei strukturelle Ähnlichkeiten zum Zusammenhang von literarischen Netzwerken und Polizei im Paris des 18. Jahrhundert auf, wie ihn Robert Darnton nachgewiesen hat, vgl. Robert Darnton: Poesie und Polizei. Öffentliche Meinung und Kommunikationsnetzwerke im Paris des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 2002. 131 Kid P: »Leserbrief«, in: Sounds (1982), H. 2, S. 4.

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wirft er vor, bloßer »›Schaubuden‹-Klatsch« zu sein, bevor er eben jene Strategie auf den Autor selbst anwendet: »PS. Diedrich Diederichsen, der sonst nur rumläuft wie ein Bahnhofspenner, ist zum Grace-Jones-Interview im weißen Anzug gegangen«.132 Es geht insofern zuvorderst um In- und Exklusion, weswegen Klatsch aus kultur- und literatursoziologischer Sicht als Instrument des Kulturkampfes begriffen werden kann, der über die Verteilung von kulturellem und symbolischen Kapital entscheidet. Dies betont auch Thomas Meinecke, wenn er rückblickend in seiner vorgezogenen, bereits 1986 in der Zeitschrift Wiener erschienenen Retrospektive der Achtziger Das waren die Achtziger Jahre auf die »Strategie des Klatsches«133 bzw. die »Propagandawaffe Klatsch« zu sprechen kommt, die die »Bildung immer engerer In-Zirkel (Jäger und Sammler)«134 forciere. Jäger & Sammler hieß die Klatschspalte von Elaste, die anfänglich noch unter dem Titel Local Shit erscheint, ab der 10. Ausgabe dann unter dem finalen Titel. Der Bezugsradius der Klatschspalte des Münchener Magazins weitet sich von der ersten bis zur vierten bzw. fünften Ausgabe sukzessive von anfänglich wenigen deutschen Städten schnell flächendeckend auf ganz Deutschland aus. Diese zunehmende Bedeutung spiegelt sich auch in der äußeren Aufmachung der Klatschspalte, bei der es sich anfänglich um einige Seiten im hinteren Teil der Hefte handelte. Ab der Ausgabe 8/9 handelt es sich dann um ein ›eigenes Heft im Heft‹ in Elaste, das sich durch ein wesentlich schmaleres Format vom Rest der Zeitschrift abhebt – mit Ausnahme der elften Ausgabe von Elaste, in der Jäger & Sammler wieder in klassischer Weise als Klatschspalte gelayoutet ist. Wenig überraschend finden sich die meisten Einträge zu bekannteren Autoren und Charakteren der Szene. Beispielhaft wären hier Diedrich Diederichsen, Albert Oehlen und allen voran Rainald Goetz, dessen Erfolg mit Irre in der Pop-Szene nicht unbemerkt bleibt. So heißt es, um nur einige Klatschartikel aus Jäger & Sammler beispielhaft herauszugreifen, in der elften Aausgabe der Elaste von 1985: »Diedrich Diederichsen in Düsseldorf, Albert Oehlen in Düsseldorf, Rainald Götz in town – Hamburgs Provinzialismus wird nicht erträglicher.«135 In der siebenten Ausgabe der Elaste aus dem Jahr 1983 findet sich folgendes Zitat: »Diederichsens Langzeitfreundin NICKI vertrieb sich die Zeit mit REINALD (›Promovierter Igel-New-Waver‹) GOETZ […]«.136 Und in der vierzehnten Ausgabe richtet sich der Klatsch nicht nur gegen Goetz, son-

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Kid P: »Leserbrief II«, in: Sounds (1981), H. 12, S. 4. Thomas Meinecke: »Das waren die achtziger Jahre«, in: Wiener (1986), H. 5, S. 122–123, hier S. 123. Ebd. Alf T./Kai K.: »Jäger & Sammler [Hamburg]«, in: Elaste (1985), H. 11, S. 52–59, hier S. 53. Manfred Bruch: »Jäger & Sammler [Hamburg]«, in: Elaste (1983), H. 7, S. 46–47.

4. Typografische Oberflächenästhetik: ›Pop‹ und Zeitschriften

dern zugleich auch gegen die Konkurrenz Spex: »Das Verdauungsdenken/RAINALD GOETZ (er kann inzwischen auch in die Spex scheissen und die drucken es)«.137 Obwohl sich die Hochphase dieser speziellen Form des Klatsches auf die frühen 1980er eingrenzen lässt, finden sich mitunter auch später noch Rückverweise, wie zum Beispiel bei Maxim Biller, der 1987 in Tempo, ähnlich wie Kid P vor ihm, die Münchener Szene in den Blick nimmt. Dabei ist bemerkenswert, dass Klatsch zugleich Form wie auch Sujet des Biller’schen Textes ist: Kommen wir nun zu einer in München besonders ausgeprägten menschlichen Eigenschaft: der Klatschsucht. So heißt es, daß der genialische Schriftsteller Rainald Goetz (»Irre«), Träger des seinerzeit noch vom CSU-Stadtrat verliehenen und angenommenen 8000 Mark schweren Literaturpreises, es heißt, daß dieser Rainald Goetz (der sich für diese Reportage als Gesprächspartner zu schade war) während der Dreharbeiten zu Anatols Vergewaltigungsszene dem geschändeten Mädchen während des Aktes mächtig den Hintern auspeitschte. Das habe ihm zunächst viel Freude gemacht, aber als er wieder ausgenüchtert war, bekam er einen Heulkrampf.138 Mit Anatol ist wohl Anatol Nitsche gemeint und besagte Szene bezieht sich auf Nitsches Anfang der Achtziger produziertes Remake von Warhols Lonesome Cowboys, bei dem Rainald Goetz als Schauspieler involviert ist. Dass Klatsch als Kulturtechnik nur innerhalb dieses besonderen historischen Rahmens funktioniert und verstanden werden kann, lässt sich etwa auch daran ablesen, dass Biller und sein Lektor sich dagegen entschieden, besagte Passage über Goetz in der Buchveröffentlichung von Billers Tempotexten Die Tempojahre erneut abzudrucken.139 An anderer Stelle, in einer Bücher-Rezension in Elaste, in der Biller unter anderem auf die von Peter Glaser herausgebende Anthologie Rawums zu sprechen kommt, thematisiert er Klatsch darüber hinaus als literarisches Stilmittel. Die darin befindlichen Texte bestünden zuvorderst aus »sehr, sehr viel Klatsch«140 und dieser sei nichts anderes als eine sich aus den Klatschspalten der Boulevardzeitschriften herschreibende Form des literarischen Realismus: »Sie pflegen den plattesten Realismus, der über das Allgemeine im Besonderen einer Klatsch-Kolumne nicht hinaus kommt […].141 In derselben Bücherrezension in Elaste kommt Biller auch noch einmal auf Rainald Goetz zu sprechen und holt zu diesem sogar Klatsch aus dem Archiv hervor:

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Franz Uhlfelder: »Jäger & Sammler [München]«, in: Elaste (1985), H. 14, S. 43–50, hier S. 45. Maxim Biller: »München. Eine Stadt hat Fieber«, in: Tempo (1987), H. 6, S. 100–109, hier S. 107–108. 139 Vgl. Maxim Biller: »München – Eine Stadt hat Fieber«, in: Die Tempojahre, München 1992, S. 31–43. 140 Maxim Biller: »Bücher«, in: Elaste (1984), H. 10, S. 106–107, hier S. 107. 141 Ebd.

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Die Goetz-Welle rollt unaufhaltsam weiter. Deshalb habe ich für ELASTE-Leser ausgegraben: Rainald Goetz’ erste und ultimative Autobiographie. Im Jahre 1978 erscheint das Kursbuch 54 zum Thema Jugend, auf dem roten Umschlag, laut Impressum, das Foto des bärtigen ›Alfred von der roten Grütze‹. Innen der dreizehnseitige Aufsatz Der macht seinen Weg von Rainald Goetz (Rotbuch, DM 8.-). Allen, die über den ungewohnten zweiten Vornamen stolpern, sei versichert, hier schreibt kein andrer als SPEX-Goex […].142 Der letzte Satz spielt darauf an, dass Goetz den Text noch unter seinem vollen Namen Rainald Maria Goetz publizierte. Anhand des von Biller für Goetz gewählten Pejorativums ›SPEX-Goex‹ verdeutlicht zudem noch einmal die intrikate Verwobenheit von Publikationsort und Autorschaft der frühen in Spex publizierten Texte von Rainald Goetz. Ende der 1980er Jahre beginnt zudem auch Christian Kracht für Tempo zu schreiben und in seinen frühen Beiträgen finden sich mehrere Verweise in die frühen Achtziger. In seinen ersten Jahren bei der Zeitschrift schreibt er beispielsweise zahlreiche Plattenrezensionen zu Neuerscheinungen von Bands der frühen 1980er Jahre, wie etwa den Pet Shop Boys,143 die Kracht als letzte Stimme des ›New Wave‹ hochhält, XTC144 und nicht zuletzt F.S.K. Kracht knüpft dabei nicht nur dem Inhalt nach an den Popdiskurs der Achtziger an, sondern ebenso der Form nach, insofern seine Äußerungen über den F.S.K.-Sänger und Mode & Verzweiflung-Herausgeber Thomas Meinecke stark an den polemischen Klatsch der Achtziger Jahre erinnern: Ein Mann hat einen Traum: Ich muß alles verbinden, sagt er im Traum, alles aufschreiben, alles vernetzen. […] Jetzt kommen Gestalten auf ihn zu: […] Diedrich Diederichsen. […] Der Mann, der da so träumt, ist Thomas Meinecke, Chef der deutschen Band FSK. Dieser Mann ist dick. Dieser Mann ist eines der letzten deutschen Genies.145 142 143 144 145

Ebd., S. 106. Christian E. Kracht: »Pet Sop Boys: Behaviour«, in: Tempo (1990), H. 10, S. 146. Christian Kracht: »XTC: Nonsuch«, in: Tempo (1992), H. 4, S. 131. Christian Kracht: »FSK. The Sound Of Music«, in: Tempo (1993), H. 10, S. 154–155. Die meisten von Krachts frühen Beiträgen für Tempo sind großformatige Bildreportagen, deren Text-BildVerhältnis sich manchmal so sehr zur Seite des Bildes und des Layouts verschiebt, dass sich die Texte fast ihrem Nullpunkt nähern. Bei Krachts erstem Beitrag Die schärfsten 99 Teenager, den er zusammen mit Moritz von Usler und Jochen Siemens verfasst, handelt es sich – mit implizitem Verweis auf The Who’s The Kids are alright – um ein Lob der vermeintlich so oberflächlichen Jugend, das von den Autoren dabei nicht ganz zufällig in die für Pop-Musik so zentrale Form der Charts gebracht wird. Andere Rezensionen, Interviews und Artikel deuten wiederum bereits auf die literarische Textproduktion Krachts voraus. Kracht bespricht und interviewt etwa Momus, dem er später Der gelbe Bleistift widmen wird. Zudem finden sich zahlreiche Comicrezensionen, welche in den Romanen Krachts als Intertexte mitunter eine nicht unwesentliche Rolle spielen. Darüber hinaus schreibt Kracht Reisereportagen, die sich

4. Typografische Oberflächenästhetik: ›Pop‹ und Zeitschriften

Es handelt sich dabei jedoch, ähnlich wie Falle Billers Äußerungen zu Goetz, weniger um eine Abwertung Meineckes als vielmehr um ein Zitat, und damit einen Rückverweis in die Zeitschriften-Diskurse der frühen 1980er. Kracht zitiert die Form des Klatsches und setzt damit implizit auch eine spezifische Rezeptionsweise voraus, die das hier betriebene body shaming, um einen gegenwärtigen Begriff zu verwenden, in Anführungszeichen setzt und ironisch bricht.

4.3 Zeitgeist groß aufgelegt: Layout- und Formatnormierung in Spex, Wiener, Tempo In einem YouTube-Videointerview von 2017 nennt Thomas Meinecke, während er durch verschiedene Ausgaben von Mode & Verzweiflung blättert, den damaligen Grund für die Einstellung der Zeitschrift: »Es kamen 1986 die Zeitschriften Tempo und Wiener auf und da wurde uns klar, dass unsere Aufgabe sozusagen eigentlich erledigt war. Wir mussten jetzt irgendwie anders weitermachen. Wir müssen auch klar machen, dass natürlich mit post-links, wie wir es praktizierten, auf jeden Fall links gemeint war.«146 Meinecke zufolge, der selbst für kurze Zeit Redakteur bei der Lifestyle-Zeitschrift Wiener war, sich jedoch, wohl aus den oben genannten Gründen, schnell wieder von der Zeitschrift distanzierte, führte die »ewige Steilkurve des Lifestyle«147 in besagten Zeitschriften demnach notwendigerweise zur eigenen Aushöhlung. Ironischerweise formulierte Meinecke diese Beobachtung in Wiener, zum Teil auch in Der gelbe Bleistift wieder abgedruckt finden und ein kurzer Bericht über die Party-Szene Sylts scheint Ausgangspunkt von Krachts Debütroman Faserland zu sein. Christian E. Kracht/Moritz von Uslar/Sonny Milani: »Steile Nacht, heilige Nacht«, in: Tempo (1989), H. 12, S. 134; Christian E. Kracht: »Sex & Hopp«, in: Tempo (1991), H. 5, S. 98–104; Christian Kracht/Jochen Siemens/Moritz von Uslar: »Die schärfsten 99 Teenager«, in: Tempo (1989), H. 9, S. 74–82; Christian Kracht: »Hippopotamomus«, in: Tempo (1991), H. 9, S. 118; Christian Kracht: »Momus: Heiliger Ketzer«, in: Tempo (1992), H. 8, S. 114–115; Christian E. Kracht: »Himmel in der Wüste«, in: Tempo (1990), H. 12, S. 119; Christian E. Kracht: »Sylt: American & Krug«, in: Tempo (1991), H. 6, S. 52. Vgl. hierzu insbesondere Matthias N. Lorenz: »›Barbourpapa‹. Eine quellenphilologische Untersuchung zur Textgenese von Faserland«, in: Heinz Drügh/Susanne Komfort-Hein (Hg.), Christian Krachts Ästhetik, S. 81–98; und Till Huber: »Andere Texte. Christian Krachts Nebenwerk zwischen Pop-Journalismus und Docu-Fiction«, in: Text+Kritik: Christian Kracht (2017), H. 216, S. 86–94. Tempo ist zudem nicht nur Ausgangspunkt des Romantextes von Faserland. Auch bei den Peritexten des Romans handelt es sich zum Teil um Übernahmen aus Tempo. Das Autorenfoto in der Erstausgabe von Faserland geht auf eine von Kracht zusammen mit Eckhart Nickel in Tempo publizierte Reise-Reportage zurück. Christian Kracht/Eckhart Nickel: »Die 55 lässigsten Reiseziele«, in: Tempo (1994), H. 6, S. 20–26. 146 T. Meinecke [https://www.youtube.com/watch?v=5VwG6uiQhtg, zuletzt eingesehen am 10.10.2022]. Vgl. hierzu T. Hecken: Pop, S. 418. 147 T. Meinecke: Das waren die achtziger Jahre, S. 122.

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und zwar bereits 1986, in seinem Artikel Das waren die Achtziger Jahre.148 In der im März 1989 erscheinenden Jubiläums-Ausgabe der Spex zur Feier des hundertsten Hefts rechnet auch Rainald Goetz mit den Zeitschriften Wiener und Tempo ab. Diese versteht er als epigonale Verfälschung der ursprünglichen Zeitschriftenidee; Tempo bescheinigt er dabei zumindest eine gewisse Originalität.149 Ihr Beitrag bestehe darin, »für Fortschritt dadurch [zu] sorgen«, dass man »alle Richtigkeiten so tief in den Schwachsinn hinein verschleppt, bis nur noch Falschheit sichtbar ist, die sofort Opposition gegen sich selbst und so Umsturz und neues produziert.«150 Beide Zeitschriften orientieren sich zwar an früheren Zeitgeist-Heften, wie etwa an The Face aus England und an der deutschen Elaste,151 unterscheiden sich von 148 Der Text erscheint noch dazu nicht in der Rubrik ›Zeitgeist‹ sondern in ›Das deutsche Feuilleton‹. Wiener: »Inhaltsverzeichnis«, in: Wiener (1986), H. 8, S. 9. 149 Rainald Goetz: »DREI TAGE. Text, Bier, Ecstasy«, in: Spex (1989), H. 3, S. 106–109, hier S. 109. 150 Ebd. Im Novemberheft der Tempo von 1993 findet sich dann ein von Moritz von Uslar geführtes Interview mit Goetz im Zuge des Erscheinens von Kronos. Dieser kommt ein weiteres Mal auf das bereits angesprochene Zitat zu sprechen: »›Text‹, das ist ›Spex‹, die Zeitschrift, für die Rainald Goetz viel geschrieben hat, das ist TEMPO, die Zeitschrift, die Rainald Goetz geliebt und gehasst hat, weil sie ›alle Richtigkeiten so tief in den Schwachsinn hineinverschleppt, bis nur noch Falschheit sichtbar ist‹ […]« Moritz von Uslar: »Ha! Ha! Superdoof?«, in: Tempo (1993), H. 11, S. 98–102, hier S. 100. Tempo wiederum rezensiert Goetz’ Bücher dagegen durchweg positiv. In einem groß angelegten Literatur-Rückblick mit dem Titel Die besten Bücher der 1980er Jahre belegt Irre den ersten und Hirn den achten Platz. Maxim Biller/Michael Althen/Ulrike Brincker/Manfred Geier/Thomas Huetlin/Otmar Jenner/Bruno Kehrein/Hubert Winkels: »Die 100 besten Bücher der 80er Jahre«, in: Tempo (1989), H. 12, S. 118–133. Auch Goetz’ zweiter Roman Kontrolliert wird von Hubert Winkels für Tempo äußerst positiv rezensiert. Die Rezension erstreckt sich über drei Seiten, einschließlich eines collagierten Autorenfotos von Goetz, das eine ganze Seite des Magazins einnimmt. Hubert Winkels: »Terror und Pose«, in: Tempo (1988), H. 9, S. 110–112. 151 In den frühen Wiener-Ausgaben findet sich, um einige Verweise beispielhaft aufzuführen, ein Gemälde von Kippenberger, ein Leserbrief von Lorenz Lorenz, ein Interview mit Michael Schirner, ein Auszug aus Diedrich Diederichsens Roman Herr Dietrichsen und ein Auszug auch Joachim Lottmanns Roman Mai, Juni, Juli. Joachim Lottmann: »Klarczyk – Im Reservat der Intellektuellen«, in: Wiener (1987), H. 3, S. 120–123. Klarczyk ist eine zentrale Figur in Lottmans Roman und laut Verleger Helge Malchov das Alter Ego von Lottmann, vgl. Joachim Lottmann: Mai, Juni, Juli, Köln 1987, und Helge Malchow: »Nachwort«, in: Joachim Lottmann: Mai, Juni, Juli, Köln 2003, S. 250–256. Nachfolgend finden die Nachweise der oben genannten Beispiele aufgelistet: Diedrich Diederichsen: »Herr Dietrichsen. Ein Roman. Ein Auszug«, in: Wiener (1987), H. 9, S. 81–85; Wiener: »Kann man dieses Land noch lieben?« [u.a. Interview mit Michael Schirner], in: Wiener (1987), H. 1, S. 51–64; Lorenz Lorenz: »Die Krankheit bestimmt den Marxismus«, in: Wiener (1987), H. 1, S. 120; Martin Kippenberger: »10 Jahre danach«, in: Wiener (1986), H. 9, S. 92–94. Ähnlich wie Wiener knüpft auch Tempo teilweise an den um Spex, Elaste und weitere Zeitschriften gravitierenden Pop-Diskurs der frühen 1980er Jahre an. In einer der frühen Ausgaben erscheint etwa ein Text, der 1987, zum 10. Jubiläum von ›Punk‹, auf besagten Zeitschriftenkosmos zurückblickt. Darin finden sowohl F.S.K., Diederichsen und Kid P Erwähnung. Helmut Ziegler: »10 Jahre Punk: Wie alles begann«, in: Tempo (1986), H. 1,

4. Typografische Oberflächenästhetik: ›Pop‹ und Zeitschriften

diesen jedoch stark, was ihr Format und ihr Layout anbelangt. Sie erscheinen nicht mehr in experimentellen (Groß-)Formaten, sondern im normierten ZeitschriftenFormat mit professionalisiertem und funktionalem Layout. Auch im Falle des Layouts lässt sich bei Tempo, anders als bei Wiener, zumindest noch ein Interesse an experimentellen typografischen Oberflächen beobachten, das jedoch kaum Eingang in die Praxis findet.152 Diese Tendenz zur Formatnormierung lässt sich in besonderer Weise am kontinuierlichen Formatwandel der Spex beobachten, die sich Mitte der 1980er Jahre gezwungenermaßen an die Formatbedingungen des Zeitschriftenbetriebs anpassen musste. Die ersten Ausgaben des Heftes erscheinen noch großformatig (34x24,5 cm), im Stil von Fanzines, auf rauem, billigem Papier und größtenteils im Schwarzweiß-Druck. Bloß auf den Covern und einigen wenigen Seiten finden sich einzelne Farbakzente. Ab der Juni-Ausgabe von 1983 wird hochwertigeres Papier verwendet, nämlich glattgestrichenes und dickeres. Die Oktober-Ausgabe von 1983 erscheint dann in einem gänzlich neuen Gewand, mit neuem Layout, neuem Spex-Schriftzug sowie einem Cover in Hochglanz-Optik. Und das neue visuelle Gewand der Zeitschrift ruft im Leserkreis ein dezidiertes Unbehagen hervor, welches sich durch weitere Änderungen im visuellen Auftritt des Heftes noch verstärken wird. Beispielhaft hierfür ist ein Leserbrief in der November-Ausgabe von 1983: »Layout: gefiel mir im S/W-Outfit besser. Neuer Schriftzug: Mist. Die Bilder sind immer noch 1a, tolle Aussichten auf viel mehr als abgebildete Personen. Mußte die neue Aufmachung wirklich sein?«153 Mit der August-Ausgabe von 1986 erfolgt ein den hohen Druckkosten für großformatige Zeitschriften geschuldeter Wechsel zum kleineren Format (29,8 x 22,3 cm). Clara Drechsler äußert sich 1985 anlässlich der Preiserhöhung des Magazins von 4 Mark auf 4,80 zu besagtem Formatwechsel und betont dabei zuvorderst die ökonomischen Beweggründe dieses Schritts: Wir haben das Format verkleinert, um im Druck Geld zu sparen und maschinelles Zusammenlegen zu ermöglichen. Die Umstellung auf farbige Titel war zwar teuer aber unumgänglich, da in unserer Zeitschriftenlandschaft nur farbige Produkte die Chance haben, mehr als 4.500 Leser zu erreichen. […] Farbiges Titelbild und erhöhte Auflage sind außerdem Attacken auf den bundesdeutschen Anzeigenmarkt, der jedoch auf diese Angebote höchst schleppend reagiert. […] Wie wohl zu merken ist, liegt uns nichts daran, eine billige Zeitung zu machen, schwarzweiß

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S. 44–49. Ebenso anzutreffen in den frühen Tempo-Ausgaben sind Artikel über und von Michael Schirner. Michael Schirner: »Über Glück«, in: Tempo (1986), H. 5, S. 37. Vgl. das Editorial des allerersten Heftes der Zeitschrift von 1986. Tempo: »Betr.: Neues Deutschland und neue Prinzen«, in: Tempo (1986), H. 1, S. 1. Miko: »Nein! N-E-I-N!«, in: Spex (1983), H. 11, S. 55.

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auf Butterbrotpapier […]. Wer seine 4.80 Mark mehr liebt als uns, sollte demnächst versuchen, sein eigenes Blättchen zu drucken.154 Der typografische Mainstream der maschinellen Druckerpresse, die ZeitschriftenKonkurrenz, das Konsumverhalten der Rezipient:innen und die Ansprüche der Anzeigenkund:innen führen so zu einer ökonomisch bedingten Normierung der experimentellen Formate und Layouts der Anfangszeit. Am Beispiel von Elaste einerseits und Spex andererseits wird so deutlich, dass nach der anfänglichen Experimentierphase unweigerlich einer der beiden Wege folgte: Einstellung oder Formatnormierung.

Abb. 34: KKG-Anzeige in der Juli-Ausgabe der Spex von 1986.

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Clara Drechsler: »Käufer dieses Blattes!«, in: Spex (1985), H. 7, S. 5.

