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German Pages [280] Year 2011
Nova Mediaevalia Quellen und Studien zum europäischen Mittelalter
Band 8
Herausgegeben von Nikolaus Henkel und Jürgen Sarnowsky
Balzs J. Nemes / Achim Rabus (Hg.)
Vermitteln – Übersetzen – Begegnen Transferphänomene im europäischen Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Interdisziplinäre Annäherungen
Mit 12 Abbildungen
V&R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-89971-821-8 ISBN 978-3-86234-821-3 (E-Book) Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Promotionskollegs »Lern- und Lebensräume: Hof – Kloster – Universität. Komparatistische Mediävistik 500 – 1600« der Universität Freiburg. Ð 2011, V&R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vermitteln Johanna Kershaw »Der Vater anplicket dich also in der glas miner sel«: John and the transfer of mystic union in the Puchlein des lebens und der offenbarung swester Elsbethen von Oye of Elsbeth von Oye . . . . . . . . . . . . . . .
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Ueli Zahnd Zwischen Verteidigung, Vermittlung und Adaptation. Sentenzenkommentare des späten Mittelalters und die Frage nach der Wirksamkeit der Sakramente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Manuel Lorenz Bogomilen, Katharer und bosnische ›Christen‹. Der Transfer dualistischer Häresien zwischen Orient und Okzident (11. – 13. Jh.) . . . . . . . . . . .
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Marion Sorg Byzanz als Drehscheibe des merowingerzeitlichen Handels zwischen Ost und West – Das Beispiel Granat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
Übersetzen Madlen Doerr Transfer einer ›Heiligen‹ vom 15. ins 17. Jahrhundert? Überlegungen zu zwei im 17. Jahrhundert tradierten Typen des Lebens der Magdalena Beutlerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Werner Schäfke Deutsche und nordische Zwerge: ein Kulturtransfer?
. . . . . . . . . . . 191
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Inhalt
David Heyde Die Geburt der Poesie aus dem Geiste der Übersetzung: Frühneuzeitliche Übersetzungstheorien und ihr Einfluss auf die Entwicklung des Deutschen als Literatursprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Clara Fritz Prophaner les Muses. Zum Problem des adäquaten Übersetzens von Dichtung am Beispiel des Orlando Furioso . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
Begegnen Achim Rabus Wie lateinisch ist das europäische Mittelalter? Ein Beitrag aus der Perspektive der Slavistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Andreas Bihrer Konstellationen – Funktionalisierungen – Wirkungen. Ein Plädoyer für eine kommunikationsgeschichtliche Ausweitung des Kulturtransferkonzepts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
Einleitung
Der vorliegende Sammelband ist – mit Ausnahme eines Beitrags – die Frucht der Arbeit von aktuellen und ehemaligen Mitgliedern des Promotionskollegs »Lernund Lebensräume: Hof – Kloster – Universität. Komparatistische Mediävistik 500 – 1600«, das vom Mittelalterzentrum der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. getragen wird. Die inhaltliche Vielfalt sowie die inter- und transdisziplinäre Arbeitsweise, die durch das Kolleg gefördert wird, manifestieren sich in den hier bearbeiteten Themen und Fragestellungen, die teilweise die Grenzen einzelner Disziplinen überschreiten. Einige der hier vorliegenden Aufsätze sind überarbeitete Vortragsmanuskripte eines Tandem-Seminars mit dem Titel »Byzanz – das andere Mittelalter«, das im Sommersemester 2008 in Freiburg stattfand. Diese Konferenz veranlasste mehrere der hier vertretenen AutorInnen, sich aus der Perspektive ihrer jeweiligen Heimatdisziplinen, die sich vorwiegend dem lateinischen Mittelalter widmen, mit Phänomenen auseinanderzusetzen, die jenseits ihrer angestammten Disziplin liegen. Das natürliche Resultat dessen waren Beiträge, die sich entweder kontrastiv mit östlich-westlichen Fragestellungen befassen, oder aber – was häufiger der Fall war – Fragen des Austauschs, mithin Fragen des Transfers zwischen dem Abendland und östlichen Regionen in den Mittelpunkt rücken. Dieser Nukleus Transfer-bezogener Beiträge wurde für das vorliegende Sammelwerk durch weitere Aufsätze aus dem Kreise der KollegiatInnen bzw. sonstiger mit dem Mittelalterzentrum der Universität Freiburg affiliierter WissenschaftlerInnen ergänzt. Die hier skizzierte Entstehungsgeschichte des Sammelbandes erklärt die inhaltliche Breite und methodische Vielfalt der Beiträge. Diese an sich äußerst begrüßenswerte Mannigfaltigkeit an Ansätzen, Ideen und Themen führt jedoch dazu, dass ein alle Beiträge umfassendes theoretisches Konzept, das sich in einheitlicher Begriffsbildung manifestiert, nur in Ansätzen realisierbar war. Die Herausgeber drücken indes ihre Hoffnung aus, dass die Publikation dennoch nicht nur als eine Sammlung interessanter, aber ansonsten wenig zusammenhängender Fallstudien rezipiert wird, sondern dass sie in ihrer Gesamtheit zur
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Einleitung
Schärfung der Begriffsbildung dienen kann. Eine Profilierung des Transferbegriffes erscheint umso notwendiger, als ein theoretisch fundierter und methodisch reflektierter Umgang mit Transferphänomenen ein Desiderat der Mediävistik darstellt. Während die Frühneuzeitforschung schon 2003 an das von Michel Espagne und Michael Werner in den 1980er Jahren entwickelte und im Kontext der vergleichenden deutsch-französischen Kultur- und Literaturbeziehungen des 18. und 19. Jahrhunderts entstandene Konzept von transferts culturels1 erfolgreich anknüpfen (vgl. Schmale 2003a) und nur wenige Jahre später einen Sammelband mit dem Titel »Kultureller Austausch. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung« (vgl. North 2009) vorlegen konnte, ist die mediävistische Forschung über einzelne Ansätze, das Modell auf die besonderen Verhältnisse des Mittelalters zu adaptieren und es konzeptionell weiter zu entwickeln, nicht hinausgekommen.2 Diesem »Theoriedefizit« (Schmale 2003b: 47) versucht Andreas Bihrer im vorliegenden Band durch ein kommunikationsgeschichtlich perspektiviertes Modell abzuhelfen. Anregungen für ein auf das Mittelalter zugeschnittenes Konzept von Kulturtransfer sind auch von Manfred Eikelmanns Einführung zur Sektion »Europäisches Erbe und interkultureller Transfer« des Freiburger Deutschen Germanistentages von 2010 (Publikation in Vorbereitung) sowie vom DFG-Schwerpunktprogramm 1173 »Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter« zu erwarten. Besonders hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf eine im Rahmen des Schwerpunktprogrammes entstandene und erst vor kurzem erschienene Publikation, in der Grundpfeiler einer neuen Sicht auf das europäische Mittelalter skizziert werden (vgl. Schiel/Schneidmüller/Seitz 2010), die im Übrigen auch den vorliegenden Sammelband in seiner Gesamtheit unterstützen. Charakteristisch für die neue Sichtweise ist ein erweiterter Europa-Begriff, der Europa nicht mehr vom Kern, sondern auch und vor allem von seinen Rändern her definiert. Diese im Zeichen von Transdisziplinarität, der Integration der sogenannten ›kleineren Fächer‹ (wie Byzantinistik, Slavistik, Judaistik, Skandinavistik, Osteuropaforschung, Orientalistik) vorgenommene Re-Definition Europas rückt die Peripherie und das vermeintlich Periphere in den Mittelpunkt mediävistischen Forschungsinteresses.3 Für eine weitere Perspektivenverschie1 Vgl. Espagne/Werner (1985) und (1988). Zur Geschichte des Ansatzes und seiner fächerübergreifenden Rezeption s. Middell (2001) und Zwierlein (2009). 2 Für Literaturhinweise s. Anm. 6 des Beitrags von Andreas Bihrer in diesem Band. Aus der Sicht der germanistischen Mediävistik ist der erwähnte Tatbestand Backes (2004: 4) zufolge umso erstaunlicher, als eine programmatisch betriebene Öffnung gegenüber kulturwissenschaftlichen Fragestellungen speziell in der Literaturwissenschaft in den letzten Jahren vollzogen wurde. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Mierke (2008). 3 S. dazu aus der von Michael Borgolte herausgegebenen Reihe »Europa im Mittelalter. Abhandlungen und Beiträge zur historischen Komparatistik« etwa die Sammelbände Herbers/
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bung sorgt das Konzept der Transkulturalität, das auf die Erforschung der Interaktion zwischen den religiösen Großkulturen des europäischen Mittelalters setzt und dabei das Postulat einer monolithischen, ausschließlich westkirchlichlateinisch geprägten Einheitskultur im europäischen Mittelalter kritisch hinterfragt. Drittens wird das Ende einer teleologischen, geradlinigen Betrachtungsweise durch die Erkenntnis eines permanenten Wechsels von Integration und Desintegration verkündet. Die im DFG-Schwerpunktprogramm 1173 avisierte Perspektivenverschiebung ist als Folge der Kulturkritik des Postkolonialismus zu verstehen, der dem traditionellen, statisch-holistischen Verständnis von Kultur (auch im Sinne von Nationalkultur) einen dynamischen, von Vermischungen und Hybridisierungen geprägten Kulturbegriff entgegensetzt (vgl. Bachmann-Medick 2009: 184 – 237). Als Konsequenz dieses postcolonial turn gibt es keine unverrückbaren Kulturen mehr, sondern nur noch »ver-rückte Kulturen« (vgl. Celestini/Mitterbauer 2003), die schon immer Ergebnis von Interaktion und damit von Transfers bzw. Re-Transfers sind.4 Im Hinblick auf die postkoloniale Wende, die sich im oben genannten, bezeichnenderweise mit »Hybride Kulturen im mittelalterlichen Europa« überschriebenen Sammelband des DFG-Schwerpunktprogrammes 1173 abzeichnet und in einer unlängst erschienenen Monographie über den »Kulturtransfer zwischen Juden und Christen in der deutschen Literatur des Mittelalters« (so der Titel des Buches) von Martin Przybilski (2010) mit der These von der »Postkolonialität des Mittelalters« (S. 13) bereits vollzogen wurde5, stellt sich die Frage, ob ein theoretisch fundierter und methodisch reflektierter Transferbegriff, der in den Mittelalterwissenschaften bislang nur als Desideratum existiert (s. o.), das Potenzial hat, die Mediävistik an die aktuellen kulturtheoretischen Diskussionen anzuschließen, um ihnen historische Tiefenschärfe zu verleihen.6 Diese Perspektivierung einer nur in Ansätzen vorhandenen Konzeptualisierung und Operationalisierung von Transfer drängt sich umso mehr auf, als das Mittelalter Panikkar (1999: 604) zufolge den Jaspert (2007) und Mersch/Ritzerfeld (2009). Zum Profil der Reihe s. den programmatischen Aufsatz von Borgolte (2003). 4 Diesem Konzept ist indirekt auch das Projekt einer Literaturgeschichte verpflichtet, das auf die Erschließung deutsch-ungarisch-lateinischer Literaturinterferenzen in einer bestimmten Zeit (Spätmittelalter) und einem geographisch klar definierten Raum (Siebenbürgen/Transsilvanien) abzielt und sich damit programmatisch jenseits von nationalphilologischen Literaturhistoriographien positioniert, s. Nemes (2010: 334). 5 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Cohen (2000), Kabin/Williams (2005), Davis/Altschul (2009) und vor allem Peters (2010). 6 Man denke hier vor allem an den translational turn, dem das Potenzial bescheinigt wird, zu einem Leitparadigma kulturwissenschaftlichen Arbeitens zu werden (vgl. Bachmann-Medick 2009: 238 – 283), und der bereits die ersten Versuche einer historischen Perspektivierung erfahren hat, vgl. Kabin/Williams (2005) und Rebenich/von Reibnitz/Späth (2010).
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»Nexus« darstellt, »der uns mit fast allen übrigen Kulturen verbindet, das verlorene Bindeglied zwischen der Moderne und dem Rest der Kulturen, die es auf der Erde gibt.« Wir sind in unseren bisherigen Ausführungen geradezu selbstverständlich davon ausgegangen, dass es Kulturen sind, zwischen denen Transfer stattfindet. Tatsächlich ist diese Selbstverständlichkeit vonseiten der Postkolonialstudien mit dem Hinweis erschüttert worden, der Begriff »Nation« sei in der Transferforschung lediglich gegen denjenigen von »Kultur« ausgetauscht worden7, weswegen wir es für angebracht hielten, die in diesem Band versammelten Beiträge nicht unter dem Oberbegriff »Kulturtransfer« zu subsumieren. Will man an dem Begriff als Ordnungskategorie für Diskurse festhalten, so wird die Aufgabe künftiger Forschung sein, nicht nur über den Gebrauch von »Transfer« sondern auch über denjenigen der »Kultur« Rechenschaft abzulegen. Dies entspricht auch der Position von Przybilski (2010), der die Antwort auf die Frage »nach einer griffigen, weder zu weiten noch zu engen Definition des Begriffes ›Kultur‹, die zudem noch den Bedingungen einer spezifischen historischen Epoche gerecht werden muß« (S. 5), in einem semiotischen Begriffsverständnis sieht, das Kultur als »das System von Bezeichnungen« begreift, »mittels dessen eine Gesellschaft kommuniziert, reproduziert, erfahren und erforscht wird« (S. 6).8 Eine solche Begriffsbestimmung eignet sich Przybilski zufolge für das europäische Mittelalter wie für alle vormodernen Gesellschaften, bedeutet doch Kultur in beiden Fällen »ein durchgängiges, beherrschendes Medium der symbolischen Sinnordnung« (S. 7). Anschlussmöglichkeiten der mediävistischen Forschung an die aktuellen Kulturtheorien ergeben sich offenbar nicht nur von einem spezifischen Verständnis von Transfer her (s. o.). Wir verzichten an dieser Stelle darauf, auf weitere Baustellen der mediävistischen Transferforschung einzugehen, und beschließen unsere Ausführungen mit dem Hinweis, dass die Adaptation und konzeptionelle Weiterentwicklung des (Kultur-)Transferansatzes ein Desideratum in der Mediävistik darstellt. Ein Vorstoß, wie diesem Desideratum zu begegnen ist, findet sich im abschließenden Beitrag dieses Sammelbandes. Hier wird eine kulturwissenschaftlich orientierte Herangehensweise an das Thema der Kulturkontakte im Mittelalter vorgeschlagen, und dies mit dem Anspruch, dass das entworfene Modell über die historisch ausgerichtete Mediävistik hinaus anwendbar ist. Diesem theoretischen Beitrag gehen Fallstudien voraus, die verschiedene Dimensionen von 7 S. dazu das Forschungsreferat bei Stockhorst (2010: 20 f.). Bemerkenswert ist, dass sich auch die Vertreter von transferts culturels unter dem Eindruck der postkolonialen Erschütterung des Kulturbegriffes genötigt sahen, ihr Konzept weiter zu entwickeln und es unter der Eliminierung des Begriffes Kultur in histoire crois¤e umzutaufen, vgl. Werner (2009: 19 – 22). 8 Mit demselben Kulturbegriff operiert auch die Frühneuzeitforschung, vgl. Schmale (2003b: 42).
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Transfer und die von ihm berührten Bereiche verdeutlichen. Sie lassen sich hinsichtlich ihrer thematischen oder methodischen Ansätze drei prototypischen Konzepten zuordnen, die unterschiedliche, einander bedingende, hier jedoch analytisch auseinanderdividierte Aspekte des Phänomens Transfer beleuchten. Es handelt sich um die Konzepte Vermitteln – Übersetzen – Begegnen.
Vermitteln Johanna Kershaw widmet ihren Beitrag den Offenbarungen der Oetenbacher Dominikanerin Elsbeth von Oye, einem der befremdlichsten Texte der mittelalterlichen Frauenmystik, der die mystische Vereinigung der Seele mit Gott in suggestiven Bildern des selbstzugefügten Leidens zelebriert. Das Interesse von Kershaw gilt der Rolle, die Johannes dem Evangelisten (und ferner der Jungfrau Maria) auf dem Weg zur unio in den Offenbarungen zukommt. Dafür spürt Kershaw die aus der Legende, Liturgie und der zeitgenössischen mystischen Literatur bekannten Attribute des Evangelisten im Text auf und untersucht sie auf ihre mystagogische und textlegitimatorische Funktionalisierung hin. Am Ende der Untersuchungen steht die Erkenntnis: »John functions as the conduit and focus through which unio is transferred and mediated to the narrator. This is evident in the use of blended voices suggesting the union of the saints with God, the reapplication of phrases applied to saints or to Christ to portray the deification of the soul, the use of John the Evangelist as a messenger-cum-spiritual director, and the use of traditional mystic images such as the mirror and the seal in unexpected ways all indicate an eccentric but personal vision refunctioning the tropes of German mysticism, which appear to have a strong didactic element, given the attention paid to the justification of the ascetic path portrayed.« Ueli Zahnd setzt sich mit spätmittelalterlichen Kommentaren zu den Sentenzen des Petrus Lombardus auseinander. Seine Hauptfrage, die er anhand zahlreicher Kommentare zu einem konkreten Thema des IV. Buches des Lombarden, nämlich die Wirkweise der Sakramente, bearbeitet, zielt auf die Beeinflussungs- und Vermittlungsrolle der Oxforder scholastischen Tradition auf die kontinentaleuropäische, v. a. Pariser Tradition. Als Ergebnis kann Zahnd Folgendes festhalten: Obgleich sich Spuren eines Wissenstransfers zwischen Oxford und Paris deutlich machen lassen, können die Oxforder Sentenzenkommentare nur in bedingter Weise als Auslöser für einen Wandel in der Pariser Sentenzentradition zur Mitte des 14. Jahrhunderts verstanden werden. Die Oxforder Kommentare waren ihrerseits stark von früheren, d. h. dem Beginn des 14. Jahrhunderts entstammenden Pariser Kommentaren beeinflusst; selbst ihr von Logik und Physik geprägter Stil hatte seine Pariser Vorläufer. Er erscheint nur
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deswegen als Oxforder Eigenheit, weil sich die erhaltenen Pariser Kommentare der 1330er Jahre durch stilistischen Konservatismus auszeichnen. Manuel Lorenz befasst sich in seiner Studie mit dem Austausch dualistischer Glaubensauffassungen zwischen Byzanz, der Balkanhalbinsel und Mitteleuropa. Nach einer ausführlichen Quellenanalyse, im Laufe derer verschiedene bisherige Forschungsansichten kritisch kommentiert und teilweise revidiert werden, kommt er zum Schluss, dass eine Vermittlung dualistischen Gedankenguts zwischen Ost (Bogomilen) und West (Katharer) durchaus wahrscheinlich ist. Darüber hinaus wird herausgearbeitet, dass die Gruppe der bosnischen ›Christen‹, die in der Fachliteratur unterschiedlich und kontrovers bewertet wurde, nur unwesentlichem Einfluss von dualistischen Ideen – sei es von Ost oder von West – ausgesetzt war. Marion Sorg nähert sich in ihrem Aufsatz »Byzanz als Drehscheibe des merowingerzeitlichen Handels zwischen Ost und West – Das Beispiel Granat« der Transferthematik aus naturwissenschaftlicher und handelsgeschichtlicher Perspektive an. Anhand der Vermittlungswege und Verbreitung des roten Edelsteins sowie daraus hergestellter Halbfabrikate und Objekte zeigt sie die zentrale Rolle des Byzantinischen Reichs als Handelsdrehscheibe zwischen Südasien und Mitteleuropa auf und erörtert den möglichen Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Cloisonn¤-Stils und der Verfügbarkeit von Granat-Varietäten unterschiedlicher Herkunft.
