Vernunft als Weisheit: Studien zum späten Lessing [Reprint 2016 ed.] 3484150653, 9783484150652

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Vernunft als Weisheit: Studien zum späten Lessing [Reprint 2016 ed.]
 3484150653, 9783484150652

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Einleitung
I. Nathan - ›Anti-Candide‹ – Hiob
II. Lessing und Mendelssohn in Ihrer Spätzeit
III. Sprachgesten der ›Ars Socratica‹ in Lessings Spätschriften
IV. Rückblick
Anhang: Texte zur Hiob-Deutung im 18. Jahrhundert
Literaturverzeichnis
Register

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HERMAEA GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN NEUE FOLGE HERAUSGEGEBEN VON HANS FROMM UND HANS-JOACHIM MÄHL

BAND 65

INGRID STROHSCHNEIDER-KOHRS

Vernunft als Weisheit Studien zum späten Lessing

MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1991

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Strohschneider-Kohrs, Ingrid: Vernunft als Weisheit : Studien zum späten Lessing / Ingrid Strohschneider-Kohrs. - Tübingen : Niemeyer, 1991 (Hermaea ; N.F., Bd. 65) NE: GT ISBN 3-484-15065-3

ISSN 0440-7164

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1991 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gesamtherstellung: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten

Dem Andenken an ALEXANDER ALTMANN

Vorwort

. . . denn meines Erachtens hat die Vernunft noch nie so sehr einer Apologie bedurft, als in diesem philosophischen Jahrhundert.

Moses Mendelssohn

Während seines Wolfenbüttel-Besuches, in seinem letzten Lebensjahr, hat Alexander Altmann dazu angeregt und mich erneut brieflich dazu ermutigt, meine der Spätzeit Lessings und nicht zuletzt auch dem Dialog zwischen Lessing und Mendelssohn geltenden Studien fortzuführen und zu veröffentlichen. Diese Studien, von denen Ausschnitte anläßlich einiger Symposien in skizzenhafter Kürze und Aufsatzform publiziert sind, wurden für die vorliegende Untersuchung näher ausgeführt und einer Thematik zugeordnet, die das Titelwort anzuzeigen sucht. Wenn dieser Titel einen unzeitgemäßen Klang zu haben scheint, da vom Scheitern der Vernunft oft und begründet genug die Rede gewesen ist, — und wenn zudem, wie 1981 in der Rede zum Hamburger Lessing-Preis, auf die Z u rücknahme der AufklärungPhysikern< artikulierte Wort auch als ein Hinweis auf andere Möglichkeiten des mundus intelligibilis verstehen, — als Erinnerung daran, daß es eine zur Besonnenheit und zur Selbstbescheidung fähige K r a f t des Denkens geben kann, der — ebensowenig zurücknehmbar — die Lessing-Zeit den Namen der Vernunft nicht vorenthalten hat. Daß gerade Lessing mit dem Wort >Vernunft< alles andere als eine Schaumünze rationaler Überheblichkeit oder einen starren, apodiktischen Schulbegriff gemeint hat, das bedarf von Zeit zu Zeit der erneuten Verdeutlichung. — Einer solchen Verdeutlichung haben die vorliegenden Studien auf dem Weg historisch differenzierender und textnaher Betrachtung nachzukommen gesucht. München, im Frühjahr 1991

Ingrid Strohschneider-Kohrs VII

Inhalt

Vorwort

VII

Einleitung I.

i

NATHAN — >ANTI-CANDIDE< — HIOB

1. Vom heuristischen Wert der Formeln und Daten a. Mendelssohns Diktum — Schlegels Kritik b. Daten und Themenkreise

19

. . . .

21 21 30

2. Der Candide-Roman — >parabole voltairienne
fides historica< a. Konstellationen um 1770 b. Zur Position Mendelssohns c. Grundfragen Lessings d. Briefhinweise zu Einzelthemen e. Probleme der Erziehungs-Schrift. — Relationen zum Nathan-Drama f. >Fides historica< im Nathan-Drama g. Dokumente der letzten Jahre

125 128 133 139 143

2. Lessings letzter Brief an Mendelssohn. Text und Kontext

149 156 161 168 IX

I I I . S P R A C H G E S T E N DER >ARS SOCRATICA< IN LESSINGS

IV.

SPÄTSCHRIFTEN

187

1. Zur philosophischen Tendenz< in Lessings Sprache und Stil

189

2. Sprachformen kritischen Vorbehalts. — Textbeispiele . . a. Das dramatische Werk als Möglichkeitsbild b. Lessings bescheidenes obschon< in der >Duplik< . . . c. ... >und antworten, ohne zu antworten«

200 201 206 212

3. Der >Vorbericht< zur Erziehungs-Schrift. — Zum Confinium von >Wahrheit< und >Irrtum
Vernunft< und ebenso das Wort >Weisheit< einem vorgreiflich fixierenden und vermeintlich bekannten Auslegungsgedanken und -inhalt unterwirft, mag eine Titelformulierung, wie sie für diese Untersuchung gewählt ist, anmaßend scheinen und wie eine fatale Leerformel klingen. Mit einem festen Vorwissen solcher Art möchten indes die hier verwendeten Titelbegriffe gerade nicht operieren. Sie sollten zunächst nicht anders zu lesen sein denn als Ausdruck oder Zeichen dafür, daß es eine von Lessing bedachte und zur Sprache gebrachte Vernunfterfahrung geben möchte, deren Rang und Gewicht alles andere als gering einzuschätzen sind; — eine Vernunfterfahrung, die — mit allem, was sie dank ihres konkreten >wahren Details< anzuzeigen vermag — zu Wegen und Umwegen nachdenklichsten Beobachtens herausfordern muß und die gerade solchen Deutungsworten sich entzieht, wenn nicht auch zu widersprechen imstande ist, die mit ihr ein leichtes, nach allzu bekannten Systemregeln ablaufendes Spiel zu haben glauben*. Für die Erforschung der Aufklärung haben in den letzten Dezennien die Postulate und Ergebnisse mehr und mehr an Überzeugungskraft gewonnen, in denen >Formeln< und >einheitliche< Begriffe zurückgewiesen und statt dessen Differenzierungen anberaumt worden sind; — Einsichten also, die Sachverhalte und geschichtliche Zusammenhänge in ihrem Spannungsoder Widerspruchsreichtum wahrzunehmen ermöglichen und sie in der ihnen eigentümlichen Komplexität genauer zu bestimmen fordern. So weist z. B. Panajotis Kondylis in seiner ebenso großlinigen wie detaillier* Die Lessing-Zitate sind - unter der Sigle LM mit Band- und Seitenzahl - nach der Lachmann-Muncker-Ausgabe angegeben. In den Anmerkungen werden Kurzinformationen angeführt. — Alle näheren bibliographischen Angaben im Literaturverzeichnis. I

ten Untersuchung über die >Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus< für die europäische Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts einen globalen und undifferenzierten Begriff des Rationalismus als Epochenbezeichnung mit Entschiedenheit zurück. Ihm liegt nicht wenig daran, auch die in mehr als einer Ausprägung gerade diesem Jahrhundert zugehörigen anti-intellektualistischen Tendenzen hervorzuheben. Sie seien allerdings — genauso wie die dezidiert intellektualistischen Versionen des >Rationalismus< — nach Situationsbedingtheiten zu befragen und nach den ihnen ablesbaren Richtungen oder Adressaten ihrer jeweiligen Polemik näherhin zu unterscheiden und zu kennzeichnen. Unter diesen Voraussetzungen handelt P. Kondylis mehrfach davon, daß gerade >religiöse Deutungen< im 18. Jahrhundert nicht im Gegensatz zum >Rationalismus< stünden1. Vornehmlich der deutschen Spätaufklärung — und in dieser wiederum vornehmlich Lessing komme in diesem Zusammenhang eine besondere, geistig-geschichtlich höchst aufschlußreiche Konstellation und Position zu. Die deutsche Spätaufklärung habe — etwa im Gegensatz zu den extremen Formen des Skeptizismus und Nihilismus in Frankreich — ein nachgerade ausgeprägtes und lebendiges Verhältnis zur Relig i o n oder Religiosität bewahrt oder auch eigens entwickelt. Hohen Grades verbunden mit dem Luthertum, dem Pietismus und den darauf basierenden Individualentscheidungen, tritt diese historisch überaus komplexe Erscheinung für P. Kondylis vor allem in der deutschen Gefühlsphilosophie, im Sturm und Drang und — auch sie werden namentlich angeführt: mit Hamann und Herder 2 in besonders prägnanter Weise zutage. So begründet und berechtigt es sein mag, diese von den Spätgeborenen des 18. Jahrhunderts getragenen anti-intellektualistischen Tendenzen in den Problemkreis der Rationalismus-Deutungen einzubeziehen, so ist es doch keineswegs weniger begründet und berechtigt — zumal hier, wenn nicht generell —, von den bestimmenden Grundzügen oder auch einer geistiggeschichtlichen Symptomatik in enger gezogenen Grenzen: d.h. ohne die Beispiele der der Präponderanz der >Gefühlsphilosophie< zugehörigen Phänomene oder Tendenzen zu sprechen. Sicherlich ist damit die Frage um so entschiedener aufzuwerfen und zu präzisieren, ob und in welcher Weise Lessing — oder genauer: der gewichtige späte Teil seines Gesamtceuvres repräsentativ zu nennen ist für das >Problem der SpätaufklärungSchwellenzeit< des 18. Jahrhunderts. 1 2

Panajotis Kondylis, S. 3 7. Ebd., S. 54zff. u. ö.

2

In der Lessing-Forschung hat die Frage nach einer angemessenen und historisch begründeten Deutung des Spätwerks und der ihm ablesbaren Problemkonstellation eine spezielle, vielfach beachtete und positiv gewürdigte Explikation gefunden. Wenn man der vornehmlich in Lessings >Theologisieren< sich darbietenden >ars dialectice cogitandi< ansichtig werden wolle, — wenn Lessings >wahre Meinung< herauszufinden versucht werde, so hat Leonard P. Wessell zu diesem Fragenkomplex ausgeführt, dann müsse eine in einheitlichen Begriffen sich artikulierende Konstruktion eines umgreifenden Zusammenhangs oder einer »konsistenten Totalität« fehlgehen. Es sei vielmehr eine unausgleichbare Widersprüchlichkeit, — etwas wie eine »fragmentarische und widersprüchliche Natur« in Lessings theologischem Denken wahrzunehmen und anzuerkennen 3 . Die Gründe für diese spezifische Widersprüchlichkeit< lägen — als deren gleichsam »systematischer Kern« — in der »Krise selbst«: in Lessings Teilhabe >an der kognitiven. KriseSchwebens< »zwischen einander widersprechenden Denkmodellen« 5 oder Paradigmata Anlaß geben kann zu erneut einer bereits nicht selten in Lessing-Auslegungen begegnenden formelhaften Wendung, und das heißt: einer der genaueren Explikation sich entziehenden >Leerformel< von der Lessing zuzusprechenden >Dialektik< —: auch dieser Umstand ist noch nicht das eigentliche und kritisch aufzunehmende Problem dieser Thesen. Das scheint vielmehr in den Prämissen und in der Nomenklatur der Wessellschen Deutung zu liegen. Wohl läßt sich die >kognitive Krise< der Zeit, die Lessing wahrgenommen, — an der er teilgehabt hat, als Spannungsfeld und Überschneidung zweier gegensätzlicher Paradigmen charakterisieren: eines nationalistischen, statischen und metaphysischem einerseits und eines >empirischen, dynamischen und historischem 6 anderseits. Daraus muß aber noch nicht geschlossen werden, daß die >Pole< dieses Spannungsfeldes für Lessings Werk und Existenz vor allem in seiner späten Lebens- und Schaffensphase in gleichbleibender, unveränderter Stärke sich auswirkten. Vor allem die Frage bedarf der präzisierenden Prüfung, ob die »von Cartesius eingeführte« DenJ 4

Leonard P. Wessell, S. i8 7 f. Ebd., S. 191.

> Ebd., S. 194.

6

Ebd., S. igif. 3

kungsart, — nämlich: »den letzten Grund alles Seins und Erkennens im Menschen, im Ich, in der menschlichen Subjektivität« zu suchen7 — von Lessing so aufgenommen und zudem auch in seiner Spätzeit als Denkmodell beibehalten worden ist, — als ein »rationalistisches Paradigma« mit der Konsequenz und »epistemologischen Forderung« des Inhalts, daß die »erstrebte Wahrheit« sich als die »Kraft des Ichs« erweise, »aus sich selbst die allgemeine Gestalt des Seins zu entwerfen« 7 . Demgegenüber ist es vielmehr notwendig zu erwägen, in welcher Weise und in welchem Maße gerade dieses Denkmuster als solches für Lessing notwendigerweise brüchig geworden und von ihm aufgrund neuer Einsichten und Erfahrungen modifiziert, wenn nicht überwunden worden ist. Damit aber verändert sich im geschichtlich-personalen Vollzug für Lessing das genannte Spannungsfeld der gegensätzlichen Paradigmen, da die neuartigen Erfahrungs- und Erkenntnismomente: die Bedingtheitserfahrungen des G e schichtlichem und des >Geschichtlichseins< — modifizierend und als integrierende Kräfte in die Möglichkeiten und das Wissen von Wegen der Wahrheits-Suche eindringen. Ein Vorgang, der das als >ratio< definierte Paradigma zu differenzieren, in neuartige Relationen zu bringen beginnt und gleichsam übersteigt — aber auch verlangt, daß die Begriffe wie >ratio< und >Vernunft< nicht als identisch zu setzen seien. Da mit dieser Erwägung ein zentraler Punkt in der hier zu bedenkenden Problematik berührt ist, mag es nützlich sein, die zu klärende Frage zunächst mit der von L. P. Wessell artikulierten These oder conclusio nochmals zu verdeutlichen. Darin heißt es, Lessing habe das Problem und die »Aufgabe, die menschliche Subjektivität als Ratio und Irratio, als Vernunftwesen und Geschichtswesen, in Einklang mit sich selbst zu bringen«, nicht zu lösen vermocht; es sei ihm »nicht gelungen, das Ewige und das Zeitliche, das Metaphysische und das Empirische, das Rationale und das Geschichtliche in einen völlig konsequenten Paradigmasatz zusammenzuziehen, der ihm hätte ermöglichen können, eine systematische und widerspruchsfreie Seinsauffassung zu begründen«. 8 So wenig die Logizität und begriffliche Plausibilität dieses Satzes anzufechten ist, so deutlich lassen sie allerdings für die sie leitende Vorstellung und die hier artikulierte >epistemologische Forderung< den begründeten Zweifel aufkommen, ob die zentrale, entscheidende Frage — oder sollte dies auch mit Lessings Wort als der »elastische Punkt« 9 des Problems bezeichnet wer7

Ebd., S. 19z. Ebd., S. 194. ' L M 16, S. 402. - Die mehr als marginale Bedeutung dieses Worts zeigt sich nicht nur in einer Wendung des Lessing-Jacobi-Gesprächs von 1780, sondern vor allem im Deu8

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den dürfen? — auf eben dieser Ebene begrifflicher Artikulation, — in dieser A r t und Dimension begrifflichen Denkens überhaupt wahrzunehmen und vor den Blick zu bringen möglich ist. Die sich abzeichnende Problematik — das mag bereits jetzt deutlich sein — durchbricht ja nicht allein das der metaphysischen und >begriffslogischen< Tradition entstammende nationalistische Paradigmawiderspruchsfreien< Aussagen definieren oder in >systematisch< begründete Denkmodelle einfügen lassen. Und wenn zu konstatieren möglich und nötig ist 10 , daß in Lessings Denkwegen bestimmte Ebenen brüchig werden und bestimmte Realphänomene, Aussagen oder Mitteilungsinhalte widersprüchlich erscheinen, so muß das nicht als verwehrte Antwort oder ein Unvermögen zu versöhnendem Ausgleich der Gegensätze und Widersprüche zu verstehen sein. Statt dessen dürfte sehr wohl die weiterführende Erwägung und eine — gewiß näherhin zu präzisierende — Frage aufkommen, ob Lessing — angesichts des in den Realgegebenheiten und im Geschichtlichen sich abzeichnenden »Rätselhaften« im Menschen 11 — mit dem unter das Zeichen des Widerspruchs gerückten Denken nicht etwas auf inkommensurable Weise Begegnendes wahrzunehmen und zu >denken< vermocht hat; — etwas, das als >Sein< in seiner >Alterität< zu neuen, d. h. die bisherigen Kategorien und Paradigmen der Logizität durchbrechenden Denkmöglichkeiten herausfordern muß. Dies allerdings wäre einem Denkvermögen tungshinweis, mit dem Friedrich Schlegel gerade dies Diktum erläutert hat: Lessing möge, so hat Jacobi in diesem Disput — anläßlich des von Lessing erwähnten »Salto mortale< in die »übersinnliche Erkenntnis< — formuliert, »nur auf die elastische Stelle treten«, um sich >fortzuschwingen< (Münchner Ausgabe Bd. 8, S. 571). Friedrich Schlegel weist in seiner Woldemar-Rezension auf folgende Differenz hin, — die wohl auch für Fragen der Lessing-Deutung von Aufschluß sein könnte: »Der elastische Punkt, von dem Jacobis Philosophie ausging, war nicht ein objektiver Imperativ, sondern ein individueller Optativ«. Fr. Schlegel, K F S A Bd. II, S. 69. In zeitlicher Nähe zu seinen LessingAufsätzen hat Fr. Schlegel das Wort vom »elastischen Punkt< (z. B. für die »progressive Bildung< im Athenäums-Fragment 222 u. ö.) mehrfach verwendet. IO So hat Dieter Kimpel anläßlich mehrerer literarkritischer Schriften aus Lessings früherer Zeit (Briefwechsel übers Trauerspiel; Fabel-Abhandlung u.a.) hingewiesen auf das »Ungenügen am rationalistisch-nomologischen Erfahrungsbegriff der Schulphilosophie Wolfis« (S. 277); auf die »Erweiterung des rationalistischen Erfahrungsbegriffs hinsichtlich des Menschen nicht nur als Gattungswesen sondern wesentlich auch als Geschichtswesen«, — Probleme, die »mit den Mitteln der alten Logik [...] nicht mehr zu bewältigen waren« (S. 278). Joachim Desch konstatiert (ebenfalls ohne Erwähnung der Thesen von L. P. Wessell): »Unvereinbar treten sich hier der begriffsorientierte abstrakt-logische Rationalismus und eine an der Wirklichkeit orientierte Vernünftigkeit gegenüber; und ihrer nimmt Lessing sich an«. (1982), S. 135. " L. P. Wessell, S. 194.

5

zugemutet, das herauszutreten imstande ist aus den ihm bisher gemäß scheinenden Vorstellungsprinzipien und -gewohnheiten. Ein Denkvermögen — bereit, sich selbst zu überbieten, um einer Dimension der >religio< zu entsprechen. Diese Art eines auf die Dimension der >religio< sich richtenden Entsprechens müßte allerdings frei bleiben von Okkupationsoder Leugnungsabsichten, mit denen nicht eben wenige der dem Problembereich der >religio< geltenden >Denkexperimente< der Epoche und gerade in Lessings engerem Zeit-Umfeld von sich reden gemacht haben. Hier läge, wie oben bereits andeutend erwähnt worden ist, der Problemkreis zutage, in dem über den Begriff der >ratio< hinaus der Anspruch und die Möglichkeit eines für Lessings Spätwerk bestimmenden Vernunft-Begriffs wahrzunehmen nötig wird. — Spätmrk und Spätreif Lessings — dies eigens zu betonen und zum Thema zu erheben, ist keineswegs selbstverständlich. Sicherlich darf es als dringend geboten erscheinen, eine gewisse Periodisierung des Lessingschen Œuvres zu beachten, wobei es mehrere Möglichkeiten und Kriterien geben mag, bestimmte Phasen in Lessings Entwicklung und Schriften zu unterscheiden und einige deutliche Zäsuren namhaft zu machen. Wenn dabei stets zutagetritt, in wie hohem Maße jeweils geschichtliche Situationen und Problemkonstellationen für die Modalitäten und Begriffsverwendungen in Lessings Aussagen mitzubedenken sind, so gilt das vor allem für die nach der höchst bedeutsamen Zäsur um 1770 anhebende Lessingische Spätzeit. Wird diese Phasenabgrenzung unterschätzt, — werden Aussagen oder Problembeantwortungen aus Lessings früheren Phasen ohne Berücksichtigung der ihnen zugehörigen Relationen und zeitlichen Bedingtheiten gelesen und zu Argumenten auch für Deutungen des Spätwerks erhoben, so sind Fehlorientierungen und ist die Mißdeutung gerade gravierender Auslegungsfragen von Schriften der Spätzeit kaum vermeidbar. Ist es doch offenkundig und oft auch konstatiert worden, daß Lessings kritisch-theoretische Schriften aus den 60er Jahren, darunter nicht zuletzt die aus dem Nachlaß publizierten Fragmente dieses Dezenniums (das dramatische und poetologische Œuvre dieser Zeit wäre gesondert zu erörtern), von deutlich intellektualistischen Tendenzen geprägt sind und expressis verbis die Nähe zu deistisch-neologischen Positionen der Zeit und der diesen Positionen zugehörigen sogenannten matürlichen Religion< zu erkennen geben. Ebenso deutlich aber entfernen sich die Schriften mit Beginn der 70er Jahre von diesen Positionen und intellektualistisch geprägten Tendenzen. In Auseinandersetzungen mit den Reimarus-Schrif6

ten, mit der neu einsetzenden Leibniz-Rezeption, in den >Gegensätzen< zu den Fragmenten des Ungenannten und eng damit verbunden in der Artikulation der Grundfragen und leitenden Intention der ErziehungsSchrift werden auf unübersehbare Weise Problemdifferenzierungen und neuartige Einsichten gewonnen und artikuliert. Damit zeichnet sich eine neue geistig-geschichtliche Orientierung von durchaus eigenem Gewicht ab, so daß diese Spätphase in Lessings Entwicklung mit gutem Recht gesonderte Aufmerksamkeit fordern darf. — Unter den geistesgeschichtlichen Thesen und Deutungen des Lessingischen Spätwerks nehmen offenbar diejenigen, die der Schrift über die >Erziehung des Menschengeschlechts< gelten, eine besonders beherrschende Stellung ein. So mag es demnach den Anschein haben, als zeige sich in der Erziehungs-Schrift der entscheidende Kulminationspunkt oder die aufs höchste zu bewertende Problemversion und -aussage dieser Spätzeit. In dieser Schrift werde Lessings Vermittlungsgedanke oder Syntheseversuch erkennbar: die »Schlichtung des Konfliktes zwischen Kausalem [historisch Bedingtem] und Normativem [Vernunftpostulat und Ziel]«, — eben des Konflikts, der das »Hauptproblem der aufklärerischen Geschichtsphilosophie« ausmache12. Oder mit anderem Hinweis: in der Erziehungs-Schrift sei »eine evolutionäre Auflösung des Problems« angebahnt 1 ', das zuvor in der unausgleichbaren Widersprüchlichkeit der gegensätzlichen Paradigmen oder Denkmodelle zutagegetreten sei. Wie nachdenkenswert diese oder ähnliche der klar explizierten und begründeten Deutungshinweise sein mögen, so nähern doch auch sie sich der Möglichkeit zu begrifflich formelhaften Thesen oder Problemverkürzungen; sei es, daß der Gedanke der >Synthese< als »monistischer« Ansatz14 artikuliert wird; sei es, daß das Wort >evolutionär< die Frage danach zu verdecken oder zu verdrängen imstande ist, welche von Lessing mitgedachten geistigen Inzitamente oder Bewegungskräfte einen solchen >Evolutionsprozeß< auslösen oder tragen. — Von anderer Art, aber von keineswegs geringerem Gewicht für die Deutung des Spätwerks ist die Frage, ob und in welchem Grade Lessings Nathan-Dichtung einbezogen wird, — wobei an genauere Formen des Erwägens und nicht nur an die Kargheit einiger abstrakt-resultativer Bemerkungen über die Thematik der Ringparabel zu denken ist. Keineswegs unnötig nämlich scheint ein Hinweis darauf, daß eben diesem dramatischen Gedicht< aufgrund seiner 11

P. Kondylis, S. 606. ' ' L. P. Wessell, S. i 9 4 f . 14 P. Kondylis, S. 595. Auf Lessings »spontanes monistisches Anliegen« wird auch S. 611 u. ö. hingewiesen.

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poetischen Literarität sehr differenzierte, eindringliche Antworten auf Grundfragen der Lessingischen Spätzeit abzulesen sind. Ist einerseits diese poetische Literarität als solche schon als eine essentiell begründete Version der spätzeitlichen Problematik zu verstehen, so hat Lessing anderseits in diesem Werk auch dank der indirekten, poetisch-bildlichen Sprache nochmals eine eigenständige Wendung und Ausprägung seiner Spätzeitproblematik zu finden vermocht. Damit ist nicht allein die Möglichkeit poetischer Vergegenwärtigung gemeint, die einem bestimmten Thema oder Gedanken einen Grad von Intensität zu geben vermag, wie es explizierender, gar begrifflicher Erläuterung kaum gelingen will. Vielmehr gibt die Nathan-Dichtung darüberhinaus Problemhinweise zu erkennen, die als Antwort auf einen übergreifenden Zusammenhang in Lessings Spätwerk zu verstehen sind. Unter ihnen nicht zuletzt solche, die in enger Relation zur Erziehungs-Schrift zu stehen scheinen und einige der darin offen gebliebenen Fragen auf neue Weise zu bedenken geben können 1 '. Eine solche — schon aufgrund der Entstehungsdaten der Werke naheliegende — genauere Erwägung von gedanklichen Relationen zwischen der Erziehungs-Schrift und dem Nathan-Drama muß mit Sicherheit den Blick nicht nur zu mehreren der besonders gravierenden Fragen des Spätwerks lenken, sondern zugleich damit zu dem Problemkreis, in dem Auskunft über Art und Anspruch, über Sinn und Fragwürdigkeit des in Lessings Spätwerk begegnenden >Vernunft-Begriffs< zu suchen ist. Von > Vernunft-Begrifft, allerdings ist hier nur mit größtem Vorbehalt, — wenn nicht mit sofortigem Einspruch oder entschiedener Zurücknahme zu reden möglich. Es gibt bei Lessing keine einheitliche Wortverwendung und keinerlei endgültige begriffliche Definition von >VernunftVerstand< und >VernunftVernunft< zu geben beabsichtigt sein kann oder einzufordern möglich ist, — so deutlich überdies Abgrenzungen und Wortgebrauch von >Verstand< und >Vernunft< (trotz der Kantischen Unterscheidungen, die obligat hätten werden können) auch noch bis in die heutige Zeit ein virulentes und nicht ohne Mißverständnisse sich darbietendes " Zur näheren Erörterung dieser Fragen s. u. Kap. II, i. 8

Problem geblieben zu sein scheinen' 6 , — so sind doch gleichwohl für die vornehmlich in Lessings Spätwerk begegnenden Fragen nach dem Sinn und Bedeutungsgehalt von >Vernunft< die Wege der Erkundung und des nachdenklichen Verständnisses weder unauffindbar noch verwehrt. Das oben, in den ersten Zeilen dieser Einleitung akzentuierte Kompositum >Vernunfterfahrung< — mit dem Zusatz über das >wahre Details 7 — möchte andeuten, daß nach Möglichkeiten zu suchen sei, komplexere gedankliche Zusammenhänge und Vorstellungen zu befragen und des näheren zu erörtern, wenn der Sinn des Wortes >Vernunft< bei Lessing deutlicher wahrgenommen werden soll. Damit sind, wie es Lessings Sprachformen und Argumentationsweisen mit ihrer unübersehbaren Eigenwilligkeit bereits annoncieren mögen, durchaus diffizile und gerade in ihrem >konkreten< Detail sehr genau mitzudenkende Zusammenhänge gemeint; Gedankengänge nicht zuletzt von der Art, die in ein reflektierend sich selbst begreifendes —, ein sich selbst prüfendes Denken Einblick geben. Einer der berühmtesten, die >Vernunft< betreffenden Sätze ist hier, auch wenn er einer dramatisch-szenischen Situation und Figurenrede zugehört, als Exempel zu zitieren; des Fräuleins von Barnhelm Frage nach der von Teilheim angeführten Vernunft und Notwendigkeit: »Lassen Sie doch hören, wie vernünftig diese Vernunft, wie nothwendig diese Nothwendigkeit ist.«18 Ein Beispiel wie dies — sicherlich mehr als ein Wortspiel und etwas anderes als nur tautologische >Wortgrübelei< — läßt bemerken, daß der Gang der Gedanken sich nicht im Anführen von >Schlüssen< oder in einer ähnlichen >logischen< Bewegung erschöpft. Er ist vielmehr dazu angetan, auf ein >punctum saliensDetail< nicht mit Faktisch-Stofflichem zu verwechseln ist. II. Aufzug, 9. Auftritt, L M 2. S. 205.

9

Überzeugungskraft aus einer anderen Realität oder gar existentiellen Gebundenheit und Glaubwürdigkeit zu gewinnen hat. Die Frage gilt einem >VernünftigenBesonderenErfahrbaren< gründet. Auch wenn ein einzelnes Zitat wie dieses nicht durch Auslegung überfordert sein will, so ist es doch möglich, gerade in diesem Zitat und seinem Gedankengang etwas wie eine Bestätigung oder Konkretisierung für eine von Ernst Cassirer formulierte Beobachtung zu sehen; für die Beobachtung nämlich, daß Lessings Denkweise sich ausnehme wie der Weg, der von einer »Formel« in den »Prozeß« führe 19 . Eine Denkbewegung, so ließe sich auch sagen, die bereits fixierte Resultate oder Lösungen wieder mit den ihnen vorausliegenden Fragen konfrontiert; Begriffe oder präformierte Theoreme nach ihrer Herkunft und nach ihren Fundamenten neu zu durchdenken nicht müde zu werden scheint. Lessing hat in einem solchen Denkprozeß auch die >Vernunft< zu befragen nicht unterlassen; er hat auch ihr die Einsicht in die eigene Wirklichkeit abverlangt, — ihr selber als >Vernunft< eine Prüfung, eine Selbstbefragung zugemutet. Und wenn man nach einer näheren Charakterisierung sucht, mit der die Art und Wegrichtung einer solchen Denkbewegung und einer solchen Selbstkonfrontation der Vernunft angemessen zu erläutern wäre, so gibt es eine Lessingische Formulierung, die — obschon mit anderem Anlaß und Inhalt verbunden — dafür besonders bedenkenswert und erhellend zu nennen ist. Es ist eine Wendung aus der im Winter 1777/78 entstandenen >DuplikGesinnung< ist die h i storische Wahrheit< der Religion; sie wird von Lessing, wie es in ausführlichen Hinweisen seiner Schriften zu lesen ist, als eine unter Bedingtheitsformen erscheinende, eine den >Überlieferungen< inhärente >Wahrheit< verstanden. Mit der Wahrnehmung und Anerkenntnis des Bedingtseins von Wahrheit — und damit auch ihres Erscheinens »unter mehr als einer Gestalt« 21 — ist ein geistesgeschichtlich höchst bedeutsamer Schritt annonciert. Zudem, und das ist der andere Aspekt des aus der >Duplik< zitierten Satzes, lenkt Lessings Erwähnung des Skeptizismus mit dem Hin19 20 21

Ernst Cassirer (1952), S. 397; vgl. auch S. 497. L M 13, S. 32. L M 4 , S . 277. IO

weis auf die eigene, davon sich unterscheidende Gesinnung den Blick auf den geschichtlichen Ort, an dem Lessing innerhalb der geistigen Entwicklung seiner Zeit steht, — und genauer noch: sie deutet zugleich auf die Art seiner Teilhabe an der kognitiven Krise dieser Zeit. Auch wenn hier nur grosso modo von dieser Entwicklung und nur in skizzenhaft auf Idealtypisches verweisenden Andeutungen von deren Tendenzen und Positionen zu reden möglich ist, so sei doch wenigstens dies erwähnt, daß der von Lessing im Zusammenhang der Theologie- und Religionskritik genannte Skeptizismus der Epoche in nahezu allen seinen Äußerungen als begründet scharfe Verurteilung und als Abkehr von der vorausgehenden spekulativen Metaphysik und den aus ihren Voraussetzungen abgeleiteten theoretischen und theologischen >Ideologemen< zutagetritt. Weithin sichtbares, grelles Fanal dieser Konfrontation während der Jahrhundertmitte: die gegen jegliche Spekulation und Hybris metaphysischer Deutungsthesen, speziell die trivialisierte Theodizee gerichtete literarische Weltklage Voltaires im Lisbonne-Poème und im >Candidenotwendigeewigenormative< >vérités de raison< einfordernde Erkenntnissphäre einerseits und die Unstimmigkeiten der an Zufall, Begierden und Absurditäten ausgelieferten Realsphäre anderseits, — so ist doch darüber noch nicht zureichende Klarheit gewonnen, in welcher Weise Lessing diesen Gegensatz seinen Möglichkeiten des Denkens und Erfahrens zuordnet, — ihn in seine >Vernunfterfahrung< einbezieht. Lessings gesamtes Spätwerk zeigt, daß er diesem Problem, das ihm vornehmlich im religionsphilosophischen und theologiekritischen Bereich mit einer Reihe überaus brisanter und in seiner Zeit aufs höchste umstrittener Fragen entgegengetreten ist, nicht nur nicht ausgewichen, sondern mit beharrlicher Konsequenz, gewiß auch zunehmender Iraszibilität nachgegangen ist, und daß es eben diese Fragen gewesen sind, an denen er — und um derentwillen er seine entscheidenden Klärungen gefunden hat. Seine die Einzelfragen weit übergreifende Problemantwort steht im Zeichen des Wissens um die Eigengesetzlichkeit der religio, und sie gilt der Erfahrung der Vernunft als eines an der Grenze der religio-Dimension sich selbst bestimmenden Vermögens. Die diese Problembeantwortung ermöglichenden, vorbereitenden Themen oder Gedankenwege liegen wähii

rend der 70er Jahre in der mählich sich herausbildenden Einsicht in die >fides historica< und in enger Verbindung damit in dem zunehmend sich klärenden Bewußtsein von der personalen, individuellen Bedingtheit der religio-Erfahrung. Die auf diesen Denkwegen sich selbst prüfend begegnende Vernunft, die für diese Einsicht und dieses Bewußtsein von konstitutiver Bedeutung ist, erscheint damit für Lessing in mehr als einer Hinsicht als ein neuartig zu kennzeichnendes Vermögen. Sie gewinnt über die einer normativ-rationalen Logik genügende Fähigkeit des Verstandes, über dieses Vermögen zu Begriffen und zu begrifflichem Schlußverfahren hinaus die Evidenz einer inneren Erfahrung. Sicherlich ist das Besondere — und sind die Möglichkeiten dieser Erfahrung erst aus dem >wahren Detail< der >Fingerzeigeeingelassen< erscheint; entscheidend ist zugleich, daß diesem Vernunftvermögen die Anerkenntnis der eigenen Bedingtheit obliegt und ihm eigentümlich zu nennen ist. Bedeutet dies selbstverständlich den Verzicht auf hybride >Totalerkenntnis< oder bestimmte metaphysische Aussagen — und scheint damit diese kritische Selbstkorrektur eine gewisse Nähe zum Skeptizismus zu gewinnen, so ist wiederum auch — wie in Lessings oben angeführtem Satz aus der >Duplik< — auf die Differenz zu diesem Skeptizismus hinzuweisen. Wenn die für Lessings Spätzeit zu bedenkende Vernunfterfahrung hier zunächst zu umschreiben war als ein an der Grenze der religio-Dimension seine Bedingtheit anerkennendes, sich selbst darin bestimmendes Vermögen, so ist hinzuzufügen nötig, daß mit der Wahrnehmung dieser Grenze nicht die Leugnung eines jenseits dieser Grenze existierenden >Anderen< identisch ist oder notwendig damit schon verbunden wäre. Auch wenn diese >Alterität< der menschlichen Erkenntnis entzogen und unzugänglich bleibt, so folgt daraus jedenfalls für Lessing nicht deren Inexistenz oder die These eines >NihilschuldetWeisheit< bezeichnen. Daß auch und gerade dies Wort mit nachdenklicher Zurückhaltung für Lessing-Deutungen verwendet werden sollte, hat mehr als einen Grund. Nicht allein den, daß dem Wort — zumal in seinem weltliterarischen Kontext — ein kaum übersehbar breites Bedeutungsspektrum zugehört, sondern vor allem, weil eine per definitionem anberaumte, vorgreifliche Begriffsbestimmung schwerlich für die Auslegung des Lessingschen Spätwerks angemessen oder dienlich erscheinen will. Gewiß ist Lessing in nicht wenigen seiner Hinweise vornehmlich in den frühen Schriften dem konventionellen Wortgebrauch seines Jahrhunderts gefolgt, das von der Philosophie als der >Weltweisheit< im Gegensatz zur >Gottesgelahrtheit< zu sprechen pflegte. Bemerkungen und Wortverwendungen dieser Art begegnen auch bei Lessing — z.B. in der Herrnhuter- oder CardanSchrift auf Schritt und Tritt. Daneben und unabhängig davon gibt es im gesamten Œuvre Lessings auch die alter Tradition gemäßen Hinweise auf des Schöpfers »höchste Weisheit und Güte«, die dem »ewigen, unendlichen Zusammenhang der Dinge« innewohne 2 '. Wenn jedoch von >menschlicher Weisheit< die Rede ist, so nicht etwa wie in den von Lessing übersetzten Tertullian-Texten: als sei sie das »Thörigste« und gleiche dem »Affen« oder der »Verfälschung der wahren« Weisheit24. Vielmehr finden sich besonders in einigen der Spätschriften entweder nur knapp oder gar überaus lakonisch gehaltene Andeutungen wie die, daß »eigne Erfahrung« im Gegensatz zur Büchergelehrsamkeit »Weißheit« bedeute 2 '; oder aber es ist wie in den Ernst-und-Falk-Dialogen vom »Weisen« die Rede, der »nicht sagen« kann, »was er besser verschweigt« 26 . Mit beson" So - Hans Michael Baumgartner zur Kennzeichnung des Vernunftproblems bei Kant. Seine Erläuterung: die von Kant konzipierte Vernunft »vermag sich durch Selbstreflexion in ihrer Endlichkeit zu erfassen und zu explizieren [...]: sie reicht an die Grenzen der Welt, aber nicht mehr unmittelbar ins Göttliche. Im Blick auf ihre bisher höchsten Leistungen ist sie eine Vernunft der Grenzen geworden: Grenzvernunft«. S. 192. Dies wird hier zitiert, nicht um einen bei Lessing identischen Gedanken, wohl aber eine vergleichbare Problemintention anzudeuten. *> L M 12, S. 436; L M 10, S. 120 u. ö. 14 L M 16, S . 4 i j f . So in einer der unter dem Titel >Selbstbetrachtungen und Einfalle< aus dem Nachlaß herausgegebenen, vermutlich aus dem Winter 1 7 7 8 / 1 7 7 9 stammenden Anmerkungen: L M 16, S. 535. 26

L M 13, S. 3 5 3. A u f diesen Zusammenhang bezieht sich Eckart Heftrich mit dem Schlußsatz seines Kapitels über >Lessings Weisheitc »Zur Weisheit der Besten gehört, die Not-

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derer Obacht sind sicherlich auch und gerade die Dialog-Partien einiger Nathan-Szenen aufzunehmen, in denen über >weise< und >Weisheit< geredet wird. Sie als Lessings Auffassung oder auch nur Mitteilung über Nathans Weisheit zu lesen, muß fehlgehen 27 , da das Drama die im Titel annoncierte Thematik nur aus dem Gesamtzusammenhang und nur in subtil und indirekt sprechenden Chiffren zu verstehen gibt. Gleichwohl ist in der Literatur über die Nathan-Dichtung oder in Teilen der auf allgemeinere Aussagen zielenden Lessing-Deutung die Frage nach Sinn und Begriff von >Weisheit< bei Lessing nicht ausgespart worden. Nicht an solche Aperçus ist hier zu erinnern, in denen Lessing um seiner philosophischen Tendenz willen zu den »Meistern der Weisheit«28 gezählt wird; oder wie es anderen Sinnes noch i960 in einem essayistischpoetischen Hinweis von Hermann Kesten wohlbedacht und wohlformuliert heißen konnte, daß >Weisheit< aus dem Nathan-Drama einen »Zauberspiegel der strahlenden Vernunft« — nämlich: »die Poesie der höchsten Vernunft« mache29. Abgesehen von solchen Topoi ist hier anläßlich der wissenschaftlichen Lessing-Literatur eine besondere Abgrenzung in möglichst knapper Form unumgänglich. Es muß zu kritischer Reflexion herausfordern, wenn in einer theologisch-wissenschaftlichen Untersuchung über Lessings Theologiekritik ein Wort wie >weisheitlich< häufig verwendet und mit Entschiedenheit betont wird. So ist die Rede davon, daß Lessings Weg »von vornherein weisheitlich geprägt«' 0 und seine Theologiekritik von »weisheitlicher Intention geleitet«' 1 sei; es wird auf Lessings »weisheitliches Denken«' 2 oder »weisheitliches Wahrheitsverständnis«" hingewiesen; auch substantivische Formen begegnen: Lessings Denken sei — wie das Hegels — »sowohl der Aufklärung als auch der Weisheit zu dienen bestrebt«' 4 , — wie denn allgemeiner die zur »wahren Vernunft« hinführende Aufklärung

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wendigkeit des Bedingten anzuerkennen, obwohl das Unbedingte erkannt worden ist: Aufklärung ohne Weisheit ist für Lessing Schwärmerei.« S. 69. - Unter nahezu ausschließlicher Betonung des pragmatisch-moralischen Sinnes erläutert Karl Eibl Nathans Weisheit als die des »tätigen Bürgers, dessen Weisheit darin besteht, das Gute unter den Bedingungen dieser Welt zu verwirklichen«. (1981), S. 12 u. ö. So z. B. die Ausführungen von J. A. Bizet.

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Per Daniel Atterboom in der Eintragung vom 16. März 1818 in seinen Reisebildern, S. 204; er nennt hier Lessing neben Herder, Kant, den Brüdern Schlegel und Schelling. 29 Hermann Kesten in: Steinmetz, S. 483. Johannes von Lüpke, S. 21. " Ebd., S. i 7 5 f . " Ebd., S. 8. " Ebd., S. 32. Ebd., S. 30.

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auch als »das Anliegen der Weisheit« bezeichnet wird". Obschon es bedenkenswerte theologische Voraussetzungen für diese Terminologie geben mag, — obwohl auch der mit Lessings Position kaum zu verbindende Vorgriff auf Denkweisen oder Begriffe des deutschen philosophischen Idealismus ein eigenes, in der Lessing-Forschung mehrfach begegnendes Problem bildet, so ist doch in unserm Zusammenhang zunächst eine andere Frage aufzuwerfen. Es müßte in der Lessing-Deutung m. E. der Anschein vermieden werden, als sei von einer fest vorgegebenen >Wesenheit< oder gar >objektiv< gegebenen >IdeeUnmittelbarkeitLogos< und auf >Kritik< sich berufende und als bedingt wissende >ars< auch in der Poesie, auch in der Sprache. Diese der eigenen Mittelbarkeit eingedenk bleibende, die eigenen Grenzen nicht verleugnende Ästhetizität, die in Lessings Spätschriften mit Formen kunstvollen Vorbehalts in der Sprache ebenso wie in der »poeti' 8 Hinrich S. Seeba, S. joof. — Seeba verweist mit diesem Begriff allerdings auf ein etwas anders gelagertes Problem, - auf solche hermeneutischen Grundfragen, »bei denen es um die mit Lessings Kategorien besser verstandene ästhetische Struktur historischer Wahrheitsfindung« geht. " Helmut Fuhrmann, S. 108: »Einer Dialektik der metaphysischen Grenze entspricht demnach alle Kunst, sofern sie gemäß der aristotelischen Ganzheitsregel Endliches immer als Endliches darstellt.«

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sche[n] Wahrheit«40 parabolischer Bildentwürfe zutagetritt, darf als eine durchaus prägnante Vergegenwärtigung der Lessingischen Spätzeitproblematik gesehen werden. Sie ist als eine bemerkenswerte Art des Antwortens auf die Selbstprüfung und Erfahrung der Vernunft zu verstehen; als eine entscheidende, wenn nicht als die einzige der kommunikativen Lesbarkeit angemessen sich mitteilende Zeichensprache der >Vernunft als Weisheitfides historica< zu sprechen sein wird und schließlich der Sprachgestik der >ars socratica< in Textbeispielen aus Lessings Spätzeit gesonderte Aufmerksamkeit gelten soll, — so sind das Einzel- oder Teilaspekte, die auf je eigene Weise der mit den Titelworten annoncierten Grundproblematik zugeordnet bleiben. Sie beziehen sich darauf allerdings nicht als auf etwas ihnen >Vorgegebeneswahre Detail< ist, das in Lessings Schriften zu der ihm gebührenden Aufmerksamkeit herausfordert; es kommt etwas anderes hinzu. Auch für die aus Lessings Spätzeit nachzuzeichnenden Problemkonstellationen, — für die eigenwillige ZeichenSprachkunst Lessings und die aus ihr zu begreifende eigentümliche Gedankenbewegung darf wohl gelten und in Anspruch genommen werden, worauf Lessing mit einem eigenen Hinweiswort den Blick zu lenken gewußt hat: »wie lange und genau muß man denn auch eine Metapher oft betrachten, ehe man den Strom in ihr entdecket, der uns am besten weiter bringen kann!«4' Ein Hinweis, der — auch als captatio benevolentiae — die Wege und notwendigen Umwege näheren Erkundens in den nachfolgenden Ausführungen zu begleiten geeignet ist. Wenn diese Wege zunächst zu Les4

° L M 9, S. 192.

41

L M 1 3 , S. 150.