4. Typografische Oberflächenästhetik: ›Pop‹ und Zeitschriften

Wie zentral der Spex’sche Formatwechsel für den Oberflächen-Diskurs der 1980er Jahre war, zeigt sich nicht zuletzt auch daran, dass dieser über die Redaktion der Zeitung hinaus resonierte. So nimmt etwa eine der von GGK, der Werbeagentur Diederichsens und Schirners, in Spex geschalteten Anzeigen in der letzten großformatigen Ausgabe der Spex auf besagten Formatwechsel Bezug. Mittels einer auf einer Doppelseite des Hefts abgedruckten Schablone, die bereits das neue Format darstellte, betrauert man das Großformat: »Ab der nächsten Ausgabe erscheint SPEX im kleineren Format. Mit einer Träne im Knopfloch: Eure KKG Projektagentur«,155 heißt es dort (Abb. 34). Über den genauen Sinn dieser Anzeige, nämlich der Spex zu ihrem Formatwechsels zu kondolieren, gibt Schirner in Werbung ist Kunst Auskunft: »In der Zeitschrift Spex machten wir eine Anzeige, die die Verkleinerung des Heftformats ankündigen sollte. Sie zeigt eine weiße Fläche, die die Größe des neuen Formats hat, umgeben von schwarzem Rand, eine Art Beileidanzeige für das alte Format.«156 So wird auch noch einmal deutlich, wie sich die verschiedenen sich teils auf Zeitschriften teilweise auf Werbeagenturen (sowie bildende Kunst und Literatur) aufteilenden Stränge des hier diskutierten Zusammenhangs über die typografischen Oberflächen und Rubriken der Zeitschriften miteinander vernetzen. Wie diametral (und zugleich komplementär) sich das typografische Dispositiv der Zeitschriften der frühen 1980er Jahre und das von Tempo und Wiener gegenüberstehen, lässt sich zudem in besonderer Weise anhand eines in Tempo publizierten Goetz-Artikels beobachten, auf den sich Goetz’ Autorschaft bei Tempo wegen der Einstellung der Zeitschrift 1995 beschränken sollte.157 Bei besagtem Artikel handelt es sich um eine Reportage über ›Rave‹, bei der Goetz den DJ Sven Väth bei seinen DJ-Sets begleitet.158 In diesem Zusammenhang zeigt Goetz’ Text, der bereits auf die 1998 folgende Buchveröffentlichung Rave vorausweist, eine Zäsur in der Popkultur auf, nämlich den Wechsel von der ›New Wave‹-Kultur der 1980er Jahre zur ›Rave‹-

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Michael Schirner/Diedrich Diederichsen: »KKG-Anzeige«, in: Spex (1986), H. 7, S. 27. M. Schirner: Werbung ist Kunst, S. 154. Erste versöhnliche Worte zu Tempo finden sich in einem zunächst 1989 in Spex, dann in Kronos wiederabgedrucktem Text Angst, aus dem die Tempo-Redaktion folgenden Satz zitiert: »Das unendlich vielköpfige Heer der kollektiven Vernunft arbeitet in den beiden zeitnähesten Branchen, Wissenschaft und Pop, am Text der neuen ganzen heiligen Schrift des Alltags. Natürlich ist TEMPO so eine Übersetzerkraft. Der isoliert vor sich hinkrebsende Schreiber sehnt sich, zumindest zeitweise, nach einem solchen Redaktionsschreibtisch.« (Rainald Goetz: »Kommentar in: Die Feinde. Kritiker-Rundruf: Hassen Sie TEMPO immer noch?«, in: Tempo (1990), H. 4, S. 74). Der Artikel findet sich nochmals in Buchform abgedruckt in Goetz’ 1999 erschienenem Band Celebration, wobei auch das Cover der Tempo-Ausgabe sowie das Layout einer Doppelseite in dem Suhrkamp-Buch abgebildet wird, was noch einmal Goetz’ Interesse an Layout-Oberflächen bezeugt. Rainald Goetz: Celebration, Frankfurt a.M. 1999, S. 10–60.

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Kultur der 1990er Jahre. Zudem ist das Layout des Textes besonders auffällig, denn es wirkt wie ein Fremdkörper in der Tempo-Ausgabe und erinnert stark an das Layout der Goetz’schen Spex-Texte. Besonders stechen die vielen unterschiedlich groß skalierten, beinahe zufallsartig auf dem Layout der Magazinseiten verteilten Abbildungen heraus, wodurch sich auch die Layouts der Goetz’schen Texte in der Spex vom Rest der Zeitschrift typografisch absetzten (vgl. Abb. 35 und 36). Im Falle des Textes in Tempo wird Goetz’ typografische Autorschaft zudem auch explizit im Editorial des Heftes kreditiert: RAVE ZUM LESEN: Chefredakteur der Seiten 70 bis 80 ist vom typografischen Aufbau bis zur letzten Bildunterschrift Rainald Goetz. Sein Stück über Sven Väth umfaßt 76507 Buchstaben (oder mehr, oder weniger). Der berühmte Schriftsteller begleitete den berühmten DJ nach Tokio und verfaßte danach den Basistext zum Verständnis unserer Techno-Kultur. Es ist eine Reportage, eine Debatte, ein Interview – aber vor allem, man kann es so sagen, der erste literarische Rave.159

Abb. 35: Rainald Goetz’ und Michi Kerns Artikel Sven Väth: Maniac Love aus der SeptemberAusgabe der Tempo von 1994.

159

Walter Meyer: »Wir Tempo«, in: Tempo (1994), H. 9, S. 5.

4. Typografische Oberflächenästhetik: ›Pop‹ und Zeitschriften

Dies verdeutlicht nicht nur, welchen Stellwert typografische Oberflächen im Werk von Goetz einnehmen, dessen Autorschaft das Layout seiner Texte dezidiert miteinschließt, sondern zugleich auch, welche Bedeutung das Layout von Texten für die Zeitschriftenproduktion der 1980er Jahre insgesamt einnahm. Darüber hinaus entsteht durch Goetz’ Artikel und die Integration des zuvor in Spex entstandenen Layouts in das Layout von Tempo eine merkwürdige Oberflächenmelange, bei der sich die Verbindungen zwischen den einzelnen Diskurssträngen des hier besprochenen Zusammenhangs auch auf der typografischen Oberfläche einprägen.

Abb. 36: Rainald Goetz’ Artikel Gewinner und Verlierer aus der FebruarAusgabe der Spex von 1984.

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5. Buchformate im ›Pop‹-Layout: Strategien der Übersetzung

Als Maxim Billers gesammelte Tempo-Artikel 1992 in Buchform erscheinen, schreibt auch Rainald Goetz eine Rezension. Die Tempojahre, das seien »die achtziger Jahre, Diedrich Diederichsen, Markus Peichls Tempo und Maxim Biller«1 gewesen. Goetz kommt in seiner Rezension des Buchs zudem auf die Bedeutung des ursprünglichen Publikationsmediums der Zeitschrift zu sprechen und darauf, wie das Medium die Schreibweise der Texte beeinflusst habe: Das Medium der Zeitschrift läßt da keine allzu preziösen Feierlichkeiten zu und stellt so den Mut des Schreibers auf die Probe. Im kurzen Text wird verdammt schnell gezogen. Kaum ist eine Sache halbwegs geglückt, rückt schon wieder der nächste Abgabetermin heran. Und wieder entscheidet sich blitzschnell, ob man in Form ist. Mit welchem Vergnügen man sich einem solchen Härtetest unterziehen kann, zeigen die 48-Schüsse-aus-Hüfte-Texte, die ›Die Tempojahre‹ zu einem kompakten dtv-Bändchen versammeln: ein Buch, das total gute Laune hat.2 An Goetz’ Rezension wird so ersichtlich, dass der Formatwechsel den Blick vom Inhalt auf die jeweiligen Oberflächen des Textes verschiebt. Der Rahmen wird gerade durch die Übersetzung des Textes beziehungsweise der Texte von einem Format in eine anderes sichtbar und gerät in den Blick des Interesses.3 Die gilt gleicher1 2

3

Rainald Goetz: »Alles, was knallt. Rainald Goetz über den Schriftsteller und Journalisten Maxim Biller und sein Buch ›Die Tempojahre‹«, in: Der Spiegel (1992), H. 2, S. 143–147, hier S. 143. Ebd., S. 147. Biller richtet das Wort darin auch an Goetz und wirft den Tempo-Akteuren Tatenlosigkeit vor, worauf Goetz in seiner Rezension jedoch nicht eingeht: »Ich höre nicht Rainald Goetz oder […] Diedrich Diederichsen über Deutschland sprechen, […] Markus Peichl entwickelt keine eigenen neuen Zeitschriften-Ideen […]« (Maxim Biller: »Alte idioten, junge Idioten«, in: Die Tempojahre, München 1992, S. 85–87, hier S. 86). Vgl. U. Wirth: Rahmenbrüche, Rahmenwechsel, S. 15. Darauf hatte bereits Roger Chartier hingewiesen, denn »der Übergang eines Textes von einer Editionsform in eine andere [bewirkt] sowohl Veränderungen des Textes als auch die Bildung eines neuen Publikums […].« (R. Chartier: Lesewelten, S. 13). Vgl. ebenso Roger Chartier: »Die geschriebene Botschaft und ihre Rezeption. Vom Codex zum Bildschirm«, in: Die Neue Rundschau 106 (1995), H. 3, S. 117–131, hier

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Ronald Röttel: Verpackungen der Literatur

maßen für weitere Bücher, die aus dem Dunstkreis des Zeitschriften-Milieus der frühen 1980er Jahre hervorgegangen sind, und bei denen es sich um Wiederveröffentlichungen von bereits im Zeitschriftenformat erschienenen Texten in Buchform handelt. Zudem zeichnen sich diese durch ein besonderes Interesse am Format des Buches sowie an der Gestaltung der Peritexte des Buchs, insbesondere der LayoutOberflächen aus. Auf der anderen Seite fällt auf, dass es sich bei diesen Buchveröffentlichungen gewissermaßen um Appropriationen von ökonomisch noch nicht restlos verwerteter Kultur durch den Literaturbetrieb handelt. Denn die Literaturverlage wie etwa Rowohlt, Kiepenheuer & Witsch und Suhrkamp, die sich um die Texte der Autoren der Fanzines, Popmusik- und ›Zeitgeist‹-Zeitschriften bemühen, verfolgen dabei das Interesse, für die Zeit modische Inhalte zu vermarkten. Publiziert werden die meisten dieser Texte – auch dies scheint bemerkenswert vor dem Hintergrund der in den 1960er Jahren im erweiterten Kreis des Suhrkamp-Verlags geführten Diskussionen um das Taschenbuchformat – in den teilweise neu lancierten Paperback-Reihen der Verlage. Darüber hinaus zeigen sich auch die Popzeitschriften teilweise interessiert daran, Publikationen in Buchform auf den Markt zu bringen. Beispielsweise erweitert Spex, wie bereits erwähnt, seinen Vertrieb ab Mitte der 1980er Jahre um den »Spex Buchservice«4 mit dem Namen ›Das gute Buch‹. Dort zu bestellen sind vor allem Bücher von verschiedenen, auf die ein oder andere Art mit dem Spex-Milieu verbandelten Autoren wie etwa Diedrich Diederichsens bei KiWi verlegtes Buch Sexbeat, die deutsche Übersetzung von Bret Easton Ellis’ Debüt Less Than Zero sowie Colin MacInnes’ Absolute Beginners.5 Teil dieser Reihe sind ebenso Bücher, die im »Spex Verlag«6 erscheinen sowie ausgewählte Bücher des Verlagsprojekts Meter Verlag von Albert Oehlen und Werner Büttner. Darüber hinaus tritt die Spex-Redaktion selbst als Herausgeberkollektiv von Büchern in Erscheinung und geben etwa die gesammelten The Face-Kolumnen von Julie Burchill in deutscher Übersetzung heraus.7 Im Werbetext

4 5

6 7

S. 126. Auch Natalie Binczek hebt in einem Text zu Goetz auf die besondere Bedeutung des Medienwechsels ab, jedoch nicht von der Zeitschrift in die Buchform, sondern von der Webpage ins Buch, und zwar am Beispiel von Goetz’ Abfall für alle. Dabei plädiert sie dafür, von zwei verschiedenen Texten zu sprechen, obschon es sich um identische Buchstabenfolgen handele. Vgl. N. Binczek: Wo also ist der Ort des Textes?, S. 291–318. Spex: »Das gute Buch«, in: Spex (1986), H. 9, S. 59. Beworben wird Absolute Beginners von der Spex-Redaktion als Buch »zu den ahnungslosen, uninformierten Titelgeschichten der Stadt- und Zeitgeist-Magazine […].« (Spex: »Das gute Buch«, in: Spex (1986), H. 10, S. 63). Ebd. »Herausgegeben von SPEX«. Spex (Hg.): Julie Burchill über Prince/Pop/Elvis/Kommunismus/ Madonna/Hausfrauen/Annie Lennox/Feminismus/Michael Jackson/USA/Sade/Die Pille/ Lennon/Fußball/Heuschrecken/Dallas und Denver/Bonnie und Clyde/Live Aid [u.a], Köln 1987, U1.

5. Buchformate im ›Pop‹-Layout: Strategien der Übersetzung

auf der Rückseite des Taschenbuchs heißt es, dass Burchill »mit ihrer feuerspeienden Schreibmaschine ihre KALKULIERTEN BELEIDIGUNGEN IN GROSSBUCHSTABEN oder eine Flut von kursiv gedruckten Gedankenblitzen und bösen Wortspielen auf den Leser loslässt.«8 Hieran wird deutlich, dass auch der typografische Stil der The Face-Autorin als wesentlich begriffen wird und daher im Formatwechsel von der Zeitschrift ins Buch nicht verloren gehen darf.

5.1 Taschenbuch-Reihen etablierter Verlage Ein Interesse der etablierten Verlage am Kolumnenwesen deutscher Popzeitschriften lässt sich bereits in den frühen 1970er Jahren beobachten. Dies gilt nicht zuletzt für die Sounds-Kolumnen Helmut Salzingers, die 1976 nach zahlreichen Streitigkeiten mit dem Fischer-Taschenbuchverlag, der zunächst beabsichtigt, Salzingers Kolumnen in Buchform zu veröffentlichen, im hauseigenen Verlag der Musikzeitschrift Sounds erscheinen (Abb. 37).9 Salzingers Kolumne erscheint unter dem Titel Jonas Überohr – live, welcher auf Salzingers Pseudonym verweist, mit dem dieser für Sounds schrieb. Die Kolumne bei Sounds hatte ihm wiederum eine zuvor erschienene Buchpublikation eingebracht. Salzinger hatte 1972 mit Rock Power eine kulturwissenschaftliche Analyse der Rockmusik vorgelegt,10 die ihm wiederum, dies berichtet Salzinger im Vorwort zu Jonas Überohr – live, die Kolumne bei Sounds einbrachte: »Ein paar Monate, nachdem Rock Power erschienen war, rief mich Jürgen Legath von Sounds an. Sagte, er sei Jürgen Legath von SOUNDS, er habe Rock Power gelesen und ob ich nicht Lust hätte, regelmäßig etwas für SOUNDS zu schreiben, eine Kolumne, irgendwas in der Art.«11 Buch- und Zeitschriftenautorschaft sind im Falle Salzingers intrikat verwoben, insofern ihm das durch sein Buch angesammelte symbolische Kapital eine Kolumne in der Sounds einbringt und die Popularität der Kolumne wiederum zu einem neuen Buchvertrag führt, worauf gleich noch detaillierter eingegangen wird. Das Buch Rock Power basierte auf dem Konzept, eine literarische Zitatästhetik zu finden, die nicht zwischen Produktivität und Reproduktivität unterscheidet. Dabei scheint es bemerkenswert, dass es sich um einen der ersten Texte überhaupt handelt, die eine solche Ästhetik propagieren: »Bewusst hat der Autor darauf verzichtet, den Zitatcharakter oder den Stellenwert der Texte leicht erkennbar zu machen. Produziertes

8 9

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Ebd., U4. »Copyright 1976 by SOUNDS-Verlag und Helmut Salzinger«. Helmut Salzinger: Jonas Überohr – Live. Kritische Ausschweifungen über Kultur und Krebs. Ein Sounds Buch, Hamburg 1976, S. 6. Vgl. hierzu E. Schumacher: Pop-Journalismus, Feuilleton, Literatur, S. 57–58. H. Salzinger: Jonas Überohr, S. 9.

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und Reproduziertes sollen bruchlos nebeneinanderstehen.«12 Die volle Umsetzung von Salzingers Idee einer Ästhetik des Zitats scheitert jedoch an den juristischen Vorgaben des Rowohlt-Verlags, der Salzinger zwingt, alle Zitate wegen des Urheberrechts in einem Verzeichnis kenntlich zu machen.

Abb. 37: Titelansicht von Helmut Salzingers Jonas Überohr – Live von 1976 (21 x 14cm).

An dieser Vorgabe des Verlags wird deutlich, dass eine solche Zitat- bzw. PlagiatÄsthetik, wie sie Salzinger im Auge hat, auf alternative Publikationsformate angewiesen ist. So wie beispielsweise die Formate der Alternativpresse der 1960er Jahre

12

Helmut Salzinger: Rock Power. oder: Wie musikalisch ist die Revolution?, Frankfurt a.M. 1972, S. 2.

5. Buchformate im ›Pop‹-Layout: Strategien der Übersetzung

und die ›Punk‹-Fanzines der 1980er auch dazu dienen, alternative, vom Literaturbetrieb der etablierten Verlage unabhängige Ästhetiken und Schreibweisen auszubilden. Denn der verlagsrechtliche Rahmen verunmöglicht gerade solche Ästhetiken, die nicht zwischen Produktion und Reproduktion unterscheiden. Und dementsprechend kritisch äußert sich Salzinger in einer Nachbemerkung zu Rock Power auch zur Praktik des Urheberrechts: Dem Urheberrecht, das, indem es die Rechte der Urheber zu schützen vorgibt, in Wahrheit die Rechte der Inhaber der Produktionsmittel schützt, hat der Leser diese Belegliste zu verdanken, die dem technischen Prinzip dieses Buches widerspricht und daher so angelegt werden mußte, daß sie ihm möglichst wenig widerspricht, zeitgleich aber den Bestimmungen des Gesetzes folgt. Es ist eine Tatsache, daß dieses Gesetz einmal fortschrittlich war, insofern es etwa Schriftsteller vor den räuberischen Praktiken geschäftstüchtiger Verleger schützte. Das heute übliche Verfahren, den Autoren ihr Urheberrecht per Vertrag abzuhandeln, und zwar zu einem vom Käufer festgesetzten Preis, ist aber, obschon legal, nicht weniger räuberisch, da es ihnen lediglich die Möglichkeit lässt, dann eben auf die Veröffentlichung ihres Werks zu verzichten. Zudem verhindert es die Entwicklung neuer, dem Zeitalter des Mediums Fernsehen entsprechende literarische Techniken.13 Salzingers Kritik an der Praktik des Urheberrechts äußert sich zudem in der Form des Verzeichnisses, das er für Rock Power anlegt. Die bibliografischen Angaben sind darin so klein und eng aneinander gedruckt, dass es schwer fällt sie zu lesen und Salzinger zitiert selbst größtenteils aus Raubdrucken.14 Weiterhin fällt auf, welche besondere Rolle Salzinger der Medienkonkurrenz der Literatur zu dem neuen Darstellungsmedium Fernsehen zuspricht. Denn da er am Urheberrecht kritisiert, dass es neue am Medium Fernsehen sich orientierende ›literarische Techniken‹ verhindere, ist zu vermuten, dass die collagierende, zugleich reproduzierende und produzierende Ästhetik, die er im Auge hat, von der medialen Signatur des Fernsehens inspiriert zu sein scheint. Damit vertritt Salzinger eine populäre medientheoretische Position der Zeit. Ähnliche Ideen zu den Effekten der Medienkonkurrenz zwischen Fernsehen und Buch auf die Literatur formulieren etwa auch Rolf Dieter Brinkmann und

13 14

Ebd., S. 273. Ebd., S. 268–273. Bemerkenswerterweise diskreditiert Salzinger in seinem Verzeichnis die Bücher von Rolf-Ulrich Kaiser, obwohl sie, wie an anderer Stelle der vorliegenden Arbeit ausgeführt wird, das gleiche Verfahren auf die typografischen Oberfläche anwenden: »Unwichtige Bücher, die eben darum nicht verwendet wurden: Rolf-Ulrich Kaiser: Das Buch der neuen Pop-Musik. Düsseldorf/Wien 1969. Rolf-Ulrich Kaiser: Underground? Pop? Nein! Gegenkultur. Köln/Berlin 1969. Rolf-Ulrich Kaiser (Hg.): Protestfibel. Formen der neuen Kultur. BernMünchen-Wien 1968«. (Ebd., S. 273).

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Ralf-Rainer Rygulla in den frühen 1970er Jahren (und alle genannten Autoren scheinen dabei inspiriert von Marshall McLuhans medientheoretischen Schriften zum Fernsehen zu sein).15 Trotz der weiter oben beschriebenen negativen Erfahrung mit Rowohlt folgt bereits 1973 mit Swinging Benjamin Salzingers nächste Publikation in einem etablierten Literaturverlag, diesmal bei Fischer, der beabsichtigt, Salzingers Sounds-Kolumne als Taschenbuch zu veröffentlichen. Salzingers Ambitionen, keine einfache ›Übersetzung‹ seiner für das Zeitschriftenformat formulierten Texte anzufertigen, bringt das Projekt jedoch zum Scheitern. So intendiert Salzinger, »nicht einfach eine Sammlung der Kolumnen«16 in Buchform zu erstellen, sondern eine aus seinen Sounds-Kolumnen bestehende Collage zu erstellen. Salzinger »fing an, das Papier zu sammeln, das sich rings um die Kolumne anhäufte«17 und dann »Schnipsel zu gruppieren, Zusammenhänge auszuprobieren«,18 um über die neuangeordnete Reproduktion seiner eigenen Produktion zu einer neuen Formensprache zu gelangen. Dies sprengt jedoch die Vorgaben des Fischer Verlags, wie sich in einer ›Editorischen Nachbemerkung‹ Salzingers in Jonas Überohr – live nachlesen lässt: Da fingen auf einmal die vertraglichen acht Druckbogen, ungefähr 150 Tippseiten, die Hauptrolle zu spielen an. Für die Kolumnen plus einem schönen Vorwort hätten sie gerade ausgereicht, und mit dem Buch wäre der Verlag auch dicke zufrieden gewesen. Ich wollte aber ein Buch machen, mit dem ich zufrieden bin. Bloß daß sich das auf acht Bogen nicht machen ließ. Jedenfalls war ich nicht bereit, mein Manuskript um knapp die Hälfte zu kürzen, bloß weil dieser Verlag seine Bücher wie Konserven plant und herstellt, und erkundigte mich vorsorglich, zu welchen Bedingungen ich aus dem Vertrag raus könne. Gegen Erstattung der bisher entstandenen Kosten (mein Honorarvorschuß plus Kosten für den Umschlagentwurf) in Höhe von über 2600 Mark war man bereit mich ziehen zu lassen.19 Salzinger nimmt damit wieder eine eher kulturpessimistische Haltung ein. In Swinging Benjamin von 1973 hatte er noch als Gegenentwurf zur Theorie Wolfgang Fritz Haugs eine dialektische Qualität von Popmusik und Pop Art behauptet, insofern diese ihr eigenes in-die-Kulturindustrie-eingespannt-sein artikulieren und ironisch in der eigenen Warenform reflektieren. Dass Fischer ›Bücher wie Konserven‹ plane und zuerst einen gut verkäuflichen Rahmen schaffe, der gewissermaßen den Inhalt vorprogrammiere, entspricht jedoch ziemlich genau der Kritik, die Haug, Adorno und Enzensberger in den 1960er Jahren an das Taschenbuchformat herangetra15 16 17 18 19

Vgl. hierzu auch Kap. 5.3 der vorliegenden Arbeit. H. Salzinger: Jonas Überohr, S. 9. Ebd. Ebd. Ebd., S. 171–172.

5. Buchformate im ›Pop‹-Layout: Strategien der Übersetzung

gen haben. Beide sahen im Taschenbuch einen Komplizen der Industrialisierung der Kultur, insofern die Form zu aller erst auf die Steigerung von Konsum aus sei. Da Salzinger sich nicht von der Warenform die literarische Form diktieren lassen will, beschließt er zunächst zwei Bücher anzufertigen, erstens Jonas Überohr, das wie geplant bei Fischer erscheinen soll, und zweitens Jonas Überohr – Live, das wiederum im Sounds-Verlag publiziert wird.20 In einer ›Nachbemerkung zur Nachbemerkung‹ in Jonas Überohr – Live verrät Salzinger außerdem, warum die für Fischer nach den Vorgaben des Verlags konzipierte Fassung letztlich doch nicht umgesetzt wurde. Dies habe daran gelegen, dass es dem »Fischer Taschenbuchverlag« nicht darum gehe, »schöne/gute Bücher zu machen, sondern darum, bedrucktes Papier zu verhökern.«21 Der Vorwurf, der den Taschenbuchreihen auch von Adorno und Enzensberger gemacht wurde, nämlich Literatur in ein Konsumprodukt zu verwandeln, scheint sich in diesem historischen Fall tatsächlich zu bestätigen. Darüber hinaus zeigt die Publikationsgeschichte von Jonas Überohr -live, dass sich Salzingers Buchprojekte nicht auf die Textebene begrenzen, sondern die materielle Verfasstheit des Buchs wie auch Publikations-Strategien zwingend miteinschließen. Daher scheint es nur konsequent, dass Salzingers Sounds-Kolumne auch in DIY-Manier im SoundsVerlag erscheint und von der für Fischer geplanten Publikation bloß der bereits bezahlte ›Umschlagentwurf‹ mit anderen Worten der werbende Peritext ohne Text übrigbleibt.

5.1.1 Fanzines in Buchform: rororo panther vs. Selbstverlag? Ähnlich wie Fischer zeigt sich auch Rowohlt in den 1970er Jahren interessiert am Musikjournalismus und gibt ab 1977 das halbjährlich im Taschenbuchformat erscheinende Periodikum Rock Session – Magazin der Populären Musik heraus. Hilfe suchen sich der Verlag hierfür bei der Sounds-Redaktion, die auf verschiedene Art an der Lancierung des Magazins beteiligt ist. Herausgeber der ersten zwei Ausgaben von Rock Session ist unter anderem der Sounds-Redakteur Jörg Gülden und auch eine in der ersten Ausgabe des Magazins enthaltene Danksagung an die Sounds-Redaktion deutet auf eine maßgebliche Beteiligung der Hamburger Musikzeitschrift an Rock Session hin.22 Darüber hinaus bestätigt sich diese Nähe zu Sounds im werbenden Peritext von Rock Session; so finden sich etwa über die Hefte verteilt mehrfach Anzeigen

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21 22

Doch auch dies zieht sich mehrere Monate hin, wodurch sich die Veröffentlichung des Textes ein weiteres Mal verzögert: »Februar 1976, das Manuskript von ›Jonas Überohr-Live‹ liegt nun wieder sieben Monate bei SOUNDS herum«. (Ebd., S. 172). Ebd., S. 175. »Dankeschön an die Sounds-Redaktion für ihre Hilfe.« Jörg Gülden/Klaus Humann: »Impressum«, in: Rock Session. Magazin der Populären Musik (1977), H. 1.

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für Sounds sowie für die zu der Zeit frisch lancierte Spex.23 Zudem erinnert die typografische Gestaltung von Rock Session an die für Sounds typische 1970er Jahre ›Disco‹Ästhetik. Im Unterschied zu Sounds ist Rock Session aber klar buchförmig gelayoutet, nur wenige Seiten sind in Spalten unterteilt, größtenteils erstreckt sich der Fließtext ohne Unterbrechungen und ohne besondere Formgebung über die Buchseite.

Abb. 38: Titelansicht von Hollow Skais und Pauls Otts wir waren HELDEN für einen tag von 1984 (19 x 12,5 cm).