Übersetzen Die in diesem Abschnitt versammelten Beiträge widmen sich nicht nur textuellen Transferphänomenen, sondern auch solchen zwischen historischen Epochen und geographischen Räumen. Ein metaphorisch verstandener Übersetzungsbegriff liegt dem Beitrag von Madlen Doerr zugrunde, in dem es um die Über-Setzung einer im Spannungsfeld zwischen dem Rufe der Heiligkeit und einer Betrügerin stehenden Frau aus dem Spätmittelalter in die Neuzeit geht. Doerr interessiert sich für die Freiburger Franziskanerin Magdalena Beutlerin (gest. 1458) und ihre Wiederentdeckung im 17. Jahrhundert. Dieses neu erwachte Interesse an Magdalena manifestiert sich in verschiedenen handschriftlichen Fassungen ihrer Vita, deren textologische Erschließung komplex ist. Doerr befragt diese Texte nach den Unterschieden, die zwischen ihnen in Bezug auf die Präsentation Magdalenas bestehen. Konstatiert wird dabei das Gleichzeitige des Ungleichzeitigen in Bezug auf die von den Viten gebotenen frömmigkeitsgeschichtlichen Modelle. Wie dieses Phänomen zu erklären ist, spricht Doerr ebenso an wie die Frage nach dem historischen Hintergrund, der
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die im Zuge ihrer Translation aufgetretenen Änderungen der Magdalenenfigur motiviert haben könnte. Werner Schäfke geht in seinem Beitrag »Deutsche und nordische Zwerge: ein Kulturtransfer?« der Frage nach, ob die Zwerge der altnordischen Sagaliteratur – die nach den Riesen wohl am zweitmeisten erforschten Figuren der niederen nordischen Mythologie – Vorbilder in deutschen Zwergenfiguren hatten, ob also die Konzepte der Zwerge aus der einen Literatur in die andere über-setzt worden sind. Nach Durchführung einer kontrastiven prototypensemantischen Figurenanalyse, die die Eigenschaften der jeweiligen Zwergentypen in den Blick nimmt – beispielsweise deren Aussehen oder deren Wohnort –, kommt Schäfke zum Schluss, dass von einer direkten Beeinflussung des nordischen Zwergs durch den deutschen nicht gesprochen werden kann. Praxis und Theorie des (im engeren Sinne des Wortes verstandenen) Übersetzens vom Spätmittelalter bis zum Barock exemplarisch dargestellt am Beispiel von Niklas von Wyle, Martin Luther und Martin Opitz – das ist der Gegenstand der Untersuchung von David Heyde. Es geht also um das Phänomen Sprach- und Literaturtransfer, wobei Heydes Interesse speziell dem Einfluss von Übersetzungen auf die Entwicklung des Deutschen als Literatursprache gilt. Eine Zeitspanne von etwa 300 Jahren überblickend, konstatiert er einige allgemeine Tendenzen im Emanzipationsprozess des Deutschen zu einer international konkurrenzfähigen Literatursprache: zunehmende Zielsprachenorientierung, wachsendes sprachliches und kulturelles Selbstbewusstsein und Instrumentalisierung von Übersetzungen zu verschiedenen sprach- und kulturpolitischen Zwecken. Der Beitrag schließt mit einem Ausblick auf das 18. Jahrhundert. Die Untersuchung von Clara Fritz befasst sich mit französischen Übersetzungen aus dem Italienischen im 16. Jahrhundert. Fritz analysiert mehrere Übersetzungen des Orlando Furioso und stellt mit Bezug auf die Primärquellen die teilweise überaus polemischen Argumente der Akteure für Vers- beziehungsweise Prosaübersetzungen vor. Diese sind geprägt durch das Spannungsfeld zwischen ursprungs- und zielsprachenorientierter Übersetzungstechnik beziehungsweise vom Dilemma, dass sowohl Nachdichtungen (aufgrund der Unmöglichkeit, der zielsprachlichen Idiomatik gerecht zu werden) als auch Prosaübersetzungen (aufgrund großer Abweichungen vom Original) unzureichend sind und »die Musen schänden«.
Begegnen Achim Rabus weist in seinem Beitrag auf die Existenz einer weiteren europäischen Hochsprache neben dem Lateinischen hin, nämlich auf das Kirchenslavische, das in den kyrillisch schreibenden slavischen Ländern jahrhundertelang
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als zentrales Kulturmedium fungierte und noch heute als lingua sacra in Gebrauch ist. Er zeigt Parallelentwicklungen, Begegnungen und Transfererscheinungen zwischen der Latinität und der slavisch-orthodoxen Welt auf, weist auf Unterschiede hin und formuliert Perspektiven in Bezug auf akademische Transfermöglichkeiten. Der abschließende Beitrag von Andreas Bihrer klassifiziert und systematisiert die seit längerem in unterschiedlichen Disziplinen auftretenden Konzepte zur Beschreibung von Transferphänomenen. Bihrer schlägt vor, das vor allem in den Geschichtswissenschaften populäre Kulturtransferkonzept um eine kommunikationsgeschichtliche Dimension zu erweitern. Dies führt er anhand der Konstellationen von Beziehungen, deren Gebrauch und deren Wirkungen aus, wobei er die Kategorie einer Beziehung ›mittlerer Distanz‹ einführt, anhand derer die genannten Fragekomplexe ohne quellenbedingte Verzerrungen analysiert werden können. Er plädiert dafür, als Ausgangspunkt der Untersuchungen die Mikro-Ebene der Akteure und der Transfers zu wählen und somit keine Konstrukte wie vormoderne Nationen und ähnliche scheinbare Entitäten. ***
Ein Wort zur formalen Gestaltung des Bandes: Aufgrund der unterschiedlichen akademischen Primärsozialisierung der AutorInnen sowie der potenziellen Leserschaft haben die Herausgeber im Hinblick auf die Handhabung von Primärzitaten einen Kompromiss beschlossen. Dieser sieht vor, dass alle fremdsprachlichen Primärquellenzitate, unabhängig von der Sprache, in der Regel mit einer Übersetzung versehen werden. Damit wird gewährleistet, dass die entsprechenden Beiträge auch von Mittelalter- und FrühneuzeitforscherInnen rezipiert werden können, die aufgrund ihrer disziplinären Verankerung nicht über entsprechende Sprachkenntnisse verfügen. Die Herausgeber danken der Sprecherin des Promotionskollegs »Lern- und Lebensräume«, Frau Prof. Dr. Birgit Studt, für inhaltliche und finanzielle Unterstützung, den Herausgebern der »Nova Mediaevalia« für die freundliche Aufnahme des Bandes in die Reihe, einem anonymen Gutachter für die gründliche Lektüre der Beiträge sowie wertvolle Kommentare und schließlich dem Verlag V&R unipress, insbesondere Frau Ruth Vachek und Frau Liane Reichl, für die vertrauensvolle Zusammenarbeit. Freiburg i. Br., im März 2011
Die Herausgeber
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Johanna Kershaw
»Der Vater anplicket dich also in der glas miner sel«: John and the transfer of mystic union in the Puchlein des lebens und der offenbarung swester Elsbethen von Oye of Elsbeth von Oye
Elsbeth von Oye’s Puchlein des lebens und der offenbarung swester Elsbethen von Oye (hereafter : Puchlein), is a startling text, in more than one respect.1 It is most notorious for its portrayal of self-inflicted suffering, but arguably its characterisation of the process by which the soul achieves mystic union is more interesting in terms of a development of the discourse of mystic writing. It is almost monotonously centred on one central theme, that of Elsbeth’s suffering, which are partly spiritual, but are primarily associated with her werk or arbeiten with her spiked crucifix and belt. Perhaps predictably, this tends to be what first draws the reader’s attention, but it should not obscure other themes of the text.2 Yet this has often happened: the distinctive role of John the Evangelist in mediating or transferring the capacity of unio with God to the soul has been relatively neglected, although as this article was being prepared for print, an interesting contribution on the subject appeared from Gregor Wünsche (2010), dealing with John as a model for authorship.3 This relative neglect is perhaps 1 I follow the text of the Puchlein as edited by Schneider-Lastin (2009), the most easily available text, with references where relevant to the ›autograph‹ manuscript (Zurich, Zentralbibliothek, Codex Rh. 159, hereafter A). On A, see below. 2 On Puchlein, see below. There is also a Latin translation of A (de dilecta Christi sponsa Elisabeth ex Eyken (sic), Einsiedeln, Stiftsbibliothek, Cod. 470, 484 – 509), which is longer and re-ordered (Nürnberg, Stadtbibliothek, Cod. Cent V,10a, 118va – 141va), also edited by Schneider-Lastin (2009). It contains additional material which Neumann (1980: 512) judges to be »zweifellos echt«. A basic, if now dated, overview of Elsbeth appears in Neumann (1980). Muschg (1935), basing his account on the Latin text, portrays her as dissatisfied with traditional models such as the mediation of the saints, but views the more speculative aspects of her writing as »tragische Fiktion« (1935: 202 – 3). On her institutional context see Halter (1956: 57 – 60), and further Ringler (1980) and Ochsenbein (1986: 353 – 372). On transmission: Ochsenbein (1986: 424 – 430) gives details of the autograph and the Latin translation, the Alemannic (K) redaction, as well as 17 fragments, and describes the autograph manuscript and the transmission of the K redaction and the fragments. He notes a tendency for her work to be received in the context of Eckhart and his circle: apparently her early readers took her speculative characteristics more seriously than did Muschg! 3 Wünsche (2010). Wünsche sees the role of John as primarily a focus of imitatio enabling Elsbeth to transform herself through suffering rather than a model for transfer as such; here, I
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understandable: although pain as a method of imitatio Christi is a familiar theme of mediaeval spiritual writing, there is a unique and grim intensity to Elsbeth’s descriptions of her spiked crucifix, the nailed belt, the digging of the points into her flesh, the blood, the smell of her stained clothes, the feeling of maggots burrowing in her flesh, which is liable to leave the reader not so much with a sense of wonder as with a sense of nausea.4 But there are other aspects of the text which deserve attention; here I will focus on the unusual manner in which the figure of John the Evangelist is used in the text’s construction of unio, and of an authoritative voice in which to describe that path to unio. Unio between God and the soul is, astonishingly, mediated and transferred through John as an inextricable part of the process by which that unio is accomplished and manifested.
1.
Text and Context: the Autograph and the Ascetic Theme
Elsbeth von Oye was born in Zurich around 1290; at the age of six she entered the Dominican nunnery of Oetenbach, Zurich, where she died in 1340 (Neumann 1980: 511). Unusually, her own autograph manuscript survives; traces of scraping, reconstruction and notes in other hands defending the underlying theology of her work with reference to the Bible and the fathers show that her work is not merely uncomfortable to the modern reader, but also not uncontroversial to her contemporaries.5 This suspicion is strengthened by the fact that when the work was later redacted by an Alemannic writer (the K-redaction), the theme of physical self-castigation disappears, and the text is reformed, as Ochsenbein argue for John as a pathway to that union. In an otherwise admirable article on Elsbeth, for instance, Gsell (2000: 463) characterises A as a dialogue between the suffering, human voice of the narrator, and the divine, affirming voice, without even considering John’s voice and role. Some treatments of John in mediaeval literature have touched on Elsbeth, most notably Volfing (2001). 4 In one of the strongest assertions of her suffering, the narrator states: Mich duchte dez, wer ez muglich gesin, ich hette min gebeine dur graben zu minem vleische von rechter biterkeit (Puchlein, 411, 66 – 8). On the smell: auch geschach mir als grimiklichen we von smacke dez gewandes, wan ez was so ungeneme von übertragen, daz mich dauchte, min hercz müeste versinken in meinem libe (Puchlein, 414, 191 – 4). The worms are drastically described, for instance, Und so daz ungewürme an mir aufwiel tag und nacht und alle zit als ein ameshauff, ander gleicheit konde ich im nit geben (Puchlein, 411, 79 – 83), and elsewhere in the work (e. g. Puchlein, 412, 117). Seuse describes similar ascetic practices – wearing a spiked cross – in the Büchlein der Ewigen Weisheit (1907: 48, hereafter BEW), but without the same exhaustive focus on his austerities, or such drastic detail. It is also notable that later in the BEW Seuse argues for gelazenheit and is told by God to give up his actions, thus adopting a radically different strategy to Elsbeth. 5 Gsell (2000: 460 – 2), however, suggests that Elsbeth may have mutilated the text herself, allowing her to re-write the text and re-present the ecstatic experience in a new form.
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(1986: 433) puts it, as a divine monologue which »das menschliche Leiden als gottgewollte Compassio rechtfertig[t].« Her personal holiness was admired by her fellow sisters and her successors, and a later Dominican, Georg Epp, referred to miracles at her grave, though a cult as such apparently did not develop. She appears in chronicles of her order, most notably that of Johannes Meyer’s »Liber de viris illustribus Ordinis Praedicatorum«, as is detailed in Halter (1956: 57, 60). The dramatic castigation and asceticism found in both Puchlein and A seems to have been relatively normal in Dominican nunneries of the period, at least in kind, but it is unusual for them to be so central to the text.6 A similar degree of self-torture to that described by Elsbeth can perhaps only be found in the life of Christina of St Trond (Christina Mirabilis, 1150 – 1224), who is said to have thrown herself into ovens, boiling water, freezing rivers, and millponds, but her vita, as presented by Thomas of Cantimpr¤ (1201 – 1270/72), writing around 1232, is quite different in character. For one thing, the stories about Christina are described as miracles, and therefore in effect unlike Elsbeth’s gruesome text; for another, Christina’s sufferings are not presented directly as an imitation of Christ directed at union with God, but as vicarious atonement for suffering souls in Purgatory, cf. Haas (2004: 233 – 247). Another point of comparison is Seuse, who, as has been noted before, had quite similar practices – with the significant difference that God eventually told him to stop, and to go in for rehte gelazzenheit instead (BEW cap 17 – 19; cf. Ochsenbein 1988: 353 – 4). One of the central assertions of Elsbeth’s text is that her self-inflicted suffering is not only allowed by God but approved of, even demanded. The theological justification is provided fairly early on in the Puchlein, after the narrator has set aside her cross for a time: Do wart gesprochen also von got zu mir : »Wenne daz kint nit sauget von der muter, so hat es nit mer leblichkeit.« Das verstund ich also, das ich min kreucz wider nemen sölte (Puchlein, 410, 51 – 3).
Her suffering is so linked with that of Christ’s that it becomes a way of her sharing in divine life. Generally, the text is characterised by a tendency to present topoi of religious literature and Christian devotion – crucifixion with Christ, suffering as a means to union with God – with a high degree of literalism, leading to disturbing realism. The metaphor of the impression left by wax in a seal for the effect of
6 Ochsenbein (1986: 434) suggests that the pains which Elsbeth takes to justify her actions is a reaction to the criticism of over-enthusiastic physical exercises which frequently originated from male Dominicans, including Eckhart.
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God’s love on the soul is fairly common in mysticism, but in Elsbeth it is used in the context of her self-torture with her cross: Ich steckte mein kreucz meistig alle zeit also peinlich in mein fleisch […] das ich es usser dem fleisch lössen must, als man ein insiegel lösst ausser einem wachß (Puchlein, 413, 151 – 3).7
Similarly, the common mystic theme of the mirror appears several times in the Puchlein, connected with very literally presented suffering.
2.
The Invisible Community and the Visible Communion of Saints
One further characteristic of A brings us closer to John and his role as a vehicle of transfer. Unlike many other texts by religious women – the Schwesternbücher, or the works of Gertrud of Helfta, Mechthild of Hackeborn, or the Fließendes Licht der Gottheit of Mechthild of Magdeburg – A does not present itself as embedded in or tied, however loosely, to any kind of community. Instead, the relationship with God portrayed in the text is set in a wider context by dialogue with John, and occasionally Mary – that is, it is located within the communion of saints, rather than the convent community. Apart from isolated references to the canonical hours and feast days – purely as temporal markers (for example Puchlein, 410, 59 – 60: an sant Kathrinen tag […] lange vor metten) – there are no text-internal clues which give any indication of the narrator’s situation. We may know that Elsbeth von Oye was a Dominican nun in fourteenth century Zurich, but the narrator might as well be sitting in a cell in the Egyptian desert for all the evidence the text supplies. She does not take any interest in the political situation or the situation of the church; she does not present her sufferings as having a redemptive role for souls in purgatory ; she shows no concern for other mortals and their physical or spiritual welfare. In this she differs sharply from writers like Mechthild of Magdeburg, Agnes Blannbekin, or – to choose a Dominican example – Catherine of Siena. She does not present herself as a teacher or intercessor ; there are no references to her confessor. She describes no miracles or paramystical phenomena (although some might class her survival to the age of around fifty as a miracle). Admittedly, the text is fragmentary, and A as a physical object was given a social context by its very presence in Oetenbach, but nonetheless it is strikingly monofocused. It would be misleading given the total fixation on her obedience to God and very physical imitatio Christi to call the 7 Cf. Puchlein (409, 27 – 8): das was mir meistig alle zeit eingedrucket in mein fleisch als ein ingesigel in ein wachs.
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work egocentric, but it is certainly breathtakingly single-minded.8 And yet the text is not simply a dialogue, and it has an important place for saints – or rather, for one saint in particular, John the Evangelist, with a shorter appearance by the Virgin Mary.
3.
John and the Transfer of unio
John’s role is to act as a mediator between God and the soul. At times this is a relatively straightforward matter of pedagogy, offering guidance and instruction to the narrator. John’s function is to aid in the transfer of information and mystic technique – ostensibly from Christ to the soul, but also from the author of the text to the reader. There is also, as we shall see, a transfer of role from John to the soul, in that John is treated as the exemplar of the mystic soul united to God; through his mediation and instruction, the narrator enters into a comparable relationship to God – and the text, in a vicarious sense, mediates that relationship to the reader. Though the narrator does not describe herself as imitating John or Mary, or present them directly as exemplar, similar terms are used to describe the relationship of John, in particular, with God (cf. Wünsche 2010: 173). This makes a strong if non-explicit claim about the validity of the rather alarming model of unitative spirituality presented in Puchlein. The narrator also describes herself as serving John and being concerned about displeasing him, and refers to him as mein herr sant Johannes (Puchlein, 444, 17; and repeatedly in Autograph). John is the focus of a lengthy section which, apart from a short chapter on Mary Magdalene and a brief paragraph praising Meister Eckhart, concludes the Puchlein, forming cap. XXXIV in Schneider-Lastin’s edition. In the Autograph this formed a similar section, preceded by a conversation with the narrator’s guardian angel and with the Virgin Mary, which was bound separately, surrounded by an originally blank covering leaf, on which text was later written, including another conversation with Mary on a similar theme, that is the necessity for the narrator’s suffering. It appears, then, that this long section was originally a discrete section, possibly even predating the rest of the work. It primarily justifies the narrator’s suffering, which she describes throughout the work as something which she finds difficult and unpleasant, but which she submits to in obedience to God’s direct command. Furthermore, it focuses 8 »Elsbeths tagebuchartige Aufzeichnungen kreisen – völlig ich-bezogen – um ein einziges Thema: die möglichst vollkommene Compassio mit dem leidenden Christus« (Ochsenbein 1986: 430). The accusation of ego-centricity occurs fairly frequently in comments on Elsbeth, who tends to provoke emotional reactions even in an academic context. Cf. Gsell (2000: 481).
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attention on the narrator’s status as a specially gifted, quasi-saintly figure and uses John to construct that figure. Another major section dealing with John the Evangelist and the narrator’s divinely appointed role appears very near the beginning of the work, in the first undamaged section, 3.1 – 5.15. This leads into a more personal commission of the narrator to suffer as a means to unio with God, and a mutual feeding on each other’s passion. It is crucial that the narrator’s ›commission‹, which is what leads her towards unio, takes place in the presence of John, who is apparently crucial to it. Like the John unit, the primary role of this section is to define – and authorize – the spirituality depicted in the book, and to assert its special holiness or sanctity in the parallel drawn between the narrator and John. This parallel is constituted in the other major theme of the text, the expression of closeness to God in suffering. In Autograph it is often difficult to work out whether John or God is speaking; in Puchlein the speaker roles are more carefully divided, but John still acts as a channel for divine teaching and affirmation of Elsbeth. John is an especially appropriate patron for her actions, not just because he was Christ’s favourite disciple and one associated, particularly in south-west German nun’s literature with mystic union, because he was not martyred, though later legends depict him enduring various tortures for Christ over the course of his life before eventually dying peacefully of old age.9 The narrator contemplates di pitterkeit meines herren sant Johannes, die er het unter dem kreucz (Puchlein, 445, 37). John shares vicariously in Jesus’ sufferings as he stands under the cross, and experiences tödiges smerczen (Puchlein, 445, 36). The reader is able to associate this with the sufferings, physical and mental, of Elsbeth, which have been literally received ›under the cross‹ which she has made and used in her ascetic exercises. As the discussion of Christ’s suffering continues, John tells the narrator that he receives a plutig eindruck of Jesus’ wounds in his heart, and a bitter […] eindruck of his compassion (Puchlein, 445, 45, 51). This already recalls the language of impressions and seals which we noted in the narrator’s descriptions of her own austerities, but the association between John as suffering saint who is especially loved by Jesus is made explicit later on in the chapter : Also sprach zu mir der minikliche junger, den Jesus da minnet: »Als ich es alle zeit anplicke in dem spigel der ewigkeit, was dich allernehest eindringen mag in die verborgene triskommer götlicher natüre, also hab ich es dir gevordert von dem vetterlichen herczen, di gleichsten gleicheit seins kreuczegtten suns. Als mir unser lieber herr
9 On John in mediaeval German religious literature, see Volfing (2001), and further Hamburger (2002). For the legendary accounts of John’s post-Biblical career, see the Legenda Aurea: »De Sancto Iohanne Evangelista« and »De Sancto Iohanne ante Portam Latinam« (1998: 87 – 96 and 471 – 2).
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Jesus Christus alle zeit eintruckte in den tieffen grunt meiner sel di blutigen wunden siner mine, also eindruckest du im alle zeit die minnebewegung mines herczen mit dem plutigen sere deines kreuczes.« (Puchlein, 446, 94 – 100).
Not only is there a strong parallel which is almost an equivalence between the bloody wounds of love, physically experienced by Christ, the emotional wounds of John, and the physical and emotional wounds suffered by the narrator, it is John, and the minnebewegung of his heart, who bridges the two. Elsbeth’s imitatio Christi is only possible through John’s mediating activity, transferring the love and wounds of Christ to Elsbeth. In a sense, Elsbeth is like St Francis, the narrator is commissioned to be an alter Christus – though while Francis received miraculous stigmata as a sign of this, the narrator interprets this as a sign that she should conform herself to Christ by binding herself to a very physically real cross. The theme is addressed slightly differently in the Autograph. Here the narrator expresses fear of the suffering of her ascetic practices, and receives the response, von sant Johannes gesprochin, that: Ich vermag minen gewalt nit, ich muos hute die maginkraft mines marges irgiezzin in miner frunde herzen dur minen minner, wan sinu minnewerk hant als inre gerueret minen grunt, daz mir ellu minne werk minneklich von minen frunden muossen sin (Autograph, 5.4 – 5.15).