'7

sings dramatischem Gedicht von Nathan dem Weisen führen, so hat das seinen Grund nicht schon in der hörbaren Korrespondenz der Titelworte, sondern darin, daß diesem Drama ein Deutungsbild der religio-Erfahrung eingefügt ist, das als besonders prägnante Chiffrierung von Problemgedanken des Lessingischen Spätwerks zu verstehen ist. —

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I. NATHAN - >ANTI-CANDIDE< — HIOB

i. V o m heuristischen Wert der Formeln und Daten

a. Mendelssohns Diktum — Schlegels Kritik Lessings Nathan-Dichtung als »eine Art von Anti-Candide«: Dieser Formulierung aus den Lessing-Kapiteln von Moses Mendelssohns >MorgenstundenNathan< als die »Fortsetzung vom Anti-Götze, Numero Zwölf« 2 — aus dem engen Dunstkreis der norddeutsch-protestantischen Theologen-Polemik heraus in die Höhe und Helligkeit eines weltliterarischen Disputs und Themenkreises. Mendelssohns Diktum deutet auf eine Konstellation, in der Lessings dramatischem Gedicht< kein unangemessener Platz oder Rang angewiesen zu sein scheint. Aber es ist zugleich deutlich, daß das Diktum eine >FormelMorgenstunden< zu einem fiktiven Dialog stilisiert ist — ein Umstand, der zu mancherlei Fehldeutung hat führen können' —, so ist doch das 1

>Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes.< Berlin 1785, in: J u b A III, z,

1

Friedrich Schlegel, Über Lessing (1797), K F S A Bd. II, S. 118.

S. 1-175.

' Eine Unterscheidung der Sprechpartner in diesem Dialog ist dringend geboten. Der Partner >D.< vertritt nicht Mendelssohns >eigene Meinung< und trifft Aussagen über Lessing, von denen einige sich offenkundig selber widerlegen; so diejenigen, die Lessings Übereinstimmung mit dem Fragmentisten und seiner Vernunftreligion behaupten (S. 126). - Welche Auslegungsschwierigkeiten entstehen können, wenn die Unterscheidung nicht beachtet wird, zeigt sich an Jacobis Zitierung dieser Textstellen in: W i d e r

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Anti-Candide-Diktum mit Sicherheit als Mendelssohns eigene, authentische Meinung und Mitteilung zu verstehen. Mit seiner Ich-Aussage zeichnet Mendelssohn für die folgenden Hinweise: Es kömmt mir vor, sagte ich, als wenn Lessing die Absicht gehabt hätte, in seinem Nathan eine Art von Anti-Candide zu schreiben. Der Französische Dichter sammelte alle Kräfte seines Witzes, spornte die unerschöpfliche Laune seines satyrischen Geistes, mit einem Worte, strengte alle außerordentlichen Talente, die ihm die Vorsehung gegeben, an, um auf diese Vorsehung selbst eine Satyre zu verfertigen. Der Deutsche that eben dieses, um sie zu rechtfertigen, und um sie .den Augen der Sterblichen in ihrer reinsten Verklärung zu zeigen. Ich weiß mich zu erinnern, daß mein verewigter Freund, bald nach der Erscheinung des Candide, den flüchtigen Einfall hatte, einen Pendant zu demselben zu schreiben, oder vielmehr eine Fortsetzung desselben, in welcher er durch eine Folge von Begebenheiten zu zeigen Willens war, daß alle die Uebel, die Voltaire gehäuft, und auf Rechnung der verläumdeten Vorsehung zusammengedichtet hatte, am Ende dennoch zum Besten gelenkt, und zu den allerweisesten Absichten einstimmig gefunden werden sollten. Es scheint, der Französische Satyriker habe ihm die Aufgabe zu schwer gemacht, habe durch Erdichtung mehr Uebel gehäuft, als sich durch Erdichtung wieder gut machen liessen. Lessing gieng daher lieber seinen eigenen Weg, schuf sich eine Folge von Begebenheiten, die an Geist und Dichtungskraft dem Candide doch wohl zur Seite gestellt werden darf? und an Vortreflichkeit der Absichten, an Weisheit und Nützlichkeit sich zu demselben verhält, ungefähr wie der Himmel zu der Hölle, oder wie die Wege Gottes zu den Wegen des Verführers. Und eben dieses herrliche Lobgedicht auf die Vorsehung, ergriff D. wieder das Wort, eben diese selige Bemühung, die Wege Gottes vor den Menschen zu rechtfertigen, wie theuer ist sie nicht unserm unsterblichen Freunde geworden! 4 Diese Ausführungen Mendelssohns haben einen doppelten konkreten Anlaß gehabt. Sie beziehen sich einerseits, wie mit zusätzlichen, ausführlicheren Deskriptionen auch die nachfolgenden Abschnitte in diesem Morgenstunden-Kapitel zeigen, auf die nach dem Erscheinen des NathanDramas entstandene Situation, in der es — neben enthusiastischen Zustimmungen — keineswegs an >Kabalen< und Mißdeutungen, an böswillig gegen Lessing gerichteten Stimmen gefehlt hat. Anderseits gehören diese die »Gesinnungen«' Lessings und seiner Nathan-Dichtung apostrophierenden Ausführungen in den Kreis und Zusammenhang von ArgumenMendelssohns Beschuldigungen in dessen Schreiben an die Freunde Lessings.< (in: Scholz/Hauptschriften, S. 334 u. S. 336), die eben diese problematische Stellung Lessings zur Vernunftreligion betreffen. Die anfängliche Erwähnung: »läßt Herr M. seinen Freund D. sagen«, weicht kurz darauf schon dieser: »erwiedert D. oder Mendelssohn«. " J u b A III, 2, S. i 2 9 f . » J u b A III, 2, S. 1 3 1 .

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ten, mit denen Mendelssohn in den Lessing-Kapiteln der >Morgenstunden< den weitergreifenden, gewichtigen Deutungsfragen zuvorzukommen und entgegenzuwirken versucht, die Jacobi aufzuwerfen sich anschickte und aus seinen Lessing-Gesprächen öffentlich zu kolportieren bereit war. So sind denn die Nathan-Hinweise in den >Morgenstunden< nicht zuletzt als Teil der Stellungnahme zu lesen, in der Mendelssohn mit eigenen Problemumschreibungen Lessings religionsphilosophische >Position< zu kennzeichnen sucht. Er beabsichtigt, mit seinen Erklärungen über den sogenannten >geläuterten Pantheismus< den Freund gegen den Verdacht des >Spinozismus< und einer auf >atheistischen< Gedanken basierenden Religionsfeindlichkeit zu verteidigen 6 . Zu einer solchen Absicht und >Freundes-Rettung< konnte der Voltaire-Hinweis — und zwar mit möglichst entschiedener Wendung gegen den >Religionsspötter< — dienlich erscheinen. Das Anti-Candide-Diktum gibt einer solchen Kontrastierung mit den Hinweisen auf wohlbekannte literarische Vorstellungen oder >Gegenbilder< nicht allein eine gewisse Pointe und sinnenfällige Konkretisierung; es gibt Mendelssohn auch Gelegenheit, seine Deutung der Nathan-Dichtung als eines >Lehrgedichts< näher zu exemplifizieren. Wenn Mendelssohn in seinen Ausführungen aber mit so deutlichem Akzent und nicht geringer Emphase auf seine Vorstellung der als Providentia Dei< verstandenen Vorsehung zu sprechen kommt, so sind die Hinweise dieses Inhalts unabhängig von polemischer oder apologetischer Zweckabsicht; sie gehören — allen Tagesnötigungen überlegen — zum innersten Kreis seiner philosophischen Orientierung. Wie eine als persönliches Bekenntnis gehaltene Textstelle zu Beginn der VIII. Morgenstunden-Vorlesung besonders deutlich und explizit zu zeigen vermag 7 , muß für Mendelssohn demnach der skeptische Agnostizismus Voltaires, der sich des metaphysisch-spekulativen Trostes dieser Vorsehungs-Vorstellung entschlägt, als eines der essentiell gegensätzlichen Denkprinzipien 6

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Leo Strauss hat Genese und Intentionen dieser Mendelssohnschen Spätschrift, die »zu den wichtigsten Dokumenten« des Spinozismus-Streites zählt, in der Einleitung zu Band III, 2 der JubA detailliert dargelegt (S. X I I - X L V ) . »Ohne Gott, Vorsehung und Unsterblichkeit haben alle Güter des Lebens in meinen Augen einen verächtlichen Werth, scheinet mir das Leben hienieden, um mich eines bekannten und oft gemisbrauchten Gleichnisses zu bedienen, wie eine Wanderschaft in Wind und Wetter, ohne den Trost, Abends in einer Herberge Schirm und Obdach zu finden; oder, wie ein Voltaire sagt, ohne diese tröstliche Aussicht schwimmen wir alle in den Fluthen; haben unaufhörlich mit Wellen zu kämpfen, und keine Hoffnung, das Ufer je zu erreichen.« JubA III, 2, S. 68. In den Anmerkungen zu dieser Textstelle wird in der JubA III, z, S. 285 auf folgenden Voltaire-Text verwiesen, - aus dem Poeme Sur le desastre de Lisbonne: »L'homme, en doute, ä l'erreur, abandonne par lui, sc. Dieu, cherche en vain des roseaux qui lui serve d'appui.« (CEuvres . ed. Benchot XII, S. i97ff.).

schlechthin erscheinen. Und ein literarisches Werk wie der >CandideIdeen< gerichteten Spottes im literarischen Titel und Antlitz zu tragen scheint, ein solches Werk gehört für Mendelssohn zu einer Art von trostloser Gegenwelt. Erst damit aber ist der mehr als nur zufallige und ephemere Sinn der Gegenüberstellung mit dem >Dramatischen Gedicht des Freundes etwas deutlicher umschrieben und das Anti-CandideDiktum vor einem bestimmteren, wenn auch erst vorläufig skizzierten Gedankenhintergrund wahrzunehmen. Bemerkenswert und von gesondertem Interesse ist es wohl, daß Jacobi in seiner — böse Attacken nicht meidenden — gegen Mendelssohn gerichteten Schrift 1786 8 einerseits die Mendelssohnschen Vorsehungs-Hinweise aus dem Lessing-Abschnitt der >Morgenstunden< mit Vehemenz aufgreift und mit Gegenauslegungen zu beantworten sucht; daß er anderseits das Formel-Wort vom Anti-Candide, vielleicht um seines rhetorischen Wohlklanges willen, zu zitieren nicht verschmäht —, darüber aber fast kommentarlos wie auch über die populär-bildsprachlichen NathanErläuterungen Mendelssohns hinwegeilt, um nun seinerseits zu seiner Kontradiktion und Auslegungsthese zu gelangen. Lessings Nathan-Drama, so Jacobis Replik, zeige »die Absicht, den Geist aller Offenbarung verdächtig zu machen, und jedes System von Religion, ohne Unterschied, als System, in einem gehässigen Lichte darzustellen«.9 So sind die Thesen der beiden Kontrahenten in dieser Konstellation der anhebenden, so brisanten wie verwirrenden Spinozismus-Debatte von extremer, augenfälliger Simplifikation und Schematisierung. Sie bieten, um »den Nathan auf irgend eine Art von Einheit« zu bringen, nicht nur Vorstellungsklischees, sondern zeigen — wie es mit einer anderen Formulierung Friedrich Schlegels lautet - jene Art einer »gewaltsamen Reduktion und Einverleibung«, bei der »wohl immer mehr verloren [geht], als die ganze Einheit wert ist«'°. Friedrich Schlegel hat dies nicht ohne kritische Schärfe als >Beschränkung< auf »eine einzige allzubestimmte und am Ende ziemlich triviale Tendenz« bezeichnet, und ' Heinrich Scholz nennt diese Schrift: »Jacobis bösartige dialektische Streitschrift wider Mendelssohns Beschuldigungen [...]«. S. L X X X I I I . 9 Friedrich Heinrich Jacobi, S. 3 3 -¡i. In gleicher Art und Auffassung sprechen die Briefe, die Jacobi und Johann Georg Hamann im Dezember 1784 wechseln. Hamanns Meinung, hinter seiner >Maske< sei Lessing »Heuchler oder Sophist« gewesen (S. 274), bestätigt Jacobi nachdrücklich und wiederholt in seiner Antwort, Lessing werde »von Feindschaft gegen das Christenthum« zu seinen Schriften veranlaßt. Jacobi am 30. iz. 1784 in: J . G . Hamann, Briefwechsel, Bd. V, S. 301. Friedrich Schlegel, K F S A Bd. II, S. 122.

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seine Kritik gilt beiden: Mendelssohn wie Jacobi. Mit genauer TextOrientierung verweist Schlegel auf beider Einseitigkeit, mit der sie für Lessings Dichtung nichts als eine philosophisch-ideelle Inhaltstendenz zu betonen suchen: Der eine Meister der Weltweisheit meint, Nathan sei ein Panegyrikus auf die Vorsehung, gleichsam eine dramatisierte Theodizee der Religionsgeschichte. Zu geschweigen, wie sehr es Lessings strengem Sinn für das rein Unendliche widerspricht, den Rechtsbegriff auf die Gottheit anzuwenden: so ist dies auch äußerst allgemein, unbestimmt und nichtssagend. Ein andrer Virtuose der Dialektik hat dagegen gemeint: Die Absicht des Nathan sei, den Geist aller Offenbarung verdächtig zu machen, und jedes System von Religion, ohne Unterschied, als System, in einem gehässigen Lichte darzustellen.10

Anspruch und Bedeutung dieser Hinweise aus Friedrich Schlegels Lessing-Aufsatz von 1797 sind kaum zu überschätzen. Sie wenden sich nicht allein gegen Vereinfachung und Einheitsformeln, mit denen komplexe literarische Zusammenhänge des Lessingschen Dramas bei Mendelssohn und Jacobi auf eine >triviale Tendenz< reduziert erscheinen; vielmehr dürfen diese Ausführungen Schlegels über seine kritische Stellungnahme hinaus als ein knapp gefaßtes Plädoyer verstanden werden, das — wenn auch nur in nuce und in nahezu inexpliziter Form — ein höchst gewichtiges Problem der Lessing- und der Nathan-Deutung zu umreißen vermag. Mit der so eigenwilligen wie treffsicheren Formulierung: »Wie sehr es Lessings strengem Sinn für das rein Unendliche widerspricht, den Rechtsbegriff auf die Gottheit anzuwenden« — verwirft Schlegel ja nicht nur die Formel von >Nathan< als dramatisierter TheodizeeRechtsbegriff auf die Gottheit anwendenWege Gottes rechtfertigem, bezeichnet Schlegels Umschreibung etwas wie eine intellektuelle ¡Transaktion^ verdeutlicht deren Hybris und anthropomorphen Denkmodus. Daß seine Kritik damit auf ein menschliches, inadäquates Verhalten, nicht aber auf theoretisch-abstrakte Fragen des Theodizee-Philosophems weist, ist im Zusammenhang der Nathan-Deutungsprobleme von nicht geringem Belang. Diese Hinweise Schlegels enthalten einen — aus der Negationsform zu erschließenden — durchaus bedenkenswerten Fingerzeige Nicht aber diese seiner Formulierungen, sondern gänzlich seiner Intention zuwider hat die Formel von der dramatisierten Theodizee< den größeren, weithin wirksameren Nachhall in der Nathan-Auslegung und 25

Geschichte der Lessing-Rezeption gefunden", — nicht selten wiederum, um philosophische oder begrifflich-systematische Klassifikationen des Dramengehalts auf plakative Weise zu unterstreichen. Damit verglichen, ist das ältere Mendelssohnsche Diktum über >Nathan als eine Art von Anti-Candide< nahezu in Vergessenheit geraten oder doch sehr weit in den Hintergrund gerückt; es hat selten genug zu förderlichen Erläuterungen herauszufordern vermocht 12 . Gerade der diesem Diktum abzulesende Hinweis auf konkrete literarische Erscheinungsformen und auf genauer zu bestimmende historische Problemvoraussetzungen scheint kaum je einen Anreiz geboten zu haben zu näherer gedanklicher Erkundung und hermeneutischer Explikation. Zeigt doch die bereits früh einsetzende Spinozismus-Debatte — wenn nicht sie es ist, die die Akzentsetzungen sofort und auf dominierende Weise determiniert hat - , daß der namentlich akzentuierte Candide-Hinweis ein nur geringfügiges Echo und kaum nennenswertes Interesse finden sollte. In dem polemisch erregten und zu dezisionistischen Urteilsformen sich zuschärfenden Weltanschauungs- oder >GlaubensTheodizee< mit >höchsten Begriffen< handle. Demnach sei es gänzlich unangemessen, wenn man Schlüsse aus dem im >Candide< Dargestellten ziehen wolle, mit denen die von Leibniz gemeinten >Ideen< zu widerlegen wären; unangemessen sei auch schon, hinsichtlich der im >Candide< dargebotenen Wirklichkeitsbilder zu fragen, »was wir daraus schließen sollten«. Was immer der Voltairesche Roman übertreibe und erdichte, — wie sehr er »in einem kleinen Bezirke von Raum und Zeit mehr Böses zusammengepreßt hat, als sich wahrscheinlicher Weise jemals in einem solchen zugetragen«, so wäre es doch, so betont Mendelssohn hier, »offenbarer Unsinn« und »höchst lächerlich« daraus zu folgern, »daß eine vollkommenere Welt » J u b A I , S. 356. H Diese - im 4. Gespräch geäußerte — Voltaire-Kritik ist bereits in der frühen Fassung 1755 anzutreffen. So heißt es zunächst übereinstimmend in beiden Fassungen: Voltaire wird »ganz gewiß nicht mehr, als höchstens einen Blick in die Schriften des Leibnit£ gethan haben; denn Leibnitij; war doch immer noch ein Deutscher, ob er gleich seine Theodicee französisch geschrieben.« JubA, I, 30 u. 368f. Der nachfolgende Hinweis, in dem 1761 ausdrücklich vom >Dichter< Voltaire die Rede ist, zeigt in der zweiten Fassung eine merklich schärfere Formulierung: 1 7 ; ; : »Voltairen verzeihet man endlich gern, daß er es in seinen Schriften an Gründlichkeit hat fehlen lassen. Er bleibt doch immer für diejenige noch gründlich genug, welche die Philosophie von ihm erlernen wollen.« JubA, 1 , 3 1 . 1761: »An diesem vortreflichen Dichter ist man den Mangel der Gründlichkeit schon längst gewohnt, und ausser den Großen, lassen sich wenige mehr [durch] das Merkzeichen der Weltweisheit verführen, das er aushängt.« JubA, I, 369.

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möglich sey«". Mit diesen auf den >Candide< bezogenen Ausführungen Mendelssohns, mit denen er das Inkommensurable zwischen literarischem und philosophischem Anspruch und damit auch das durch Voltaires >Satire< Unangefochtene der Leibnizschen Metaphysik darzulegen sucht, kommt die gleiche grundsätzliche Unterscheidung zu Wort, die einige Jahre zuvor schon in der von Mendelssohn und Lessing gemeinsam verfaßten Pope-Schrift anzutreffen ist. In dieser Frühschrift von 1754/55' 6 — vor allem in ihren Anfangsabschnitten, die die Auffassung beider Freunde wiedergeben, aber genaueren Sinnes als Lessings Version verstanden werden können, — ist mit ausführlicher Explikation von dieser strikte zu beachtenden Differenz die Rede: Des Philosophen Aufgabe und Möglichkeit sei die »Wahrheit, die er durch einen Schluß erlanget«; er habe darauf zu achten, daß Begriffserklärungen und seine Schlüsse »untrüglich« seien. Der Dichter dagegen habe auch als »ein philosophischer Dichter« kein >System< und beanspruche nicht, als >Metaphysiker< zu sprechen; er schränke sich vielmehr auf das ein, was sich »sinnlich vortragen« lasse und »überzeugend rühren« könne. Dies eben sind die Möglichkeiten, in denen sein Gedicht der »Natur der Poesie« folge 37 . Mit solchen Hinweisen nennen Mendelssohn und Lessing nicht allein den Gegensatz in Metier und Anspruch, wie er sich in den Verfahrensweisen des Dichters und des Philosophen zeige, hier wird auch nicht nur ein frühes Beispiel für die von Lessing geübte Form begründenden Unterscheidens sichtbar; es wird hier zudem eine sachlich strikte Abgrenzung und Forderung ausgesprochen, daß das eine und das

" Der volle Wortlaut dieser Textstelle ist wegen der Nähe zu den Formulierungen in den >Morgenstunden< von einigem Interesse: »Lassen Sie uns nunmehr auf den Kandide zurückkommen, der zu dieser Untersuchung Anlaß gegeben hat. Bey Seite gesetzt, daß der Dichter im Grunde die Vorsehung belogen, und in einem kleinen Bezirke von Raum und Zeit mehr Böses zusammengepreßt hat, als sich wahrscheinlicher Weise jemals in einem solchen zugetragen; Bey Seite gesetzt, daß er in diesem kleinen Bezirke selbst das Gute verschweigt, das nach den Gesetzen der Natur, mit dem von ihm erdichteten Bösen verbunden seyn muß; Auch dieses nicht gerechnet, daß er die Gabe verräth - um die wir ihn gewiß nicht beneiden - die Gabe, der unschuldigsten Sache den Anstrich des Bösen zu geben, und so zu sagen, eine Hölle zu finden, w o Gott ein Paradies gepflanzt hat; alle seine Vordersätze vielmehr zugegeben, und die Wahrheit der Begebenheiten eingestanden, möchte ich wissen, was wir daraus schließen sollen? Etwa, daß eine vollkommenere Welt möglich sey? daß diese unermeßliche Körper- und Geisterwelt nach physischen und moralischen Gesetzen regiert werden könne, die auf keinem Winkel eines ihrer Theile solche Uebel zu lassen, als in Kandide beschrieben werden? Dieses wäre offenbarer Unsinn, oder, welches mancher vielleicht mehr scheuet, höchst lächerlich.« J u b A , I, 3 jgf. ' 6 L M 6, S. 4 0 9 - 4 4 ; : >Pope ein Metaphysikerk 57 L M 6, S. 414—417.

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andere Amt, — die >sinnliche Rede< des Poeten nicht zu vermischen oder zu verwechseln sei mit dem begrifflichen Schließen und der logischen Demonstration des Philosophen; — eine Forderung, der unverkennbar ein Wissen um das Eigengesetz, die Autonomie der Poesie zugrunde liegt. Daß mit diesen Hinweisen auf die in der Ästhetizität begründete Eigengesetzlichkeit der Dichtung eine Maxime zu Wort kommt, die für Lessing wie für Mendelssohn von früh an bis in ihre Spätzeit nicht fraglich gewesen — wohl aber in unterschiedlichen Formen wahrgenommen worden ist, mag nicht nur angemerkt, sondern — wenn auch nur mit einer einzelnen Sprachwendung — illustriert sein. Mit der folgenden, auf Pope bezogenen Frage unterstreichen Lessing und Mendelssohn ihre in dieser Frühschrift dargetane Unterscheidung auch in bildlicher Version: »Was macht Saul unter den Propheten? Was macht ein Dichter unter den Metaphysikern?«' 8 Man möchte dieser Verwendung des biblischen Bildes nicht gänzlich den — wenn auch nur schemenhaft mitgehenden — antizipatorischen Sinn absprechen. Dort nämlich, wo Lessing, brieflich zu Herder gewendet, später über sein entstehendes Nathan-Drama spricht und abzuwehren sucht, man solle darin nicht >den Propheten Nathan< erwarten, muß diese Bemerkung nicht schon oder doch nicht vornehmlich (wie zu deuten möglich ist 59 ) auf die dramatis persona des >Propheten Nathan< in Klopstocks biblischen Dramen zu beziehen sein. Geben doch nahezu alle Hinweise in diesem Brief vom Januar-Anfang i7 794° — aus der Zeit also, in der bereits drei Akte, wenn nicht schon mehr, der NathanDichtung in Versform gebracht sind, — auf besondere und gewichtige Weise einen die Poetizität des >Nathan< betreffenden >FingerzeigIntroite-Zitatauch hier< in der poetischen Sprache aufzufindende Sinn-Dimension. Und wie mit dem biblischen Topos in der Frühschrift, so findet damit auch die jetzt intendierte und betonenswerte Abgrenzung gegen jeglichen prophetischen Wahrheitsanspruch< hier ihren Ausdruck — im Bewußtsein vom zureichenden Eigen-Sinn und Eigengesetz der dies dramatische Gedicht bestimmenden Poesie. Gewichtiger gewiß als diese — um ihres antizipatorischen Bildsinnes willen zitierte — einzelne Sprachwendung ist es, aus der Pope-Schrift auch die folgende von Lessing und Mendelssohn eigens und ausführlich >» L M 6, S. 413. " Zu diesen Deutungen vgl. u. S. 68, Anm. 21. 40 L M 18, S. j o i f . 41 Über das Nathan-Motto s. ausführlich unten, S. n ^ f f .

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explizierte Problemklärung nicht unerwähnt zu lassen: ihre kritische und korrigierende Frage nach der Bedeutung des berühmten und in den Übersetzungs-Versionen mißdeutbaren Pope-Verses »Whatever is, is rights. Lessing und Mendelssohn monieren nicht nur den >Fehler< in der Artikulation der aktuellen akademischen Preisfrage, sie kritisieren auch die deutsche wie die französische Übersetzung (»alles ist gut« / »tout ce qui est, est bien«), da Pope doch habe sagen wollen, daß »alles recht sey, aber unmöglich, daß alles gut sey«43. Vor allem aber gehen sie dem Sinn der zur Formel heruntergekommenen Wendung nach, die »mehr Bequemlichkeit als Verstand«44 bezeuge. Wenn die Worte gar zum »Kanon« gemacht werden, so sei der strittige Formelsatz eine gar zu »leichte Antwort«: »Man wird damit abgewiesen, aber nicht erleuchtet. Sie ist das beträchtlichste Stück der Weltweisheit der Faulen; denn was ist fauler, als sich bey einer jeden Naturbegebenheit auf den Willen Gottes zu berufen, ohne zu überlegen, ob der vorhabende Fall auch ein Gegenstand des göttlichen Willens habe seyn können?«44 Eine Kritik, die nicht nur im allgemeinen den Geist der Leibniz'schen Philosophie atmet, sondern auf erkennbare und prägnante Weise den in der Vorrede zur >Theodizee< dargelegten Ausführungen verpflichtet ist, in denen Leibniz von dem »Sophisma« handelt, »das man im klassischen Altertum als das der faulen Vernunft bezeichnete«45: jene Art von Verblendung und >fatalistischem< Räsonnement, mit dem man sich — ob mit dem >Fatum MuhametanumFatum Stoicum< oder auch >Fatum Christianum< — auf das >Schicksal< oder die >Vorsehung< zu beziehen suchte, »um sich von der richtigen Vernunfterwägung zu dispensieren«46. Die von Lessing und Mendelssohn in der Pope-Schrift dezidiert formulierte Kritik an der simplifizierenden, gedankenleeren >Alles-ist-gut-Formel< ist für die Einschätzung des späten Mendelssohn-Diktums nicht ganz ohne Bedeutung. Sie läßt bedenken, daß der Anti-Candide-Hinweis schwerlich nur als ein simples Klischee aufzufassen möglich sein dürfte, — so als sähe Mendelssohn im Nathan-Drama gar so etwas wie eine Restitution dessen, was mit dem Voltaireschen >Candide< attackiert wird; oder — wenn man das Diktum ohne seinen Kontext nimmt und nochmals gröber deutet: als ziele Lessings >Nathan< darauf, die im >Candide< verhöhnten OptimismusFormeln zu verteidigen oder erneut zu proklamieren. — Daß Mendelssohns Diktum aus anderen, differenzierteren Problemgedanken resultiert und daß auch diese seine >Formel< die Notwendigkeit anderer, jegliche

41

L M 6, S. 425ff. Leibniz, S. 7.

« L M 6, S. 426. Leibniz, S. 10.

44

L M 6, S. 412.

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Formelsprache zurücklassender Frageweisen verdeutlichen kann, mag nach den bislang genannten Hinweisen aus der Frühphase des LessingMendelssohn-Gesprächs wahrnehmbar geworden sein. Von einer ablehnenden, gar feindlich gegen Voltaire oder den >Candide< gerichteten Kritik läßt sich während dieser Zeit ohnehin nicht sprechen. Viel eher mögen sich andere Fragen aufdrängen. Scheint sich doch eine gewisse Konvergenz oder — trotz mancher Differenz — eine vergleichbare Interessensrichtung wie in der Pope-Schrift mit der Invektive gegen die >A1les-ist-gut-Formel< so in den kritischen Intentionen auch Voltaires abzuzeichnen; dort vor allem, wo er, etwas später und herausgefordert durch die Erdbebenkatastrophe von Lissabon, seine vehementen Attacken gegen das >Tout-est-bien-Axiom< vor die Weltöffentlichkeit bringt. Doch für diese Fragen wäre genauer zu klären nötig, wie die gedankliche Dimension und wie die Problemkennzeichnungen lauten, aus denen die kritischen Intentionen Voltaires abzulesen sind. — Vorerst mag es nach den bisherigen Hinweisen auf Daten und Texte aus der frühen Phase des Lessing-Mendelssohn-Gesprächs auch einer Erwähnung oder Übersicht bedürfen, ob und in welcher Weise in Lessings Spätzeit, vornehmlich während der Nathan-Entstehungsphase, von Voltaire und seinem >Candide< die Rede gewesen ist. Die Vermutung Mendelssohns allerdings, daß Lessings >Nathan< als Replik auf den >Candide< geplant gewesen sei, wird auch in dieser Spätzeit durch keinerlei sonstigen Beleg bestätigt. Gleichwohl mag es nicht abwegig sein, danach zu fragen, ob es nicht gerade für das Jahr der Nathan-Entstehung nahezuliegen scheint, von besonderen Gedankenreminiszenzen oder gar so etwas wie einem imaginären VoltaireDialog zu sprechen. Das Jahr 1778, das für Lessing mit schwerem persönlichem Verlust beginnt und unter dem Zeichen dunkelster Lebensverschattung steht, in dem nach dem obrigkeitlichen Widerruf der Zensurfreiheit, von August an, die Arbeit am Nathan-Drama in den Vordergrund rückt, — dies Jahr ist eben das Jahr des in ganz Europa ungemeines Aufsehen erregenden Todes von Voltaire. In dies Jahr 1778 fallt auch eine neue, mit Chodowiecki-Kupfern illustrierte Übersetzung des >Candide< ins Deutsche47. Sie wird von der literarischen Kritik mit hörbarem Echo registriert; es ist schließlich — wie es in Wielands >Teutschem Merkur< heißt — das »Lieblingsbuch aller Leute von Verstand«48 und ist auch jetzt 47

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Es ist die Übersetzung von Wilhelm Christhelf Mylius unter dem Titel >Kandide oder die beste WeltStyl< und >Tonart< der deutschen Übersetzung; dann mit deutlicher Kritik auch der sogenannten >Fortsetzung< des Candide, die dieser Ausgabe

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noch zureichend bekannt und erinnerlich als das einstige »Ärgernis«, das »die Vorsehung wegzulachen« 49 sich erdreistet hatte. Wie denn Daten dieser Art einen gewissen Anlaß für den Gedanken-Dialog mit Voltaire und auch wohl mit dem >Candide< haben geben können, so könnte der längst zu vernehmlicher Schärfe eskalierte Goeze-Streit Lessing manch einen vergleichend-abwägenden Blick auf die so vielfach artikulierte Voltairesche Zeitkritik und Polemik nahegelegt haben. Jedenfalls besitzt der Topos vom >Spötter Voltaire< in Lessings Korrespondenz während dieses Jahres 1778 eine spürbare Präsenz und hat durchaus gerade in den Monaten der Nathan-Ausarbeitung eine bemerkenswerte Rolle spielen können. Bereits im Januar 1778, da der Theologenstreit neue Formen gewinnt und »Götz und Schumann [...] ihren Kreuzzug« anfangen, bezieht Lessings Bruder Karl Gotthelf sich mit einer Voltaire-Anspielung auf diese »Gegner von der fatalsten Sorte«: »Solche Leute könnte ich persifliren, aber nicht widerlegen. Hier nicht ein Voltaire seyn wollen, heißt gar nichts seyn wollen.« 50 Im August dann, als Lessing zum ersten Mal seine Pläne für »ein Schauspiel« und zugleich dafür die Geschichte v o m Juden Melchisedek beim Boccaccio erwähnt' 1 , antwortet Karl Gotthelf erneut mit einem Voltaire-Hinweis, nochmals freilich ganz auf die TheologenHändel bezogen: Über Voltaire schrieen sie [die Theologen] nur: Gründe und kein Gespött! Hier sind Gründe und kein Gespött; und nun heißt es: confiscirt! verbrannt!«'2 Eine Woche später kolportiert Karl Gotthelf die Meinung Mendelssohns, und jetzt gehört der Voltaire-Topos zur Gänze in die dem >Nathan< geltenden Überlegungen: Moses meynt, wenn Du ein Stück machtest, worin die Thorheiten der Theologen belacht würden, so hätten sie Dich dahin, wohin sie Dich haben wollten. Es ist eine Komödie, würden sie sagen; er hat eine große Stärke zu spotten und (S. 2 3 1 - 5 5 4 ) eingefügt ist: »Aber wie er sich hat dazu gebrauchen lassen können, auch den sogenannten 2ten Tbeil des Candide, der doch weltkündiger auch handgreiflicher maaßen nicht von Voltaire ist, frischweg als ob es Voltairens Werk wäre zu übersetzen; wie er nicht gewußt, nicht gemerkt hat, daß diese Fortsetzung eines vollendeten Werks - von einem After- Voltaire und des ächten Candide gar nicht würdig sey, oder wenn ers gewußt, warum er seine Leser nichts davon merken lassen - begreiffen wir nicht.« - Es handelt sich um die anonym 1761 erschienene, dann mehrfach nachgedruckte (1764 auch in der Collection complète des Œuvres de M. de VoltaireSeconde partie de Candide° L M 21, S. 187. >' L M 18, S. 285. L M 2 I , S. 22 5 f.

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lachen zu machen. E r ist ein Voltaire. Bliebest D u aber in dem Tone, wie D u in Deiner letzten Antwort gegen Götzen versprochen, so könnten sie auch mit dieser Ausflucht bey dem großen Haufen nicht fortkommen. D u müßtest also ein theatralisches Stück schreiben, das auf diese Streitigkeit gar keinen Bezug hätte. Karl Gotthelf fügt noch hinzu: Aber, liebster Bruder, kann der, welcher eine Sache belacht, sie nicht auch nach Gründen widerlegen? Das Belachen kann ohne Kenntniß der Gründe nicht bestehen; [...] [...] so setzest D u Deinen theologischen Streit fort und machst auch Deine theologische Komödie, oder wie D u dieses Stück nennen wirst, fertig."

Mendelssohn, durch Lessings Streitigkeiten ebenso an die ihm einst von Lavater zugemuteten inquisitorischen Fragen erinnert wie durch die erwähnte Boccaccio-Fabel zugleich an die Möglichkeit zeitüberdauernder und zeitenthobener literarischer Spiegelung, — Mendelssohn sieht zureichenden Grund zur Mahnung und Bitte, Lessing sollte auf das durch den >Ton< Mißverstehbare und auf das Ephemer-Polemische verzichten. Lessing ist den Mahnungen des Freundes und des Bruders gefolgt; im Oktober 1778 antwortet er ihnen mit einer Thema und Stil des Dramas kennzeichnenden Auskunft: E s wird nichts weniger, als ein satirisches Stück, um den Kampfplatz mit Hohngelächter zu verlassen. E s wird ein so rührendes Stück, als ich nur immer gemacht habe [.. .].' 4

So mögen denn >Ton< und Stil des Nathan-Dramas für Mendelssohn den Anlaß dafür gebildet haben, daß er mit dem Anti-Candide-Diktum nicht nur grosso modo auf das Gegensätzliche, den Kontrapost zu Voltaire gewiesen, sondern eine offenbar auch bewußt abgrenzende Nuancierung mitgenannt hat: >eine Art von .. .Candide< bezöge, als sei darauf mit einer Gegenkomposition zu antworten nötig gewesen. Anders als in seiner Dramaturgenzeit hat Lessing, wie es seine >Grabschrift< auf Voltaire'7 von 1779 bekundet, auch keinerlei aktuellen Widerspruch oder auch nur so etwas wie Spannung oder Gegensatz zu Voltaire zu erkennen gegeben; er hat in diesen Grabschrift-Versen vielmehr — gewiß nach wie vor von Voltaires versifizierten Werken sich distanzierend — das, was Voltaire »sonst ans Licht gebracht«, nicht ohne merkliche Zustimmung gegen Andersdenkende verteidigt.'8 Wenn denn das Anti-Candide-Diktum der >Morgenstunden< gänzlich auf Mendelssohn zurückgeht, aus seiner spätzeitlichen Situation und Absicht der Freundesrechtfertigung erklärbar erscheint, — so ist es doch mehr als eine um der Polemik und des Effektes willen erfundene Formel. Der Briefdialog von 1778 zeigt deutlich genug, welche Beobachtungen und Erfahrungen ihn geleitet haben; welche Bedeutung auch für ihn der Umstand haben mußte, daß der Freund — der »eigenen« und gemeinsamen »Sache« folgend" — seinen >Nathan< nicht der Polemik des Tages ausgeliefert hat. Daß Lessing anders als >ein Voltaire< gegen Spott und Gelächter und trotz aller Versuchungen gegen die Möglichkeit einer misanthropischen und aggressi" Grabschrift auf Voltairenij?). Hier liegt — wenn man euch glauben wollte, Ihr frommen Herr'n! — der längst hier liegen sollte. Der liebe Gott verzeih aus Gnade Ihm seine Henriade, Und seine Trauerspiele, Und seiner Verschen viele: Denn was er sonst ans Licht gebracht, Das hat er ziemlich gut gemacht. - L M 1, S. 49. ' 8 Lessings Kenntnis auch später kritisch-theoretischer Schriften Voltaires ist aus dem kurzen Zitat ersichtlich, das Lessing am Ende seiner >Wissowatius-Schrift< zur Kritik der Fontenelleschen Leibniz-Deutung aus Voltaires >Questions sur l'Encyclopedie< erwähnt. Voltaire wird hier von Lessing als »ein frommer Compilator« apostrophiert (LM 12, S. 99); eine bemerkenswert ambivalente Bezeichnung für den Verfasser des Werks, »das unter allen Werken Voltaires in Deutschland wohl das best gehaßte war«: so Hermann August K o r f f (1917), Bd. II, S. 267. « L M 18, S. 290.

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ven Satire entschieden hat, das mag für Mendelssohn von besonderem Gewicht gewesen sein. — Die von ihm in den Lessing-Kapiteln der >Morgenstunden< berührten Fragen müssen in einem anderen als irgendeinem vordergründigen Sinne aufgenommen werden. Ohne daß auch nur ein Iota in den pragmatischen Daten und im literarischen Erscheinungsbild eliminiert oder entwertet werden müßte, lassen sich Relationen bedenken, die die beiden gegeneinander gerückten Werke — bei aller geschichtlichen Differenz — in einer Dimension vergleichbarer Problemgegebenheiten wahrzunehmen erlauben. Einer Dimension, an der beide Werke mit je eigener Intention teilhaben, so daß es nicht ohne Belang ist, den jeweils besonderen literarischen Gestus dieser Werke als eine Antwort auf eine solche übergreifende Problemkonstallation zu verstehen.

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2. Der Candide-Roman — >parabole voltairienne
Voltaire et le désastre de Lisbonne: ou, la mort de Poptimisme< — diese Titelformulierung hat Theodore Besterman einem 1955 in Genf gehaltenen Vortrag gegeben 1 , — seinen Ausführungen darüber, daß die außerordentliche Erschütterung, die das Erdbeben von 1755 in Europa ausgelöst und das philosophische Denken radikal und >für immerPoème< und sein >Candide< lassen diese Fragen offen. Beide Werke haben als »Dokumente in der Geschichte der alten Menschheitsfrage nach dem Sinn des Unheils« 2 ' eben durch diese Antwortverweigerung ihren eigenen Ort und ihren Rang. Mag denn zu konstatieren sein, daß im >Candide< in höherem Maße als in dem nach der Vorsehung, nach der Natur- und Gottesordnung inständig fragenden >Poème< die Erscheinungen und Probleme des moralischen Übels akzentuiert sind und mit Hinweisen auf die Greuel von Krieg und Laster, auf Stumpfheiten und Menschengier beherrschend in den Vordergrund gerückt erscheinen, so beruht doch diese Akzentverschiebung nicht auf einer »grundsätzlich veränderten Fragestellung« 26 . Die Anlaß gebenden Grundfragen sind auch im >Candide< offenkundig genug präsent. Der entscheidende und unübersehbare Unterschied beider Werke ist mit ihrer jeweiligen literarischen Modalität gegeben. Sie ist es, die die Möglichkeiten prädisponiert, wie im einen und wie im anderen Werk diese Grundfragen zu Wort kommen und in den differenten poetisch-sprachlichen Zeichen und Formen zum Problem erhoben werden. Im >Poème< ist — obschon man ihm gerade deswegen einen nur eingeschränkten Kunstwert zuerkannt hat27 — auf eine höchst gewichtige und wirksame Weise eine direkte Stimme, — ist die unverhüllte, ungeschminkte >sensibilité< Voltaires hörbar geworden. Damit ist nicht die namentliche Autorschaft allein gemeint, vielmehr eine lyrisch-expressive Sprechweise, die mit den Versen in unverstellter Ich-Form ebenso wie mit dem Gestus ungewöhnlich bewegter Intensität ihren >Anruf< an die Hörenden richtet. Eine Stimme, eine Sprache nicht nur des Klagens, sondern die sich auch zur eigenen emotiven Klage bekennt: * Voltaire (ed. Beuchot), Bd. X X V I I , S. 360. - Dt.: Ulrich Friedrich Müller (Voltaire, 20 Artikel), S. 25. 15 Hugo Friedrich, S. 96. *6 H. Dieckmann, S. 273. 27 Harald Weinrich, S. 69. — Ira O. Wade (1959): »[• • •] the Poème is really more genuine, more spontaneous.« S. 115.

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Ma plainte est innocente et mes cris légitime. Je ne sais que souffrir, et non pas murmurer.28 Anders der der >mimetischen< Gattung zugehörige >Candideconte philosophique< über die generisch konstitutiven Bedingungen insofern noch hinausgegangen, als er dem Erzählstil jede Art von teilnehmend-sensibler Ausdruckssprache verwehrt — und keinerlei Übergangsreflexionen eingefügt hat, die zu verweilendem Nachdenken Gelegenheit böten. Die doppelte Linienführung — hier Faktenfülle, dort Formel-Sprüche — läßt nur dies begreifbar werden, daß hier kein »Sinn von Sinnfragen« 29 aufgewiesen wird; oder auch dies, daß es den eigenwillig durchkonstruierten Erzählformen obliegt, die Widerlegung geläufiger Vorstellungen zu übernehmen, — wie denn Deutungen der >Vorsehung< oder dessen, was als sinnvolle >chaîne des événements< zu erwarten wäre, durch die Fabelzurichtung und den Erzählgang in ihr auffalliges Gegenteil verkehrt erscheinen. Stilisierungsweisen wie diese haben dazu beigetragen, daß der >Candide< ein überaus vielstimmiges und widerspruchsvolles Echo nicht allein in der Zeit seines Erscheinens gefunden hat, sondern auch bis in die gegenwärtigen Dezennien hinein mit tastenden oder inadäquat anmutenden Kennzeichnungen bedacht worden ist. Wenn nicht selten von Witz, von Komödie, von Groteske oder Satire die Rede ist'°, so ist nicht unbegründet dagegen gehalten worden, der >Candide< sei ein »lakonischer, pointierter Kodetext, der, anderthalb Jahrhunderte lang als Satire mißdeutet, jetzt als Notruf zu entziffern« wäre; diese »Geschichte« sei »eine Tragödie für den Denkenden«; sie halte ihm das »furchtbare Versagen der Vernunft vor«' 1 . Daß der Candide-Roman hinter seiner >eleganten< Erzählfassade dunklere Züge besitzt, über die auch Voltaires Wort von der >coïnnerie2 In: Voltaire (ed. Beuchot) Bd. X X X I I I , S. IX: »Voltaire désavoua cet ouvrage, qu'il appelle lui-même une coïonnerie.« 47

hinwegtäuscht, - ja: daß dies »ein Werk von fast abgrundtiefer Verzweiflung« sei", das ist deutlich genug auch von einigen der Voltaireschen Zeitgenossen bemerkt worden. Aber manche der frühesten Kritiker haben diese >dunkleren Züge< schlichtweg als Gotteslästerung oder als Ausgeburt von »fieberhaftem Paroximus«54 verurteilt; zumeist sind dies moralistische Urteile, die nichts als den exzentrischen Inhalt des Romans ins Auge fassen. Gewiß nicht verwunderlich, wenn es von klerikaler Seite heißen kann: »Mauvais roman, plein d'ordures, peut-être le plus impie, le plus pernicieux ouvrage qui soit jamais sorti de la plume de Mr. de Voltaire«". Auch aus späterer Zeit gibt es Bemerkungen, die — wenn auch subtiler im Ausdruck - im >Candide< etwas wie eine »infernalische Heiterkeit« zu sehen glauben, — so Frau von Staël: [Dies Werk] scheint von einem Geschöpf anderer Art, als wir es sind, geschrieben, das gleichgültig gegenüber unserm Schicksal, befriedigt über unser Leiden ist und wie ein Dämon oder ein Affe über das Unglück der Spezies Mensch lacht, mit der er nichts gemein hat.'6 Neben der Reihe von Urteilen, die aus dem >Candide< nichts als das Grelle, Fratzenhafte, Dämonisch-Böse herausgehört oder angeprangert haben, sind solche Äußerungen — zumal für unseren Erörterungszusam" Jean Orieux, S. 604. 34 Gottscheds Urteil über den >Candide< im >Neuesten aus der anmuthigen Gelehrsamkeit^ I X : »Kaum ließ sich diese Misgeburt öffentlich erblicken, als sie von weisen Oberkeiten verbothen ward.« S. jz8. — »Sie raffen alle Gräuel ihrer Einbildungskraft zusammen, die sie durch eine unordentliche Phantasie selbst ausgehecket haben; häufen sie in einen wilden Roman zusammen, der voller scheußlicher Begebenheiten ist; und spotten hernach in einer tollen Frage: ob eine Welt, die so voller Scheusale, voll Laster und Gottlosigkeiten ist; wohl die Beste von allen möglichen, oder welches gleichviel ist, ein Werk des weisesten Wesens seyn könne?« [...] Der Poet »erkläret, beweiset, und widerleget nicht; sondern er dichtet. Und was seiner unordentlichen Einbildungskraft in einem fieberhaften Paroxismus träumet; das soll jener so wichtigen Frage zur Auflösung dienen. Man soll schließen: Geht es in der von unserm Poeten erdichteten Reihe von Begebenheiten, schändlichen Thaten, und verabscheuungswürdigen Lastern, so zu: so kann ja diese Welt nimmermehr die beste seyn! Risum teneatis amici! Behüte uns Gott, daß wir die Gedanken unserer Leser mit einer genauem Erzählung aller der Gräuel, die er zusammen gelogen, besudeln sollten. Es würden nur sehr wenige im Stande seyn, solche Scheusale, ohne Ärgerniß und Verdruß zu lesen. Gottlob! daß es nur in dem Gehirne dieses Dichters solche verdammliche Bosheiten giebt; die man in der Welt entweder gar nicht, oder doch in ganzen Jahrhunderten kaum ein, oder das andremal erblicket hat.« S. 5 28f. " In: Nouvelles ecclésiastiques vom 3. Sept. 1760, p. 158; dt. angeführt bei Ira O. Wade (1980), S. 353. >6 In dieser Übersetzung angeführt im Wiederabdruck der Ausführungen Ira O. Wades (1980), S. 350. - Hier ist auch das Urteil Jules Janins von 1861 angeführt: »Das Buch wurde in der modernen Welt viel gelesen, w o es jedoch nicht verstanden wurde. Man fand nur romantische Abenteuer, w o Voltaire mit der Logik eines Dämons Gottes hatte spotten wollen.« S. 353.