An Rock Session und Rowohlt wird dabei zudem von mehrfacher Seite der Vorwurf herangetragen, dass der Verlag gezielt Popkultur wie etwa ›Punk‹ appropriiere, um sie als Produkt zu vermarkten und aus dieser konsumkritischen Kulturszene gezielt Profit zu schlagen. Dies gilt insbesondere für das zweite, thematisch

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»SPEX. Musik zur Zeit, Hansaring 119, 5000 Köln 1. Seit September 1980 gibt es Spex, die Sounds der 80er Jahre? Gut geschriebene, recherchierte und großzügig layoutete Musikzeitschrift im Überformat.« Rock Session: »Zeitschriften/Labels/Adressen«, in: Rock Session. Magazin der Populären Musik (1981), H. 5, S. 316.

5. Buchformate im ›Pop‹-Layout: Strategien der Übersetzung

dem ›Punk‹ gewidmete Heft von Rock Session, in dem sich unter anderem ein Interview mit einigen ›Punk‹-Fanzine-Produzenten aus Deutschland wie etwa Hollow Skai (mit bürgerlichem Namen Holger Poscich), dem Herausgeber des Hannoveraner ›Punk‹-Fanzines No Fun abgedruckt findet. Darin kritisiert Skai, dessen Examensarbeit über ›Punk‹ 1981 im Sounds Verlag veröffentlich wurde,24 vor allem die Versuche der renommierten Verlage und Zeitschriften, wie z.B. Rock Session, an dem wachsenden Phänomen der Fanzines profitieren zu wollen, ohne selbst Teil der Szene zu sein: wenn jetzt über fanzines geschrieben wird, gerade von so ner renommierten zeitschrift wie rock session […] diese zeitschrift beauftragt dann zwei leute, das geht nicht gegen euch persönlich, die in der sache nicht drinstecken, die meisten fanzines überhaupt nicht kennen, die schreiben dann was über fanzines.25 Skai weist somit darauf hin, dass mit der Vermarktung des ›Punk‹ auch notwendigerweise eine Verfälschung einhergeht. Das Interesse des Rowohlt Verlags an den ›Punk‹-Fanzines bestätigt sich zudem anhand weiterer Buchpublikationen des Verlags und insbesondere anhand einer Publikation, die wiederum in Zusammenarbeit mit Hollow Skai entstanden ist. Eine nicht unwesentliche Rolle spielt dabei die 1979 lancierte Rowohlt-Taschenbuchreihe rororo panther »für junge Leser ›zwischen den Generationen‹«, wie es im Verlagsalmanach von Rowohlt aus dem Jahr 1993 heißt.26 1983 erscheint in der panther-Reihe von Rowohlt etwa der von Skai und Paul Ott zusammen herausgegebene Band wir waren HELDEN für einen Tag, der zahlreiche Texte aus deutschsprachigen Fanzines zwischen 1977 und 1981 versammelt. Das hellgelbe Cover des Buchs fällt zudem durch seine besondere, sich am Stil der Fanzines orientierende Optik auf. Es verzichtet auf rechte Winkel im Layout und verweist damit auf den Cut up-Stil der Fanzinemacher:innen sowie die Schreibmaschine als zentrales Produktionsmittel der ›Punk‹-Typografien (Abb. 38). Darüber hinaus erinnert 24 25 26

Hollow Skai: Punk. Versuch der künstlerischen Realisierung einer neuen Lebenshaltung. Ein Sounds Buch, Hamburg 1981. N. Mansur: Fanzines, S. 201. Horst Varrelmann/Michael Naumann (Hg.): Rowohlt Almanach 3 1983–1992, Reinbek 1993, S. 45. Die Entstehung der rororo Taschenbuch-Reihe von Rowohlt geht auf das Jahr 1946 zurück und basierte auf der Idee, Verbrauchsbücher für die Nachkriegszeit zu schaffen und damit zugleich wohl auch ein Format für die Nachkriegs-Literatur. Denn während diese Epochenbezeichnung unter dem Gesichtspunkt stilistischer oder thematischer Merkmale eine disparate Menge unterschiedlichster literarischer Texte versammelt, zeichnen sich viele dieser Texte dadurch aus, dass sie in den günstigen, eher Broschüren- als buchförmigen Formaten erscheinen. Vgl. Edda Ziegler: »RO-RO-RO und seine Leser. Zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte von Rowohlts Rotations Romanen«, in: Monika Estermann/Michael Knoche (Hg.), Von Göschen bis Rowohlt. Beiträge zur Geschichte des deutschen Verlagswesens, Wiesbaden 1990, S. 282–306.

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die silberglänzende Optik an die metallisch glänzenden Silbercover der 1960er Jahre, die damals unter dem Label ›Pop‹ firmierten.27 In ihrer Einleitung wiederum reflektieren die Herausgeber dabei nicht nur das eigene Unterfangen, sondern auch die Rolle des Rowohlt-Verlags: Diese Sammlung von Texten erhebt denn auch nur einen Anspruch: sie soll das Typische darstellen, sie soll seine Entwicklung aufzeigen, die viele Leute im deutschsprachigen Raum mit ihren ›Zeitschriften‹ erlebt haben. Somit ist das Thema Fanzines Grund genug zur Selbstreflexion: was haben wir denn da gemacht in all den Jahren seit 1977? […] [Und] irgendwie muß das alles ja mal begonnen haben, Fanzines waren die publizistische Basis – bevor sich BRAVO um die Bands und der ROWOHLT-Verlag um unsere Texte bemühten. Von diesem Anfang handelt das Buch.28 Das Vorwort der beiden Herausgeber der Fanzine-Anthologie zeugt hierbei von einem äußerst reflektierten Vorgehen, das die ›publizistische Basis‹, nämlich das Format der Zeitschrift, genauer: die spezifische Form des Fanzines in den Fokus rückt. Das Buchprojekt stellt somit weniger einen Übersetzungsversuch der Fanzine-Kultur ins Buchformat dar, sondern eine historische Untersuchung des Zusammenhangs plus Materialbeigaben. Diese Aneignung der ›Fanzine‹-Kultur durch die etablierten Verlage ist für Skai und Ott jedoch nur einer der Gründe für ihr Ende. Auch das Aufkommen der auflagenstärkeren Hefte geben sie als Grund an: »Schließlich hat die neue Szene sich ihre eigenen Sprachrohre geschaffen. Zeitungen blühen in 1000er Auflagen.« Wesentlich war dabei nach Meinung der beiden Herausgeber auch die Übernahme der typografischen Oberflächen der ›Punk‹-Fanzines: »Irgendwie fühlten wir uns da als Fanzine-Macher überflüssig, zumal sich die neuen Blätter im Lay-Out kaum von den Punk-Zines unterscheiden.«29 Dass Skai trotz seiner kritischen Haltung gegenüber dem Literaturbetrieb bei Rowohlt publiziert, scheint nicht zuletzt damit zusammenzuhängen, dass die DIY-Vertriebs- und Marketingstrategien der Fanzines nicht oh27 28

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Vgl. hierzu Kap. 3.1.3 der vorliegenden Arbeit. Das Buch, das auf der Rückseite des Covers als »Kompendium für die Jugend« ausgewiesen wird, erscheint in der rororo-Sachbuchreihe von Rowohlt. Paul Ott/Hollow Skai (Hg.): wir waren HELDEN für einen Tag. Aus deutschsprachigen Punk-Fanzines 1977–1981, Reinbek/ Hamburg 1983, S. 9. P. Ott/H. Skai (Hg.): wir waren HELDEN für einen Tag, S. 234–235. Das Buch beinhaltet eine ›Fanzine-Bibliographie‹ für den deutschsprachigen Raum, die vor allem auf die schiere Menge der Fanzines hinweisen sollte: »Was wir vielmehr wollten, war, einmal aufzuzeigen, daß es wesentlich mehr Fanzines gegeben hat, als wir für die Zusammenstellung dieses Buches auswerten konnten. […] Kann sein, daß die ein oder andere Druckschrift aus dem Zusammenhang dieses Buches herausfällt, sie wäre aber wohl kaum erschienen, wenn es all diese heißen Fetzen, sprich Fanzines, nie gegeben hätte.« (Ebd., S. 239–240).

5. Buchformate im ›Pop‹-Layout: Strategien der Übersetzung

ne weiteres auf die Buchform übertragen werden konnten. Dies bestätigt sich auch darin, dass einzelne Versuche, die Fanzine-Ästhetik im Selbstverlag in die Buchform zu bringen, wenig bis keine Aufmerksamkeit von der Literaturkritik bekamen.

Abb. 39: Titelansicht von Lorenz Lorenz’ Die Abb. 40: Titelansicht von Peter Glasers und Einsamkeit des Amokläufers von 1982 (18,4 Nick Stillers Der grosse Hirnriss von 1983 (19 x x 11,5 cm). 12,5 cm).

Beispielhaft für ein ins Format des Buchs gebrachtes Fanzine ist etwa Lorenz Lorenz’ Die Einsamkeit des Amokläufers. Die Buchversion des gleichnamigen Münchener Fanzines erscheint im Selbstverlag und wird über einen ›Punk‹-Kassettenvertrieb distribuiert, was sich nicht zuletzt auch anhand der Covergestaltung des Buchs bemerkbar macht (Abb. 39). Das Cover, das an den typografischen Stil des Lorenz’schen Fanzines erinnert, setzt sich zusammen aus dem Autornamen und dem Titel, die in einer kitschigen, einer Handschrift nachempfundenen Type gesetzt sind, sowie einer bewusst dilettantischen, von Lorenz signierten Zeichnung und einem darunter befindlichen, handschriftlichen Text. Das Buch, so lässt es sich dem Vorwort des Autors entnehmen, reflektiert dabei nicht zuletzt auch den Formatwechsel von der Zeitschrift in die Buchform und beansprucht nichts weniger als eine Image Aufbesserung des ›boring old‹ Buchformats: »Diese schmerbäuchigen Eine-Idee-Autoren

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[…] haben das Buch zu einem Gebrauchsartikel mit dem Image von Sockenhaltern (wahlweise Ärmelschonern) gemacht, es wird Zeit, daß junge Menschen das Ruder herumreißen, es lebe das Triviale!«30 Lorenz’ Buch geht es demnach, dies bestätigt auch die auf dem Buchcover angegebene Textsorte der »triviale[n] Kurzgeschichte[]«,31 um die Übersetzung einer Ästhetik des Trivialen ins Buchformat. Ähnlich wie Lorenz’ Die Einsamkeit des Amokläufers basiert auch Nick Stillers und Peter Glasers Buch Der grosse Hirnriss auf dem Konzept einer von der ›Punk‹-Kultur inspirierten Rehabilitation des ›eingestaubten‹ Buchformats.32 Außerdem erscheint das Buch ebenso wie Skais und Otts wir waren HELDEN für einen Tag in der Reihe rororo panther und ist somit ebenfalls beispielhaft für die Appropriation der ›Fanzine‹-Inhalte und -formen durch Rowohlt. Gleich einer der ersten Sätze des Textes betont wiederum, dass es sich bei der Veröffentlichung auch um den Versuch einer auf die Steigerung des Unterhaltungswerts bedachten Modernisierung des Buchs handelt: »Dies ist kein langweiliges Buch.«33 Eine wesentliche Rolle spielt dabei auch das Layout des Buchs, das nicht auf einen externen Layouter, sondern auf einen der beiden Herausgeber, nämlich Peter Glaser, zurückgeht. Im Impressum des Buchs, das von handschriftlich korrigierten Layoutentwürfen für das Buch gerahmt wird, heißt es: »Layout Peter Glaser«.34 Das Cover des Buches zeichnet sich durch einen synkretistischen Zitatstil aus, der verschiedene typografische Elemente wie den in Fraktur gesetzten Titel mit weiteren in Antiqua gesetzten Peritexten wie Untertitel und Autorennamen zusammenführt und auf dem Bild der Glasfassade eines Wolkenkratzers anordnet. Außerdem erwecken die typografischen Elemente, die mit Ausnahme der Autorennamen von den Seitenkanten des Umschlags schräg zum unteren Rand des Umschlags verlaufen, den Eindruck, als ob sie in sich zusammenzufallen würden (Abb. 40). Glasers Layout fordert den Buch-Rezipienten zudem 30

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Lorenz Lorenz: Die Einsamkeit des Amokläufers, München 1982, S. 6. 1986 erscheint ein weiteres Buch von Lorenz, das auf jene Zeit zurückblickt: »Weißt Du noch, wie es nach den Konzerten nach Schweiß roch, Du hast dein Köpfchen an mich gelehnt und mich angeschaut in jener Zeit von Gin Tonic, Nächte voll Bier und lange Aufbleiben, Fahrten auf der Autobahn, Gang of Four, der erste Walkman, die Menschen sind rumgestiefelt, Plastikbecher vor sich rumschiebend, die Letze Sounds in der Lederjacke, die heftigen Pamphlete gegen alles, ohne Rücksicht auf Verluste?« (Lorenz Lorenz: Die Nacht des Fehlers, Duisburg 1986, U2). Der Ausspruch ›ohne Rücksicht auf Verluste‹ spielt auf das gleichnamige Sounds-Autorenkollektiv O.R.A.V. an. L. Lorenz: Die Einsamkeit des Amokläufers, U1. Hartmut Schulze zitiert eine unveröffentlichte Der grosse Hirnriss-Rezension von Rainald Goetz, in welcher Goetz besagtes Buch als Beispiel einer »Post-Punk-Intelligenz« anführt. Hartmut Schulze: »Noch ein Hirnriß«, in: Konkret (1983), H. 8, S. 82–87. Vgl. hierzu A. Geisthövel: Böse Reden, fröhlich leiden, S. 376. Peter Glaser/Niklas Stiller: Der grosse Hirnriss, Reinbek 1983, S. 3. Ebd., S. 4. Vgl. zu Glaser und Stillers Spiel mit Medien Hubert Winkels: Einschnitte. Zur Literatur der 80er Jahre, Köln 1988, 175.-200.

5. Buchformate im ›Pop‹-Layout: Strategien der Übersetzung

zur Interaktion auf. Zum Buch gibt es einen »AUSSCHNEIDEBOGEN«35 mit Motiven, die sich in das Layout des Buchs einkleben lassen. Darüber hinaus ist »[e]rgänzendes Bildmaterial zum Layout […] [g]egen Rückporto […] bei den Autoren erhältlich«.36 Zudem basiert das Buch auf einem multimedialen Ansatz, wie er insgesamt für Literatur typisch zu sein scheint, die sich an Popkultur und nicht zuletzt Popmusik abarbeitet. Es enthält eine Kassettenbeigabe, die als notwenige Ergänzung zum Buchformat begriffen wird: »DIE KASSETTE: Buchstäblich im Einklang. Sechs Musiker und Gruppen wurden eingeladen, Episoden aus dem ›Grossen Hirnriss‹ zu vertonen. Was mit Sprache zu leisten war, haben die Autoren gemacht. Dann entstanden die Sounds zu den Ideen, die Rhythmen zum Text, die Melodien zum Thema.«37 Das Medium Sprache wird von den beiden Autoren als Begrenzung empfunden, welche durch die multimediale Erweiterung des eigenen Formats überwunden werden soll und die Publikation so nicht zuletzt auch mit der Musikszene vernetzt. Dieser Versuch einer Vernetzung der Literatur mit der ›Punk‹- und ›New Wave‹-Szene wird darüber hinaus am werbenden Peritext des Buchs ablesbar, nämlich den im Buch abgedruckten Anzeigen. Dort finden sich nicht bloß Anzeigen, die weitere Titel aus der rororo panther-Reihe bewerben, sondern auch solche, die für Punkbands, DIY-Vertriebe und Labels werben.38 Anhand der genannten Beispiele wird so deutlich, welchen Stellenwert die eigene Medialität und Materialität für die Zeitschriftenmacher der frühen 1980er Jahre spielte und warum dieser Fokus auf die materielle, mediale und typografische Oberfläche auch in den Übersetzungen ins Buchformat erhalten bleibt.

5.1.2 »edition suhrkamp-zombies«: Spex, Suhrkamp, KiWi Auch Editionen und Reihen steuern als Peri- und Epitexte maßgeblich die Rezeption von Büchern. Dass die edition suhrkamp eine ausgezeichnete Stellung im Literaturbetrieb der 1990er innehat, lässt sich beispielhaft an dem besonderen Interesse ablesen, das Maxim Biller dieser in einem im ›Zeitgeist‹-Heft Tempo publizierten Text entgegenbringt. In der Oktober-Ausgabe von 1993 schreibt dieser einen Text über Siegfried Unseld, den damaligen Leiter von Suhrkamp: »Besonders stolz ist er [Unseld, RR] aber auf die von ihm erfundene ›edition suhrkamp‹« […].39 Diese begreift

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P. Glaser/N. Stiller: Der grosse Hirnriss, S. 248. Ebd. Ebd. Beispielsweise findet sich dort eine Anzeige der Düsseldorfer Band Fehlfarben und eine Anzeige für den Düsseldorfer Plattenladen ATATAK, die zudem das kleine Format der Anzeige kritisiert: »DIESE ANZEIGE IST VIEL ZU KLEIN!« Ebd., S. 249. Maxim Biller: »Unternehmen Elfenbeinturm. Über den 69jährigen Verlegergeneral Siegfried Unseld und seine gehorsamen Suhrkamp-Autoren«, in: Tempo (1993), H. 10, S. 152. Vgl. hierzu

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Biller nicht bloß als neutrales Publikationsorgan, sondern als ausgezeichneten Paratext, der nicht bloß die Rezeption und den Konsum des Textes in der Gestalt des Buches ermöglicht, sondern auch seine Produktion (vor)steuert. Denn diese korrumpiere als Puplikationsorgan die individuell-originäre Autorschaft und verwandele die Autoren, die in ihr veröffentlichen, in »›edition suhrkamp‹-Zombies«:40 So zerstört der große Tycoon Siegfried Unseld beim Buhlen um sein verbildetes Stammpublikum die deutsche Literatur einer ganzen Epoche – wie ein Doktor Frankenstein der Prosa kreiert er ein Schriftsteller-Monster nach dem anderen in seinem Suhrkamp-Labor, erschafft Dichter, die nicht dichten können […].41 Auch wenn es sich bei Billers Text offensichtlich um eine Polemik handelt, verdeutlicht er doch, welchen Stellenwert die edition suhrkamp im Literaturbetrieb der 1990er Jahre hat, nicht zuletzt auch für eben jene Autoren, die wie auch Biller zum Teil aus dem Dunstkreis der 1980er Jahre Zeitschriften wie Spex und Tempo hervorgingen. Besonders beispielhaft sind hierfür die frühen Publikationen von Rainald Goetz wie etwa seine Spex Texte, die gesammelt in der edition suhrkamp unter dem Titel Hirn erscheinen. Diese »›spex‹ in Buchform«,42 wie es in einer Rezension des Buchs in dem Münchener Magazin 59 to 1 heißt, ist dabei wiederum als »Schriftzugabe«43 zu Goetz’ Theaterstück-Sammlung Krieg konzipiert, die ebenfalls in der von Willy Fleckhaus entworfenen Reihe erschien. Das ikonische Design der edition suhrkamp ist für Goetz’ Werkpolitik von besonderer Bedeutung, wandelt sich bei diesem jedoch Zug um Zug in eine individuelle Werkoberfläche ab. Diese programmatische Aneignung durch Goetz stellt Fleckhaus’ typografisches Konzept der edition suhrkamp, das einen Gegenentwurf zu individuell gestalteten Covern darstellt, von den Füßen auf den Kopf. So sieht der für die 1960er und 1970er Jahre nicht minder wichtige Typograf Hans Peter Willberg in Willy Fleckhaus’ regenbogenfarbener Buchgestaltung für die Suhrkamp-Reihe den Ausgangspunkt einer Marken- und Imageästhetik im Literaturbetrieb, da die Umschläge nicht mehr individuell für den jeweiligen literarischen Text gestaltet wurden. Anstelle des Autors steht die Ästhetik der Reihe und damit der Verlag als Marke im Vordergrund.44 Da-

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Ronald Röttel: »Suhrkamp-Pop? Zum peritextuellen Rahmen von Musik für Flughäfen«, in: Christof Hamann/Christian Seebald (Hg.), TransLit5. Iris Hanika, Köln 2022, S. 80–86. M. Biller: Unternehmen Elfenbeinturm, S. 152. Ebd. Anonymus: »Express to success. Shakehands mit Rainald Goetz, Karl Kraus, Christiane Rochefort und andere Bilder der dritten Art«, in: 59 to 1. visuell & akustisch (1986), H. 13, S. 111–123, hier S. 116. R. Goetz: Hirn, S. 4. H. P. Willberg: Buchkunst im Wandel. Die Entwicklung der Buchgestaltung in der Bundesrepublik Deutschland, S. 197. Vgl. zur Funktion von werbender Literaturparatexte bei der

5. Buchformate im ›Pop‹-Layout: Strategien der Übersetzung

her scheint es umso bemerkenswerter, dass Rainald Goetz’ Veröffentlichungen in der edition suhrkamp im wahrsten Sinne des Wortes aus der Reihe fallen und in ihren jeweiligen Buchoberflächen eine eigene auf Farben basierende Systematik ausbilden, die mit der Fleckhaus’schen Farbordnung der edition suhrkamp in Konkurrenz tritt. Während die Schutzumschläge von Hirn und Krieg noch weitgehend der Gestaltung von Fleckhaus entsprechen – vor allem was die gewählte Schrift anbelangt –, weichen die hellblauen Einbände von Goetz’ Werkgruppe Kronos, bestehend aus den Bänden Kronos und Festung sowie den drei Bänden Material 1989, stärker davon ab und erinnern eher an Jörg Schröders knallige Umschlaggestaltungen für den MärzVerlag als an Fleckhaus’ zurückhaltendes Design der edition suhrkamp (vgl. Abb. 41 und 42).45 Darüber hinaus weisen die Schutzumschlagsdesigns der Kronos-Bücher eine nicht von der Hand zu weisende Ähnlichkeit zu Goetz’ Buchumschlagsentwürfen zu Irre und Kontrolliert auf, die, wie bereits an anderer Stelle der Arbeit konstatiert wurde, auf den Autor selbst zurückgehen. Auf eben jene äußere Gestalt der Kronos-Bücher hebt nicht zuletzt auch Moritz von Uslar in einem Interview ab, das er mit Goetz für Tempo führt: »›Kronos‹, das ist das Buch von Rainald Goetz. Ein wunderschönes Buch, so mit papiereinband, bau-gelb, gerade erschienen in einem Pappkarton mit vier anderen Bänden, alle wunderschön und blau-gelb.«46 Goetz macht sich so das serielle Reihendesign der edition suhrkamp zu eigen, das den jeweiligen Autor dem Verlag als Marke unterordnet. Ulf Poschardt bringt dies in einem 1997/98 in der Zeitschrift Kunstforum erschienenen Text, der sich unter anderem mit der Bedeutung typografischer Elemente in Goetz’ Werkpolitik befasst, wie folgt auf den Punkt: »Aus der edition suhrkamp wird die edition goetz.«47

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Etablierung des Verlags als Marke am Beispiel der edition suhrkamp Christof Windgätter: Wissenschaft als Marke. Schaufenster, Buchgestaltung und die Psychoanalyse, Berlin 2016, S. 156–171. Die Kombination eines neutralen grauen Schutzumschlags, der die farbigen Bände der edition suhrkamp umhüllt, war ein Kompromiss zwischen Unseld und seinen Kritikern Hans-Magnus Enzensberger, Max Frisch und Uwe Johnson, die alle zum erweiterten Kreis der Suhrkamp Chefetage gehörten. Vgl. S. Unseld: Der Marienburger Korb, S. 43. Siehe zu Goetz’ Umgang mit dem typografischen Design der edition suhrkamp-Cover insbesondere die äußerst instruktive Arbeit Lena Hintzes. Hintze weist auch darauf hin, dass Krieg und Hirn dieselbe Nummer in der Zählung der edition suhrkamp erhalten. Vgl. L. Hintze: Werk ist Weltform, S. 84. M. von Uslar: Ha! Ha! Superdoof?, S. 99. Ulf Poschardt: »Der Filmemacher, der Künstler und der Schriftsteller. Abseits der Identitätsfalle: Godard, Warhol und Goetz«, in: Kunstforum (1997/98), H. 139, S. 146–161, hier S. 160.

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Abb. 41: Buchumschlag von Rainald Goetz’ Hirn von 1986 (17,6 x 11 cm).

Abb. 42: Schutzumschlag von Rainald Goetz’ Festung von 1989 (17,6 x 11 cm).

Ebenso beispielhaft für Autoren, die zunächst in Pop-Zeitschriften und später in der edition suhrkamp publizieren, ist Thomas Meinecke, dessen Romandebüt The Church of John F. Kennedy 1996 in der edition suhrkamp erscheint.48 Meineckes erste Veröffentlichung bei Suhrkamp, der Kurzgeschichten-Band Mit der Kirche ums Dorf, der sich größtenteils aus zuvor von Meinecke in Die Zeit veröffentlichten Texten zusammensetzt, erscheint wiederum 1986 in der Suhrkamp-Taschenbuchreihe.49 Meineckes autofiktionale Erzählung Holz hingegen, die von einem Stipendienaufenthalt in Berlin erzählt und zum Teil Thesen zur Popkultur aufgreift, die Meinecke bereits in Mode & Verzweiflung und Wiener formuliert hatte, erschien 1988 bei Kiepenheuer & Witsch, deren KiWi-Taschenbuchreihe in dem hier diskutierten Zusammenhang eine ebenso wesentliche Rolle spielt wie die edition suhrkamp.50 Anders als die Texte von anderen Autoren, die zunächst im Pop-Kontext publizieren wie etwa Rainald Goetz, fallen die frühen Buchpublikationen Meineckes – über ihr

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Thomas Meinecke: The Church of John F. Kennedy, Frankfurt a.M. 1996. Thomas Meinecke: Mit der Kirche ums Dorf, Frankfurt a.M. 1986. Beispielsweise aus Das kybernetische Verhaltensprinzip und Das waren die achtziger Jahre. Vgl. Thomas Meinecke: Holz, Köln 1988, S. 62.