It is possible that the attribution is the result of scribal confusion; the statement sounds as if it might come from Christ. But if we take it as the manuscript reads, then this gruesome identification with the crucified Christ is indeed a special favour from John the Evangelist: the narrator’s reward for devotion to the saint is union with God.10 Slightly later in the Autograph, at 5,6, though the edition or the manuscript does not mark a change in speaker, the narrator is clearly being addressed by God the Father, rather than by John, as reference is made to the narrator working not in her own blood mere mit dem in gnaturen unt vergotteten bluote mins suns (7.1 – 3); immediately afterwards the reference to minem vater suggests that it is now Christ who is speaking. The text’s confusion of voices produces an effect a little similar to Mechthild of Magdeburg’s Fließendes Licht der Gottheit, with its elision of identity between Ecclesia, Mary and the soul, but it is more marked and more disconcerting (cf. Volfing 2003, further Kershaw 2009: 98 – 103). In the Fließendes Licht der Gottheit it is usually clear how many people there are in a conversation, and while it is not always apparent which iteration of the Bride is present, there is no difficulty in distinguishing between 10 Mechthild of Magdeburg, too, postulates that special worship given to particular saints will result in them showing one particular favour, though in that case is presented in the form of help at the hour of death. Cf. Das fließende Licht der Gottheit, VI.9. However, the same statement reappears in A at 142,8ff, where it is attributed directly to God.
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Creator and created. The confusion in Autograph, however, has one definite result: it suggests to the reader that the result of John’s union with God is so close an identification that John has in one sense become God, though not to the extent of total, as opposed to partial, loss of identity : and this, it is to be assumed, is the ultimate fate of the narrator. Thus, John can function as the conduit by which the narrator moves towards unio.11 Because the John material is still more rigidly separated in Puchlein, there is not the same elision of voices, or at least it is not a dominant feature. There is one moment, in cap X, where the narrator, in the middle of a dialogue with God, appeals to John, and the answer she receives is introduced with the impersonal do wart gesprochen (Puchlein, 424, 43), but that is not significant. But Puchlein does adopt strategies of discourse and vocabulary to show that John acts as a mediator, indeed that Elsbeth can only begin to approach unio with God if it is ›transferred‹ through John: Mein herr Johannes sprach zu mir also: »Der Vater anplicket dich also in der glas miner sel.« Dis was mir nit gar tröstlich. Ich wollte, das mir der vater anplicket in seinem sune (Puchlein, 444, 36 – 8).
The narrator’s discontent is understandable; this method of describing union with God via a saint is, to say the least, unconventional mystic theology. It seems to border on the heretical. It can, however, be understood in terms of the blurring of identity between John, the deified evangelist (cf. Hamburger 2002). John goes on to explain: In der gefewersten flamme, die lauter creaturen getragen mag, hab ich alle zeit ein widerflammen in di prunst götlicher natur (Puchlein, 444, 19 – 21).
The mirror related metaphors, which continue as the narrator questions John about his contemplation of the spigel der gotheit (Puchlein, 444, 32), suggest a complicated understanding of unio in terms of sight and gaze. John contemplates the Father in the mirror that is the Son; the Father gazes on Elsbeth in the mirror that John, who has the widerflammen […] götlicher natur, has become. In Autograph John was described by Christ to the narrator as having a special status12 :
11 Wünsche, by contrast, argues strongly that John is only an example, and that the narrator achieves unio through her ›work‹ with the cross. As Wünsche (2010: 186 – 7) notes, this is dubious theology which seems to make grace, or the work of Christ, unnecessary. However, this reading overlooks the implications of the blurring of the roles of Christ and John. 12 The attribution of speaker roles in the Autograph is confusing – indeed, the manner in which one voice bleeds into another is one of the features of the text. It would be possible to read the dialogue cited as being attributed to John – but a speaker who describes his divine nature as uniting itself to flesh and blood can only be the Second Person of the Trinity.
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Ane daz bluot unt fleisch, daz ich vereinit han mit miner gottlicher nature, unt min muoter alleine do wart nie creature minneklicher noch naturlicher mit mir vereinet, denne er ist (141, 2 – 8)
John, that is, is closer to total union with God than any created being bar Christ’s human nature, and Mary, who gave birth to that nature. Puchlein does not spell out John’s status so explicitly, but the mirror metaphors carry the same implication. There is a transfer of the divine nature from Christ to John to the narrator – and the reader participates at second hand. The language of mirrors is linked to the discourse of suffering discussed above, via the metaphor of signs. John tells the narrator : Es leuchtet bilde in widerbilde und erspiegelt sich das glast in widerglaste… Mein minne, die alle zeit gekreuczigt ward mit Christo, die scmeltzet im in der grunt seiner götlichen nature dein kreucze und auch das meine. Waz die gegenwürtikeit seiner kreuczunge an mir gewürket hat, daz ist in mir geeinigt als mir. (Puchlein, 447, 110 – 114).
John mediates the suffering of Christ to Elsbeth, and they are united in her cross. This is not presented as merely a textual game, or, indeed, purely a matter of spiritual suffering. Puchlein occasionally uses Eckhartian vocabulary of ›freedom‹ as the means by which unio takes place – John, indeed, tells the narrator that her cross can be a means of unio von der gefreiten einigkeit deines gemütes (Puchlein, 447, 182), which recalls Eckart’s language of simplicity. But the freedom is expressed and inculcated by suffering, which is not merely mental, but also self-inflicted discipline, and the narrator’s response to John’s language of reflection brings the reader up with a bump in its blunt allusion to Elsbeth’s bloody activity : Mich dauchte […] das min herre sant Johnannes gar hert were mit seinem trost. Ich mante in meiner plutigen geisel, mit der ich mich dicke gefilet hat durch sein gerliche (Puchlein, 447, 117).
John thus authorises her übungen. The whip, which was an instrument of the Passion, and the cross – Christ’s cross and the narrator’s imitation of it – are the means by which God makes the Christian like Christ; and if John and Mary, neither of whom endured painful martyrdom, are presented as being closest to God thanks to their spiritual crucifixion, then the narrator, who is not leading a life of active virtue or in danger of actual martyrdom, is nevertheless shown as following closely in the tradition of the saints closest to God. It is also worth noting that despite the savagery of the austerities described, and their uncomfortable physicality, there is no tone of hatred adopted towards the body, no
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rhetoric of punishment in order to stave off temptation and sin.13 Indeed, far from an obsession with a soul-body duality, there barely seems to be any distinction between the two. It is this sense of identity between body and soul, indeed, which makes it possible for the narrator to claim her physical sufferings make her like Christ, not merely physically, but spiritually. But John is, as we have seen, not merely an example for Elsbeth to follow, he is also her protector, guide, and a link between her and God. Why does the text follow this strategy? As we have seen, the text creates a paradigm by which she does not achieve unio directly, but through the mediation of John. Ochsenbein notes (1988: 365 – 368, 369) that, though other Dominican texts such as the Schwesternbücher record physical self-castigation as a normal form, though not depicting them in anything like the same degree, they do not add justification through the authority of a saint, or indeed at all, and suggests that this may be connected to the criticism of such übungen by male Dominicans, including Meister Eckhart.14 Certainly it strengthens the authority claim of the text to have the instruction in the ascetic life – and the text does have a strong didactic element – to have Elsbeth’s teaching come not from the mouth of the narrator, who in her reluctance to suffer faintly mirrors the reader’s natural discomfort, but from a saint. John, too, is not just any saint, but the one who reposed on Christ’s breast, the one who Dominican writing of South-West Germany strongly associated with mystic union, as is discussed by Volfing (2001: 131 – 160) and, further, Hamburger (2002). At the same time, John regains the very old role of the (patron) saint intermediary between the mortal and God, conceived in terms of the classical model of the patron who represents the interests of his clients to more powerful agencies such as the emperor ; a role which is sometimes thought to be incompatible with a mysticism which seeks union with God, but which both the Autograph and the Puchlein retain.15 The friend at court aspect is underlined by John’s role as a quasi-courtly messenger, requested by the narrator to bring God’s New Year’s greetings, but supplying also confirmation that the narrator’s bloody devotions are God’s will, and advice on how to bear them (Puchlein, 446, 77 – 88). The narrator’s imitatio Christi is also imitation of John, and imitation of 13 This is a particularly clear example, if an unexpected one, confirming Bynum’s ideas (1992: 183 – 238, especially 1992: 235 – 8) of ›the body as friend‹ and of the positive aspect of the attitude of ascetic women to their bodies. 14 As Ochsenbein observes, the terms of speculative mysticism found in the work might be derived from Eckhart, and we may also note what looks like an instance of Eckhartian birth mysticism presented in terms of crucifixion through ascesis at 44,6 – 45,2. But Gottesgeburt through ascetic effort is a considerable transformation of Eckhart’s ideas, in a direction he would scarcely have approved. 15 On this conception of the saint, cf. Brown (1971) on the emergence of the cults of the saints in the patristic period.
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a saint – this saint in particular is shown as necessary to the imitation of Christ and to union with God.
4.
Conclusion
Both the Puchlein and the Autograph can be difficult, even disturbing, to approach, as is indicated by the highly emotional tone of even recent criticism. Even if Neumann’s characterization of Elsbeth’s text (»primitiv-nave Kreuz- und Wundenmystik als Grundlage persönlicher Identitätserfahrung mit Christus und das anspruchsvolle Vokabular neuplatonisch gerichteter Philosophie ohne echte Wesensschau der Alleinheit des Seienden in Gott mischen sich zwitterhaft in E.s Schriften … [beinflußt] von halbverstanden Sätzen areopagitischer Mystik und auch von Eckharts Predigten«) (1980: 513) reflects its peculiarities, Neumann’s tone is condemnatory and unhelpfully dismissive. The Puchlein presents an experiment in extreme physical and spiritual states which, though unappealing to the modern reader, is coherent in itself. The text is not merely striking for the visceral nature of the descriptions of suffering, but also in the literary construct used to evoke the narrator’s relationship to God. John functions as the conduit and focus through which unio is transferred and mediated to the narrator. This is evident in the use of blended voices suggesting the union of the saints with God, the reapplication of phrases applied to saints or to Christ to portray the deification of the soul, the use of John the Evangelist as a messenger-cum-spiritual director, and the use of traditional mystic images such as the mirror and the seal in unexpected ways all indicate an eccentric but personal vision refunctioning the tropes of German mysticism, which appear to have a strong didactic element, given the attention paid to the justification of the ascetic path portrayed. Whether or not the result pleases is another matter entirely.16 For our purposes, Elsbeth’s use of John the Evangelist is most remarkable: he is made crucial to the narrator’s spiritual path, and functions as a source of authority, example and guide – even though this is largely a projection of a personal spirituality onto the figure of characteristics and a devotion found only in rudimentary form in the tradition. Even more strikingly, he is the ›mirror‹ through which the narrator finds unio with God. The emphasis on John, 16 Cf. Haas’ contribution to discussion of Ochsenbein’s (1986) paper : »Im Hinblick auf das, was als inkarnatorische Mystik bezeichnet wurde, seien diese Frauen sehr ernst zu nehmen, selbst wenn es sich theologisch gesehen um Fehlformen handeln sollte.« If one does take the underlying theology seriously, it is difficult not to sympathise with Kobusch’s response: »Ein Gott, der dies will, was hier geschildert ist, ist kein Gott mehr, sondern der Teufel«. Transcript of the discussion: Kichert (1986: 475). This is, however, not a question for the Germanist to settle.
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the mystic saint par excellence, as teacher of the narrator can be linked to the strong didactic tendencies of the work observed by Ochsenbein (1986: 436). John functions as a guarantee of the text’s teaching, even as the narrator is thus made to appear, not as a wilfully inventive eccentric, but as a dutiful nun, obedient to the saint and through him to God. But the narrator’s closeness to God itself is mediated by John – and that closeness, which gives her the right to record her experiences is thus also a transfer of the authority to speak of God.
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John and the transfer of mystic union
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Ueli Zahnd
Zwischen Verteidigung, Vermittlung und Adaptation. Sentenzenkommentare des späten Mittelalters und die Frage nach der Wirksamkeit der Sakramente
Die Sentenzen des Petrus Lombardus sind unbestritten das prägendste Werk der spätmittelalterlichen Theologie. Verfasst als eine systematisch aufbereitete Sammlung von Kirchenväterzitaten zu einem breiten Spektrum an theologischen Fragen1, sind die vier Bücher der Sentenzen schon im unmittelbaren Umfeld des Lombarden rege genutzt, exzerpiert und glossiert worden. Ihre klare Struktur und die breite Palette an berücksichtigten Kirchenvätern dürften mit dazu beigetragen haben, dass die Sentenzen schnell einmal grosse Verbreitung im Rahmen der theologischen Ausbildung fanden2 ; ihre nicht immer widerspruchsfreie Darstellung der theologischen Themen und der argumentative Einbezug von philosophischen und grammatischen Theorien dürften ihrerseits Grund dafür sein, dass die Sentenzen bald schon den Ausgang für ein theologisches Weiterdenken bildeten, immer ausführlichere Kommentare fanden und damit schliesslich zum Basiswerk schlechthin der spätmittelalterlichen Theologie wurden: Noch im 13. Jahrhundert wurde es Pflicht, dass jeder Lombards Sentenzen kommentiert haben musste, der den Grad des theologischen Magisters erreichen wollte.3
1 Die umfassendste Studie zu Lombards Sentenzen bietet Colish (1994); ein überschaubarer Einstieg in das Werk findet sich inzwischen auch bei Rosemann (2004). Die Sentenzen selbst sind kritisch ediert vom Collegium S. Bonaventurae (1971 – 1981). 2 Über die tatsächlichen Gründe dafür, dass ausgerechnet Lombards Sentenzen eine solche Verbreitung gefunden haben, kann letztlich natürlich nur spekuliert werden, vgl. Friedman (2002a: 507) und van Dyk (1983: 228). Zu der ersten Rezeption vgl. Hödl (2002) und Colish (2010). 3 Entsprechend riesig ist die Zahl verfasster Kommentare: van Dyk (1983: 227) weiss von über 1600 erhaltenen Werken. Unumgänglicher Einstieg in die Primärliteratur bleibt weiterhin Stegmüllers Repertorium (1947 f.) mit den Ergänzungen von Doucet (1954) und van Dyk (1979), obwohl inzwischen auch Datenbanken im Aufbau sind, vgl. Livesey (2002). Einen ersten Überblick über die Kommentarliteratur bietet Rosemann (2007), unverzichtbar für das Studium der Sentenzentradition sind zudem die beiden bisher erschienenen Bände der Reihe »Mediaeval Commentaries on the Sentences of Peter Lombard« (Evans 2002 und Rosemann 2010). Der Sentenzentradition des ausgehenden Mittelalters hat sich schliesslich das Jahres-
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Im Hinblick auf Transferphänomene dürfte die damit entstandene Gattung der Sentenzenkommentare nun schon allein wegen ihres Einsatzes im universitären Umfeld und wegen des dahinter stehenden mehrschichtigen Vermittlungsgedankens interessant sein: So vermittelten die Kommentatoren ihren Schülern ja die Auslegung eines Textes, der selber schon auf die Vermittlung von Väterzitaten hin angelegt war. Darüber hinaus zeigt sich aber im ausgehenden Mittelalter, dass noch einmal eine weitere Stufe der Wissenstransfers aufgenommen wird, dass nämlich die Kommentatoren ihre Kommentare mehr und mehr in Anlehnung an frühere Kommentarwerke verfassen und damit über die direkten Auslegungsfragen zu Lombard hinaus den Fokus auf die Vermittlung einer bestimmten Lesart der Sentenzen legen. Am Ende dieser Entwicklung stehen im Ausgang des Mittelalters Kommentare wie Stephanus Brulefers Reportata clarissima in quattuor sancti Bonaventure sententiarum libros4, Gabriel Biels Collectorium in IV libros sententiarum Guillelmi Occam5, Jacques Almains Dictata super sententias magistri Roberti Holcot6, oder, etwas exotischer, Aegidius’ von Viterbo Commentationes ad mentem Platonis in Magistrum Sententiarum7. Doch schon bevor es im Verlaufe des 15. Jahrhunderts vor dem Hintergrund des Wegestreits üblich wurde, sich der via eines der herausragenden Theologen des späten 13. und frühen 14. Jahrhunderts anzuschliessen8, schien es ein verbreitetes Phänomen zu sein, dass Autoren ihre Auslegung der Sentenzen in deutlicher Anlehnung an einen Vorgänger-Kommentar verfassten. Für die Phase nach 1350 hat Damasus Trapp hierzu den nicht unumstrittenen Begriff der Lectura secundum alium geprägt.9 Nun ist es gerade diese letzte Vermittlungsstufe, die in nicht unbedeutendem Masse dafür verantwortlich sein dürfte, dass das theologische Geschehen des
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treffen der SIEPM vom Oktober 2009 in Nijmegen gewidmet, dessen Resultate 2011 erscheinen werden. Prolog und Buch I wurden 1490 in Mainz verfasst, Bücher II – IV in Metz, vgl. Bolliger (2003: 189 f.); den ersten Druck unternahm Jacobus de Pforzheim 1501 in Basel (vgl. Wegerich 1942: 161). Gelesen in Tübingen nach 1484, kritisch ediert von Werbeck u. a. (1973 – 1992). Almain dürfte die Sentenzen 1512 gelesen haben. Der an Holkot angelehnte Kommentar erschien ein erstes Mal 1518 als Teil von Almains Opuscula unter dem Titel De voluntate, in der selben Sammlung findet sich aber auch ein an Scotus orientierter Kommentar zu Teilen des vierten Buchs. Vgl. Farge (1980: 15 – 18). Gelesen in Rom nach 1499, kritisch ediert von Nodes (2010); vgl. auch van Dyk (1983: 235 f.) und Martin (1992). Zum via-Begriff im Wegestreit vgl. Hoenen (2003: 13 f.). Trapp hat die Bezeichnung in seinem explorativen Text zur Augustinerschule im 14. Jahrhundert geprägt (1956: 250 – 255). Erst in jüngster Zeit ist von Chris Schabel und Paul Bakker wiederholt angemerkt worden, dass damit weder ein einheitliches Vorgehen bezeichnet, noch zeitgenössische Terminologie aufgenommen werde (Schabel 1997: 159 f.; Bakker & Schabel 2002: 438 ff.; Schabel 2006).
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ausgehenden Mittelalters schon von einigen Zeitgenossen und bis in die heutige Zeit hinein immer wieder für unoriginell befunden worden ist; und es dürfte ziemlich direkt mit diesem Befund zusammenhängen, dass die entsprechende Epoche der Sentenzenauslegung in der modernen Forschung noch kaum Beachtung erhalten hat.10 Die Sentenzentradition des ausgehenden Mittelalters unter dem Aspekt des Wissenstransfers aufzugreifen, legt sich daher nicht nur von der Gattung her nahe, sondern es ermöglicht dieser Zugang auch, einem problematischen Anspruch der modernen Betrachtungsweise auszuweichen: Denn in Vermittlungsfragen ist Originalität kein Kriterium. Folgendes soll daher auf den nachstehenden Seiten unternommen werden: Die wenigen Charakteristika, die in der modernen Forschung zur Sentenzentradition des ausgehenden Mittelalters bisher gesammelt worden sind, zeichnet es aus, dass sie zum einen in Verbindung mit der Sentenzentradition des sogenannten Oxforder ›Goldenen Zeitalters‹ gesehen werden, zum anderen weitestgehend aus Studien zu Kommentaren zum ersten Buch von Lombards Sentenzen entwickelt worden sind.11 Um dem Ausmass dieses Oxforder Impulses auf die spätmittelalterliche Sentenzentradition nachzugehen und zugleich die Ergebnisse der bisherigen Forschung zu evaluieren, sollen anhand eines typischen Themas aus dem vierten Buch der Lombardschen Sentenzen – der Frage nach der Wirkweise der Sakramente12 – einige Aspekte der Kommentartradition des ausgehenden Mittelalters nachgezeichnet werden. Als Vergleichsgrösse dient ein einsteigender Abschnitt zur Pariser Tradition des frühen 14. Jahrhunderts; es folgen punktuelle Einblicke in die Oxforder Tradition und deren Rezeption in Paris zur Jahrhundertmitte. Ein Ausblick auf das späte 14. und das 15. Jahrhundert rundet die Untersuchung ab. Der Fokus liegt dabei weniger auf in10 Vgl. die wunderschöne Kritik Petrarcas am Kommentarwesen in seinem De sui ipsius et multorum ignorantia IV,156 (ed. Buck 1993: 112 – 114); dazu Imbach (2004). Prantl zog im vierten Band seiner wegweisenden »Geschichte der Logik im Abendlande« her über die auf Ockham folgende, »zum Erschrecken reichhaltige Literatur-Periode, deren Formalismus und Abstrusität, ja […] deren Sinnlosigkeit fast alle Vorstellungen übersteigt« (1870: 1). Aber selbst in neusten Handbüchern ist zu lesen vom blossen »emsigen Schülergeist«, mit welchem man sich im ausgehenden Mittelalter »lebhaft und mit Ausdauer« gestritten habe, einzig um das »Andenken der vergangenen Meister« zu pflegen: Moeller (2008: 213). Zum Stand der Sentenzenforschung zum späten 14. Jahrhundert vgl. Bakker & Schabel (2002: 425). Die Kommentartradition des 15. Jahrhunderts hat einzig im Hinblick auf die Reformation mehr als punktuelle Beachtung erfahren, vgl. die Bibliographie bei Rosemann (2007: 200). 11 Courtenay (1987). Weitgehend am ersten Buch der Sentenzen orientiert sich Trapp (1956). Eine erste kritische Auswertung bieten Bakker & Schabel (2002). 12 Typisch für die Sentenzentradition ist die Problematik wegen der Verstrickung eines theologischen Themas mit logischen und physikalischen Fragen, wie dies Rosier-Catach (2004) für die Zeit vor 1300 herausgearbeitet hat. Allgemeiner zur Verstrickung der Disziplinen vgl. Murdoch (1975: 293 f.).