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menhang — von besonderem Interesse, die mit dem >Candide< eine HiobAssoziation in Verbindung gebracht haben, auch wenn es stets nötig ist, den damit gemeinten näheren Sinn aufzudecken. Handelt es sich doch oft um nur kurze und andeutende Bemerkungen; und es scheint, als hätten sie durchaus verschiedenartige Gedanken-Allusionen anzuzeigen. So notiert der anonyme Verfasser der >Confession de Voltairec Aus der Lektüre des >Candide< geht hervor, »daß die Erde eine Kloake des Schreckens und der Schandtaten ist«; es wird dazu Hiob 10,22 zitiert: vom »Land des Elends und der Finsternis, wo keine Ordnung ist, sondern ewiger Schrecken wohnt«' 7 . — Keineswegs ohne Gewicht ist eine andere Stimme: die des preußischen Königs. Im Frühjahr 1759 bestätigt Friedrich II. in einem an Voltaire gerichteten Antwortbrief den Empfang und die Lektüre des >CandidePoeme< die »Katastrophe auf der einen Seite, leidige Tröster auf der anderen Seite« zeige und »am Ende keine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Übels« gebe, so sei darin das Buch Hiob als ein »berühmtes literarisches Muster« wiederzuerkennen' 1 . Im >Candide< werde die »Grundsituation« wiederholt: »Candide verkörpert den duldenden Hiob. Pangloss, der penetrante optimistische Philosoph, vertritt [...] die leidigen Tröster des Buches Hiob. Das Streitgespräch des biblischen Buches erneuert sich ein weiteres Mal«'2. H. Weinrich ist noch einen Schritt in der expliziten Vergleichung weitergegangen und hat gemeint, daß so, wie am Ende des Hiob-Buches keine Lösung gegeben und hier von Gott selber das »vermessene Streiten« getadelt werde, — so ließe sich dieser »Schluß des Buches Hiob [...], freilich zur Romanepisode verkleinert und [...] orientalisch kostümiert« am Ende des >Candide< wiedererkennen; dort, wo Candide dem Derwisch »die Theodizee-Frage nach dem Sinn des Übels in der Welt« vorlege und, von diesem mürrisch abgewiesen, nun endlich »von der Metaphysik [...] geheilt« scheine53. Der Derwisch, von Voltaire an dieser Stelle des Textes als »le meilleur philosophe de la Turquie« apostrophiert, antwortet auf des Candide Frage, warum >so schrecklich viel Elend auf der Welt< sei, mit folgenden Worten: >Was liegt daran, ob es Böses oder Gutes gibt?< sagte der Derwisch. >Wenn Seine Hoheit ein Schiff nach Ägypten schickt, kümmert er sich darum, ob es den Mäusen im Schiffe gut oder schlecht geht?< Qu'importe, dit le derviche, qu'il y ait du mal ou du bien? Quand sa hautesse envoye un vaisseau en Egypte, s' embarrasse-t-elle si les souris qui sont dans le vaisseau sont ä leur aise ou non? 14

Dies aber ist eine Antwort, die - obschon gänzlich ins Metaphorische gewendet — eine offenkundig inhaltliche Kennzeichnung von Wesen und Verhalten des >höchsten Wesens< enthält; hier wird Gott als der fühllose Demiurg gedeutet, und es wird ein Gegenbild negativen Sinnes zu den Antwortformeln entworfen, mit denen Pangloss seine Welt- und Vorsehungsdeutungen vorzutragen pflegt. So gibt denn auch des Derwischs Antwort mit den in anthropomorphe Bilder transponierten Hinweisen

>° " " » H

Harald Weinrich, S. 50. Ebd., S. 70. Ebd., S. 72. Ebd., S. yzf. Voltaire, Candide. S. 222. — Dt.: Ilse Linden; in: Dieter Hildebrandt, S. 107.

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auf Ungüte und Gleichgültigkeit des Weltenherrschers" eine Art von Auskunft, wie sie menschlichem Wissen nicht verfügbar sein kann und die die Grenzen menschlicher Einsicht nicht weniger anmaßend überschreitet als die von Pangloss dargebotenen Theodizee-Formeln. — Mag denn das Schweigegebot am Ende des >Candide< einer der Gesten aus dem alten Hiob-Buch entsprechen, so erscheint doch in des Derwischs Antwort nichts anderes und nicht mehr als eine der unzureichenden Weltauskünfte neben den bisherigen; eine diese offenkundigen Unzulänglichkeiten überbietende, tiefere Einsicht enthält sie nicht. Vielmehr liegt in dieser Verweigerung einer Antwort auf das Theodizee-Problem ein nochmals deutlich unterstrichener Hinweis, der — verglichen mit dem Schluß des Hiob-Buches — lauten könnte: »Candide ist ein Hiob, der sich an keinen Schöpfer mehr wenden kann«' 6 . Diesem Candide bleibt mit dem notwendigen Verzicht auf alles vergebliche Fragen nichts als sein Dasein zu ertragen »sans raisonner«' 7 — und die von allen Lebensplagen ablenkende Tätigkeit des >cultiver le jardinSignal Lissabon< aufbrechenden harten Deutungsfragen, die mit Thesen der Theodizee-Debatte keine zureichende Beantwortung mehr zu finden vermochten, in seinen Schriften hart zugreifende Skeptizismen artikuliert hat, — wenn er seiner Epoche mit Gesten des Zweifels und des Agnostizismus entgegengetreten ist, so greift er doch damit keineswegs zur »einfachsten Lösung«, mit der in dieser Zeit radikal negativ auf das Theodizee-Problem zu antworten möglich gewesen ist: »que dieu n'existe pas«' 8 . Auch die Antwort des Derwischs spricht davon nicht. Gerade Voltaires mittelbar, literarisch artukulierte Problemhinweise geben die als unlösbar erkannten, alten Lebens- und Weltdeutungsfragen weder ans Vergessen noch an irgendwelche Zynismen preis; sie bleiben — auch im >Candide< — aufs merklichste präsent, gerade weil ihre Unlösbarkeit so deutlich, so unwiderlegbar zutagetritt. Und wie es des Candide Unglückswege und Ausdauer sind, so ist es auch eben die Reihe dieser unlösbaren Fragen und die Reihe der ihnen ungemäßen Antworten, die die Erinnerung an die biblische Hiob-Figur und an mehr als eine »Modellsituation«' 9 der alten Hiob-Geschichte " René Pomeau: »il [le derviche] n'a pas grand' chose à dire, mais ce peu est la solution voltairienne du problème du mal.« Damit folge Voltaire einer zutiefst unchristlichen Philosophie, »qui ne croît pas que Dieu s'intéresse à l'homme.« S. jo6f. ' 6 Dieter Hildebrandt, S. 20. " Voltaire, Candide, S. 224. Ernst Bloch, S. 163 u. 165. " A . Hausen, S. 135.

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wachzurufen vermögen. Wird es denn möglich, den >Candide< unter diesem Vergleichs- und Deutungszeichen zu sehen, so läßt sich wohl sagen, daß Voltaire die Schatten und die Unbeantwortbarkeiten, von denen die biblische Hiob-Geschichte Zeugnis ablegt, sicher nicht verkleinert oder verkannt hat. Nach der Überzeugung, daß »jede Theodizee an Hiobs harten Fragen gemessen, eine Unredlichkeit«60 sei, hat Voltaire sich auf unmißverständliche Weise zur Wirklichkeit Hiobs bekannt und nicht zuletzt mit seinem >Candide< sich dieser Wirklichkeit genähert. Ob aber der Candide-Roman, diese >parabole voltairienneAntiCandide-Diktum< Anlaß zu mehr als einer Frage und mehr als einem abgrenzenden Vergleich geben kann, so ist sicherlich auch von den Relationen zu sprechen nötig, die mit der Hiob-Thematik — wie für Voltaires >Candide< — nun auch für Lessings Nathan-Drama von Aufschluß sein können. Wohl aber sind dafür noch mehrere Wege der Text- und Problemerkundung in den folgenden Abschnitten unserer Erörterung zu durchschreiten, um diesem Fragenkreis zureichend differenzierte und weiterführende Klärungen abzugewinnen. —

60

Emst Bloch, S. 16}.

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3. >Nathan< — poetische Chiffre der religio-Erfahrung

a. Dramenstruktur und Vorsehungsthematik Unter den vielen möglichen Deutungsfragen der Lessingschen NathanDichtung sind es nur einige wenige, auf die in der folgenden Erörterung der Blick zu lenken ist. Weder wird engeren Sinnes von dem sonst in vielen Nathan-Auslegungen dominierenden Thema der Ringparabel zu handeln sein, noch soll vom Problem und Begründungszusammenhang der in Lessing-Voltaire-Vergleichen oft erwähnten Toleranz-Forderung die Rede sein. Hier ist zunächst der Frage nachzugehen, in welcher Weise der von Mendelssohn apostrophierte Gedanke oder Themenkreis einer >Vorsehungs-Deutung< im Nathan-Drama sich abzeichnet. Da mit dem Begriff der >Vorsehung< ein nachgerade schwieriges, nicht eindeutiges und im 18. Jahrhundert überaus brisantes Thema gegeben ist, das in dem vielstimmig und streitbar geführten »Dialog zwischen Philosophie und Frömmigkeit« 1 dazu angetan gewesen ist, die >Geister< und >Positionen< zu scheiden, mag es begreiflich genug erscheinen, daß der bei Lessing zu beobachtenden Verwendung des Begriffs stets besonders hohe Aufmerksamkeit gewidmet worden ist. Der Versuch allerdings, Lessings Begriffsverwendung — oder mehr noch: Lessings Auffassung und Deutung dieses Problemgedankens auf eine Weise fassen und näher bestimmen zu wollen, mit der er einer der großen Parteiungen oder Positionen in der Auseinandersetzung seiner Zeit zugeordnet werden könnte, — ein solcher Versuch muß bereits im Ansatz inadäquat erscheinen und kann nur zu irreführender Einseitigkeit gelangen. Lessings Aussagen lassen sich weder einem eindeutig traditionsbestimmten, d. h. dem >christlichen< Bedeutungsgehalt der >providentia Dei< zuschlagen, noch jener dezidiert aufklärerischen Modifikation^ mit der eine immanent-teleologische »Materialisierung des Vorsehungsglaubens« 2 vertreten wird. Lessings Hinweise, vor allem aber der Problemgehalt seiner künstlerischen Werke lassen sich mit solchen philosophisch-abstrakten Thesen und Positionsbestimmungen nicht zureichend kennzeichnen. ' Harald Weinrich, S. 73. Vgl. Martin Bollacher (1978), S. 25; u.ö.

2

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Daß gerade das Nathan-Drama einer sorgfältig differenzierenden Interpretation bedarf, wenn die dem Werk zugehörigen Fragen nach der Bedeutung des Vorsehungsgedankens angemessen wahrgenommen werden sollen, ist bereits den keineswegs >problemlosen< Lessingschen Formulierungen aus der Ankündigung des Nathan< abzulesen. In dieser im Herbst 1778 in mehreren Zeitschriften gedruckten und mit einer Subskriptions-Aufforderung verbundenen >Ankündigung< begegnet Lessing der Vermutung, daß er an diesem Drama möglicherweise in »Augenblikken des Verdrusses« gearbeitet habe, »in welchen man immer gern vergessen möchte, wie die Welt wirklich ist,« mit folgenden — wenn auch nur andeutenden Hinweisen: »Aber mit nichten: die Welt, wie ich sie mir denke, ist eine eben so natürliche Welt, und es mag an der Vorsehung wohl nicht allein liegen, daß sie nicht eben so wirklich ist.«5 So wenig ein Einzelzitat wie dieses geeignet sein kann, clare et distincte eine verbindliche Auskunft über den Vorsehungs-Begriff zu geben, so unübersehbar macht diese umschreibende, mit Vorbehalt und in Negationsform artikulierte Wendung Lessings doch gerade darauf aufmerksam, daß >Vorsehung< hier keineswegs im Sinne einer lückenlosen Determination oder einer >absoluten Omnipotenz< zu verstehen ist; vielmehr scheint mit Lessings Hinweis: »nicht allein« die Vorstellung angedeutet, daß es — anders als in Erklärungen monokausalen Inhalts4 — einen möglichen Anteil, eine vielleicht appellativ gemeinte, denkbare Mitwirkung menschlichen Vermögens geben könne, die für den Zustand oder >Gang< der >wirklichen Welt< keineswegs belanglos oder gleichgültig wäre. Eine solche Differenzierung aber sollte wiederum nicht dahin ausgelegt werden, als deute sich etwas wie ein >Paradox< an in der Spannung zwischen der sich selbst bestimmenden, >mündigwerdenden Vern u n f t des Einzelnen und dem mit dem Vorsehungsbegriff umschriebenen >GanzenNatur und Glück< von >Tugend< abgrenzt: Alles, was Ich sonst besitze, hat Natur und Glück Mir zugetheilt. Dieß Eigenthum allein Dank'ich der Tugend. (V. 3 }ff.) Auf Dajas Fragen, wie dies (das >Eigentum Rechareligio-ErfahrungFäden< in I, 2 Vers 272 — 27; insistiert: Ein Wunder, dem nur möglich, der die strengsten Entschlüsse, die unbändigsten Entwürfe Der Könige, sein Spiel — wenn nicht sein Spott — Gern an den schwächsten Fäden lenkt. Lessing an K . W. Ramler 18. 12. 1778: »Nur Fäden möchte ich doch lieber, als Faden; weil Faden sehr leicht für den Singularis genommen werden könnte, wenn der Artikel den nicht recht deutlich von dem unterschieden würde.« L M 18, S. 296f. — Alle Zitate aus dem Nathan-Drama werden hier und im folgenden nach L M 3, S. 1 —177 nur mit Szenen- und Verszahlen angegeben.

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messene Thesen erweisen, solange nicht das Zusammenwirken der Bedingungselemente für das Struktur- und Gedankenbild dieses Lessingschen Dramas bedacht und eigens thematisiert wird. So mag denn deutlich sein, daß Überlegungen wie diese und die für das Dramengeschehen genannten Bedeutungssphären oder Ebenen nicht ohne Entsprechung zu den Formulierungen sind, mit denen Lessing in seiner Nathan-Ankündigung auf das Problem der Vorsehungsdeutung hingewiesen hat. Er spricht — wenn auch ohne nähere Präzisierung — nur mit Vorbehalt von solcher Deutung, läßt aber wohl erkennen, daß dann, wenn von >Vorsehung< die Rede sein soll, etwas nicht schon eindeutig Vorgegebenes oder Wißbares gemeint sein dürfe, sondern mehr als eine, allerdings nicht kalkulable Bedingung mitzudenken sei. Eine solche Problemandeutung findet in Lessings Spätschriften manchen ergänzenden oder bestätigenden Gedankenhinweis. Am Ende der Erziehungs-Schrift spricht Lessing — an exponierter Stelle und nicht ohne Emphase — von der >Unmerklichkeit< der Vorsehungswege: Geh deinen unmerklichen Schritt, ewige Vorsehung! Nur laß mich dieser Unmerklichkeit wegen an dir nicht verzweifeln. 12

Ein ebenfalls nur andeutender, umschreibender Hinweis; doch gleichwohl darin den Worten der Nathan-Ankündigung ähnlich, daß hier wie dort die Aussage etwas wie eine offene Relation oder auch Spannung zwischen der Erfahrung der >wirklichen Welt< und einem unwißbaren, inkalkulablen >Gang< oder Zusammenhang eines >Vorsehung< genannten Ganzen zu erkennen gibt. Der Hinweis der Nathan-Ankündigung läßt immerhin die gedankliche Ergänzung möglich oder auch plausibel erscheinen, daß es nicht zuletzt die >moralitasnaturisch< in Okkasionen gegebene >Faktische< und das moralische Handeln oder mitmenschliche Verhalten einander begegnen und ergänzen, — diese Relation oder Spannung zweier ins dramatische Geschehen integrierter Ebenen oder Bedeutungsdimensionen ist — wie dargelegt — unschwer zu beobachten und in mehr als einer Sequenz der Dramenhandlung mühelos verstehbar. Dagegen erscheint es um Grade schwieriger, das andere der 11

LM 13, S. 434. 61

oben skizzierten Confinien, das der Ebenen von moralitas und religio, angemessen zu fassen und näherhin zu kennzeichnen. Und doch besitzt das Nathan-Drama in seiner besonderen sprachlich-szenischen Strukturierung durchaus auch solche Zeichen und Symbolisationsformen, die Momente oder Ereignisse zu vergegenwärtigen vermögen, in denen dies schwierigste und denotativ kaum ganz faßbare Confinium: die Begegnung und Korrelativität von moralitas und religio wahrnehmbar werden. Erst wenn auch diese der dramatisch-poetischen Strukturierung des Stücks eingezeichnete Besonderheit, — auch dies die religio-Erfahrung vergegenwärtigende Confinium im Dramengeschehen erkennbar und als eines der höchst gewichtigen konstitutiven Elemente der Dichtung verstehbar wird, — erst dann wäre auch eine nähere Vorstellung des Problems der Vorsehung zu gewinnen, wie es aus Intention und Struktur dieses Dramas in seiner unverkürzten und anspruchsvollen Differenziertheit abzulesen ist. Wenn somit in dieser Lessingschen Dichtung die Vorsehungsthematik keiner einfachen und begrifflich umstandslos habhaft zu machenden Antwort- und Denkformel unterworfen ist, sondern einem vielschichtigen Geschehnisbild übertragen zu sein scheint, so fehlen diesem Bild doch die Hinweiszeichen nicht, die dem eigentümlich Fragenswürdigen der >Vorsehungswege< gelten. Lessings Nathan-Drama, so will es — gerade mit dem Blick auf die al-fresco-Zeichnung und die Reihe der plakativ hervorgekehrten Thesen-Demonstrationen in Voltaires >Candide< — scheinen, vermeidet nicht unbegründet eine inhaltliche, explikativ darlegbare Antwort auf die >metaphysisch< orientierten, übergreifenden Fragen. Die Art aber, wie solche Antwort vermieden ist und einer offenen Thematik und einem fragenswürdigen Problemzusammenhang Raum läßt, ist nicht zuletzt der künstlerischen Strukturierung und poetischen Form dieser Dichtung zu verdanken. —

b. Personale religio-Erfahrung und Hiob-Konnotationen in Szene IV,7 Als eines der schwierigsten, unverkennbar auch gewichtigsten unter den Problemen der Deutung und Strukturbestimmung der Nathan-Dichtung darf das oben bereits erwähnte gelten: — das des Confiniums von moralitas und religio. Es verlangt, die Art von Hinweiszeichen genauer auszumachen und angemessen zu verstehen, mit denen diese Ebenen oder Be62

deutungssphären in ihrer wechselseitigen Bedingtheit und Komplementarität wahrnehmbar werden. Im Sprach- und Handlungsgefüge des Dramas gibt es ein merklich hervorgehobenes, mehrfach wiederkehrendes Wort-Zeichen, das auf diesen Problemkreis aufmerksam zu machen imstande ist und dem zugleich die Bedeutung mitgegeben ist, auf eine für die Titelfigur in höchstem Grade bestimmende Erfahrung hinzuweisen. Es ist das im Text deutlich akzentuierte Wort von der >Ergebenheit in GottErgebenheit in Gott< verknüpft mit Hinweisen auf moralisches, >tugendhaftes< Handeln, ist gedeutet worden, hier stünden »zwei fremdartige Elemente unausgeglichen und auch feindselig nebeneinander« 1 '. In seiner Untersuchung über die >Religion Lessings< hat Gottfried Fittbogen — gerade weil er >Ergebenheit in Gott< als den »Zentralbegriff Lessingscher Frömmigkeit« 14 versteht — Nathans »Betonung der Tugend« als »reichlich aufdringlich« 1 ' bezeichnet und eine »tugendstolze Werkgerechtigkeit« 16 genannt. Die Meinung über die im Drama anzutreffende »Unstimmigkeit« ist so, wie Fittbogen sie zu behaupten sucht, schlichtweg falsch. Unstimmig seien, so meint er, »das aufklärerische Pochen auf die tugendhaften Handlungen, die der Mensch aus eigener Kraft und eigenem freien Willen vollbringt, die daher seine verdienstlichen Leistungen sind, und die Auffassung von der nicht aus eigener Kraft herbeigeführten Gottergebenheit, die den Menschen aus innerem Zwange zu handeln treibt«17. Diese Deutung steht in offensichtlichem Widerspruch zu den in der Dramenrede klar und nachdrücklich hervorgehobenen Aussagen, in denen beides: moralitas wie religio nach ihrer jeweils eigenen Potenz und Bedeutung, aber keineswegs in einem einander widersprechenden Sinn genannt werden. In den beiden für die Struktur und die Gesamtdeutung des Dramas so gewichtigen Szenen — in 111,7 u n d IV,7 — ist eben dies Problem einer inneren, notwendigen und

'' G. Fittbogen, S. 89. ,6 Ebd., S. 86.

Ebd., S. 92. " Ebd., S. 8 9 f.

" Ebd., S. 84.

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sinnvollen Verknüpfung und Komplementarität von mitmenschlich-tugendhaftem Handeln und der >Ergebenheit in Gott< in deutlicher Sprache artikuliert; wie es denn nachgerade als ein das gesamte Handlungsgeschehen des Stücks durchziehendes >Leitmotiv< zu verstehen ist, daß eben dies beides: >vor Gott und Menschen angenehm< zu sein und zu handeln, unabdingbar zusammengehört. So schließt am Ende der Ringparabel der Rat des Richters mit dieser Doppelforderung: E s strebe v o n euch jeder u m die Wette, D i e K r a f t des Steins in seinem R i n g ' an T a g Z u legen! k o m m e dieser K r a f t mit S a n f t m u t h , M i t herzlicher Verträglichkeit, mit W o h l t h u n , M i t innigster E r g e b e n h e i t in G o t t , Zu Hülf!

1 1 1 , 7 V.

527ff.

Ein nochmals nicht minder deutlicher Hinweis auf eben dies gleiche Problem liegt in den Worten, mit denen Nathan zum Klosterbruder gewendet den Bericht über seine einstige, bislang geheimgehaltene, jetzt notgedrungen zu erläuternde >Tat< einleitet: Der frommen Einfalt A l l e i n erzähl' ich sie. Weil die allein Versteht, w a s sich der g o t t e r g e b n e M e n s c h F ü r T h a t e n a b g e w i n n e n kann.

IV,7 V. 6 5 4ff.

So verfehlt es genannt werden muß, wenn diese beiden Textstellen mit ihrem Doppelhinweis auf das moralische wie religiös-fromme Verhalten als >unstimmig< und widersprüchlich wegen einer vermeintlichen »Unausgeglichenheit der beiden Gedankengruppen« 18 beurteilt werden, — so unzureichend und irreführend ist auch die Auslegung, als deute Lessing mit diesen Worten Nathans auf ein ausschließlich praktisch-sittliches Verhalten; — als habe vor allem die Ringparabel mit dem »ethischen Appell des Richters« nichts anderes mitzuteilen als eine »Anleitung zum richtigen Handeln«19. Allerdings ist eine solche Auslegung nicht selten anzu18 19

Ebd., S. 90. So - Barner/Arbeitsbuch, S. 312; 315. - Hinweise wie diese, in denen von der alleinigen Dominanz des >Praktischen< oder auch von der sich selbst genügenden Willenskraft und Moral als >Gesinnung und Tat< (vgl. Klaus Heydemann u. a.) die Rede ist, durchziehen die Lessing-Forschung — trotz mancher Gegenstimmen und genauerer Argumentation — mit erstaunlicher Stetigkeit. - Vgl. zu diesem Problem Arno Schilson (1974), S. 249, Anm. 26. — Zum direkten Bezug auf die Ringparabel vgl. Hermann Timm (1974), S. 20: »Auch hat man die bekannte Ringparabel fälschlicherweise so gelesen, als ob aus der Gleichgültigkeit aller offenbarungstheologischen Positivitäten eine Abkehr ins praktische Engagement gefolgert werde. In Wahrheit exponiert Nathan die religiöse Grundfrage in einer Form, die zu neuartigen theoretischen Aktivitäten motivieren will.«

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treffen, als betone Lessing ausdrücklich mit diesen Text-Hinweisen in erster, wenn nicht in einziger Hinsicht etwas wie die praktische Realisation humaner, mitmenschlicher Postulate — und als sei es nichts sonst als das Vermögen moralischer Güte und Soziabilität, das in Tugenden und sittlichen >Taten< seinen Ausdruck und seine Bewährung fände. Daß die Texthinweise über ein sehr viel komplizierteres Problem Auskunft geben und das zu umschreiben imstande sind, was in unseren Erörterungen mit dem bislang verwendeten Begriff des >Confiniums< zu kennzeichnen versucht wurde, sollte nicht übersehen oder in seiner Bedeutsamkeit unterschätzt werden. Weder die eine Deutungsthese von der Widersprüchlichkeit zweier Gedankenelemente, noch die andere, die mit vereinfachender Einseitigkeit von ausschließlich moralischer Praxis spricht, genügen dem differenzierten und mit angemessener Genauigkeit zu denkenden, von Lessing im Drama dargetanen Problemzusammenhang. Beide Deutungsthesen übergehen auch eine andere, dies gleiche Problem ergänzende und nochmals erläuternde Textstelle, in der Nathan dort, wo gegen Ende des Stücks der »Knoten« sich zu lösen scheint, das Wort >Tat< wiederholt — aber auch auf bemerkenswerte Weise relativiert: Wie sich Der Knoten, der so oft mir bange machte, Nun von sich selber löset! — Gott! wie leicht Mir wird, daß ich nun weiter auf der Welt Nichts zu verbergen habe! daß ich vor Den Menschen nun so frey kann wandeln, als Vor dir, der du allein den Menschen nicht Nach seinen Thaten brauchst zu richten, die So selten seine Thaten sind, o Gott! —

V,4 V. i74ff.

Dieser die Szene V,4 beschließende Monolog Nathans gibt dafür, was es mit den >Taten< auf sich hat, — wie es scheinen will — mehr als eine mitwirkende >Relation< zu bedenken. Kann die eine Wortwendung: es löse sich der Knoten »nun von sich selber« an die vorgegebenen, jetzt sich enthüllenden Fakten der Familiengeschichte erinnern, so betonen die Schlußverse etwas wie eine helfende Teilhabe anderer, dem eigenen Willen entzogener und überlegener Kräfte; daß Nathan dies mit einer dankend und anredend zu >Gott< gewendeten Sprachgeste ausspricht, scheint nicht unbegründet. So weist denn dieser Monolog nicht allein zurück auf den — später hier noch sehr genau zu erläuternden — >inneren Dialog< des in IV,7 dargebotenen Vergangenheitsberichtes und die darin eigens betonte Problematik des an Gott gebundenen eigenen Willensvermögens; — weist also nicht allein zurück und wiederholt damit die Thematik der reli65

gio-Erfahrung und -Bedingung für die eigene >Tat-Entscheidungfixierende< Aussage etwas an von dem anderen Confinium: von der den >facta< zu verdankenden Ermöglichung des eigenen Handelns. Ist dies eine der Textstellen, die das Geflecht der bedingenden Kräfte, — die in mehrfachen Confinien sich vollziehenden Geschehnisse des Stücks zu bedenken geben können, so ist einer bislang noch nicht explizit angeführten, ebenfalls auf die >Ergebenheit in Gott< verweisenden Textstelle eine nochmals nicht unbedeutende Information abzulesen: Recha £u Daja: Doch so viel tröstender War mir die Lehre, daß Ergebenheit In Gott von unserm Wähnen über Gott So ganz und gar nicht abhängt.

III, i V. 7 3 ff.

Gewiß ist dies eine ganz in den Rollendialog eingefügte Bemerkung, mit der Recha die mit missionarischem Eifer >ihren< Gott propagierende Daja abweist; zugleich aber verweisen Rechas Worte auf die das ganze Drama durchziehende Frage nach dem Wahrheitsanspruch der Religionen. Sie bedeuten gleichsam eine Art Präludium oder Prolegomenon zu der Nathan abgeforderten und in die Ringparabel gekleideten Antwort auf eben diese Frage. Nicht aber deshalb schon ist Rechas Bemerkung hier eigens zu erwähnen nötig, weil sie — dank der Belehrung und Erziehung durch Nathan — eben das Wort verwendet, das er selber in der Ringparabel seinem Richter in den Mund legt, sondern weil Rechas Hinweis einer Lehre und einer Einsicht in einen metischen Problemzusammenhang entspricht — ohne daß damit in direkter Explikation die Moralitätsforderung verbunden wird. Es gelte — davon spricht Rechas kurzer Hinweis ebenso wie Nathans Parabel —, den >Wahn< vom >Besitz< absoluter Wahrheit, von der sich als einzig und alleingültig ausgebenden eigenen Religion in seine Schranken zu weisen. Daß mit dieser einem prinzipiellen noetischen Problem entsprechenden Einsicht eine Bescheidung verbunden ist: eine die eigenen Grenzen wahrnehmenden und darin sich selbst bestimmenden J/iT«»«//entscheidung, ohne die die im Drama erwähnte >Ergebenheit in Gott< nicht von ihrem Grunde her zu verstehen ist, darüber gibt ein Texthinweis aus Lessings Reimarus-Gegensätzen einen nochmals bedenkenswerten zusätzlichen Aufschluß. Obschon in diesem ersten der >Gegensätze< von dem im Neuen Testament artikulierten Problem von der >Gefangennehmung der Vernunft durch den Gehorsam des Glaubens< gehandelt wird und Lessing dem66

nach hier — anders als im >Nathan< — den Begriff der >Offenbarung< einbezieht, so geben doch diese Ausführungen auch für unseren Erörterungszusammenhang einen klärenden Hinweis. Denn hier wird von einer der Vernunft eigentümlichen und bewußten Kraft, — deutlicher noch von einem >actus< der >Ergebung< gesprochen, so daß Deutungen von passiver, >zwangshafter< Unterwerfung als irrig und unzulässig abzuweisen sind. Der Wortlaut aus diesem ersten der >GegensätzeWendung< zu mehr als dem, was menschlichem Vermögen und menschlicher Willenskraft untersteht und verfügbar ist, — wird im Drama in einer Situation Nathans und in einer Szene aufgezeigt, die mit Nathans weit zurückgreifendem Erinnerungsbericht in IV,7 Einblick in einen außerordentlich zu nennenden psychischen Vorgang gewährt. Wohl ist es genauesten Sinnes angemessen und von höchstem IO LJvl

12, S. 433. 67

künstlerischen Anspruch, daß Lessing einen solchen der religio-Dimension zugehörigen, einer Leiderfahrung abgewonnenen Vorgang in der Bühnendarstellung nicht einer direkten, szenisch-aktualen Vergegenwärtigung aussetzt, sondern — jegliche Drastik sinnenfalligen Bewegungsspiels vermeidend — diesen sicherlich hochakzentuierten Szenenteil in berichtender Rede darbieten läßt. Er verwendet für diesen Szenenpart keine anderen als die Möglichkeiten sprachlicher Vergegenwärtigung; wohl aber hat er diesem Kunstmittel der monologischen Redeform Außerordentliches abzuverlangen gewußt. Was Nathan in dieser Szene IV,7 dem Klosterbruder über das einst im Pogrom von Gath Geschehene und ihm Angetane mitteilt, — dieser in gedrängter Sprechweise und eigentümlicher Intensität vorgetragene Bericht läßt durch mehrere Wortanklänge und mit einer im gesamten Sprachgestus mitgehenden Allusion eine biblische Reminiszenz hörbar werden; — er erinnert auf merkliche Weise an die Geschichte und Figur des biblischen Hiob. Doch, so ist unmittelbar zu ergänzen nötig, es drängt sich zugleich eine Frage danach auf, ob hier mit dieser Redeweise und diesem von Nathan Berichteten nicht auf einen sehr besonderen Bildund Gleichnissinn der alten Hiob-Geschichte hingewiesen ist, zumal nur wenige der Gesten und Grundzüge des biblischen Hiob-Buches angedeutet und zudem in einer offenbar bewußt eigenwilligen Version vergegenwärtigt erscheinen. Von früh an hat es für die Nathan-Deutung nicht an Hinweisen auf bestimmte Bibel-Reminiszenzen und an Erläuterungen gefehlt, die auf biblische Wortwendungen, Weisheitslehren oder auf einzelne Figuren des Alten Testaments aufmerksam zu machen gesucht haben21. Auch dies: daß Nathans Bericht in der Szene IV,7 die Hiob-Thematik wiedererkennen lasse, ist nicht eben selten erwähnt worden. Zumeist aber verharren

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Die wichtigsten Hinweise datieren bereits aus der Zeit der Nathan-Entstehung und -Publikation: Konrad Arnold Schmid nennt in seinem Brief an Lessing vom 3. 9. 1778 den »Propheten Nathan«, L M 21, S. 228 (über den möglichen Bezug zu dieser Figur in Klopstocks Dramen >Salomo< und >David< vgl. H. Birus 1978, S. 160). — Die beiden mit dem >Propheten< verbundenen Motive: Verheißung des Tempels (2. Sam. 7,16) oder das des Gleichnis-Erzählers (2. Sam. 12,25; vgl. Lessing: »Seine Fabel vom geraubten Schafe«, L M 16, S. 153) werden erwogen bei H. Birus (1978), S. i6if. und Hermann Timm (1985), S. 113. - Joh. Heinr. Campe verbindet in einem Brief an Lessing vom 30. 8. 1779 seinen Nathan-Hinweis mit einem Zitat aus der Weisheit Salomos (7,22^). - Wenn Lessing selber auf den biblischen Melchisedek anspielt (LM 18, S. 301 f.), so ist dies weder »blasphemisch formuliert« (H. Birus 1978, S. 157), noch - in einem gewiß nur mittelbaren Bezug zu Hebr. 7,3 - gänzlich abwegig: eine Sinn-Relation zum Zeit- und Ortlosen »innerer Wahrheit< des »Christus-Typos< wäre nicht undenkbar.

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solche Hinweise bei relativ kurzen und allgemeinen, zuweilen auch recht stereotypen Umschreibungen des Topos vom geprüften und im Leid sich bewährenden Hiob 22 ; Erläuterungen, die sich auf bestimmtere, aus dem Bibel-Text des Hiob-Buches genau und wörtlich genannte Einzelwendungen oder Motivgegebenheiten beziehen, sind nicht eben häufig und gelten zudem auch anderem 2 ' als der in der Nathan-Szene IV,7 vergegenwärtigten Thematik. So ist es denn aus mehr als einem Grunde angezeigt und bedarf auch hinsichtlich des Dialogs mit der Lessing-Forschung einer nachdrücklichen Klärung, was sensu stricto gemeint sein kann — und welchem gedanklichen Gesamtsinn es zuzuordnen ist, wenn Nathans Berichtrede in dieser Szene eine Reminiszenz aus dem biblischen HiobBuch zu erkennen gibt. Diese Frage, die in unserem Erörterungszusammenhang bereits eine gewisse Prädisposition durch die für Voltaires Candide-Roman zur Sprache gebrachten Deutungsprobleme bei sich trägt, — aber auch mit nicht wenigen der übergreifenden Gedanken oder Probleme des gesamten Lessingschen Spätwerks in Verbindung zu sehen ist —; diese Frage verlangt nicht allein eine textnahe klärende Bestimmung der sprachlichen Strukturierung der Nathan-Szene und der Art, wie diese Szene ihre Hiob-Konnotationen wahrnehmbar werden läßt; diese Frage führt zudem auf gedankliche Voraussetzungen, die ohne Kontexthinweise und den Rekurs auf den Textzusammenhang des biblischen Hiob-Buches kaum adäquat zu verstehen sind. Es sind mehrere Sprachbesonderheiten, die in Lessings Nathan-Text zu näherer Erläuterung herausfordern und Anlaß zu mehr als einer detaillierten Erwägung geben:

" Von Nathans >HiobschicksalHiob-Situation< oder auch >Hiob-Erfahrung< ist in kurzen, nicht näher differenzierten Erwähnungen die Rede z.B. bei G . Rohrmoser, S. 117; 123. - F. W. Kaufmann, S. 2 7 8f. - A. Schilson (1974), S. 197; (1980), S. 76. - E. Waniek, S. 147: Nathan — »ein entfernter Nachfahr Hiobs«. - H. Fuhrmann, S. 64. - A. Seppelfricke, S. 260. - R. Homann, S. 220, Anm. - u.a. Karl Jaspers (1947) verbindet den Hiob-Hinweis mit der Frage nach dem Problem einer philosophischen Tragödiec S. 949f.; vgl. unten S. 101. — Heinz Flügel bezeichnet Nathans Toleranz als »eine tragische Toleranz, der die Erfahrung des deus absconditus wie im Hiob-Buche vorausgeht«, S. 89. — Doch in keinem dieser Hinweise wird eine bestimmte Textstelle oder eines der >Motive< aus dem biblischen Hiob-Buch genannt. - Zu Peter Demetz und M. Bollacher s. im folgenden. 2 > So verweist Erich Schmidt Bd. II, S. 39; für die Wunder-Diskussion in I, 2 auf die Elihu-Reden (Hiob 35,; u. 7f.). - Manfred Durzak erwähnt Hiob 42, 1 2 - 1 7 , um seine These über die Verbindung von Kommerz und Religiosität zu stützen (S. 26), ohne jedoch die kompliziertere Problematik der biblischen Hiob-restitutio im Rahmen- und Schlußteil des Buchs Hiob zu bedenken. - Peter Pfaff (S. 102) und auch andere beziehen sich auf Hiob 1, 21.

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Als Ihr kamt, hatt' ich drey Tag' und Nächt' in Asch' Und Staub vor Gott gelegen, und geweint. — Geweint? Beyher mit Gott auch wohl gerechtet, Gezürnt, getobt, mich und die Welt verwünscht; Der Christenheit den unversöhnlichsten Haß zugeschworen — Klosterbruder:

Ach! Ich glaubs Euch wohl!

Doch nun kam die Vernunft allmählig wieder. Sie sprach mit sanfter Stimm': »und doch ist Gott! Doch war auch Gottes Rathschluß das! Wohlan! Komm! übe, was du längst begriffen hast; Was sicherlich zu üben schwerer nicht, Als zu begreifen ist, wenn du nur willst. Steh auf!« — Ich stand! und rief zu Gott: ich will! Willst du nur, daß ich will! -

IV,7 V. 66 7 ff.

Die Zäsur, mit der die Mitteilungen Nathans durch des Klosterbruders Zwischenbemerkung unterbrochen werden, hebt sicherlich nicht wenig deutlich die Andersartigkeit von Ton und Inhalt in den beiden Teilen von Nathans Berichtrede hervor. Gleichwohl ist es von gravierender Bedeutung, den durchgehenden Zusammenhang — und damit das Sinnganze dieses Berichts zu bedenken. Denn beiden Teilen sind Hinweiszeichen auf die Hiob-Thematik abzulesen; und erst in der Sukzession und gedanklichen Zusammengehörigkeit dieser Zeichen enthüllt sich der eigentlich umgreifende Sinn oder die Problemkonstellation, die mit dieser biblischen Reminiszenz der Nathan-Szene mitgegeben erscheint. Am deutlichsten allerdings und am wenigsten mißverstehbar ist die Allusion oder die Reihe der Konnotationen von Hiob-Motiven in der Wort- und Bildfolge des ersten Redepassus: der Bericht über den mit Gott rechtenden Haderer, der — »in Asch' und Staub« — sich und die Welt verflucht, gegen sein Leidensgeschick mit zornigem Aufbegehren sich empört. Obschon anders als die alte Hiob-Geschichte darin, daß hier Zorn und Haß sich gegen Menschen als die Verursacher dieses Geschicks richten, ist diese Reminiszenz, die dem zumeist genannten und relativ allgemeinen Hiob-Topos entspricht, kaum zu überhören und kaum näherer Erläuterungen bedürftig. Für den zweiten, auf die Zäsur folgenden Passus von Nathans Bericht scheint es anders. Hier, so will es wenigstens dem ersten Blick vorkommen, ließen sich nur schwerlich noch Allusionen oder Analogien zum biblischen Hiob ausmachen; hier wäre eher von gewissen Differenzen zu sprechen nötig. Denn wenn Lessing an dieser Stelle des Textes Nathan 7°

berichten läßt von der ihm möglich gewordenen >WendungErhebungSich-Aufrichten< aus seinem Unglück, seinem Zorn und Haß ermöglichen konnte, so begegnen in diesem Teil des Berichtes Begriffe und Wortwendungen, die sich von biblischen Vorstellungen und altem Sprachsinn zu entfernen scheinen. Am schärfsten hebt sich der Begriff >Vernunft< heraus, der die deutlichste Differenz zur Sprache und Thematik des biblischen Textes anzuzeigen scheint. So hat denn gerade dies hier in Nathans Bericht verwendete Wort >Vernunft< zu der Deutung veranlassen können, als habe Lessing damit der Hiob-Thematik und -Reminiszenz in dieser Szene eine gänzlich veränderte, >moderner< Subjektivitätsvorstellung angenäherte Wendung gegeben. Anders als der biblische Hiob, so ist gedeutet worden, — der sich »mit antwortendem Hinweis auf die überwältigende Macht Jahwes« begnüge, finde Nathan »seine Lösung eher in der wiedererwachenden Vernunft, die immer klarer durch die Nebel des Zorns dringt und zugleich mit Gott erneute Vorsehung, erneute Pflicht setzt, in der Welt zu handeln« 24 . Das in diesen Formulierungen höchst problematische und mit dem Nathan-Text schwerlich in Einklang zu bringende Vorstellungsmoment ist vor allem das Wort >setztSetzung durch VernunftLösung in der VernunftVernunft Gottes< und auch >Rechtmäßigkeit des Widersinnigem — zur Erläuterung der Nathan-Textstelle verwendet, lassen einige Denkmotive bemerkbar werden, die sich auf unkritische Weise den Theodizee-Gedanken, so wie sie in der frühen Aufklärung ohne viel Differenzierungen anzutreffen sind, mindestens nä14

Peter Demetz, S. 145. Martin Bollacher (1978), S. 263. - Auch folgende Formulierungen Bollachers müssen problematisch genannt werden: »Wiedererwachen der Vernunft, d.h. der am Hiobschicksal dargestellten Läuterung des Instinkts zur Vernunft«, S. 264; oder über Nathans Religiosität: sie zeige »die ihr eigene Konsistenz aus der selbstbewußten Abgrenzung der Vernunft gegen jeglichen heteronomen Offenbarungsanspruch«, S. 265.

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hem. Auch mag es befremden, daß hier nicht allein ein unbefragter, undifferenzierter Vernunftbegriff genannt wird, sondern auch allzu plakativ von der >Vernunft Gottes< gesprochen wird, wie es so umstandslos nicht aus Lessings Text zu lesen möglich ist. Wenn schließlich in einer nochmals anderen Deutung resümierende Hinweise zu eben dieser NathanSzene dahin lauten können, daß sich hier die >Theodizee< an Nathan >bewähre< und als eine »Antwort auf sein Verhalten« 26 zu verstehen sei, so wäre wohl zu fragen, ob damit nicht in der Tat auch eine radikal neue, nun >modernistisch< gewendete Hiob-Innovation vorläge; — eine solche allerdings, die die von Hiob gestellten Fragen als leer und unernst vergessen machen könnte, zumal doch der Schein aufkäme, als sei es in des Menschen Vermögen gestellt, über die Wege und >Vernunft< Gottes in sicherer und zureichender Weise Auskunft zu geben. Gleichwohl: das in Nathans Bericht verwendete Wort >Vernunft< muß besondere Aufmerksamkeit verlangen und bedarf näherer Erörterung — auch und gerade im Hinblick auf die biblische Hiob-Geschichte, in der es an >VerstandesredeGründe< für Hiobs Geschick angeben zu können glauben, werden am Ende des Hiob-Buches von Gott selbst verworfen. Diese Verurteilung der anmaßlichen >Vernunfturteile< sollte als ein gewichtiges Problem im Gesamtzusammenhang des Buches Hiob weder übersehen, noch unterschätzt werden. Dafür, daß diese fundamental bedeutsame Kritik an menschlicher Wissensanmaßung von früh an gesehen und aufs deutlichste akzentuiert worden ist, seien die folgenden Hinweise von Luther und Kant — um nur zwei der gewichtigsten Autoren anzuführen — zitiert. In Luthers Vorrede zum Buch Hiob heißt es über das »lange Geschwetz« der Freunde: Und haben so ein weltliche und menschliche gedancken v o n G o t t und seiner Gerechtigkeit / als were er gleich wie Menschen sind / und seine Recht wie der weit recht ist. 27

Kant weist in seiner Schrift von 1791 >Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee< — deren besondere Hiob-Erwähnungen in unserem Zusammenhang nochmals eigens zu nennen sein wer16 27

Horst Türk, S. 188. Martin Luther, I, S. 915. — Bibelzitate auch im folgenden nach dieser Ausgabe v o n 1545, w e n n nicht andere Übersetzungen namentlich angegeben sind.