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Erscheinen in den beiden genannten einschlägigen Reihen hinaus – nicht durch ein besonderes Interesse an der Gestaltung der eigenen Konsumoberfläche auf. Die Cover späterer Romane Meineckes, die auf Konzepten des F.S.K.-Bandmitglieds Michaela Melián beruhen, legen zwar ein besonderes Augenmerk auf die Covergestaltung und rücken den Peritext der Literatur durchaus mit ins Zentrum, reflektieren dabei jedoch nicht auf die Bedeutung des konsumästhetischen Peritexts für den Literaturbetrieb seit 1960, sondern verweisen zumeist, wie etwa im Fall des Covers von Selbst, auf den literarischen Text und die poststrukturalistische Theorie, die darin verhandelt wird. Das Cover von Selbst, das einen aufgewickelten Faden zeigt, lässt sich beispielsweise auf die poststrukturalistische Literatur- und Intertextualitätstheorie beziehen.51 Dies schmälert jedoch keineswegs Meineckes Bedeutung für den in der vorliegenden Arbeit nachgezeichneten Diskurs. Die Tatsache, dass sich beide Verlage Anfang der achtziger Jahre um Meineckes Texte bemühten, verdeutlicht einmal mehr das gemeinsame Interesse der beiden Verlage an Texten und Autoren aus dem Bereich der Popmagazine. Dass der Verlag Kiepenheuer & Witsch in den späten 1980er Jahren Texte des, wie es im Klappentext zu Meineckes Holz heißt, »pop-trainierte[n] Anbeter[s] der Gegenwart und der Oberfläche«52 veröffentlichte, dürfte vor allem mit einer Person zusammengehangen haben, nämlich dem damaligen KiWi-Verleger Helge Malchow. Denn Malchow zeigte sich besonders interessiert an den Autoren der verschiedenen Pop-Zeitschriften. Im August-Heft der Spex von 1985 findet sich beispielsweise eine als Leserbrief getarnte Werbeaktion für den KiWi-Verlag von Malchow abgedruckt, in dem dieser den wenig informierten und anachronistischen Umgang des Spex-Autors Bernd Eilert mit Literatur kritisiert: »Wenn in einer Nummer ein wirklich guter Text über (und von) Green von Scritti Pollitti auftaucht, […] warum in aller Welt kann man nicht mal anständig über einen Schriftsteller […] schreiben […].«53 Daran anschließend führt er selbst einige Namen ins Feld, die seines Erachtens in Spex hätten Erwähnung finden sollen, zumal es sich bei diesen zum Teil um Spex- und Tempo-Autoren handelt: »Auch hier ein paar Namen: Rainald Goetz, Peter Glaser […].«54 Letzterer hatte 1984 die Anthologie Rawums mit zahlreichen

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Thomas Meinecke: Selbst, Berlin 2016. Vgl. hierzu und zur Bedeutung des Druckbildes bei Meinecke Torsten Hahn: Schwarze Flächen und weiße Leerräume. Selbst- und Fremdreferenz in der Oberflächenästhetik. (Eine Buchseite von Thomas Meinecke), in: Text+Kritik: Thomas Meinecke (2021), H. 231, S. 38–45. Ebd., U2. Helge Malchow: »Betrifft: Bernd Eilerts ›Was ist ein Schriftsteller?‹«, in: Spex (1985), H. 8, S. 54. Ebd.

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zuvor in Popzeitschriften veröffentlichten Texten bei KiWi veröffentlicht.55 Ebenso bei KiWi erscheint 1988 Glasers Tempo-Kolumne Glasers Heile Welt.56 Besagter Leserbrief scheint so Ausgangspunkt dessen zu sein, was vor allem in den 1990er und 2000er Jahren als KiWi-Pop bezeichnet wurde – genauer gesagt die Integration jener Pop-Autoren in den Literaturbetrieb. Dem Werber und Werbekünstler Michael Schirner zufolge, der eines seiner Werbeprojekte für die KiWiTaschenbuchreihe von Kiepenheuer & Witsch umsetzte, bestand die »[d]ie Idee von Kiwi«57 in einer »populären«58 Erneuerung der Literatur, wobei das Paperback-Format eine wesentliche Rolle einnahm: Mit der KiWi-Reihe wollte der Verlag Kiepenheuer & Witsch mit erschwinglichen Paperbacks die Quintessenz seines Programmes für alle Interessierten leicht erreichbar machen, aber gleichzeitig Raum für Experimente, Neuerungen, Wagnisse schaffen, die im konventionellen literarischen Betrieb rar sind.59 Die KiWi-Taschenbuchreihe beruhte demnach auf dem Konzept einer erschwinglichen, populären Literatur, die dennoch keine literarischen Wagnisse scheut und daher ein dezidiertes Interesse an den Texten und Autoren der Pop-Zeitschriften zeigte. Für diese besondere Bedeutung von KiWi für die sogenannte Pop-Literatur der späten 1980er und frühen 1990er Jahre findet sich zudem noch ein weiterer Beleg bei einem zentralen Autor dieser literarischen Strömung. So kommt Christian Kracht in einem Interview mit Bret Easton Ellis, das Kracht 1991 für Tempo im Zuge der Veröffentlichung der von der Spex-Autorin Clara Drechsler ins Deutsche übersetzten Fassung von American Psycho führt, auf eben diese Vorreiter-Rolle von Kiepenheuer & Witsch zu sprechen. Der dritte Roman von Ellis erscheint nämlich aufgrund seines vermeintlich skandalösen Inhalts nicht mehr bei Rowohlt, sondern im mittlerweile von Malchow geführten Kiepenheuer & Witsch-Verlag, der wenige Jahre später ebenso Krachts Debüt Faserland publizieren wird: Der Reinbeker-Rowohlt-Verlag, der mit Ellis’ ersten beiden Romanen ganz gut gefahren ist, ließ »American Psycho« fallen wie eine heiße Kartoffel. Auf Anfrage ließ die Pressestelle mitteilen, der Verlag habe das Buch nicht herausgeben wollen, weil es »gewaltverherrlichend« und »gegen den guten Geschmack« sei. In der

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Darin findet sich ebenfalls eine Anzeige für das bei Rohwolt erschienene Buch Der grosse Hinriss. Peter Glaser (Hg.): Rawums. Texte zum Thema, Köln 1984, S. 318. Peter Glaser: Glasers Heile Welt, Köln 1988. Wobei sich auf dem Cover der Buchpublikation das Logo von Tempo abgedruckt findet. Michael Schirner: »Vorwort«, in: Diedrich Diederichsen/Michael Schirner (Hg.), Hundert Hundertste Seiten. Das Buch der literarischen Rätsel, Köln 1996, S. 7–9, hier S. 7. Ebd. Ebd.

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Presseabteilung habe man zwar den Roman nicht gelesen, doch »die Stellen« seien ja bekannt. Sei’s drum. Der Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch sicherte sich schließlich die Rechte, nun soll »American Psycho« im Herbst auf Deutsch erscheinen.60 Der Titel der Kracht’schen Rezension PSYCHO BRET EASTON ELLIS ironisiert dabei zugleich die mit der Skandalisierung des Romans einhergehende Identifikation von Autor und Erzähler. Denn die zuvorderst moralische Rezeption des Romans, die dem Autor Gewaltverherrlichung vorwirft, kassiert die Differenz zwischen der Person Ellis und der literarischen Figur Patrick Bateman, und ignoriert alle im Roman angewendeten literarischen Mittel, die diese Differenz markieren. Der zentrale Kritikpunkt an dem Roman, dass die erzählte Welt auf ihre Oberfläche reduziert wird, bezieht jedoch nicht nur auf die Gewaltszenen und Konsumoberflächen in Mode, Marken und Körperpflege, sondern auch auf typografische Oberflächen. Besonders beispielhaft hierfür ist eine Romanstelle, in der die Hauptfigur Patrick Bateman seinen Kollegen das Design seiner frisch aus dem Druck gekommenen »business card«61 vorführt. Bateman hebt vor allem die Farbe »bone« als auch die ausgewählte Schrifttype der Visitenkarte »Sillian Rail«62 hervor, worauf die anderen kaum noch als typografische Laien zu bezeichnenden Gesprächsteilnehmer erwidern: »Eggshell with Romalian type…«, »Raised lettering, pale nimbus white…«.63 Zu den Bewertungskriterien dieses Expertendiskurses gehört zudem nicht nur die Farbe und das Schriftbild, sondern auch die Haptik des Papiers: »subtle off-white coloring, its tasteful thickness«, »for the sensation the card gives off to the pads of my fingers.«64 Das Ineinandergreifen von literarischen Verfahren der Oberfläche und typografischer Oberflächengestaltung literarischer Publikationen, wie es auch anhand von Krachts späteren Romanpublikationen und deren typografischer Gestaltung sichtbar wird, lässt sich somit teilweise bis zu American Psycho zurückverfolgen.65 Insgesamt wird deutlich, welche besondere Rolle die beiden genannten Taschenbuch60

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Christian Kracht: »PSYCHO BRET EASTON ELLIS«, in: Tempo (1991), H. 11, S. 164–168, hier S. 168. Vgl. insbesondere Kap. 4.1 der vorliegenden Arbeit. Zudem findet sich in der Juli-Ausgabe der Tempo von 1992 eine Bildreportage über Obdachlosigkeit in London, deren Titel mit Less than Zero auf Ellis’ Debüt anspielt. Christian Kracht: »Less than Zero: Die Heimatlosen von London«, in: Tempo (1992), H. 7, S. 74–84. Ellis scheint also einen gewissen Einfluss auf den jungen Kracht gehabt zu haben. Für die oft kritisierte These – etwa von Krachtlektor Helge Malchow – lassen also zumindest einige Indizien vorlegen. Helge Malchow/Christoph Kleinschmidt: »Hermeneutik des Bruchs oder Die Neuerfindung frühromantischer Poetik. Ein Gespräch«, in: Text+Kritik: Christian Kracht (2017), H. 216, S. 34–43, hier S. 35. Bret E. Ellis: American Psycho, New York 1991, S. 32. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. hierzu vor allem, B. Metz: »…mehr als ein Text!«, S. 263–330.

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reihen von Suhrkamp und Kiepenheuer & Witsch sowie die materielle Verfasstheit und typografische Gestaltung bei der Konturierung des Profils jener literarischen Strömung der sogenannten Pop-Literatur gespielt haben. Denn Verlagsreihen führen die Autoren zusammen, vereinen sie unter einem Gewand und bilden mit Ihnen eine Marke aus.

5.2 ›Pop‹ und Konsumoberflächen: Buchumschläge, Werbetext, Logo Bei Joachim Lottmans Romandebüt Mai, Juni, Juli handelt es sich zum Teil um einen Roman über das, wie es darin heißt, Kölner »Avantgarde-Popmagazin«66 Spex. Lottman kommt darin zudem auf eine Reihe weiterer Akteure des hier adressierten Zusammenhangs wie etwa Martin Kippenberger,67 Rainald Goetz68 und nicht zuletzt auch Rolf Dieter Brinkmann zu sprechen.69 Allen voran ist jedoch das Verhältnis zwischen Autor- und Verlegerfigur das zentrale Thema des in Teilen autofiktionalen Romantextes. Denn Mai, Juni, Juli, dies lässt sich Helge Malchows Vorwort zur zweiten Auflage entnehmen, ist das »Ergebnis einer Abmachung: Vorschuß plus Wohnrecht für drei Monate (Mai, Juni, Juli) [des Jahres 1986] in der Wohnung des damaligen Lektors Helge Malchow«.70 Titel und Thema des Romans leiten sich demnach aus den ökonomischen Rahmenbedingungen ab, unter denen dieser verfasst wurde. Zumal der Text auch ökonomische Aspekte des Bücher-Verlegens thematisiert, wie etwa die Rolle von Buchhandlungen, Buchumschlägen und Schaufenstern im Literaturbetrieb.71

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J. Lottmann: Mai, Juni, Juli, S. 104. Zudem ist es der Fotograf von besagtem Avantgarde-PopMagazin, der dem autodiegetischen Erzähler ein Buchdesign vorschlägt, das sich wie die Parodie der Oberflächen-Ästhetik liest. Denn der Spex-Fotograf schlägt Autorenfotos »für die Rückseite, mehrerer für die Seitenklappen, dutzende für die Glanzseiten im Innenteil« des Buches vor. (Ebd., S. 105). Ebd., S. 101–103. Ebd., S. 49. Ebd., S. 200. Vgl. Helge Malchows Nachwort zur Taschenbuch-Ausgabe von Mai, Juni, Juli von 2003. Helge Malchow: »Nachwort«, in: Joachim Lottmann, Mai, Juni, Juli, Köln 2003, S. 250–256, hier S. 254. Im Übrigen war auch Diedrich Diederichsens Sexbeat, das geht aus Diederichsens Vorwort zur zweiten Auflage von 2020 hervor, eine Auftragsarbeit des KiWi-Verlegers Helge Malchow. Vgl. D. Diederichsen: Sexbeat, S. 4. An einer Stelle heißt es etwa: »Hauptsache das Buch verkaufe sich bestsellermäßig«. (J. Lottmann: Mai, Juni, Juli, S. 57). Auch vom Format des Taschenbuchs geht für den autodiegetischen Erzählers des Romans eine nicht unwesentliche Gefahr aus: »›[…] die hätten das am liebsten gleich gedruckt, als Taschenbuch.‹/›Womit ich erledigt gewesen wäre.‹« (Ebd., S. 86).

5. Buchformate im ›Pop‹-Layout: Strategien der Übersetzung

Abb. 43: Titelansicht von Rainald Goetz’ Irre Abb. 44: Titelansicht von Rainald Goetz’ Konvon 1982 (20,5 x 13cm). trolliert von 1986 (20,5 x 13cm).

Beispielsweise gibt es in Lottmanns Roman eine skurrile Szene in einer Buchhandlung mit einer Gruppe von Buchhändlerinnen, in der die Verlegerfigur der autofiktionalen Autorenfigur die besondere Bedeutung der Verpackung des literarischen Textes erklärt: »Er sprach über Umschlagsentwürfe« und viele der »Buchhändlerinnen sträubten sich angeblich gegen ungewöhnliche und neue Umschläge« und würden diese »nur deshalb nicht ins Schaufenster stellen«.72 Die Szene hebt so auf die Bedeutung der werbenden Peritexte der Lietartur ab. Einerseits wirkt sich die Gestaltung des Buchumschlags ebenso wie die Ästhetik von Schaufenstern auf die Verkaufszahlen eines Buches aus.73 Andererseits können eben jene Konsumoberflächen der Literatur, ins Visier der Literatur selbst geraten. So finden sich in den 1980er Jahren zahlreiche ›ungewöhnliche und neue Einbände‹, die in ihren Buchoberflächen genau diese Funktion der Verpackung, einen Anreiz 72

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Ebd., S. 127. Vgl. zur Warenförmigkeit des Buchs und der Bedeutung von Buchhändlern sowie Buchumschlägen für den Literaturbetrieb Helmut Dähne: »Das Buch als Ware«, in: Kursbuch. Das Buch (1998), H. 133, S. 71–86, hier S. 74–75. Zur ästhetischen Funktion des Schaufensters innerhalb der Geschichte der Buchgestaltung siehe C. Windgätter: Wissenschaft als Marke.

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zum Konsum zu geben, artikulieren und ironisch reflektieren. Dies wird besonders deutlich anhand des Schutzumschlags von Rainald Goetz’ Romandebüt Irre, den Goetz selbst entworfen haben soll. Seinem Verleger Siegfried Unseld zufolge habe sich Goetz explizit gegen einen »Fleckhaus/Suhrkamp-Umschlag« entschieden und verlangte nach einem »Umschlag, der die Szene erreicht« (Abb. 43).74 Wobei der Umschlag die von Goetz erhoffte Wirkung nicht verfehlt. So eschauffiert sich Lorenz Lorenz, ein zentraler Akteur der Münchener Szene, 1984 in der Spex über Goetz’ Umgang mit dem »Suhrkamp-Image«: »Bekettsche Ernsthaftigkeit ist genauso lächerlich wie Goetzsche Gesichtsverzerrung auf dem Buchumschlag.«75 Goetz hatte demnach einen bestimmten Konsumentenkreis, nämlich die ›Punk‹- und ›New Wave‹-Szene, im Auge. Gleichzeitig zeugt der Schutzumschlag von einer ironischen Distanz zu eben jener Vermarktung seines Romandebüts. Beispielhaft hierfür ist der sich auf dem Buchumschlag befindliche Klappentext, dessen Funktion für gewöhnlich darin besteht, das Buch zu bewerben und dessen Urheber zumeist nicht der Autor selbst ist. Anstatt für das Buch zu werben, inszeniert der Text einen Dialog zwischen der Figur des ›Klappentextes‹ und der eines ›zögerlichen‹ Buchkonsumenten, der die Werbefunktion des Klappentextes aufs Korn nimmt: Das Zögern sagt: IRRE, von was soll denn das handeln, dieses Buch da, über was geht denn das?/Der Klappentext: Rainald Goetz schreibt in seinem ersten Roman über die Psychiatrie und einen Helden unserer Tage. Klar und wahr gibt der Autor Antwort auf brennende Fragen:/–Wie weh tut der Irrsinn den Irren?/–Wie schlimm ist das Arbeiten als Arzt in einer psychiatrischen Klinik/–Wie, bitteschön, geht das Leben?/Muss das wirklich so zerrissen und zerfetzt sein?/Das Zögern: Aber hat er denn keine gescheite Handlung, der Roman, wo er schon so dick ist?/Der Klappentext: Eben!, einen solchen Ziegelstein, habe ich mir gedacht, brauche ich nicht noch schwerer zu machen. Blättern Sie halt einmal kurz hinein!76

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S. Unseld: Reisebericht 25.-27.02.1983, München. Zit. n. L. Hintze: Werk ist Weltform, S. 45. Vgl. hierzu Kap. 2.3 der vorliegenden Arbeit. Lorenz Lorenz: »Lorenz Lorenz vs. Rainald Goetz. Die große Auskotze«, in: Spex (1984), H. 3, S. 8–9, hier S. 9. Goetz’ Anfeindungen gegen Lorenz Lorenz wiederum sind Antwort auf Lorenz Lorenz’ Buchrezension in Elaste, in der Lorenz Goetz vorwirft, von Diederichsens abzuschreiben, vgl. hierzu auch E. Schumacher: »… nur in München weiß noch keiner, daß ’82 vorbei ist«, S. 118. R. Goetz: Irre, U2. Auch der Rat des Autors zur assoziativen Stellenlektüre fällt auf. Vgl. zur Kulturtechnik des Blätterns Harun Maye: Blättern/Zapping. Studien zur Kulturtechnik der Stellenlektüre seit dem 18. Jahrhundert, Zürich 2019.

5. Buchformate im ›Pop‹-Layout: Strategien der Übersetzung

Abb. 45: Titelansicht von Christopher Roths 200D von 1982 (20,5 x 13,5 cm).

Schließlich gelingt es dem Klappentext, »[d]as schwindende Zögern«77 des fiktiven Käufers in eine Kaufentscheidung umzumünzen: »Der zum Kauf entschlossene Entschluss: Supergeil!, Wahrheit, das kaufe ich mir«.78 Goetz ironisiert damit nicht bloß die eigentliche Funktion des Werbetextes, sondern weitet das Territorium seiner Werkherrschaft auf den werbenden Peritext seines Romans aus. Die Auflösung der Grenze zwischen dem Romantext und seiner werbenden Verpackung ist dabei programmatisch, insofern die ›Verpackung‹ des Textes selbst Teil des Werks und nicht Beiwerk ist. So scheint es nicht verwunderlich, dass die Rückseite von Irre, auf der der Slogan ›Don’t Cry/Work‹ zu lesen ist, im Katalog zur Ausstellung Wahrheit ist Arbeit von Martin Kippenberger, Werner Büttner und Albert Oehlen abgedruckt ist, umgeben von Werkbeispielen der drei Künstler und völlig losgelöst von Goetz’ Text Warum die Hose runter muss, den dieser zum Ausstellungskatalog beisteuerte.79 77 78 79

R. Goetz: Irre, U3. Ebd. Die Abbildung erfolgt kommentarlos und der Vorname des Autors ist falsch geschrieben. »Umschlagsrückseite: ›Irre‹ von Reinald Goetz«. Martin Kippenberger/Albert Oehlen/Werner Büttner: Wahrheit ist Arbeit, Essen 1984, S. 120.

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Der Buchumschlag erhält so durch den Rahmen, in dem er ausgestellt wird, einen Eigenwert als ein Stück bildende Kunst, losgelöst von dem literarischen Text, dessen Peritext er ist. Auch der Schutzumschlag von Goetz’ zweitem Roman Kontrolliert scheint vom Autor selbst angefertigt worden zu sein, da er stilistisch stark an den Umschlag von Irre erinnert (Abb. 44). In beiden Fällen sind Autor- und Verlagsname, Genrebezeichnung und Titel in derselben auffälligen serifenlosen, schmalen und in Signalfarben eingefärbten Schrifttype gesetzt. Im Falle von Irre wird das blaue Cover von stechend gelben Buchstaben kontrastiert, im Falle von Kontrolliert heben sich die signal-roten Lettern von der schwarzen Oberfläche des Buchumschlags ab. Ebenfalls in den Vordergrund drängt sich in beiden Fällen die besondere Einarbeitung des Autorenfotos in das Design des Schutzumschlags.80 Zudem verweisen die Coverentwürfe beider Romane jeweils thematisch auf den Romantext: Auf dem Umschlag von Irre inszeniert sich der Autor in der Montur einer Zwangsjacke, der Umschlag von Kontrolliert zeigt Goetz’ Konterfei eingearbeitet in das Logo der Roten Armee Fraktion.81 Insbesondere im Fall des Schutzumschlags von Kontrolliert fällt zudem noch auf, dass sich auf dessen Rückseite ein zuvor bereits in der Spex erschienener Text abgedruckt findet. Besonders auffällig ist hierbei der ungewöhnliche Druckort, der von einem ironischen Umgang mit dem Buchformat zeugt. Darüber hinaus hat der monolithische, funktional nicht leserfreundlich strukturierte Satzspiegel des Romantextes eine ästhetische Qualität und muss als solche mitgelesen werden. Goetz’ Umschläge zeugen dabei von einem dezidierten Interesse des Autors an Buchoberflächen und ästhetischen Oberflächen im Allgemeinen. Ebenso beispielhaft für diesen Zusammenhang ist der 1982 von Elaste-Redakteur Christopher Roth veröffentlichte Roman 200D. Dass Roths Roman sich nicht auf die erzählte Welt beschränken lässt, sondern sich auf die eigenen (Format-)Oberflächen ausdehnt, deutet bereits der Untertitel an, der nicht die Textgattung, sondern das Format angibt: »Ein kleines sauberes Buch«82 heißt es unterhalb des Titels auf der Titelseite des Buchs. In der Kurz-Biografie des Autors heißt es zudem, er »schreibt […] oberflächlich« und die Handlung folge »de[m] Weg des geringsten Widerstandes.«83 Diese Schreibweise der Oberfläche lenkt den Blick 80

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Vgl. hierzu Innokentij Kreknin: Poetiken des Selbst. Identität, Autorschaft und Autofiktion am Beispiel von Rainald Goetz, Joachim Lottmann und Alban Nikolai Herbst, Berlin/Boston 2014, S. 137–144. Vgl. zur Geschichte des Autorenfotos Matthias Bickenbach: Das Autorenfoto in der Medienevolution. Anachronie einer Norm, München 2010; und insbesondere zur Funktion des Autorenfotos in der Gegenwartsliteratur Matthias Bickenbach: »Autor/innen-Porträts: Vom Bildnis zum Image«, in: Brigitte Weingart/Claudia Benthien (Hg.), Literatur & Visuelle Kultur, Berlin/Boston 2014, S. 478–499. Christopher Roth: 200D, München 1982, S. 5. Ebd., S. 3.

5. Buchformate im ›Pop‹-Layout: Strategien der Übersetzung

dabei nicht selten auch auf typografische Oberflächen wie Plakatwände, Zeitschriften, Anzeigen, Leuchtreklamen, Türklingeln, Bücher und Enzyklopädien, – und diese abgeschriebenen typografischen Elemente machen insgesamt einen nicht unerheblichen Teil des Romantextes aus.84 Zudem verweist der von dem Münchner Künstler Gerhard Merz gestaltete Schutzumschlag, der in einer Rezension des Romans in Elaste wenig überraschend ebenso viel Beachtung findet wie der Romantext,85 auf den Inhalt von 200D, dessen Titel wiederum auf das gleichnamige Automodell der Marke Mercedes Bezug nimmt (Abb. 45). Der Schutzumschlag des Romans ist nämlich der Lackfarbe und dem Modellemblem des »[s]ignalrot[en]«86 Mercedesmodells »200 D«87 nachempfunden, das der zum Teil autodiegetische Erzähler des Romans beabsichtigt zu kaufen. Darüber hinaus zeugt die signalrote und glänzende Lackoptik des Buchcovers von einem spielerischen Umgang mit der Reizästhetik emphatischer Konsumgüter. Durch die Dekontextualisierung des Warenzeichens und seiner Reproduktion auf der Verpackung des Buches wird dieses zugleich affirmiert und ironisch gebrochen. Die genannten Beispiele zeugen so von einem dezidierten Interesse der Autoren dieses spezifischen literarischen Milieus für die eigenen werbenden Peritexte und für konsumästhetische Oberflächen insgesamt.

5.3 Buchförmige Werbung für KiWi: Hundert Hundertste Seiten Gérard Genette führt in seinem 1987 erschienenen Buch Seuils unter den rezeptionssteuernden Paratexten dezidiert auch werbende auf. Dabei unterscheidet er in diesem Fall wie für Paratexte insgesamt in werbende Epi- und Peritexte. Letztere zeichnen sich wie alle Peritexte dadurch aus, dass sie über das Buch mit dem Haupttext verbunden sind. Beispielhaft sind hier Anzeigen, die sich in der Regel auf den hinteren Seiten des Buches befinden. Anders als bei den auktorialen Peritexten, wie etwa Titel oder Vorwort, bleibt es im Falle solcher im Buch abgedruckten »›bezahlten‹ Werbung«, laut Genette, jedoch dem Leser überlassen, »eine Beziehung zum Thema des Werks herzustellen […].«88 Folgt man Genette in seiner Argumentation, 84

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Eine der beschriebenen Plakatwände erinnert dabei an den Stil von KKG/GGK-Plakaten: »Ich parke auf einem Trümmergrundstück zwischen den ersten Häusern der rechten Seite. Die Straßenfront wird von einer Plakatwand eingenommen. Auf einem blauen Sternenhimmel: OBLATENLEBKUCHEN WERDEN VON HÖCHSTER STELLE EMPFOHLEN.« (Ebd., S. 20). Sowohl das exakte Buchformat als auch die für den Fließtext gewählte Type werden angegeben: »20,5 x 13,5 cm, gesetzt in Garamond normal. Umschlag: Gerhard Merz« Thomas Roth: »Endzeitkapitalismus«, in: Elaste (1983), H. 7, S. 64–65, hier S. 65. C. Roth: 200D, S. 10. Ebd., S. 11. G. Genette: Paratexte, S. 32.