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haltlichen als auf strukturellen Gesichtspunkten, welche für die Transferproblematik interessant sein dürften.
1.
Pariser Sentenzenkommentare im frühen 14. Jahrhundert (1300 – 1320)
Aus Paris sind in den ersten zwei Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts fast ausschliesslich Sentenzenkommentare dominikanischer oder franziskanischer Provenienz überliefert.13 Prägendes Thema bei den Dominikanern blieb in diesen Jahren die Frage nach der Autorität des Thomas von Aquin, dessen Lehre schon 1286 zur Ordensdoktrin erklärt worden war, was aber in den Generalkapiteln des frühen 14. Jahrhunderts immer wieder aufs Neue bestärkt wurde.14 Ausgiebigen Anlass zur Diskussion gab dabei das Sentenzenwerk des Durandus von Saint PourÅain, der in einer ersten Version seines Kommentars (verfasst zwischen 1304 und 1307) immer wieder explizit gegen Positionen des Aquinaten Stellung bezogen hatte. Auf Druck von Ordensoberen verfasste er in seinen Pariser Jahren eine gemässigte zweite Redaktion, bevor er nach 1317, als er dank seiner Stellung als Bischof von Limoux dem direkten Einfluss des Ordens entzogen war, sein Werk ein drittes Mal überarbeitete, um nun wieder deutlicher Stellung gegen Thomas einzunehmen, wo er dies für nötig hielt.15
1.1
Dominikanische Kommentare
Allein schon die Tatsache, dass Durandus eine dritte Version seines Kommentars verfasst hat, unterstreicht den Stellenwert, welcher der Gattung im Paris des frühen 14. Jahrhunderts beigemessen worden ist: Hatten Autoren des 13. Jahrhunderts die Sentenzen noch als Teil ihres theologischen Werdegangs kommentiert und ihre gereiften Positionen später in anderer Form publiziert16, so 13 Dies gilt übrigens auch schon für die Dekade vor 1300, vgl. Friedman (2002b: 56 f.), der für die Zeit nach 1300 nur noch den Augustiner-Eremiten Augustinus Triumphus anführt (ibid.: 81). Auf drei weitere Augustiner-Eremiten verweist Schabel (2002a: 249 ff.). Von allen vier ist allerdings kein Kommentar zu Buch IV von Lombards Sentenzen überliefert. Zum Karmeliten Johannes Baconthorpe vgl. unten S. 42f., Anm. 40. 14 Das Mandat von 1286 ist ediert in Denifle (1891: 6), die weiteren Beschlüsse in Reichert (1899). Vgl. dazu allerdings Robiglio (2008: 39 – 47) und nun auch Hoenen (i.E.). 15 Die Kontroverse grundlegend aufgearbeitet hat Koch (1927), vgl. nun Iribarren (2005: 182). Eine aktuelle Bibliographie bieten Guldentops & Jeschke (2010). 16 Prominentestes Beispiel ist natürlich Thomas von Aquin, der 1252 – 1256 in Paris die Sentenzen gelesen und danach versucht hat, seinen Kommentar zu überarbeiten, bevor er als geeignetere Form für sein theologisches System die Summa theologiae begonnen hat (vgl.
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wurden für Durandus und seine Zeitgenossen die Sentenzenkommentare mehr und mehr zum Hauptinstrument für die Entwicklung und Verteidigung ihrer theologischen Lehren. Entsprechend gross war das Interesse, die weiterhin im Rahmen der theologischen Ausbildung verfassten Kommentare zum Teil mehrfach zu revidieren und schliesslich eine ausgefeilte Endversion – eine sogenannte Ordinatio – herauszugeben.17 Dieser erhöhte Stellenwert hatte seinerseits Auswirkungen auf die Struktur und Organisation der Kommentare, die sich immer mehr an den theologischen Interessen der Kommentatoren und den jeweils aktuellen Kontroversen als am kommentierten Grundtext auszurichten begannen. Exemplarisch lässt sich dies an Durandus’ Behandlung der Frage nach der Wirkweise der Sakramente nachzeichnen. Petrus Lombardus hatte in den einleitenden Kapiteln zu seinem vierten Buch einige allgemeine Bemerkungen zusammengetragen, was Sakramente seien, wozu deren Einsetzung diene, worin sie bestünden und was die neutestamentlichen Sakramente von den alttestamentlichen unterscheide.18 Durandus geht auf den Grundtext des Lombarden immerhin noch soweit ein, dass er seinem Kommentar eine zweiteilige expositio voranstellt, welche zuerst – als sententia in generali bzw. als divisio textus – diese einleitenden Kapitel in den Gesamtzusammenhang des vierten Buches eingliedert und sie dann – als sententia in speciali – logisch strukturierend zusammenfasst.19 Bereits hier nimmt sich Durandus aber heraus, einen ganzen Paragraphen des Lombardschen Grund-
Torrell 1993: 53 – 78). Für weitere Beispiele aus dem 13. Jahrhundert vgl. Courtenay (1987: 253 f.). 17 Am bekanntesten für dieses Vorgehen ist sicher Duns Scotus, von dem eine Pariser (als reportatio) und eine Oxforder Lesung (als ordinatio) erhalten sind. Gerade bei Mitgliedern der Bettelorden war es oft üblich, dass die Sentenzen zuerst in einem der Studia und danach in Paris gelesen wurden. Für weitere Beispiele vgl. Friedman (2002b: 68 – 81). 18 Zusammen mit einigen weiteren Abschnitten zur Beschneidung sind diese einleitenden Bemerkungen zur ersten distinctio des vierten Buches zusammengefasst worden (ed. Collegium S. Bonaventurae 1981: 231 – 239) – diese Unterteilungen in Distinktionen geht allerdings nicht auf Lombardus selber, sondern auf Alexander von Hales zurück, vgl. Friedman (2002a: 509). 19 Zitiert wird nachstehend aus dem Frühdruck von Jean Petit, Paris 1515 (hier: fol. 326rb D-E). Als Kontrolle dienen die Manuskripte Troyes, Bibliothºque municipale 722 und 933. Durandus ist der einzige der hier untersuchten dominikanischen Autoren, von dem eine divisio textus überliefert ist. Hoenen (2002: 496) dürfte dennoch zu weit gehen mit seiner Behauptung, es sei »customary in commentaries that consist of questions [that] there is no summary or paraphrasing nor any division (divisio textus) of Lombard« (kursiv im Original). Nicht nur vom vorliegenden Text, sondern auch von einer beträchtlichen Zahl der weiteren hier untersuchten Kommentare (und dann vor allem von den Kommentaren des 15. Jahrhunderts her) kann dies nicht bestätigt werden. Schon Trapp (1956: 232) und nun auch Courtenay (2007: 695) weisen zudem darauf hin, dass ein Fehlen der divisio textus in der publizierten Version eines Kommentars noch nicht belegt, dass eine solche im Rahmen der Sentenzenlesung nicht ausgeführt worden ist.
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textes zu übergehen20 ; und es verstärkt sich diese Fokussierung im eigentlichen Kommentarteil, der reichlich losgelöst von Lombards Ausführungen in Form von fünf Quästionen gehalten ist. Nun sind Quästionenkommentare schon gegen Ende des 13. Jahrhunderts die etablierte Form der Sentenzenauslegung21; Durandus’ Vorgehen allerdings zeugt insofern von einer Konzentration innerhalb der Gattung, als er vergleichsweise wenige Quästionen abhandelt und diese zudem mehr auf aktuelle Debatten als auf Lombards Text ausrichtet.22 In der vierten quaestio zur ersten Distinktion von Buch IV, welche die Frage nach der Wirkweise der Sakramente behandelt, wird denn auch ziemlich umständlich gefragt, utrum in sacramentis novae legis sit aliqua virtus inhaerens causativa gratiae, characteris seu23 ornatus, vel cuiuscumque dispositionis ad gratiam (»ob in den neutestamentlichen Sakramenten irgendeine Kraft stecke, welche die Gnade, eine Prägung, einen Schmuck oder sonst eine Veranlagung zur Gnade verursache«: fol. 289rb). Damit greift Durandus nicht nur eine Thematik auf, die in Lombards Text höchstens anklingt, sondern er benutzt auch ein Vokabular, das den Sentenzen selber fremd ist und erst in der Auslegungstradition seine technische Bedeutung erhalten hat: Noch im späten 12. Jahrhundert war – vorerst ausserhalb der Sentenzentradition – die Diskussion entbrannt, ob die Sakramente mitursächlich an der Gnadenvermittlung beteiligt seien, indem sie den Empfänger für die Gnade prädisponierten, oder ob allein Gott ex pacto bei jedem Vollzug die Gnade spende. Für letzteres sprach, dass kaum schlüssig zu erklären war, wie dem natürlichen Vollzug der Sakramentenspende eine übernatürliche virtus anhaften könne; fürs erste sprachen die dicta sanctorum, welche in der Kausalität der Sakramente die entscheidende Differenz zu anderen heiligen Zeichen sahen – und welche Lombard denn auch in seine Sentenzen aufgenommen hatte, womit die Thematik ab der Mitte des 13. Jahrhunderts Einzug in die Kommentartradition fand.24
20 Es handelt sich um den dritten und vierten Paragraphen in Kapitel 4 der ersten Distinktion, in welchem bereits Unterschiede zu den alttestamentlichen Zeremonien aufgezählt werden (ed. Collegium S. Bonaventurae 1981: 233 f.). Es wäre zu überlegen, inwiefern dahinter sogar eine argumentatorische Absicht steckt, weil der Abschnitt eher zur Stützung der von Durandus zurückgewiesenen Theorie sakramentaler Kausalität herangezogen werden kann, als zur Bekräftigung von Durandus’ Position. 21 Dies gilt auch für Kommentare an der Artes-Fakultät, vgl. Weijers (2003: 24). 22 Die fünf Quästionen, welche Durandus zum ersten Teil der ersten Distinktion stellt, entsprechen zwar exakt den fünf articuli der ersten quaestio in Thomas’ Sentenzenkommentar, dort jedoch ist jeder Artikel weiter unterteilt in eine Reihe von quaestiunculae, so dass Thomas insgesamt 19 Fragen an diesen ersten Teil stellt (ed. Moos 1947: 9 – 45). 23 seu fehlt im Druck von 1571, vgl. Troyes 766 (fol. 110rb) und Troyes 933 (fol. 4rb). 24 Rosier-Catach (2004) hat die Debatte bis und mit Scotus akribisch nachgezeichnet. Die wichtigsten franziskanischen Quellen für das 13. Jahrhundert wurden bereits von Lampen (1931), die wichtigsten dominikanischen von Simonin & Mersseman (1936) zusammenge-
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Bei Durandus nun prägt diese Debatte nicht nur die Problemstellung und deren Vokabular, sondern auch die innere Struktur der quaestio: Zwar folgt er noch dem klassischen Schema (Problemformulierung, Argumente für die eine Position, Argumente in contrarium, Antwort, und Widerlegung der Argumente, welche gegen die Antwort angeführt worden sind); die responsio allerdings ist aufgebaut als Darstellung der beiden grossen Positionen und ist, den aktuellen Diskussionsverlauf nachzeichnend, weiter unterteilt in unterschiedliche Abfolgen von rationes, evasiones, improbationes und solutiones, so dass mitunter recht unklar ist, worin jetzt eigentlich Durandus’ spezifischer Beitrag zu der Debatte besteht.25 Auch mit diesem positions-zentrierten Vorgehen steht Durandus aber für einen Trend in der Kommentartradition seiner Zeit, was sich fast noch deutlicher bei zwei seiner Ordensbrüder zeigt, die sich zugleich als seine heftigsten Gegner erweisen sollten: Hervaeus Natalis weiss nämlich von insgesamt drei Positionen, Petrus de Palude sogar von vier, womit die grundlegend binäre Struktur einer quaestio mit Argumenten quod sic/quod non und Argumenten in contrarium letztlich ausgehebelt ist.26 Den Unmut seiner Ordensbrüder hatte Durandus indes auf sich gezogen, weil er sich auch in der Frage nach der Wirkweise der Sakramente gegen Thomas von Aquin stellte, welcher mit seiner Theorie einer instrumentellen Wirksamkeit klar für die Position einer realen Mitursächlichkeit eingetreten war.27 Durandus hingegen verteidigte die Pakt-Theorie, woran im Hinblick auf die Transferthematik drei Dinge besonders hervorgehoben zu werden verdienen: Erstens stimmen, wie Ludwig Hödl gezeigt hat, substantielle Teile von Durandus’ Thomas-Kritik wörtlich mit einem anonymen dominikanischen Kommentar zu Buch IV aus Durandus’ unmittelbarem Umfeld überein.28 Wie in ihrer Zeit üb-
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stellt. Eine ordens-unabhängige Anthologie bis in die frühe Neuzeit hinein bietet Gierens (1935). Die responsio steigt direkt ein mit der Bemerkung hic est duplex modus dicendi (»hier gibt es zwei Arten von Antworten«: fol. 328vb K). Die Darstellung der ›physikalistischen‹ Position geht von §11 (fol. 289va) bis §18 (fol. 290rb). Ihre Ausrichtung an drei ›Behauptungen‹ orientiert sich an den drei rationes von Petrus de Palude (1493: fol. 2va – 5ra). Die Darstellung der Pakt-Theorie erfolgt in §19 (fol. 290rb) bis §26 (fol. 290va). Zum Wechsel von argumenten- zu positions-zentrierten Kommentaren vgl. Friedman (2002b: 87 und 93 f.), grundsätzlich zum Aufbau einer quaestio vgl. Weijers (1996: 62). Vgl. Hervaeus Natalis (1647: 304b A) und Petrus de Palude (1493: fol. 2ra). Die dritte Position ist jene Heinrichs von Ghent (1518: fol. 149v – 150r); Paludes vierte posset imaginari (»kann man sich vorstellen«: fol. 5rb), scheint also nie vertreten worden zu sein. Zu Thomas vgl. neben Rosier-Catach (2004: 135 – 139) nun auch Reynolds (2005). Durandus’ antithomistische Thesen beschrieben hat Hödl (1956). Zur Rolle von Hervaeus und Palude in der Auseinandersetzung mit Durandus vgl. Dunbabin (1991: 36 – 42). Allgemeiner zu Durandus’ Lehre der sakramentalen Wirkweise vgl. Nielson (1997: 234 f.). Vgl. Hödl (1956: 164 f.). Neben diesem Anonymus und Jakob von Metz (vgl. Koch 1929/30: 224) als ordens-internen Kritikern des Thomas rückt mit der Umdatierung des Sentenzenkommentars des Johannes von Sterngassen durch Senner (1995: 171; anders noch
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lich, kennzeichnet keiner der beiden, dass er den anderen übernimmt, so dass heute auch nicht mehr klar ist, welcher Text Vorlage und welcher Abschrift ist.29 Trotzdem wird damit deutlich, dass offensichtlich schon im frühen 14. Jahrhundert Sentenzenkommentare in direkter textueller Abhängigkeit von Vorgängerwerken stehen können, wobei es allerdings zu weit gehen würde, dies auch bereits als weitere Transferebene zu verstehen: Die Übernahmen bleiben ja anonym und sind daher auch kaum als Vermittlung der Vorgehensweise eines Vorläufers zu verstehen. Anonym bleiben ebenso zweitens, und auch dies ist zeitgemäss, die jeweiligen Vertreter der beiden Hauptpositionen, die bloss als quidam oder aliqui in Erscheinung treten. Auch hier dürfte daher kaum die Absicht leitend gewesen sein, Vorgängerpositionen zu vermitteln: Wie vor allem auch die diskursive Anlage der responsio unterstreicht, steht vielmehr die argumentative Absicherung der eigenen Position im Zentrum; das Interesse ist kein enzyklopädisches, sondern ein defensives. Bezeichnenderweise wird denn Durandus in seiner responsio nur dort etwas konkreter, wo er gegenüber seinen Ordensgenossen mit dem Rücken zur Wand steht: Bei der Präsentation von Thomas’ Position meint er nämlich mit polemischem Unterton, sie sei adinventus per quendam solemnem doctorem contra antiquam opinionem (»von einem gewissen ›feierlichen‹ Doktor gegen die alte Meinung erfunden worden«: §12, fol. 289va).30 Dieser Seitenhieb steht nun drittens exemplarisch für eine Strategie des Durandus, seine eigene Position als ältere, in der Tradition verwurzelte darzustellen. So fällt auf, dass in der Präsentation von Thomas’ Ansatz, welche im frühneuzeitlichen Druck fast vier Spalten umfasst, kein einziges Bibel- oder Kirchenväter-Zitat angeführt wird, was umso erstaunlicher ist, als es doch gerade die dicta sanctorum wären, welche für eine Mitursächlichkeit der Sakramente gesprochen hätten. Die von Durandus favorisierte Pakt-Theorie hingegen, welche noch einmal als antiqua eingeführt wird (§19, fol. 290rb)31, wird Friedman 2002b: 58 f. mit Anm. 42 f.) auch Sterngassen selbst in ein neues Licht, da er in der vorliegenden Frage offensichtlich deutlich nach 1309 (wenn auch nicht in Paris) gegen Thomas die Lösung Heinrichs von Ghent vertreten hat (1995: 316). 29 Hödl (1956: 141) hält den Anonymus noch klar für älter, was aber von Plotnik (1970: 53) mit guten Gründen in Frage gestellt worden ist. 30 doctor solemnis war eigentlich das Epithet für Heinrich von Ghent. Hier muss aber, wie aus den angeführten Argumenten deutlich wird, Thomas von Aquin gemeint sein, da Heinrich in der Frage nach der Wirkweise der Sakramente eine eigenständige Position vertreten hat (s. o. Anm. 26). 31 So gemäss Koch (1929/30: 224) auch schon Jakob von Metz, allerdings wohl erst in seiner zweiten Sentenzenlesung: In Ms. Troyes 992, fol. 123va (mit der ersten Lesung) findet sich jedenfalls keine entsprechende Bemerkung. Für die verschiedenen Fassungen von Jakobs Kommentar vgl. Köhler (1971: 63). Auch Petrus de Palude, der die Position eigentlich bekämpft, gesteht ihr zu, älter zu sein (1493: fol. 2a), was ein weiterer Beleg für seinen allzu umsichtigen Umgang mit Durandus sein könnte, vgl. Dunbabin (1991: 41).
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rege mit solchen Zitaten untermauert. Umgekehrt tauchen Aristoteles-Zitate, deren eines Durandus immerhin noch in contrarium angeführt hat, in der responsio nur in der Diskussion von Thomas’ Position sowie als ein Argument von den Gegnern der Pakt-Theorie auf.32 Als Ideal gilt offensichtlich die reine, alte, christliche Tradition33, wozu auch passt, dass Durandus schliesslich sogar mit Väterzitaten gegen den Basistext der Sentenzen argumentiert: Keiner der sanctorum habe nämlich in einer Definition der Sakramente behauptet, diese seien Ursache der Gnade, vielmehr handle es sich hierbei um eine Hinzufügung durch den Lombarden: addidit de suo illud34 quod sequitur, videlicet ›ut imaginem gerat et causa existat‹ (»von sich aus fügt er das an, was dann folgt, nämlich ›dass es sein Bild trägt und als Ursache existiert‹«: §25, fol. 290va).35 In erster Linie nutzt Durandus damit die Vorlage des Lombarden, um für die von ihm favorisierte Position in der Frage nach der Wirkweise der Sakramente einzustehen. Lombards Sentenzen bieten bloss den Ausgangspunkt; der Kommentar dient gewissermassen als Plattform für die Verteidigung der eigenen Lehrmeinung. Der ursprüngliche Vermittlungsgedanke einer Auslegung des Lombarden hingegen steht im Hintergrund. Ähnliches lässt sich denn auch für Durandus’ Ordensgenossen feststellen: Hervaeus Natalis ist so sehr in die Verteidigung seiner Ansicht über die Wirkweise der Sakramente vertieft, dass seine einleitenden Argumente quod non nur für diejenigen verständlich sind, die die Debatte bereits kennen.36 Wie er orientiert sich auch Petrus de Palude nicht mehr an der Struktur des Lombarden, sondern setzt die Frage nach der Wirkweise der Sakramente an den Beginn seines Kommentars zu Distinktion 1 von Buch IV, für 32 In contrarium (§10, fol. 289va) wird auf De anima III.5 verwiesen (430a 18 f., so schon Jakob von Metz, Troyes 992, fol. 123ra), im Rahmen der Diskussion um den Instrumenten-Begriff (§18, fol. 290ra) auf Phys VIII (266b27 – 267a22; vgl. Thomas von Aquin, ed. Mandonnet 1929: II.206). Als Argument gegen die Pakt-Theorie (§24 und §26, fol. 290va) wird schliesslich Met VI diskutiert (1027a27; vgl. Thomas von Aquin, ed. Moos 1947: 31). 33 Zu einem ähnlichen Schluss im Hinblick vor allem auf Themen aus Buch I der Sentenzen kommt Iribarren (2008: 48). 34 illud fehlt im Druck von 1571, vgl. Troyes 766 (fol. 111vb) und Troyes 933 (fol. 6ra). 35 Was aber nicht bedeute, dass Petrus Lombardus die Sakramente für eigentliche Ursachen der Gnade halte, denn nullus […] potest melius exponere magistrum quam ipse seipsum; ipse autem exponit seipsum in littera dicens quod homo non querit salutem sacramentis quasi ›ab eis, sed per illa a deo‹ (»niemand kann den Lombarden besser auslegen als er sich selbst; er legt sich aber im besprochenen Abschnitt selbst aus, wenn er sagt, dass der Mensch bei den Sakramenten das Heil nicht ›in ihnen, sondern durch sie in Gott sucht‹«: §25, fol. 290va; vgl. Petrus Lombardus, ed. Collegium S. Bonaventurae 1981: 235). 36 So beginnt insbesondere das fünfte Argument mit ex ea autem parte qua ponitur agens instrumentale (»aus jenem Teil aber, in welchem ein agens instrumentale angenommen wird«), obwohl bisher noch nirgends von einem agens instrumentale die Rede war (1647: 304a C). Ähnlich direkt ist der Einstieg in die Argumente sieben und acht. Im ganzen quod non-Teil spricht Hervaeus zudem sich selbst in der zweiten Person an, als ob er den Teil von einem direkten Opponenten gegen sich hätte verfassen lassen.