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den — auf diese Art des >Verstandes-Vorwitzes< und kennzeichnet sie als eine >doktrinalespekulativeVernunft< nicht als eine Problemvokabel gelesen wird, — wenn sich zudem für die Auslegung des ganzen Textabschnitts Deutungsformeln einstellen können, die einem vereinfachten Theodizee-Gedanken ähneln, so hat das möglicherweise mit einer Sprach- und Wortbesonderheit zu tun, die einen solchen Antwort- oder Lösungsgedanken für das von Nathan Berichtete nahezulegen scheint: die im Text durchaus auffallige und betonte Wendung >Gottes Ratschlußles décrets de Dieu< verweist, auch für willkürliches Eingreifen oder strafende Absichten Gottes oder für die >providentia< als >Rechtfertigungsinstanz< Verwendung finden kann. Ein Wort demnach, das nicht wenig von solchen Gedanken-Prädispositionen bei sich zu tragen scheint, die Friedrich Schlegel als »Anwendung des Rechtsbegriffs auf die Gottheit« bezeichnet hat, aber von Vorstellungen Lessings und von der Nathan-Dichtung als >Widerspruch< ferngehalten wissen möchte. Für den Gedanken- und Geschehniszusammenhang der Nathan-Textsteile in der Szene IV,7 sind sicherlich beide Worte >Vernunft< und >Ratschluß< in hohem Grade signifikant. Dem Wort >Ratschluß< ist jedoch eine noch gesonderte Bedeutung zuzumessen; denn eben dies ist das Wort, das auch in der Lutherischen Bibelübersetzung gegen Ende des Hiob-Buches an einer Textstelle von unübersehbarem Gewicht verwendet erscheint. Hier bezeichnet — oder begleitet dies Wort eine Sprachgebärde und den entscheidenden Antwortgestus des biblischen Hiob. In diesem Gestus läßt sich eine bemerkenswerte Sinn-Übereinstimmung mit dem von Nathan Berichteten erkennen; die ihm möglich gewordene innere Wende vollzieht sich — unter Hinweis auf eben dies Wort >Ratschluß< — in einem vergleichbaren Vorgang, einer vergleichbaren Sprachgebärde. Soll diese Entsprechung genauer vor den Blick rücken, so sind Erläuterungen nötig, die nicht anders anzuberaumen sind als auch in einem Rekurs auf die biblische Hiob-Textstelle, auf deren Übersetzungs!8

Kant, S. 105. Ebd., S. 119. 73

und Wortsinn-Gegebenheiten. Daß damit nicht >Ableitungen< gemeint sind, sollte nicht eigens betont werden müssen; w o h l aber gilt es f ü r das, was bisher in unseren Erörterungen als biblische Reminiszenz oder als eine im Nathan-Text wahrzunehmende Konnotation bezeichnet w o r d e n ist, eine festere G r u n d l a g e zu gewinnen. D a m i t könnten Sprachwendungen und Problemgedanken der Nathan-Szene auf neue Weise transparent werden; und es wäre möglich, den Blick auch dafür zu schärfen, mit welcher Prägnanz Lessing dieser Szene die K u n s t f o r m gleichnishafter Symbolisation zu geben vermocht hat.

Exkurs Im biblischen Hiob-Text zeigen einige der Verse aus dem 42. Kapitel Sprachgesten und gewisse Wort- oder Bedeutungsfelder an, die wie eine gedankliche Präfiguration für Lessings Hiob-Reminiszenz in der Nathan-Szene zu lesen möglich sind. Der von Nathan berichtete Vorgang einer inneren Wende entspricht dem Anfangsteil dieses 42. Kapitels, dessen Verse 1-3 — auch wohl bis Vers 6 - von Hiobs letzter Antwort vor Gott sprechen; einer Antwort, die das >Unweisliche< des eigenen Klagens und Rechtens einbekennt, mit der Hiob zu einer neuen — die Leidenswirklichkeit einbegreifenden — Hinnahme des Daseins gelangt. Der biblische Text aus dem Buch Hiob: 42. Kapitel, Vers 1-3 sei in der älteren Luther-Übersetzung von 1545, — Vers 3 zudem in einer neueren Version angeführt' 0 : 1 Und H i o b antwortet dem Herrn/und sprach/ 2 Ich erkenne/das du alles vermagst/und kein gedancken ist dir verborgen. 3 E s ist ein unbesonnen Man/der seinen rat meinet zu verbergen. Darumb bekenne ich/das ich hab unweislich geredt/das mir zu hoch ist und nicht verstehe. 42,3 (1984): >Wer ist der, der den Ratschluß verhüllt mit Worten ohne Verstand?< Darum hab ich unweise geredet, was mir zu hoch ist und ich nicht verstehe.

Dieser Vers 3 — der schwierigste, aber auch bedeutungsvollste der Textstelle — nimmt wortgetreu die Frage wieder auf, die im 38. Kapitel mit der Rede Gottes an Hiob gerichtet worden ist. Auch dieser Vers ist in mehreren Ubersetzungen hier anzuführen, — zumal Luther an dieser Stelle das hebräische Wort >esa< mit >Weisheit< wiedergibt: 38,2 Wer ist der / der so feilet in der Weisheit / und redet so mit Unverstand ?

In Johann David Michaelis' Hiob-Übersetzung von 1769' 1 lautet der Vers: Wer ist hier, der durch Worte ohne Kenntnis den Rathschluß verdunkelt ?

JO 31

Bibeltext: Luther, I, S. Vernunft< und >RatschlußRatschluß< auch das Wortfeld Wissen - Verstehen< genannt ist; beides nicht ohne Relation zueinander, — beides verlangt freilich auch einige kommentierende Erwägungen. >Ratschluß< — mit diesem Wort wird in Hiobs Antwort — 42,3 — das Wort aus der Gottesfrage des Verses 38,2 wiederholt, das Luther an dieser Stelle — 38,2 - mit >Weisheit< übersetzt. Das beiden Textstellen identischen Sinnes zugrundeliegende hebräische Wort (>esaesa< sei ein »kaum übersetzbares Wort« 40 . E s ist nicht ohne Interesse, daß in der Septuaginta an beiden Textstellen der Begriff ßouXf) 41 steht, der tendenziell der Vorstellung >Beschluß / Plan / Absichtesa< weisen für den an beiden genannten Textstellen anzutreffenden Sinnzusammenhang darauf, daß dieses mehrdeutig-komplexe Wort etwas von der den Menschenverstand übersteigenden Schöpfungsund Gottesweisheit anzeige. Es deute insofern >Plan< und >Weisheit< an, als es beides, »das Ersinnen wie das Ersonnene« 43 umgreift: »einerseits die Weltordnung [...], andererseits die Unergründlichkeit des göttlichen Wollens und Tuns« 44 . Dies Wort >esa< meine einen >Plan< Gottes, der »nicht der Sphäre des rein Intellektuellen« 4 ' zuzuordnen sei. Mit »relativ breitem Bedeutungsbogen« dem hebräischen Nomen für Geheimnis (>södesa< auf Got-

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41

4i 44 45

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Fridolin Stier, S. 546. Septuaginta: 38,2: Ttq oüxo«; 6 XQüTCTCov |ie ßouXf|v, ctüvsxcov 8e ¿f)|iaTa iv x a g S i a , ¿¡ie 8e oiexai kqutcteiv; 42,3: liq ySchluß< des Ganzen gerückte Eingeständnis Hiobs: er habe »nicht etwa frevelhaft [...], sondern nur unweislich über Dinge gesprochen«, die ihm »zu hoch« seien". >Unweisliches Reden< in der mit Gott rechtenden Klage — abgelöst und überwunden durch die Einsicht in einen >höherenVernunft< verwendet hat. — Im Buch Hiob sei diese Wende als conversio sapientis''*' zu begreifen, als »Eingeständnis eines Weisen«": dieser — in alttestamentlich-theologischen Deutungen verwendete — Weisheitsbegriff geht aus von jenem in der

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Ebd., Sp. 147. Die >GottesredeSchauen< Gottes reden, da die »Gottesrede an Hiob im Zusammenhang einer Theophanie erfolgt«. S. 498. 49 Gerhard von Rad, S. 29if. 50 Johann David Michaelis, S. 162. >' In den Worterklärungen zur Luther-Bibel von 1545 wird >feilen< erläutert als »fehlen; mangeln; verfehlen; abirren; Fehler begehen«. S. } 24. 12 G . von Rad, S. 29of. " Kant, S. 118. 14 Fridolin Stier, S. 249. " G . Fohrer, S. 532.

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>älteren Weisheitx Israels vorgegebenen Tun-Ergehen-Zusammenhang, wie er dem >Vergeltungsglauben< zugrundeliegt. Darin gibt es jene >rechnende< LohnStrafe-Vorstellung, deren >Grundsätze< oder >Lehren< sich für Hiob als unzulänglich und >unwahrHörensagen^6 von Gott erweisen und die er in seiner Leidenserfahrung, in der persönlichen Begegnung und Rede Gottes zu neuer Einsicht überwindet. Wenn das Hiob-Buch eben diesen Gegensatz aufzeigt: den Gegensatz zwischen den lehrhaften Elementen^ die in den Reden der Hiob-Freunde mit ihrem nachgerade »unbarmherzigen Vergeltungsglauben« zutagetreten' 7 , und dem >in Verzweiflung< und >titanischem Trotz< klagenden Hiob, der »mitten in seinem Leid«' 8 durch >Erfahrung< zur >conversio< und neuartiger Einsicht gelangt, so steht eben diese Thematik, wie mit Fug und Recht aufs nachdrücklichste betont wird, weitab vom Problem der Theodis^ee-, Der Hiob-Dichter behandle »zweifellos nicht das theoretische oder abstrakte Problem der Theodizee«, — »nicht eine Frage des Denkens, sondern eine solche der Existenz«. »Es geht in erster Linie nicht um die Frage nach dem Ursprung, Grund und Berechtigung des Leidens, sondern um die Frage [...] nach dem rechten Verhalten«, nach »der menschlichen Existenz im Leide«' 9 . Wenn Deutungshinweise wie diese als das >Hauptthema< des Hiob-Buches die existentielle Leidenserfahrung unterstreichen, — die Erfahrung, in der Hiob die »Unvernunft jeder rationalen Lösung, die Unzulänglichkeit jeder klugen Theorie« erkennt 60 , — und wenn dies als das entscheidende Problem gegen das Theodizee-Denken abgegrenzt wird, so ist es eben der gleiche Gedankengang, den zuvor — während der Schwellenzeit der Philosophiegeschichte: in der Abgrenzung zwischen Metaphysik und kritischer Philosophie - Kant in seiner Schrift von 1791 >Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee< dargelegt hat. Und es ist nochmals von Interesse und hier zu betonen nötig, daß Kant diese Abgrenzung in seiner Schrift nicht in abstracto

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Ebd., S. 5 32 u. ö. — mit betontem Hinweis auch auf das in Hiob 42,6 genannte >Schauen GottesAuffassung< der Freunde auch S. 554. — Fohrer erläutert: der Hiob-Dichter konnte dem Epilog (der »den Schlußteil der alten Hiob-Legende« bildete, S. 536) »einiges für das Nebenthema der Beurteilung der herkömmlichen Theologie abgewinnen. Wenn die Worte der Freunde als Nicht-Wahres bezeichnet werden, ist dies dahin zu verstehen, daß die Vertreter der orthodoxen Theologie gescholten werden und der Fürbitte des früheren Häretikers bedürftig sind, der durch seine Umkehr auf eine neue Stufe jenseits von Orthodoxie und Häresie erhoben ist.« S. 537; vgl. auch S. 550. — Diese Unterscheidungen von Hiob-Legende und Hiob-Dichter und zudem von mehreren >Stufen< der Theologie im Hiob-Buch sind für die später zu erörternden Problemhinweise in den §§ 29 und 30 der Erziehungs-Schrift von Bedeutung. - Auch Jürgen Ebach betont nicht nur, das Hiob-Buch gelte der »Kritik der zur Doktrin gewordenen Auffassung vom Tun-Ergehen-Zusammenhang« (S. 20), sondern verweist auch darauf, daß das >Ende< des Hiob-Buches als die »emphatische Schilderung von Leben — ohne ein »um zu«< zu verstehen sei; S. 26. Vgl. die oben (Anm. 23) erwähnte, der Kritik bedürftige These von M. Durzak. '» G. Fohrer, S. 536. " Ebd., S. 548f. 60 Ebd., S. 558: Hier unterscheidet Fohrer - ganz des Sinnes wie Kant in seinen HiobHinweisen von 1791 - den »wagenden Glauben«, der die »abwägende Vernunft« ersetze.

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vorgenommen hat, sondern in Bezug auf das, was er im Buch Hiob: »einem alten heiligen Buche allegorisch ausgedrückt« fand 6 '; daß Kant auch nicht allein die >spekulative< Theodizee als rationale Lehrthematik mit der »Denkungsart« der Hiob-Freunde vergleicht, sie als die »ihre Schranken verkennende Vernunft« 62 kritisiert. Zudem ist auch dies zu betonen hier vor besonderem Belang, daß Kant für die Erfahrung Hiobs mit ausdrücklicher Hervorhebung das Wort >Ratschluß< in eben dem mit dem biblischen Textzusammenhang vorgegebenen, hier näher erläuterten Sinn verwendet. Hiob, so heißt es in Kants Argumentation und in deutlicher Gegenwendung gegen die >Lehren< der Hiob-Freunde, die da meinen, »a priori urteilen zu können« 6 ', — Hiob »erklärt sich für das System des unbedingten, gottlichen Ratschlusses«6*. Wenn Kant mit diesem Wort und mit der damit bezeichneten Denkungsart den Gegensatz zur >doktrinalen Theodizee< kennzeichnet, wenn er mit seinen Hinweisen auf die Erfahrung Hiobs dazu weitergeht, dies als eine »authentische Theodizee« 6 ' zu erläutern, so geht Kant mit dieser These von dem »auf die Moralität« sich gründenden Glauben 66 über die Position Lessings hinaus. Davon ist an dieser Stelle unserer Erörterung nicht mehr zu handeln. Wohl aber darf erneut resümiert werden, daß Kant das Wort >Ratschluß< in der Gegenüberstellung mit der spekulativen, ihre »Schranken verkennenden Vernunft« betontermaßen für den Hinweis auf die >ErfahrungSache des Glaubens< verwendet. Es ist somit unverkennbar, daß bei Kant diesem Wort >Ratschluß< nicht ein ins Rationale verkürzter, sondern ein höchst komplexer Inhalt zugehört, so daß darin ein Hinweis auf eine nachgerade umgreifende religiöse Bedeutung wahrzunehmen ist. Wie mit diesem Wortverständnis Kants, so bestätigt sich der in Lessings Nathan-Text begegnende Wortsinn auch durch eine Erläuterung, die wiederum einige Jahre später im >Grammatisch-kritischen Wörterbuch< von Johann Christoph Adelung zu lesen ist. Hier heißt es über das im späten 18. Jahrhundert häufig verwendete Wort >RatschlußRat< einsetzt, das Wort >RathschlußSache GottesApologie< war eine ältere als die endgültige, die heute im Druck vorliegt. 72 H. S. Reimarus, Apologie I, S. 713. 70

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fenbarenreligio-Erfahrung< in ihrer essentiellen Momentaneität: gleichsam im >Mittelpunkt< und >in actu< ihres Wirklichwerdens getroffen — oder doch so annonciert, wie es in anderer Form denotativ-wörtlicher oder gar begrifflicher Explikationsrede nicht möglich wäre. Gerade diese zwei Verszeilen Nathans können mit ihrer eigentümlich stilisierten Satzform, in der unangemessen zugreifende Wortfixierungen vermieden sind, — wie in einer sprachlichen Engführung — erneut deutlich machen, in wie hohem Maße Lessing von Nathans Bericht und Sprechgestik alles fernzuhalten gewußt hat, was einem Wähnen über Gott< gleichkäme. Im ganzen Textpassus von Nathans Bericht gibt es keine Sprachwendung — und auch deshalb ist hier an der Deutung des Worts >Ratschluß< nicht wenig gelegen —, die ein Wissen über Gott, über seine >Gerechtigkeit< oder >Endabsichten< vorgäbe oder mit »Begriffen, die wir uns

»5 LM 16, S. 402. 86

[davon] machen«®4 zu sprechen suchte. Wohl aber ist zu sagen möglich, daß nicht zuletzt der mit der Hiob-Reminiszenz konnotierte Problemgedanke die Begründung dafür und für die Bedeutung der auch in der Sprache sich annoncierenden religio-Erfahrung intensiver zu begreifen nahelegt. Zudem hat Lessing für diesen Textpassus Formen der Sprachdarbietung gewählt, die etwas von der qualitas einer Ereigniswirklichkeit zu vergegenwärtigen imstande sind. Nicht geringen Anteil daran hat das kunstvolle Ineinandergreifen der zwei Redeformen, da der Modus des Berichtens und das damit anberaumte Bewußtsein von Distanz zum Geschehenen mit der direkten Rede des imaginären >inneren Dialogs< verbunden ist. Dieser >innere Dialoginquit-Hinweisen< zunächst >der Vernunft< das Wort gibt, danach zur >Ich-Form< der Gottesanrufung überleitet, rückt für einen wichtigen Moment lang das Berichtete unter das Zeichen oder den >Schein< präsentischen Sprechens. Damit wird nicht allein ein zeitlicher, sondern auch ein psychisch-A£/»ä/«r Sinn des Geschehenen markiert; eine Sprachstilisierung, die nicht wenig dazu beiträgt, die Authentizität und den Ereignissinn der hier aufgewiesenen religio-Erfahrung zu annoncieren. Daß diese Sprache Nathans auch Gestisches einbegreift, erhöht nicht nur die Prägnanz der Mitteilung, — zugleich ist auch deren existentieller Ernst und das personhaft Auratische in Ton und Sprachgebärde auf intensive Weise vernehmbar gemacht. In der Szene IV,7 fallen noch zwei besondere Hinweise Nathans auf, die um des bisher aufgezeigten Gedankenzusammenhangs willen nicht unkommentiert bleiben sollten. Wollte man das im Fortgang von Nathans Bericht genannte Geschehen: das Eintreffen des Reitknechts mit dem Christenkind, verstehen als eine nachgerade zu erwartende, der >Gottergebenheit< auf fast >kalkulable< Weise folgende >Belohnungkurzgeschlossene< Thesen, daß »im Nathan Tugend und Glück zusammen« gehören8', ist zunächst festzustellen, daß es sich bei dem von Nathan berichteten Ereignis vorerst um nichts anderes handelt als um eine neue Situation, — eine »Gelegenheit«, so heißt nicht unbegründet das Wort des Klosterbruders86 für eine solche zu mehr als einer Möglichkeit "4 Kant, S. 114. 8 > G. Fittbogen, S. 81. 116 IV, 7, Vers S. ; 8 9 ff.: und mir Fällt bey, ich könnte selber wohl vor Zeiten Zu dieser unverzeihlich großen Sünde Gelegenheit gegeben haben.

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herausfordernde Situation. Eine occasio also, auf die verschiedene Reaktionen denkbar sind und auf die Nathan die ihm eigene Antwort findet. Seine >Tat< aber zeigt, darüber wird im Text und Kontext des Dramas kein Zweifel gelassen, daß hier nicht nach Absichten entschieden, nicht nach einem Lohn-Strafe-Denken gehandelt wird, sondern daß Nathan >Gutes< tut ohne Zwecküberlegung und auch ohne >tugendstolzes< Selbstgefühl. Selbst andere Textstellen des Dramas — so die in 1,2 belehrend an Recha gerichteten Worte Nathans87 — erlauben nicht, von einem »nackten Lohngedanken« oder einer »Erneuerung der alten jüdischen Vergeltungslehre«88 zu sprechen. Und auch, wenn betont wird, daß für Nathan »ohne jedes Schielen nach Lohn [...] doch sicher ein Lohn folgt«, reicht eine >eudämonistische< Erklärung für den »Zusammenhang zwischen Tugend und Glück« 89 nicht aus. Gerade die Szene IV,7 ist mit der Hiob-Reminiszenz darauf zu verweisen imstande, daß Nathans >Tat< als Ausdruck des Uberwundenhabens von rechtend-rechnendem Denken zu verstehen ist. Daß diese >Denkungsart< eine im Dramentext eigens betonte Problematik bildet, ist ebenso deutlich, wie es sicher ist, daß die in der Erziehungs-Schrift von Lessing genannte altjüdische Lohn-Strafe-Lehre 9 ° nicht als Schlüsselhinweis für das Handeln Nathans gelten kann. - Nicht auszuschließen, daß Lessing sogar dort, wo er Nathan den Bericht über die Aufnahme des ihm überbrachten Kindes beenden läßt, Worte von seltsamer Auffälligkeit gewählt und möglicherweise auch mit bewußt seltsamer Akzentuierung eingesetzt haben mag: Worte, die den Eindruck eines sonderbar >rechnenden< Denkens machen könnten, wenn sie nicht — quia absurdum — sich selber zum Gegenbeweis gereichten: Was Ihr Mir damals sagtet; was ich Euch: hab' ich Vergessen. So viel weiß ich nur; ich nahm Das Kind, trugs auf mein Lager, küßt' es, warf Mich auf die Knie' und schluchzte: Gott! auf Sieben Doch nun schon Eines wieder!

IV,7 V.683ff.

Wenn ein solcher mit Nathans Dankes-Apostrophe dargebotener Wortlaut dem Eindruck Vorschub leisten könnte, als deute sich hier so etwas wie eine >do-ut-des-Rechnung< an, — so enthüllt sich doch solche Täu87

Die Verse 3; 8f. in 1,2: »Denn Gott lohnt Gutes, hier / Gethan, auch hier noch« meinen in diesem gegen das >andächtige Schwärmern gerichteten erzieherischen Dialog den Tempelherrn und das von ihm >GetaneZweckabsichtsegnen< hat hier den Sinn von >absagenguten Sache< der jüdischen Religion nicht zu zweifeln sei und daß schließlich die Hoffnung auf endliche Wendung der Trübsal und volle Restitution zu sicherem Trost verbürgt sei. Mit diesen Hinweisen in der Cardan-Schrift betont Lessing offensichtlich etwas Generelles und Exemplarisches. Hiob als der >Mann Gottes< erscheint unter dem Deutungszeichen einer lehrhaft zu verdeutlichenden Typik; er wird als Symbolfigur und verbindliches Vorbild für Leiden und Glaubensfestigkeit des jüdischen Volkes genannt. Von anderer Art sind die Hinweise, mit denen Lessing im ersten Teil der Erziehungs-Schrift von >Plan< und >Geist< — und das meint: einem bestimmten Problemgedanken des Hiob-Buches spricht. Dabei handelt es sich zunächst um eine dem Gedankengang der Erziehungs-Schrift eingeordnete Kennzeichnung der frühen israelitischen Religionsstufe. Lessing nennt sie als diejenige, in der die Kindheitsstufe der Menschheit mit dem >sinnlichen< Lohn-Strafe-Denken und einem diesseitsorientierten Vergeltungsglauben sich abgezeichnet habe. Wenn er hier — noch mit deutlich kritischem Bezug zu Thesen von Reimarus und Warburton über den säkularen oder göttlichen Charakter des Alten Testaments — vom Alten Testament als dem der frühen Menschheitsstufe angemessenen >Elementarbuch< spricht, dem »die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele und künftigen Vergeltung gar wohl mangeln« konnte96, so betont er zugleich, daß dies Elementarbuch auch nichts enthalten durfte, was dieser »großen Wahrheit« verspätend entgegengestanden hätte: d.h. es bedurfte eines >Knotens< in der alten Lehre, der die >Sehnsucht< nach einer »noch ungeläufigen Wahrheit«97 wachzurufen vermochte. Dieser Gedankengang bildet den Hintergrund für die Erwähnung des Hiob-Buches. Nachdem in § 28 von der so »ungleichen Austheilung der Güter diediesem haben es die deutschen Bibelübersetzer einzurichten und verschiedentlich zu brauchen, sich die Freyheit genommen. Daß bey dem Segne GOtt und stirb eben an kein Lästern und Verfluchen GOttes zu denken, hat auch unser neuester Uebersetzer des Hiobs bestätiget. Aber ich betaure fast, daß er darum für gut befunden, das Wort segnen überhaupt dabey nicht zu brauchen, sondern dafür zu setzen: »Sage Gott gute Nacht und stirb.« Ich fürchte, daß dieses gute Nacht sagen mehrern zu gemein vorkommen dürfte. Vielleicht hätte es noch eher heissen können, Scheid ab von Gott und stirb. Die deutschen Bibelübersetzer vor Luthern brauchen in dieser Stelle, anstatt segnen, gesegnen, und sagen: Gesegne dem Herrn und stirb. Ich gebe zu, daß weder das eine noch das andere in diesem Verstände ursprünglich Deutsch ist; aber jenes ist es doch nun einmal geworden, und die Stelle unsers Dichters zeigt, was für ein guter kräftiger Gebrauch sich davon machen läßt.« L M 1 1 , S. 175. ' 6 L M 13, S. 421; § 27. »7 L M 13, S. 422; § 30.

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ses Lebens« ohne Rücksicht auf Tugend oder Laster — und von einem >andern LebenKnoten< sich auflöse 98 , die Rede gewesen ist, heißt es im § 29: D e r u n d jener Israelite m o c h t e freylich w o h l die göttlichen V e r s p r e c h u n g e n u n d A n d r o h u n g e n , die sich auf den g e s a m m t e n Staat b e z o g e n , a u f jedes einzelne G l i e d desselben erstrecken, u n d in d e m festen G l a u b e n stehen, daß w e r f r o m m sey auch glücklich seyn müsse, u n d w e r u n g l ü c k l i c h sey, o d e r w e r d e , die S t r a f e seiner M i s s e t h a t trage, w e l c h e sich s o f o r t w i e d e r in S e g e n v e r k e h r e , sobald er v o n seiner M i s s e t h a t ablasse. — E i n solcher scheinet den H i o b g e schrieben zu haben; d e n n d e r Plan desselben ist g a n z in diesem G e i s t e . — 99

Auch hier ist von etwas Generellem die Rede, — von einem dominierenden Prinzip, das die frühjüdische Religionsstufe kennzeichne. Der Themenkreis oder genauere Bezugspunkt, der für diese Fragen nach der Vergeltungslehre und dem diesseitigen Lohn-Strafe-Denken im Buch Hiob gegeben ist, liegt im Disput der mittleren Kapitel, in denen die Vorstellungen vom Zusammenhang von >Tun und Ergehen< zu Wort kommen und vom >Rechten< mit Gott gehandelt wird. Im Wortlaut von Lessings § 29 ist aber offensichtlich nicht von Hiob als der individuellen, leidensbetroffenen Person die Rede, sondern vom Autor des Buches; von dem — wie es heißt: der »den Hiob geschrieben zu haben« scheint und den >Plan< des Buches ganz im >Geist< des frühisraelitischen Lohn-Strafe-Denkens angelegt habe. Auch im § 30, der diesen Gedankengang fortführt und von einem gänzlich unbelasteten diesseitigen >Glück< des Frommen als einem Hindernis handelt, das die >Aufnahme< einer >noch ungeläufigen Wahrheit< verzögern und aufhalten könne, — auch in diesem 30. Paragraphen wird nicht von der konkreten Hiob-Figur gesprochen 100 , sondern auf etwas Generelles und für die Frühstufe des jüdischen Glaubens Symptomatisches verwiesen, — auf etwas, dessen >Knoten< oder ungelöste >Krisis< zu neuer Entwicklungsstufe weiterdrängen müsse.

' 8 L M 13, S. 4zif.; § 28. " L M 13, S. 422; § 29. - Mit relativ ausführlichen Hinweisen ist M. Bollacher (1978) auf die Hiob-Erwähnung in diesen §§ 29 und 30 eingegangen, bezieht sie aber ausschließlich »auf Hiobs restitutio durch Jahwe« und auf das Motiv der »Bewährung und Belohnung des Frommen« (S. 279). Den Unterschied zwischen Hiob und dem, der — wie Lessing sagt — »den Hiob geschrieben zu haben« scheint, bezieht Bollacher in seine Argumentation nicht ein. 100 Die von Lessing im § 30 verwendeten Worte >alt und lebenssath, die in Hiob 4 2 , 1 7 dem Topos für Abraham in i.Mos.25, 8 entsprechen, können — anders, als M . Bollacher (S. 279) mit seinen Hinweisen auf Lessings optimistische Tendenz* und Orientierung »am versöhnlichen Ausgang« der Hiob-Geschichte meint — wiederum gerade als Indikator für etwas Generelles, — für den >Typos< des Frommen gelesen werden.

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So mag denn deutlich sein, daß die Hiob-Erwähnungen in Lessings Schriften vor der Nathan-Dichtung nicht nur der Perspektive und dem Gedankengang der Kontextvoraussetzungen gehorchen, sondern daß diese Hinweise auch jeweils einer anderen Thematik gelten, — einem anderen Teil oder Motivkreis des Hiob-Buches entsprechen. Zudem lassen diese Hinweise — sowohl die der Cardan-Schrift wie die der ErziehungsSchrift — erkennen, daß auch dann, wenn Hiob namentlich genannt ist, Lessing damit ausschließlich einen generellen Sinn zu betonen sucht, etwas vom Exemplarischen der jüdischen Religiosität zu verdeutlichen beabsichtigt hat. Und doch liegt schon darin, wie eigens hervorzuheben ist, insofern etwas bemerkenswert Besonderes, da Lessing sich damit von der gemeinhin üblichen, abstrakt-moralisierenden Verwendung des Hiob-Topos fernhält und, statt nur im allgemeinen auf Geduld und Standhaftigkeit zu weisen, in explikativer Form und argumentierender Ausführlichkeit von der geschichtlich realen jüdischen Religion handelt. Nähern sich in gewisser Weise — und nur eben darin — diese Hiob-Erwähnungen der NathanThematik, so bleiben sie doch mit ihrer unüberhörbaren Akzentuierung des Typischen und der Exempel-Bedeutung auch auf deutliche Weise von der Hiob-Reminiszenz in dem von Nathan Berichteten unterschieden. Eine solche Unterschiedenheit, so darf sogleich hinzugefügt werden, bedeutet noch keineswegs eine Art von Widersprüchlichkeit oder läßt auf die Unvereinbarkeit von zugrundeliegenden Deutungsgedanken schließen. Viel eher ließe sich sogar und nicht ganz unbegründet danach fragen, ob nicht das in dieser Hiob-Reminiszenz aufgerufene oder vergegenwärtigte Problem einen die zuvor erwähnten Hiob-Themen ergänzenden oder sie entfaltenden Sinn anzeige. Auch wenn die Hiob-Reminiszenz der Nathan-Szene unter gänzlich andersartigen Sprach- und Darstellungsvoraussetzungen steht und von ihnen in unabdingbarer Weise bedingt, — ja: erst ermöglicht gesehen werden muß, so ist doch der ihr zugehörige, zentrale Problemgedanke: die conversio sapientis nicht ohne jede Relation zu dem von Lessing in der Erziehungs-Schrift genannten Hinweis auf das Hiob-Buch. Denn die conversio Nathans, seine Überwindung des >Rechtens< und des >vergeltungsbereiten< Hasses ist — wenn auch nicht anders als in der bildhaftmittelbaren Konnotation von Nathans Berichtworten — als Zeichen oder Analogon für den >Übergang< zu sehen, in dem die ältere jüdische Denkund Glaubensstufe überwunden und zurückgelassen werden muß. Allerdings hat Lessing in der Erziehungs-Schrift — anders als Kant mit der ebenfalls auf das Hiob-Buch bezogenen Gegenüberstellung zweier prinzipiell verschiedener Denkungsarten — diese Veränderung, diese Überwin94

dung der jüdischen Frühstufe als einen geschichtlichen Vorgang gedeutet. Er hat im Buch Hiob das Brüchigwerden der alten Denkweise als ein Vorzeichen oder eine Art Vorbereitung für die Veränderung zu neuer Reife in der Religionsentwicklung gesehen, — dabei freilich nicht von irgendeiner personalen religio-Erfahrung gesprochen. Hier ist mit zureichend guten Gründen erneut daraufhinzuweisen, daß in theologisch-exegetischen Kommentaren die letzten Kapitel des HiobBuches als »weisheitsgeschichtliches Dokument«101 bezeichnet worden sind — gerade wegen der >Polemik< gegen die »so festgegründet sich dünkende Uberlieferungslehre«102 der »Rechts- und Gerechtigkeitstheologie«101. Wenn das Buch Hiob als ein solches »weisheitsgeschichtliches Dokument« aufgrund dieser Problemkonstellation auch dahin gedeutet wird, daß es »ein offenbarungsgeschichtliches Ereignis«101 bezeuge, so ist es möglich, darin etwas wie eine gewisse Bestätigung für Lessings geschichtlich deutenden Hiob-Hinweis der Erziehungs-Schrift zu sehen. Damit ist der eine sicherlich gewichtige Unterschied zugleich zu betonen: daß in der Erziehungs-Schrift — anders als in den Kommentaren des Bibeltextes, anders auch als in der Nathan-Konnotation — auf die religioErfahrung des einzelnen Menschen, auf das »Ereignis der Begegnung mit Gott«10' eben keinerlei Hinweis gegeben ist. Dank der poetischen Darbietungsweise, vor allem dank der szenischsprachlichen Möglichkeiten hat das Nathan-Drama dieser außergewöhnlichen Thematik eine — wenn auch indirekte, so doch nicht wenig prägnante Vergegenwärtigung geben können — in einer Symbolisationsmise oder Chiffrierungskunst, die dem Problemgedanken der conversio vom Ende des Hiob-Buches auf eigene und durchaus intensive Weise zu entsprechen vermag. Wenn sicherlich mitzubedenken ist, daß die NathanDichtung den überaus dunklen Realgegebenheiten der spätzeitlichen Lessingschen Lebensphase abgewonnen worden ist, so ist zugleich auch die Subtilität hervorzuheben, mit der die sprachlich-dramatischen Darbie101

Fridolin Stier: »In den Schlußkapiteln des Buches Ijjob fallt eine Entscheidung über den Geist jener Weisheit, deren grundsätzliche Problematik von Anfang an in ihrem Verhältnis zur Offenbarung Iahwes gelegen war. Das Wort Gottes verwirft ihr Wort über Gott. Das weisheitsgeschichtliche Dokument bezeugt ein offenbarungsgeschichtliches Ereignis.« S. 256. - Die Unterscheidung mehrerer Stufen von >WeisheitEreigniswirklichkeit< vergegenwärtigte Erfahrung gibt zudem Anlaß, das, was als Confinium bezeichnet worden ist, nochmals erneut und genauer zu kennzeichnen als eine Erfahrung der Grenze, die auf die Dimension der religio verweist oder hinführt, ohne die Sphäre jenseits dieser Grenze auf unangemessene Weise einzubeziehen; und das heißt hier, ohne mit einem inhaltlich >zugreifendensalto mortale< in die Sphäre des Irrationalen104 angedeutet. Wohl aber hat er mit Deutlichkeit aufzuzeigen gewußt, daß aus dem, was mit Nathans Worten als >schwer begreifbar genannt ist und aus dem Bewußtsein der Grenze erfahren wird, jene Möglichkeit der moralitas hervorgeht, die mit zustimmendem Lebensvertrauen und frei von jeder Zweckabsicht >das Gute< zu tun vermag. Eine Problemkonstellation wie diese — umschreibbar auch als Confinium von moralitas und religio — läßt die Frage oder Überlegung nicht als abwegig erscheinen, ob hier — an dieser Stelle des Nathan-Dramas — etwas in die Wirklichkeit poetischer Darstellung übertragen worden ist, was Lessing in der Erziehungs-Schrift als die Möglichkeit der >dritten Stufeconversio< heißt es auch bei F. Stier: »ein redensartlicher Vulgarismus wäre es, von der Überführung Ijjobs in die Sphäre des Irrationalen zu reden.« S. 250.

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lässig, davon zu sprechen, daß dieses Gleichnis-Bild etwas vom archaischen, das Gottesgeheimnis umkreisenden Gestus und Sinn der biblischen Hiob-Figur bewahrt hat und für die Erinnerung wachzurufen vermag. Denn wie deutlich immer in Lessings Nathan-Szene die veränderten, neuartig weiterführenden, die Hiob-Thematik amplifizierenden Problemgedanken hervortreten mögen, so doch nicht anders als unter dem Vorzeichen einer poetischen Sinngestalt, in der ein Grundgestus des altüberlieferten Hiob-Bildes auf zeitenthobene Weise vergegenwärtigt und bewahrt erscheint. — Die Bedeutung, die dieser Hiob-Reminiszenz in Lessings dramatischem Gedicht zuzumessen ist, zeichnet sich noch um einen Grad deutlicher ab, wenn man sie vor dem Hintergrund der Möglichkeiten und Intentionen der literarischen Hiob-Rezeption im 18. Jahrhundert zu sehen versucht. Dafür lassen sich jedoch hier nur Hinweise auf einige Gedankenlinien oder auf etwas — grosso modo — Tendenzielles geben, da gerade für die deutschsprachige Literatur10' noch kaum zureichend gesichtetes Material verfügbar ist. Zum Grundbestand nahezu aller Hiob-Hinweise zählt der von altersher aus den theologischen Deutungen in die weltliche Literatur übernommene Topos von Hiob als dem »Exempel rechtschaffener Gedult«; ein Deutungsbild, zu dem nahezu stets der Hinweis auch auf die am Ende belohnte »Beständigkeit«106 gehört. Dieser Topos büßt im Laufe des 18. Jahrhunderts seine Geltungskraft kaum ein'°7. Auch dort, wo neue Auslegungsgedanken hinzutreten oder gar schon zur Dominanz gelangen, wie in den Hiob-Versen von Klopstocks >Messias< oder in Herders enthusiasmierten Hiob-Paraphrasen1"8, bleiben die Grundlinien des alten I0

> Für die französische Literatur vgl. Adelheid Hausen. Die Arbeit von Josef Hügelsberger (>Der Dulder Hiob in der deutschen Literatur) nennt keinen Titel für das 18. Jahrhundert; ihr Hauptgebiet ist die frühe Neuzeit, spez. das Schuldrama des 16. Jahrhunderts. Für einen einzelnen Gedicht-Text von Christian Günther siehe: Helga Bütler-Schön. 106 So im >ZedlerLiber Jobi< selbstverständlich die innocentia und patientia, wie es in christlichen Deutungstopoi nach dem neutestamentlichen Text: Jak. 5,11 üblich gewesen ist. '° 7 Wie in Pierre Bayles Wörterbuch (dt. Th. 2, S. 899^) - so nicht weniger stereotyp noch in der Diderot'schen Encyclopédie, Bd. X V I I I , part. II, Sp. iooif. 10(1

Im 10. Gesang des >Messias< ist unter den »leidenden Zeugen« auf Golgatha Hiob, »durch Leiden bewährt«: ein »Gerechter, / Wie es ein Sterblicher bleibt, den der prüfende Richter in Staub wirft.« Vers 723ff. Im Dialog-Teil seiner Schrift >Vom Geist der Ebräischen Poesie< nennt auch Herder Hiob als >Helden< mit dem »Kampf leidender Tugend« ( X I , S. 31 ; f.). Wenn er aber die »Geduld Hiobs« zugleich als die »Bewährung Gottes in seinem Geschöpf« bezeichnet ( X I , S. 320), so läßt sich auch darin - neben der

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Hiob-Topos durchaus sichtbar. Gänzlich ins Moralistische gewendet und zum nahezu allein bestimmenden Deutungsmotiv geworden, begegnet der alte Topos in literarischen Formen und Wendungen, die heroischen Stoizismen folgen oder huldigen. Aus diesem Motivkreis nährt sich auch so mancher der redensartlichen Vergleiche109 — zumeist nicht ohne formelhafte Simplifikation. — Daß die dem älteren Topos verpflichtete und vor allem der Betonung eines exemplarischen Sinnes folgende Hiob-Erwähnung in Lessings Cardan-Schrift sich von den abstrakt-moralisierenden Hiob-Hinweisen unterscheidet, — daß sie mit der ausführlich-genauen Zuordnung zum geschichtlichen Lebensgeschick des jüdischen Volkes eine explizit charakterisierende Konkretisierung des topischen Motivs artikuliert, ist bereits erörtert worden. — Eine andersartige Möglichkeit, das Thema zu deuten, hat ihre Voraussetzungen in der über geraume Zeit und in verschiedenen Versionen sich entfaltenden Gedankensphäre der >Physikotheologie< des 18. Jahrhunderts. In deren »Genese« und Kontext hat der »Einfluß« 110 des Hiob-Buches insofern eine gewisse Bedeutung gewonnen, als die aus dem Theodizee-Disput sich herauslösende Aufmerksamkeit nun solchen naturphilosophisch-teleologischen Problemgedanken gilt, wie sie sich in den die Wunder der von Gott erschaffenen Natur preisenden Hiob-Büchern, etwa in der Elihu-Rede der späten Kapitel, zu bestätigen scheinen. Sicher wären für diesen Problembereich vielfache Unterscheidungen und Differenzierungen nötig, bevor näherhin die Rede davon sein kann, in wel-

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Fülle neuartiger Hinweise auf das Hiob-Buch als poetisches Werk und auf die Bildersprache als »alte Naturpoesie der Erde« (XI, S. 288) — etwas von der als >modern< charakterisierten (so Hans-Peter Müller, S. 1) Herder'schen Gesamtintention erkennen. Dazu gehören nicht wenige der stereotyp oder in Varianten wiederholten Hiob-Hinweise in den Briefen Voltaires. Folgende Briefstellen, in denen >patientia< und >constantia< eigens betont werden, seien hier angeführt. A m 10. 10. 1724 an Marguerite Madeleine D u Moutier, marquise de Bernières: »Je voudrais bien n'avoir à exercer ma constance que contre cette maladie. Mais je suis au fumier près, dans l'état où étoit le bon homme Job, faisant tout ce que je peux pour être aussi patient que lui [...].« - A m 12. 7. 1740 an Bonaventure Moussinot zitiert Voltaire - in Latein - Hiob 1.21 und fährt fort: »Je n'ay pas l'honneur d'être trop bon crétien, mais je suis assez résigné. Souffrir mes maux en patience Depuis quarante ans est mon lot, Et l'on peut sans être dévot Se soumettre à la providence.« Voltaire, Correspondence D 216 u. D 2268. Vgl. auch oben S. 50, Anm. 43. Wolfgang Philipp (1957) hat hervorgehoben, daß dieser »Einfluß« auf die Genese der »Physikotheologie kaum zu überschätzen« sei (S. 117), und erwähnt dies erneut im Evangelischen Kirchenlexikon im Art. >TheodizeePhysikotheologieGeistlichen Oden und Liedern< von 1757 wird nicht nur des Titels wegen genannt, sondern weil es mit mehreren seiner Frageformen und Formulierungen (Vers ¡f.; 9 - 1 2 ; i7f.) an das Hiob-Buch erinnern kann: S. 23 5 f. 112 Albrecht von Haller, S. i8f. - Haller hat sich in seinen >Briefe[n] über einiger noch lebenden Freygeister Einwürfe wider die Offenbarung< (2. Auflage 1778), in denen er sich mit detaillierter Kritik vor allem gegen Voltaire (spez. gegen dessen >La Bible enfin expliqueeBriefen< auch auf Voltaires >Einwürfe< gegen die >beste Welt< und auf die >harte< Klage Voltaires im Lissabon-Gedicht (3. Teil, S. 58 u. ö.) eingeht. Über die >unerklärbare< Entstehung des Übels heißt es hier: » A m Ende liegt der ganze Knoten, wir müssen es wiederholen, in unserem Unvermögen die Freyheit zu erklären.« (Teil III, S. 172). - »Da wir aber nur die kleinste Ecke der Welt, und dieselbe noch unvollkommen kennen, so ist es uns nicht möglich beweißlich zu zeigen, was für ein Verhältniß dieses sittliche Böse, mit dem natürlichen Leiden eines Theils der Geschöpfe vereinigt, zur Summe des mehreren allgemeinen Besten haben könne: und eben so wenig können wir bestimmen, w o Gott die Gränzen dieses Leidens und dieses Verschuldens setzen werde.« (Teil II, S. 62). Joh. Melchior Goeze, Beweis (1774), S. 5.

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»dichterischen Qualitäten des Alten Testaments« 114 , auch die zu nicht geringem Teil durch seine Schrift über die >Poesie der Hebräer< angeregten Deutungsgedanken Hamanns haben aufgrund der »Ästhetisierung der Bibel« 11 ' nicht allein den Psalmen, sondern — neben anderem — auch dem Buch Hiob neuartige poetisch-literarische Würdigungen hinzugebracht. Als ein Höhepunkt in diesem »großen Prozeß der Ablösung ursprünglich theologischer Auffassungen durch moralische und ästhetische Betrachtungsweisen« 1 ' 6 dürfen vor allem Herders Auslegungen — und unter ihnen nicht zuletzt seine hochenthusiasmierten, poetischen Hiob-Paraphrasen gelten. — Doch in unserem Zusammenhang ist nochmals auch dies anzumerken nicht unnötig, daß auch in diesen Herderschen Auslegungen von Grundgedanken des Hiob-Buches eine generalisierende Intention unverkennbar ist. Hier gibt es — wenn auch im Zeichen spätzeitlichen religiös-ästhetischen Naturempfmdens des 18. Jahrhunderts — eine gleichsam ins Elementarische und >Anonyme< hineingedachte Schöpfungs- und Naturverherrlichung, die mit Worten wie »Thaten der ganzen Schöpfung« 1 ' 7 oder auch einer sicherlich neuartig verstandenen »Theodizee des Weltmonarchen«118 ihren spezifischen Ausdruck findet. Damit mag sich in neuer Form abzeichnen und im vergleichenden Hinblick auf diese zwei andersartigen Akzentuierungen von Themen des Hiob-Buches nochmals besonders klar herausheben, in welchem Maße — aber auch mit welchem Rang und Gewicht — Lessings Hiob-Reminiszenz einen besonderen Deutungsgedanken für sich in Anspruch nimmt. Seine dem Nathan-Drama eingefügte Hiob-Chiffre, die in Form poetischer Verweisung von einer persönlichen und auch >person-geschichtlich< gravierenden Erfahrung in der dialogischen Gotteskonfrontation zu sprechen vermag, zeigt etwas an, das — der Schlußwendung, der conver" 4 Dieter Gutzen, S. 91. - Wenn sich allerdings schon 1740 in Johann Jacob Breitingers >Abhandlung von den Gleichnissen< eine ausführliche Passage S. 351 ff. mit breiter Zitierung aus Hiob 3 9 über die Beschreibung des Pferdes als Beispiel für die »Vortrefflichkeit dieser Schilderung« nach dem »Morgenländischen Geschmack« (S. 353) mit Vergleichung antiker Autoren findet, so geht das auf eine relativ alte Tradition zurück, die z. B. bei Augustin Calmet in folgendem Textbeispiel in ausgeprägter Form vertreten ist: Über die Sprache des Buches Hiob: »Ihre größte Schönheit bestehet in der Stärke des Ausdrucks; in der Pracht und Kühnheit der Gedanken; in der Lebhaftigkeit der Gemüthsbewegungen; in dem Erhabenen der Gemälde [...]. Ich glaube nicht, daß man in dem ganzen Alterthume ein reicheres, erhabeneres [...] und rührenderes poetisches Stück antreffen werde, als dieses ist.« Biblisches Wörterbuch, 2. Theil (dt. 175 2), S. ; 34. "> D. Gutzen, S. 42 u. ö. " 6 Ebd., S. 90. Herder, SW X I , S. 319. " 8 Ebd., S. 316.