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sind diese damit zumindest potenziell relevant für den Rezeptionszusammenhang. Weniger Bedeutung misst Genette dagegen dem verlegerischen Epitext bei, da dieser nicht direkt über das Buch in den Rezeptionszusammenhang involviert ist: Ich werde nicht auf den verlegerischen Epitext eingehen, für dessen hauptsächlich werbende und ›verkaufsfördernde‹ Funktion der Autor meist nur auf sehr bezeichnende Weise verantwortlich ist, indem er sich nämlich darauf beschränkt, vor den aufwertenden Hyperbeln, nach denen das Geschäft verlangt, offiziell die Augen zu verschließen. Es handelt sich dabei um Plakate oder Großanzeigen, PR-Veröffentlichungen und andere Prospekte […].89 Genettes Theorie der werbenden Peritexte schreibt dabei jedoch an der Wirklichkeit seiner Zeit vorbei. Denn konträr zu Genettes Diagnose finden sich Ende der 1980er Jahre in Deutschland nicht wenige Autoren und Künstler, die ›ihre Augen nicht vor diesen aufwertenden Hyperbeln der Literatur verschließen‹. Beispiele dafür sind Michael Schirner und Diedrich Diederichsen, die mit ihrer Werbeagentur KKG Anzeigen schalteten, die spielerisch die Grenze zwischen Anzeigenteil und redaktionellem Teil aufzuheben versuchten. Ironischerweise erfüllten die Anzeigen, die als Konzeptkunst gedacht waren, am Ende ihre eigentliche Funktion, nämlich GGK und KKG zu bewerben. Schirner selbst formuliert dieses Paradox in seinem Buch Werbung ist Kunst wie folgt: »Die Medien, die wir mit Werbung unterwanderten, wandten sich zunehmend als Werbekunden an uns.«90 Insofern handelte es sich bei den zunächst als Kunst konzipierten Anzeigen in Spex, Elaste und TransAtlantik zugleich auch um eine Art Guerillamarketing: Mit den Zeitschriftenverlagen kamen auch die Buchverlage, Kiepenheuer & Witsch und der Meterverlag der Künstler Albert Oehlen und Werner Büttner. Für die Verlage machten wir nicht nur Anzeigenwerbung, sondern auch Bücher. Jedes dieser Bücher hat das Thema des Buches, daß Sie gerade lesen.91 So wird KKG 1996 für ein Werbeprojekt von Kiepenheuer & Witsch engagiert. Zur Feier des hundertsten Buchs der KiWi-Taschenbuchreihe von Kiepenheuer & Witsch gestaltet KKG einen 101sten Band der Reihe, in welchem die jeweils hundertste Seite von allen zuvor als KiWi-Taschenbuch erschienenen Texten abgedruckt sein soll. Das Buch enthält daher beispielsweise auch eine einzelne Seite aus Peter Glasers Rawums und gibt zumindest im Inhaltsverzeichnis an, auch 89 90 91

Ebd., S. 331. M. Schirner: Werbung ist Kunst, S. 156. Ebd. Der zitierte Text findet sich in beinahe identischer Form in Schirners Vorwort zu Hundert Hundertste Seiten.

5. Buchformate im ›Pop‹-Layout: Strategien der Übersetzung

die hundertste Seite von Diedrich Diederichsen Sexbeat zu enthalten.92 So wird die Taschenbuchreihe wiederum mit einem Taschenbuch beworben, wobei das Taschenbuch zugleich Werbendes und Beworbenes ist. Darüber hinaus begreift Schirner besagten Werbeartikel zugleich als »ein Stück concept-art«,93 das die Leute »mit nach Hause nehmen können.«94 Die einzelnen Seiten der hundert verschiedenen Bände präsentieren sich als ein disparates Nebeneinander verschiedener Layouts, da sie typografisch nicht angepasst, sondern in ihrer ursprünglichen typografischen Form belassen wurden. Die disparate Form des 101. KiWi-Bandes sollte dabei, so Schirner, mit der linearen Form des Buchs brechen und zu einer Rezeptionsweise einladen, die mehr dem ›Zapping‹ zwischen TV-Kanälen entsprechen sollte als dem Lesen eines Buchs: Das Blättern und Lesen in diesem Buch ist ein wenig so, als wenn sie mit einer automatischen Fernbedienung zwischen hundert Programmen aus der ganzen Welt hin- und herschalten könnten: nicht nur zwischen der ARD und ZDF, sondern auch zwischen dem ORF, dem peruanischen Fernsehen, Andy Warhols Kabelkanal in Manhattan oder canale5 in Italien, dem 1. Programm in Bulgarien und dem 5. Programm in Japan.95 Während Schirner auf Andy Warhol explizit verweist, dessen Faible für Konsumästhetik und -oberflächen für Schirner vorbildlich zu sein scheint, schwingt ein weiterer Prätext des Schirner’schen Konzepts mehr implizit mit. Gemeint ist Marshall McLuhans 1964 erschienener Theorie-›Hit‹ Understanding Media, worin McLuhan auch die Werbung in den Blick nimmt. Das Aufkommen einer von »commercial artists«96 betriebenen »art of advertising«97 sei McLuhan zufolge dabei symptomatisch für den Medienwandel von der »lineal uniformity« der typografischen, auf den Buchdruck zurückgehenden Gesellschaftsform, zur »new mosaic form of the TV image«.98 McLuhan nimmt vor diesem Hintergrund insbesondere auch die Rolle von Werbeanzeigen in Zeitschriften in den Blick:

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Vgl. ebd., S. 157. Letzteres befindet sich jedoch gar nicht im Heft auf der angegebenen Seite abgedruckt. Denn bei Sexbeat handelt es sich um eine der acht Falschangaben, die es in dem literarischen Rätsel des Bandes aufzuspüren gilt. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. zur Adaption der Fernsehform in Literatur und umgekehrt Gregor Schwering: »Literatur im Fernsehen/Fernsehliteratur«, in: T. Dembeck/N. Binczek/J. Schäfer (Hg.), Handbuch Medien der Literatur, S. 323–332. Marshall McLuhan: Understanding Media. The extensions of Man, Berkeley 2013, S. 380. Ebd. Ebd., S. 386.

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This powerful new trend in ads toward the iconic image has greatly weakened the position of the magazine industry in general and the picture magazines in particular. Magazine features have long employed the pictorial treatment of themes and news. Side by side with these magazine features that present shots and fragmentary points of view, there are the new massive iconic ads with their compressed images that include producer and consumer, seller and society in a single image. The ads make the features seem pale, weak, and anemic. The features belong to the old pictorial world that preceded TV mosaic imagery.99 Da die Anzeigen bereits der modernen TV-Form eines komprimierten Mosaiks entsprechen, wirkt der redaktionelle Teil der Zeitschriften, auch wenn es sich um großangelegte Bildstecken handelt, farblos und schwach im Vergleich zu den Anzeigen.100 Die Theorie McLuhanns scheint demnach in diesem Fall eine zentrale Inspiration für die ästhetische Praxis in Deutschland gewesen zu sein, die sich an eben jener Invertierung von Anzeigenteil und redaktionellem Teil abarbeitet. Ein weiteres Buch von Michael Schirner, dass Schirners Werbekonzept mit dem Buchformat zusammenbringt, nämlich Plakat und Praxis, erscheint wiederum im Verlagsprojekt von Albert Oehlen und Werner Büttner, dem Meter Verlag.101 Plakat und Praxis beinhaltet zwei nebeneinander herlaufende – und in verschiedenen Schrifttypen gesetzte – Texte. Bei einem der beiden handelt es sich um einen fiktionalen Text über sadomasochistische Sex-Fantasien. Der zweite Text resümiert wiederum Schirners Plakatkampagnen bei GGK, deren Programm, Schirner zufolge, aus der Dekonstruktion der Gegensatzpaare Werbung/Kunst, Produzent/Rezipient102 und Bewerbendes/Beworbenes bestand.103 Albert Oehlen und Werner Büttner wiederum schrieben, wie Schirner in Werbung ist Kunst verrät,

99 Ebd., S. 381. 100 Die Offenheit der Zeitschrift gegenüber Werbeanzeigen erkläre sich wiederum daraus, dass das Zeitschriftenformat selbst schon mosaikförmig angelegt sei und damit besser der gesellschaftlichen Organisationsform des elektronischen Zeitalters entspräche. Demgegenüber repräsentiere das Format des Buchs das Gutenberg’sche Prinzip der Linearität. Daher erscheinen, so McLuhan, die Anzeigen aus der Sicht des ›Buch-Menschen‹ als Fremdkörper. Im Gegensatz dazu hätten die Zeitschriftenleser genauso viel Freude an den Anzeigen wie an den redaktionellen Inhalten: »The book-oriented man has the illusion that the press would be better without ads and without the pressure from the advertiser. Reader surveys have astonished even publishers with the revelation that the roving eyes of newspaper readers take equal satisfaction in ads and news copy.« (Ebd., S. 353.) Die lineare Form des Buchs wiederum verdrängt die Anzeigen zumeist auf die hinteren Seiten, um die Trennung zwischen literarischem Text und werbendem Peritext aufrechtzuerhalten. 101 Michael Schirner: Plakat und Praxis, Hamburg 1986. 102 Vgl. ebd., S. 10–12. 103 Vgl. ebd., S. 12–14.

5. Buchformate im ›Pop‹-Layout: Strategien der Übersetzung

»[f]ür den Buchumschlag […] einen kleinen Werbetext«,104 der sich auf dem Rücken des Buchumschlags befindet. Der Position nach handelt es sich also durchaus um einen Werbe- bzw. Klappentext, dem Inhalt nach aber mehr um eine ironische Polemik gegen das System Werbung als solches: Traurig zu sagen, die mörderischen, kriegerischen Wahnsinnigen des Systems mit ihrem organisierten Massenmord, Krieg und Werbung – sie sind die schlimmste Scheiße von allem! Auf ihre Art sind sie schlimmer als Scheiße und Pisse und Verschmutzung! Sie sind mehr wie tödliches Gift. Sie sind wie verseuchtes, tödliches Typhuswasser, das Menschen tötet! Weißt Du, vor welcher Seuche sich die Welt heute am meisten fürchtet, und sie geraten darüber in Panik, und nötigen dich, dagegen geimpft zu werden? Es ist die gefürchtete Werbung! Werbung ist giftiger, ansteckender Abfall, der dich innerhalb einiger Stunden töten kann! Werbung ist die Kunst die Menschen zu lieben/töten, ohne sie mit den Händen zu massieren, in sich einzuführen oder zu lutschen. Sie kann durch Fliegen, Fisch, Nahrung, Handcreme oder fast alles übertragen werden. Und ohne die Gnade des Meterverlags und sein Wunderbares Heilen braucht sie nur ein paar Stunden, um auszubrechen, und du bist hinüber!105 Der vermeintliche Werbetext scheint hierbei paradigmatisch für viele der in Plakat und Praxis vorgestellten Plakatkampagnen von GGK einzustehen. So wie der Büttner und Oehlen’sche Klappentext die Werbung in Form eines Werbe-Genres in die Kritik nimmt, thematisieren auch die Werbeprojekte von KKG oftmals das System der Werbung selbst. Beispielsweise spricht eine Plakatkampagne mit dem Titel Superposter verschiedene Vorsitzende des deutschen Art Directors Club wie etwa Vilim Vasata, der den deutschen ADC 1956 zusammen mit unter anderem Willy Fleckhaus gründete, direkt über das Plakat an, das dadurch von einem Massenmedium in ein Individualmedium umfunktioniert wird: Vilim Vasata, dem Chairman von TEAM/BBDO und vormals Präsidenten vom Art Directors Club, wird von einem Mitarbeiter zugeflüstert: »Sie hängen auch.« Horst Thome, früher Präsident des Art Directors Club, tritt noch ein bisschen zurück, um besser lesen zu können: »Lieber Horst Thome, möchten Sie nicht auch mal ein wirklich großes Plakat machen? Superposter.« Lutz Steinmetz, dem letzten kommissarischen Präsidenten des Art Directors Club, stellte ich die Frage, die in diesen Wochen in diesem Lande auf zahlreichen Plakatwänden steht: »Lieber Lutz Steinmetz, möchten Sie nicht mal ein wirklich großes Plakat machen?« »Eins gab’s auch für den noch nicht gewählten Präsidenten und alle, die ihn wählen sollen: »Herr

104 M. Schirner: Werbung ist Kunst, S. 164. 105 Ebd. Schirner zitiert wiederum den Umschlagstext von Plakat und Praxis. Vgl. M. Schirner: Plakat und Praxis, U4.

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Präsident, meine Damen und Herren vom Art Directors Club, hier können sie wirklich mal ein großes Plakat machen. Superposter.«106 Diejenige Institution, die die Preise für äußerst gelungene Werbekampagnen sowie Zeitschriften-Layouts verteilt, wird Inhalt der Kampagne, die zugleich auch die Werbeagentur KKG bewirbt. So überrascht es nicht, dass Schirner wenig später selbst Mitglied der Art Directors Club-Jury und Herausgeber des ADC Jahrbuchs wird, das unter der Ägide Schirners auch für die Macher der verschiedenen hier thematisierten Pop-Zeitschriften bedeutsam wird. Dies betont nicht zuletzt auch Peter Glaser in einer für Tempo verfassten Rezension des Art Directors Club-Jahrbuchs von 1994, worin Glaser noch einmal deutlich macht, welchen Stellenwert Werbung in der Popkultur 1980er Jahren innehatte: In den 80ern wurde Werbung zu einem Stück Alltagskultur. Pop. Eine neue Kampagne wurde wahrgenommen wie ein neues Buch oder eine neue Platte, freundlich angenommen von jahrelang aufgeklärten Konsumenten, die in den immer raffinierteren Spielen mit den Bedeutungen und Botschaften erfahren waren. Und sie holten sich ihren Spaß nicht erst aus den Produkten, sondern gleich aus der Werbung.107 In den 1990er Jahren, so die Diagnose Glasers, hätte die Werbung ihren ›Pop‹-Status wieder verloren. Vielmehr würde sie als »luxuriöse Verspieltheit«108 der Konsumwelt wieder ins rechte Licht gerückt und auch Glasers Rezension des ADC-Jahrbuchs fällt nicht positiv aus. Den Art Directors Club bezeichnet er etwa als »Eros-Center der Konsumzucht«109 und das Jahrbuch wiederum als »Quellekatalog der Qualitätswerbung« .110 Darüber hinaus kritisiert Glaser, dass in besagtem Jahrbuch von 1994 an keiner Stelle von den »Computerprogrammen«111 die Rede sei, die »die Bildästhetik und Typographie so radikal umgekrempelt haben«.112 Während der ADC in den 1960er Jahren (Fleckhaus) und in den 1980er Jahren (Schirner) im typografischen Diskurs avantgardistisch war, scheint er in den 1990er Jahren hinter den Trends zurückzubleiben und seinen besonderen Status als bedeutsame Institution in der Geschichte der Typografie und des Designs zu verlieren.

106 Ebd., S. 47–48. 107 Peter Glaser: »Das Ja-Buch. Das neue Jahrbuch des Art Directors Club ist erschienen. Sehr schön und ein bißchen dumm«, in: Tempo (1994), H. 9, S. 100. Vgl. hierzu auch K. Steenbock: Zeitgeistjournalismus, S. 174. 108 P. Glaser: Das Ja-Buch, S. 100. 109 Ebd. 110 Ebd. 111 Ebd. 112 Ebd.

5. Buchformate im ›Pop‹-Layout: Strategien der Übersetzung

5.4 Buchplastiken: Kippenbergers »Verlags-Look-Appropriationen« Martin Kippenberger wiederum interessiert sich auch über seine Partizipation in Form seines Buchs Café Central am Meter Verlag von Büttner und Oehlen hinaus für die skulpturale Dimension des Buchkörpers und schließt so an die konzeptuelle Idee einer Buchplastik an. So veröffentlicht Kippenberger in den 1980er und 1990er Jahren eine Reihe von Künstlerbüchern, die die typografischen Oberflächen von etablierten Verlagen wie Reclam, Rowohlt und Merve zitieren. Diese »VerlagsLook-Appropriationen«,113 wie Diedrich Diederichsen sie in seinem Nachwort zu der von ihm herausgegebenen Sammlung mit Texten Kippenbergers Wie es wirklich war nennt, zitieren dabei zuvorderst populäre Entwürfe renommierter Typografen, wie etwa das 1980er Jahre Reclam-Design, die Titelansicht der Taschenbuchreihe rororo bildmonographien sowie das Cover des Merve Verlags. Die ästhetischen Oberflächen der verschiedenen Reihen- und Verlagsdesigns, deren Funktion nicht zuletzt darin besteht, die Reihe oder den Verlag als Marke zu etablieren, werden dabei aus ihrem konsumästhetischen Kontext herausgelöst und in einen rein ästhetischen überführt.114

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Diedrich Diederichsen: »Nachwort«, in: Martin Kippenberger: Wie es wirklich war. Am Beispiel. Lyrik und Prosa, hg. von Diedrich Diederichsen, Frankfurt a.M. 2007, hier S. 352. Vgl. weiterhin Léonce W. Lupette: »Edition. Distribution. Programm. Appropriation und Verlage«, in: Annette Gilbert (Hg.), Wiederaufgelegt. Zur Appropriation von Texten und Büchern in Büchern, Bielefeld 2012, S. 391–408, hier S. 397. Vgl. zur literarischen bzw. künstlerischen Aneignung »eines konkreten Buchs (Papier, Cover, Format, Druckfarbe, Klappentext, ISBN)« Annette Gilbert: »Zur Einführung«, in: dies. (Hg.), Wiederaufgelegt, S. 9–26. Dabei handelt es sich nicht im eigentlichen Sinne um Fälschungen, sondern Fakes. Während erstere versuchen, eine Identität mit dem Original vorzutäuschen, sind für letztere Differenzmarker zum Original unerlässlich. Zur terminologischen Unterscheidung von Fälschung und Fake vgl. Martin Dolls Fälschung und Fake, dessen Cover selbst den edition suhrkamp-Look appropriiert. Martin Doll: Fälschung und Fake. Zur kritischen Dimension des Täuschens, Berlin 2012. Vgl. weiterhin zur Geschichte von Fälschung und Plagiat in Literatur und Wissenschaft Anne-Kathrin Reulecke: Täuschend, ähnlich. Fälschung und Plagiat als Figuren des Wissens in Literatur und Wissenschaften. Eine philologisch-kulturwissenschaftliche Studie, Paderborn 2016; und Philipp Theisohn: Plagiat. Eine unoriginelle Literaturgeschichte, Stuttgart 2009.

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Ronald Röttel: Verpackungen der Literatur

Abb. 46: Titelansicht von Martin Kippenbergers Wie es wirklich war am Beispiel Knokke von 1984 (15 × 9.5 cm).

Die Pilotnummer dieser ›Verlags-Look-Appropriationen‹ ist Kippenbergers 1985 erschienenes Buch 1984. Wie es wirklich war am Beispiel Knokke, das den Buchumschlag des von Hans Peter Willberg in den 1980er Jahren entworfenen Reihen-Coverdesigns von Reclams Universal-Bibliothek zitiert (Abb. 46).115 Kippenbergers Buch-Projekt im Reclam-Gewand beginnt dabei mit einer Danksagung, die in die ›Punk‹- und ›New Wave‹-Szene der 1980er Jahre verweist. Denn diese adressiert die Sängerin der Hannoverischen Band Bärchen und die Milchbubis116 Anette Grotkasten und zwar »für die

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Das Reclam-Cover von Willberg wurde 2012 durch das aktuelle, von Friedrich Forssman und Cornelia Feyll gestaltete Cover ersetzt. Vgl. Friedrich Forssman: »Zur Neugestaltung 2012«, in: Karl-Heinz Fallbacher (Hg.), Die Welt in Gelb. Zur Neugestaltung der Universal-Bibliothek 2012, Leipzig 2012, S. 9–38, hier S. 27–28. Vgl. weiterhin Friedrich Forssman im Interview mit Nadine Roßa/Patrick Marc Sommer [https://www.designmadeingermany.de/2011/38822 /, zuletzt eingesehen am 15.09.2022]. Vgl. D. Diederichsen: Nachwort, S. 351.

5. Buchformate im ›Pop‹-Layout: Strategien der Übersetzung

Realisierung dieses Büchleins«.117 Denn das Konzept des Buchs beruhte darauf, dass Kippenberger seinen Aufenthalt in dem belgischen Badeort Knokke protokollierte und seine Aufzeichnungen Anette Grotkasten mit der Anweisung übergab, alles bis ins Detail nochmal genauso zu erleben und erneut aufzuschreiben. Das Buch-Projekt befragt demnach die für Kunst zentralen Konzepte von Urheber- und Autorschaft – in ähnlicher Weise wie Kippenbergers Lieber Maler Male mir-Bild der Berliner Paris Bar, wobei deutlich wird, dass im Oeuvre Kippenbergers mehr das Programm als das Medium (ob Text oder Bild) den Zusammenhang stiftet. Das Knokke-Buch wie auch die folgenden Bücher Calma-Trio: 1986. Jazz zum Fixsen sowie William Holden Company: The Hot Tour von 1991, die ebenfalls Willbergs Reclam-Cover imitieren, entsprechen dem Reclam-Prätext bis hin zum genauen Format. Das 1994 von Kippenberger herausgegebene Buch Walter Grond: Der Schoppenhauer: Ein Schauspiel. Tisch 32, das dem Design der Rowohlt-Reihe rororo monographien nachempfunden ist, erscheint hingegen im Gegensatz zum appropriierten Prätext in einem etwa doppelt so großen Format (vgl. Abb. 47 und Abb. 48). Dass auch der Titel des Schauspiels Der Schoppenhauer zusätzlich auf das Cover der in der rororo monographien-Reihe erschienenen Monographie zu Arthur Schopenhauer verweist, kann, obwohl dies nahe liegt, jedoch nicht direkt nachgewiesen werden. Das Cover-Design der Reihe rororo bildmonographien geht zurück auf Werner Rebhuhn, einen Grafikdesigner, der in den 1960er Jahren eine Vielzahl von Umschlagentwürfen für den Rowohlt-Verlag anfertigte, unter anderem auch das psychedelische Design der Erstausgabe von Hubert Fichtes Roman Die Palette.118 Bei dem Signet auf dem Cover von Kippenbergers Adaption, das dem Logo der rororo bildmonographien nachempfunden ist, handelt es sich um die Abkürzung des darin enthaltenen dramatischen Textes, der Teil einer gleichnamigen Ausstellung Kippenbergers in Rotterdam war: »dh/ev/ka – ein/schau/spiel« steht für »das happy end von Franz Kafka’s Amerika«.119

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Martin Kippenberger: 1984: Wie es wirklich war am Beispiel Knokke. Für Werner Büttner, Frankfurt a.M. 1985, S. 2. Vgl. hierzu insbesondere Kap. 3.1.2 der vorliegenden Arbeit. Martin Kippenberger/Walter Grond: Der Schoppenhauer: Ein Schauspiel. Tisch 32, Graz 1994, S. 2.

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Abb. 47: Titelansicht von Martin Kippenbergers Der Schoppenhauer von 1988 (29.6 × 17.8 cm).

Abb. 48: Titelansicht von Walter Abendroths Schopenhauer von 1967 (20 × 12cm).

Eine weitere Buchveröffentlichung, nämlich Kippenbergers 1988 erschienener Bildband Psychobuildings, kopiert wiederum Jochen Stankowskis Merve-Raute, stellt sie dabei aber auf den Kopf (Abb. 49). Von den genannten Beispielen ist Psychobuildings zudem das einzige, in dem Kippenberger im Impressum als Urheber des Umschlagsdesigns genannt wird.120 Aus einer Postkarte, die Kippenberger von Teneriffa an den Merve-Verlag verschickte, geht wiederum hervor, dass Kippenberger die Idee zum Band zunächst tatsächlich bei Merve vorschlug: »Architekturskulptur, gewollte + vorweggenommene Missverständnisse, die nur Liebe sein wollen, werden photografiert auf Mutter Erden + möchten Buch werden?!«121 Das Besondere an Psychobuildings ist, dass es mit der konventionellen Aufteilung eines Buches in den Haupttext und seinen peritextuellen Rahmen bricht. Das Buch beinhaltet weder eine Titel-, noch eine Schmutztitelseite, die bibliografischen Angaben befinden sich vielmehr auf dem Buchrücken. Alle Buchseiten, einschließlich der inneren

120 »Umschlagentwurf: Kippenberger, Köln«. Martin Kippenberger: Psychobuildings, Köln 1988, U4. Im Fall von Knokke wird das Urheberrecht teilweise Kippenberger zugeschrieben: »© 1985 Martin Kippenberger u. Galerie Bärbel Grässlin, Frankfurt«. (M. Kippenberger: 1984, S. 2). 121 Martin Kippenberger: Postkarte an den Merve Verlag 1987 [https://zkm.de/de/merve-verlag , zuletzt eingesehen am 16.10.2023]. Vgl. hierzu P. Felsch: Der lange Sommer, S. 180.

5. Buchformate im ›Pop‹-Layout: Strategien der Übersetzung

Umschlagseiten, sind mit Bildern bedruckt. Psychobuildings entspricht damit ziemlich genau Kippenbergers Merve-Publikation Frauen, auf deren Buchseiten ebenfalls ausnahmslos Bilder abgedruckt sind, die ebenfalls ohne Titelblatt und Schmutztitel auskommen.122

Abb. 49: Titelansicht von Martin Kippenbergers Psychobuildings von 1988 (17 × 11.8 cm).

Kippenbergers Aneignung der ikonischen Merve-Raute – ebenso wie die der Titelansichten von Reclams Universal-Bibliothek und der rororo bildmonographien – übernimmt zum einen in Form eines Aktes der Piraterie das kulturelle Kapital, das diese Verlagsoberflächen bündeln. Andererseits experimentieren Kippenbergers Buchskulpturen, wie auch andere Arbeiten aus seinem Oeuvre, mit der Ästhetik von Ware, Konsum und Marke. Die Zeitschrift der ›Lord Jim Loge‹ Sonne Busen Hammer etwa, an der auch Kippenberger beteiligt war, experimentiert – im Anschluss an Warhol – mit der Ästhetik von Warenzeichen wie dem ›Logo‹: Warhol verwendete bekannte Zeichen und erhob sie in die Kunst. Schlick aber verwendet mit dem Logo der Lord Jim Loge ein Zeichen, das keinen Warenwert reprä122

Martin Kippenberger: Frauen, Berlin 1980.