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deren Beantwortung beide zudem gleich viel Platz einberaumen wie für die übrigen Fragen der Distinktion zusammen.37 Neu hinzu kommt bei den beiden allerdings, dass sie ihre Position als gezielte Verteidigung ihres grossen Vorgängers Thomas von Aquin verstehen und damit nun doch auch jene dritte der eingangs beschriebenen Vermittlungsebenen aufnehmen, die auf eine bestimmte Lesart des Lombardus abzielt. So durchbricht Palude die sonst auch von ihm gepflegte Anonymität einzig, wo es um die Position der instrumentalen Mitursächlichkeit geht: Diese wird explizit eingeführt als opinio Thome (fol. 2vb).
1.2
Franziskanische Kommentare
Bei den franziskanischen Kommentaren des frühen 14. Jahrhunderts zeigt sich die Tendenz noch stärker ausgeprägt, losgelöst vom Lombardschen Grundtext eigene Theorien zu verteidigen. Anders als bei den Dominikanern gab es hier keinen verpflichtenden Ordenslehrer38, was nicht nur inhaltlich die Lösung der einzelnen Probleme offen liess, sondern überhaupt eine grössere Vielfalt im Umgang mit dem Sentenzenmaterial ermöglichte, weil auch das Spektrum an Fragen nicht schon feststand, welche zu den einzelnen Distinktionen zu stellen waren.39 Franciscus de Mayronis etwa liess eine Diskussion der sakramentalen Wirkweise im Rahmen der ersten Distinktion schlicht aus, obwohl diese in Kommentaren seiner Zeitgenossen zur zentralen Problematik am Beginn von Buch IV geworden war. Stattdessen legte er in der einleitenden distinctio den Fokus auf den Unterschied von alt- und neutestamentlichen Sakramenten und kam erst nach und nach in der Behandlung von Taufe und Eucharistie auch auf Elemente der Frage nach der Wirkweise der Sakramente zu sprechen.40 Sein 37 Auch von den restlichen Quästionen zu Buch vier wird keine mehr so ausführlich behandelt, vgl. Hödl (1956: 52 f. und 152). Zum Charakter des 4. Buches von Paludes Kommentar vgl. zudem Dunbabin (1991: 42 f.). 38 Und anders als auch etwa bei den Augustiner-Eremiten, für welche die Lehre des Aegidius Romanus verpflichtend war, vgl. Bautz (1990: 43). Immerhin war es den Franziskanern verboten, die Summa Theologiae des Thomas von Aquin zu lesen, ohne das Correctorium des Wilhelm de la Mare beizuziehen, vgl. Friedman (2002b: 117). Zur Schwierigkeit, von einer »Skotistenschule« zu sprechen, vgl. bereits Ehrle (1925: 251). 39 So hatte Durandus seinen Kommentar – auch wenn er oft gegen Thomas lief – doch am Aquinaten ausgerichtet: Seine Unterteilung der ersten Distinktion von Buch IV in zwei Teile sowie die jeweiligen Quästionen entsprechen genau den zwei Quästionen von Thomas mit ihren jeweiligen Artikeln, vgl. oben S. 38, Anm. 22. 40 So in allen vier Quästionen zu d.6, in d.7 q.4, sowie in d.9 q.1 – 2, vgl. McCord Adams (2007: 68 f.). Innerhalb der Franziskaner sollte dies Schule machen: Auch Wilhelm von Vorillon wird im 15. Jahrhundert im Rahmen von d.1 bloss eine zusammenfassende quaestio zu altund neutestamentlichen Sakramenten stellen (Wilhelm von Vorillon 1510: fol. 331rb –
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unmittelbarer Vorgänger als sententiarius, Franciscus de Marchia, griff die Thematik in seiner quaestio principalis zu Buch IV zwar auf, nutzte sie aber als Ausgangspunkt für eine physikalische Diskussion über die Art und Weise, wie eine Kraft als Bewegungsursache einem sich in Bewegung befindlichen Objekt anhaften könne.41 Diese Thematik war schon vor ihm in Sentenzenkommentaren angegangen worden, bisher allerdings im Rahmen der Schöpfungslehre von Buch II. Dass Franciscus de Marchia an dieser Stelle darauf zu sprechen kam, hatte nun aber mit dem Lombardschen Grundtext nichts mehr zu tun, sondern fand seinen Anlass vielmehr im thomistischen Lösungsansatz der übernatürlichen Kraft, welche in den Sakramenten stecke. Dennoch blieb auch dies nur der Anlass: Völlig losgelöst von der Sakramententhematik interessierte sich Marchia vor allem für in die Luft geworfene Steine und für die Himmelsbewegungen. Seine Theorie der virtus derelicta verteidigte er in erster Linie gegen den Ansatz des Aristoteles aus dem 8. Buch der Physik.42 Für die schlussendliche Zurückweisung einer sakramentalen Mitursächlichkeit und Marchias eigenes Einstehen für die Pakt-Theorie spielten diese Ausführungen denn auch alle keine Rolle, sondern es genügten eine Reihe traditioneller, im Kern scotistischer Argumente. Im Hinblick auf die Transferproblematik interessant ist, dass Marchia in der anschliessenden nächsten quaestio noch einmal auf die Frage nach der sakramentalen Kausalität eingeht – dies nun aber als Kommentarbeitrag zur zweiten Distinktion von Lombards Sentenzen.43 Wie sehr sich Marchia damit von der 333va). Zu Mayronis’ Leben und Werk vgl. Fiorentino (2006: 9 – 55; für seinen Einfluss auf Vorillon bes. 12), zur Verbreitung seines Sentenzenkommentars auch Schabel (2002a: 237). Ähnlich desinteressiert am Problem der sakramentalen Wirkweise geht der von internen Ordensrichtlinien ebenfalls unbelastete Karmelit Johannes Baconthorp in seiner ersten Sentenzenlesung vor (den quaestiones canonicae von ungefähr 1320; hier konsultiert im Druck von 1618: 280a – 287b). In seinen wesentlich späteren quaestiones speculativae hingegen ist die ganze Diskussion präsent (ed. Borchert 1974: 9 – 16). 41 Von den drei Artikeln ist nur der letzte der Sakramententhematik gewidmet, der umfangmässig nur einen Siebtel der quaestio ausmacht. Diese Angaben stützen sich auf die kritische Edition der Redaktion B durch Chris Schabel (2006). Zu den unterschiedlichen Versionen und den Handschriften vgl. Friedman & Schabel (2001: 57 f.). Weitere Versionen derselben ersten quaestio sind bereits früher ediert worden, vgl. neben Friedman & Schabel (2001: 98 f.) nun auch Schabel (2006: 56). 42 Dahinter steht Marchias Ansinnen, eine einheitliche Theorie der Bewegung zu entwickeln: dico quod eadem difficultas est de instrumento artificiali et de motu violento lapidis versus sursum (»ich sage, dass es beim künstlichen Instrument um dieselbe Schwierigkeit geht wie bei der heftigen Bewegung eines Steins nach oben«: ed. Schabel 2006: 62 l.50 f.). Zu den Himmelsbewegungen vgl. 74 l.384 – 78 l.477, zu Aristoteles vgl. Physik VIII 10, 266 b 27 – 267 a 20. 43 Gemäss der Transkription von Friedman & Schabel (2001: 99) lautet der Titel der quaestio: Circa distinctionem secundam quaero utrum sacramenta novae legis habeant causalitatem aliquam respectu gratiae conferendae (»Zur zweiten Distinktion frage ich, ob den neutestamentlichen Sakramenten im Hinblick auf die zu vermittelnde Gnade irgendeine Ursächlichkeit zukommt«).
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ursprünglichen Vorlage löst, zeigt sich zum einen in der erneut grosszügigen Umorganisation des Textes, zum anderen aber vor allem in der Tatsache, dass damit zu distinctio 1 überhaupt keine Frage gestellt wird, sondern dass diese Distinktion im Kommentar schlicht übergangen wird. Offensichtlich konnte Marchia die Sentenzen so weit entfernt vom ursprünglichen Vermittlungsgedanken kommentieren, dass er nur noch aufzunehmen brauchte, was ihm selber interessant schien. Dies bestätigt ein Blick auf den restlichen Kommentar zu Buch IV, wo oftmals mehrere Distinktionen in einer Quästion zusammenfassend behandelt oder aber komplett übersprungen werden.44 Wesentlich näher bei seiner Vorlage blieb dagegen einer der ausführlichsten franziskanischen Beiträge zur Kommentartradition des frühen 14. Jahrhunderts: Petrus Aureoli. Auch er stellte seinem Kommentar zu Buch IV eine quaestio principalis voran, die vollumfänglich auf die Frage nach der Wirkweise der Sakramente fokussierte. Darüber hinaus widmete er aber auch die erste von drei Quästionen zur distinctio 1 der Wirksamkeitsfrage.45 Die Ausführungen Aureolis sind allerdings so umfangreich – sieben Druckseiten für die quaestio prooemialis, zehn für quaestio 1 der ersten Distinktion – und zudem so vielschichtig in ihrem Entstehungsprozess und in ihrer Quellenverwertung, dass sie einer eigenständigen Untersuchung bedürften.46 Im Folgenden sollen daher erneut nur zwei für die Wissensvermittlung interessante Aspekte beleuchtet werden, zum einen zur Herkunft der Thematik der quaestio prooemialis, zum anderen zu Aureolis Vorgehen im dritten Artikel der hier interessierenden Quästion. Was die quaestio prooemialis betrifft, so scheint sie auf einen ersten Blick – ebenso wie die quaestio principalis von Marchia – aus dem Bereich der Schöpfungslehre zu kommen: Der Druck von 1605 nennt als Titel schlicht de creatione, die quaestio selbst lautet: Utrum Sacramentis vel Sacramentorum Ministris 44 Cf. die Quästionenliste in Friedman & Schabel (2001: 98 – 105). Es fehlen: dd. 1, 3, 44, 49 und 50. Zusammengefasst werden dd. 17 – 19, 22 – 24, 26 – 27, 28 – 30, 31 – 32, 35 – 36, 37 – 39, 40 – 42, sowie 46 – 47. Marchia ist allerdings nicht der erste, der sich erlaubt, mehrere Distinktionen zusammenfassend zu kommentieren, vgl. etwa Scotus’ Zusammenfassung der Distinktionen 14 und 15 von Buch I sowohl in den Reportata parisiensia (ed. Wadding 1639: XI.92b – 93a) als auch im Opus oxoniense (ebd. V.911 – 921). Petrus Aureoli seinerseits übergeht in seinem Kommentar zu Buch IV die 19. Distinktion, vgl. Nielsen (2002), 173. 45 Dies gilt ebenso für die Version, welche in der Handschrift Salamanca, Biblioteca Universitaria, M 2295 zu finden ist, wie für die »common version«, auf welche sich auch der Druck von Sarnano, Rom 1605 stützt; vgl. Nielsen (2002: 171 ff.). Die nachfolgenden Ausführungen stützen sich auf den Druck. Zu Leben und Werk von Aureoli vgl. Schabel (2000: 67 ff.). 46 Buch IV von Aureolis Sentenzenkommentar ist bisher allerdings noch kaum untersucht worden. An jüngeren Studien zu nennen sind Nielson 1997 und 2002 (mit einer Aufarbeitung des Entstehungsprozesses von Buch IV) sowie Bakker 1999, vgl. die Bibliographie von Friedman (2009). Mit der Komplexität der Quellenverwertung im Hinblick auf Buch I beschäftigt sich Schabel (2009), vgl. auch Duba (2001).
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communicari potest aliqua virtus creative respectu sacramentalis effectu (»ob den Sakramenten oder den Spendern der Sakramente im Hinblick auf den sakramentalen Effekt eine schöpferische Kraft übertragen werden könne«: fol. 2a). Es ist nun, wie Auriol schreibt, ad evidentiam Sacramentorum in generali, dass er die quaestio als Proömium des vierten Buches einsetzt, und tatsächlich verbirgt sich dahinter eine kleine Umorganisation von Lombard: Lombard nämlich hatte die Thematik sehr wohl schon angeschnitten (und im Gegensatz zu Marchias Wurfproblematik sogar innerhalb von Buch IV), dies aber im Rahmen eines sacramentum in speciali, nämlich in Distinktion 5 zur Frage nach der Macht des Taufenden.47 Allerdings blieb Lombardus in seinen Ausführungen eher unsicher und schien sogar zu einer Bejahung der Möglichkeit zu tendieren, dass Geschöpfen eine schöpferische Kraft zukommen könne, was nicht nur theologisch eine heikle Schräglage ins Verhältnis von Schöpfer und Geschöpf zu bringen drohte, sondern auch aus philosophischer Perspektive problematisch war : Zwar war es in der stärker neuplatonisch orientierten Tradition eines Avicenna oder eines Liber de causis denkbar, dass bestimmten emanierten Intelligenzien ein schöpferisches Potential zukam, aus einer aristotelisch geschulten Richtung allerdings blieb die creatio als voraussetzungsloser Akt (ex nihilo) selbst im Hinblick auf das höchste Wesen undenkbar.48 Entsprechend wurde die Problematik von Kommentatoren des 13. Jahrhunderts zwar im Rahmen dieser fünften Distinktion aufgegriffen49, wesentlich prominentere Beachtung fand sie aber insbesondere in den Quaestiones quodlibetales. Schon aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts sind mindestens vier solche Quästionen zur Frage nach dem Schöpfungsvermögen von Geschöpfen erhalten, aus den 15 Jahren vor Aureolis Sentenzenlesung sind es sogar deren fünf.50 Aureoli war nun nicht der erste, der diese Problematik in die Diskussion der 47 Petrus Lombardus (ed. Collegium S. Bonaventurae 1981: 266 – 268). Zur Herkunft der Problematik vgl. Landgraf (1954: 172 f.). 48 Vgl. McCord Adams (2006: 101 f.). Der Abschnitt von Lombardus wurde für so problematisch gehalten, dass er in die Liste der Artikel aufgenommen wurde, in welchen seiner Lehre gemeinhin nicht gefolgt wurde. Entsprechend führten frühneuzeitliche Drucke an dieser Stelle die Marginalie hic magister non tenetur (»dem Lombarden wird hier nicht gefolgt«), was selbst die Edition von 1916 noch als Fussnote anmerkte. 49 So etwa Thomas von Aquin (ed. Moos 1947: 204 – 211), Richardus de Mediavilla (1591) oder Aegidius Romanus (ed. Luna 2003: 453 f.). Obwohl es sich bei Aegidius um ein Fragment handelt, wird aus dem letzten Abschnitt (Zeile 44 f.) deutlich, dass er die Thematik im Rahmen der Tauf-Distinktion aufgegriffen hat. Im frühen 14. Jahrhundert hat auch etwa noch Johannes von Sterngassen die Frage im Rahmen der fünften distinctio aufgenommen (RAH Ms. 73: fol. 86vb – 87rb). 50 Die fünf unmittelbaren Vorläufer von Aureoli sind Hervaeus Natalis (nach 1304), Peter von England (1305), Jakob von Ascoli (1311 – 12), Robert Walsingham (1313 – 14) und Johannes von Neapel (1316 – 17), vgl. Cross (2007: 713). Zur Gattung der quaestiones quodlibetales vgl. Hamesse (2007).
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Sakramente in generali verlagerte.51 Indem er sie aber zum Thema der quaestio prooemialis erhob, gab er ihr doch einen Stellenwert, an dem sich mindestens drei Sachen verdeutlichen lassen: Erstens bestätigt sich, was schon für Durandus hat bemerkt werden können, dass nämlich Sentenzenkommentare mehr und mehr zur zentralen Plattform für die Verhandlung aktuell brennender Probleme werden – auf Kosten beispielsweise von quodlibetalen Quästionen.52 Zweitens zeigt sich, dass diese Probleme längst nicht mehr nur theologischer, sondern immer stärker auch philosophischer Natur sind – ein Bezug zur Taufthematik, in deren Rahmen Lombardus die Problematik aufgegriffen hatte, ist in Aureolis Proömium nicht mehr ersichtlich. Grundlegend für seine responsio wird stattdessen ein erster Artikel zur allgemeinen Frage, quomodo et quare creatio reputata est impossibilis apud philosophos (»wie und warum die Schöpfung von den Philosophen für unmöglich gehalten wird«: fol. 2bC – 5aB), an diesem orientieren sich die beiden weiteren, spezifischeren Artikel53, und von den hier entwickelten Grundlagen aus geht Aureoli am Ende des dritten Artikels noch kurz auf die Sakramentenproblematik ein (fol. 8aB – bE). Über den erneut sehr freien Umgang mit Lombards Grundtext hinaus wird damit drittens ein tiefer liegender Gestaltungswille deutlich: So, wie die einzelnen Artikel dieses Proömiums systematisch vom allgemeinen philosophischen Problem zur spezifischen Sakramentenproblematik führen, greift auch das Proömium als solches ein bei Lombard noch spezifisches Problem auf, dessen allgemeine Relevanz erkannt worden ist und das daher, um einen strukturierten Zugang zur gesamten Sakramententhematik zu ermöglichen, an den Anfang gezogen wird. Aureoli ist offensichtlich an einer systematisch aufbereiteten Vermittlung seiner Inhalte gelegen.54 51 So Scotus sowohl in seinen Reportata parisiensia (ed. Wadding 1639: XI.II.557a – 563b) als auch im Opus oxoniense (ebd. VIII.7 – 55) als quaestio 1 zur ersten Distinktion von Buch IV. Auch Durandus wich in der zweiten Fassung seines Sentenzenkommentars, um im Rahmen der ersten Distinktion der Konfrontation mit seinem Orden zu entgehen, auf die Frage aus utrum negandum sit aliquam virtutem creatam causativam gracie posse esse in sacramentis (»ob zu verneinen sei, dass irgendeine geschaffene Kraft in den Sakramenten sein könne, welche die Gnade verursache«), vgl. Hödl (1956: 169). 52 S. o. S. 37. Allgemeiner zur Tendenz der Verlagerung von quodlibetalen Quästionen zu ausführlicheren quaestiones principales in Sentenzenkommentaren vgl. Courtenay (2007: 698 f.). 53 Nach der grundsätzlichen Frage zur Möglichkeit einer Schöpfung nimmt Artikel zwei die Frage nach der Beschaffenheit eines allfälligen Schöpfers auf (Utrum creatio soli virtutis infinitae sit possibilis – »ob Schöpfung nur einer unendlichen Kraft möglich sei«: fol. 5aC – 7aF). Artikel drei schliesslich widmet sich dem Geschöpf (utrum potentia creandi possit communicari creatura – »ob die Fähigkeit zur Schöpfung einem Geschöpf übertragen werden könne«: fol. 7aF – 8aB). 54 Wie sehr Aureoli an anderer Stelle mit einer systematischen Durchdringung von Lombards Stoff gekämpft hat, zeigt Nielsen (2002: 213 f.). Vgl. zudem Schabel (2000: 76).