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sio sapientis des Hiob-Buches ablesbar und vergleichbar — eine der eigenen Betroffenheit abverlangte, an die >Grenze< des eigenen Seins gemahnende Einsicht und religio-Erfahrung genannt werden darf. Es ist für die Nathan-Dichtung damit wohl nicht zu viel gesagt, daß sie nicht allein im Kreis von Lessings Œuvre, sondern auch im Umkreis der zeitlich-epochalen literarischen Gegebenheiten und Intentionen mit ihrer Art der Hiob-Chiffre und Hiob-Verweisung als etwas Singulares, — etwas nachgerade Exzeptionelles zu bezeichnen ist. —

d. Parabolische Ästhetizität des Nathan-Dramas Es war nötig, von mehr als einer Auslegung —, vom Wechsel der Deutungsaksçente anläßlich der Hiob-Thematik zu sprechen. Vor dem — nur skizzierten — Hintergrund des im 18. Jahrhunderts begegnenden Interesses für dies Thema und nicht zuletzt mit den in Lessings Schriften dargebotenen Hiob-Hinweisen hat sich erneut und in durchaus klaren Konturen abgezeichnet, welches Gewicht und welchen Rang die in Lessings Nathan-Szene IV,7 konnotativ vergegenwärtigte Hiob-Reminiszenz als Deutungschiffre zu beanspruchen hat. Hier gegen Ende dieser Erwägungen sollte zudem ein Hinweis darauf nicht fehlen, daß eben diese Szene mit der ihr eigentümlichen Thematik auch für den strukturellen Zusammenhang wie für die Fragen nach generischen Bestimmungsmomenten von Lessings dramatischem Gedicht eine eigene Bewandtnis besitzt. Ohne die Frage nach der integrativen Bedeutung gerade dieser Szene für den Werkstil und die Gesamtstruktur wäre kaum zureichend zu urteilen über die Signifikanz, — über das eigentümlich Singulare dieses Lessingschen Dramas. Es darf wohl als nachdenkenswert erscheinen, wenn Karl Jaspers davon spricht, daß das, was er eine »philosophische Tragödie« nennt, in der sich eine »Überwindung des Tragischen« auf dem »Grunde tragischen Wissens« vollziehe, »ein einziges Mal in einer darum einzigen Dichtung dargestellt sei: in Lessings Nathan dem Weisen, dem neben Faust tiefsten deutschen dramatischen Werk«" 9 . Daß Lessings Drama »nicht Tragödie« sei, wird auch von Jaspers eigens und unter Hinweis auf »Nathans Hiobsschicksal« hervorgehoben. Nathan — »im ungeheuersten Leid« zu " ' Karl Jaspers (1947), S. 949. Jaspers verweist gleichen Sinnes auf die »Tragik überwindende Frömmigkeit« Hiobs und Nathans des Weisen im Kapitel »Chiffren der existentiellen Situation« seines Buches: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung. S. 34;. IOI

sich gekommen — habe »die Tragik in seiner Vergangenheit«; — in solchem Geschehen und aus »tragischem Wissen« vermag zu »erwachsen, was die Dichtung darstellt«120. Lessing hat seine Nathan-Dichtung keiner generischen Norm unterworfen; seine Intention galt, so sagt es der von ihm gewählte Gattungstitel, weder einer >Tragödie< noch einer >KomödiePathos< und >RäsonnementParabel in der Parabel< herausstellt«126, so verlangen gerade Hin,2

° Karl Jaspers (1947), S. 950. — In wie hohem Maße die Nathan-Szene IV,7 für Fragen nach der Gattungszuordnung bestimmend ist, zeigt auch eine diametral entgegengesetzte Deutung: G . Fittbogen sieht im Eudämonismus als einer »Nachwirkung des Deismus« ein gewichtiges »Stück von Lessings Gesamtanschauung« und sucht zu betonen, die Aufklärung — und mit ihr Lessing — »preist selig, die da nicht Leid tragen«. Dem Nathan-Drama fehle trotz der von Nathan einst erlittenen Schmerzen doch »der tragische Ton«. Denn »das Entscheidende« sei: »dies Leid [Nathans] steht in keinem organischen Zusammenhang mit der Betätigung seiner menschlichen Religiosität, ist keine Folge davon. Es muß also dabei bleiben: dieser religiösen Dichtung fehlt zur vollen Größe die tragische Tiefe.« S. 8of. 121 Friedrich Schiller, >Über naive und sentimentalische DichtungParabel in der Parabel< schon bei Volker Nolle (1977) und bei Karl Eibl (1977) anzutreffen ist; zu ergänzen wäre, daß Wolfgang Buschmann davon schon 1968 (S. 730) gehandelt hat. Frank M. Fowler (>Parable and MimePathos< und >RäsonnementVorfabel< bietet — »auf keinen Fall übergangen werden« 1 2 7 darf, eine für die parabolische Gesamtstruktur erkennbar konstitutive Bedeutung zu? Ist es möglich, nach dem »parabolischen Integrationsgestus« 1 2 8 zu fragen, — oder, einfacher formuliert: nach der Bedeutung der parabolischen Zeichensprache, die die in diese Szene eingefügte Hiob-Reminiszenz für das Werkganze haben mag? Z u r ästhetischen Besonderheit dieser Szene gehört es gewiß, daß in Nathans Redetext beides: das >Pathos< als Vorzeichen des einst Geschehenen und das distanzierende >Räsonnement< der präterital-berichtenden Rede verbunden sind; daß demnach hier die Stilformen episch-erzählender und dramatisch-dialogischer Darbietung (auch im mitgeteilten >inneren Dialog< Nathans) ineinandergreifen 129 . A u c h wenn dies der Darbietungsweise der Szene 1 1 1 , 7 und der Ringerzählung ähnelt, w i r d mit dem v o n Nathan Berichteten eben der Geschehnisbereich der dramatischen >Fabel< betont, der bis in die >Lösungen< der Schlußszene hinein die dunkle Sphäre des Ganzen zeigt 1 ' 0 ; die Zerstörtheit beider —: der islamisch-christlichen wie der jüdi127 1,8

1,0

H. Fuhrmann, S. 74. Klaus Bohnen (1978), S. 62. Da die Frage nach der Abweichung des Nathan-Dramas von den Postulaten der Hamburgischen Dramaturgie oft aufgeworfen wird (vgl. z. B. Barner/Arbeitsbuch, S. 303), sei hier anläßlich dieser Darbietungsweise in der Nathan-Szene folgender (wenn auch auf Eurípides' Drama bezogener) Passus aus dem 48. Stück der >Hamburgischen Dramaturgie< angeführt: »Was will man endlich mit der Vermischung der Gattungen überhaupt? In den Lehrbüchern sondre man sie so genau von einander ab, als möglich: aber wenn ein Genie, höherer Absichten wegen, mehrere derselben in einem und eben demselben Werke zusammenfliessen läßt, so vergesse man das Lehrbuch, und untersuche blos, ob es diese höhere Absichten erreicht hat. Was geht mich es an, ob so ein Stück des Eurípides weder ganz Erzehlung, noch ganz Drama ist? Nennt es immerhin einen Zwitter; genug, daß mich dieser Zwitter mehr vergnügt, mehr erbauet, als die gesetzmäßigsten Geburten eurer correkten Racinen, oder wie sie sonst heissen. Weil der Maulesel weder Pferd noch Esel ist, ist er darum weniger eines von den nutzbarsten lasttragenden Thieren? —« LM 9, S. 390. Wenn >Nathans Schicksalsbericht< und die Szene IV,7 nicht zureichend beachtet werden, verkenne man »den tragischen Ernst des Stückes«: »Ich glaube behaupten zu dürfen, daß erst von dieser Szene aus sich die eigentlich existentielle Tiefe des Stücks erschließt«, so Heinz Flügel (S. 86f.) in seinem Nathan-Essay. — Es sei hier hingewiesen auch auf die Nathan-Aufführung Oktober 1933 zur Eröffnung des Theaters des Jüdischen Kulturbundes in Berlin; der Regisseur Karl Loewenberg ließ Nathan »am Ende nicht in die Festlichkeit der Familienvereinigung einbeziehen, sondern einsam und fast tragisch umdüstert in sein Haus zu seinem Betpult zurückkehren«. Ferdinand Piedmont, S. 88f. Hier wird auch die Kritik in der »Jüdischen Rundschau« zitiert: »In diesem Schluß ist wirklich etwas vom Judenschicksal angedeutet«. — Zum >Außenseiterschicksal< Nathans vgl. Hans Mayer (1984), S. 364. 103

sehen Familie. Dies ist der stets präsente Hintergrund, die dunkle Folie und Voraussetzung des gesamten dramatischen Vorgangs. Daß dies nicht zu >pathetischem< Konflikt und Parteienkampf ausgeweitet ist, erscheint als unverkennbare Absage 1 ' 1 — oder doch als das Vermeiden jener Gattungs-Pathetik, die nicht wenige der Sturm-und-Drang-Dramen bevorzugen und zur Reanimierung des in den bürgerlichen Trauerspielen< vermißten tragischen Schicksals< auffallig genug forciert haben; auch dies sicherlich ein Zeichen für die exzeptionelle Stellung des Nathan-Dramas in der Gattungsgeschichte dieser Zeit. — Doch in all dem liegt noch keine Antwort auf die Frage nach dem strukturellen Konstituens oder der integrativen Bedeutung der der Nathan-Szene eingefügten Hiob-Reminiszenz. Müßte doch eine zweifache Relation aufzuweisen möglich sein: neben derjenigen für die dramatische >Fabel< auch ein Bezug zur Ringerzählung, der Parabel der Szene 111,7- Mehr als manche andere der Dramenszenen weist die Szene IV,7 mit Nathans Bericht und den Hinweisen auf die religio-Erfahrung, die Einblick gewähren in das so schwer in expliziter Form zu fassende Problem des Confiniums zwischen moralitas und religio, auf die Ringparabel zurück. Nicht allein mit der Wiederaufnahme sinnschwerer Einzelworte (>Ergebenheit in GottSinn< das heißen darf, was als geheimer Mittelpunkt oder als >geheimes Wissen< in der gedanklichen Dimension der Ringerzählung präsent ist — und doch nur aus deren bildlich indirekter Mitteilungsform abzulesen und zu verstehen möglich ist. Daß für die die Dramenstruktur bestimmende Verbindung von >Fabel< und >Parabel< immer auch in nicht wenigen Szenen Signale oder Verweisungszeichen gegeben werden, die den Bezug auf den gemeinsamen Deutungshorizont: den in der Ringerzählung inexplizit mitgehenden Grundgedanken anzudeuten imstande sind, schließt keineswegs aus, der einen oder anderen Szene einen höheren, besonderen Grad von Verweisungs/«tensität oder Nähe zu diesem Grundgedanken zu attestieren. Diese Szenen (und neben der Szene 1,2 mit Nathans Hinweisen auf die als >Wunder< zu begreifende Wirklichkeit1'2 ist es vornehmlich die Szene IV,7) sind — weniger als andere — als Bilder der >Anwendung< oder der ins Pragmatische 1,1

,Ji

Anders W. Dilthey: E r rückt Lessings >Nathan< in die Nähe von Goethes >Mahomet< oder >PrometheusIdeendramen< und »Symbole«, die »ewige Relationen zur unsichtbaren Welt« zeigten. S. 49. Daß Schiller in seiner Bühnenbearbeitung diese Szene 1,2 um gewichtige Verse gekürzt hat, ist keineswegs angemessen damit zu erklären, daß - wie P. Demetz (S. 154) meint diese Verse »das nur ungenügend Integrierte der Religionspolemik« zeigten. Die >Wunderdiskussion< gehört zur unentbehrlichen Gedanken- und Deutungsebene des Dramas.

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übertragenen Exemplifikationen von Moralpostulaten zu verstehen. Anders als solche monolinearen Verbindungen oder die Aufforderung zur >Applikation< lassen Fabel und Parabel in wechselseitigen Verweisungszeichen eine Art von Spiegelung oder »Spiegelbildlichkeit« 1 " erkennen, die sich aus dem sinngemäßen Bezug zur gedanklichen >Mitte< und Gesamtintention des Dramas ergibt. — Will man diese Vorstellung vom >Spiegelbildlichem für die genannten Szenen aufnehmen und weiterdenken, so wäre es vor allem für die Relation und Spiegelungs/»/i«J/>a/ zwischen Nathans Ringerzählung und seiner Bericht-Szene in IV,7 nicht unangemessen, davon zu sprechen, daß damit gleichsam ein Interferen^punkt der Sinnzeichen aufzuleuchten vermag: eine Art von intensivierender Bestätigung des gleichen, beiden Szenen mitgegebenen >Sinn-GedankensMitte< des Ganzen oder auch als >geheimes Wissen< zu verstehen ist, in das Einblick zu geben die eigentliche Intention des in diesem Poetizitätsstil sprechenden Dramas ist. - Dies Wort >geheimes Wissen< hat — unter Hinweis auf das Textwort von der »geheimen Kraft des Steins« in 111,7 — Klaus Bohnen verwendet, um das, was der »parabolischen Präsentationsweise« des Textes 1 ' 4 als Gedanken-Sinn zugrundeliegt, zu kennzeichnen. Zugleich damit hat er auf eine gewichtige Besonderheit im Sprachmodus der Szenen 111,7 und IV,7 aufmerksam gemacht: auf die in beiden Szenen begegnende imperative Rede, wie sie im >Rat des Richters< und ebenfalls in Nathans Bericht in den Worten >der Vernunft< vorkommt (>eifre .. .übe .. .ErfahrungCandide< — das von Lessing gewählte Nathan-Motto schon als ein Zitatwort von mehrfach mittelbarem Sinn. »Introite, nam et heic Dii sunt«: diese Form appellativen Sprechens, — dieser unverstellt offene Anredegestus ist gleichwohl einer Transposition bedürftig, damit die Bildlichkeit der Zitatrede ebenso wie ein damit zu verdeutlichender >Bezugproprie< zu verstehende Mitteilungszusammenhang sichtbarer zum Vorschein kommen können. — Obschon die weitausgreifende und differenzierte Untersuchung von Hendrik Birus den ungewöhnlichen »Bedeutungsreichtum« 8 des Lessingschen MottoZitats aufgewiesen hat und auf die Vielfalt der mit dem Gellius-Namen verbundenen Überlieferungsgeschichte eingegangen ist, bleibt sie doch für die deutende Erschließung dieser Lessingschen Zitation bei der Feststellung stehen, daß hier mit dem »Einladungsgestus« die »zum Eintreten Aufgeforderten«, wie ebenso auch »der Raum und seine Götter völlig unbestimmt bleiben«9. Demgegenüber darf und sollte jedoch in unserem Zusammenhang mit zureichender Deutlichkeit betont werden, daß der schlichte und zugleich in ebenso genauer wie konkreter Unmittelbarkeit denkende Sinn der im Motto metaphorisch anberaumten Verweisung nicht als der unbedeutendste zu gelten hat: >Auch hier in dieser DichtungGestalt< von Wahrheit; — jenes wesenhaft >WahreGötter< — auch in der Wirklichkeit profanen Lebens anzutreffen seien. Erst wenn man dies >auch hier< in Lessings Zitat-Motto vollen, ernsten Sinnes auf das >hic et nunc< dieser konkret vorliegenden, mit diesem Titel-Annoncement versehenen Nathan-Dichtung bezieht, — wenn man es in allen seinen Bedeutungsnuancen zu durchdenken versucht, wird die gedanklich souveräne Wahl und die Kunst der Signifikation, die aus diesem Motto-Wort Lessings spricht, genauer erkennbar. Ist doch das Zitat schon durch seine Herkunft aus gelehrt-antikischer Tradition von einer gewissen Zeitferne und >NeutralitätGötter< unterstrichen und verdeutlicht erscheint, so daß eben damit jeder allzu brisante und parteiisch belastete Streitbegriff dieser Jahre umgangen ist.10 Auf diese Weise ist das Titel-Motto geeignet, zumindest eine Differenzqualität des Stücks von der Tagespolemik und von den in diesen Jahren für Lessing existenten direkten Theologen-Streitigkeiten anzuzeigen, — so wie es die brieflich von Lessing mehrfach bekundete Absicht mit diesem Drama und für die poetischen Mitteilungen von seiner »alten Kanzel: dem Theater« gewesen ist. Dies heißt allerdings keineswegs, daß diese dem Tagesstreit enthobene Intention etwa die deiktische Potenz des Mottos verstellt oder geschmälert hätte. Vielmehr läßt sich behaupten, daß gerade die Indirektheit und die bildlichen Wendungen des Zitathinweises die imperativappellative Gestik des zu erschließenden Sinnzusammenhangs nicht vermindern, sondern daß sie auf durchaus deutliche und motivierende Weise darauf hinwirken, die mögliche Bewandtnis dieser deiktischen Vor-Rede nicht unentziffert auf sich beruhen zu lassen. So darf denn nochmals betont werden, daß das Motto zum NathanDrama über die Polemik der Lessingischen Theologen-Dispute weit hinausreicht und zugleich doch auf die im Drama dargebotenen Problemgedanken mit Nachdruck vorauszuweisen imstande ist. Dies Motto darf als ein Verweisungszeichen gelten, das jedem Leser — oder jedem zu welcher 10

Hermann Timm hat Lessings »Aktualisierung des Mottos« anders zu deuten gesucht: »Vordergründig klingt es so, als wolle er [Lessing] sich damit begnügen, von Theologen und Philosophen, den anerkannten Sachwaltern des Höchsten, als gleichberechtigt anerkannt zu werden, Seite an Seite neben ihnen, nicht besser, aber auch nicht geringer als sie. In Wahrheit - denn so bescheiden ist Lessing nicht — geht es um den Primat des Dichtertums im Endreich des Geistes. Nicht auch hier, sondern nur hier wird Gott im Geist und in der Wahrheit gedient, der kanonischen Erinnerung getreulich nachfolgend, sie originär nachahmend.« (1983) S. 113f.; - eine höchst problematische, schwerlich aufrechtzuerhaltende - da Lessings sonstigen Hinweisen und seiner Poesieauffassung inadäquate — Deutungsweise.

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Zeit auch immer verstehensbereiten Theaterpublikum — zugesprochen erscheint. Und es scheint darüber hinaus auch möglich, ihm noch einen in den geschichtYich-epochalen Problemgegebenheiten gründenden Sinn abzulesen oder zuzuerkennen. Will es doch scheinen, als deute sich mit dem Motto ein nicht zufallig in dies Zitat und diese seine Bildlichkeit transponierter Gedanke an, der — gerade durch die mit seiner sprachlichen Anredeform provozierten Allusionen — wie eine Geste des Antwortens weit hinausweist auf ein geistig-historisches Problemfeld und einen bedeutungsreichen Sinnbezirk religionsphilosophischer Fragen. War bisher in unserer Auslegung des Nathan-Mottos die Rede vornehmlich von dem >etiam heic< — als einem Hinweis, der unmittelbar und konkret auf das hier annoncierte >dramatische Gedicht< Lessings zu beziehen ist und der näherhin gerade den dem Drama mitgegebenen Problemfragen nach der Wahrheit der Religionen gelten mag, so lenkt doch die mit dem Bildsinn des Mottos überaus deutlich sich heraushebende Einladungsgeste des >Introite< die Aufmerksamkeit auf einen noch anderen und hier eigens zu erwähnenden Gedankenzusammenhang. Es scheint, als sei dies >Introite< durch eine gewisse Nähe oder Verwandtschaft in der Aufforderungsgebärde imstande, die Erinnerung an einen ebenfalls in bildlicher Sprache überlieferten Einladungsgestus wachzurufen und die Frage nach der Vergleichbarkeit der beiden Sprachgesten oder -intentionen aufkommen zu lassen. Das Nathan-Motto legt nahe, an jenes biblische Einladungswort zw denken, das einem der Gleichnisse aus dem 14. Kapitel des Lukas entnommen ist; an das Wort aus dem Vers 2 3, das — aus dem ausführlichen Gleichnis-Text herausgelöst — in Luthers Übersetzung lautet: >Nötige sie her ein zu kommen*; jenes Wort, das seine besondere Bekanntheit wohl in seiner lateinischen Version: >compelle eos intrare< gewonnen hat11. Dies allerdings ist eine Bekanntheit, die gerade nicht aus unmittelbarer Bibellektüre sich herleitet oder der Wiedergabe der vollen Gleichnis-Erzählung zuzuschreiben ist, sondern die einer negativen, aus Mißdeutung und Mißbrauch resultierenden Auslegung des Worts —: als einer Formel für >Missionsfanatismus< und Zwangsbekehrung — gefolgt ist und unter diesem Vorzeichen für den religionskritischen Disput im 18. Jahrhundert durchaus präsent gewesen ist. >Compelle eos intrare< — >Introite, nam et heic Dii suntc diese Wendungen erweisen sich in ihrer imperativen Satzform wie in ihrem bild-

" Die Textstelle wird von Augustinus zur Begründung von Zwangsmaßnahmen der Missionierung mehrfach zitiert in: >Contra Gaudentium donatistarum episcopum libri duo.< Il6

lich-deiktischen Charakter als komparabel. Bei näherem Vergleich aber tritt auf unübersehbare Weise zutage, daß — und in wie hohem Maße die mit dem Nathan-Motto artikulierte Aufforderung in einer freundlichoffenen Sprachgebärde ihren Ausdruck findet. Redet sie doch die Eingeladenem unmittelbar an; sie wendet sich — anders als der lateinische, ein >Objekt< benennende Imperativsatz — in persönlicher Sprechweise ihnen zu. Eine Sprachgebärde, die darin schon dem von ihr >proprie< und inhaltlich gemeinten Gedanken adäquat erscheint. Sie gibt einen irenischen Sinn zu erkennen und bekundet somit als eben dies im Motto wahrzunehmende Vorrede-Zeichen eine deutliche Entsprechung zu den Hinweisen verbindenden, versöhnlichen Geistes, der dem Nathan-Drama insgesamt als ein postulierter Grundsinn abzulesen ist. Aufgrund dieses >Versöhnungs-Geistes< ist Lessings Nathan-Dichtung in Zusammenhang gesehen worden mit jenem Werk, das in humanistischer Liberalität die Abweisung der Zwangsbekehrung zum Problemthema eines eindrucksvollen Religionsgespräches gemacht hat: Jean Bodins >Colloquium HeptaplomeresTraduit de l'angloisCommentaire< einen knappen, akzentuierenden Zusatz gegeben: >Tractat von der allgemeinen Toleranz oder Philosophischer Commentar über die Worte Christi Nöthige sie herein zu kommen.«'9 In dieser Zeit um 1770 ist es gewiß nicht allein diese Bayle-Übersetzung gewesen, durch die die kritische Aufmerksamkeit auf >Geist und Buchstabe« des biblischen >compelle eos intrare« erneut und nachdrücklich gelenkt werden konnte. In seinem >Traité sur la Tolérance« — früh bereits anonym ins Deutsche übersetzt und ohnehin viel beachtet20 — hat schon Voltaire in einem der Kapitel unter der an Bayle erinnernden Titelfrage: >Hat Christus die Intoleranz gelehrt?«21 Gelegenheit genommen, ausführlich auf das Lukas-Gleichnis einzugehen, um die Mißdeutung des >compelle-intrare-Worts< unmißverständlich und gleichen Geistes wie Bayle zurückzuweisen. Wenn hier in unserem Ausblick und gegen Ende dieser Erörterungen auf Daten wie diese — und vornehmlich auf Pierre Bayles Commentaire philosophique« hingewiesen wird, so geschieht das weder um eines vagen Aperçus willen, noch mit einer — ohnehin kaum plausibel erscheinenden — Frage nach möglichen direkten > Anregungen oder Herleitungen für Lessings Nathan-Thematik. Es sollte vielmehr mit angemessener Zurückhaltung auf etwas anderes aufmerksam zu machen nicht ausgeschlossen

In vier Teilen mit Anmerkungen, Wittenberg 1 7 7 1 . — Als anonymer Übersetzer wird Daniel Semerau genannt: s. Johann Georg Meusel, Bd. 13, S. 89. 10

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Erste anonyme Übersetzung: Leipzig 1764. - Rez. A d B 9/2, 1769, S. 3 4 - 3 6 ; vgl. auch Friedrich Nicolai in A d B 21, 1774, S. i 6 j f { . Voltaire, >Traité sur la tolérances Chap. X I V . S. i44ff.: »Si l'intolérance a été enseignée par Jesus-Christ? — L'autre parabole est celle d'un particulier qui invite ses amis à un grand souper; [...] dit à son valet, Aileç dans les grands chemins, et le long des hayes, et contraigne^ les gens d'entrer. Il est vrai, qu'il n'est pas dit expressément que cette parabole soit une figure du Royaume des Cieux. On n'a que trop abusé de ces paroles, Contrains-les d'entrer; mais il est visible qu'un seul valet ne peut contraindre par la force tous les gens qu'il rencontre, à venir souper chez son maître; et d'ailleurs, des convives ainsi forcés, ne rendraient pas le repas fort agréable. Contrains-les d'entrer, ne veut dire autre chose, selon les commentateurs les plus accrédités, sinon, Priez, conjurez, pressez, obtenez. Quel raport, je vous prie, de cette prière et de ce souper à la persécution? Si on prend des choses à la lettre, faudra-t-il être aveugle, boiteux, et conduit par force, pour être dans le sein de l'Eglise?« (S. 145 —147).

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sein: auf gewisse >Zeichen< oder >Signaturen< von solcher Art, die auch über einen weiträumigen Zeitabstand hin ein besonderes Problemfeld anzuzeigen imstande sind; Lineamente gleichsam eines epochalen Zusammenhangs — so sei nochmals mit anderem Wort zu verdeutlichen gesucht —, die für eine geistesgeschichtliche Phänomenologie nicht ohne Auskunft und Bedeutsamkeit sein mögen. Das Titel-Annoncement des Bayleschen >Commentaire< und das der Lessingschen Nathan-Dichtung stehen — so ließe sich in plakativer, thesenhafter Abkürzung sagen — wie korrespondierende Zeichen oder Signalisationen einander in einem eigenen großräumigen Problemfeld gegenüber; — unterschiedlich genug in Form und Sinn ihrer Aussage und doch in erkennbarer Beziehung zu einer ihnen beiden gleicherweise inhärenten Grundfrage. Was aus der Thematik und aus dem Sprachmodus jedenfalls einiger Teilelemente dieser Titel-Annoncements beider Werke zu erkennen möglich wird, weist auf Problem Intentionen und zugleich auch Gegensätzlichkeiten der Vtohlcmartikulation, die für den historischen Ort dieser Werke — zu Beginn und zu Ende einer jeweils eigenartigen Krisen- oder Schwellenzeit der Epoche — symptomatisch erscheinen. In beiderlei Zeichensprache der Werktitel wird etwas lesbar, was nicht allein die Position jedes der beiden Autoren in den das Jahrhundert durchziehenden >grands combats de la foi et de la raison< kennzeichnet, sondern auch die jeweils notwendig oder möglich gewordene Art ihres persönlichen, dem zeitgeschichtlichen Disput abgewonnenen Antwortgestus wahrnehmen läßt. Wenn Bayle das biblische Zitat in seinem Titel mit demonstrativer Aussage über das Ziel seiner philosophischen Polemik und mit einem explizit urteilenden Wort verbindet — und wenn, auf der anderen Seite, Lessing zum Namen seiner Titel-Figur das metaphorisch sprechende Zitat-Motto als eine eigenwillige literarische Chiffrierung seiner Intention hinzufügt, so läßt sich daran ermessen, wie gravierend und bedeutungsträchtig die Veränderungsprozesse gewesen sind, aus denen solche Möglichkeiten der Problemkennzeichnung und des indirekten, poetischen Antwortens haben hervorgehen können, wie sie in Lessings Dichtung der Spätzeit begegnen. Wohl ist — grosso modo — daran zu erinnern, daß das eine große, die gesamte Epoche in Atem haltende Grundproblem: der Widerstreit, die Spannung zwischen Vernunft und Glauben für beide, Bayle und Lessing, von höchster und weitreichender Bedeutung gewesen ist. Keiner von ihnen ist dieser Problematik mit einseitigen, radikalen Antworten — sei es mit >Skepsis< oder mit >Fideismus< allein — ausgewichen; jeder von ihnen hat auf jeweils eigene Weise den Grenzsituationen des kritischen Denkens eine zureichende Klärung der historisch vorgegebenen Grundfragen ab120

Zugewinnen versuchen müssen. Gerade aber mit dem Blick auf diese übergreifende Problemkonstellation tritt die besondere geschichtliche Signifikanz der beiden Werke, von deren Titel und Themen hier die Rede ist, nochmals deutlich zutage. So läßt sich denn aus der Sinn- und Zeichensprache, die Lessing dem Nathan-Titel mitzugeben gewußt hat, etwas ablesen, das wie eine aus der >SacheResponsion< auf das Baylesche Werk anmutet; — anders formuliert: eine gewiß unter anderem Vorzeichen erscheinende, aber in der Grundintention analoge Antwortgeste — eine dem Commentaire-Titel angemessen entgegenstehende >EntsprechungTonsEntsprechungTakt< gehorchend — nicht mehr unverhüllt sich zu erkennen gibt, sondern nur auf indirekte Weise vernehmbar ist und in bildhaft chiffrierter Weise sich mitteilt; — als ein Respons allerdings nun auch, der dem zugrundeliegenden Problemsinn mit einer neuartigen Gelassenheit und Irenik gerechtzuwerden weiß — zumal die poetische Zeichensprache über eine Mitteilungs- und Überzeugungskraft zu verfügen gelernt hat, die der aggressiven Polemik nicht nur enthoben, sondern auch überlegen genannt werden darf. Wie geschichtlich notwendige Gegenbilder von vergleichbarem Problemsinn, doch andersartig gewendeter Signifikation, — so ließe sich charakterisieren, was um 1680 in Bayles Commentaire-Titel und was 1780 in Lessings Nathan-Titel zur Sprache kommt. Daß das Nathan-Motto mit seinem Introite-Gestus immerhin in einer sinnverwandten Bildlichkeitsform zu sprechen weiß wie das Lukas-Gleichniswort in seinem ursprünglichen, unverstellt verstehbaren biblischen Bildgestus, das — so wäre es wenigstens denkbar — könnte das mit Lessings theologischen Streitigkeiten hellhörig gewordene zeitgenössische Publikum herauszuhören fähig und bereit gewesen sein. 121

Unabhängig jedoch auch von einer solchen Annahme, darf es wohl vollauf genügen, wenn in und mit dem Sprachgestus des Nathan-Mottos der von Lessing intendierte religionsphilosophische, irenische Sinn angemessen wahrnehmbar zu werden vermag; wie denn die Nathan-Dichtung in ihrer poetischen Sprachgestalt verstehbar sein möchte als ein Werk von parabolischer Ästhetizität, das mit luzider Gedankenkraft und künstlerischer Intensität davon zu sprechen weiß: >etiam hic dei suntfides historica
GesichtspunktJohn BuncleRecherches< — Anlaß zu dem Ärgernis, auf das Lessings Bemerkung im oben genannten Brief vom 9. 1. 1771 sich bezieht: »Der Name ist mir so ekel geworden, daß ich auch nicht einmal die Wahrheit von ihm lernen möchte.« L M 17, S. 366. Thomas Amory, >The Life of John Buncledivine< and superior to any form of religion at which unaided human reason could arrive.« Flajole verweist dafür auf die Seiten der Ausgabe London 1770; I, S. i66f.; S. 129; II, S. 2o;f. 12 J u b A V I I , S. 301: aus Mendelssohns Schreiben an den Erbprinzen von BraunschweigWolfenbüttel vom Frühjahr 1770. ,J J u b A V I I , S. 103 u. ö. in: >Gegenbetrachtungen über Bonnets Palingenesiesinaitische Offenbarungc »Hier habe ich also eine Geschichtssache, an die ich mich sicher halten kan. Von hier kan ich ausgehen. Was dieser Geschichtssache widerspricht ist Unwahrheit.« JubA VII, S. 88. - Zum Begriff >Geschichtswahrheitenc JubA VIII, S. 158; S. 160; S. a.b. '' JubA VII, S. 300. - Die leicht korrigierenden Veränderungen des Wortlauts sind aufschlußreich. Im Brief des Erbprinzen hieß es: »Wie sehr wünschte ich die Betrachtungen über den Bonnet zu sehen; denn nichts kann Einem unsers Glaubens wichtiger sein, als zu bemerken, wie ein unter dem Mosaischen Gesetz lebender Philosoph den historischen Beweis von Moses führt, in welchem wir mit ihm einstimmig sind, und wie zugleich denen historischen Beweisen ausgewichen wird, auf welchen der christliche Glaube sich gründet, welcher ja größtentheils auf Zeugnissen beruht, welche unter dem Mosaischen Gesetz als Göttliche Eingebung angenommen werden.« JubA VII, S. 299. — Den zweiten Teil der Frage nennt und behandelt Mendelssohn an späterer Stelle (S. 304) gesondert. Bruno Strauss, S. So auch in der Encyclopaedia Judaica, Bd. 11, Sp. 1329: »In 1769, he became embroiled in a dispute on the Jewish religion, and from then on, he confined most of his literary activity to the sphere of Judaism.« — Darüber vgl. vor allem die ausführlichen Darlegungen von Alexander Altmann in den Kap. I V - V I (S. 286-553) seiner Mendelssohn-Biographie von 1973. " Immanuel Heinrich Ritter, S. 49; in dieser Darstellung wird ausführlich über die zwei >Abschnitte< oder >Phasen< in Mendelssohns Leben und Tätigkeiten gehandelt; vgl. S. 42ff. u. ö. " Bertha Badt-Strauss, S. X I X . "> So Friedrich Nicolai an Lessing am 8. November 1769. LM 19, S. 327. I

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ger mit genauen Differenzierungen ausgeführt und formuliert hat, Mendelssohn vor »ein Problem« gestellt, »das ihn nie mehr losgelassen hat«24: vor das Postulat argumentierender Erläuterung, die der Begründetheit und Tradition des Judentums gelten sollte; und näherhin heißt das, daß neben die Hinweise auf die Wahrheiten, »die allen Religionen gleich wichtig seyn müssen« 2 ', auch Aussagen des Inhalts zu treten hätten, die von Art und Geltungsanspruch der >Geschichtssache< und der >Geschichtswahrheiten< des Judentums handeln. Daß Mendelssohn in seiner Religion, seiner Philosophie und seinem »Stand im bürgerlichen Leben« Gründe hatte, von der jüdischen Religion »in öffentlichen Schriften« auch nach der Zäsur von 1770 nur dann zu sprechen, wenn es unvermeidlich erschien, das verlangt, auch und gerade die mittelbaren Zeugnisse und praktischen Realisationsformen seiner jetzt dominierenden Lebensthematik richtig einzuschätzen. So werden unter den Zeichen und als >Indizien< der Mendelssohnschen Lebenswende einesteils seine vielen, jetzt zunehmenden Voten 26 und mannigfaltigen Hilfsbemühungen für Einzelne oder für jüdische Gemeinden genannt; zudem wird auf die seit 1770 in intensivierter Form fortgesetzte Psalmenübersetzung und die nachfolgend immer umfangreicher werdenden Übersetzungsleistungen Mendelssohns hingewiesen. — Einige Briefzeugnisse, die von Intention und Geistesart der Psalmenübersetzung Auskunft geben, sind hier von besonderem Interesse. So schreibt Karl Gotthelf Lessing am 17. April 1770 an den Bruder: die Mendelssohnsche Psalmenübersetzung gebe ihm »von dem Sänger David und der ganzen hebräischen Poesie einen ganz andern Begriff, als ich mir aus der Lutherischen, oder der Cramerischen versifizirten Umschreibung machen konnte. Was wird man zu seinen Erklärungen der Psalmen sagen, welche wir Christen bisher für eine Weissagung auf Jesum gehalten?«27 Ein besonders aufschlußreiches, authentisches Zeugnis, das gerade die Übersetzungs- und Auslegungsprobleme der 14

Fritz Bamberger, S. 525. — S. 528: »Die Entwicklung des Begriffs vom Judentum in den Schriften des Lavaterstreits bis zum >Jerusalem< ist der Versuch, in sowohl religiös als philosophisch festgelegter Position die Eigenart des Judentums auszudrücken.« ! > Der volle Wortlaut aus dem Schreiben an Lavater: »Meine Religion, meine Philosophie und mein Stand im bürgerlichen Leben geben mir die wichtigsten Gründe an die Hand, alle Religionsstreitigkeiten zu vermeiden, und in öffentlichen Schriften nur von denen Wahrheiten zu sprechen, die allen Religionen gleich wichtig seyn müssen.« J u b A V I I , S. 10.

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Zudem wurde Mendelssohn 1771 zum Vorsteher der Berliner Gemeinde ernannt, womit die Möglichkeiten zu praktischer Aktivität erweitert und erleichtert erscheinen. Vgl. Simon Rawidowicz in der Einleitung: J u b A V I I , S. L X X V I I I . Karl Gotthelf am 17. 4. 1770. L M 19, S. 352. - Später erneut zu diesen Fragen: ihm scheine dem >Biblischen Rationalismusklaren Sinn der Schrift< gerichtet; vielmehr liegt ihm nachdrücklich daran, diesen Sinn freizulegen und wahrnehmbar zu machen. Eben dies ist eine Intention, in der — wie hier vorgreifend gesagt sein mag — Mendelssohn und Lessing in ihren jeweiligen auch >theologieewigen< oder allgemeinen Wahrheiten (>Gott< und >VorsehungVernunftreligion< eine genauere begriffs- wie theologiegeschichtliche Erläuterung verlangen müßten' 6 — ist auch hier mit

Ebd., S. 525. ' ' J u b A V I I , S. 95. >* F. Bamberger, S. 531. " Alexander Altmann (1987), S. 235. >4 F. Bamberger, S. 532. " Zumal in der Jerusalem-Schrift von 1783 rechtliche und institutionelle Fragen hinzukommen. — Erneut durch Jacobis Attacken in seiner spätesten Lebenszeit öffentlich herausgefordert, hat Mendelssohn — auch unter Hinweis auf seine Ausführungen in der Jerusalem-Schrift - dezidiert und mit ausführlichen Erläuterungen seine Auffassung in der Schrift >An die Freunde Lessings< dargelegt: »Das Judenthum befiehlt Glauben an historische Wahrheiten, an Thatsachen, auf welche sich die Autorität unsers positiven Ritualgesetzes gründet. Das Daseyn und die Autorität des höchsten Gesetzgebers aber muß durch die Vernunft erkannt werden, und hier findet nach den Grundsätzen des Judenthums und den meinigen, keine Offenbarung und kein Glaube statt. Auch ist das Judenthum keine geoffenbarte Religion, sondern geoffenbartes Geset%. Ich hätte also, sagte ich, als Jude, einen Grund mehr, Überzeugung durch Vernunftgründe zu suchen.« J u b A 111,2, S. 196. )S

Dafür wäre eine Abgrenzung zur Position von Reimarus von besonderer Bedeutung, zumal Reimarus mit der Auslegung seines Begriffs der >natürlichen Religion< den »Schritt von der Metaphysik in den Offenbarungsglauben« (Günter Gawlick, S. 301 u. ö.) und zur Problematik einer >geschichtlich< bedingten Religionswahrheit nicht vollzieht, sondern bei der >metaphysischen Demonstration und begrifflichen Beweisart für die als theoretische Probleme verstandenen Aussagen über >Gottmethodischen< Unterschied geben Mendelssohns folgende Hinweise in wiederum seiner Spätschrift Auskunft: »Was ich vom Judenthume behaupte, daß es schlechterdings keinen Glauben an ewige Wahrheiten,

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Deutlichkeit zu betonen nötig, daß Mendelssohns Position und seine Auslegung der jüdischen Religion nicht mit einer nur >planenVernunftreligion< gleichzusetzen ist. M i t einer solchen A r t v o n >Vernunftreligion< jedenfalls, in der allein und zur Gänze die Vernunft so herrscht, als ließe sich aus ihr auch in Religionsdingen alle Wahrheit herleiten, stimmt Mendelssohns Auffassung nicht überein' 7 . E i n nicht geringer Schwierigkeitsgrad, dies definitiv zu fixieren, mag darin bestehen, daß Mendelssohn im öffentlich schriftlichen Wort andere als allgemeine WahrheitenÜbereinstimmen< von Vernunft und Offenbarung für Mendelssohn nicht auf differenzlosem Identischsein beruht. Für Mendelssohn gilt ein »Gleichgewicht« zwischen >Vernunftreligion< als der >cognitio insita< und >geoffenbartem GesetzOrt< zwischen den extremen Intentionen der Religionsauslegungen mag in diesem Jahrzehnt für den Juden wie den Christen mit solchem gleichlautenden Abgrenzungshinweis am besten charakterisiert sein.

" Julius Guttmann, S. 313: »Das gottgegebene Gesetz ist für ihn ein religiöses Gesetz, in dem er auch mit seiner persönlichen Frömmigkeit heimisch ist.« Mendelssohn habe, wie Guttmann betont, den religiösen Sinn der biblischen Gesetzgebung< zurückzugewinnen vermocht; vgl. S. 314 u. ö. 4

° Fritz Bamberger, S. j 24. J u b A V I I I , S. 96 im >Entwur£ und Notizen< zur Jerusalem-Schrift. - 42 Heinz Mosche Graupe, S. 124. 4i J u b A X I I I , S. 178: am 1. 3. 1784 an Herz Homberg. 44 Vgl. oben Friedrich Nicolai am 10. 11. 1770: Anm. 4. — Auch Elise Reimarus an August Hennings am 28. 3. 1777: »Was sagen Sie zu Lessing's vierten Beytrag? Wie mich deucht, schlägt er einen höchst wunderlichen Weg ein, den weder Orthodoxe noch Heterodoxe mit ihm gehen können.« In: Neues Lausitzisches Magazin, Bd. 38. 1861, S. 207 (nicht bei Daunicht) zit. bei: Louis Ferdinand Heibig, S. 3 5. 41

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c. Grundfragen Lessings Lessing hat ein mit Mendelssohns Bemühungen tendenziell vergleichbares Problem zu beantworten gehabt; eben das Problem, das die umfassende und grundlegende Thematik in der religionsphilosophischen Polemik der Epoche: »die Beziehung der Vernunft zum Glauben«45 unweigerlich zu der — hier mit dem Wort >fides historica< angezeigten — engeren und konkreten Frage nach der mit der Religion gegebenen oder neu zu bedenkenden >Geschichtssache< hinführen mußte. Wohl aber sind Lessings Schwierigkeiten, die Relationen zwischen Vernunft- und Offenbarungswahrheiten näher zu bestimmen, insofern größer oder doch anderer Natur gewesen, als einerseits die christliche Religion nicht von >GesetzenGlaubensinhalten< ausgeht; anderseits die Auseinandersetzungen um >Wahrheit< und Anspruch der christlichen Religion zu Lessings Zeit eine Vielzahl von Streitpositionen in öffentlichen Disputen und Institutionen aufwies. Wenn infolgedessen Lessings Klärungsbemühungen in vielerlei Hinweisformen erfolgt sind —, wenn sie auch in indirekten oder unvermeidlich komplizierten Argumentationsweisen dargeboten und somit oft genug mißverstehbar erschienen sind, so zeigen doch seine Aussagen über das »Historische der Religion«46 und über seine »Gesinnung von der historischen Wahrheit«47 eine eigene Prägnanz und einen solchen Grad des Problembewußtseins, daß begreiflicherweise hier eines der wichtigsten Themen der Lessing-Forschung gerade der letzten Dezennien liegt. Für unsere, dem Dialog zwischen Lessing und Mendelssohn geltende Fragestellung kann aus diesem großen Zusammenhang, der als »Lessings Beitrag zu dem ab 1770 hervortretenden Geschichtsbewußtsein«48 vornehmlich seinen theologiekritischen und religionsphilosophischen Darlegungen abzulesen ist, nur weniges zu Wort kommen; nur das, was zur notwendigen Orientierung dient und was für Vergleich oder Abgrenzung im Dialog mit Mendelssohn von Belang erscheint. Das »große Verdienst«, das man Lessing zugesprochen hat, »dem Aufklärungsdenken selbst auf die Spur seiner Geschichtlichkeit verholfen zu haben«49, liegt nicht allein in der — auch bei Mendelssohn begegnenden und von Leibniz sich herleitenden — Betonung der Differenz der beiden 45

Herbert Dieckmann, S. 31 j. L M 13, S. 133. 47 L M 13, S. 32. 48 Hinrich C. Seeba, S. 294. 4 « Martin Bollacher (1982), S. 138. 46

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kategorial andersartigen >WahrheitenVernunftwahrheiten< und der >GeschichtswahrheitenBeweisen< nicht stehen; er sucht für das Problem der konkret zu klärenden Religions- und Glaubensfragen — unter der stricte mitzubedenkenden Differenzqualität der >Wahrheiten< — nach näherer Bestimmung von Relationen, in denen die >qualitas< dieser Wahrheiten nicht geleugnet wird, aber eine Berührung oder die Möglichkeit einer >Differens^-bewahrenden< Sjnthesis sich zeigte. So hat Lessing nicht nur von dem >garstigen, breiten GrabenEreignisse< oder schriftlich bekundete >BegebenheitenDemonstration< von >metaphysischen Begriffen< oder »Grundideen«50 dienen können. — Für das große Problem der konstitutiven Differenz oder genau zu bedenkenden Relation zwischen Vernunft- und Offenbarungsreligion hat Lessing einen seiner wichtigsten und prägnantesten Hinweise in den >Gegensätzen< zu den Reimarus-Fragmenten gegeben: »Die geoffenbarte Religion setzt im geringsten nicht eine vernünftige Religion voraus: sondern schließt sie in sich«5'. Aus der gleichen Zeit und aus einem Text, der ebenfalls in den Kreis der Lessingschen Antworten auf die von Reimarus aufgeworfenen Fragen gehört, stammt eine andere, nicht weniger prägnante und gewichtige Verdeutlichung des Grundproblems. Es ist der 1777 im Paragraphen 37 der Erziehungs-Schrift dargebotene, ebenso knappe wie prinzipiell aufschlußreiche Hinweis auf den »wechselseitigen Dienst«, den »beyde«: Vernunft und Offenbarung »einander leisteten«54. Nicht von Vernunftreligion und Offenbarungsr^w« ist L M 13, S. 7. >' L M 16, S. 77, in der aus dem Nachlaß publizierten Schrift: >Über das Wörtlein Thatsache< — vermutlich aus dem Jahr 1778. >' L M 13, S. 22. » L M 1 2 , S.434. 54 L M 13, S. 424f; der volle Wortlaut beider Paragraphen: »§ 36. Die Offenbarung hatte seine Vernunft geleitet, und nun erhellte die Vernunft auf einmal seine Offenbarung. § 3 7. Das war der erste wechselseitige Dienst, den beyde einander leisteten; und dem Ur-

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hier die Rede, sondern von Vernunft und Offenbarung als Konstituenten zur Herausbildung verschiedener Religionen oder Religionsstufen in der Geschichte der Menschheit. Lessing weist auf eine Relation von Vernunft und Offenbarung, die hier auch als »gegenseitiger Einfluß« bezeichnet wird. Dem »Urheber beyder« sei ein solcher >Einfluß< als »wechselseitiger Dienst« von Vernunft und Offenbarung für den Erziehungsweg der Menschheit nicht unangemessen. — Mit diesem Paragraphen 37 liegt in der Artikulation wie im Denkmodus eine klare und bestimmte Problemerfassung zutage, die geeignet ist, auch die notwendig mitzudenkende Differenz von Vernunft und Offenbarung anzuzeigen. Man möchte es erstaunlich genug nennen, daß dieser — zudem durch andere Paragraphen bestätigte und ergänzte" — Problemhinweis im 37. Paragraphen der Erziehungs-Schrift, der a limine geeignet erscheint, die Rede von Überoder Unterordnung, von Vor- oder Nacheinander im Verhältnis von Vernunft und Offenbarung zu korrigieren oder zu widerlegen, nur selten zur Klärung gravierender Fragen in der Lessing-Deutung herangezogen wird'6. Das Problem, das Lessing darin zu annoncieren weiß, — das übrigens in Novalis' Notizen zur Erziehungsschrift als »gegenseitige Necessitation« oder als »Unzertrennlichkeit« von natürlicher und geoffenbarter Religion wiedergegeben wird57 —, ist deshalb von besonderem Gewicht, weil es den bewußt differenzierenden Leitgedanken kenntlich macht, der Lessings Intention für die Erziehungs-Schrift bestimmt und der gleichsam als deren systematischer, innertheologischer Ansatz oder Begründungszusammenhang zu verstehen ist. Blickt man auf Thesen oder Entwürfe aus der vorausliegenden Zeit, d.h. hier: aus den 60er Jahren zurück, so zeichnet sich die Bedeutung der eben skizzierten Problemfassung nochmals schärfer ab. In dem nicht eben selten zitierten Aufsatzfragment >Über die Entstehung der geoffenbarten ReligionZeit der Vollendung< hingewiesen wird, ist ebenfalls vom >Einzelnen< die Rede 107 ; seine Handlungen als >reine< Entscheidungen für das Gute zeigten die Möglichkeit, aus der die erhoffte und >versprochene< Zeit eines »neuen ewigen

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E. Cassirer (1929), S. 32. LM 13, S. 43;. '°7 Vornehmlich in den Paragraphen 82 bis 85.