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Ronald Röttel: Verpackungen der Literatur

sentiert. Aber so wie Warhol die Coca-Cola-Dose als Inbegriff der Verlockungen des Kapitalismus in die Kunst transzendierte, verlockt Schlick mit dem Zeichen der Lord Jim Loge, das er so bekannt wie Coca Cola machen will, mit einem Zeichen, das in seiner Wertlosigkeit Inbegriff der Antworten der Kunst ist.123 Dazu passend enthält die siebte Ausgabe, »[d]ie Logonummer«,124 der von Jörg Schlick herausgegebenen kleinformatigen Zeitschrift ausschließlich alternative Logoentwürfe. Das dreizehnte Heft der Zeitschrift wiederum gibt Albert Oehlen heraus, wobei die typografische Gestaltung der Ausgabe auf die Machart der ›Punk‹-Fanzines der späten 1970er Jahre verweist. Die Seiten des Magazins setzen sich zusammen aus Papierschnipseln, die zum Teil mit der Schreibmaschine überschrieben wurden, aus Bildern, die aus Zeitschriften ausgeschnitten wurden, einem fiktiven Fanplakat und einer ebenso fiktiven Anzeigenseite, die nicht zuletzt eine Nähe zur Zeitschriftenkultur der 1980er Jahre verrät. Die genannten Projekte Kippenbergers stellen ihren Fokus auf die Konsumoberfläche von Publikationsformaten sowie die Markenästhetik von Verlagen und reflektieren in einem Akt der Aneignung auf die politische Dimension der Marke, die nicht zuletzt auch ein Mittel zur Ausübung von (Markt-)Macht ist.

5.5 »Geniale Dilletanten«: ›Punk‹ im Merve-Verlag Der Merve-Verlag tritt Anfang der 1980er Jahre in mehrfacher Weise als Akteur im Umfeld der ›Punk‹- und ›New Wave‹-Zeitschriftenkultur in Deutschland auf den Plan.125 Beispielsweise findet sich Ende 1979 in der bis dato eher belletristisch ausgerichteten Rubrik ›Bücher‹ in der Musikzeitschrift Sounds eine von Diedrich Diederichsen verfasste und überaus positive Rezension von Gilles Deleuze’ und Félix Guattaris bei Merve erschienenem Werk Rhizom.126 Diederichsen geht dabei implizit auch auf die besondere Rolle des Merve-Verlags ein, der den passenden Rahmen für Guattaris und Deleuze’ Theorie liefere. Dem gegenüber war der bei Suhrkamp erschienene Anti-Ödipus mit diesem Rahmen in Konflikt geraten, da der Text, so Di-

123

Walter Grond: »Exzess des Paradoxen. Jörg Schlick und die Lord Jim Loge«, in: Sonne Busen Hammer. Zentralorgan der Lord Jim Loge: Jubiläumsnummer (1992), H. 2, S. 17–42, hier S. 35. 124 Sonne Busen Hammer: »Cover«, in: Sonne Busen Hammer. Zentralorgan der Lord Jim Loge: Die Logonummer (1993), H. 7, U1. 125 Auch Phillip Felsch konstatiert in seiner Geschichte des Merve-Verlags, dass Merve in den 1980ern als Teil der Popkultur rezipiert wurde, vgl. P. Felsch: Der lange Sommer, S. 14. 126 Vgl. hierzu Henning Schmidgen: »Rhizom. Eine Wörterflucht«, in: Nach Feierabend. Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte (Wissen, ca. 1980) (2016), H. 12, S. 161–172, hier S. 161–162.

5. Buchformate im ›Pop‹-Layout: Strategien der Übersetzung

ederichsen, »den Anspruch der Wissenschaftlichkeit, den die Publikation in der Reihe ›Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft‹ suggeriert, nicht einlöst.«127 Im gleichen Jahr rezensiert Diederichsen zudem die von den Merve-Machern Peter Gente und Heidi Paris herausgegebene Zeitschrift Schlau Sein, Dabei Sein in Sounds, für die Martin Kippenberger die Titelseite und die Rückseite gestaltet.128 Das 1979 erschienene Magazin, das sowohl Theorie-Texte als auch eine Collage aus Zitaten von Roxy Music-Mitglied Brian Eno beinhaltet, scheint, wie aus Diederichsens Rezension hervorgeht, nicht zuletzt von den ›Punk‹-Fanzines beeinflusst zu sein, die in den späten 1970er Jahren ihre größte Popularität erreichten.129 Das typografisch in besonderer Weise ausgestaltete »Edel Fanzine«,130 wie Diederichsen es nennt, spiegelt für den Sounds-Autor dabei die Machart der Texte der französischen Poststrukturalisten wieder, die die Zeitschrift zuvorderst beinhaltet: »Das alles im ultra-hippen Layout, das die ohnehin z.T. schwer lesbaren Texte manchmal zu Bildern reduziert […].«131 Diederichsens Kritik an der überbordenden typografischen Oberfläche der Merve-Publikation weist somit auf einen interessanten Zusammenhang hin, nämlich dass die unverständlichen Theorie-Texte der 1980er Jahre zum Teil Schreibweisen der Oberfläche erprobten, die in ihrer radikalsten Form lediglich poppige Layoutoberflächen sind. Dies gilt gleichermaßen auch für das Magazin Dry, eines von mehreren großformatigen Zeitschriften, die Merve in den 1980er Jahren veröffentlicht. Das »extreme[] Layout, sachlich geometrisch, blau-rot«132 der Zeitschrift, wie es der Münchener Autor Lorenz Lorenz in einer Rezension in Elaste beschreibt, orientiert sich dabei am klassischen Merve-Look, d.h. den rautenförmigen, monochromen Farbflächen der Merve-Buchpublikationen und die den Theo-

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Diedrich Diederichsen: »Rezension zu Gilles Deleuze’/Félix Guattaris ›Rhizom‹«, in: Sounds (1979), H. 8, S. 50. Vgl. hierzu R. Röttel: Sounds Diskurs, S. 119. 128 Titel- und Rückseite des Heftes sind zudem paginiert und im Inhaltsverzeichnis aufgeführt: »1. Kippenberger: Titelseite« und »56. Kippenberger: Rückseite«. So wird die Coveroberfläche gezielt als Inhalt ausgewiesen und der Peritext mit dem eigentlichen Text kurzgeschlossen. (Martin Kippenberger: »Rückseite«, in: Schlau Sein, Dabei Sein (1979), S. 56; Martin Kippenberger: »Titelseite«, in: Schlau Sein, Dabei Sein (1979), S. 1). 129 Vgl. Christian Descamps: »Jean Baudrillard und die Verführung«, in: Schlau Sein, Dabei Sein (1979), S. 4–10; Thomas Kapielski: »Brian Eno – eine Zitat-Montage«, in: Schlau Sein, Dabei Sein (1979), S. 10–13. 130 Diedrich Diederichsen: »Schlau Sein, Dabei Sein [Rezension]«, in: Sounds (1980), H. 4, S. 55. Zudem veröffentlicht Merve in den 1980er Jahren mehrere großformatige Zeitschriften wie etwa das 1983 erscheinende Magazin Dry. Das Layout der Zeitschrift orientiert sich dabei am klassischen Merve-Look, d.h. den rautenförmigen, monochromen Farbflächen der MerveBuchpublikationen. Darin abgedruckt finden sich Texte von unter anderem Jean Baudrillard und Roland Barthes. Merve gibt darüber hinaus weitere Theorie-Magazine wie Solo, Stop und Art heraus, vgl. P. Felsch: Der lange Sommer, S. 180. 131 D. Diederichsen: Schlau sein, Dabei sein, S. 55. 132 Lorenz Lorenz: Bücher, in: Elaste (1983), H. 7, S. 86.

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rie-Texten beigefügten Illustrationen stammen von Wolfgang Müller, dem Sänger der Band Die tödliche Doris und Herausgeber des Merve-Bandes Geniale Dilletanten. Ebenso exemplarisch für das Interesse der Popszene an den Merve-Publikationen ist Lorenz’ 1983 in Elaste erschienene Rezension der bei Merve verlegten Baudrillard-Bücher, in der Lorenz auch auf die »Merve-Verlagsarbeit«133 eingeht. Baudrillards Bücher, so Lorenz, hätten in den 1980er Jahren die Funktion von Coffee Table Books gehabt, woran die Merve-Verpackung zu einem nicht unerheblichen Teil mitgewirkt habe: »ein Buch von ihm (egal welches, also warum nicht dieses) sollte man irgendwo in der Wohnung rumliegen haben, wenn Besuch kommt.«134 Diederichsen hingegen, der Baudrillards Bücher in der Sounds rezensiert, interessiert sich mehr für den Inhalt der Merve-Bücher, der zum Teil ebenso an die zur der Zeit populären Pop-Strömungen anschloss. So bezeichnet Diederichsen Baudrillards bei Merve erschienenen Band Kool Killer als »[p]hilosophische[n] Punk«,135 also als theoretisches Pendent zur Ende der 1970er Jahre modischen Jugendkultur. Der Merve Verlag und seine Autor:innen werden so Anfang der 1980er Jahre vermehrt mit ›Punk‹ sowie dem Milieu der Fanzines und Pop-Zeitschiften in Verbindung gebracht. Auf der anderen Seite beginnen Peter Gente und Heidi Paris sich Ende der 1970er Jahre für »Punk-Musik«136 und die programmatischen Slogans dieser Subkultur zu begeistern: »1974 zerfiel der Arbeitszusammenhang im Verlag. Zeiten der Verwirrung. 1976: ›No future‹, und das leuchtete uns ad hoc ein«,137 berichtet Peter Gente in einem Interview im Kunstforum von 1989. Dieses Interesse des Merve Verlags für die Programmatik des ›Punk‹ wirkt sich wiederum auf das Verlagsprofil des Verlags aus, insofern die beiden Verlagsleiter Paris und Gente einige Publikationen von Autoren und Musikern aus dem ›Punk‹-Milieu veröffentlichen.

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Ebd. Dabei handelt es sich um dieselbe Buch-Rezension, in der Lorenz Rainald Goetz vorwirft, von Diedrich Diederichsen abzuschreiben, und Diedrich Diederichsen wiederum vorwirft, von Jean Baudrillard abzuschreiben. Goetz wiederum kommt in seiner Antwort auf Lorenz’ Kritik, die er in der Spex publiziert, auch auf den »doofe[n] Merve-Verlag« zu sprechen, den er insbesondere wohl wegen Lorenz’ Rezension der Merve-Bändchen ›doof‹ findet. (R. Goetz: Gewinner und Verlierer, S. 43). L. Lorenz: Bücher, S. 86. Auch Thomas Meinecke berichtet 1987 in einer Baudrillard-Rezension in der Zeit, dass Baudrillards »Bändchen aus dem Merve Verlag« die »Bildbände der frühen 1980er Jahre« waren und dass Baudrillards Theorie im Pop-Milieu auf fruchtbareren Boden fiel, so dass »ganze Konzeptalben des Pop mit Baudrillard […] überfrachte[t]« wurden. (Thomas Meinecke: »Die göttliche Linke. Jean Baudrillards Simulationstheorie«, in: Die Zeit vom 06.03.1987, S. 75). D. Diederichsen: Bücher. Neues. No Fun, S. 48. Kunstforum: »Kunst des Büchermachens. Gespräch mit Heidi Paris und Peter Gente vom Merve-Verlag«, in: Kunstforum. Kunst und Philosophie (1989), H. 100, S. 377–379, hier S. 377. Ebd.

5. Buchformate im ›Pop‹-Layout: Strategien der Übersetzung

Abb. 50: Titelansicht des von Wolfgang Müller herausgegebenen Merve-Bandes Geniale Dilletanten von 1982 (17 x 12 cm).

Zum einen erscheint bei Merve 1983 ein Buch des Einstürzende Neubauten-Sängers Blixa Bargeld, nämlich Stimme frisst Feuer, bei dem es sich um ein Formexperiment handelt, das an einer Neukonzeption des Buchformats interessiert ist. Dies lässt sich einer im Buch abgedruckten Arbeitsnotiz entnehmen, in der die Linearität des Buchs programmatisch verneint wird: »eine angebrachte Form finden (sicherlich nicht das einfache nacheinander drucken)«.138 Diese nicht-lineare Form bestätigt sich auch in der Machart des Buchs, dass sich einer Notizensammlung gleich aus verschiedensten Versatzstücken zusammensetzt, die zum Teil rekursiv ineinandergreifen. Ebenso beispielhaft hierfür ist der von Wolfgang Müller, dem Sänger der Berliner Band Die tödliche Doris, herausgegebene Merve-Band Geniale Dilletanten, der eine Vielzahl von Texten von Autoren aus der ›Punk‹- und ›New Wave‹-Szene versammelt (Abb. 50). Das Cover der Merve-Publikation fällt dabei für die Programmatik

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Blixa Bargeld: Stimme frißt Feuer, Berlin 1988, S. 12. Die Merve-Monografie Bargelds wird von Tempo als eines der besten Bücher der 1980er Jahre gekürt. Tempo: »Die hundert besten Bücher der 80er Jahre«, in: Tempo (1989), H. 12, S. 118–133, hier S. 133.

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des ›Punk‹ typisch, der sich gegen alle Formen der Hierarchisierung im Kulturbetrieb stellt, vor allem dadurch auf, dass es die Namen der meisten daran beteiligten Autor:innen zusammen mit dem Namen des Herausgebers auf dem Cover aufführt, – was zusätzlich aber wohl auch einen Werbeeffekt versprach. Außerdem manifestiert sich das dilettantische Programm in der Gestaltung des Covers, insofern die Spatien, die zwischen den Kommata und dem nachfolgenden Autornamen zu erwarten wären, mal vor den Kommata stehen und mal ganz wegfallen. Zur Publikationsgeschichte des Buchs äußert sich der Herausgeber in einem späteren Buch, das sich mit der Subkultur Berlins in den 1980ern befasst. Die beiden Merve-Verleger hatten Müller kurz nach dem 1981 im Berliner Tempodrom veranstalteten Festival Genialer Dillentanten den Vorschlag unterbreitet, »ein Buch über die Westberliner Genialen Dilletanten zu veröffentlichen.«139 Gentes und Paris’ Interesse an dem Kulturphänomen der ›Genialen Dilletanten‹ beruhte Müller zufolge auf einer verwandtschaftlichen Nähe des Merve Verlags zum ›Punk‹, denn das äußere Erscheinungsbild der Merve-Bücher entsprach teilweise der DIY-Ästhetik der ›Punk‹-Fanzines: »Passend zum Westberliner Trödelmarktambiente erscheinen die Merve Bücher auf allerbillegstem Papier, hergestellt bei Dressler, der wohl allerbilligsten Druckerei in Kreuzberg. Graue, schnell gilbende Seiten, schlecht geleimte Bücher, die leicht auseinanderfallen, mit Letraset selbst gerubbelte schiefe Buchstaben auf den Covern.«140 Zudem bekennen sich die Macher des Merve-Verlags in einer ›Fuß-Note‹ zum Band selbst zum (genialen) Dilettantismus, welche sich der Form nach an das Cover des Buchs anpasst. So spielt die fehlerhafte Interpunktion auf das Programm des ›Genialen Dilletantismus‹ an und setzt dieses performativ um: Die diesen Verlag machen, sind weder kaufmännisch tätig gewesen, noch haben sie irgendeinen Verlag von innen gesehen […]. Als Leuchttisch für graphische Arbeiten dienen Fensterscheiben und Glühbirnen in der Fabriketage. Unsere Setzerin arbeitet mit 2-Finger-Suchsystem. Unsere Werbung besteht darin, an bestimmten Orten nicht in Erscheinung zu treten. Wir haben in diesem Jahr ca. 2000 Rechnungen über den Betrag von DM 4,90 geschrieben und versandt. Kurz: Wir sind Dilettanten und bekennen uns fröhlich dazu, unseriös zu sein,schlechte und billige Bücher zu machen.141

139 W. Müller: Subkultur Berlin, S. 319. 140 Ebd. Die bestätigt auch Peter Gente in Kunstforum: Kunst des Büchermachens, S. 379. 141 Heidi und Peter: »Fuß-Note«, in: Wolfgang Müller (Hg.), Geniale Dilletanten, Berlin 1982, S. 126–127, hier S. 126. Vgl. hierzu auch das Kapitel ›Merves Welt‹ in Heinz Bude/Bettina Munk/ Karin Wieland: Aufprall, München 2020, S. 298–309.

5. Buchformate im ›Pop‹-Layout: Strategien der Übersetzung

Man müsste wohl hinzufügen: kleine Bücher, denn die Merve-Bücher erscheinen aus ebensolchen programmatischen Gründen im DIN B6 Format.142 Die Publikationen der ›Punk‹ und ›New Wave‹-Musiker Bargeld und Müller bei Merve zeugen so von einem Interesse des Verlags, das über die bloße Publikation der Texte hinaus geht und auch das Selbstverständnis der Verleger beeinflusst. Darüber hinaus schließt noch eine weitere Merve-Publikation an das Konzept des ›Genialen Dilletantismus‹ an, nämlich das von Christian Borngraeber herausgegebene Berliner Design-Handbuch, in dem der Herausgeber das ›Punk‹-Konzept auf den Bereich des Designs appliziert: »Auch im Design-Handbuch gibt es sie, die genialen Dilettanten – die Bastler –, die aufgrund ihrer Experimente quer durch die Medien für eine herkömmliche Designerkarriere ungeeignet erscheinen.«143 Das Buch ist zudem über das Autorenpersonal mit Müllers Merve-Buch Geniale Dilletanten verbunden, insofern sich im Berliner Design-Handbuch ein Text ›Zum Thema‹ von Müllers Band Die Tödliche Doris abgedruckt findet.144 Das Bekenntnis zum ›Dilettantismus‹ des Merve Verlags begrenzt sich jedoch nicht allein auf die Zeit um 1980, sondern reicht zurück bis in die marxistischen Anfänge des Verlags, der als Verleger-Kollektiv gestartet war. In der bei Merve publizierten Verlagsgeschichte Weibliche Produktivkraft der Namensgeberin des Verlags Merve Lowien von 1977 kommt die Autorin etwa auch auf die »Eintönigkeit der Broschüren-Gestaltung«145 der frühen Merve-Publikationen zu sprechen. Das glanzlose Erscheinungsbild verstand man als Gegenentwurf zur »künstlerischen, geldkostbaren Reizgestaltung der herrschenden Konsumwelt«,146 die jedoch »der Figur der Warengesellschaft nichts Neues, Anderes, Alternatives entgegensetzt, sondern

142 Philipp Felsch führt den Wechsel von den größeren Broschüren zum kleinen DIN B6 Format der Merve Publikationen, wie es bis heute beibehalten wurde, auf Gentes und Paris’ Begeisterung für Gilles Deleuze und Félix Guatarri sowie deren theoretische Feier des Minoritären zurück. Vgl. Philipp Felsch: »Merves Lachen«, in: Zeitschrift für Ideengeschichte (2008), H. 2, S. 11–30, hier S. 17. Zudem sollte der Formatwechsel, dies lässt sich einem Brief der beiden Merve-Herausgeber an Francois Lyotard entnehmen, den Felsch zitiert, einen »Riß in der Verlagsprogrammatik« markieren. Zit. n. P. Felsch: Der lange Sommer, S. 103. 143 Christian Borngräber (Hg.): Berliner Design-Handbuch, Berlin 1987, S. 18. 144 Darüber hinaus findet sich darin Heidi Paris’ Eröffnungsrede zur Merve-Ausstellung TO BOOK A FURNITURE von 1987, die das Verhältnis von »Verleger und Designer, Bücher und Möbel« zum Thema hat. Daran wird ersichtlich, dass die Oberflächenästhetik des Literaturkonsums nicht beim Buchdeckel aufhört, sondern zum Teil auch Regale, Schaufenster, Lesemöbel miteinschließt. (Paris A.: »TO BOOK A FURNITURE. Eröffnungsrede zur Ausstellung im Merve Verlag am 1.3.1987«, in: Christian Borngräber (Hg.), Berliner Design-Handbuch, Berlin 1987, S. 55–62, hier S. 57). 145 Merve Lowien: Weibliche Produktivkraft. Gibt es eine andere Ökonomie? Erfahrungen in einem linken Projekt, Berlin 1977, S. 79. 146 Ebd., S. 79. Vgl. hierzu P. Felsch: Der lange Sommer, S. 77; P. Felsch: Der Leser als Partisan, S. 48; J.-F. Bandel: Unter dem Radar, S. 48.

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Ronald Röttel: Verpackungen der Literatur

die sie lediglich von allen Maskierungen entblößt.«147 Diese dialektische Demaskierung der Warenästhetik attackiert dabei Lowien zufolge zugleich auch das Patriarchat, da die zuvorderst ›weibliche Ästhetik‹ der Merve-Broschüren den »glitzernde[n] Schaum männlicher Warenästhetik«148 zerschlage, dessen konsumästhetische Gestaltung zuvorderst männlich codiert sei und darum an der Reproduktion einer gesellschaftlichen Hegemonie der männlichen Form beteiligt sei. Lowiens Verlagsgeschichte versammelt zudem verschiedene Materialen aus der Verlagsgründungszeit wie etwa Abrechnungen, Finanzaufstellungen, Sitzungsprotokolle und programmatische Texte zu einzelnen Projekten wie der von Peter Gente geplanten »Reihe ›papers‹ (Arbeitstitel)«.149 Das Konzept, das Gente zunächst ohne Erfolg etablierten Verlagen unterbreitete, begründet letztlich den MerveVerlag.150 Die Idee der Reihe war inspiriert vom »Erfolg der Taschenbuchreihen von Suhrkamp, Fischer, Rowohlt«151 und basierte darauf, ein hybrides Format »[z]wischen Buch- und Zeitschriftenpublikationen« zu entwickeln, das die Qualitäten beider Formate vereinen sollte: »Die papers werden Zeitschriftenartikel nicht mehr gebündelt, sondern einzeln verbreiten«, da die Reihe von dem »fundamentalen wirtschaftlichen Prinzip abgeht[t], daß nämlich ein Artikel auch von den Käufern mitbezahlt wird, die ihn nicht lesen«.152 Darüber hinaus soll die Reihe Expertenwissen einem breiteren Publikum zugänglich machen: »Die Reihe ›papers‹ fungiert also als ein ›Digest‹, der besonders wichtige Aufsätze, die an – für deutsche Leser – entlegener Stelle erschienen sind, schnell zugänglich macht. Die äußere Form ist sachlich und anspruchslos (Broschüren).«153 Es handelte sich also bei der geplanten Reihe, die in das Konzept des Merve Verlags mündete, um eine Art Readers Digest für Theorie, wobei sich das Themengebiet und die vorgeschlagene Form des Lesens dem ersten Anschein nach diametral gegenüberstehen. Das Konzept der Reihe schließt so auch den Graben zwischen high- und low culture, mit anderen Worten: hochelaborierter Kulturtheorie und komfortablen Lesen von ›Vorverdautem‹. Die anspruchslose Form der frühen Merve-Broschüren wird wiederum ergänzt von der Merve-Raute,154 die von Jochen Stankowski entworfen wurde, der neben

147 M. Lowien: Weibliche Produktivkraft, S. 79. 148 Ebd. 149 Merve-Verlag: »ANHANG-Dokument 1: Papers«, in: M. Lowien: Weibliche Produktivkraft, S. 146–151, hier S. 146. 150 Vgl. Uwe Sonnenberg: Von Marx zum Maulwurf. Linker Buchhandel in Westdeutschland in den 1970er Jahren, Göttingen 2016, S. 199–200. 151 Merve-Verlag: ANHANG-Dokument 1, S. 146. 152 Ebd. 153 Ebd., S. 148. 154 Bereits auf dem Buchcover der aller ersten Merve-Publikation, nämlich Charles Bettelsheims über das fortbestehen von warenverhältnissen in den ›sozialistischen ländern‹, findet sich die Merve-Raute von Jochen Stankowski. Charles Bettelheim: über das fortbestehen von warenver-

5. Buchformate im ›Pop‹-Layout: Strategien der Übersetzung

Buchdesigns vor allem auch Produktverpackungen unter anderem für die REWESupermarktkette gestaltete.155 Stankowskis Raute pfropft dabei der ursprünglich als Demaskierung von Konsumästhetik gedachten ›eintönigen Form‹ der MerveBücher ein Warenzeichen auf, das den Merve-Verlag als Marke etabliert.156 Bei der Form der Raute, die zu einer Art Verlagslogo avanciert, handelt es sich laut Stankowski um die Abstraktion des Rezeptionsaktes eines Buchs: Manche Verlage versuchen, auf ihren Einbänden und Umschlägen etwas vom Inhalt des jeweiligen Buches auszudrücken. Bei wissenschaftlichen Verlagen ist das aber nicht so einfach. Merve wollte da lieber das Reihenprinzip. Mich hat in diesem Fall das aufgeschlagene Buch interessiert. Da liegt die Raute quasi schon auf dem Tisch.157 So leitet sich das Verpackungsdesign der Reihe aus der Form des aufgeschlagenen Buches selbst ab.158 Statt auf den Inhalt eines Buchs einzugehen und eine Relation zwischen Form und Inhalt zu konstruieren, basiert der Entwurf auf der Beziehung zwischen typografischer Oberfläche und der Art der Rezeption. Stankowskis Merve-Rauten finden sich darüber hinaus nicht bloß auf den Merve-Büchern, sondern auch auf dem Buchcover des von Gente, Paris sowie Karlheinz Barck und Stefan Richter herausgegebenen und bei Reclam Leipzig erschienenen Bands Aisthesis, der sich mit dem Verhältnis von Ästhetik und Wahrnehmung beschäftigt, wobei auch der Rezeptionsapparat des Buchs eine Rolle spielt.159 Beispielsweise finden sich hier Verweise auf Mallarmés Idee des ›neuen

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hältnissen in den ›sozialistischen ländern‹ (= internationale marxistische diskussion), Berlin 1970, S. 2. Vgl. Christof Windgätter/Jochen Stankowski: »Der Rautenmacher. Gespräch über den Merve Verlag«, in: Christof Windgätter (Hg.), Verpackungen des Wissens. Materialität und Markenbildung in den Wissenschaften, Wien/Köln/Weimar 2012, S. 57–70, hier S. 68. Vgl. Christof Windgätter: Epistemogramme. Vom Logos zum Logo in den Wissenschaften, Leipzig 2012. C. Windgätter/J. Stankowski: Der Rautenmacher, S. 64. Stankowski, der über seinen Onkel und Lehrer entfernt, vom Konstruktivismus, insbesondere von El Lissitzky und Kurt Schwitters beeinflusst wurde, koppelt die Idee des corporate designs, von der er sich ironischerweise lossagen wollte, an die typografische Dogmatik des Konstruktivismus. Ebd., S. 59. Windgätter befragt zudem die Bedeutungen der Oberflächen von Reihenlayouts und Verlagsprofilen für wissenschaftliche Publikationen. Christof Windgätter: »Lob der Oberfläche oder zur Einleitung einer Verpackungstheorie der Wissenschaften«, in: Verpackungen des Wissens. Materialität und Markenbildung in den Wissenschaften, Wien/Köln/Weimar 2012, S. 7–12. »Umschlaggrafik: Jochen Stankowski, Köln«. Peter Gente/Heidi Paris/Karlheinz Barck [u.a.] (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, S. 4.