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Dies unterstreicht auch der Aufbau der ersten quaestio innerhalb des Kommentarteils von Buch IV, welche sich noch einmal mit der Wirkweise der Sakramente beschäftigt. Im Fokus steht hier die Frage nach ihrer Ursächlichkeit. Vorerst klärt Aureoli aber in zwei Artikeln Fragen zu einer allfälligen zusätzlichen Kraft in den Sakramenten, geht in einem dritten auf den Instrumentenbegriff ein, um erst im vierten dann auf unterschiedliche Möglichkeiten sakramentaler Ursächlichkeit einzugehen. Die drei ersten Artikel sind ihrerseits sehr übersichtlich in der Form einer quaestio gehalten, deren responsiones jeweils in eine Reihe von propositiones unterteilt sind. Nur der vierte, schlussfolgernde Artikel steigt ein mit einer declaratio, die anschliessend unter Rückgriff auf die vorhergehenden Artikel verteidigt wird.55 Auffällig ist nun, wie sehr Aureoli daran liegt, diese Struktur und auch die innere Organisation seiner Argumentation explizit zu machen. Dies sei kurz aufgezeigt am dritten Artikel zur Frage utrum Sacramenta Novae legis agant instrumentaliter ad gratiam (»ob die neutestamentlichen Sakramente instrumentell zur Gnade führen«: fol. 14aA – 17aE): Die grundlegende Struktur der quaestio markiert Aureoli mit den üblichen Schlüsselbegriffen (in oppositum, respondeo, ad argumentum in oppositum).56 In die responsio steigt er nun aber mit einer dispositionsartigen Erklärung ein, die erneut das Vorgehen von allgemeinen Abklärungen zur spezifischen Problematik unterstreicht: In quaestione ista pono tres propositiones per ordinem, et prima est de instrumentis artificialibus; secunda de instrumentis naturalibus; et tertia ad propositum (»in dieser Frage stelle ich drei Thesen der Reihe nach auf, und deren erste geht um künstliche Instrumente, die zweite um natürliche Instrumente und die dritte um die vorliegende Thematik«: fol. 14aC). Als wäre dies der Strukturanzeige nicht genug, beginnt die erste Proposition im direkten Anschluss daran mit den Worten quantum ad primum pono istam propositionem (»im Hinblick auf die erste stelle ich folgende These auf«), ein Vorgehen, das sich durch den ganzen Artikel durchzieht: Nach der inhaltlichen Ausführung dieser ersten propositio folgt schon der nächste strukturierende Einschub, in welchem Aureoli auch gleich reflektiert, warum er die Proposition überhaupt in diesem Rahmen anführt: Hanc propositionem pono propter duas opiniones, quae sunt circa istam materiam (»diese These stelle ich wegen der zwei Meinungen auf, welche es zu
55 Der Druck bietet allerdings eine verkürzte Version des Textes, vgl. Nielsen (1997: 237 mit Anm. 45). 56 Ein einsteigendes quod sic/quod non fehlt allerdings. Aureoli beginnt vielmehr direkt mit Argumenten für die Position, die er später zurückweist: Quoad tertiam quaestionem probo primo, quod Sacrament Novae legis agant instrumentaliter ad gratiam (»Was die dritte Frage betrifft, so beweise ich zuerst einmal, dass die neutestamentlichen Sakramente instrumentell zur Gnade führen«: fol. 14aA – B).
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dieser Materie gibt«).57 Diese zwei Meinungen werden beide – ohne namentliche Zuordnung! – referiert und mit Beispielen untermauert, bevor Aureoli sich selber endlich auch inhaltlich einbringt, was dafür umso prominenter geschieht mit den Worten Ego autem de istis opinionibus eligo, et adhaereo opinioni secundae (»ich aber, ich wähle aus diesen Meinungen und hänge mich der zweiten an«: fol. 14bC). Weil ihm diese zweite Meinung nun aber auch nicht vollumfänglich einleuchtet58, setzt er gleich nach und erklärt: Ego rectificando istud dico quod magis debet dici … (»ich aber, ich verbessere dies und sage, dass man vielmehr sagen muss …«: fol. 14bD), was er ebenfalls mit einem Beispiel unterstreicht, um schliesslich – die Struktur seiner Argumentation erneut explizierend – seine Position auch zu begründen: ex his ergo praemissis potest talis ratio formari ad istam primam propositionem probandam (»unter diesen Voraussetzungen kann man daher folgenden Grundsatz formulieren, um diese erste These zu beweisen«).59 Zwei Argumenten gegen diese Begründung geht er in einem weiteren mit respondeo eingeleiteten Abschnitt nach, dessen Voraussetzungen zudem in einem mit sciendum gekennzeichneten Exkurs geklärt werden (fol. 15aE), bis dass er schliesslich festhalten kann, was ex his apparet, nämlich dass seine Gegner60 für ihre Position non habent rationale motivum (»keinen rationalen Grund haben«: fol. 15bB – C). Ähnlich explizit durchstrukturiert ist auch die Behandlung der zweiten propositio61, bei der dritten, sehr kurzen ad propositum wird sogar noch einmal wiederholt, worin dieses propositum besteht (fol. 17aC). Das Ziel solcher expliziten Strukturangaben dürfte deutlich sein: Wie sich etwa bei Durandus ge57 Fol. 14aD. Die eine Meinung ist die klassische thomistische quod instrumenta artis sunt principia activa, et agunt per virtutem quandam immissam in eis (»dass Instrumente aktive Prinzipien sind und aufgrund einer Kraft handeln, welche in sie hineingebracht wird«); die andere die übliche scotistische quod scilicet in instrumentis artium nulla est talis virtus infusa et derivata ab agente (»dass nämlich in Instrumenten der Kunst keine solche Kraft eingefügt und vom Handelnden übertragen ist«). 58 Nach Aureoli sind es in der Aktion eines Werkzeugs nicht zwei Formen, die in ein und demselben Substrat aufeinanderprallen, sondern zwei Substrate, die im Hinblick auf ein und dieselbe Form aufeinanderprallen, vgl. Nielsen (1997: 237 mit Anm. 43). 59 Fol. 15aA – D. Der Beweis ist ein Analogieschluss: Wie in einer Formveränderung die neue Form die alte nicht active vertreibe, sondern nur formaliter propter incompossibilitatem, so verdränge in einer Ortsbewegung ein bewegter Körper einen anderen, im Weg stehenden auch nicht active, sondern propter incompossibilitiatem subiectivam. 60 Statt nolentes muss volentes gelesen werden: volentes ponere in Sacramentis virtutem instrumentaliter coagentem Deo (»die in den Sakramenten eine Kraft annehmen wollen, welche instrumentell mit Gott mithandelt«: fol. 15bB). 61 Erneut geht hier Aureoli aus von einer altercatio inter magnos tam antiquos Philosophos, quam modernos Doctores (»Streitigkeit unter den grossen alten Philosophen ebenso wie unter den modernen Doktoren«: fol. 15bD) und erklärt ebenso prominent: ego autem eligo opinionem Philosophi, et Commentatoris (»ich aber, ich wähle die Meinung von Aristoteles und Averroes«: fol. 15bE).
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zeigt hat, besteht ein Nachteil des problem-zentrierten Ansatzes darin, dass in der fortlaufenden Abhandlung von Argumenten und Gegenargumenten die eigentliche Meinung des Kommentators kaum mehr ersichtlich wird.62 Indem nun Aureoli die Argumente nicht mehr diskursiv danach ausrichtet, was aliquis gesagt und quidam erwidert hat, sondern einen logisch strukturierten Aufbau zugrunde legt und diese Struktur auch immer wieder explizit ausweist, erleichtert er es seinen Lesern enorm, sich innerhalb des Textes zurechtzufinden und eine Systematik hinter dem behandelten Problem zu sehen. Deutlich wird damit umgehend auch, dass es Aureoli sehr wohl um Vermittlung geht, um Vermittlung aber weniger von seiner Lesart des Grundtextes als vielmehr um die Vermittlung seiner Theologie. Die mit ego eingeleiteten Absätze sprechen hier Bände: Sie sind zwar auch bei Aureoli nicht die Norm, sie bilden aber dort, wo sie auftauchen, die formale Konsequenz dessen, was er letztlich vermittelt haben will.63 ***
Damit dürften einige Eigenheiten der Sentenzenkommentierung im Paris des frühen 14. Jahrhunderts deutlich geworden sein: Die Sentenzenkommentare werden mehr und mehr zum »major vehicle of scholastic expression«64 ; entsprechend frei wird bisweilen der Umgang mit der Vorlage. Im Zentrum steht dabei das Interesse, die jeweils eigene Position zu verteidigen; die Auslegung des Grundtexts und dessen ursprünglicher Vermittlungsgedanke, eine theologische Systematik anhand von Väterzitaten zu bieten, treten dagegen in den Hintergrund. In einem nächsten Schritt ist nun zu sehen, inwiefern sich diese Eigenheiten in Oxford weiterentwickelt haben.
2.
Oxforder Sentenzenkommentare 1320 – 1335
Den Fokus für das zweite Viertel des 14. Jahrhunderts von Paris auf Oxford zu verschieben, legt sich aus mehreren Gründen nahe: Kam der Universität Paris bis ins frühe 14. Jahrhundert hinein eine unbestrittene intellektuelle Führungsrolle zu, die auf andere Bildungszentren ausstrahlte, so gewann Oxford ab 1280 mehr und mehr an Gewicht und wurde schliesslich zu einer gleichbe62 S. o. S. 39, vgl. Friedman (2002b: 93 f.). 63 Bezeichnend ist in dieser Hinsicht etwa ein Abschnitt aus dem ersten Artikel der vorliegenden distinctio, wo Aureoli die Beobachtung des Durandus aufgreift, dass gar kein Väterzitat die thomistische Position explizit stütze (s. o. S. 41), dies aber mit den Worten verkauft: ego autem non vidi adhuc auctoritatem aliquam alicuius Sancti (»ich aber, ich habe bisher keine einzige Autorität irgend eines Heiligen gesehen«: fol. 9bD). 64 Friedman (2002b: 83). Vgl. Courtenay (1987: 253).
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rechtigten, wenn nicht gar zur besseren Alternative.65 Englische Studenten wurden nicht mehr nach Paris geschickt, sondern blieben auf der Insel, was den Wissenstransfer zwischen den beiden intellektuellen Zentren empfindlich schmälerte. Verstärkt durch die trennende Wirkung des sich anbahnenden hundertjährigen Krieges entwickelte sich in Oxford eine eigenständige Form nicht nur der Sentenzenkommentierung, sondern des wissenschaftlichen Stils ganz allgemein66, welche in Paris erst einmal unbeachtet blieb und erst zur Jahrhundertmitte mit umso grösserem Widerhall rezipiert werden sollte. Weil dieser neue Stil als wichtiger Impuls für die Entwicklung der Sentenzentradition gilt und damit auch für die vorliegende Thematik von Bedeutung ist, seien die relevanten Oxforder Charakteristika als nächstes kurz nachgezeichnet.
2.1
Strukturelle Merkmale
Eine Sentenzentradition gab es in Oxford schon seit der Mitte des 13. Jahrhunderts, als Richard Fishacre hier zum ersten Mal über Lombards Sentenzen las.67 Von da an gehörte deren Kommentierung auch in Oxford zum festen Bestandteil der theologischen Ausbildung, so dass in der zweiten Hälfte des 13. und im frühen 14. Jahrhundert bereits eine beachtliche Menge an Oxforder Kommentaren entstand. Wegen der Pariser Führungsrolle bis 1320 unterschieden sich diese Kommentare aber nicht gross von den kontinentalen Vorbildern; verschiedene Theologen – am bekanntesten unter ihnen Scotus – hatten an beiden Universitäten Lombards Sentenzen kommentiert. Gerade diese Verstrickung dürfte nun aber von Vornherein zwei Dinge deutlich machen: Erstens war damit die Kommentarsituation in Oxford um 1320 ähnlich vielfältig wie in Paris68 ; nur mit gebotener Vorsicht kann daher im Folgenden von der Oxforder Tradition gesprochen werden – mehr als Bezeichnung für eine gemeinsame institutionelle Verankerung als für eine inhaltlich oder strukturell geschlossene Einheit. Zweitens hat sich daher das, was hier als Oxforder Charakteristik herausgestrichen werden soll, nach 1320 überhaupt erst einmal entwickeln müssen, 65 So zumindest Courtenay (2008: 135), der die Bedeutung Oxfords allerdings eher überbewertet. Zum Aufstieg der Universität Oxford vgl. dens. (1992: 1) sowie Asztalos (1993: 376 f.). Zum Verhältnis von Paris und Oxford im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts vgl. Schabel (1998: 387 f.). 66 Vgl. Murdoch (1975: 280 f.) sowie Courtenay (1984: 108 – 115). 67 Vgl. Asztalos (1993: 373) sowie spezifischer zu Fishacres Kommentar Long (2002). Auch von Fishacre wurde die Frage nach der Wirkweise der Sakramente bereits ausführlich behandelt, vgl. Rosier (2004: passim). Sein Kommentar zur ersten distinctio von Buch IV ist ediert in Simonin & Meersseman (1936: 11 – 20). 68 Neben einigen Thomisten gab es mit John Reading um 1315 sogar einen eigentlichen Scotisten, vgl. Courtenay (1992: 9) und dens. (2008: 95 – 97).
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so dass etwa Ockham, der in den frühen 1320er Jahren in Oxford gelehrt hat, nur schwerlich bereits als Teil dieser Tradition verstanden werden kann.69 Was nun den ersten Punkt betrifft, so kann, um die Thematik der sakramentalen Wirksamkeit wieder aufzunehmen, gerade ausgehend von Ockham die Vielfalt der Oxforder Tradition unterstrichen werden. In der ersten quaestio zum vierten Buch der Sentenzen stellt Ockham die konventionelle Frage utrum sacramenta novae legis sint causae effectivae gratiae (»ob die neutestamentlichen Sakramente Wirkursache der Gnade seien«). Zentral ist für ihn die Auseinandersetzung mit Thomas’ Position. Ockhams eigene Lösung, die Sakramente seien bloss causae sine quibus non, hatte bereits auch Durandus vertreten.70 Einen völlig anderen Zugang zur Sakramententhematik wählt der Franziskaner Walter Chatton, einer der ersten Gegner Ockhams.71 Zwar interessiert auch er sich für die Art der Kausalität der Sakramente, aber er tut dies nicht im Rahmen einer eigenständigen quaestio, sondern streift die Problematik nur als Unterabschnitt seiner einleitenden quaestio von Buch IV zur übergeordneten Frage utrum sacramenta novae legis auferant peccatum originale (»ob die neutestamentlichen Sakramente die Erbsünde aufheben«). Im Vordergrund stehen bei Chatton entsprechend Probleme zum Sündenbegriff. Auf allfällige Probleme, die er sich mit seinem tendenziell thomistischen Lösungsvorschlag zur sakramentalen Wirkweise einhandeln könnte, geht er überhaupt nicht ein. Sein Gegner ist hier für einmal ohnehin nicht Ockham, sondern Petrus Aureoli.72 Ähnlich beiläufig kommt schliesslich der Dominikaner Robert Holkot auf die Frage nach der Wirkweise der Sakramente zu sprechen. Eine einleitende quaestio zu den Sakramenten in generali fehlt bei ihm komplett. Stattdessen beginnt er direkt mit einer Frage zur Taufe (utrum baptismus rite susceptus conferat gratiam baptizato – »ob die korrekt empfangene Taufe dem Getauften Gnade vermittelt«) und streift hier bloss als eines von zehn Argumenten quod non die Problematik, inwiefern Sakramente grundsätzlich Ursache der Gnade sein können. Umso unkonventioneller ist sein Lösungsansatz, der nämlich vorschlägt, die Sakramente könnten nur metaphorice loquendi etwas in der Seele verursachen.73 69 Mit Courtenay (1984: 107): »If we are to understand what was so attractive about English thought for the universities of continental Europe, we must turn our attention away from Ockham and examine more closely the period 1330 – 1340.« 70 Ockham (ed. Wood & Gl 1984: 3 – 19). Vgl. Durandus (ed. 1571: fol. 290rb 19). 71 Die Reportatio, nach der hier zitiert wird (eine Ordinatio gibt es nur zu den ersten 17 Distinktionen von Buch I), kann auf die Jahre 1321 – 23 datiert werden, vgl. Courtenay (1978: 70). Zu Chattons Sentenzenkommentar vgl. Schabel (2002b: 360 f.). Zu dessen Kritik an Ockham vgl. Courtenay (2008: 109 ff.). 72 Walter Chatton (ed. Wey & Etzkorn 2005: 245 – 252). Neben den von den Editoren angeführten Stellen aus Aureolis Kommentar vgl. vor allem ed. 1605: fol. 8BD – E. 73 Robert Holkot (1510: fol. n4va – o2rb). Vgl. vor allem fol. o1vb: Quando quaeritur an [sc. baptismus] efficit aliquid in anima vel nihil, potest dici quod proprie loquendo nihil efficit in
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Trotz dieser Vielfalt an Vorgehensweisen lassen sich schon nur bei diesen drei Kommentaren auf einer formalen Ebene gewisse Gemeinsamkeiten ausmachen. Was erstens bei Holkot ins Auge springt, nämlich sein freier Umgang mit Lombards Grundtext, dessen erste Distinktion zu Buch IVer komplett übergeht, lässt sich bei allen drei Autoren als übliche Praxis feststellen: Ockham stellt zu den ursprünglich 50 Distinktionen von Buch IV insgesamt 16 Quästionen, Chatton deren 11, Robert Holkot gerade noch 8.74 Ein Grossteil des von Lombard gesammelten Materials bleibt damit unbeachtet. Kommentiert wird nicht mehr nur innerhalb der einzelnen Distinktionen, was den jeweiligen Kommentator interessiert (wie das schon in Paris üblich gewesen ist), vielmehr werden auf Buchebene eigene Schwerpunkte gesetzt. Ihre Kulmination findet diese Tendenz in Kommentaren wie jenem von William Crathorn, der überhaupt nur zu Buch I von Lombards Sentenzen gelesen hat, oder jenem von Thomas Buckingham, der insgesamt nur sechs Quästionen formuliert.75 Im Vergleich mit Paris wird zudem eine zweite Oxforder Gemeinsamkeit deutlich: Während sich die Pariser Kommentatoren zwar auch schon von Lombards Struktur gelöst, aber immerhin jeweils noch eine lockere Verknüpfung ihrer Quästionen zu den einzelnen Distinktionen hergestellt haben, so fällt auch diese Verbindung bei den hier untersuchten Oxforder Quästionen weitgehend weg.76 Wie in einem Quodlibet werden die Fragen eine an die andere gereiht. Ein einleitendes circa distinctionem quaero bleibt aus. Entsprechend bestehen auch keine Expositionen oder Texteinteilungen, welche die einzelnen Fragen in einen grösseren Zusammenhang gestellt hätten. Und auch alternative systematisierende Bemerkungen, wie sie etwa bei Petrus Aureoli anzutreffen anima sed metaphorice (»Wenn gefragt wird, ob [die Taufe] etwas in der Seele bewirke oder nicht, kann man sagen, dass sie in der Seele nicht im eigentlichen Sinne etwas bewirkt, sondern metaphorisch«). Holkot las die Sentenzen wohl 1331 – 33 (so Gelber 2004: 94, anders noch Courtenay 1978: 98). Zu Holkots Verhältnis zu Ockham vgl. Courtenay (2008: 117 – 120). 74 Diese weitgehende Loslösung von Lombards Struktur scheint ein allgemeines Phänomen der Oxforder Kommentare zu sein, für Richard FitzRalph beispielsweise vgl. Dunne (2010: 422). Allgemeiner vgl. Courtenay (1992: 5) und Schabel (2002b: 362 f.). 75 Crathorn las die Sentenzen wohl nur während des akademischen Jahres 1330 – 31, vgl. Gelber (2004: 87 f.). Sein knapper Kommentar nur zu Buch I scheint zudem Holkot gestört zu haben, vgl. Courtenay (1978: 98). Von Buckinghams sechs Quästionen behandeln zwei zudem dieselbe Frage (Quästionen drei und fünf: utrum deus sit omnipotens – »ob Gott allmächtig sei«). Die Sentenzen las Buckingham 1335, sein Kommentar wurde 1505 in Paris gedruckt, vgl. Courtenay (1973: 150 f. und 1978: 121 – 123). 76 Dies gilt allerdings vorwiegend für Buch IV. Sowohl bei Chatton als auch bei Wodeham lassen sich im Kommentar zu den ersten drei Büchern explizite Bezüge zur Distinktionenstruktur ausmachen, wenn auch ein Grossteil der Distinktionen übergangen wird (vgl. Courtenay 1978: 178). Bei Holkot hingegen bleibt die Distinktionen-Struktur auch in diesen Büchern aus. Umso überraschender ist, dass sich zu Beginn seines Kommentars zu Buch II eine knappe expositio findet (1510: fol. [f5]ra).
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gewesen sind, fehlen. Damit wird aber nicht einfach nur ein weiteres Element der Lombardschen Vorlage ausgeblendet, sondern es entfällt mit dem Distinktionen-Bezug auch die Systematik, die mit deren Struktur verbunden gewesen wäre. Weil auch keine alternative Struktur explizit gemacht wird, scheint eine übergeordnete Systematik nicht im Interesse der Kommentatoren gelegen zu sein.77 Eine dritte Gemeinsamkeit zeigt sich schliesslich in der Quästionen-Struktur, wobei es sich allerdings erneut um eine Gemeinsamkeit ex negativo handelt: Gemein ist den erwähnten Kommentaren nämlich, dass sie die QuästionenStruktur nicht mehr konsequent durchziehen. Zwar bleibt es weiterhin üblich, zuerst einmal einige Argumente quod sic/quod non und ad oppositum aufzulisten und erstere am Ende der quaestio zu widerlegen. Die responsio allerdings wird noch einmal bedeutend freier gehandhabt, als sich dies schon in einigen Pariser Kommentaren hat feststellen lassen. Sie ist nicht mehr einfach auf die Beantwortung der quaestio ausgerichtet, sondern es können in ihr, mehr oder weniger beiläufig, eine Reihe weiterer, zum Teil unabhängiger Themen angeschnitten werden.78 Schon Ockham schiebt seiner responsio einen Abschnitt zur Definierbarkeit der Sakramente vor, was in Pariser Kommentaren meist als eigene Frage behandelt worden ist und was bei Ockham für die Lösung der eigentlichen quaestio nicht weiter relevant ist. Chatton unterteilt seine responsio in fünf Unterabschnitte zu einer je eigenen Thematik. Vor allem der letzte zum Unterschied zwischen alt- und neutestamentlichen Sakramenten ist mehr auf eines der Argumente quod non als auf die übergeordnete Fragestellung bezogen. Zudem lässt Chatton es aus, nach der Behandlung der Unterthemen noch eine Antwort zur eigentlichen quaestio zu liefern: An das letzte Unterthema schliesst er vielmehr direkt mit der Widerlegung der argumenta principalia an. Holkots quaestio schliesslich ist zweigeteilt: In einem ersten Teil werden über fast vier Spalten des frühneuzeitlichen Drucks hinweg die argumenta quod non ausgebreitet; für die Argumente ad oppositum hingegen braucht er knapp zwei Zeilen, um ihnen anzufügen, ad quaestionem dicendum est quod sic (»die quaestio ist mit ›ja‹ zu beantworten«: fol. [n5]rb). Was danach in einem zweiten Teil folgt, sind acht erläuternde Punkte nun allerdings nicht direkt zur Beantwortung der quaestio, sondern ad maiorem istius sacramenti noticiam. Von einer spezifischen Frage zum Taufeffekt wechselt damit der Fokus auf die Taufe 77 Das fehlende Interesse an übergeordneten Zusammenhängen wird auch als Grund dafür gesehen, dass es in Oxford kaum zu ›Schulbildungen‹ kam, vgl. Courtenay (1984: 111 und 1992: 9 f.). 78 Auch Marchia, der mit seinen Ausführungen zu Wurfbewegungen weit von der Sakramententhematik abzuweichen schien, sah dies als notwendigen argumentativen Schritt in der Beantwortung der übergeordneten Frage, vgl. seine Disposition (ed. Schabel 2006: 61.40 – 49).