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Evangeliums« hervorgehen werde. Der Wechsel der Stilformen in diesem letzten Teil der Erziehungs-Schrift oder, wie formuliert worden ist: das hier bemerkbare »Tasten nach angemessener Sprache« mit einer Art sprachmimetischen Darstellens, könne annoncieren, daß dieser Übergang ins dritte Zeitalter als »qualitativer Sprung« zu verstehen sei: als individuelle Erfahrung und »aktuelles Ereignis« 108 . Doch auch, wenn hier eine besondere, den theoretischen Diskurs< durchbrechende Sprachstilisierung etwas von der >qualitas< des gemeinten Gedankens anzuzeigen vermag, so bleibt zu konstatieren, daß die Ebene der thesenhaft artikulierten und zur Paragraphenfolge geordneten Aussageform nicht verlassen wird. Vom Übergang des einzelnen Menschen< in eine neue, höhere Stufe ist nicht anders als mit benennend-andeutendem Hinweiswort die Rede. Diese Problematik erhält im Gesamtdiskurs der Erziehungs-Schrift keinen eigenen Raum, — sie bleibt der Hauptlinie der anderes akzentuierenden Darlegung untergeordnet. Zu ihrem emphatischen Sinn entfaltet und in der mitgehenden Problematik voll ausdifferenziert und ausgearbeitet erscheint diese Frage nach dem >EinzelnenErfahrung< erst in Lessings dichterischer Gestaltung, in der poetisch-szenischen Vergegenwärtigung des Nathan-Dramas. Darauf in gewiß nur knapper Form einzugehen, ist auch für eine Erörterung des Lessing-Mendelssohn-Dialogs nicht ohne Belang — und zwar in zweierlei Hinsicht. Verlangt einesteils schon die nähere Präzisierung der sehr wohl auch zeitlich und entstehungsgeschichtlich zu kennzeichnenden Relation zwischen der Erziehungs-Schrift und dem Nathan-Drama in hohem Maße Beachtung, — so andernteils nicht minder das im Nathan-Drama unter das Zeichen der ästhetischen Wahrheit gerückte Problem der Geschichtlichkeit der Religionen und die damit eng verknüpfte Frage nach der dem Einzelnen überantworteten, nur in personaler Erfahrung zugänglichen >inneren Wahrheit< der religio. — Dieser von Lessing in den theologischen Streitschriften, vor allem in den >Axiomata Ernst Loeb, S. 13 if. " 4 So ist seit der bei Danzel-Guhrauer zu lesenden Bemerkung, Lessings Nathan bedeute »nicht sein letztes Wort in der großen Angelegenheit, welcher das Gedicht gewidmet« sei (Bd. 11,2, S. 213), die Meinung oft wiederholt worden, daß die Erziehungs-Schrift »Lessings letzte Leistung« sei, in der >Nathans Stimme nachklinge< (Waldemar Oehlke, Bd. II, S. 429). Diese Auffassung begegnet auch in der jüngeren Lessing-Forschung und -Deutung in nahezu stereotyper Form; z.B. in der Encyclopaedia Judaica, Bd. I i , Sp. 1340; zunächst auch (in späteren Untersuchungen mit korrekten Daten erläutert) bei Alexander Altmann: »Mendelssohn felt too close to the spirit of Nathan to be able to admit that it had been superseded by the later work [...].« (1973, S. 698). - Auch Karl S. Guthke formuliert: Lessing lenke mit der Erziehungs-Schrift »wieder auf die im >Nathan< eingeschlagene theologische Bahn zurück« (1979, S. 71). Die Kette solcher Hinweise ist nicht abgerissen; es seien nur kurz erwähnt: Hartmut Sierig (ausführlich unten in Anm. 118); Henning Graf Rewentlow, S. 444; Hermann T i m m (1974, S. 75ff.); Georg Pons (1977, S. 206); Hilde Spiel (1979, S. 68); Otto F. Best (1980, S. 130); u.a.

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kativen und vollständigen Dokumenten über die Entstehungsdaten mangelt, wird heute — zumal nach Widerlegung der Thaer-These 11 ' — allgemein die Auffassung vertreten" 6 , daß zur Zeit der Teilveröffentlichung im Kontext der Reimarus-Fragmente und -Gegensätze: 1777, die 100 Paragraphen der Schrift vollständig vorgelegen haben. Trotz des späteren Publikationsdatums ist die Erziehungs-Schrift — mit Sicherheit in der gedanklichen Konzeption und mit hoher Wahrscheinlichkeit in der vollen Explikationsform — das vor dem >Nathan< entstandene Werk. Die Beobachtung, daß die Sprachformen und der Rededuktus des letzten Teils, etwa vom Paragraphen 80 an, einen bewegteren, auch dialogisch stilisierten Darbietungsmodus zeigen 1 ' 7 , läßt auf Veränderungen oder eine Zäsur im Entstehungsprozeß kaum einen Schluß zu. Die Thematik des Schlußteils als solche, so ließe sich denken, könnte Anlaß zu den sprachlichen Besonderheiten gegeben und diese Diskursform heraufgeführt haben. Aufgrund dieser Gegebenheiten muß es höchst fragwürdig, — ja: unhaltbar genannt werden, wenn die Erziehungs-Schrift als die spätere, weitergeführte, das Drama >überbietende< Version — oder gar als >Lösung< der den beiden Werken ablesbaren Problematik, zumal der Frage nach der fides histórica, verstanden wird. Auch oder gerade in dem von Lessing 1780 der vollständigen Publikation hinzugefügten und bemerkenswerten >Vorbericht< — von dem in Ausführlichkeit noch zu handeln sein wird — sollte kein Anlaß, keine Bestätigung zu solchen Auslegungen gesehen werden. " ' Die Annahme, daß der Verfasser der Erziehungs-Schrift Albrecht Daniel Thaer gewesen sein könnte, ist geklärt und widerlegt von Heinrich Schneider, S. 222 — 230. 116 Vgl. die Einleitung in der Münchner Lessing-Ausgabe, Bd. V I I I , S. 707. 117 Der kürzlich erneut vertretenen Meinung von David Hill, daß die Stilisierung der Erziehungs-Schrift von einer »Erzählform« (S. 243) zu sprechen erlaube, — daß der »Kunstcharakter« der Schrift sich der >fiktionalen< Darstellung nähere und der »Entwicklungsgedanke selbst eine Art poetische Individualisierung und Konkretisierung« darstelle (S. 244), halte ich (wie schon in der D V j s 1987, S. 431, Anm. 49) folgendes entgegen: Die Formen kunstvoller Stilisierung, die rhetorischen Mittel und Bilder bleiben auch hier unter der Voraussetzung des generellen Zeichencharakters von Sprache — von der fiktional-poetischen Darstellung, wie sie das Nathan-Drama zeigt, deutlich und prinzipiell unterschieden. Beide Texte haben aufgrund ihres literarischen Gattungscharakters einen jeweils eigenen Aussagemodus und -anspruch. — Die Bemerkung von Beatrice Wehrli über die Relation zwischen der Erziehungs-Schrift und dem Nathan-Drama: »Was sich offenbar in der theoretischen Schrift noch nicht einsichtig machen ließ, gelingt Lessing in der dichterischen Gestaltung des >Nathan«< (S. 149), bezieht sich auf anderes, als in meinen Darlegungen hervorzuheben war. B. Wehrli meint die »Utopie des Nathan«, wie sie in der Ringparabel >versinnlicht< erscheine; in meinen Ausführungen ist dagegen von der Relation die Rede, die zwischen dem in der Erziehungs-Schrift angedeuteten >transitus< in die dritte Stufe und der in der Szene IV,7 des Nathan-Dramas aufgewiesenen religio-Erfahrung besteht.

MS

Die Erziehungs-Schrift ist nicht, wie oft genug angedeutet oder behauptet worden ist, Lessings >letztesNathan< erst nachfolgendes Werk.1'8 Die Daten der Werkentstehung sind so weit erkennbar und können zureichend deutliche Hinweise darauf geben, daß das dramatische Gedicht< das spätere der Werke ist und mit seiner der Ästhetizität geschuldeten >Wahrheit< als Lessings Antwort auch auf einige der in der Erziehungs-Schrift nur andeutend gestreiften Fragen zu verstehen ist. Das Nathan-Drama ist gerade für die beiden Werken auf essentielle Weise zugehörige Problematik, — für die Frage nach der fides histórica als die nicht etwa nur zufällig spätere, sondern als die nachdenklich fortgeführte, im Intensitätsgrad ihrer Begründungen ausgereiftere Antwort zu sehen.

f. >Fides historica< im Nathan-Drama In der poetisch-dramatischen Darstellung gewinnt das Problem der fides histórica mehr als eine Gestalt, und jede von ihnen ist mit der anderen aufs genaueste verknüpft, auch wenn jede ihre eigene literarische Sprachform und ihren eigenen Grad von zeichenhafter Differenzierung besitzt: die weltliterarische Märchen-Parabolik ebenso wie die fiktive Realexistenz der dramatis persona Nathan in ihrer geschichtlichen Religion und Kultur; schließlich ebenso auch die als personale Entscheidung erinnernd dargebotene religio-Erfahrung Nathans. Jede dieser Vergegenwärtigun1,8

Um in einer knappen und einfach-eindringlichen Form die Art - und die Konsequenzen - der Deutung zu vergegenwärtigen, die von der Umkehrung der Entstehungsdaten ausgeht, d. h. die Nathan-Dichtung vor die Erziehungs-Schrift rückt, seien hier folgende Ausführungen von Hartmut Sierig angeführt: »Nachdem Lessing den Nathan geschrieben hatte, und — jedenfalls nach außen — der Streit um die Reimarus-Fragmente zur Ruhe gekommen war, vollendete er >Die Erziehung des Menschengeschlechts^ das man nun als das Testament des Gotthold Ephraim Lessing bezeichnen könnte. War das Ergebnis des Nathan (als unmittelbare Folge seines Streites mit Goeze) die Forderung der Toleranz und die Relativität der Wahrheit bis auf weiteres gewesen, mit dem deutlichen Akzent, den Lessing in seinem Testamentum Johannis gesetzt hatte, so wurde nun ein geschichtsphilosophischer Entwurf vorgelegt, der über die Ansätze des Nathan hinausgeht und Lessing's Position in einem klaren Lichte erscheinen läßt. An die Stelle des Nebeneinander der historischen Religion tritt das geschichtliche Nacheinander, zumindest von Judentum und Christentum, um schließlich in einem letzten Kapitel der Geschichte durch die Vernunft überholt zu werden.« S. 2Öf. - »Lessing hat in der Erziehung des Menschengeschlechts den Gedanken der Toleranz verlassen. E r hat die Geschichte einseitig unter christlichem Gesichtspunkt dargestellt bis zu dem Augenblick, an dem die Herrschaft der Vernunft einsetzt. E r kann das Problem, das sich damit stellt, überhaupt nur noch durch die Idee der Wiederverkörperung, der Seelenwanderung lösen^ ..].« S. 30.

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gen ermöglicht Verständigung, — gibt Einsicht in das Geschichtlichsein der Religion. Was Lessing mit seiner kurzen und mißdeutbaren Vorrede-Bemerkung in die Worte gefaßt hat: daß »Nathans Gesinnung gegen alle positive Religion«" 9 auch die seine gewesen sei, das findet im Dramentext mit der Ringparabel eine unmißverständliche Erläuterung. Die Religionen seien unterscheidbar, da jede von ihnen in jeweils ihrer Weise »auf Geschichte gründe«120, geschrieben oder überliefert in glaubwürdigem Wort von ihren Vätern, aufgrund ihres Tradiertseins. Auf diese — nicht als >ratio recta< nach logischen >Gründen< demonstrable >Wahrheit< verweist Nathans Parabelantwort, sondern auf den >Grund< als >fundamentumWahrheit unter mehr als einer Gestalte". Und doch gehört zu dieser Parabelantwort bereits implizit die zweite Seite des Wissens um das Geschichtlichsein der jeweiligen positiven Religion. Es ist jenes Problemwissen oder Postulat, daß so, wie zwischen dem Ring und dem in ihn eingelassenen Stein, dem Opal, ein Unterschied von >Gegebenem< und >zu Ubendem< bestehe, auch für Religion und >Glauben< noch Unterscheidungsmerkmale zu bedenken seien. Wenn Nathan mit dem auf Saladins erneute Frage antwortenden Hinweis, daß die Ringe »fast so unerweislich als uns itzt — der rechte Glaube«12' seien, diese Unterscheidung wiederholend betont, so ist damit das einzige essentielle Differenzmerkmal angegeben und die Art von >Wahrheitgegen< nicht >contra< meint (wie zuweilen angenommen wird), belegen Wendungen wie z. B. die Briefbemerkung zu Eva König am 26. 10. 1772: »und will mich wenigstens gegen eine Person in der Welt ganz ausdrücken«: L M 18, S. ;8; auch S. 340 u.ö. ,2 ° 111,7 Vers 4 5 4 ff.

,2i 114

Darin liegt eine Deutungskorrektur des im Disput der Zeit so häufig verwendeten Worts von den »Gründen für die ReligionLessings Lebern, Teil II, S. 3 91 f.: »Der Werth aller Personen in diesem Stück kömmt nicht daher, welcher Religion sie anhangen, sondern wie sie ihr anhangen.«

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erlaubt und fordert, werden sie nicht in der Stufenordnung einer >Sukzession< wie in der Erziehungs-Schrift, sondern in der konkret gegenwärtigen >SimultaneitätName< als ein Formelwort oder Benennungsstereotyp zureiche, sondern erst der personal und konkret sich erweisende >Geist< im Namens->Buchstabenidentifizierende< Hinweis gemeint, als bilde Mendelssohn das >Modell< oder sei in der Nathan-Figur >portraitiertIhr seid Christx, dem andern die des >Juden< nahelegt128. — Wie weit Lessing in der Erkennbarkeit der jüdischen Religiosität im Stück geht, aber anderseits die zwischen Orthodoxie und Heterodoxie angesiedelte jüdische Religiosität nicht allein dem Erweis durch moralische Praxis unterstellt, sondern in einer spirituellen Weise des Glaubens präsent zu sehen geneigt ist, das kann ein — bislang nur selten beachteter oder kommentierter — Passus im Dialog zwischen Recha und dem Tempelherrn in ebenso schlichter wie prägnanter Umschreibung ins Licht rücken. Wenn der Tempelherr vermutet, Recha wolle über den Berg Sinai erfahren, »ob's wahr / Daß noch daselbst der Ort zu sehn, wo Moses / Vor Gott gestanden [...]«, so lautet Rechas gedankenklare, lakonische Antwort: »Nun das wohl nicht. / Denn wo er stand, stand er vor Gott.«129 Daß es die christlich getaufte, wohl aber von Nathan erzogene Recha ist, die so redet, nimmt diesen Worten nichts von der Bedeutung, — ebenso wenig wie denen, mit denen Recha betont, daß »Ergebenheit / In Gott von unserm Wähnen über Gott / So ganz und gar nicht abhängt« 1 ' 0 . Sie hebt damit ein Wort hervor, das im Dramentext, sonst nur Nathan vorbehalten, auf die innere Dimension von Religion oder Glauben zu verweisen vermag. Es ist oben 1 ' 1 ausführlich darzulegen gewesen, daß Lessing mit der großen Nathan-Szene IV,7 dies nicht nur als >Wort< stehen läßt, sondern mit subtiler Kunst der Vergegenwärtigung als personale, authentische Erfahrung aufzuzeigen gewußt hat. Darauf ist auch hier nochmals insofern hinzuweisen, als dies in einem nachgerade emphatischen, mehrfachen Sinn dem Problem der fides histórica zuzuordnen ist und eine durchaus gravierende Gedankendimension dieses Problems verdeutlicht. Bedeutet doch die Entscheidung, von der Nathan in dieser Szene berichtet, daß er >seine Geschichte< — und das heißt: »die heillose Situation der Geschichte« 1 ' 2 annimmt, dies auch als generelle Realitätsbedingtheit begreifend. Zugleich ist diese Entscheidung als »Ergebenheit in Gott« eine >religio-ErfahrungMorgenstunden< heißt es: »Es geziemet dem unsterblichen Geiste des Menschen gar wohl, sich der Gottheit so verwandt zu glauben, daß von jedem seiner Gedanken ein Weg zu derselben zu finden sey.« J u b A 111,2, S. 156. ">° III,i Vers 7 3 f f . 1,1 Oben im Nathan-Kapitel: 1,3. 132 Heinrich Anz, S. 214.

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möglichung einer neuen Stufe eigenen Seins und höchster Sittlichkeit in sich trägt. Wenn damit eine bis in die personale Existenz reichende und im Gewissens- und Glaubensvermögen der Individualität wurzelnde Erfahrung vom Geschichtlichsein der religio erkennbar wird, so ist das um so weniger mißverstehbar, als hier auch mit den Worten des Juden Nathan weder Inhalte noch Ansprüche bestimmter Konfessionalität dargeboten werden; wohl aber gibt die Hiob-Reminiszenz zu verstehen, daß diese Erfahrung weder a-religiös, noch a-historisch zu nennen ist. Mit Nathans Entscheidung wird zudem nicht allein eine dem Sinn und dem Postulat der Ringparabel gemäße Entsprechung in actu oder in statu realisationis angezeigt, sondern zugleich wird in einer Entscheidung wie dieser etwas sichtbar vom >Übergang° JubA VIII, S.. 4. 141

JubA 111,2, S. 187: »Allein, ich dächte, wir könnten getrost den Verfasser des Nathan seiner eigenen Vertheidigung überlassen: und wenn ich Plato oder Xenophon wäre; so würde ich mich wohl hüten, diesem Sokrates eine Schutzrede zu halten. Lessing und Heuchler, der Urheber Nathans und Gotteslästerer — Wer dieses zusammen denken kann, der allein vermag das Unmögliche, der kann eben so leicht Lessing und Dummkopf zusammen denken!« JubA III,2, S. 131.

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manitätsreligion bei Lessing, die keinen Bezug zur historischen Konkretheit der positiven Religion auch des Christentums besäße. Aus Gesprächen und der in Berlin gegebenen Nähe zu Friedrich Nicolai konnte und wird Mendelssohn gewußt haben, daß Lessing — und davon ist in der Korrespondenz mit Nicolai anläßlich der jetzt von Lessing abgelehnten Übersetzung des Buncle-Romans expressis verbis die Rede 143 — sich deutlich gegen das »Arianische System« ausgesprochen hatte; d. h. daß er in seiner Spätzeit der Art von generalisierender Ausgleichung zwischen Christentum und Judentum, der Mendelssohn 1770 deutlich das Wort geredet hatte, keineswegs huldigte. Überdies ist es nicht allein Lessing, der Einsicht in die historische Bedingtheit der positiven Religionen gewonnen und in mehr als einer seiner Schriften und ebenfalls in mehr als einer Version, am vernehmlichsten sicher in der Ring-Parabel, davon gesprochen hat. Auch Mendelssohn hat vornehmlich in den Spätschriften der 80er Jahre, erneut zur Stellungnahme von christlicher Seite herausgefordert, mehr als einmal von den historischen Bedingtheiten und konkreten Formen der jüdischen Religion gesprochen, — hat die Forderung und die Möglichkeiten dargelegt, daß beides: die >positiven Ritualgesetze des Judenthums< und die unveräußerlichen >ewigen Wahrheiten< der Vernunft in Verbindung zu bringen seien144. Wenn es auch besonderer Ausführlichkeit und vielfach ausgreifender Darlegungen bedürfte, um gerade diesen diffizilen Themenkreis der Mendelssohnschen Spätzeit aufzuzeigen 14 ', so läßt sich auch in unserem Zusammenhang und in der damit gebotenen Abbreviierung darauf hinweisen, daß die Problemkonstellation, die für den Anfang des Jahrzehnts um 1770 für Mendelssohn wie für Lessing zu beobachten gewesen ist, erneut und in jetzt nicht weniger ausgeprägter Weise zutagetritt. Wie zuvor, so erfolgt auch jetzt mit der mehr oder min-

" " Lessing an Nicolai am 30. ; . 1779 zur Begründung seiner Ablehnung: »als ich ihn [Bunkel] vor zwölf Jahren übersetzen wollte [Nicolai merkt korrigierend an: »vor acht JahrenpopulärerEinbildungskraft< und den »ersten Eindrücken der Kindheit« eingeprägter religiöser Empfindungen mit den >Wahrheiten< der Vernunft gefragt, so antwortete Mendelssohn mit folgenden Worten: Was populäre Religionsbegriffe betrift, so dünkt mich, daß die angenehmen Empfindungen, die sie mit sich führen, größtentheils sich auf Wahrheit gründen, die ihnen zum Grunde liegt, und bloß durch falschen Zusatz verdunkelt worden ist. Die Allgegenwart Gottes z.B. wird in Ihrer Religion gar zu sehr versinnlicht, und nach einigen bis zur Menschheit herabgesetzt. Allein im Grunde können wir uns, auch der Vernunft nach, die Gottheit nicht stark, nicht lebhaft genug als gegenwärtig vorstellen, und alle Versinnlichung reicht nicht hin, uns den Enthusiasmus mitzutheilen, den wir bey dieser Vorstellung haben solten. [...] Ich freue mich mit jedem Religionsgebrauch, der nicht zu Intoleranz und Menschenhaß führt, freue mich, wie meine Kinder, mit jeder Ceremonie, die etwas Wahres und Gutes zum Grunde hat, [...]. Wenn Sie Geduld genug gehabt haben, theuerste Sophie, meine Morgenstunden durchzulesen: so werden Sie auch die Stelle bemerkt haben, wo ich von der Schwierigkeit handle, die Erhabenheit Gottes in der stärksten Verbindung mit dessen allbarmherziger Herablassung zu denken, und unserm Lessing ein großes Verdienst um diese wichtige Wahrheit zuschreibe.149

In dem hier erwähnten Morgenstunden-Kapitel hat Mendelssohn auf jene dem Nathan-Text mitgegebene Problemantwort hingewiesen, die — wie explizit in der Szene der >Wunder-Diskussion< — den weitesten Horizont der Verehrung und Präsenz Gottes in der Welt und in >Naturbegebenheiten< anzugeben sucht. Und es darf wohl als begreiflich, aber auch als zureichend begründet erscheinen, daß es eben dieser im Zeichen der Poetizität besonders deutlich vergegenwärtigte Gedankenkreis —, daß es eben die Nathan-Dichtung ist, an die Mendelssohn mit den Erinnerungen seiner spätesten Lebenszeit — sei es publice, sei es in den privaten Briefäußerungen — anknüpft. Die Nathan-Dichtung bleibt auch in diesen letzten Äußerungen für Mendelssohn der eigentliche Konvergenzpunkt und das hellste Symbolzeichen, das nicht nur den Gedanken von der fides histórica am intensivsten begreiflich und mitteilbar erscheinen läßt; sondern das auch in dieser seiner von Mendelssohn so nachhaltig befürworteten und religion.« - »[...] he recognizes the need for anthropomorphic language when speaking of God, and he stresses the immanence of God, as much as his transcendence [...].« S. 719. 145

Mendelssohn an Sophie Becker am 2 7 . 1 2 . 1 7 8 5 . J u b A X I I I , S. j j j f .

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begrüßten poetischen Sprache und Kunstform die Vielfalt der Erscheinungen positiver Religionen mit gedanklicher Klarheit und deutlicher Irenik zu zeigen und postulieren gewußt hat. Des Sinnes, den Lessing in seiner frühen Zeit mit einem Wort formuliert hat, dem Mendelssohn gerade in dieser Spätphase seines Lebens auf eigene Weise und ohne Vorbehalt zuzustimmen imstande gewesen ist: »Die Wahrheit rühret unter mehr als einer Gestalt.« 1 ' 0

L M 4, S. 277.

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2. Lessings letzter Brief an Mendelssohn. Text und Kontext

Für einen einzelnen Brief aus Lessings spätester Lebenszeit eigens Aufmerksamkeit zu fordern und eine gesonderte Betrachtung anzuberaumen, bedarf auch in unserem Fragezusammenhang einer gewissen Rechtfertigung und vorgreiflichen Erklärung. Wie sonst so mancher Brief von Lessing, der seinen Freunden als »nie der rüstigste Briefschreiber« 1 bekannt war, trägt auch der an Mendelssohn gerichtete Brief vom 19. Dezember 1780 nicht besonders auffallige Züge — weder in Umfang und Mitteilungsform, noch auch an gravierenden, explizit dargebotenen Problemaussagen. Dies Schreiben ist vornehmlich ein zu Mendelssohn gewendeter Gesprächsbrief, nicht allerdings ohne einige dunkel oder hermetisch anmutende Einzelwendungen, Erinnerungs- oder Wissensandeutungen, deren Gedankenverknüpfungen und inhaltlich Gemeintes wohl zu genaueren Erwägungen Anlaß geben können. Mendelssohn hat diesen Brief, dieses »letzte Handschreiben« des Freundes im vollen Wortlaut in den >Anmerkungen zu Zusätzen< zu seinen >Morgenstunden< 1785 publiziert2; und somit mag der Brief zu lesen sein als ein authentischer Beleg für jene Ausführungen im Lessing-Kapitel dieser Schrift, in denen Mendelssohn über die Mißdeutungen und negativen Reaktionen spricht, die mach Erscheinen des NathanBruder in Leibniz< auch in dieser Zeit die ihn bewegenden religionsphilosophischen Probleme mitgeteilt habe, zumal er ihn »doch lange nicht gesprochen, und sehr ungern Briefe schrieb« 7 . Die schärfere Version solcher Fragen und die Lessings >Spinozismus< betreffenden Bemerkungen, die Jacobi 1786 als »Gewißheit« 8 vorzubringen und bald auch zu demonstrieren bemüht gewesen ist, liegen während der Abfassung der >Morgenstunden< noch nicht vor. Gleichwohl ist mit Recht und in dezidierter Form darauf hingewiesen worden, »daß Mendelssohn den Brief Jacobis v o m 21. Juli 1783 [an Elise Reimarus] und den Ohrenzeugen-Bericht v o m 11. November 1780 als Herausforderung seiner selbst als Freund Lessings, wie als Sachwalter seines geistigen Leumundes, auffassen mußte«9. Damit ist die Bedeutung, die der Briefpublikation in den Zusätzen der >Morgenstunden< abzulesen ist, klar genug hervorgehoben. Doch der an Mendelssohn gerichtete letzte Brief

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1

Z u den D a t e n und Mitteilungen dieser K o r r e s p o n d e n z vgl. die ebenso knappe wie sorgfaltige und kritische I n f o r m a t i o n bei E v a J . E n g e l - H o l l a n d , S. zozff. Friedrich Heinrich J a c o b i an Elise Reimarus am 2 1 . J u l i 1 7 8 3 ; in: Scholz/Hauptschriften, S. 67. N a c h der Lektüre v o n J a c o b i s >Briefen über die L e h r e des Spinoza< schreibt Lessings B r u d e r K a r l G o t t h e l f am 24. O k t o b e r 1784 an Mendelssohn, daß auch er seinem >innern Gefühl< nachgebe — zumal J a c o b i sich »auf sein individuelles G e f ü h l [ . . . ] so lavaterisch beruft«, und so sage er ihm: »o lavaterscher Jacobi! so zu saalbatern hättest du g e g e n meinen B r u d e r dich nicht getraut! D a ß du ihn zu einem Spinozisten gemacht, weil du seine Schraubereyen nicht recht verstanden, ist kein großes Unglück; aber daß er dein vertrauter Freund v o r der Welt gewesen zu seyn scheinen muß, Schade!« J u b A X I I I , S. 322.

8

J a c o b i ; in: Scholz/Hauptschriften, S. 69. — D a ß f ü r J a c o b i s Äußerungen genaue Datierungen zu beachten sind - , daß J a c o b i v o r allem f ü r seinen Gesprächs-Bericht »drei verschiedene Fassungen ( 1 7 8 ; , 1789, 1 8 1 9 ) « v o r g e l e g t hat mit Ä n d e r u n g e n »an überaus zahlreichen Stellen« — darüber, als ein nur selten zureichend berücksichtigtes Desiderat, vgl. E . J . E n g e l - H o l l a n d , S. 206.

9

E . J . E n g e l - H o l l a n d , S. 206; auch S. 207: »Von A u g u s t 1783 an lag es an ihm, erstens Lessing g e g e n J a c o b i s Beschuldigung zu verteidigen, und zweitens zu beweisen, daß er, Mendelssohn, über Lessings religiöse Weltanschauung v o n jeher und bis zuletzt im Bilde gewesen sei.« D a ß Mendelssohn die Bedeutung und W i r k u n g v o n J a c o b i s Behauptungen richtig einzuschätzen g e w u ß t hat, belegt noch ein relativ später Brief Schellings, der erst anläßlich seines Streits mit J a c o b i 1 8 1 2 über dessen Mendelssohn-Mißdeutung v o n Friedrich L u d w i g Wilhelm M e y e r >aufgeklärt< w u r d e : Schelling am 26. A u g u s t 1 8 1 2 an F. L . W. Meyer; s.u. S. 1 8 3 , A n m . 43.

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Lessings datiert geraume Zeit vor dem Jahr 1785, mit dem die Forschung den Streit um den Spinozismus anheben sieht10; und er liegt auch lange vor den Daten der Briefe, die die Präliminarien dieses Streits anzeigen. Das mag erklären, warum dieser Lessing-Brief vom Dezember 1780 in den Dokumentationen: den edierten >Hauptschriften zum PantheismusstreitKlassen< von Reisenden. 16 An Elise Reimarus am 28. 11. 1780. L M 18, S. 356. — Lessing resümiert mit diesem Wort, was er über seinen Besuch beim Herzog anläßlich des — wegen der Publikation des Auferstehungs-Fragments — drohenden Excitatoriums vom >Corpore Evangelicorum< zu berichten hatte. E r habe sich in Braunschweig nur mit einer »mürrischen Gleichgültigkeit« geäußert; er fügt folgendes an: »Kann seyn, daß allenfalls manchmals eben das in mir vorgeht, was bey jenem Bastart eines großen Herrn vorging, der nicht sagen wollte, wer er sey, und sich lieber wollte unschuldig hängen lassen, nur um seinem Richter recht schwere Verantwortung bey seinem Vater zu machen. Denn im Grunde mag ich mich doch auch wohl dabey trösten, daß am Ende jemand kommen wird, der dem Richter zuruft: Richter seyd ihr des Teufels, daß ihr unsers gnädigen Herrn Bastart wollt hängen lassen? Und weiß ich denn etwa nicht, wessen großen Herrn lieber Bastart ich bin? — Also nur frisch die Leiter hinan!« — Mit dieser Wendung: des >großen Herrn lieber BastardKirchen- und Ketzerhistorie< Gottfried Arnolds: die >Verkehrung< von >wahr / rein* und >unwahr / unrecht* durchaus wiederzuerkennen erlaubt. 17

Lessing hatte den >Schutzjuden< und Kunsthändler Alexander Daveson, der unter widrigen und unklaren Umständen, »nicht ohne Verhetzung seiner eigenen Glaubensgenossen« (Danzel-Guhrauer, Bd. 11,2, S. 330) im Braunschweiger Gefängnis inhaftiert war, dort nicht nur mehrfach zu helfen versucht; er hatte ihn auch für geraume Zeit in sein Haus aufgenommen.

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gionsparteiungen fortsetzt, so ist das mehr als ein rhetorischer contemptus-mundi-Topos. Bemerkenswert in unserem Zusammenhang deshalb, weil Lessing hier mit einer selbstverständlichen, auch der Übereinstimmung des Freundes völlig sicheren Souveränität seinen so bitter begründeten wie utopischen Wunsch an Mendelssohn richtet. Bestätigendes Zeichen immerhin dafür — und nur dies ist hier zu erwähnen —, daß es für Lessing und Mendelssohn zu keiner Zeit ein aus Konfessionsdifferenzen sich nährendes Mißtrauen gegeben hat; auch nicht — obwohl so zu deuten versucht worden ist18 — als ein späterhin unbewußt mitgehendes Irritationsmotiv in Mendelssohns letzter, durch Jacobis Behauptungen belasteter Lebensphase. — Der zweite Teil von Lessings Brief gibt — vornehmlich im Schlußabschnitt — zu einigen Fragen Anlaß. Betont Lessing in seiner Antwort auf Mendelssohns Brief vom Februar, wieviel nötige und wiederholte Ermutigung ihm das Schreiben des Freundes bedeute — zumal als ein wohltuender Gegensatz zu der ihm von der »Welt« bewiesenen »Kälte« und ungerechten Mißbilligung, so ist ohne Zweifel deutlich, daß hier die zeitgenössischen Reaktionen auf das Nathan-Drama gemeint sind' 9 ; wie Lessing offenbar aus des Freundes Brief auch vornehmlich dessen auf den >Nathan< bezogene Zustimmung herauszuhören vermocht hat. Und doch ist es in Mendelssohns Brief eben nicht mehr als ein Satz, an den eine solche Vorstellung anknüpfen kann; nicht mehr als die scheinbar sogar recht allgemein gehaltene Wendung, mit der Mendelssohn seinen Hinweis, er wolle dem Freund wenigstens einen »schriftlichen Beweis« des eigenen Daseins geben, ergänzt: »Ihnen, der Sie Ihren Freunden so viele, und zum Theil so herrliche gedruckte Beweise von dem Ihrigen geben.« 20 Fast eine nur formelhafte Wendung; und gleichwohl kann es scheinen, als habe sie auf eine nicht unpräzise Weise für Lessings Antwortbrief eine Art konkretisierende Bestätigung hervorrufen können; — des Sinnes, als hätte Lessing mit hellhöriger Genauigkeit die Formulierung Mendelssohns >so viele, und zum Theil so herrliche gedruckte Beweise< nun für seine Replik mit einem ebenfalls

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So L e o Strauss in der Einleitung zu Band 111,2 in der J u b A , S. L I V : »Für das gebührende Verständnis seiner [Mendelssohns] Reaktion auf Jacobis öffentliche Mitteilung hat man Mendelssohns Erfahrung von dem Mißtrauen der nichtjüdischen Welt gegen die Juden aber nicht weniger zu berücksichtigen als das Mißtrauen seiner, als eines Juden, gegen die nichtjüdische Welt.« Als eines der Beispiele ist der Brief Johann Wilhelm Ludwig Gleims vom 22. Juli 1779 zu nennen: »Urtheile der Bosheit und der Dummheit hört' ich die Menge.« L M 21, S. 264. Mendelssohn an Lessing am 18. Februar 1780. L M 21, S. 289.

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einschränkenden Hinweis in seinen jetzt neu einsetzenden Gedankengang hinübergenommen — und dies zugleich nicht unbegründet mit einer besonderen Hervorhebung versehen: »Daß Ihnen nicht alles gefallen«. — Sicherlich ist dies nur ein Formulierungsdetail, das zudem nur dann als nicht zufallig erscheinen kann, wenn anzunehmen ist, daß Lessing zu seiner Briefantwort Mendelssohns Brief vom Februar zur Hand und vor Augen gehabt hat. Eine Vermutung — nicht ohne Wahrscheinlichkeit, da Lessing, wie bezeugt ist, »mit seinen Briefen« überaus »aufheberisch« und gerade mit den Mendelssohn-Briefen besonders sorgfältig umzugehen pflegte 21 . Es darf somit als ein Detail gelten, das an dieser Stelle von Lessings Dezember-Brief die Richtung der mit diesen Worten jetzt ganz zum Gespräch mit Mendelssohn sich wendenden Briefmitteilung anzuzeigen vermag. — Wovon Lessing zunächst in dem hier mit bestimmterem Zeithinweis einsetzenden Rückblick spricht, ist zureichend deutlich: das von ihm »seit einiger Zeit« Geschriebene meint offenkundig den großen Komplex polemisch-theologischer und kritischer Schriften. Daß seine Streitschriften Mendelssohns Beifall nicht hatten22, hat Lessing sich nie verhehlt. Der eine der Briefsätze läßt sich auf diese Streitschriften ohne weiteres beziehen; davon hätte Mendelssohn »gar nichts gefallen müssen«. Ob aber auch die nachfolgende und erneut in scharfer Negationsform sich darbietende Aussage von gleichartig umfassendem oder generellem Sinn ist: »denn für Sie war nichts geschrieben« —, das will in dem Moment zweifelhaft oder fragwürdig erscheinen, wenn der nachfolgende Satz mit seinen konkreten Hinweisen hinzugenommen wird und in seiner Sequenz, in seiner logischen und sinnhaften Verknüpfung verstanden werden soll. »Höchstens«, so setzt Lessing seine Brieferinnerung ohne Zwischenbemerkung fort, »hat Sie die Zurückerinnerung an unsere beßern Tage, noch etwa bey der und jener Stelle täuschen können«. Diese konkreten Hinweise, die Bemerkungen über >diese und jene Stelle< sind es, die auf eine besondere Problematik oder den durchaus nicht voll transparenten Andeutungscharakter dieser Brief-Textstelle aufmerksam machen. Lessing spricht hier, wie es scheinen muß, nicht mehr 11

Karl Gotthelf Lessing an Mendelssohn am 22. April 1783: »Was mit seinen Briefen zu thun ist, weiß ich noch selbst nicht. Bis zu 1778 fand ich sie alle nach dem Alphabet geordnet, und die Ihrigen in einem Packete besonders. [...] Mit seinen Briefen ist er gar zu aufbeberisch gewesen.« J u b A X I I I , S. 105. " Dies Desinteresse ist in mehr als einem Brief erwähnt: vgl. am 29. Januar 1778 an Joh. Georg Zimmermann, J u b A 12,2, S. 109; am 24. September 1781 an Herder, J u b A X I I I , S. 27.

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vom Gesamt der Streitschriften, vielmehr — wie in einer Engführung — von einem Teil und wiederum von dessen einzelnen >StellenMorgenstundenMorgenstunden< spricht Mendelssohn darüber an der Stelle, wo er Lessings »Denkart« als einen »verfeinerten Pantheismus« zu erläutern sucht. Er kennzeichnet sie als die Denkart, die sowohl in Lessings früher »Speculation« der Schrift übers >Christenthum der Vernunft< wahrnehmbar wäre, wie denn »nicht undeutliche Spuren von eben derselben Denkungsart« auch in der >Erziehung des Menschengeschlechtsc der »kleinen Schrift«, die Lessing »kurz vor seinem Tode herausgegeben« habe, zu erkennen seien.'0 Wenn Mendelssohn dann den an dieser Stelle der >Morgenstunden< abgedruckten Text der Lessingschen Frühschrift nach dem Paragraphen 5 unterbricht und die hier ausgelassenen Paragraphen 6—12, in denen Lessing über den »Sohn Gott« als Gottes »identisches Bild«' 1 handelt, zusammenfassend charakterisiert, so ist auch das nicht wenig aufschlußreich: In den folgenden Sätzen sucht Lessing durch eine nicht unfeine Wendung, hieraus das Geheimnis der Dreyeinigkeit zu erklären; oder gar, wie er sich öfters in jüngeren Jahren schmeichelte, metaphysisch zu demonstriren. Von dieser jugendlichen Anmaßung, mit welcher die strengsten Anhänger der athanasischen Lehre selbst nicht zufrieden sind, ist er freylich in der Folge zurück gekommen. Indessen erkennet man hier noch die deutlichsten Spuren davon

LM 18, S. 110. JubA 111,2, S. 133. '' L M 14, S. 176: »§ 6. Dieses Wesen nennt die Schrift den Sohn Gottes, oder welches noch besser seyn würde, den Sohn Gott. [...]§ 8. Man kann dieses Wesen ein Bild Gottes nennen, aber ein identisches Bild.« >2 JubA 111,2, S. 134.

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Nach dem Paragraphen 27, dem Ende der hier aus Lessings theologischem Nachlaß abgedruckten fragmentarischen Frühschrift, gibt Mendelssohn — gleichsam resultativ — eine Zuordnung zu übergreifenden Auslegungsfragen: [Man könne also sehen, daß] Lessing sich den Pantheismus völlig so verfeinert gedacht, als ich ihn vorgestellt habe; in der besten Harmonie mit allem, was auf Leben und Glückseeligkeit Einfluß haben kann; ja daß er eben auf dem Wege war, pantheistische Begriffe so gar mit der positiven Religion zu verbinden: und in der That geht es hiemit eben so gut, als mit dem Emanationssystem der Alten, das viele Jahrhunderte hindurch in der Religion aufgenommen, und für die einzige rechtgläubige Lehre gehalten worden ist.' 3

Anläßlich dieser oft zitierten Formulierungen sollte wohl eigens hervorgehoben werden, daß von Lessings Intention oder seinem »Weg«: »pantheistische Begriffe« mit der »positiven Religion« zu verbinden, nicht in vager, kontextunabhängiger Allgemeinheit gesprochen wird, sondern daß davon an dieser Stelle der Ausführungen in durchaus erkennbarer Weise unter Bezug auf die Thematik der Trinitätslehre die Rede ist, wie die explizit hinzugefügte Erwähnung der »Emanationslehre der Alten« zu verdeutlichen vermag. Tritt doch damit Mendelssohns Gedankengang im gesamten Schlußpassus dieses Lessing-Kapitels besonders deutlich zutage — insofern, als die sowohl für die Frühschrift als auch für die Erziehungs-Schrift genannten »Spuren« von Lessings »Denkart« hier in ihrer thematisch-intentionalen Gleichartigkeit gekennzeichnet werden und nach dem Konvergenzpunkt dieser ihrer Thematik auch namhaft zu machen sind. Die Lessingsche Erziehungs-Schrift handelt in ihrem Paragraphen 73 ja nicht nur überhaupt oder in unbestimmter Form von der »Lehre der Dreyeinigkeit«, sondern handelt auf eine Weise von diesem Thema, die eine Verwendung des Begriffs der >transcendentalen Einheit< Gottes nahelegt54; — eine Weise überdies, die auch expressis verbis in der Erzie» J u b A 111,2, S. 136. L M 13, S. 430. - Dieser im § 73 verwendete Begriff der >transcendentalen Einheit< gehört zu den zentralen Auslegungsfragen, die in der Diskussion um den Spinozismus eine nicht geringe Rolle spielen. Ein Problembegriff, der nicht nur in Jacobis Ausführungen mehrfach Erwähnung findet, sondern z. B. auch im Briefwechsel zwischen Mendelssohn und Joh. Alb. Heinrich Reimarus anzutreffen ist. Lessing verwendet den Begriff in der Erziehungs-Schrift auch im § 14 unter Hinweis darauf, daß er einem relativ späten Stadium der religionsgeschichtlichen Entwicklung zugehöre, in dem die Vorstellungen vom >Einigen< oder >Unendlichen< in differenzierterer Form gedacht werden. So spricht er im § 14 von dem »wahren transcendentalen Begriffe des Einigen, welchen die Vernunft so spät erst aus dem Begriffe des Unendlichen mit Sicherheit schließen lernen.« L M 13, S. 418.