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Ronald Röttel: Verpackungen der Literatur

Buchs‹160 und Deleuze’ Idee des ›multiplen Buchs‹, das Gente nicht zuletzt als theoretisches Fundament für den eigenen Reclam-Reader anführt.161 Aus einem im Buch abgedruckten Briefwechsel zwischen den vier Herausgebern geht zudem hervor, dass ursprünglich auch ein Kapitel zum Thema ›Pop-Philosophie‹ geplant war: »Pop-Philosophie wäre vielleicht der Versuch, von der Begrifflichkeit eines Spinoza oder Leibniz oder Aristoteles den Funken überspringen zu lassen zur Thematik der Rockmusik, des Punk, der Disco und des Walkman.«162 Mit Blick auf das Erscheinungsdatum des Buchs, nämlich 1990, fällt auf, dass die Herausgeber, die zuvorderst auf den popkulturellen Diskurs der 1970er und 1980er Jahre, nämlich ›Punk‹ und ›Disco‹ Bezug nehmen, den neusten Entwickelungen im popkulturellen Diskurs nun etwas hinterherhinken und die 1990 aufkommende ›Rave‹-Kultur komplett ausblenden.163 Auch die Idee der ›Pop-Philosophie‹ entlehnt Gente den Theoriedebatten der 1970er Jahre, nämlich Félix Guatarris und Gilles Deleuzes’ Plädoyer Für eine kleine Literatur von 1976, erschienen in der edition suhrkamp. Darin heißt es etwa: »Ein Ausweg für die Sprache, für die Musik, für das Schreiben« sei »[w]as man gemeinhin Pop nennt – Popmusik, Popphilosophie, Popliteratur«.164 In ihrer Merve-Veröffentlichung Rhizom stellen Deleuze und Guatarri wiederum folgende Gleichung auf, die sich darin gleich mehrfach in Versalien abgedruckt findet: »Rhizomatik = Pop-Analyse«.165 Dabei liegt die Annahme nicht fern, dass popkulturelle Artefakte für die beiden Autoren geradezu exemplarisch für die Form des Rhizomatischen zu sein scheinen. Nobert Bolz wiederum hat die Deleuze und Guatarri’sche Idee der ›Pop-Philosophie‹ in einem 1985 erschienenen Text zum Anti-Ödipus weiter expliziert. Bolz zufolge handele es sich dabei um eine neue Rezeptionsform von Theorie,166 die sich die »die Multimedialen Pop-Fans«167 zum Vorbild nimmt. »Und in der Tat«, schreibt Bolz, »muß man den Anti-Ödipus lesen, wie man ins Kino 160 Vgl. Felix P. Ingold: »Das Buch«, in: P. Gente/H. Paris/K. Barck [u.a.] (Hg.), Aisthesis, S. 289–294. 161 Peter Gente: »Berlin, den 22.2.89«, in: P. Gente/H. Paris/K. Barck [u.a.] (Hg.), Aisthesis, S. 458–459, hier S. 458. 162 Peter Gente: »Berlin, den 6.11.88«, in: P. Gente/H. Paris/K. Barck [u.a.] (Hg.), Aisthesis, S. 446–448, hier S. 447. 163 Philipp Felsch bezeichnet den Band nicht umsonst als eine Art »best of Merve« der 1980er Jahre. P. Felsch: Der lange Sommer, S. 238. 164 Gilles Deleuze/Félix Guatarri: Kafka. Für eine kleine Literatur. Aus dem Französischen von B urkhart Kroeber, Frankfurt a.M. 1976, S. 38. Vgl. H. Schmidgen: Rhizom, S. 162–164; P. Felsch: Der lange Sommer, S. 230. 165 Gilles Deleuze/Félix Guatarri: Rhizom. Aus dem Französischen von Helma Konyen, ClemensCarl Haerle und Dagmar Berger, Berlin 1977, S. 31, 41 u. 38. 166 Nobert Bolz: »Pop-Philosophie«, in: Rudolf Heinz/Georg Tholen (Hg.), Schizo-Schleichwege. Beiträge zum Antiödipus, Bremen 1985, S. 183–196, hier S. 191. Erschienen unter dem Pseudonym Norbert Heinz. In dem Band geben sich alle Autoren den Nachnamen Heinz. 167 Ebd., S. 192.

5. Buchformate im ›Pop‹-Layout: Strategien der Übersetzung

geht oder eine Platte hört.«168 Neben diesem Verweis auf Deleuze’ und Guatarris Konzept der ›Pop-Philosophie‹ enthält die oben erwähnte Herausgeberkorrespondenz zudem noch weitere Überlegungen, die an die Theoriedebatten der 1980er Jahre anknüpfen. Beispielsweise wendet Heidi Paris die Claude Lévi-Strauss’sche Unterscheidung zwischen ›Ingenieur‹ und ›Bricoleur‹ auf die Tätigkeit des Verlegers an.169 Die »verlegerische Kurzformel«170 des Merve-Verlags würde, so Paris, wie folgt lauten: »Fragmentarisches + Collage = Bricoleur/Der Verleger ist Bastler, nicht Ingenieur.«171 Hier zeigt sich eine weitere Parallele zur ›Punk‹-Kultur der späten 1970er Jahre, denn auch die Macher der Fanzines haben sich in erster Linie als Bastler verstanden. Ein Interesse für die ›Rave‹-Kultur zeichnet sich bei Merve dagegen erst Ende 1990er Jahre ab. Beispielhaft hierfür wäre etwa das von WestBam gemeinsam mit Rainald Goetz bei Merve publizierte Mix, Cuts & Scratches, das sich theoretisch mit ›Rave‹ auseinandersetzt.172 WestBams Buchs war für Merve zudem, so lässt es sich den Chroniken von Heidi Paris entnehmen, nicht bloß ein Buch über ›Pop‹, sondern als Buch selbst popförmig angelegt: »Das Westbam-Buch versprach ein Hit zu werden. Sie interessierte sich für das Pop-Phänomen insofern, wie es massenmediengerecht vermarktet wurde und welche Rückwirkungen dies auf die Verkaufszahlen haben würde.«173 Ein Populäres, für das Verkaufszahlen konstitutiv sind, rückt so in den Fokus eines intellektuellen Interesses, das sich insbesondere für seine massenmediale Vermarktung und die rekursiven Effekte zwischen der Quantität des Medienechos und der der verkauften Bücher interessiert. Die konsumkritische Haltung des Verlags in den frühen Merve Jahren war somit spätestens in den 1990er Jahren in Kritik durch Überaffirmation umgeschlagen – an die Stelle von Demaskierung durch Eintönigkeit tritt Demaskierung durch Überzeichnung und Ironie. 168 Ebd. 169 Vgl. zur Differenz von Ingenieur und ›Bricoleur‹ Claude Levi-Strauss: Das wilde Denken. Aus dem Französischen von Hans Naumann, Frankfurt a.M. 1968, S. 29–36. Vgl. zur Virulenz des Bastler-Typus in den Kulturdiskursen zu Beginn der 1980er Jahre, P. Felsch: Der lange Sommer, S. 132. Michel de Certeau geht in seiner 1988 bei Merve erschienenen Kulturtheorie des Konsums Kunst des Handelns gar so weit, den Konsumenten als Bastler zu bezeichnen, der mit seinen »poetischen ›Basteleien‹« beim Konsumieren nicht passiv sei, sondern Neues aus bereits Vorhandenem fabriziere. (Michel de Certeau: Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 18). 170 Heidi Paris: »Berlin, im januar 89«, in: P. Gente/H. Paris/K. Barck [u.a.] (Hg.), Aisthesis, S. 454–456, hier S. 456. 171 Ebd. 172 Westbam/Rainald Goetz: Mix, Cuts & Scratches, Berlin 1997. Von Goetz erscheint darüber hinaus bei Merve Rainald Goetz: Jahrzehnt der schönen Frauen, Berlin 2001; und Goetz kommentiert den Tod der Merve-Verlegerin Heidi Paris in loslabern. Rainald Goetz: loslabern, Frankfurt a.M. 2009, S. 166–167. 173 Heidi Paris: Auszug aus dem Geschriebenen der Jetztzeit. Chroniken 1997 [https://www.heid i-paris.de/chroniken/1997/, zuletzt eingesehen am 15.09.2022].

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6. Reprisen der Oberflächenästhetik im Buchund Zeitschriftenformat

Obschon sich der Diskurs um die typografische Oberfläche auf eine frühe Phase in den späten 1960er Jahren und eine zweite Phase, die mit dem Aufkommen der ersten ›Punk‹-Fanzines Ende der 1970er Jahre begann und mit der Einstellung von Tempo Mitte der 1990er Jahre endet, eingrenzen lässt, sind auch in den 2000er und 2010er Jahren einige Reprisen einer materiellen Ästhetik der Oberfläche zu beobachten. So erscheint 2006, zehn Jahre nach der Einstellung von Tempo, eine Jubiläumsausgabe des ›Zeitgeist‹-Magazins, das auf die Tempo-Jahre zurückblickt: »TEMPO wurde 1986 gegründet und 1996 eingestellt. Zehn Jahre hat es dieses Magazin gegeben, danach ist es zehn Jahre lang nicht mehr erschienen – jetzt kommt es noch einmal heraus. Ein einziges Mal. Garantiert.«1 Das Heft knüpft dabei in vielfacher Weise an den Diskurs der 1980er Jahre an. So wird darin etwa das Werber-Duo Michael Schirner und Diedrich Diederichsen erwähnt,2 Peter Glasers Tempo-Kolumne Glasers heile Welt und Maxim Billers Kolumne Hundert Zeilen Hass werden wiederbelebt,3 und sogar Rainald Goetz, den Tempo als »einzige[n] wirkliche[n] Schriftsteller unserer Generation«4 bezeichnet, schreibt einen kurzen Text für das Heft. Darin beklagt Goetz konträr zu einer konsum-affirmativen Haltung, wie sie für Tempo und die 1980er Jahre insgesamt programmatisch war, den ihn umgebenden »Terror der Waren«5 des »konsumistisch-industrielle[n] Herrschafts- und Unterdrückungsap-

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Markus Peichl: »Editorial: Endlich! Die Wahrheit!«, in: Tempo. Jubiläumsausgabe (2006), S. 11. »Michael Schirner: Hat in der Werbung den Rang, den Diedrich Diederichsen in der Popkritik einnimmt«, heißt es dort etwa. Marc Fischer/Uwe Kopf: »Helden und Verräter«, in: Tempo. Jubiläumsausgabe (2006), S. 75–98, hier S. 94. Peter Glaser: »Mal Eben. Peter Glaser über ein Wiedersehen nach 10 Jahren«, in: Tempo. Jubiläumsausgabe (2006), S. 170; Maxim Biller: »Schwarzer Sommer. Maxim Biller über die neue Selbstliebe der Deutschen«, in: Tempo. Jubiläumsausgabe (2006), S. 204. Tempo: »Wahrheit Nr. 11: Solange wir schreiben ist Hoffnung«, in: Tempo. Jubiläumsausgabe (2006), S. 184–187, hier S. 185. Rainald Goetz: »November 2009: Unverwischte Bilder«, in: Tempo. Jubiläumsausgabe (2006), S. 187.

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Ronald Röttel: Verpackungen der Literatur

parat[s]«.6 An die Stelle des fröhlichen Spiels mit den ästhetischen Oberflächen der Ware und des Konsums, wie es in den 1980er Jahren, nicht zuletzt in Tempo, praktiziert wurde, rückt ein Modus der Klage. Somit kehrt Goetz, dessen kritischer Gestus seinen Ausdruck lange Zeit in Überaffirmation fand, zu einer kritischen Haltung zur Konsumästhetik zurück, wie sie in den 1960er Jahren von nicht wenigen Autoren vertreten wurde (Haug, Enzensberger).7 Auffällig ist dabei jedoch, das Goetz diese Kritik am konsumästhetischen ›Terror der Waren‹, der eben auch die Gestaltung der Verpackungen und Oberflächen der Literatur betrifft, in Tempo und damit einem Publikationsformat publiziert, dass ganz offensiv an besagtem ›Konsumistisch-industriellen Apparat‹ partizipierte. Dennoch pflegt Goetz auch in den Nuller-Jahren, wenn auch subtiler, einen ironischen Umgang mit den Konsumoberflächen seines Werks wie den Coverdesigns seiner Romane, den Layouts seiner Texte in populären Zeitschriften sowie den Klappentexten und Anzeigen für seine Publikationen. Und auch im Falle weiterer Autor:innen wie Christian Kracht, Raphael Horzon und Leif Randt, um nur einige zu nennen, lassen sich Strategien beobachten, die an den Diskurs zu Layout-, Format-, und Materialoberflächen seit 1960 anschließen.

6.1 Buchverpackungen revisited: Cover, Umschläge, Schuber In Krachts zweitem Roman 1979 finden sich zahlreiche Verweise auf Popbands der 1980er Jahre wie etwa die ›New Wave‹-Band Blondie, das experimentellere WaveTrio Devo, die Industrial-Pioniere Throbbing Gristle und die Synth Pop-Avantgardisten The Human Leaque.8 Das so im Roman betriebene ästhetische Spiel mit der Popmusikszene der späten siebziger Jahre beschränkt sich dabei jedoch nicht auf den Basistext allein. Auch die peritextuellen Elemente des Romans zitieren das popmusikalische Milieu des Jahres 1979. Das Cover der ersten Ausgabe von 1979 wurde etwa von Peter Saville gestaltet, der in den achtziger Jahren für das Coverdesign des in Manchester ansässigen Labels Factory Records verantwortlich war (Abb. 51).9

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Ebd. Vgl. Kap. 2.1 und 2.5 der vorliegenden Arbeit. Vgl. Heinz Drügh: »›…und ich war glücklich darüber, endlich seriously abzunehmen‹. Christian Krachts Roman 1979 als Ende der Popliteratur?«, in: Wirkendes Wort. Deutsche Sprache und Literatur in Forschung und Lehre 57 (2007), H. 1, S. 31–51, hier S. 40. Vgl. Björn Weyand: Poetik der Marke. Konsumkultur und literarische Verfahren 1900–2000, Berlin/Boston 2013, S. 324.

6. Reprisen der Oberflächenästhetik im Buch- und Zeitschriftenformat

Abb. 51: Titelansicht von Christian Krachts 1979 von 2001 (21 x 13,2 cm).

In dieser Funktion designte Saville unter anderem Cover für Orchestral Manoeuvres in the Dark, Roxy Music, Joy Division und – und dies scheint besonders interessant in diesem Kontext – das Cover der New Order Single Everythings gone green von 1981, dessen Titel wiederum Krachts Roman als Zitat vorangestellt ist.10 Allerdings ist das Zitat nur in der Erstausgabe enthalten; in der im Fischer-Verlag publizierten Neuauflage, die ohne Savilles Coverentwurf auskommen muss, findet sich statt des New Order-Zitat eines, das nicht auf Popmusik, sondern die Theorie der 1980er verweist, nämlich Jean Baudrillard.11 Die textuellen und visuellen Peritexte der Publikation bilden so einen zusammenhängenden Rahmen aus, was dafür spricht, dass

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C. Kracht: 1979, S. 13. Vgl. zu weiteren Pop-Referenzen in 1979 Sascha Seiler: »Das einfache wahre Abschreiben der Welt«. Pop-Diskurse in der deutschen Literatur nach 1960, Göttingen 2006. »History reproducing itself becomes farce, farce reproducing itself becomes History.« Christian Kracht: 1979. Frankfurt a.M. 2010, S. 13.

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Ronald Röttel: Verpackungen der Literatur

der Kracht’sche Peritext ebenso symbolisch aufgeladen zu sein scheint wie der literarische Text selbst. Krachts ästhetische Strategie des Zitats, die, so erweckt es den Anschein, auch all jene literaturwissenschaftlichen Arbeiten (wie die vorliegende) miteinschließt, die sich dem Aufdecken der versteckten Hinweise in Krachts Werk widmen (und die so nicht nur die Grenze zwischen Text und verlegerischem Peritext, sondern auch philologischem Peritext verschwimmen lässt), verleiht der Oberfläche eine ganz eigentümliche Qualität. Jedoch ist es nicht so sehr Savilles Design, das im Kontext der vorliegenden Arbeit von Bedeutung ist, da es sich visuell stark von Savilles Coverdesigns für Factory Records unterscheidet, sondern vielmehr die Wahl des Designers selbst. Denn Saville und Factory Records waren gewissermaßen Vorreiter einer Ästhetik der Oberfläche in der Popkultur, die den Rändern und Oberflächen der Popmusik – sowohl den typografischen als auch den werbenden – eine besondere Aufmerksamkeit schenkt. So betont etwa Tony Wilson, der 1978 gemeinsam mit Saville das in Manchester ansässige Label gründete, welchen besonderen Stellenwert gerade die ›Verpackung‹ der Schallplatten bei Factory Records hatte: »having sleeves that were more glossier, more expensive and more beautiful«.12 Dies scheint vor allem auch deswegen bemerkenswert, da Factory seine Schallplattenhüllen zu Anfang in bester DIY-Manier größtenteils in Handarbeit selbst anfertigte. Noch dazu waren, so Wilson, die Major Label-Schallplattenhüllen Ende der 1970er Jahre schlicht gehalten – was in den Anfängen von Factory-Records zu kuriosen Praktiken führt: We clothed our singles in glossy sixties-EP-style packages. And then Men like the great and sadly late Scott Piering, Rough Trade Plugger extraordinaire, would stand outside Radio One pulling the indie vinyl out its glossy arty sleeve and inserting it into a white nondescript 7-Inch bag, to make it look if it came from a major label.13 Die genannten Beispiele führen Wilson dazu, eine zentrale Frage zu formulieren, die auch, jedoch in Bezug auf einen weitaus breiteren Themenbereich, im Mittelpunkt dieser Arbeit steht: »Why was packaging so important to us?«14 Diese Betonung des Rahmens beschränkt sich, wie erwähnt, nicht nur auf die Verpackungsoberflächen von Factory Records, sondern umfasst alle Label-Produkte. So beginnt etwa die Zählung der Veröffentlichungen bei Factory nicht wie üblich mit der ersten Schallplattenveröffentlichung, sondern bereits mit dem ersten Poster des Labels für

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Tony Wilson: »Foreword«, in: Matthew Robertson (Hg.), Factory Records. The Complete Graphic Album, London 2006, S. 9, hier S. 9. Ebd. Ebd.

6. Reprisen der Oberflächenästhetik im Buch- und Zeitschriftenformat

ein Konzert der Factory-Bands Joy Division, The Durutti Column und Cabaret Voltaire. Dies gilt gleichermaßen für alle nachfolgenden Produkte des Factory-Labels, dessen Name nicht zuletzt auch auf die Warhol’sche Idee der ›Factory‹ verweist. Alle Produkte des Labels werden als gleichrangig behandelt und in die Release-Liste aufgenommen. Dazu zählen beispielsweise alle weiteren Poster für Label-Konzerte, ebenso wie die Visitenkarten des Labels (Fac 7), der Label-Nachtclub Hacienda (Fac 51) und das Label Logo (Fac 47).15 Bei Krachts 1979 handelt es sich wiederum nicht um den einzigen Buchumschlag nach 2000, der visuell in die 1980er Jahre verweist. Wie Krachts zweiter Roman verweist auch Rafael Horzons Das weisse Buch, das unter anderem Kracht gewidmet ist,16 zurück in die Geschichte der Schallplattencover der Popmusik. Doch bevor diesem programmatischen Zitat nachgegangen werden soll, lohnt es sich zunächst einige allgemeine Beobachtungen zur äußeren Gestalt des Buchs anzustellen. Das Horzon’sche Buch bildet optisch und konzeptuell eine Einheit mit dem zehn Jahre später erschienenen Text Das Neue Buch.17 Die beiden Bücher unterscheiden sich äußerlich nur darin, dass ersteres einen weißen Schutzumschlag hat und letzteres einen Umschlag in verschiedenen ineinander verlaufenden grellen Chromfarben. Auf beiden Umschlägen befinden sich Perforationen, die Titel, Autorname und fingierte Blurbs ausbilden. Insbesondere Das weisse Buch zeugt von einem spielerischen Umgang mit der rein dekorativen Funktion von Buchoberflächen. Auf der Website von Rafael Horzons Business-Art-Projekt Modocom sind beispielsweise zu Werbezwecken Bilder seiner Regalmodelle zu sehen, und die abgebildeten Regale enthalten wiederum Exemplare seines Weissen Buches: »Besonders schön wirken MOEBEL HORZON Regalwände, wenn sie mit Taschenbüchern, Schallplatten und Aktenordnern befüllt werden.«18 Seinen Büchern kommt dabei vor allem eine dekorative Funktion zu, was eine bemerkenswerte Umkehrung von gängigen Text-Paratext-Verhältnissen bewirkt. Die gezeigten Regale enthalten neben den Exemplaren 15

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Matthew Robertson: »Introduction«, in: ders. (Hg.), Factory Records. The Complete Graphic Album, London 2006, S. 10–15, hier S. 11. Auch das Buch selbst wird in diesen Katalog aufgenommen FAC 461. Die Widmung befindet sich jedoch an einer eher unüblichen Stelle, nämlich zwischen den Urheberrechts-Angaben auf den Schmutzseiten des Buchs. Rafael Horzon: Das Weisse Buch, Frankfurt a.M. 2010, S. 2. Das weisse Buch ist Teil eines größeren Konzept-Kunstwerks nämlich dem Redesign Deutschland, dem Versuch einer flächendeckenden ästhetischen Aufwertung Deutschlands: »Umschlag: Patricia Woerler-Horzon für REDESIGNDEUTSCHLAND, Berlin«. (Ebd., S. 4). Den Urheberrechts-Angaben von Das Neue Buch zufolge ist das Umschlagsdesign von Horzons zweitem Buch wiederum von der »Horzon GmbH« entworfen wurden; der Peritext verweist somit auch hier auf den inneren Kreis des Autors. Rafael Horzon: Das Neue Buch, Frankfurt a.M. 2020, S. 4. Rafael Horzon [https://modocom.de/m_horzon/regalwaende.htm, zuletzt eingesehen am 10.10.2022]. Vgl. hierzu T. Hahn: Die skulpturale Form der Literatur, S. 352–353.

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von Das weisse Buch auch die bunten Reihen der edition suhrkamp, die damit ebenfalls als Dekor verwendet werden. Horzons Konzeptkunst knüpft damit an einen Diskurs der sechziger Jahre an; denn Willy Fleckhaus’ edition suhrkamp wurde bereits in den 1960er Jahren mehrmals als dekoratives Element in Warenhauskatalogen verwendet.19 Eine Referenz, die für Horzons Publikation zentral ist, findet sich, wie oben bereits erwähnt, nicht im Literatur-, sondern im Popbetrieb. Sowohl der Titel als auch das Buchcover von Horzons Das weisse Buch verweisen auf ein für die Geschichte der Plattenhülle zentrales Coverdesign, nämlich Richard Hamiltons Coverentwurf für das so genannte The White Album der Beatles.20 Die gestanzte Schrift auf dem Buchumschlag von Horzons Das weisse Buch bildet gewissermaßen das Negativ zum farblosen Prägedruck auf dem White Album der Beatles. Die Besonderheit von Hamiltons Entwurf lag dabei in seiner konzeptuellen Schlichtheit, die als Gegenentwurf zu den psychedelischen und collagierten Cover-Einwürfen früherer Beatles-Schallplattenhüllen konzipiert war. Außerdem grenzt sich der Entwurf konzeptuell von der für Popmusik zentralen seriellen und uniformen Ästhetik der Massenware ab. Genaueres über das Zustandekommen der Kollaboration zwischen Pop Art-Vertreter Hamilton und den Beatles lässt sich in der 1980 erschienenen Geschichte der Schallplattenhülle Album Cover Album nachlesen: Paul McCartney bat Hamilton für das nächste Beatles-Album etwas […] zu gestalten. Hamilton wollte bei der Vielzahl auffallender Hüllen nicht noch ein überladenes Cover beisteuern und meinte, daß ein Cover ohne jeden Aufdruck geeignet sei, sich vom Rest der Veröffentlichungen abzuheben. Er schlug vor, daß die Beatles selbst autobiographische Collagen beisteuern sollten, entschied sich aber letztlich für ein Poster, zu dem Paul McCartney beigetragen hatte und daß der LP beigelegt wurde. Hamilton fand Gefallen an der Idee, die weiße Plattenhülle durch Aufdruck fortlaufender Nummern zu »verunzieren«, das Massenprodukt wurde so in den Status einer begrenzten Auflage erhoben. Die »Nacktheit« des »White Album« Covers bedeutete völlige Abkehr von der verschwenderischen Bildfülle für »Sergeant Pepper«.21 Durch die fortlaufende Nummerierung und das reduzierte Plattencover negiert Hamiltons Design zwei der zentralen Merkmale eines ›Pop‹-Konsumgutes. Das Beat-

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Vgl. hierzu das Kap. 3.1.3 der vorliegenden Arbeit. Vgl. zu den Hintergründen der Entstehung des Beatles-Albums Walter Grasskamp: Das Cover von Sgt. Pepper. Eine Momentaufnahme der Popkultur, Berlin 2004, S. 67–70. D. Hamilton: Einleitung, S. 12. Philipp Felsch appliziert diese Differenz wiederum auf die beiden Suhrkamp-Taschenbuchreihen edition suhkamp und Theorie: »dort Sgt. Pepper, hier weißes Album der Suhrkamp Kultur.« (P. Felsch: Der lange Sommer, S. 57). Vgl. weiterhin zu den beiden Beatles-Covern W. Grasskamp: Das Cover von Sgt. Pepper, S. 70.