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im Allgemeinen, woraus sich denn auch nur beiläufig die Beantwortung der einleitenden quaestio ergibt. Die Widerlegung der argumenta principalia schliesslich wird nicht als abschliessender Teil der Gesamtquästion, sondern als letzter Unterpunkt dieses zweiten Teils angeführt. Auf den logischen Duktus einer quaestio wird damit verzichtet zugunsten eines eher akkumulativen Vorgehens, wie dies auch eine Ebene höher beim Verzicht auf die DistinktionenStruktur hat festgestellt werden können. Bei Holkot gipfelt dies im siebten Unterpunkt des zweiten Teils in einer losen Sammlung von sechzehn Spezialfällen zur Taufe – von der Nottaufe auf einer Brücke über die Ko-Taufe durch einen stummen und einen armlosen Priester bis hin zum siamesischen Zwilling –, Fälle, die alle auch früher schon in Sentenzenkommentaren diskutiert worden sind, aber nicht in Form des vorliegenden Kuriositäten-Kabinetts, sondern verteilt auf unterschiedliche Fragen zur exemplarischen Untermauerung der jeweiligen Lösung.79 Insofern dürfte dieses akkumulative Vorgehen das Gegengewicht bilden zu der massiven Reduktion an Quästionen, die im Rahmen von Buch IV überhaupt noch gestellt werden, was schliesslich auch ein Kommentator belegt, welcher der Quästionen-Struktur verhältnismässig treu geblieben ist, der aber zugleich auch als einer der typischsten Vertreter des Oxforder Stils gilt: die Ordinatio nämlich des Adam Wodeham. Adam Wodehams späteste Sentenzenbearbeitung gilt als einer der letzten Oxforder Versuche, der Struktur des Lombarden gerecht zu werden.80 Seine Quästionen bleiben entsprechend auf die jeweiligen Leitfragen fokussiert. Dennoch lassen sich auch bei ihm zumindest in Buch IV die oben festgestellten Charakteristika nachweisen: Zu diesem Buch stellt Wodeham insgesamt nur 12 Quästionen.81 Explizite Bezüge zu den Distinktionen bleiben hier aus, und auch die einzelnen Quästionen sind von ihrer Struktur her weder mit einem argumenten- noch mit einem positions-zentrierten Vorgehen der Pariser Kommentare zu vergleichen. Wodehams Ansatz, der zusammen etwa auch mit jenem von Holkot als Essay-Stil bezeichnet worden ist82, lehnt sich nur noch in der äusseren Rahmung an die klassische quaestio an: Eingestiegen wird mit den Argumenten quod sic/quod non und ad oppositum, welche am Ende der quaestio 79 So vor allem im Bereich der Distinktionen fünf und sechs – die Ko-Taufe von einarmigem und stummem Priester diskutiert beispielsweise Scotus (ed. Wadding 1639: VIII.308). Zur Herkunft einiger dieser Fälle vgl. Colish (1994: 546 f.). 80 Vgl. Courtenay (1984: 112). Die Ordinatio dürfte 1332 – 34 entstanden sein. Zu den unterschiedlichen Kommentaren von Wodeham vgl. grundlegend Courtenay (1978) mit den Modifikationen von Wood (1990: 30* – 38*), in kurzer Form auch Schabel (2002b: 360 f.). 81 Dies gilt für sämtliche Versionen seines Kommentarwerks, vgl. die Quästionenlisten in den Appendices von Courtenay (1978). Die Ordinatio umfasst für Buch I 36 Quästionen, für Buch II 10 und für Buch III deren 12. 82 So Trapp (1956: 231), vgl. Courtenay (1978: 178). Zu argumenten- und positions-zentriertem Vorgehen s. o. S. 39, Anm. 25.
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widerlegt werden. Auch der Mittelteil, die eigentliche responsio, bleibt bei Wodeham klar strukturiert, meist in einen ersten Abschnitt mit einem Lösungsvorschlag zur quaestio, in einen zweiten Abschnitt mit dubia und einen dritten mit Lösungen dieser dubia. Diese Abschnitte allerdings sind so ausführlich gehalten, dass sie den Rahmen einer herkömmlichen quaestio bei weitem sprengen: Schon nur die Präsentation des Lösungsansatzes zur ersten quaestio von Buch IV nimmt im Ms. Sorbonne 19383 vier Spalten ein (fol. 207vb – 208vb). Danach folgen fünfzehn84 dubia und eine Reihe von Argumenten contra modum probandi conclusionem (»gegen die Art, wie die Schlussfolgerung bewiesen wird«: 208vb – 209ra), welche schliesslich über gut acht ManuskriptSpalten hinweg widerlegt werden (209ra – 211va). Auch in der zweiten quaestio, die sich ebenfalls noch mit der sakramentalen Wirksamkeit auseinandersetzt, wird die zugrunde gelegte Quästionen-Struktur gesprengt: Die responsio beginnt zwar wieder sehr strukturiert mit vier conclusiones, denen vier dubia gegenübergestellt werden; deren Begründung und Auflösung erfolgt dann allerdings in einer erneut eher kumulativen Weise über gut sechs Manuskript-Spalten hinweg (212vb – 214rb). Akkumuliert werden hier allerdings nicht mehr nur die Themen, die wie bei Holkot aus unterschiedlichen Distinktionen zusammengetragen sind85, sondern vor allem auch Zitate und Anlehnungen an Autoritäten, Vorläufer und Zeitgenossen. Wie kein anderer der bisher betrachteten Kommentatoren tritt Wodeham mit diesen Autoren ins Gespräch, zitiert sie, widerlegt sie oder nutzt sie zur Stützung seiner eigenen Argumentation. Was ihn dabei besonders auszeichnet, ist, dass er die bisherige meist anonyme Behandlung der Quellen verlässt, wie sie weitgehend etwa auch noch bei Ockham oder Chatton zu finden ist: Zwar kennt auch Wodeham den 83 Es gibt weder eine kritische noch eine frühneuzeitliche Edition von Wodehams Ordinatio. Ein frühneuzeitlicher Druck besteht von einer Abbreviatio, welche Heinrich Totting von Oyta um 1370 erstellt hat (1512 von John Mair in Paris bei Jean Petit herausgegeben, zur Entstehungszeit der Abbreviatio vgl. die Marginalie auf fol. 121vb). Diese Abbreviatio greift allerdings manchmal stark in die Struktur des Texts ein (vgl. nachstehende Anmerkung). Das hier benutzte Manuskript Sorbonne 193 beschreibt Courtenay (1978: 26 f.). 84 Tottings Abbreviatio erwähnt nur vierzehn und verdreht zudem deren Reihenfolge: ad secundum in Tottings Abbreviatio fol. 137rb entspricht ad primum in der Ordinatio (Sorbonne 193 fol. 209rb); Abbr. ad primum (137va) = Ord. ad quintum (209va); Abbr. ad tertium (137vb) = Ord. ad tertium (209va); Abbr. ad quartum (137vb) = Ord. ad septimum (210va); Abbr. ad quintum (138ra) = Ord. ad quartum (209va) mit zusätzlichem Material; Abbr. ad sextum (138ra) = Ord. ad sextum (210rb); Abbr. ad septimum bis ad quartumdecimum (138rb – 138va) = Ord. ad octavum bis ad decimum quintum (210v). Komplett übergangen wird in der Abbreviatio Argument zwei, Argument vier taucht zudem nur in der Widerlegung auf. 85 Artikel 1 bis 3 des zweiten Teils von Holkots quaestio beziehen sich auf distinctio 3, Artikel 4 auf distinctio 4 und Artikel 5 auf die Distinktionen 5 und 6: In der Anordnung der Artikel dringt damit Lombards Struktur noch durch.
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anonymen Verweis auf quendam magistrum oder doctorem, was er in der vorliegenden quaestio vor allem anwendet, wenn er einen Autor widerlegt.86 Wesentlich häufiger allerdings nennt er seine Gesprächspartner beim Namen. Was für die theologischen und philosophischen Autoritäten der Kommentarliteratur immer schon üblich gewesen ist, weitet Wodeham auf Autoren des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts sowie auf seine Zeitgenossen aus: Er zitiert sie explizit.87 Solch explizite Verweise dienen nun allerdings nicht dazu, einen allfälligen Leser ins Bild zu setzen über alternative oder stützende Positionen: Wodehams Vorgehen ist so weit von einem positions-zentrierten Ansatz entfernt, dass sich aus seinen Zitaten kaum ein schlüssiges Bild über die Meinung der zitierten Autoren ergibt. Vielmehr greift Wodeham einzelne Argumente heraus, um mit diesen ins Gespräch zu treten: Seinen Zeitgenossen Richard FitzRalph beispielsweise führt er in der vorliegenden quaestio sowohl zur Stützung des zweiten dubium88 als auch zur Lösung der dubia an, wo er nicht ohne spöttischen Unterton meint ad praesens89 autem volo solum recitare FitzRalph90 quem mecum in hoc gaudeo concordare (»momentan allerdings will ich nur FitzRalph zitieren, von dem es mich freut, dass er mit mir hierin übereinstimmt«: fol. 212rb). Mit dieser freien Verwendung der Zitate geht einher, dass sich Wodeham keiner seiner Quellen verpflichtet fühlt: Selbst Ockham, als dessen treuster Schüler er gelten kann, rezipiert er immer mit kritischem Blick. In der ersten der vorliegenden Quästionen etwa verweist er auf Ockhams Verständnis des Begriffs creare, um dem anzufügen dico ergo ego licet Hokam aliter diceret quod illud solum dicitur creare… (»ich aber, ich sage daher, auch wenn Ockham anders spricht, dass nur dies ›erschaffen‹ genannt wird…«: fol. 209vb).91 Wäh86 So im Rahmen der zweiten conclusio, fol. 211vb, oder des ersten dubium, fol. 212rb. Beide Male dürfte es sich um Chatton handeln, vgl. Chatton (2004: 46) und (2002: 168). 87 Vgl. Courtenay (1978: 39). 88 Fol. 212va. Das Zitat belegt, dass FitzRalph selber nicht weniger zitierfreudig gewesen zu sein scheint: Huic concordat FitzRalph qui recitat circa istam difficultatem opinionem Gandavi, Thomae, Scoti (»Hiermit stimmt FitzRalph überein, der zu dieser Schwierigkeit Heinrich von Ghent, Thomas von Aquin und Duns Scotus zitiert«). 89 In der Abbreviatio steht hier pro responsione (ed. 1512: fol. 139vb), ein weiterer Beleg für das massive strukturelle Eingreifen Tottings (s. o. Anm. 84). 90 In der Abbreviatio steht, wie bereits auch im Rahmen des zweiten dubium (ed. 1512: fol. 139va), syrensis, was aber eine falsche Aufschlüsselung des zweideutig lesbaren Kürzels fir sein dürfte (zum Kürzel vgl. die zitierten Ausschnitte in den Anmerkungen von Courtenay 1978: 77 f.). 91 Im Hintergrund stehen die Ausführungen in der sechsten quaestio zu Buch II von Ockhams Sentenzenkommentar (ed. Gl 1981: 88 – 98), auf die Ockham selber in der neunten quaestio zu Buch IV zurückkommt (ed. Wood & Gl 1984: 178). Ein weiteres Mal aufgenommen hat Ockham die Problematik in der neunten quaestio seines zweiten Quodlibets (ed. Wey 1980: 150 – 156), vgl. hierzu Maurer (2000: 311 f.) und McCord Adams (2006: 121 ff.). Zu Wodehams Verhältnis zu Ockham vgl. Courtenay (2008: 120 – 124).
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rend nun Wodehams explizite Zitierwese im Rahmen der hier untersuchten Texte noch eher die Ausnahme zu sein scheint92, dürfte der ungezwungene Umgang mit den Quellen ein weiteres allgemeines Charakteristikum der Oxforder Tradition sein. Zwischen 1320 und 1340 lassen sich auch bei den hier nicht untersuchten Oxforder Autoren keine schulmässigen Gruppierungen ausmachen93, was unter den vorliegenden Kommentatoren auch der Dominikaner Holkot unterstreicht, der sich mit seiner Lehre einer höchstens metaphorischen Ursächlichkeit der Sakramente ja gegen seinen Ordenslehrer Thomas stellt, selbst wenn er dies nicht durch Zitate explizit macht.94 Bei Wodeham schliesslich kann diese Unabhängigkeit so weit gehen, dass er sich, wenn er im Rahmen der Diskussion um die schöpferische Kraft von Geschöpfen auf die Frage nach dem Entstehen der intellektiven Seele kommt, explizit gegen die 1277 verurteilten Oxforder Artikel stellt: ad articulos Kilewardi 95 respondi … quod non est de illis curandum quia Augustinus est in contrarium et hoc condempnat in ecclesiasticis dogmatibus96 et pauci curant de his articulis (»zu den Artikeln des Kilwardby antworte ich, dass man sich um sie nicht zu kümmern braucht, da Augustin dagegen steht und dies in De ecclesiasticis dogmatibus verurteilt; ohnehin kümmern sich bloss wenige um diese Artikel«: fol. 213ra). Im Hinblick auf die Transferthematik scheinen sich damit in Oxford eine Reihe von Tendenzen verstärkt zu haben, die schon in Paris festzustellen gewesen sind. Der Umgang mit der Vorlage wird sowohl in struktureller, als auch in inhaltlicher Hinsicht freier. Stärker noch als in Paris scheint die eigentliche Auslegung und Vermittlung des lombardschen Grundtexts in Oxford kaum mehr eine Rolle zu spielen. Interessant ist allerdings, dass an die Stelle des lombardschen Rahmens keine alternativen Leitstrukturen gesetzt werden – sei 92 In der hier interessierenden quaestio zitiert Holkot kaum zeitgenössische Autoren, auf fol. o1ra erfolgt zumindest ein explizites Zitat von Thomas (zur Zitierweise Holkots vgl. beispielsweise Hoffmann 1972: 165 f.). Auch Chatton führt etwa die erwähnte Meinung von Petrus Aureoli nur anonym an, zitiert aber an anderen Stellen seine Gesprächspartner auch explizit, vgl. Schabel (2002b: 363). 93 So vor allem die Beobachtung von Courtenay (1984: 111 und 1992: 9). Für allgemeinere Beobachtungen zum Rückgang von Schultraditionen im 14. Jahrhundert vgl. dens. (1987: 171 – 192). 94 Auch andere Oxforder Dominikaner dieser Zeit bleiben in der Frage nach der sakramentalen Wirksamkeit gegen Thomas gewandt: Hugh of Lawton etwa steht für die Pakt-Theorie ein, vgl. Gelber (2004: 192 f.). Hierzu ist allerdings zu erwähnen, dass unter Oxforder Dominikanern ein Einstehen für die Pakt-Theorie noch auf die Zeit vor Thomas zurückgeht, vgl. zum Beispiel Robert Kilwardby (1936: 28). S. dazu Leibold (2010: 223 f.) und Rosier (2004: passim). 95 In Tottings Abbreviato heissen sie articulos ribeluardi. Die verurteilten Artikel sind ediert in Denifle (1889: 558 – 560), vgl. Asztalos (1993: 374). 96 Das Werk ist pseudo-augustinisch und inzwischen Gennadius von Marseille zugeordnet (zu Wodehams Verweis vgl. ed. Migne 1847: 984).
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dies in Form eines anderen Leittextes, wie dies mit Thomas’ Kommentar bei Hervaeus oder Petrus de Palude zu beobachten gewesen ist, oder sei es in Form einer explizierten Systematik wie bei Petrus Aureoli. Sowohl die Struktur der Argumentation als auch der Umgang mit den Quellen zeugen von einem eher kumulativen Vorgehen, das die einzelne Frage, das einzelne Argument in den Vordergrund stellt. Ein übergeordneter Vermittlungsgedanke scheint daraus weniger ersichtlich zu werden als vielmehr eine grundsätzliche Problemorientierung. Es scheint weniger um die Weitergabe von Inhalten, als vielmehr um die Präsentation von Lösungen zu gehen. Bot die quaestio in Paris eine geeignete Form, die von Lombard angesprochenen Themen strukturiert aufzubereiten, so dient sie in Oxford als loser Rahmen für die argumentative Durchdringung ausgewählter Probleme.
2.2
Der Einfluss von Logik und Physik
Mit dieser Konzentration auf einzelne Fragen und Argumente hängt nun seinerseits schliesslich ein letztes Oxforder Charakteristikum zusammen, das zugleich das wohl bekannteste sein dürfte: Es ist dies das Aufkommen eines neuen, an logischen und physikalischen Methoden orientierten Stils.97 Wenn Holkot im Hinblick auf die sakramentale Wirksamkeit die Position einnimmt, die Sakramente seien nur metaphorice loquendi Ursache der Gnade, so greift er damit auf ein logisches Instrumentarium zurück, das sehr wohl auch früher schon bekannt gewesen ist, das von ihm und seinem Umfeld aber in ganz neuem Ausmass auch zur Lösung von theologischen Themen eingesetzt wird und im vorliegenden Fall zu einer entsprechend unkonventionellen Lösung führen kann.98 Der Einfluss solch logischer Methoden wird auch in der Präsentation dieser Lösung deutlich: Sie folgt einem dialogischen Schema, dessen Inspiration sich durch den Stil von Argumentations-Übungen, sogenannter obligationes, unschwer erkennen lässt: Zweimal wird gegen die vorgetragene Position eine mögliche Gegenfrage angeführt, zu welcher jeweils erneut eine Antwortmöglichkeit aufgezeigt wird.99 97 Vgl. grundlegend Murdoch (1975). Die historische Entwicklung des Phänomens unterstreicht Courtenay (1984: 112 f., 1992: 7 und 2008: 138 f.). 98 S. o. S. 51. Für weitere Formen dieses logischen Instrumentariums vgl. Courtenay (2008: 139): »Propositions were analyzed and their true and false senses distinguished through recourse to supposition theory, the operation of syncategoremata, composite and divided senses, literal and metaphoric meaning, and the other tools of terminist logic« (kursiv im Original). 99 ed. 1510: fol. o1vb. Noch deutlicher ist dieser Obligationen-Stil innerhalb der vorliegenden quaestio in der Diskussion des ersten Arguments (fol. [n8]vb – o1ra), wo als weitere Ebene zugestandene Gegenargumente mit aufgenommen werden (unde potest concedi / potest dici concedendo / forte aliter potest dici … concedendo conclusionem). Zu Holkots Verständnis
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Über solche methodischen Übernahmen hinaus zeigt sich vor allem der Einfluss der Physik in der vermehrten Verwendung und Analyse von Begriffen und Themen, die ihren Ursprung in naturphilosophischen Problemen etwa der Grössenveränderung oder der zeitlichen Ausdehnung haben.100 Schon bei Holkot wird die Frage nach der augmentatio der Gnade gestreift (fol. o1vb). Bei Wodeham prägen die Begriffe minus und maius, quantitas und vor allem infinitum die ganzen zwei ersten Quästionen zur sakramentalen Wirksamkeit. Zudem greift er auf eine aus Physikkommentaren übliche Methode zurück, einzelne Instanzen des untersuchten Gegenstandes mit den Variablen a, b und c zu bezeichnen.101 Offenkundig wird dieser naturphilosophische Einschlag schliesslich bei den benutzten Beispielen: Wodeham etwa widerlegt unter anderem am Beispiel eines Magneten, dass ein Geschöpf ein anderes unendlich übertreffen könne, was vorausgesetzt werden müsste, damit einem Geschöpf eine schöpferische Kraft zukommen könnte: tunc etiam posset dari aliqua virtus attractiva ferri aliam excedens infinite et tunc talis attraheret ferrum in instanti quia in infinitum velocius quam alia quam excedit (»so kann auch eine magnetische Kraft angenommen werden, welche eine andere unendlich übersteigt, und dann würde eine solche das Eisen in einem [einzigen] Augenblick anziehen, weil es unendlich viel schneller wäre als die andere, welche sie übersteigt«).102 Festzuhalten ist, dass diese logischen und physikalischen Methoden zumindest in den vorliegenden Quästionen nicht benutzt werden, um auch logische der obligatio vgl. ebd. fol. [i6]vb und Hoffmann (1972: 351), zur weiteren Verbreitung des Stils vgl. Gelber (2004: 139 – 190). 100 Vgl. die Aufzählung bei Courtenay (1984: 113): »Biblical citations still abound, but just as important are the logical analysis of terms of knowing, believing, loving and willing (cognitio, delectatio, dilectio, odium, tristitia, volitio, nolitio), issues of instantaneous or successive action (incipit et desinit, simul et subito, de primo et ultimo instanti), intention and remission of forms (intensio, remissio, augmentatio, diminutio), and problems of space, time, motion, infinity, proportion, velocity, and measurement« (kursiv im Original). 101 Vgl. etwa den Einstieg in die zweite quaestio fol. 211va: Et videtur primo quod hoc [sc. creare] non repugnet creaturae quia sol potest creare lumen in medio, ergo etc. Antecedens potest sic probari: ponatur quod deus suppleat actionem solis in una parte medii puta a, ita quod non agat nisi supplendo vicem solis, et creet deus […] aliud lumen in alia parte medii, et sit b, et causet sol in tertia lumen et sit c (»Und es scheint zuerst einmal, dass es einem Geschöpf nicht widerspricht, etwas zu erschaffen. Denn die Sonne kann Licht im Medium erschaffen, also etc. Der antecedens lässt sich folgendermassen beweisen: Angenommen dass Gott die Wirkung der Sonne in einem Teil a des Mediums so ergänzt, dass er nicht wirkt, ausser wenn die Aufgabe der Sonne ergänzt wird, und dass Gott ein anderes Licht in einem anderen Teil b des Mediums erschafft und dass die Sonne in einem dritten Teil c des Mediums erschafft…«). Solche Variablen finden sich früher schon in Physik-Kommentaren, vgl. etwa Franciscus de Marchia (ed. Mariani 1998: 364 f.) oder Ockham (ed. Wood u. a. 1985: 463 f.). 102 Hier zitiert nach der etwas verständlicheren Version der Abbreviatio (ed. 1512: 139ra), vgl. fol. 212ra des Manuskripts. Zum Magneten als Beispiel innerhalb der Schöpfungs-Diskussion vgl. bereits Chatton (ed. Etzkorn 2004: 199 f.).