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hungs-Schrift als prinzipielles Problem oder als eine Art Grundintention artikuliert ist: als »Ausbildung geoffenbarter Wahrheiten in Vernunftswahrheiten«". Liegen damit die >Spuren< klar genug gezeichnet vor Augen, die — wie Mendelssohn sagt — sowohl Lessings frühen Spekulationen wie der »kleinen Schrift« aus seiner Spätzeit abzulesen sind, so verweisen sie auf eben die Gedankenkonstellation, die — wenn auch nicht mit so ausgeprägter Deutlichkeit wie in der Erziehungs-Schrift, sondern nur in nuce — in den oben genannten Briefen von 1774 schon hervorzuheben war. So sprechen denn Mendelssohns Deutungshinweise in den >Morgenstunden< von diesem besonderen, ihn mit Lessing von frühester Zeit an verbindenden Probleminteresse; sie sprechen von der Kontinuität des freundschaftlichen Gesprächs und einer auch — trotz manchen Intervalls — bis in die Spätzeit hinüberweisenden Gedankennähe. Es wäre unbegründet, dieser Deutung Mendelssohns nur darum geringen Aussagewert zumessen zu wollen, weil sein Spätwerk von 1785, erst nach den von Jacobi brieflich vorgebrachten Fragen und Problemthesen entstanden ist; seine Darlegungen lassen sich nicht als >unsachlich< abtun oder desavouieren. Daß zumindest die von Mendelssohn zitierten oder präzis erwähnten Lessing-Schriften von objektivem Gewicht sind, — daß sie auch in der ihnen mit Mendelssohns Anordnung verliehenen Perspektive als Dokumente eines >Sachverhalts< zu verstehen sind, sollte nicht strittig sein. Die bisher genannten Zeugnisse und Kontexthinweise bekunden mit zureichender Deutlichkeit, welcher Thematik —, welchem besonderen Probleminteresse der Dialog zwischen Lessing und Mendelssohn auch in der Spätzeit gegolten hat. Wie aber Lessings letzter Brief an Mendelssohn in diesen Dialogzusammenhang einzuordnen ist —, welchen genaueren Sinn die gegen Ende des Briefs an den Freund gerichteten, nur andeutenden Bemerkungen haben, — das ist damit noch nicht geklärt. Durch die Reihe der Kontexthinweise darf die Annahme als bestätigt gelten und ist mit größerer Sicherheit als bisher zu sagen, daß Lessing sich mit diesen andeutenden Briefwendungen auf die Erziehungs-Schrift bezieht — und zwar vornehmlich auf Textstellen im Paragraphen 73 dieser Schrift. Da damit aber zunächst nicht mehr als die Grundthematik als solche angezeigt ist, muß gerade mit dieser Thematik und allen den ihr zugehörigen Teilproblemen die Frage nur umso dringlicher werden, wel-

" L M 13, S. 432. In diesem 76. Paragraphen betont Lessing, daß dies keineswegs gegen die >Geheimnisse der Religion< gerichtet sei, ihnen vielmehr mit neuem Begreifen zu begegnen suche.

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eher Sinn denn stricte den nur schwer aufzuhellenden Sätzen im Schlußpassus von Lessings Brief zu entnehmen ist. Sprechen diese den Freund einbeziehenden Erinnerungshinweise noch von der Gedankennähe und vom wissenden Einverständnis — oder deuten sie möglicherweise auf Befremdung, gar eine bisher nicht einbekannte innere Ferne? Hier mag eine bis ins Wortdetail gehende, auch die tentative Paraphrasierung nicht scheuende Erläuterungsbemühung noch angebracht sein, um der Sinnsprache auch im letzten Passus des Briefs näherzukommen. Ohne viel Schwierigkeiten läßt sich die Erwähnung von mehr als einer >Stelle< der (wie jetzt zu sagen möglich ist:) Erziehungs-Schrift — oder spezieller auch: ihres Paragraphen 73 erklären. Enthält doch dieser Paragraph — ohnehin der längste in der Schrift — mehrere solcher Stellen, in denen auf geradezu augenfällige Weise Begriffe oder Vorstellungen vorkommen, wie sie auch aus früheren Phasen des Disputs bei Lessing und Mendelssohn bekannt sind. Dazu zählt vor allem anderen das hier deutlich und explizit wiederkehrende >Spiegel-Gleichnisfür ihn< nicht geschrieben. Einer solchen Erklärungsversion fehlt es an Plausibilität; ist es doch eben die in Paragraph 73 erörterte Dreieinigkeitslehre, die zu den von Lessing und Mendelssohn von früh an diskutierten Problemthemen zählt. Dies aber —, diese vielfach bezeugte und mit den Kontexthinweisen ausführlich erörterte Tatsache ist als gewichtiges Argument für eine andersartige Erläuterung, eine plausiblere Möglichkeit des Erklärens anzusehen: Gerade weil diese Thematik in der Erziehungs-Schrift zur Sprache kommt und auf nicht wenige der früher mit Mendelssohn ausgetauschten Gedanken zu verweisen vermag, ist es hohen Grades wahrscheinlich, daß Lessing sich auch dessen bewußt gewesen ist, wie sehr Mendelssohn in dieser — und der damit im weiteren Umkreis tangierten — philosophischen Materie von Grund auf vertraut und mit seinen besonderen Wissensvoraussetzungen ihm, Lessing, darin auch überlegen sei. Wie denn der von Februar 1774 datierende — oben zitierte — Brief an Mendelssohn deutlicher Beleg dafür ist, daß Lessing sich des Freundes belehrend-überlegener Antwort auf die — wie er es nennt: >GrillenZurückerinnerungDenkart< und Denkwelt keineswegs an Bedeutung und Gewicht verloren hat. Damit aber —, wenn ein solcher Erinnerungsgedanke als gleichsam mitgehendes Bewußtsein gerade für die andeutenden Wendungen des späten Briefs an Mendelssohn anzunehmen ist, hebt sich mit nicth geringer Klarheit die Deutungsmöglichkeit heraus, daß es mit dem so mühsam zu erhellenden Satz und den so hart anmutenden Formulierungen im Schlußpassus des Lessing-Briefs eine alles andere als negative, abweisende Bewandtnis haben möchte. Wohl aber und vielmehr eine Bewandtnis — von etwa folgendem Sinn: ,B

Es ist daran zu erinnern, daß die von Lessing in den Paragraphen 73 — 75 behandelten Themen: Trinität — Erbsünde — Satisfaktion gerade diejenigen sind, die Mendelssohn expressis verbis z.B. in seinem Brief an den Erbprinzen 1770 abgelehnt hat; vgl. JubA VII, S. 3 0 0 f r . " »Meiner ehemaligen Grillen über eben diesen Gegenstand erinnere ich mich noch wohl, und eben so wohl auch dessen, was Sie mir damahls darauf antworteten, [...].« L M 18, S. 110. 181

Für ihn, den Freund, der mit einigen Textstellen an Früheres erinnert sein mag, an Gedanken und Probleme, die vor allem er — >aus erster Hand< kennt, — er, der in der damit gemeinten philosophischen Materie wie wenige vertraut und der mit seinem weitausgreifenden Wissen darin nachgerade beheimatet ist, —: für ihn ist davon »nichts geschrieben«; ihm müßte davon auch »nichts gefallen«. So mag es Lessings besonderes Verständigtsein mit Mendelssohn, sein sehr genaues Wissen von der Geistesart und Gedankenwelt des Freundes gewesen sein, nicht weniger auch das Bewußtsein von unveränderter vertrauend-teilnehmender Gesprächsnähe, die den Lessings Brief beschließenden Formulierungen ihr Gepräge gegeben haben mögen. Ist doch auch der mit den so bewegenden Abschiedsgesten des Briefs sich verbindende Wunsch Lessings, Mendelssohn »noch einmal« zu sprechen, Ausdruck der den ganzen Brief bestimmenden Gedankennähe und Freundeszugewandtheit. Auch in unserem Zusammenhang sollte wohl ein Kontexthinweis nicht unerwähnt bleiben, der — im Sommer 1780 einer oft zitierten Realsituation zugehörend — als bemerkenswertes Zeichen dafür zu verstehen ist, daß der Gedankendialog mit Mendelssohn für Lessing auch in diesem Lebensjahr auf deutliche Weise präsent gewesen ist. Dies ist auch deshalb genauerer Erwähnung noch wert, da — seit Jacobi späterhin diesem Zeichen seine eigenwillige Deutung gegeben hat — oft genug befremdliche Aussagen über das Lessing-Mendelssohn-Gespräch sich darauf berufen. Es handelt sich um den Teil des von Jacobi berichteten Gesprächs vom Juli 1780, in dem namentlich von Mendelssohn die Rede ist. Lessing habe ihm auf die Frage, »ob er sein eigenes System nie gegen Mendelssohn behauptet habe«, geantwortet — so heißt es mit wörtlich kolportierter Lessingscher Direktrede in Jacobis Bericht »>Einmal nur sagt ich ihm ohngefahr eben das, was Ihnen in der Erziehung des Menschengeschlechts (§ 73) aufgefallen ist. Wir wurden nicht miteinander fertig, und ich ließ es dabei.Epo-

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Thomas Mann, Bd. n , S. 195. Thomas Mann, Bd. 10, S. 19. 7 Hugo von Hofmannsthal, S. 481. 8 Ebd., S. 485. ' W.Jens, S. 38. W. Jens, S. 48: »ein Meister jener materialen, enthusiastischen Rhetorik, deren Bestimmung es nach Novalis' Wort ist, die Philosophie zu realisieren.« " Klaus Peter, S. 36, über Schlegels Lessing-Deutung: sie sei nicht nur eine »eigenwillige Interpretation«, sondern bedeute auch »mehr eine >Charakteristik< dessen, was Schlegel damals als seine eigene Stärke erkannte«; er spreche also »pro domo«. - Mit Auslegungen wie diesen wird aber die für Friedrich Schlegel und auch für andere der Frühromantiker gravierende Bedeutung und Rezeption bestimmter Probleme der späten Aufklärung verkannt. 6

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chen< oder >StufenNathan< auch und gerade den prosaischen Schriften der letzten Jahre ein nahezu unübertroffener künstlerischer Rang zukomme. Das bestimmende künstlerische Prinzip dieser Spätschriften deutet Schlegel als etwas, das der »Form [...] des Plato« 1 ' sich nähere. Das Nathan-Drama zeige, wie es mit besonders eindrucksvollem Wort Schlegels hier heißt, einen »Enthusiasmus der reinen Vernunft«'4. Die diesem Werk eignende »philosophische Tendenz« 1 ', so lautet der fast als Quintessenz in dieser Schlegelschen Charakterisierung mehrfach wiederholte Deutungsgedanke, dürfe als das bestimmende Prinzip künstlerischer Gestaltung in Lessings Spätschriften gelten. Dieser >Tendenz< sei es zu verdanken, so erläutert Schlegel dann erneut in den späteren, 1801 und 1804 datierenden Lessing-Aufsätzen, was als »symbolische Form«' 6 in Lessings Spätwerk zu bezeichnen sei: jenes Merkmal der »höhern Kunst«' 7 , das Schlegel nicht als eine in sich beruhende, >geschlossene< Form versteht, sondern als eine vielfältige, deiktische Bewegungskraft. In ihr liege die >Tendenz< oder eben auch »Lessings Philosophie«, die gewiß »am meisten Fragment geblieben« sei, aber über »alle seine Werke« gerade der letzten »Epoche seines geistigen Lebens zerstreut« liege 18 . Nicht unbegründet bezieht Schlegel sich auf Lessings Selbstcharakteristik am Ende der Hamburgischen Dramaturgie' 9 ; und er versucht, konkrete, sprachstilistische Besonderheiten mitzudenken, wenn er auf die Lessing eigentümliche Synthese von Kritik und poetischer Produktivität, von >Witz< und >Einbildungskraft< verweist, — auf diese »innigste Vermischung und Durchdringung der Vernunft und der Fantasie«20. Offenbar hat Schlegel etwas von dem vor Augen, was in Lessings Sprachweisen alle >buchstäblichen< Erscheinungsformen 21 der Aussagen oder den (mit Herders Wort:) »Eigensinn der Sprache selbst«22 übersteigt und sie als etwas nur Zeichenhaftes transparent zu machen imFr. Schlegel, K F S A , Bd. II, S. 108. Ebd., S. 415. '< Ebd., S. 119. 15

Ebd., S. 1 1 7 u. 123. Ebd., S. 4 1 2 . 17 Ebd., S. 414: >höhere Künste, in der »der Schein des Endlichen mit der Wahrheit des E w i gen in Beziehung gesetzt« wird. " Ebd., S. 107. L M io, S. 2o8ff. Vgl. dazu V f . : Die Vorstellungen vom >unpoetischen< Dichter Lessing. 10 Fr. Schlegel, K F S A , Bd. III, S. 8;. 21 Fr. Schlegel, K F S A , Bd. II, S. 109: »Überhaupt war unbegrenzte Verachtung des Buchstabens ein Hauptzug in Lessings Charakter.« " J. G . Herder, SW, Bd. X V , S. 487. 16

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Stande ist. Und wohl ist Schlegel in Lessings späten Schriften belesen genug, um für diese seine Deutung nicht eben wenige der Hinweise von Lessing selbst anführen zu können; Hinweise vielfach verschlüsselter Art, aber auch solche, die von einem die sprachlichen Darbietungsformen auch in ihren »ungewöhnlichsten Cascaden« 2 ' überbietenden >Sinn< handeln. Will man das in Lessings Andeutungen gemeinte gedankliche oder philosophische Prinzip vorgreiflich und in abbreviierter Weise kennzeichnen, so wäre es als eine kritisch-reflexionsgeleitete Intention sprachlicher Darbietung zu verstehen, der es auf das Bewußtsein der Vorläufigkeit, der Bedingtheit oder auch Unzulänglichkeit von Sprache und Aussageformen anzukommen scheint. Eine Intention, die diese Formen als mitzubedenkende zeichenhafte Erscheinungsweisen einer weitergreifenden Gedankenbewegung zu annoncieren für nötig hält; jener Bewegung, die als >vis motrix< nie gänzlich in die präsenten Sprachzeichen einzugehen vermag — und die somit auch und gerade in Sprache und Stil kaum etwas anderes als >fermenta cognitionis< zu erkennen geben will. Wenn diese Intention auf solche Weise sich auswirkt, daß in Lessings Sprachstil merkliche Relationen oder Spannungen zwischen Wort und Gedankengang oder eine Bewegung des erst >entstehenden< Gedankens zutagetreten, — wenn diese Intention teilhat an der oft beobachteten, von Lessing selbst zum Thema erhobenen Spannung zwischen Bild und Begriff 74 , so sind doch die Möglichkeiten des Verstehens oder die Erklärungen dafür keineswegs einhellig. Weder ist das zugrundeliegende Problem aus generellen Gegebenheiten der Sprache, noch auch nur mit dem Konstatieren von Formen des Rhetorikrepertoires zureichend zu erklären. Und sicherlich sollte das schon hier und eigens betonte Wort vom >Überbieten< dieser Formen nicht so verstanden werden, als handle es sich um jene forcierte oder emotionsintensive Hyperbolik, wie sie in der Lessing-Zeit in mancherlei Sprachexaltationen der Jüngeren beliebt gewesen ist. Lessings kritische Distanzierung von Ausdrucksweisen dieser Art ist bekannt genug. Wenn Lessing in die entgegengesetzte Richtung tendiert, so will es gleichwohl nicht zureichend erscheinen, nur auf die »nüchterne Prägnanz des Ausdrucks« 25 zu verweisen, falls damit nichts als eine sachverständige Wortkargheit gemeint wäre. Wohin gehören sie dann, die >WortgrübeleienFingerzeige L M 13, S. 149. L M 13, S. i88ff. u. ö.; diese Fragen hat Jürgen Schröder mit besonderer Ausführlichkeit erläutert. Emil Staiger, S. 143.

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»Fratzenhäuserchen« 26 und »ungewöhnlichsten Cascaden« in Lessings Stil und Mitteilungsformen? Vermutlich haben sie mehr oder anderes auf den Weg zu bringen als jenen >ProzeßHandlung< — oder den Herder als das >Werden der GedankenAkzentverschiebungenironische< Kunst bezeichnet und mit den Redeformen der sokratischen Dialoge verglichen hat. Diese »Mitteilungskunst vor allem der späten Schriften Lessings«, so heißt es erläuternd, »besteht in einer meisterhaften Art des Verschweigens. Ohne die Lucidität zu trüben, wird seine Vorliebe für kryptische Einfälle und Anspielungen, für lakonische Winke, Fingerzeige und Verknappungen, für paradoxe Antithesen, ironische Rätsel und Geheimnisse, für Metaphern, Gleichnisse, Sinnbilder, Allegorien, Parabeln und Fabeln, für das Ausweichen und Abbrechen der Rede, für das hintersinnige Rollenwesen, für alle indirekten und somatischen Formen der Sprache immer größer« 3 ". Sicherlich haben manche der hier aufgezählten, als >indirekt und sokratisch< charakterisierten Sprachformen mit Lessings »Scheu vor aller Positivität, vor allem dogmatisch Fixierten«, — mit seiner »Achtung vor der Vieldeutigkeit des lebendigen Lebens«' 1 zu tun. Vielleicht ließe sich auch an ein sehr frühes Diktum Lessings erinnern, das — obschon Zeugnis von Sensibilität im kritischen Amte — auch auf Lessings späteres Sprachverhalten zutreffen mag: das Wort von derselben »Zärtlichkeit des Geistes«, mit der er die > Schönheit und >Mängel< einer Sache gleicherweise empfinde 52 . Gleichwohl darf es scheinen, als bedürften die oben genannten Formen wissenden Vorbe26

L M 13, S. 191. J. G. Herder, SW, Bd. III, S. 12: »wir sehen sein Werk werdend [...]. Er scheint uns die Veranlassung jeder Reflexion gleichsam vor Augen zu führen, [...]. Jeder Abschnitt [...] im Fortschritt, im Werden.« !8 Jürgen Schröder, S. 114. "•< Ebd., S. 134. Ebd., S. 105. >' E. Staiger, S. 148. L M S. 77. 17

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halts und der reflexionsgeleiteten Verweisungen in Lessings Spätstil einer andersartigen Erläuterung. Die Fragen und vielfach wiederkehrenden Andeutungen über die Grenzen des Sagbaren, die skeptischen Reflexionen über die Unzulänglichkeit von >Namen< und >Begriffsworten< zeigen in Lessings Spätzeit ein so großes Gewicht, daß ihnen eigens nachzugehen wohl geboten erscheinen will. Gilt es doch, die besondere gedankliche Dimension nicht zu schmälern, den Problemkreis nicht zu eng zu ziehen, — Lessings Erfahrung von den Grenzen des Sagbaren auch und vor allem als die Einsicht zu verstehen, die um Unverfügbares als ein ganz >Anderes< wissend, diesem die Art von Achtung zollt, die auch die menschliche, vor allem begriffliche Sprache als unangemessen und >unterlegen< erkennt. Nicht umsonst ist es dies Wort, das Lessing angesichts eines der schwierigsten, philosophisch-theologischen Themen in seiner Erziehungs-Schrift braucht; angesichts der Trinitätsproblematik sei es möglich, so gibt Lessing hier zu bedenken, daß er sich vielleicht nicht so sehr irre, »als daß die Sprache meinen Begriffen unterliegt«53. Auch die Ernst-und-Falk-Dialoge kennen die Reflexionen über die der Mitteilung und gerade den Begriffen gebotenen Grenzen. Auch hier wird die Achtung vor eben der Dimension und der Problemerfahrung postuliert, die diejenigen mit ihrem >Geheimnis< und zu einer »unsichtbaren Kirche«' 4 verbindet, die einen höheren Grad von Erkenntnis und Verantwortungsbereitschaft erlangt haben. Aufschlußreich aber wohl, daß ein solches Bewußtsein über die Grenzen der Mitteilbarkeit und der >Begriffe< eigens annonciert und in vielfachen Formen indirekten Sprechens verdeutlicht und realisiert wird. Es kann kaum zweifelhaft sein, daß dies Problem der die eigenen Schranken wissenden und sich selbst reflektierenden Sprache eine nicht geringe Bedeutung in Lessings Spätzeit besitzt. Um so deutlicher sollte zugleich hervorgehoben werden, daß Lessing angesichts dieses gravierenden, in den persönlichen Erfahrungen wie zeitgeschichtlichen Auseinandersetzungen sich aufdrängenden Problems weder in die in seiner Epoche sonst so reichlich und pathetisch dargebotenen Unsagbarkeitstopoi geflüchtet, noch in eine »Dimension der Tiefe«", nicht ins Sprachdunkel oder ins Raunen ausgewichen ist. Auch das aus den Ernstund-Falk-Dialogen oft zitierte Wort: »Der Weise kann nicht sagen, was er besser verschweigt«36, hat diesen Charakter nicht. Dies Diktum erweist sich im Zusammenhang des Dialogs als ein vornehmlich die Moralität von Sein und Verhalten betreffender Hinweis, - als eine Maxime souve53 36

LM 13, S. 431. LM 13, S. 353.

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LM 13, S. 361.

)> E. Staiger, S. 143.

räner ethischer Selbstverpflichtung; nicht aber in erster Linie als eine Aussage noetischen und sprachlichen Sinnes, wie er in mancher Andeutung sonst in Lessings Spätschriften zu finden ist. Daß das Bewußtsein dieses in der Sprache sich signalisierenden Problems, das Wissen von den Grenzen des Erkennens und des >worthaften< Erfassens bei Lessing nicht in agnostizistische Starre oder Sprachverweigerung führt, sondern vielmehr aufs deutlichste das Stigma der »Unruhe« als des Lessing eigentümlichen »Elements« 37 intensiviert, das ist dem Rededuktus so vieler seiner Mitteilungen unschwer abzulesen. Nicht grundlos sind es die theologiekritischen Auseinandersetzungen, in denen dieser Duktus, dieses >UnruheElement< mit immer neuen Signalisationsformen zutagetritt. Und gerade für diese Schriften muß es unumgänglich erscheinen, jeweils die Grundgedanken hinter den mittelbaren, scheinbar >spielend< sich darbietenden Äußerungen mitzudenken, — so wie es Lessing selbst in einem seiner Hinweise im zweiten >Anti-Goeze< erwähnt hat: »Auch bin ich mir bewußt, daß er [der eigne Stil] gerade dann die ungewöhnlichsten Cascaden zu machen geneigt ist, wenn ich der Sache am reifsten nachgedacht habe. Er spielt mit der Materie oft um so muthwilliger, je mehr ich erst durch kaltes Nachdenken derselben mächtig zu werden gesucht habe.«' 8 Bedeute denn der Stil, — die Art »wie wir schreiben«, — nur etwas >Zeichenhaftesviel< darauf an, »wie wir denken«' 8 . Ein kritischer Hinweis, der sicherlich einer allzu selbstgenügsamen Freude am ästhetisch-artistischen Erscheinungsbild des Lessing-Stils entgegengehalten werden darf. In einer Bemerkung wie der, Lessings Prosa sei überaus >reizvollFreiheit< hätten, das >Theologische< in Lessings Goeze-Schriften »nur als Vordergrund und Vorwand für allgemein Geistig-Sittliches zu empfinden« 40 , wäre als unzulänglich zu bezeichnen, wenn dies eine Lizenz zu einer ins Allzu-Allgemeine oder auch >Beliebige< sich verlierenden Betrachtung, eine nur vage >Liberalität< des Verständnisses meinte. Der Begriff des >Geistig-Sittlichen< ist hier sicherlich ausschlaggebend und müßte auch in seinem jeweils zeitbedingten Gehalt danach befragt werden dür57

Konrad Arnold Schmid am 7. j. 1778 an Lessing: »Denn die Unruhe ist ja wohl Ihr Element.« L M 2i, S. 203. " L M 13, S. 149. »» E. Staiger, S. 143. 40 Thomas Mann, Bd. 10, S. 18. J95

fen, ob er denn für die in Lessings Spätschriften anzutreffenden Grundgedanken differenziert genug und adäquat zu nennen wäre. Wenn als das Leitthema oder Grundproblem in den theologiekritischen Spätschriften Lessings Frage nach der Wahrheit der ReligionenDuplik< von einem unmißverständlich bekundeten Verzicht auf die relativierenden< Auslegungen abzuschwächen oder das Problem mithilfe psychologisierender Umschreibungen zu verkürzen oder zu verschieben. Meint das Wort aus der >Duplik< wirklich nicht anderes als dies, daß — wie Thomas Mann formuliert — Lessing »die Wahrheit aufs Menschliche zurückbog«; oder, so heißt es um einen Grad deutlicher auch: daß damit der »Wert der Wahrheit und fast die Wahrheit selbst zu subjektivieren« gesucht werde? Selbst der nachdenkenswerte Hinweis Thomas Manns, daß es für Lessing eine »tiefe Skepsis im Objektiven« 41 gegeben habe, müßte sich befragen lassen, was mit dem Wort vom >Objektiven< gemeint sei. In den jüngeren Lessing-Deutungen ist eine andersartige Frage in den Vordergrund gerückt, — diejenige nach Lessings sozial-ethischen Vorstellungen und seinen moralisch-pädagogischen Postulaten, wie sie der Einsicht, daß es eine habhaft zu machende >absoluteeinzige< Wahrheit nicht geben könne, gefolgt seien. Wenn aber Themen dieses Problemkreises wie >IntersubjektivitätVerständigung< oder kommunikative Wahrheitsfindung^ 2 ins Zentrum dieser Deutungen rücken, — wenn betont worden ist, daß dem Bewußtsein von >Kontingenz-Bedingungen< zufolge sich für Lessing »vor die reine Wahrheit das ethische Motiv der Intersubjektivität« geschoben habe und sich mit dieser »ethischen Dimension« zugleich die »Dominanz des Praktischen« durchsetze4', so bleiben auch für unseren jetzt zu erörternden Zusammenhang einige Fragen offen. Niemand wird die Bedeutung der genannten >inter«• Ebd., S. i6f. 42 So der Titel von Beate Wehrlis Untersuchung. Lessings Sprache, so wird hier kategorisch erklärt, »zielt immer auf deren Gebrauch« (S. 47); und Lessings >Wortgrübelei< bedeute »Deskription der Situation« und sei »als Sprachkritik immer schon Ideologiekritik« (S. ;o). Wenn B. Wehrli für das Nathan-Drama als »Spiel vom sittlichen Handeln« einräumt, es gäbe darin so etwas wie eine »Dialektik von gesellschaftlichem Handeln und göttlicher Vorsehung« (S. 170), so gelangt doch deren Berührung oder >Confiniumkommunikativen< Problematik in Lessings Œuvre bestreiten oder schmälern wollen; auch sind Hinweise darauf, daß — da Lessing sich nicht anheischig macht, inhaltliche Auskunft über metaphysische, unbeantwortbare Fragen oder über >positiv-theologische< Lehrgehalte zu geben, — ihn dies veranlasse, nur in »Bildern und Gleichnissen« 44 zu sprechen, von durchaus hohem Belang. Ist doch eine Wendung zur indirekten und zumal zur poetischen Sprache, wie einleitend oben zu betonen war, eine der Lessingischen Formen der Anerkenntnis menschlicher Bedingtheit; ein solches Bewußtsein mit seiner Wendung zur Literarität, so ist hervorzuheben gewesen, ist durchaus als eine Möglichkeit der sich selbst begrenzend-bestimmenden Vernunft zu verstehen, die der geistigen Signatur von >Weisheit< zuzuordnen ist. Damit sollte aber nicht begründet sein, daß der Blick ausschließlich auf >Pragmatisches< oder allein das zwischenmenschliche Handeln zu richten wäre, — daß das Thema der >kommunikativen< Verständigung nahezu allein dominierend ins Zentrum der Lessing-Auslegungen rücken sollte.45 Damit, so ist zumindest bedenkenswert, werden möglicherweise die den >ethischintersubjektiven< und >kommunikativen< Konsequenzen vorausliegenden oder sie auch erst eigentlich begründenden Einsichten Lessings, — werden die noetischen Probleme und >Grenzerfahrungen< überdeckt oder allzu sehr als ein gleichsam >selbstverständlich< gegebener Hintergrund aus der notwendigen Erwägung von übergreifenden Fragen in Lessings Spätwerk herausgehalten. Und nicht zuletzt sind es diese Probleme und >GrenzerfahrungenGuten< nicht allein der >Autonomie< des Moralischen zu verdanken ist, so läßt sich an ein poetisch-fiktionales Bild: das des Templers im Nathan-Drama erinnern. Denn weder ist sein >spontanes< Verhalten, noch sein emotionsgeleiteter, vermeintlich >nützlicher und guter Wille< eine ausreichende Bürgschaft für >gutes Handelns Dagegen ist es die in einer Grenzerfahrung, im Confinium von moralitas und religio sich begründende Vernunfterfahrung und Bereitschaft zur Güte (diese oben für die

44 45

Dies der Hinweis Goezes in >Lessings Schwächen< I; Münchner Ausgabe, Bd. 8, S. 210. Es ist hier wohl auch zu erinnern an die Lessing-Deutung Sören Kierkegaards, daß Lessing sich »jede Komplizenschaft« verbeten habe; er entziehe sich dem Versuch, »ihn in das positiv Soziale einzugliedern.« S. Kierkegaard, S. 197. x

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Nathan-Szene IV,7 aufgewiesene Thematik), mit der Nathan zum Widerstand gegen lebensfeindlichen Haß, zu >Wohltun und Verträglichkeit, zu gelingender >Intersubjektivität< und Verständigung fähig wird. — Auch wenn hier auf die Bedeutung solcher >Grenzerfahrung< nochmals hinzuweisen war, so ist doch jetzt weder von den Inhalten, noch von solchen im Fiktionalen gründenden Bildern, — nicht generell von poetisch-indirekten Sprachformen als solchen zu handeln. Davon vielmehr, ob und in welcher Weise in Lessings späten Prosaschriften Hinweisformen oder Modalitäten sprachlicher Mitteilung zu erkennen sind, die als Zeugnis von »Grenzerfahrungen«, — als besonderes Bild oder Zeichen einer solchen noetisch-sprachkritischen Reflexion gelten dürfen. So wenig Lessing einem rigoros agnostizistischen Skeptizismus — und dessen möglicher Konsequenz in der Verweigerung jeglicher Sprachmitteilung >sans raisonner< gehuldigt hat, so wenig läßt sich behaupten, daß es auffällig viele oder nur ostentativ-direkte Hinweise auf solche Erfahrungen der Grenze in Wissen und Erkennen und sprachlicher Mitteilbarkeit in Lessings Spätwerk gäbe. Sie begegnen weder häufig noch in besonders sinnenfalliger oder drastisch pointierter Deutlichkeit. Das aber dürfte kein Argument gegen die Aussagekraft solcher Stilgesten sein, in denen eben das selbstkritische Lessingische Sprachbewußtsein seine Zeichen findet, um den Modus fixierend-behauptender, dogmatischer, apodiktischer Aussagen zu vermeiden. Für diese Art von Signalisation einer wissend-sprachkritischen Selbstreflexion und einer Intention, der es um die Offenheit und bewegende Kraft der mitzuteilenden Gedanken geht, mag der Schlegelsche Hinweis auf die Lessing eigentümliche philosophische Tendenz< nicht unangemessen erscheinen. Wenn Friedrich Schlegel in einer seiner Notizen auch auf Lessings »philosophische Form« hindeutet und diese — abbreviierend — mit dem Wort »transcendentale-sokratische Ironie«46 bezeichnet, so liegt in diesem Terminus eine nachdenkenswerte Ergänzung. Wird doch damit das Gedankenelement betont, das — nach dem um 1800 geläufigen, >klassischen< Sinn des Begriffs >transcendental< — der >Bedingung der Möglichkeit selbstkritischer Reflexion gilt; ein Wort demnach, mit dem Schlegel nicht unangemessen zu unterstreichen weiß, was er mit der Vorstellung von >sokratischer Ironie< verbindet.

46

Friedrich Schlegel in den Notizen unter dem Titel: >Zur Philosophie< (1797): »Lessing hat unter allen modernen Natur(p[philosophen] allein ipa[philosophische] Form (transcendentale - sokratische Ironie).« K F S A , Bd. X V I I I , S. 79; Nr. 604.

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Mit schlichterer Wendung hat Jean Paul davon gesprochen, was ihm in des »besonnenen Lessing« 47 — oder, wie er auch sagt: dank der »genialen Freiheit und Besonnenheit« 48 dieses >Prosaisten< »in der Denk = Kunst romantisch« vorkomme 49 . Auch fehlt es nicht an solchen Hinweisen, die Lessings Werke als »philosophische Selbstgespräche«50 zu charakterisieren suchen. Lessing schreibe »Monologe«, die mit ihrer >sich selbst erfassendem Bewußtheit, so die Formulierung von Th. W. Danzel, sich ausnähmen wie etwas »im Sinne einer Selbstergreifung«' 1 . Umschreibungen wie diese ließen sich durchaus als Hinweis auf die Art von Sprachgesten in Lessings Stil verstehen, in denen die Zeichen der der Sprache selbst begegnenden kritischen Reflexion sichtbar werden. Dies könnte, um hier nochmals ein Jean-Paul-Wort über Lessing in Anspruch zu nehmen, so etwas sein, wie der »mit der Sache durchwirkte Stil«' 2 , — wenn denn unter dieser >Sache< Lessings kritische Sprachbewußtheit zu denken wäre. All dies, was hier vorgreiflich zu skizzieren und zu erwägen gewesen ist, gilt es jetzt in näherer Betrachtung von Textbeispielen genauer auszumachen. In welcher Weise, — in welchen Formen hat das sprachstilistische Wahrnehmbarkeit gefunden, was mit dem Wort von Lessings >DenkstilGanzenUmrißzeichnung eines Schattens< (demnach weniger als sensu stricto der Terminus >AbbildSinnganze< des Dichterwerks als etwas Skizzenhaft-Andeutendes, dem Sinn dessen gemäß, was Lessings Wort von der >poetischen Wahrheit< zu sagen sucht. — Vergleicht man gerade diese Textstelle mit einem sehr andersartig stilisierten, doch im Bildwort ähnlichen Hinweis, wie ihn Herder in seinem auf Lessing-Gedanken antwortenden Shakespeare-Aufsatz gibt, so tritt eine signifikante Differenz zutage. Nicht von >Absonderung< aus der Vielfalt der Naturerscheinungen ist anläßlich des Kunstwerks bei Herder die Rede; für ihn sind Shakespeares Dramen unmittelbar »Auftritte der Natur«: »dunkle kleine Symbole zum Sonnenriß einer Theodizee Gottes«, mit denen sich die »Absicht des Schöpfers« erfülle 12 . Bildliche Hinweise in offensichtlich enthusiastischer Emphase und in einer reihend elliptischen Satzform, deren indikativischer Modus: eine >So-ist-esSinngedanken< als >EntwurfDuplik< Einen Lessing-Text hier anzuführen, der neben der Ringparabel zu den bekanntesten und meisterwähnten Lessing-Zitaten gehört — das berühmte Wahrheits-Diktum aus der >Duplik< —, das könnte als müßig oder gänzlich überflüssig erscheinen, wenn es dabei um nichts anderes als den zu isolierenden und paraphrastisch zu repetierenden Gedanken dieses Zitatwortes ginge. Mit der Frage aber nach den Besonderheiten der Sprachgestik wird nicht allein ein Rekurs auf einige andere Textstellen aus den Einleitungsabschnitten der >Duplik< unumgänglich, zugleich tritt mit den genaueren Konturen der Rede- oder Stilformen der Problemsinn der vielzitierten Worte um Grade deutlicher vor den Blick. — Zunächst aber der Wortlaut der beiden letzten Textabschnitte: Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgend ein Mensch ist, oder zu seyn vermeynet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Werth des Menschen. D e n n nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine K r ä f te, worinn allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. D e r Besitz macht ruhig, träge, stolz Wenn G o t t in seiner Rechten alle Wahrheit, und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusätze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demuth in seine Linke, und sagte: Vater gieb! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein! 1 '

Nicht zufallig hebt Goeze in seiner ersten, Satz für Satz ausführlich durchgehenden Betrachtung über eine Stelle aus Hn. L. Duplik, in welcher er der heil. Schrift geradezu widerspricht, und wahren Unsinn nie'» LMij.S. 23f. 206

dergeschrieben hatSpiegelung< eines Irrtums oder einer von Lessing >erfundenen Wahrheit< dargebotenen »möglichen Fall« (also: eine >ParabelDuplik< im Blick zu behalten ist — aus der Einleitung im vollen Wortlaut angeführt: Mein Ungenannter behauptet: die Auferstehung Christi ist auch darum nicht zu glauben, weil die Nachrichten der Evangelisten davon sich widersprechen. 14

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Johann Melchior Goezes Titel des II. Abschnitts von >Lessings Schwachem; Münchner Ausgabe, Bd. 8, S. 20;. Ebd., S. 206; nach Zitierung der beiden letzten Abschnitte aus der >Duplikobschon-Partikelparabolische< Sprechweise nicht nur nach dem >Ernst ihres Scheins^ 6 verkannt und mißdeutet, — er hat auch Lessings >obschon< nicht verstanden, nicht eigens bedacht. Goeze hat nicht gesehen oder begreifen wollen, daß hier im bildhaften Schlußabschnitt nicht ¡gvei verschiedene Wahrheiten: eine >reine< und eine >unreineexemplarische< Überzeugungskraft zu gewinnen imstande ist: diese Stilmittel bilden miteinander einen Sprachgestus, der auf überaus genaue und nachgerade luzide Weise Lessings Gedankenweg anzuzeigen vermag. Ein Gestus, der auch Lessings >obschon< nochmals genau aus- oder mitzudenken geeignet ist. Denn es ist dies —, ist ein solches >obschonWahrheit< damit als beschädigt gelten dürfte. Und eben der Satz im letzten Abschnitt des Textes, in dem Lessing für den »immer regen Trieb nach Wahrheit« den »Zusatz« nennt, »mich immer und ewig zu irSo Jean Paul in der Überschrift und in näheren Ausführungen des § 37 (I. Abt., VIII. Programm) der >Vorschuleconditio humana< zu erinnern weiß, so ist auch dies von Goeze völlig (und als »völlig unchristlich«28) mißdeutet worden, da er in Lessings >Wahl< den »schröcklichsten Zustand« und eine »zur Verzweiflung führende Lehre« 2 ' sieht. Das Wort >Demutsicut-deus-Gedankens< zu lesen ist. — In knapper Form mag hier eine Deutungsnotiz von Benno Böhm zu erwähnen sein. Er spricht davon, daß Lessings Duplik-Textstelle »unmittelbar auf ein Sokrateswort«' 0 zurückgehe, und nennt den folgenden Hinweis aus dem >PhaidrosWeisen< gebühre allein Gott; der Mensch — es ist vom Rhetor die Rede — dagegen sei nur als >Weisheitsfreund< zu bezeichnen'1. — So rigoros dieser Hinweis Lessings Dik-

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Arno Schilson (1989), S. 1034; hier wird ebenfalls auf die »Annahme der >conditio humana' Phaidros 278 d. In der Schleiermacher-Übersetzung: >Jemand einen Weisen zu nennen, o Phädros, dünkt mich etwas Großes zu sein und Gott allein zu gebühren; aber einen Freund der Weisheit oder dergleichen etwas möchte ihm selbst angemessener sein und auch schicklicher.< Erich Schmidt spricht (Bd. II, S. 244) anläßlich dieser Duplik-Textstelle vom »Tiefsinn dieser vielleicht aus feinen Sätzen des Clemens Alexandrinus entwickelten Parabel«. E r erwähnt dafür in der Anmerkung (Bd. II, S. 641) einen wörtlich mitgeteilten Brief A. Harnacks, der auf ein von Clemens in den Stromateis IV,22 wie folgt formuliertes >Dilemma< hinweist: >Gesetzt, es schlüge jemand dem christlichen Denker vor, er möge zwischen der Erkenntnis Gottes u. der ewigen Seligkeit wählen [...], so würde sich der christliche Denker keinen Augenblick besinnen u. die Erkenntnis Gottes wählen.< Lessing habe, so Harnack, wahrscheinlich diese Stelle gekannt und »geradezu aus ihr die Anregung geschöpft [...], aus dem ersten Dilemma ein noch feineres zweites zu entwickeln«; eine Art »Grundtext«, so daß dann Lessings neue Wendung und seine Eigenart deutlich hervorträten. Wird in der von Harnack betonten ClemensStelle das Motiv des >Wählens< betont, so gäbe es eine Reihe anderer Clemens-Texte, in denen vornehmlich auf die Differenz zwischen >Vollkommenem< und >Lernendem< hingewiesen wird; z.B. im Paidagogos (I, Kap., S. 219): »Denn die Wahrheit verhält sich so, daß das Vollkommene [...] bei den immer lehrenden Herrn, das Kindliche und Un-

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tum aus seinem Kontext und aus seinem Wortlaut herauslöst, so ist er doch in dem einen Punkt zutreffend, daß auch bei Piaton nicht vom Gegensatz zweier >Wahrheiten< die Rede ist, sondern von dem seine Distanz zur denkbar höchsten Wahrheit einbekennenden >Weisheitsfreundwahre Detail< dieser Sprachgesten, mit dem Lessing seinen Gedanken in aller Klarheit mitzuteilen vermocht hat, ohne dabei den für seine Problemantwort so gravierenden Sinn einem Sprachmodus >dreisten< oder deduzierend >voreiligen< Behauptens auszuliefern. Die Sprachgestik des Duplik-Textes als ganze, vornehmlich wohl die des letzten Abschnitts, so läßt sich resümierend nochmals hervorheben, ist als Zeichen jenes kritisch-bewußten Vorbehalts zu verstehen, der statt der ins Apodiktische oder auch ins Sentenzenhaft-Behauptende sich wendenden Aussageweise andersartige Stilformen zu suchen und zu verwenden bemüht ist. Stilformen, die im Mittelbaren, in der bildlich-parabolischen, etwas Mögliches konkret annoncierenden Verweisung mit erstaunlich großer Sicherheit und Suggestionskraft das mitzuteilen vermögen, was Lessing mit seinem bescheidenen obschonc mit dem Wissen vom Bedingtsein menschlicher Wahrheitsbemühung — mit nicht geringem Vernunftanspruch — einzuräumen gesucht hat.

c. . . . >und antworten, ohne zu antwortenGesprächen für Freymäurer< ausgewählte Textbeispiel kann auf eine nochmals andersartige Stilisierungsbesonderheit aufmerksam machen. Es handelt sich um einen nur sehr kleinen Textausschnitt aus der großen Sequenz und Gedankenlinie dieser Dialoge. Im Mittelpunkt dieses Abschnitts steht eine scheinbar überaus plausible, mündige bei uns, den immer Lernenden ist.« Gleichwohl ist zu bedenken, daß Lessing in der Textstelle der >Duplik< - so belesen er gerade in den patristischen Schriften und speziell in Clemens-Texten ist — seinen Gedankengang aus der historischen Konstellation entwickelt; — in den Problemen seiner Zeit allerdings generelle und >idealtypische< Fragen aufzudecken versteht, so daß damit nicht eben wenige >Allusionen< an die altklassischen Texte gegeben sein mögen.

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wenn nicht gar von vornherein schon allzu einfach und transparent anmutende metaphorische Redeweise. Doch auch sie hat teil an einer subtileren Aussagestruktur; und es lassen sich darin Zeichen oder Formen erkennen, die nicht allein der für Lessings späte Prosa signifikanten Sprachgestik zugehören, sondern die insofern für diese Ernst-und-Falk-Dialoge besonders angemessen erscheinen, als sie einer nicht unbedeutenden Thematik der Dialog-Sequenz: dem Wissen nämlich von den Grenzen des Sprachlich-Explikablen auf durchaus bemerkenswerte Weise sich unterordnen. Diese geheimere sprach-logische Textur ist es und das darin sich mitteilende Wissen vom >Gleichnishaften< bildlichen Sprechens, — die deutlicher zu bedenken, der folgende Textabschnitt Gelegenheit geben kann. Dieser Gesprächs-Passus steht etwa in der Mitte des zweiten Dialogs, in dem vom Staat und der bürgerlichen Gesellschaft die Rede ist, die in ihrer Realität als »Mittel menschlicher Erfindung« problematisch zu nennen sind, da sie die Menschen »nur durch unaufhörliche Trennung in Vereinigung zu erhalten« vermögen 32 . Und dennoch hätte die bürgerliche Gesellschaft, so fügt Falk an dieser Stelle der Überlegungen ein, die Chance — oder: »das Gute«, daß »allein in ihr die menschliche Vernunft angebauet werden kann«. Es folgt darauf dieser Abschnitt des Dialogs: Ernst. Falk.

Ernst. Falk.

Wer des Feuers geniessen will, sagt das Sprichwort, muß sich den Rauch gefallen lassen. Allerdings! — Aber weil der Rauch bey dem Feuer unvermeidlich ist: durfte man darum keinen Rauchfang erfinden? Und der den Rauchfang erfand, war der darum ein Feind des Feuers? — Sieh, dahin wollte ich. Wohin? - Ich verstehe dich nicht. Das Gleichniß war doch sehr passend. Wenn die Menschen nicht anders in Staaten vereiniget werden konnten, als durch jene Trennungen: werden sie darum gut, jene Trennungen?

Das Sprichwort, das Ernst hier in generalisierend-impersonaler Form anmerkt, ist sein ins Konkret-Bildliche übersetztes Resümee des bisher Diskutierten; es bezeugt sein Verständnis für den zuvor durchlaufenen Gedankenweg. Allerdings überträgt er damit das, was über Staat und Gesellschaft als >menschlich erfundene^ geschichtliche Wirklichkeit bislang zu begreifen und zu sagen war, in die Bildsphäre des Elementar-Naturischen. Ist dies >Naturbild< — wie es andere solcher Bilder in den Freimaurer-Gesprächen gibt — hier als ein allzu >einsilbiges SymbolAber< zu neuen Fragen über. Diese seine Fragen zielen sicherlich nicht auf einen abrupten Themenwechsel54, wohl aber darauf, mit dem der Bildsphäre des Sprichworts noch nahebleibenden, aber neuartigen Bildmotiv: >Rauchfang< zu einem weiterführenden Gedankengang zu gelangen. Mit diesem Wort lenkt Falk die Überlegung erneut auf den Bereich >menschlicher Erfindung< und tätigen Menschenverhaltens, — offensichtlich bemüht, über das zuvor gemeinsam Konstatierte hinaus eine eindringlichere, differenziertere Problemeinsicht anzuberaumen. Trotz seiner hier noch verdeckten, bildlichen Sprechweise ist erkennbar, daß ihm daran liegt, es nicht bei der >So-istesGegenwendungMehr< als der >So-ist-esdarum< als ein überdeutlicher Fingerzeig auf die Besonderheit der hier sich darbietenden Argumentationsweise gelten darf. Falk operiert nicht nur mit seltsam anmutenden Fragen, er weiß zudem, daß die Antworten in der Art seines Fragens bereits enthalten —, ja: fast ostentativ vorformuliert sind; und auch dies: er weiß sein Aussage- und Gedankenziel damit bereits erreicht: »Sieh, dahin wollte ich.« Ernst dagegen kann diesen — in der Ebene und aus der Plausibilität des Bildlichen — argumentierenden Hinweisen keinen gedanklichen Aufschluß abgewinnen (»Wohin? — Ich verstehe dich nicht.«). Wenn Falk in der nachfolgenden Erläuterung dessen, was er selbst hier sein »Gleichniß« —: ein sehr >passendes Gleichniß< nennt, zunächst in der Form erneuten Fragens und erst dann mit weiterführend gedanklichen Hinweisen" antwortet, so ist auch dies bemerkenswert ge' 4 Z u diesem Prinzip der Dialoggestaltung bei Lessing - mit kurzem Hinweis auf diese Textstelle: Karin Hüskens-Haßelbeck, S. 122. " Falk. [...]: werden sie darum gut, jene Trennungen? Ernst. Das wohl nicht. Falk. Werden sie darum heilig, jene Trennungen?