6. Reprisen der Oberflächenästhetik im Buch- und Zeitschriftenformat

les Album ist weder im eigentlichen Sinne Massenware, da es sich bei jeder Platte um ein Unikat handelt, noch hat es eine für Popmusik typische, nämlich auffällig gestaltete und so Aufmerksamkeit auf sich ziehende ›Verpackung‹. Durch die Negation der Konsumästhetik gewinnt wiederum eine paradoxe Figur Kontur, denn gerade die Schlichtheit des Designs bewirkt, wie die Geschichte gezeigt hat, einen enormen Werbeeffekt. Eine weitere Buchoberfläche, die an den Diskurs der 1960er und 1980er Jahre über typografische Oberflächen anknüpft, ist ein von Albert Oehlen für Rainald Goetz’ Buchkomplex Heute Morgen entworfener Buchschuber. Dabei geht es um einen Peritext, der sich wie Buchbinde und Schutzfolie noch über den Buchumschlag legt, und wie dieser sowohl eine schützende als auch werbende Funktion innehaben kann.22 Besagter Buchschuber ist dabei nicht die erste Zusammenarbeit zwischen Goetz und Oehlen. Bereits 1984 steuerte Goetz einen Text für den Ausstellungskatalog der von Oehlen, Werner Büttner und Martin Kippenberger kuratierten Ausstellung Wahrheit ist Arbeit bei, indem zudem der von Goetz selbst gestaltete Buchrücken von Irre ausgestellt wird.23 Weiterhin erscheinen 1986 acht Collagen der beiden unter dem Titel Design for Tannhäuser. Ferner publizieren die beiden 2010 gemeinsam das Buch D.I.E. – abstract reality, zu dem Goetz einige Kurztexte und Oehlen die Zeichnungen beisteuert.24 Insbesondere letztere Arbeit zeugt, wie auch Oehlens Heute Morgen-Buchschuber, von einem Interesse am Buchkörper als Medium der bildenden Kunst, welches im Fall des Buchschubers jedoch noch stärker zum Ausdruck kommt. Besagter Schuber fasst Goetz’ Buchkomplex Heute Morgen, welche in materieller Hinsicht bereits dadurch, dass sie allesamt rote Cover haben, eine gemeinsame Identität ausbilden, nochmals materiell ein. Heute Morgen umfasst die Erzählung Rave, das Theaterstück Jeff Koons, Dekonspiratione, Celebration, in dem sich auch ein Gespräch mit Oehlen abgedruckt findet, und Abfall für alle – allesamt erschienen bei Suhrkamp. Zum erweiterten Kreis des Heute MorgenWerkkomplexes gehört zudem der bei Merve erschienene Band Jahrzehnt der schönen Frauen, dessen Raute auf dem Cover ebenso rot gefärbt ist wie die Buchumschläge der bereits genannten Bücher.25 Eines der Motive auf dem Schuber, ein abgeschnittener Ast eines Pfirsichbaums mit einem daran hängenden Pfirsich, illustriert wiederum die Überschrift eines Eintrags aus Goetz’ Vanity Fair-Blog, der in Buchform als Abfall für alle Teil des 22

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Vgl. zur werbenden Funktion und Gestaltung dieser Peritext-Peritexte Otto Mazal: Einbandkunde. Die Geschichte des Bucheinbandes, Wiesbaden 1997, S. 328. Vgl. weiterhin zum Element des Buchschubers: Lem. Schuber, in: Lexikon des gesamten Buchwesen. Zweite, völlig neu bearbeitete Auflage, hg. v. Severin Corsten, Stephan Füssel und Günther Pflug, Bd. VII, Stuttgart 2007 [2003], S. 634. Vgl. Kap. 5.2 der vorliegenden Arbeit. Albert Oehlen/Rainald Goetz: D.I.E. abstract reality, Berlin 2010. Vgl. hierzu L. Hintze: Werk ist Weltform, S. 84.

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Schubers ist, nämlich: »Die Erotik des Pfirsichs«.26 In Abfall für alle finden sich zudem Passagen, die ein Interesse des Autors an der materiellen Oberfläche des Buchkörpers belegen: »Dieses Ding, daß man in der Hand hat, ein Stück Papier, auf dem die Zeichen der Schrift abgedruckt sind. Die unendliche Schönheit dieser speziellen Sache, dieses Objekts.«27 Oehlens Pfirsichstillleben ist so auch als Metapher für die Funktion der Warenverpackung, zum Konsum zu verführen, zu lesen. Warenästhetik wird, dies zeigt die Theorie- und Kunstgeschichte, in einem Weiten Sinne des Begriffs als eine Form der ›Erotik‹ verstanden. Der Buchschuber artikuliert und reflektiert wiederum genau diese erotische Dimension der Warenverpackung, wie es schon Andy Warhols Plattencover-Entwürfe für Sticky Fingers von den Rolling Stones und für das Debüt der Factory-Band The Velvet Underground getan hatten (vgl. Abb. 52). Auch Warhols Entwürfe reflektieren auf die erotische Dimension der werbenden Funktion der Warenverpackung. Bei der auf dem Cover des Albums The Velvet Underground abgedruckten Banane handelt es sich etwa um einen Aufkleber, der sich ablösen lässt. Darüber befindet sich ein Konsumhinweis: »Peel slowly and see.«28 Die erotische Konnotation der Aufforderung ist unverkennbar und das Plattendesign räsonierte wohl nicht zuletzt auch wegen dieser provokanten Konotation in den 1960er Jahren bis in den kulturtheoretischen Diskurs Deutschlands. So führte, wie bereits an anderer Stelle der Arbeit ausführlicher besprochen, Wolfgang Fritz Haug Warhols Sticky FingersCover in seiner Kritik der Warenästhetik beispielhaft für eine Warenverpackung an, die eben jene ›Erotik der Ware‹ artikuliert, insofern das Plattencover demonstriert, wie die verpackte Ware entkleidet wird.29

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Rainald Goetz: Abfall für alle, Frankfurt a.M. 1999, S. 39. R. Goetz: Abfall für alle, S. 333. Anna Rick weist Goetz’ Interesse an der typografischen Oberfläche seiner Bücher zudem empirisch über ein Telefonat mit dem Suhrkamp Verlag nach: »Dass Goetz an der Gesamtphysiognomie der Bücher maßgeblich beteiligt ist, berichtet Hans-Ulrich Müller-Schwefe in einem persönlichen Gespräch am 3.1.2017. Beispielsweise spielt Goetz für die Buchversion von Abfall für alle den Umbruch selbst in die Seiten ein. Das bestätigt Nina Knapitsch, Setzerin bei Suhrkamp, in einem Telefonat am 23.5.2017.« (Anna Rick: »Sudeln und Bloggen. Georg Christoph Lichtenbergs Sudelbücher/Rainald Goetz’ Abfall für alle/Wolfgang Herrndorfs Arbeit und Struktur«, in: Felix Lenz/Christine Schramm (Hg.), Von der Idee zum Medium. Resonanzfelder zwischen Aufklärung und Gegenwart, Paderborn 2019, S. 417–440, hier S. 428.) Auf die besondere Bedeutung des Schriftbildes bei Goetz, das sich dezidiert gegen die typografische Norm der Buchseite wendet, hat bereits Natalie Binczek am Beispiel von Goetz Abfall für alle hingewiesen, vgl. N. Binczek: Wo also ist der Ort des Textes?, S. 293 The Velvet Underground: The Velvet Underground & Nico. Vgl. zu Warhols Coverentwürfen für Sticky Fingers und für das Debütalbum von The Velvet Underground, W. Grasskamp: Das Cover von Sgt. Pepper, S. 93–95. Vgl. W. F. Haug: Kritik der Warenästhetik. Vgl. hierzu Kap. 2.1 und Kap. 2.4 der vorliegenden Arbeit.

6. Reprisen der Oberflächenästhetik im Buch- und Zeitschriftenformat

Abb. 52: Albert Oehlens Buchschuber zu Rainald Goetz’ Heute Morgen-Werkkomplex von 2004.

Die erotische Qualität des Konsums ist darüber hinaus auch ein prominentes Thema in der Literaturtheorie der 1960er und 1970er Jahre. Beispielsweise illustriert Roland Barthes den »Moment des Konsums«30 von Literatur in seinem erstmals 1974 in deutscher Übersetzung bei Suhrkamp erschienenem Essay Die Lust am Text als einen erotischen Akt, bei dem es jedoch nicht um die »Entblätterung der

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Roland Barthes: Die Lust am Text, Frankfurt a.M. 1974, S. 18.

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Wahrheiten« gehe, »sondern das Blattwerk der Signifikanz«,31 was zugleich auch als (post)strukturalistische Kritik an der Hermeneutik zu verstehen ist. Dabei entspräche eine solche Lesart nicht einem »körperlichen Striptease«32 im Sinne »eine[r] fortschreitenden Enthüllung«,33 sondern dem Akt des Beschauens einer »erotischen Stelle eines Körpers […], wo die Kleidung auseinanderklafft«,34 so dass »das Glänzen selbst verführt«.35 Barthes’ Konzept zieht somit die Sinnlichkeit der Oberfläche dem Freilegen eines in der Tiefe verborgenen Sinns vor: »Was ist die Signifikanz? Der Sinn, insofern er sinnlich hervorgebracht wird.«36 Daher spielt für Barthes nicht zuletzt auch die Materialität des Buchs eine wesentliche Rolle: »Ich genieße an einer Erzählung also nicht direkt ihren Inhalt, nicht einmal ihre Struktur, sondern vielmehr die Kratzer, die ich auf dem schönen Umschlag hinterlasse […].«37 So wird deutlich, dass schon der Poststrukturalismus Schrift nicht nur auf ein Zeichensystem reduziert, sondern auch als materielle Oberfläche begreift. Barthes formuliert dies zudem vor dem Hintergrund einer Beschäftigung mit dem Phänomen des Populären und unterscheidet zwischen einer »Massenkultur«,38 die er im Sinne einer Industrialisierung und Entindividualisierung der Kultur versteht und einer »Kultur der Massen«,39 die er als Kulturform auffasst, mit der die Masse ihre kulturelle Handlungsmacht reaktiviert. Barthes terminologische Unterscheidung bietet dabei die Möglichkeit, zwei verschiedene Kulturphänomene zu adressieren, die im Begriff der Kulturindustrie zusammenfallen. In ähnlicher Weise ist wohl auch Susan Sontags neun Jahre zuvor gestellte Forderung nach einer »erotics of art«40 zu verstehen. In ihrem Essay Against Interpretation, der erstmals 1964 in der Literaturzeitschrift Evergreen Review erscheint, plädiert auch Sontag dafür, Kunst zuvorderst sinnlich wahrzunehmen.41 In diesem Sinne fokussiert eine ›erotics of art‹ im Gegensatz zu hermeneutischen Zugänge mehr die Sinnlichkeit als den Sinn der Kunst. Zudem gäbe es Kunst- und Kulturformen, die diese Seite der Kunst selbst hervorkehren würden wie etwa die »mass, as opposed

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Ebd., S. 19. Vgl. hierzu vor dem Hintergrund der Bedeutung der Buchgestaltung für Verlage wie Suhrkamp und Merve C. Windgätter: Vom Blattwerk der Signifikanz, S. 30; P. Felsch: Der Leser als Partisan, S. 39. R. Barthes: Die Lust am Text, S. 17. Ebd., S. 19. Ebd., S. 16. Ebd., S. 17. Ebd., S. 90. Ebd., S. 19. Ebd., S. 58. Ebd. Susan Sontag: Against Interpretation and other Essays, New York 1966; Susan Sontag: »Against Interpretation«, in: Evergreen Review 8 (1964), H. 34, S. 76–80, 93, hier S. 93. Ebd.

6. Reprisen der Oberflächenästhetik im Buch- und Zeitschriftenformat

to high, culture«42 und die Pop Art: »Pop Art […] using a content so blatant, so ›what it is‹, it, too, ends by being uninterpretable.«43 Der Publikationskontext der ersten Veröffentlichung, nämlich die Zeitschrift Evergreen Review, die beispielsweise auch erotische Comics und Illustrationen enthält und auf deren Cover ein nackter Frauenkörper abgebildet ist, zeugt zudem von einem genuinen Interesse an einer Ästhetik des Erotischen und der Pornografie, wie es in den 1960er Jahren auch bei Leslie Fiedler und dem März-Verleger Jörg Schröder zu beobachten ist.44 Im Zentrum steht bei Sontag aber vor allem die Forderung nach einer ›Neuen Sinnlichkeit‹.45 Denn die Sinne, mit denen wir Kunst wahrnähmen, seien durch die Hermeneutik entschärft worden: »Like the fumes of the automobile and of heavy industry which befoul the urban atmosphere, the effusion of interpretations of art today poisons our sensibilities.«46 Die Funktion der Literaturkritik müsse daher darin bestehen, vor allem die sinnliche Dimension von Literatur wieder hervorzukehren: Interpretation takes the sensory experience of the work of art for granted, and proceeds from there. This cannot be taken for granted, now. Think of the sheer multiplication of works of art available to every one of us, superadded to the conflicting tastes and odors and sights of the urban environment that bombard our senses. Ours is a culture based on excess, on overproduction; the result is a steady loss of sharpness in our sensory experience. All the conditions of modern life—its material plenitude, its sheer crowdedness—conjoin to dull our sensory faculties. And it is in the light of the condition of our senses, our capacities (rather than those of another age), that the task of the critic must be assessed. What is important now is to recover our senses. We must learn to see more, to hear more, to feel more.47 Sontags Literaturtheorie macht also die Reaktivierung, Schulung und Verfeinerung der Sinne zur Grundlage einer Beschäftigung mit Literatur. Folgt man dieser Argumentation, so werden nicht zuletzt auch die visuellen, taktilen, auditiven und olfaktorischen Dimensionen des Buches bedeutsam. Letztere, d.h. die olfaktorische Dimension des Buchkörpers, spielt, um wieder zurück auf Goetz zu kommen, beispielsweise auch in dessen Literaturproduktion eine Rolle. In Abfall für alle, das einen besonderen Einblick in den Publikationsprozess von Goetz’ Büchern bei Suhrkamp gibt, finden sich mehrere Passagen, die Goetz’ Interesse sowohl an den visuellen Oberflächen seiner Buchpublikationen –

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Ebd., S. 80. Ebd., S. 79. Vgl. hierzu Kap. 2.5 und 3.1.1 der vorliegenden Arbeit. Vgl. hierzu insbesondere G. Stanitzek: Das Stromlinienbaby, S. 63. S. Sontag: Against Interpretation, S. 78. Ebd., S. 93.

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wie Umschlaggestaltung, Satz, Layout und Format – als auch an der olfaktorischen ›Oberfläche‹ seiner Bücher belegen. Beispielsweise berichtet Goetz an einer Stelle von einem Telefonat mit einem Papiermacher: Das ist doch mal eine handfeste Info! Herr Staudt erzählt eben, weil ich nochmal wegen dem Papier anrufe: ja, das Papier stände in so Bottichen, da wäre viel Wasser dabei, und wenn die da in ihrer Papierfabrik in den Bottichen länger mal nicht umrühren, dann käme es eben zu so – ja: FÄULNISPROZESSEN, und das würde eben dann so bisschen – ich: BRUTAL STINKEN – er: etwas riechen. Aber in unserer Papierfabrik, da würden sie schon brav rühren. Danke, Papierfabrik. Seit Jahren frage ich überall rum, wo kommt denn der Gestank her, bei manchen Büchern? Vom Leim? Vom Papier? Vom Bindeding?48 An anderer Stelle in Abfall für alle, die die Planung der Buchgestalt von Rave dokumentiert, heißt es wiederum: »weicher Karton/beware of Gestank/matter Schutzumschlag«.49 Doch trotz der akribischen Planung der Haptik und der Olfaktorik seiner Buchpublikationen bleibt der Druck für Goetz mit paranoiden Ängsten behaftet. Mögliche Störungen, die während dieses Prozesses auftreten können, gefährden nicht zuletzt die Werkherrschaft des Autors, da diese im Falle von Goetz auch die Buchoberflächen miteinschließt.50 So berichtet Goetz weiterhin, dass er vor der Buchvorstellung von Rave »noch nicht mal ein Exemplar des Buches gesehen«51 habe, »um den Moment der Verzweiflung über irgendwelche herstellungs-technischen Mißgeschicke, Farbe, Geruch, Bilder, Satzspiegel, was weiß ich, nicht genau jetzt in die Endphase der Arbeit am Stück hinein explodieren zu lassen. Das Ganze ist so hochparanoid mit Angst besetzt, ich kann es selber manchmal gar nicht glauben. Andere reden vom Glück, ich von Angst. Angst, Angst, Angst.«52 Was alle genannten Beispiele dabei verbindet ist, dass sie auf die sinnlich wahrnehmbare Komponente der Literatur hinweisen. Literatur tritt nie als abstrakter Text, sondern immer schon als für die sinnliche Wahrnehmung gestaltetes Objekt vor die Sinne der Rezipient:in und dies wirkt sich auf den Konsum der Literatur, ihre intermaterielle und -semiotische Beziehung zur materialbetonenderen bildendenden Kunst wie auch das Konzept Autorschaft aus. 48

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R. Goetz: Abfall für alle, S. 377. Vgl. hierzu Livia Kleinwächter: »›Corpus Abfall‹. Figurationen der Buchmedialität von Mallarmé bis Goetz«, in: Charlotte Coch/Torsten Hahn/Nicolas Pethes (Hg.), Lesen/Sehen. Literatur als wahrnehmbare Kommunikation, Bielefeld 2023, S. 229–266, hier S. 261. R. Goetz: Abfall für alle, S. 17. Zum Begriff der Werkherrschaft als konstitutives Element von Autorschaft vgl. Heinrich Bosse: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit, Paderborn 2014. Ebd., S. 139. Ebd.

6. Reprisen der Oberflächenästhetik im Buch- und Zeitschriftenformat

6.2 Anzeigen-Peritexte: KiWi, Suhrkamp, Tempo, Der Freund Auch das Spiel mit den werbenden Peritexten schreibt sich bis in die späten 1990er und 2000er Jahre fort. Beispielsweise findet sich in der Januar-Ausgabe der Spex von 1999 eine Anzeige des Suhrkamp-Verlags, die unter dem Schlagwort ›Pop‹ die folgenden drei Romane bewirbt: Gut Laut von Andreas Neumeister, Tomboy von Thomas Meinecke und Rave von Rainald Goetz (Abb. 53).53 Genaueres hierzu lässt sich in Goetz’ Abfall für alle nachlesen. Darin kommt Goetz nämlich auch auf eben jene »geplante Werbung für unsere [Gut laut, Rave, Tomboy] Romane«54 zu sprechen: »Die Überschrift muss, wenn dann, natürlich POP heißen, finde ich. Thomas hatte gedacht ›Plattenspieler‹.«55 Auch auf die typografische Gestaltung geht Goetz ein: »Es soll jetzt also supersimpel werden. Links steht ein Wort: POP. Dann kommen die Umschläge der Bücher, ohne Text. Dann schön groß: SUHRKAMP VERLAG. Fertig.«56 Mit Ausnahme der räumlichen Aufteilung der Anzeige – bei der finalen Drucklegung handelt es sich um eine vertikale und nicht, wie von Goetz vorgeschlagen, um eine horizontale Anordnung – findet sich diese genauso, wie von Goetz beschrieben, abgedruckt in besagter Ausgabe der Spex. Die Anzeige wird so selbst auf die bloße Oberfläche der Romane, nämlich die Buchumschläge, reduziert. Die Identifikation des Suhrkamp Verlags mit der Popkultur scheint zudem vor dem Hintergrund der Debatten der 1960er Jahre zwischen Unseld, Enzensberger und Frisch um das Taschenbuch als vermeintlichem Agent der ›Bewusstseinsindustrie‹ bemerkenswert.57 Insbesondere da sich diese Identifikation des Verlags mit der Popkultur durch eben jene Marketingkampagnen und die Literaturkritik der 2000er Jahre in dem Label ›Suhrkamp-Pop‹ niederschlägt.

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Suhrkamp: »POP [Anzeige]«, in: Spex (1999), H. 1, S. 59. Vgl. hierzu L. Hintze: Werk ist Weltform, S. 36–39; und E. Schumacher: Gerade Eben Jetzt, S. 11. R. Goetz: Abfall für alle, S. 638. Ebd. Ebd., S. 642. Vgl. Kap. 2.1 und 3.1.3 der vorliegenden Arbeit.

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Abb. 53: Anzeige des Suhrkamp Verlags in der Spex im Januar 1999.

Anzeigen und Werbung spielen zudem nicht nur bei der Konstruktion des ›Suhrkamp-Pop‹-Labels, sondern auch bei der Entstehung des homologen Begriffs ›KiWiPop‹ eine Rolle. Beispielhaft hierfür ist die Peek und Cloppenburg-Werbekampagne We are family der Agentur Studio Achermann, bei der unter anderem Christian Kracht, Benjamin von Stuckrad-Barre und der Münchner Pionier für elektronische Musik DJ Hell sowie der Besitzer der Berliner Paris Bar Michael Würthle als Fotomo-

6. Reprisen der Oberflächenästhetik im Buch- und Zeitschriftenformat

delle engagiert wurden (Abb. 54).58 Stuckrad-Barre äußert sich in einem gemeinsam mit Kracht geführten Interview in Die Zeit wie folgt zur Beteiligung an der Werbekampagne, die zugleich auch die Bücher der beiden Debütanten Faserland und Soloalbum bewerben sollte: Da sich unsere Verlage weigern, Bauzäune mit uns zu plakatieren, und sie auch keine Werbespots im Kino oder Fernsehen buchen, in denen Topmodels mit unseren Büchern posieren, müssen wir zu anderen Mitteln greifen, um dem Leser zu übermitteln: Es darf wieder gekauft werden. Es wäre ja töricht, sich auf die Literaturkritik zu verlassen.59 Auch Kracht äußert sich in besagtem Interview zu dem Foto-Shooting für die Werbekampagne im Englischen Garten in München: »Interessant ist ja auch, dass es gerade Schriftstellern vorgeworfen wird, wenn sie für ein Produkt werben.«60 Denn gerade an Literatur knüpft sich ausdrücklich die Erwartung, dass sie sich von ihrer eigenen Vermarktung distanziert, was nach Stuckrad-Barre damit zusammenhängt, dass von der Literatur allgemein verlangt werde, dass sie tiefgründig und nicht oberflächlich sei: Es gibt ja nichts anderes als die Oberfläche. Und die Kritik, die einem das vorwirft, führt das exemplarisch vor, indem sie den Lesern verschweigt, worüber und wie wir eigentlich schreiben, und stattdessen ausschließlich Überlegungen anstellt über unseren Auftritt, die Fotos, die Anzeigen, die Oberfläche also. Die Kritik erdolcht sich damit selbst, ist im Grunde Kritik-Pop.61 Noch deutlicher knüpft die 2006 erscheinende Jubiläumsausgabe von Tempo an diese Strategie der ›Zeitgeist‹-Magazine der 1980er Jahre an. Der Zeitschriftenname Tempo erscheint auf die ein oder andere Art in den Anzeigentexten fast aller in der Ausgabe geschalteten Anzeigen, wodurch diese mit dem redaktionellen Inhalt der Zeitschrift verschwimmen. 58 59

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Studio Achermann [http://studioachermann.ch/fashion/peek-cloppenburg, zuletzt eingesehen am 10.10.2022]. Anne Philippi/Rainer Schmidt: »›Wir tragen Größe 46‹: Benjamin v. Stuckrad-Barre und Christian Kracht wollen mit einer neuen Kombination berühmt werden: Für Mode werben und Bücher schreiben«, in: Die Zeit vom 9.9.1999 [https://www.zeit.de/1999/37/199937.reden_stuc krad_k.xml?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F, zuletzt eingesehen am 16.10.2023]. Vgl. zum Verhältnis der sogenannten Pop-Literatur der 1990er Jahre zur Warenästhetik Heinz Drügh: »Konsumknechte oder Pop-Artisten? Zur Warenästhetik der jüngeren deutschen Literatur«, in: Andrea Geier/Jan Süselbeck (Hg.), Konkurrenzen, Konflikte, Kontinuitäten. Generationsfragen in der Literatur seit 1990, Göttingen 2009, S. 158–176. A. Philippi/R. Schmidt: Wir tragen Größe 46. Ebd.

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Abb. 54: Werbeanzeige mit Christian Kracht und Benjamin von Stuckrad-Barre für die P&CWerbekampagne We are Family von 1999.

Besonders hervorzuheben ist eine Anzeige von Kiepenheuer & Witsch, da diese noch einmal darauf hinweist, dass die Autoren des sogenannten ›KiWi-Pop‹ zuvorderst aus dem Autorenkreis der Tempo rekrutiert wurden: »Was verbindet Tempo und den Verlag Kiepenheuer & Witsch?«,62 heißt es dort und die Antwort lautet: »Benjamin v. STUCKRAD-BARRE«, »Moritz von USLAR«, »Christian KRACHT«, »Peter GLASER«, »Sybille BERG« sowie »Maxim BILLER«,63 um nur einige zu nennen. Darüber hinaus findet sich in ebenjener Jubiläumsausgabe eine sich über mehrere Magazin-Doppelseiten erstreckende Anzeige für eine H&M-Kollektion, für die unter anderem der Tempo-Herausgeber Markus Peichl sowie die Autoren Maxim Biller, Benjamin von Stuckrad-Barre und Moritz von Uslar Modell stehen (vgl. Abb. 55 und 56).64 Die Jubiläumsausgabe von Tempo schließt so einerseits direkt an die weiter oben vorgestellte Werbekampagne mit Kracht und Stuckrad-Barre an. Andererseits greift das Zeitschriftenkonzept eine Diskussion aus den 1980er Jahren wieder auf, die sich um die Trennung von Anzeigenteil und redaktionellem Teil in Zeitschriften drehte. Dies wird auch daran ersichtlich, dass Michael Schirner, der zu dieser Zeit mit seiner Werbeagentur KKG sowie der von ihm zuvor geleiteten Werbeagentur

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Kiepenheuer & Witsch: »Anzeige«, in: Tempo. Jubiläumsausgabe (2006), S. 272, hier S. 272. Ebd. H&M: »H&M