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nug, daß er dabei nicht jede der bildsprachlichen Wendungen erklärend auflöst. Voll und ganz erläutert wird das Rauchfang-Bild: die >Trennungen< der Menschen in Staat und Gesellschaft seien, obzwar unvermeidlich, so doch in ihren »Folgen so unschädlich zu machen, als möglich«' 6 . Damit ist die neue, differenziertere Einsicht in das aufgeworfene Problem bezeichnet; das Wissen vom Bedingtsein, vom Doppelgesicht der sozialen Lebensformen wird ergänzt durch den Gedanken, daß es eine mit dem puren >Es ist< sich nicht begnügende Gegenwirkung möglichen Tätigseins, möglichen menschlichen Handelns geben könne und sollte. — Die zweite der von Falk genannten Fragen aber, in der das Wort vom >Feind des Feuers< vorkommt, wird nicht aufgelöst; hier fehlt eine auf die Sach- oder Gedankenebene zurückgenommene >bildlose< Explikation. Mag denn die absurd anmutende Frage, ob der Rauchfang-Erfinder ein »Feind des Feuers« sei, in der Bildebene und dank der Bildplausibilität sich selbst beantworten, — so ist schwerlich genau auszumachen und definitiv anzugeben, was das Bild vom >Feuer< hier meint, — wie es für die Sach- und Gedankenebene zureichend zu explizieren wäre. Nur so viel ist zu bemerken, daß mit Falks Frage nach menschlichem Verhalten zum >Feuer< bereits eine leise nuancierende Umchiffrierung einsetzt und hier ein — auch sonst an einigen Stellen des Gesamtkomplexes dieser Dialoge — sich andeutender Bildkreis' 7 berührt zu sein scheint, von dessen Sinn jedoch nicht in direkten, höchstens wiederum nur in umschreibenden oder auch erneut änigmatischen Hinweisen die Rede ist. Nicht aber willkürlich, nicht also ohne Grund nimmt Falk dies Wortmotiv aus der Sprichwort-Bildsphäre in seine Fragen auf; das von ihm erfragte Verhalten zum >FeuerBezugs< gibt einen anderen Einblick frei, — erlaubt eine andersartige, wenn auch nicht wört-

Ernst. Falk. Ernst.

Wie heilig? Daß es verboten seyn sollte, Hand an sie zu legen? In Absicht? . . .

Falk.

In Absicht, sie nicht grösser einreissen zu lassen, als die N o t w e n d i g k e i t erfordert. In Absicht, ihre Folgen so unschädlich zu machen, als möglich. ( L M , 3 , S . 35 9 f.)

'6 57

Für das von Lessing betonte Grundproblem ist die Weiterführung gerade dieses Gedankens von Bedeutung; so heißt es im dritten Gespräch nach Emsts Bemerkung, es gelte, »den unvermeidlichen Übeln des Staats entgegen zu arbeiten«, mit nochmals genauerer Differenzierung von Falk: [...] »entgegen zu arbeiten? [...] Das Wort sagt ein wenig viel. - Entgegen arbeiten! — Um sie völlig zu heben? - Das kann nicht seyn. Denn man würde den Staat selbst mit ihnen zugleich vernichten.« S. }6jf.: eine nochmals genaue Kommentierung des »RauchfangSein< derer, die unvermeidliche Übel in der Welt oder deren schädliche Folgen einzugrenzen bemüht sind, — die nicht mit »Thaten ad extra«' 8 , wohl aber mit einem >Operi supererogatoresümierende< Aussage bereits als Antwort auf die vorausgehende, im Naturbild vom Ameisenhaufen (LM 13, S. j j i f . ) als utopisch erscheinende Vorstellung zu verstehen ist, so daß danach — also hier - die neu zu gewinnende Einsicht als die dritte Stufe des Problemverständnisses sich abzeichnet. 217

3. Der >Vorbericht< zur Erziehungs-Schrift. — Zum Confinium von >Wahrheit< und >Irrtum
Vorbericht des Herausgeberselenden Gesundheitszustand< aus einem nicht erhaltenen Brief Lessings vom Ende April 1780 aufgenommen und sie in ihrem Brief an August Hennings am 2;. 4. 1780 wörtlich wiederholt. L M i 8 , S . j j 8 f . 2 Sophie Reimarus am 6. 10. 1780 an August Hennings: »Lessing ist schon hier oder kommt doch heute. E r ärgert sich drüber, daß niemand seine Erziehung des Menschengeschlechts angegriffen hat, und es für die Palinodie seiner vorigen Meinungen hält.« In: Daunicht, S. 537. - Sophie Reimarus am 30. 10. 1780 an August Hennings: »Bald hätte ichs vergessen, daß Lessing, der Sonntag gereist ist, dich herzlich grüßen läßt, sagt auch, es wäre nur Nachrede daß er Widerspruch wegen seiner Erziehung des Menschengeschlechts gewünscht hätte, er wäre mit dem Gange, den die Sache genommen hätte zufrieden [...].« In: Daunicht, S. 544. - Fr. H. Jacobi an J. G . Hamann am 30. 12. 1784: »Als seine Erziehung des Menschengeschlechts von einigen als eine nicht unchristliche Schrift, beynah als eine Palynodie angesehen wurde, stieg sein Ärger über die Albernheit der Nation bis zum Ergrimmen.« J . G . Hamann. Briefwechsel, Bd. 5, S. 301.

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tuieren. Von den kunstvollen sprachlichen Besonderheiten und dem merklich eigenwilligen Stil- oder Gesamtgestus dieses Textes ist selten genug die Rede. Das mag angesichts der Problemandeutungen und einzelner von Lessing hier verwendeter Begriffe verständlich erscheinen; gleichwohl ist kaum zu übersehen, daß die Faszination der hier sich darbietenden >Fingerzeige< zu nicht geringem Teil von der spürbaren Signifikanz der Sprache herrührt, — einer hochgradigen Kunst der Stilisierung zu verdanken ist. Daß allerdings Sprachlichkeit und Gedanklichkeit gerade in diesem Text weniger denn je zu trennen sind, ist nicht nur einzelnen Sprachwendungen, sondern auch der besonderen Art der Gedank e n f o l g e abzulesen. Vorbericht des Herausgebers Ich habe die erste Hälfte dieses Aufsatzes in meinen Bejträgen bekannt gemacht. Itzt bin ich im Stande, das Uebrige nachfolgen zu lassen. Der Verfasser hat sich darinn auf einen Hügel gestellt, von welchem er etwas mehr, als den vorgeschriebenen Weg seines heutigen Tages zu übersehen glaubt. Aber er ruft keinen eilfertigen Wanderer, der nur das Nachtlager bald zu erreichen wünscht, von seinem Pfade. Er verlangt nicht, daß die Aussicht, die ihn entzücket, auch jedes andere Auge entzücken müsse. Und so, dächte ich, könnte man ihn ja wohl stehen und staunen lassen, wo er steht und staunt! Wenn er aus der unermeßlichen Ferne, die ein sanftes Abendroth seinem Blicke weder ganz verhüllt noch ganz entdeckt, nun gar einen Fingerzeig mitbrächte, um den ich oft verlegen gewesen! Ich meyne diesen. — Warum wollen wir in allen positiven Religionen nicht lieber weiter nichts, als den Gang erblicken, nach welchem sich der menschliche Verstand jedes Orts einzig und allein entwickeln können, und noch ferner entwickeln soll; als über eine derselben entweder lächeln, oder zürnen? Diesen unsern Hohn, diesen unsern Unwillen, verdiente in der besten Welt nichts: und nur die Religionen sollten ihn verdienen? Gott hätte seine Hand bey allem im Spiele: nur bey unsern Irrthümern nicht?'

Trotz des geringen Umfangs — ein mehrfach untergliederter Text mit deutlichem Wechsel des Redetons und auffällig heterogenen Formen der Mitteilung. Der Zweck, kurz über die hier zu veröffentlichende Schrift zu informieren, — auch auf deren Thematik hinzuweisen, ist nicht versäumt, tritt aber zumindest durch zusätzlich umschreibende, anderweitig interessierende Bemerkungen stärker in den Hintergrund als sonst bei Vorwort-Hinweisen üblich. Die wichtigste der Stilisierungsgesten, die dem Text als ganzem eine eigentümliche Sprachbewegtheit und aus' LM 13, S. 415. 219

drucksintensive Prägnanz zu geben vermocht hat, ist mit des Autors >Doppel-Rede< anberaumt: mit Lessings Herausgeber-Fiktion, die ihm zum Wechsel zwischen Ich- und Er-Rede Gelegenheit gegeben hat; eine Stilisierungsweise, die wohl auch zu mehr als einer Frage und Erläuterung Anlaß bieten kann. Wenn Lessing zu Beginn seines Vorberichts auf die vorangegangene Teilveröffentlichung, die der ersten 53 Paragraphen der ErziehungsSchrift, und das jetzt nachfolgende >Übrige< hinweist, so nimmt er zunächst nur die bereits drei Jahre zuvor gewählte und deutlich betonte Herausgeber-Rolle wieder auf. Es sei, so hat Lessing 1777 gegen Ende seines vierten Gegensatzes zu den Fragmenten seines Ungenannten mitgeteilt, »ein kleiner Aufsatz in der Handschrift herum gegangen, welcher die ersten Linien zu einem ausführlichen Buche enthielt, und überschrieben war: die Erziehung des Menschengeschlechts". Er teile »den Anfang desselben in seinem ganzen Zusammenhange« mit, wisse diese »Indiscretion [...] zu verantworten; und von der Lauterkeit der Absichten des Verfassers« sei er überzeugt4. Es ist möglich, daß die Herausgeber-Fiktion im Vorbericht nicht anders zu verstehen ist als die für die Öffentlichkeit beibehaltene, da nun einmal für den ersten Textteil der Schrift angenommene Rederolle. Es gibt eine andersartige Deutung, als sei es Lessing mit dieser »Personalunion eines Autors und Herausgebers seiner selbst« auf »Dispens« oder »Distanz« angekommen, um nicht in einer »Überidentifikation« mit dem in der Schrift »Erfaßten« sich selbst als »den >Führer in alle Wahrheit< verstehen zu sollen« — als gleichsam »das planrational die Geschichte disponierende Subjekt«'. Ein solcher Gedanke setzte allerdings voraus, daß Lessing eine über >alle Wahrheit< mitteilend-verfügende Schrift überhaupt im Sinn gehabt haben könnte; überdies scheint in einer solchen Deutung nicht berücksichtigt, daß es für Lessing eine ganze Reihe von Möglichkeiten gegeben hat, das Bedingtsein der eigenen Aussagen in Formen kritischen Vorbehalts anzuzeigen, — auf die Grenzen der

4

L M 12, S. 446. > Hermann Timm (1982), S. 15: »Andererseits entlastet die verschwiegene Autorschaft von Uberidentifikation mit dem Erfaßten, als ob man für seine unabsehbaren Implikationen individuell verantwortlich zu machen sei. Und an solchem Dispens war Lessing sehr interessiert, um nicht die Distanz zu verlieren, wie die >Schwärmer< des Geistevangeliums vor ihm. E r hatte kein rundum gutes Gewissen bei dem Unternehmen und konnte es nicht haben, weil er als Schriftführer unter den eigenen Systemzwang geriet, sich selbst, den Dichter und Denker, [...], als den johanneischen Parakleten, den >Führer in alle Wahrheit< verstehen zu sollen, was für ihn so viel heißen mußte, wie den Teufel mit Beelzebub auszutreiben.«

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eigenen, stets nur approximativen Bemühung um Wahrheit aufmerksam zu machen. — Der von Lessing aufrechterhaltene, 1780 in der Vorrede erneuerte Schein: diese Fiktion, er gebe im folgenden die Schrift eines fremden Verfassers heraus, hat die Freunde und Zeitgenossen nicht getäuscht. In mehr als einem Zeugnis ist schon vom Frühjahr 1780 an in den Briefen an Lessing von >seiner< Schrift die Rede 6 . Und jeder Leser — von den eine Zeitlang Verwirrung stiftenden Vermutungen über eine mögliche andere Verfasserschaft nicht irritiert — dürfte zu erkennen imstande sein, daß das, was im Vorbericht über den in der dritten Person genannten Verfasser gesagt ist, als eine Selbstaussage Lessings — und zwar als eine Selbstdeutung von besonderem Belang zu verstehen ist. Dieser maskierten Selbstaussage ist allerdings im mittleren Teil dieses Vorberichts-Textes ein Platz angewiesen, als sei sie nur wie eine Art Uberleitung auf die sachlich informierenden Problemhinweise des Schlußabschnitts zu lesen; und doch ist es eben die Reihe überaus nachdenkenswerter Bilder des Mittelteils, die die Aufmerksamkeit in besonderem Maße zu fesseln imstande ist. Daß Lessing zum Stilgestus sich selbst verhüllender, bildlicher oder lakonischer Sprachformen neigt — vornehmlich dann, wenn das Mitzuteilende den Bereich seiner persönlichen Erfahrungen berührt, das kann, wie nicht selten sonst in den Briefen und Werken der späten Lebenszeit, auch hier nicht verwundern. Daß es aber im Mittelteil des Vorberichts Bildhinweise gibt, die eine solche unverkennbar persönliche Sprachweise bezeugen und doch gleicherweise im indirekten, bildlichen Ausdruck eine ungewöhnlich treffsichere, in der >Sache< genaue Problemkennzeichnung enthalten, das gehört gerade in diesem Lessing-Text zur Kunst einer zeichenhaften Mitteilung, in der auf exzeptionelle Weise gedankliche Differenzierung und sprachliche Konzentration zusammenwirken. Um den von Lessing verschlüsselt dargebotenen Mitteilungen des Vorberichts und vor allem den ins Essentielle weisenden Bildern des Mittelteils möglichst adäquate und möglichst viel Auskunft abzugewinnen, sollen nicht diese bildsprachlichen Zeichen am Anfang unserer Erörterung 6

Elise Reimarus an Lessing am 2 ; . 4. 1780. L M 21, S. 293. - Herder an Lessing am 29. 4. 1780. L M 21, S. 294. - Fr. Heinr. Jacobi an Lessing am 1. 6. 1780. L M 21, S. 297. - In seinen Vorbemerkungen zu Band 18 der Hempel-Ausgabe betont Christian Groß, es sei »in den ersten sechzig Jahren« nach Erscheinen der Schrift »keinem Menschen eingefallen, deswegen die Autorschaft Lessing's für irgendwie zweifelhaft und jenes Vorgehen Lessing's für etwas Anderes zu halten, als was es ist, nämlich eine bequeme Maske, die ihn gegen alle Angriffe zu decken geeignet war [...].« S. 188. 221

stehen, sondern es sei zunächst vom Schlußabschnitt des Textes die Rede, in dem Lessing mit explizitem Hinweis den >Fingerzeig< zu kennzeichnen verspricht, den er >dem Verfassen der Erziehungs-Schrift zu verdanken habe. Der Schlußabschnitt spricht auch in seinen unverhüllt-sachlichen Angaben in abbreviierter Mitteilungsweise und, anders als gemeinhin sonst bei einleitenden Vororientierungen üblich, nicht ohne befremdliche Stilisierung. Wohl gibt es hier einige der Code-Wörter, die auf die Thematik der Erziehungs-Schrift weisen. So ist der Begriff der >positiven Religionen< verwendet und von deren geschichtlichem Entwicklungsgang die Rede in einer Art von Repetition oder Variationsform, mit der etwas von dem über geraume Zeit geführten Fragmentenstreit aufs kürzeste resümiert erscheint. Der letzte, knappe, in die Frageform gekleidete Satz, mit dem Lessing seinen Vorbericht enden läßt, scheint allerdings etwas wie einen neuen Akzent hinzuzufügen und mit einem provozierenden Gestus aufzuwarten: Gott hätte seine Hand bey allem im Spiele: nur bey unsem Irrthümern nicht?

Da in dem vorausgehenden langen und durchaus komplizierten Satzgefüge >die positiven Religionen< den Frage- und Urteilsgegenstand bilden und in einer Wortwiederholung nochmals betonend genannt sind, kann die letzte, den Passus beschließende Frage mit ihren hinzukommenden, neuen Vokabeln, vor allem aber mit dem hochakzentuierten Wort von »unsern Irrthümern« eine gewisse Irritation auslösen. Eine gewisse Unsicherheit darüber, ob denn diese Frage auf die >Religionen< insgesamt zu beziehen sei; — genauer: ob damit ein globales Urteil über die Religion als solche nahegelegt werde: also die >Religionen< als >Irrtümer< vorzustellen seien. — Ist mit einer solchen Frage die leitende Intention der Erziehungs-Schrift angekündigt, oder hat Lessing mit dieser Formulierung einen willentlich irritierenden Hinweis zu geben beabsichtigt? Ohne eine kurze Skizzierung des die Erziehungs-Schrift sachlich bestimmenden (oder, sit venia verbo: >systematisch< begründenden) Gedankenzusammenhangs ist darauf schwerlich zu antworten, — ist auch der Stilgestus am Ende des Vorberichts kaum angemessen zu verstehen. Einer der wichtigsten Grundgedanken dieser Schrift liegt in Lessings Erläuterung der geschichtlich geschehenden OffenbarungHerablassung GottesErziehung< mit der ihm eigenen Bildenergie einige Detailfragen oder Differenzierungen zu überdecken vermag, lassen Lessings zu einigen Punkten breiter angelegte Ausführungen in den >Gegensätzen< eine gewisse Vorform der Problemerörterung erkennen. Das gilt vor allem für Lessings Repliken auf die von Reimarus vorgebrachten Thesen über die »Unmöglichkeit einer Offenbarung, die alle Menschen auf eine gegründete Art glauben könnten«9. Hier begegnen Formulierungen, die näheren Einblick in das Problem geben, das überaus abbreviiert mit den Worten vom wechselseitigen Dienst< zwischen Vernunft und Offenbarung im Paragraphen 37 der Erziehungs-Schrift10 charakterisiert wird. Von diesem höchst gewichtigen Problem der Korrelativität oder Interferenz der den Erziehungsweg des Menschengeschlechts ermöglichenden Konstituentien handelt Lessing in den Reimarus-Gegensätzen mit solchen Hinweisen, die über beide Seiten dieser >Wechselseitigkeit< Auskunft geben. Das erweist sich nicht als eine andere Deutung, wohl aber als eine anders ausdifferenzierte Erläuterung des zugrundeliegenden Gedankens. So ist von der mählichen Entwicklung des Verstandes ebenso die Rede wie von graduellen Unterschieden in der Gottesoffenbarung. Einerseits wird betont, daß der Menschliche Verstand nur sehr allmälig ausgebildet worden, und Wahrheiten, die gegenwärtig [...] so einleuchtend und fasslich sind, einmal sehr unbegreiflich [...] müssen geschienen haben." Uber die andere >SeiteGrade< der Gottesoffenbarung heißt es:

8

Diese bei Lessing: L M 12, S. 444 und bei Mendelssohn: J u b A 1 } , S. 33 3 u. ö., begegnende Wendung setzt einen anderen Akzent als der zumeist gänzlich religionspädagogisch verstandene, für die Lehr- und Missionspraxis verwendete Begriff der >Akkommodation< in der >Theologie der AufklärungWunder< ein in Spinozas >TraktatZweyten Fragments< des Reimarus. L M 12, S. 316. 10 L M 13, S. 424; vgl. oben S. i4of. " L M 12, S. 445. 223

Sollte Gott dem ganzen menschlichen Geschlechte diese Wohlthat [: die >Ertheilung der OffenbarungElementarbücher< verwendet werden. Von diesem Grundgedanken ist gleichen Sinnes auch im >Vorbericht< die Rede; allerdings ist es nicht ohne Interesse und von zusätzlichem Aufschluß, mit welch erneuter Verkürzung und eigenwilligen Betonungsnuancen Lessing im >VorberichtFingerzeig< seines >Verfassers< gibt, hat er nicht allein einen neuen Redemodus mit den >wirunsobjektiver< Sinn gegen die Position emotionsbestimmter Überheblichkeiten (>lächeln und zürnenHohn und UnwillenFingerzeig< gemeint sei, folgt die vielfach verschränkte große Satzperiode, in der nicht indikativisch, son" LM 12, S. 436. LM 12, S. 446.

15

224

dern auf unüberhörbare Weise in Frage- und Möglichkeitsformen gesprochen wird; in der sich zudem durch die Reihung von Negationspartikeln (>nicht lieber nichtsverdiente nichtsnur nichtSpielnur< durchaus Anlaß sein könnte, das Wort >Irrtümer< als pauschales Prädikat für >die Religionen< nehmen wollte. Daß aber »Religion und Irrtum nicht bruchlos« 1 ' gleichzusetzen sind, ist der Bildlogik des Schlußsatzes nicht weniger deutlich zu entnehmen als den elementaren Grundgedanken der Erziehungs-Schrift, deren Kenntnis zu dieser Zeit auch für den zeitgenössischen Leser durch die vorausgehende Publikation der ersten Hälfte der Schrift vorauszusetzen möglich gewesen ist. Wohl aber kann die mit dem Spiel-Topos aufwartende Frage am Schluß des Vorberichts eine gewisse Differenz: eine veränderte Perspektive in dem hier abbreviierten Hinweis auf den Grundgedanken der Erziehungs-Schrift annoncieren. Während nämlich die >Gegensätze< und die Erziehungs-Schrift vornehmlich von den Oííenh&mngsvorausset^ungen und der stufenweisen Genese der Religionen sprechen, — der Blick somit vor allem auf das Werden, auf die Veränderungsschritte der Religionen in der Menschheitsgeschichte gelenkt wird, ist unverkennbar, daß Lessing im >Vorbericht< retrospektiv von »allen positiven Religionen« als gewordenen, geschichtlich gegebenen und überschaubaren Erscheinungen spricht; eine Perspektive, die mit der Erwähnung von deren strittiger Beurteilung (>Hohn und UnwillenBildern< oder InhaltsChiffren des jeweils von Gott offenbarten Anteils. Daß diese >Gottesteilhabe< in den Religionen nicht zu ignorieren, nicht zu leugnen, sondern im Erscheinungsganzen der positiven Religionen mitzubedenken sei, darauf verweist Lessings Schlußwendung im >Vorbericht< — mit dem sicher ungewohnten, aber nicht gedankenlosen oder unzutreffenden bildlichen Fragewort. Die Relation ^um Augustinus-Motto gelangt mit dieser von Lessing ans Ende des >Vorberichts< gerückten Fragegeste besonders deutlich vor den Blick. Wie denn der Schlußpassus expressis verbis auf das geschichtliche Bedingtsein der positiven Religionen zu verweisen sucht, — wie denn damit zu bedenken nahegelegt ist, daß für die jeweilige fides histórica keine >volle< oder >absolute< Wahrheit gegeben sein kann, so deutet das der Erziehungs-Schrift vorangestellte Motto auf einen sinngleichen Zusammenhang. Bereits mit diesem Zitat macht Lessing aufmerksam auf eine mit der Bedingtheit menschlichen Erkennens vertraute Einsicht. Allerdings sollte diese Einsicht nicht mißdeutet werden, als meine sie nichts als eine Art Lizenz zu Beliebigkeit oder willkürlichen Relativierungen, — so als werde hier »mit der Wahrheit gespielt«' 7 . Auch das Augustinus-Zitat wäre damit mißkannt. Wenn der von Lessing aus den >Soliloquien< zitierte und verkürzte Satz hier in vollem Wortlaut zu nennen ist und aufgrund seiner Kontextgedanken etwas genauer beleuchtet wird, so zeigt sich sein gedanklicher Sinn ebenso wie seine Bedeutung in Lessings Zitation um Grade deutlicher (die von Lessing zum Motto gewählten Worte hier kursiv): Quod putas, nisi haec omnia inde esse in quibusdam vera, unde in quibusdam falsa et ad suum verum hoc solum eis prodesse, quod ad aliud falsa sunt?

sunt,

Doch Folgendes: diese Dinge sind alle aus dem gleichen Grund einerseits wahr, wie sie anderseits Täuschung sind. Und dazu, daß sie wahr sind, verhilft allein, daß sie in anderer Hinsicht Täuschungen sind.'8

Dieser Satz gehört im Gedankengang der >Soliloquien< an die Stelle, in der am Beispiel des Darstellers im Bühnenschauspiel demonstriert wird, 17 ,8

Eckart Heftrich, S. 45. Augustinus, S. uof.

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daß Wahrheit und Täuschung in einer >zwei Gesichten' 9 verbindenden Erscheinung zusammenkommen. Für diesen Beispielzusammenhang betont Augustinus eigens, daß damit nicht >logischeaussagetheoretische< Probleme gemeint seien, sondern daß es der >Gegenstand selbstSchein< unterliege und >Täuschungen< vorweise. Mit diesen bei Augustinus ausgeführten Gedanken stimmt der von Lessing gewählte Motto-Hinweis insofern überein, als damit auf die Thematik, auf das >inhaltliche< Problem der Erziehungs-Schrift vorausgedeutet ist: auf die Erscheinungsweise der als geschichtlich verstandenen positiven Religionen, für die eine doppelte Bestimmtheit zu bedenken ist. Nicht unerwähnt sollte bleiben, daß damit eine andersartige Problemdeutung Ausdruck findet, als sie dem aus den frühen 6oer Jahren stammenden und oft zitierten Satz aus Lessings Fragment >Über die Entstehung der geoffenbarten Religionen< zu entnehmen ist; jenem Satz, mit dem die »positiven oder geoffenbarten Religionen< alle als »gleich wahr und gleich falsch«21 bezeichnet worden sind. Spricht doch dieser frühere Satz über eine additiv vorgestellte Verbindung zwischen natürlicher und geoffenbarter Religion und geht offenkundig, wie der Text als ganzer zeigt22, auf ein skeptisch-pragmatisches Erklärungsmodell zurück. In der Erziehungs-Schrift dagegen und in den ihr vorangestellten beiden Hinweisen: dem Motto ebenso wie dem >VorberichtHypothese< seiner Erziehungs-Schrift eine wenn auch ausweichende Antwort gibt. Seine »Hypothese«, so Lessings Andeutung, »würde

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Hendrik Birus (1981) über Lessings Augustinus-Motto: hier werde »dessen ursprünglicher Sinn durch seinen neuen Kontext geradezu in sein Gegenteil verkehrt«. S. 397. Augustinus, S. 150: »totam faciem veritatis« Hendrik Birus (1981), S. 397. Augustinus, S. 144 u. ö. Ebd., S. 152: »[...] et veritatis plenissimum sine ullo mendacio pollicetur.« L M 4, S. 277. Lessing an Johann Albert Heinrich Reimarus am 6. 4. 1778; L M 18, S. 269. 228

freylich das Ziel gewaltig verrücken, auf welches mein Ungenannter im Anschlage gewesen. Aber was thut's?«, und es folgt gleichsam als conclusio das zitierte Diktum. Ein Lessingischer Satz, der über die zum Ungenannten bestehende Differenz hinaus mit dem Wort >dünken< (in dessen genauerer Bedeutung von: >uns vor-kommenden Anschein habenuns so erscheinen^ auf einen dem Augustinus-Motto durchaus vergleichbaren Problemgedanken verweist. — Zunächst sei hier resümierend betont, daß Lessing mit seinem Motto zur Erziehungs-Schrift auf das den positiven Religionen inhärente Wahrheitsproblem hinzudeuten weiß und damit auf deren gleicherweise als >wahr< und als >falsch/täuschend< sich ausnehmende geschichtliche Erscheinung und Pluralität aufmerksam macht. Das aber ist eben derselbe Gedanke, der am Ende des Vorberichts in anderer Form, doch gleichen Sinns zu Worte kommt. Die ans Ende des Textes gerückte Frage nach »unsern Irrthümern« und nach >Gottes Hand< oder Anteil in den im geschichtlich-zeitlichen Gang entstandenen positiven Religionen ist zureichend transparent für den bereits mit dem Augustinus-Motto signalisierten Problemgedanken. Der >Fingerzeig< des Mottos und der demonstrativ am Ende des Textes als eigene, nicht ungewichtige Einsicht annoncierte und dann erläuterte >FingerzeigHerausgeber< — über die zu publizierende Schrift: Der Verfasser hat sich darinn auf einen Hügel gestellt, von welchem er etwas mehr, als den vorgeschriebenen Weg seines heutigen Tages zu übersehen glaubt. Aber er ruft keinen eilfertigen Wanderer, der nur das Nachtlager bald zu erreichen wünscht, von seinem Pfade. Er verlangt nicht, daß die Aussicht, die ihn entzücket, auch jedes andere Auge entzücken müsse. Und so, dächte ich, könnte man ihn ja wohl stehen und staunen lassen, wo er steht und staunt! Wenn er aus der unermeßlichen Ferne, die ein sanftes Abendroth seinem Blicke weder ganz verhüllt noch ganz entdeckt, nun gar einen Fingerzeig mitbrächte, um den ich oft verlegen gewesen! 229

Die Mitteilungen über den >VerfasserHerausgeber< in Kenntnis der vorliegenden >Sache< zum Urteilen über des Verfassers Standort und Perspektive befugt wissen; gleichwohl läßt die im Textverlauf zunehmende Eigenwilligkeit in der Reflexions- und Sprechweise auch ihn, Lessing, als den inexplizit, aber merklich präsenten Autor erkennbar werden. In der metaphorischen Sprache dieses Textabschnitts lassen sich zwei konkret-elementare Bildoder Motivkreise unterscheiden. Der zunächst genannte Komplex: >Weg — Pfad — Wanderen tritt hinter dem dann dominierenden zurück; die Vorstellung vom >Sehen oder Sehenkönnen< (>übersehen — Aussicht — Auge — Blickentzücken< zurückzulenken weiß. Mit dieser Reflexionsbemerkung des Herausgebers hat Lessing eine Zäsur im Textverlauf anzuberaumen verstanden, die sowohl zurückverweisende wie zu den nachfolgenden Formulierungen weiterführende Funktion besitzt. Der zurückdeutende Hinweis gilt dem bislang dargebotenen Gesamtbild, in dem die Besonderheit eines durchschrittenen Weges betont wird und eine als außerordentlich erscheinende Aussicht genannt ist, — ohne daß auch nur das Geringste dieses Bildzusammenhanges einer erklärenden Explikation angenähert würde. Wenn die Formulierung >mehr als den vorgeschriebenen Weg< die Assoziation an Lessings Diktum vom >opus supererogatum< wachzurufen vermag und die Deutung nahelegen kann, daß auch hier die in vorgegebener Wegzeit zu erfüllende Pflicht als überboten zu denken ist, so zeichnet sich doch damit auch eine nicht unwichtige Unterscheidung ab. Mit seinem in den Ernst-und-Falk-Dialogen genannten Topos spricht Lessing von der im 230

Handeln sich realisierenden Tugend, von freiem moralischem Tätigsein; hier im Vorbericht aber ist offenkundig vom noetischen Vermögen, von erkennender Betrachtung des (um im Bild zu sprechen:) auf seinem Wege zu einer besonderen Anhöhe und Aussicht gelangten Wanderers die Rede. Es liegt nahe, dies metaphorisch Gesagte wenigstens zum Teil und aufgrund solcher suggestiven Bildelemente wie >Weg — Tag — Nacht< nach ^/-zeitlichen, auch empirisch-biographischen Vorstellungen auszulegen; darin eine Umschreibung, ein chiffriertes persönliches Zeugnis des Rückblicks auf Lessings eigenen Denkweg zu sehen. Ob damit aber zugleich etwas von der großlinigen Entwicklungsgeschichte, wie sie in der Erziehungs-Schrift skizziert ist, gemeint ist, das muß nachgerade fraglich genannt werden. Wenn nicht allein vom >Wegziel< des im Vorbericht-Text genannten >Tages< die Rede ist, wenn auch die >Aussicht< des Wanderers so gedeutet wird, als sei damit auf die am Ende der Erziehungs-Schrift von Lessing erwähnte >Hypothese< der Metempsychose hingewiesen, so erscheint eine solche Auslegung auch deshalb als problematisch, weil einige der genau zu bedenkenden >Fingerzeige< dieses Textes damit schwerlich in Einklang zu bringen sind. So ist aus der »Topographie des Vorberichts« geschlossen worden, daß der Wanderer, der hier »auf seinem Weg £»r#£-/£schaut«, sich »von Westen nach Osten« bewege und daß darin die Bewegung präfiguriert sei, mit der der Verfasser am Ende der Erziehungs-Schrift zum »altorientalischen Gedanken der Seelenwanderung«'2 und in die »Heimat dieses ältesten Wissens« gelange53. Auf diese Weise ist nicht nur von >Richtung< und >Ziel< die Rede, sondern es wird damit auch die Deutung verknüpft, als habe Lessing mit der in der ErziehungsSchrift »erreichten« Vorstellung eine absolute >Vernunftdominanz< von der Art gemeint, die einer »unbegrenzten Selbstschöpfungspotenz«34 gleichkäme. Dieser Deutung und hier speziell dem Versuch, die metaphorischen Wendungen von >Weg< und >Aussicht< inhaltlich direkt und allzu plan auf den Seelenwanderungsgedanken zu beziehen, ist mehreres entgegenzuhalten. So gibt es den Bericht darüber, daß Lessing bei Erscheinen der Erziehungs-Schrift »nicht mehr in allen Punkten zu ihr gestanden habe«55; er habe, so heißt es darüber wörtlich, »nicht mehr an diesen frü51

Norbert Akenhofer, S. 30. » Ebd., S. 34. i4 Ebd., S. 34. Altenhofer betont in seiner sehr differenzierten Interpretation des >Vorberichts< auch, daß Lessing damit nicht das >Dogma< einer »innerweltlichen Erlösbarkeit« ans Ende der Erziehungs-Schrift gerückt habe. S. 34f. " Alexander Altmann (1976), S. 21. 231

her geträumten Traum geglaubt«' 6 ; wie denn von den verschiedenen Theorien zur Seelenwanderung, mit denen Lessing 1780 nochmals beschäftigt gewesen sei, keine als seine »feste philosophische Uberzeugung« 37 gelten und genannt werden könne. Ein unter solchen Problemvorzeichen zu denkender >Inhalt< ließe sich kaum mit dem im Vorbericht verwendeten Wort von des Wanderers >Entzücken< in Übereinstimmung sehen. Von größerem Gewicht aber ist ein dem Vorbericht-Text selbst zu entnehmendes Argument. Es wird ja über das, was das >Auge des Wanderers entzücktFingerzeig< mit deutlich demonstrativ angekündigter Explikation (»ich meyne diesen«) die Rede ist. Diese im Schlußpassus dargebotene Explikation spricht clare et distincte von den positiven Religionen als realen geschichtlichen Erscheinungen im Entwicklungsgang der Menschheit; nicht von einer jede Geschichtszeit überschreitenden Progression in eine nur hypothetisch zu denkende Wiedergeburts- oder Seelenwanderungs-Zukünftigkeit' 8 . Auch die bildlich gefaßte Schluß- und Fragewendung des Textes gilt den positiven, in ihrem doppelten Gezeichnetsein (von Gottes Hand und Menschenirrtümern) wahrzunehmenden geschichtlichen Religionen, — nicht aber einem hypothetisch-utopischen Ausblick. Wird diese Lessingische Explikation des >Fingerzeigs< angemessen genau bedacht, so zeigt auch der in die Mitte des Textes gerückte (hier noch unerörterte) bild-intensive Satz ein Deutungsargument von nicht geringer Überzeugungskraft. Das große, hochdifferen^ierte Satzgefüge, das nahezu genau in der Mitte des Vorbericht-Textes steht, zeigt dank seiner metaphorischen und sprachlogischen Stilisierung einen Grad von gedanklicher Intensität und Prägnanz, wie er auch unter den Beispielen Lessingischer Sprach- und Reflexionskunst nachgerade exzeptionell zu nennen ist.

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In Karl August Böttigers >Reisetagebüchern< heißt es über eine Unterredung mit Elise Reimarus: »Zugleich erfuhr ich die Anekdote, daß Lessing selbst zu der Zeit, w o er seine Erziehung des Menschengeschlechts herausgab, nicht mehr an diesen früher geträumten Traum geglaubt, ihn aber blos darum damals herausgegeben habe, um den theologischen Streitern eine Diversion zu machen. Daß es Lessingen selbst damit kein Ernst gewesen sei, beweisen auch, recht verstanden, mehrere Stellen seines Nathan.« In: Daunicht, S. 465. " Alexander Altmann (1976), S. 27. >8 Auch der auf Futurisches weisende Zusatz, wie sich der >Gang< des menschlichen Verstandes »noch ferner entwickeln soll«, gehört zu den hier auf die >positiven< Religionen und deren erkennbaren Erscheinungsmodus hinweisenden Gedanken, meint keine >übergeschichtliche< Dimension. 232

Erscheint die Zwischenbemerkung des Herausgebers unmittelbar vor dieser Textstelle noch wie eine Überleitung oder eine Art Introduktionshinweis, so gewinnt nun hier der gleiche, auf Lessings Herausgeber-Fiktion basierende, die >ErIchVerfasser< erlangen etwas von der Transparenz, mit der die teilnehmend-bewegten Gedanken des >Herausgeber-Autors< wahrnehmbar werden: Wenn er aus der unermeßlichen Ferne, die ein sanftes Abendroth seinem Blicke weder ganz verhüllt noch ganz entdeckt, nun gar einen Fingerzeig mitbrächte, um den ich oft verlegen gewesen!

Eine Satzkonstruktion — mit mehr als einer der Lessingischen Formen kritischen Vorbehalts; und zugleich auf so subtile Weise ausdifferenziert, daß Logizität und Emphase sich durchdringen. So verwendet Lessing hier nicht nur, wie kurz zuvor in der Herausgeber-Zwischenreflexion, erneut den Konjunktiv; er gibt ihm auch eine erhöhte, der Wunschgebärde angenäherte Ausdrucksqualität. Gleichwohl ist der große Spannungsbogen, der die logisch-grammatische Grundlinie der Aussage auf das Satzende und die Bemerkung über den >Fingerzeig< zuführt, nicht dazu angetan, das Gewicht und die Bedeutung der Bildworte am Satzanfang zu überdecken oder zu schmälern. Überdies erweist sich an diesem Satzbeginn jedes einzelne der Bilder als unentbehrliche Teilchiffre eines Zusammenhangs von höchster Symbolizität. Hier stehen nicht mehr die Motivelemente wie >Weg< oder >Zeitverlauf< im Vordergrund; diese Bildsequenz wird aufs deutlichste bestimmt von einer Vorstellung des Raumhaften, einer Dimension von Ferne und Horizont. Wenn in diesen Bildworten beides betont erscheint: die >unermeßliche Ferne< ebenso wie eine mit dem >Abendrot< dem Blick sich darbietende Art von Grenzlinie oder Horizont, so ist aus dieser Umschreibung der Bild sinn unschwer herauszulesen, — der Hinweis auf die den Grundgedanken Lessings gemäße Erfahrung von der Grenze menschlicher Erkenntnis, von der menschlichem Bemühen prinzipiell unerreichbaren >vollen< oder >reinen< Wahrheit. Darin allerdings nichts anderes als einen resignativen Agnostizismus sehen zu wollen, würde diesem Text nicht gerecht, in dem das Wort vom >Entzükken< dessen, der vor dieser Aussicht staunend steht, so deutlich betont erscheint. Zudem hat Lessing dem Satz eine Nuancierung eingefügt, die mit einer so präzisen wie bewegend poetischen Sprachgenauigkeit die hier chiffrierte Problemeinsicht unterstreicht: [...] aus der unermeßlichen Ferne, die ein sanftes Abendroth seinem Blicke weder ganz verhüllt noch ganz entdeckt, [...]

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Was da mit betontem >weder — nochFerne< und >Abendrot< gesagt ist, zeugt von erhöhter Emphase ebenso wie von gedankenklarer Besonnenheit. Und es ist zweierlei, was in dieser Wendung sich verdeutlicht: die Gegenwärtigkeit der hier genannten Erfahrung und das nachdenklich sich vollziehende Begreifen der menschlichem >Maß< und Erkennen entzogenen >Fernesichtbar-unsichtbare< Ferne eine solche Art der Grenzerfahrung zu bedenken möglich, die nicht nur das >Confinium< zweier einander berührenden Sphären wahrnimmt, sondern eine Erfahrung, in der die Grenze selbst zum unleugbaren Zeugnis vom Wirklichsein oder der Existenz des andern, unzugänglichen Bereichs wird. — Das Bild vom >Abendrot< läßt sich auch als eine >Lichtmetapher< besonderen Sinns verstehen. Der Topos: >confinium Iuris et noctisDämmerung< nämlich als Ort und als >Geburt< der Schönheit40; in Lessings Verwendung findet er eine andersartige Akzentuierung. Sein Bild nennt etwas dem Auge sichtbar Erscheinendes, das den Blick auf ein >Unermeßliches< freigibt und verwehrt, — das die Wahrheit selbst< nicht voll erkennbar macht, aber auch nicht ins gänzlich Unsichtbare verbirgt: eine >LichtmetapherWahrheitspathosRing-Parabel< 7, 55, 64, 66f., 102, 104, i n , 155, 157, 160, 164, 206, 235, 244 Pathos/pathetisch 16, 84, io2ff., 123, 190,

Symbol/symbolisch 92, 104, 166, 191, 204f., 2 1 3 , 234 — Symbolisation/symbolisieren 62, 74, 90, 95f.

194. 2 3 4 Physikotheologie 98 Poetizität 27, 34, l o j f . , 114, 166 Polemik/polemisch 2, 21, 23, 26, 29, 37ff., 95, 104, 115, i2of., 126, 139, 153, 174, 189^, 207 >providentia deiRatRatschluß< 70, 7 j f f . , 80, 86, [265, 27if., 284] >ratiorechten< 70, 72, 74, 77, 88, 90, 93f., 108 - rechtfertigen/Rechtfertigung 22, 25, 73, l68, [280, 282Í.] - Rechtsbegriff 25, 73, 244 Reformation/Reformer 138, 1 4 2 , 1 4 5 , 245 Relation/relational 4, 6, 8, 40, 54, 61, 65, 68, 76, 94, io4f., i n , 1 1 7 , i39ff., 146, 153, 155, 160, 192, 226, 229, 235 relativieren/Relativität 156, 196,226 religio/Religion: - , geoffenbarte 136, i4of., 227, 245 - , geschichtliche i j ó f . , 178, 232 - , israelitische 92 - , jüdische 9if., 94, 13 j f f . , 150,164, [251] - , >natürliche< 6 , 1 3 6 ^ , 1 4 1 ^ , 2 2 7 - , >positive< 128, 142, 157, i64ff., 178, 219, 222, 224ff., 230, 232, 23¡f., 24lf. - Religionsgeschichte 25, 147, 149, 152 - Religionskritik,—kritisch 1 1 , 1 1 6 , 1 3 2 - Religionsphilosophie/-philosophisch 1 1 , 23, 116, 121 f., 139, 143, 148, 163^, 169, l86, 218, 236, 242Í. - Religionswahrheit 132, 136f., 241 Satire/satirisch 22, 27, 3 i f f . , 38,40,47, 1 1 2 Seelenwanderung 152, 156, 23if. Skepsis/skeptisch 23, 29^, 45, 1 1 3 , 120, 193, 196^, 227, 244 - Skeptizismus 2, ioff., 53,198, 227 Spinozismus 23f., 26, 125, i69ff., 176, 178, 182, 184

- Symbolizität 233

Unitarier i3of. Vergeltung 78, 88, 92ff., [266] Vernunft: -.praktische [283] - , reine 191 -.spekulative [285] — Vernunftbegriff 6, 8, 72, 151 — Vernunftdominanz 231 - Vernunfterfahrung 1, 9, n f . , 15, 104, 108, 186, 197, 201, 242, 246 — Vernunft-Religion 2if., 132, I36ff., 140, 186, 244 - Vernunfturteil 72 - Vernunft-Wahrheit 13gf., 153, i64ff., 179 Verstand 8f., 12, 35^, 72f., 137, 144, 210, 219, 223, 226, 246, [250, 252, 265, 277, 2 8 of. ] — Unverstand 77 vollkommen/Vollkommenheit 32f., 144, 152, 206, 2 1 1 , [250, 258, 275, 284] — Vervollkommnung i49ff., 154, 235 Vorsehung/>Vorsicht< 2zff., 33, 35, 37, 43, 46f., 52, 55ff., 89, 136, 150, 196, 203^, [279]; vgl. auch >providentia dei< Wahrheit: —, >absolute< 66, 196, 205, 226 - , ästhetische 15 3 - , geoffenbarte 1 6 ; , 179 —.historische 1 0 , 1 3 6 , 1 3 9 , 2 2 7 —, >innere< 68, I53f., 186 —, >poetische< i6f., 29, 201, 205

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—, >reine< 196, 2o6f., 210, 233, 2 3 ; , 242 - Wahrheitsbegriff 151, 185 - Wahrheit der Vernunft iÖ4ff. - Wahrheit der Religion(en) 6 7 , 1 1 6 , 1 9 6 - Wahrheit selbst< - >veritas ipsa< 228,234

304

Weisheit 1, I3ff., 22, 68, 74, 76ff., 9 ; , 197, 202, 2 i i , 242, 24;, [257, 2Ö4f., 275, 278, 28off., 285] - >Weltweisheit< 13, 25, 32,35, [275] Wille 35, 58, 6 3 f f . , 67, 8jf., 197, [273. 283]