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oder physikalische Probleme zu lösen: Während etwa Franciscus de Marchia in seiner quaestio zur Wirksamkeit der Sakramente zwischenzeitlich in eine rein physikalische Diskussion abschweift, übertragen die Oxforder Autoren in den vorliegenden Texten nur eine Methode, bleiben inhaltlich aber bei ihrem theologischen Thema.103 Es sind weniger bestimmte Inhalte, als vielmehr eine bestimmte Zugehens- und Argumentationsweise, welche dieses letzte Charakteristikum der Oxforder Tradition ausmachen. Und es ist vorrangig dieses Charakteristikum, das im Paris der 1340er Jahre für Furore sorgen sollte.
3.
Die Pariser Rezeption des Oxforder Stils
Zwischen 1339 und 1347 wurden an der Pariser Universität – zuerst an der Artistenfakultät, später auch bei den Theologen – eine Reihe von Verboten und Verurteilungen ausgesprochen, die gegen einen allzu freien Gebrauch gewisser logischer Techniken gerichtet waren.104 So umstritten in der aktuellen Forschung die genaue Einordnung dieser Verlautbarungen weiterhin ist, so werden sie doch einhellig als Reaktion auf spezifisch englische Einflüsse verstanden.105 Nach Jahren der gegenseitigen Ignoranz scheint man in Paris auf die Oxforder Entwicklungen aufmerksam geworden zu sein und sich den neuen Stil – in bisweilen umstrittener Weise – zu Nutzen gemacht zu haben. Kronzeuge unter den Theologen ist hierfür Gregor von Rimini, dessen Sentenzenkommentar von 1342/43 nicht nur vom neuen englischen Stil, sondern von einer umfassenden Rezeption englischer Autoren zeugt.106 Vor dem Hintergrund der eben ausgearbeiteten transferspezifischen Charakteristika der Oxforder Tradition scheint zuerst einmal aber nicht nachvollziehbar zu sein, warum die Rezeption dieser Tradition zu solchen Verlautbarungen geführt haben sollte. Wie sich gezeigt hat, entwickelt sich in Oxford ja 103 Dies lässt sich allerdings nicht verallgemeinern: Quästionen 11 bis 18 von Crathorns Sentenzenkommentar beispielsweise bilden gleichsam einen eigenen Traktat zu Aristoteles’ Kategorien, cf. Gelber (2004: 88). Vor allem im Rahmen von Buch II werden zudem gerne physikalische Theorien diskutiert: So fragt etwa Chatton im Rahmen der vierten distinctio die Frage utrum species rei visibilis multiplicetur per medium corporale (»ob die species einer sichtbaren Sache durch ein körperliches Medium vervielfältigt werden«: ed. Etzkorn 2004: 195 – 210). Zu Marchia s. o. S. 43. 104 Die zwei Statuten der Artisten-Fakultät von 1339 und 1340 sind bei Denifle (1891: 485 f. und 505 f.) ediert. Eine englische Übersetzung (mit Zitat der Denifle-Edition) findet sich bei Courtenay (2008: 159 f. und 167 f.). Zu Nicolas d’Autrecourt vgl. ebenfalls Denifle (1891: 505), zu Mirecourt s.u. Anm. 129. 105 Vgl. Kapitel 8 bis 11 in Courtenay (2008). 106 Zu Riminis Rezeption von Wodeham vgl. Courtenay (1978: 123 – 130) und knapper (2008: 351 f.). Zu seiner Rezeption von Ockham und allgemeiner des englischen Stils vgl. Courtenay (1984: 126 – 133).
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nichts grundsätzlich Neues, von der Pariser Tradition Verschiedenes, sondern es lassen sich – zumindest in Ansätzen – dieselben Tendenzen, welche für Oxford typisch geworden sind, auch schon in Pariser Kommentaren beobachten. Dies gilt nicht nur für die strukturellen Eigenheiten und die immer deutlichere Ablösung vom Lombardschen Grundtext, sondern auch für den Einbezug von logischen und physikalischen Methoden und Fragestellungen: Auch bei Aureoli beispielsweise werden innerhalb der Sakramentendiskussion Probleme des Infiniten erörtert. Auch er zieht – wenn auch noch ablehnend – die Möglichkeit einer bloss metaphorisch verstandenen Kausalität der Sakramente in Betracht. Und die Verwendung von Variablen zur Unterscheidung einzelner Instanzen eines untersuchten Gegenstandes findet sich – wenn auch in wesentlich geringerem Ausmass – schon etwa im Sentenzenkommentar des Thomas von Aquin.107 In Oxford wurde nichts grundsätzlich Anderes gemacht als in Paris, sondern es wurden bloss andere Gewichtungen vorgenommen und bestimmte Methoden in einem anderen Ausmass eingesetzt. Insofern dürfte der vorliegende, transferspezifische Befund ein weiterer Beleg dafür sein, dass es bei den Pariser Verlautbarungen nicht einfach um die grundsätzliche Verhinderung englischer Lehren und Techniken ging, sondern höchstens um das Ausmass, in welchem diese Techniken eingesetzt wurden. Das unterstreicht nicht zuletzt auch die Person des Gregor von Rimini, der als wichtigster Vermittler der englischen Tradition unter den Pariser Theologen der 1340er Jahre gilt, der aber nicht etwa verurteilt worden ist, sondern vielmehr selber auf Klägerseite an einem der Verfahren gegen Johannes von Mercuria beteiligt gewesen sein dürfte.108 Dass der Einsatz dieser Techniken dennoch schon von den Zeitgenossen als spezifisch englisch empfunden worden ist109, ist aus der vorliegenden transferspezifischen Perspektive daher nicht auf etwelche Oxforder Neuerungen zurückzuführen. Verständlich wird diese Zuordnung eher, wenn sie vor dem Hintergrund der beiden einzigen Kommentare gesehen 107 Zu Aureoli vgl. etwa den zweiten Artikel der quaestio prooemialis (fol. 5aC – 7aF [infinitum]) oder fol. 8bD – E zu einer bloss metaphorisch verstandenen Kausalität. Physikalisch geprägt ist bei ihm etwa auch die Auseinandersetzung mit Avicenna in fol. 7bB. Zu Thomas’ Gebrauch von Variablen vgl. Thomas von Aquin (ed. Mandonnet 1929: I.858 f. und I.882 – 888). Zudem sieht Iribarren (2008: 48) schon in Durandus’ Konflikt mit Thomas’ Erbe Anzeichen für ein »glissement d’une th¤ologie naturelle […] une th¤ologie de l’analyse logique«. Für weitere Beispiele vgl. Schabel (1998). 108 So zumindest die These von Trapp (1956: 188 und 1957: 147 – 154), welche nun auch Bakker & Schabel (2002: 434) übernommen haben. Zurückhaltender ist Courtenay (1973: 157 und 163 f.), der immerhin die Möglichkeit in Betracht zieht, »that Gregory entered the affaire Mirecourt only at the final stage« (157, kursiv im Original). Gemäss Zumkeller (1990: 10) war Gregor spätestens im Oktober 1347 nicht mehr in Paris. 109 Vgl. vor allem die berühmte Klage des Richard de Bury über die subtilitates anglicanae, zitiert bei Murdoch (1978: 51). Zur Erwähnung Ockhams in den genannten Artes-Statuten vgl. v. a. das elfte Kapitel in Courtenay (2008).
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wird, welche mit Sicherheit in den 1330er Jahren in Paris gelesen worden sind: jenes des Thomas von Strassburg und jenes des Petrus von Aquila.110
3.1
Thomas von Strassburg und Petrus von Aquila
Nicht von ungefähr gelten die Kommentare des Augustiner-Eremiten Thomas von Strassburg und des Franziskaners Petrus von Aquila als konservativ. Was Buch IV betrifft, zeugen sie von einer Nähe zum Lombardschen Grundtext, die mindestens mit den Pariser Kommentaren des frühen 14. Jahrhunderts vergleichbar ist. Beide kommentieren praktisch den ganzen Text, richten ihre Quästionen an den einzelnen Distinktionen aus und bieten zu Beginn einer jeden Distinktion (Thomas zum Teil sogar zwischen einzelnen Quästionen) eine kurze divisio textus.111 In ihrer Behandlung der Wirkweise der Sakramente zeigt sich zudem auch inhaltlich, wie traditionell die beiden Kommentare ausgerichtet sind: Beide greifen sie im Rahmen der ersten Distinktion von Buch IVeine Reihe bekannter Fragen in generali zu Definition und Wirkweise der Sakramente sowie zur Beschneidung auf. Thomas von Strassburg entfernt sich nur bei einem wohl bekannten Thema von Lombards Struktur, indem er in die erste Distinktion mit einer Frage nach den schöpferischen Möglichkeiten eines Geschöpfs einsteigt, was er – als kleine Eigenheit – im Rahmen der zweiten distinctio und zur Auszeichnung der neutestamentlichen Sakramente noch einmal aufgreift.112 Die Konzentration auf den Lombarden zeigt sich auch in der Gestaltung der einzelnen Quästionen: Bei Petrus de Aquila sind sie durchgehend kurz gehalten und ohne grosse Umschweife auf die Beantwortung der jeweiligen Frage ausgerichtet. Auch Thomas von Strassburg fokussiert seinen Kommentar auf die 110 Vgl. Schabel (1998: 389). Die Datierung des Kommentars Peters von Aquila ist lange unklar geblieben, weil Aquila die Sentenzen mehrfach und an unterschiedlichen Orten gelesen zu haben scheint. Mit Sicherheit überholt ist die Frühdatierung auf 1307 – 1310 von MeierOeser (1994: 333). Bereits Kaluza (1991: 446) datiert auf 1337 – 1338, was etwa auch Schabel (2002a: 259) stützt. Vgl. daselbst und Kaluza (1991: 462) für die Datierung des Kommentars von Thomas von Strassburg auf 1334 – 1335. Zur Diskussion für die 1330er Jahre steht auch noch der Sentenzenkommentar des Michael de Massa, den Trapp (1956: 175) auf 1326 datiert; Courtenay (2008: 285 – 301) plädiert hingegen für eine (zweite) Lesung ca. 1332. 111 Petrus von Aquila wird nachfolgend aus der (unkritischen) Edition von Paolini (1909) zitiert. Er lässt zwei Distinktionen aus (18 – 19), viele fasst er zusammen (20 – 21, 24 – 25; 26 – 27, 28 – 29, 30 – 31, 32 – 33, 34 – 35, 36 – 38, 39 – 42, 45 – 46 und 47 – 48). Thomas von Strassburg wird nach dem Druck von 1564 zitiert; er kommentiert zu allen Distinktionen, fasst aber in der Diskussion der Ehe (26 – 42) mit Ausnahme von Distinktionen 26, 31 und 34, welche allein stehen, jeweils zwei Distinktionen zusammen. 112 In seinem Gefolge werden weitere Autoren die Frage nach der Wirksamkeit der Sakramente erst im Rahmen der zweiten Distinktion aufgreifen, vgl. beispielsweise den Kommentar von Michael Aiguani (ed. 1622: 343); zu ihm s. u. Anm. 151.
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jeweiligen Fragen, lässt ihn allerdings deutlich ausführlicher ausfallen und erlaubt sich zwischendurch – wohl wegen seines umfassenden Anspruchs – einer quaestio noch einige Artikel anzuhängen, die nicht direkt zu der gestellten Frage, aber in die Thematik der behandelten distinctio gehören.113 Beide Autoren legen ihre Kommentare zudem stark auf eine strukturierte Vermittlung aus: Hinweise, wie er vorzugehen gedenke, finden sich bei Thomas von Strassburg zu Beginn, aber zum Teil auch inmitten der einzelnen Quästionen; aber auch Petrus de Aquila macht sein Vorgehen jeweils explizit und unterteilt seine Quästionen mal in Artikel, mal nach Konklusionen, oder greift – wie in der Frage nach der Wirkweise der Sakramente – einen positionszentrierten Ansatz auf.114 Die beiden Kommentare verfolgen damit ein Vermittlungs-Ideal, von dem die Kommentatoren des frühen 14. Jahrhunderts sich schon zu lösen begonnen haben: Die Verteidigung der vertretenen Positionen steht nicht so sehr im Zentrum, dass sie die Struktur der Kommentare entscheidend beeinflussen würde, vielmehr sind die Lombardschen Themen leitend und geben den Rahmen an, innerhalb dessen allenfalls eigene Positionen verteidigt werden können. Diese Orientierung an einem älteren Vermittlungs-Ideal zeigt sich schliesslich auch im Umgang mit den Quellen: Petrus von Aquila trug schnell einmal den Beinamen scotellus, weil er seine Ausführungen weitgehend an Scotus orienterte – in der hier interessierenden quaestio zur Wirkweise der Sakramente findet sich allerdings nicht nur eine Orientierung an Scotus, vielmehr ist sie eine eigentliche Kompilation aus der vierten und fünften Frage zur ersten distinctio von Scotus’ Ordinatio zu Buch IV. Nur gerade in einem Argument gegen die Position des Thomas von Aquin, sowie in der salvatio der dicta sanctorum lassen sich Textstücke ausmachen, die nicht direkt bei Scotus abgeschrieben sind. Letztere scheinen immerhin davon zu zeugen, dass Petrus von Aquila die Diskussion seit Scotus nicht völlig ignoriert, sondern im Wissen um aktive Vertreter einer sine qua non Kausalität diese (im Sinne von Scotus) als uneigentliche Ursache zurückweist.115 Diese Übernahmen macht er allerdings nicht explizit: Während er 113 So etwa in der ersten quaestio zur zweiten Distinktion: In Frage steht utrum sacramenta novae legis habeant in se aliquam spiritualem virtutem ipsis formaliter inhaerentem (»ob die neutestamentlichen Sakramente irgendeine geistige Kraft in sich haben, welche ihnen formal anhängt«); Artikel drei und vier allerdings behandeln die Zeit der Einsetzung und die Zahl der neutestamentlichen Sakramente. 114 Thomas von Strassburg erklärt in quaestio 1 zur ersten Distinktion schon zu Beginn der eigentlichen Antwort hic quattuor sint videnda, was zu Beginn des ersten videndum gleich noch einmal weiter ausgeführt (quantum ad primum sic procedam fol. 56vb) und auch in dessen Mitte noch einmal aufgenommen wird: His praemissis procedam tali modo (fol. 57rb). Artikel-basiert sind bei Petrus von Aquila im Rahmen der ersten distinctio die Quästionen 1 und 5; anhand von Konklusionen strukturiert er Quästionen 2, 4 und 6. 115 ed. 1909: 15. Zu Durandus und Ockham als Vertretern einer sine qua non Kausalität s. o. S. 51. Der Verweis ist allerdings zu knapp gehalten, als dass aus ihm geschlossen werden
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Thomas von Aquin namentlich nennt, weist er nicht einmal durch ein anonymes quidam oder aliquis darauf hin, dass er überhaupt einen anderen zitiert. So konservativ Petrus’ Kommentar auch ausgelegt ist, scheint damit doch eine neue Ebene des Wissenstransfers aufgenommen zu sein: jene der sogenannten lectura secundum alium. Petrus von Aquila verfasst in den 1330er Jahren seinen Kommentar in weitgehend wörtlicher Anlehnung an Scotus. Zwei Dinge seien hierzu angemerkt: Auch wenn erstens Damasus Trapp den Kommentartyp der lectura secundum alium vorwiegend im Hinblick auf die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts umschrieben hat, ist, wie in der Forschung inzwischen aufgezeigt worden ist, Petrus von Aquila bei weitem nicht der einzige Kommentar, der vor 1340 unter diesen Typ fällt.116 Dies ist wichtig festzuhalten, wenn es in einem letzten Schritt der vorliegenden Studie darum gehen soll aufzuzeigen, inwiefern die Veränderungen im Pariser Kommentarstil nach 1340 auf englische Einflüsse zurückzuführen sind. Auch wenn das Phänomen der lectura secundum alium in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts verstärkt auftreten sollte, scheint es zumindest mit den Oxforder Entwicklungen kaum etwas zu tun zu haben.117 Zweitens dürfte es sich, auch wenn Petrus auf seine Vorlage nicht explizit verweist, weniger um eine versteckte Imitation als vielmehr um eine weitere, beabsichtigte Ebene der Vermittlung halten. Scotus’ Kommentar blieb im 14. und 15. Jahrhundert so allgegenwärtig, dass er schlicht nicht plagiiert werden konnte. Der Beiname scotellus unterstreicht daher nicht nur, wie offensichtlich Petrus’ Anlehnung für seine Zeitgenossen war, sondern er bezeichnet auch, worum es Petrus selbst mit seinem Kommentar gegangen zu sein scheint – um eine kleinere, handlichere Version nämlich des geschätzten Kommentars seines grossen Ordensbruders.118 Auch dem Kommentar des Thomas von Strassburg wird nachgesagt, sich eng an die Vorlage seines Ordensbruders Aegidius Romanus zu halten, wie das von Augustiner-Eremiten seit 1287 ja auch verlangt wurde.119 Im Rahmen von Buch IV ist allerdings schwierig nachzuprüfen, inwiefern Thomas dieser Vorgabe
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könnte, Petrus de Aquila habe in dieser Hinsicht von Ockham Notiz genommen. Der zweite Abschnitt, der nicht direkt aus Scotus’ Ordinatio stammt, findet sich in der probatio des dritten Arguments gegen Thomas (ed. 1909: 13 f.). Das am besten untersuchte Beispiel ist zweifelsohne Aufredo Gonteri Brito, der die Sentenzen 1325 in Paris kommentiert hat, secundum Henry of Harclay (zwischen 1305 und 1308 in Paris), vgl. zuletzt Duba & Friedman & Schabel (2010). Für andere Beispiele aus dem frühen 14. Jahrhundert vgl. Schabel (1997: 159 f.), vgl. aber etwa auch die bei Friedman (2002b: 51) und Schabel (2002a: 241) besprochenen Fälle. S. u. S. 76, vgl. auch Bakker & Schabel (2002: 426). Ein ähnliches Ziel verfolgt im späten 15. Jahrhundert Wilhelm Gorris mit seinem Scotus Pauperum (1490), in welchem die Bezüge zur Vorlage aber durchgehend expliziert werden und in welchen kaum weiteres Material eingebaut wird, so dass er stärker noch eine blosse abbreviatio zu sein scheint. S. o. Anm. 38.
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gerecht geworden ist, da Aegidius’ Kommentar zu diesem Buch weitgehend verschollen ist. Ein erhaltenes Fragment zur hier interessierenden Thematik zumindest findet seinen Weg – wenn auch nicht so wörtlich wie Scotus bei Aquila – in den Kommentar des Thomas, und zwar unter explizitem Verweis auf Aegidius Romanus, da es sich in der Aufzählung der Argumente der doctores communes (d. h. von Aegidius Romanus und von Thomas von Aquin) befindet.120 Namentlich erwähnt werden die beiden bloss in den Marginalien, wie Thomas von Strassburg auch sonst vor allem in den Marginalien seine Quellen namentlich anführt.121 Dass er damit keine lectura secundum Aegidium bietet, bleibt insofern aber auch ohne eine vollständige Kenntnis der Vorlage deutlich: Schon die gemeinsame Behandlung von Thomas von Aquin und Aegidius Romanus deutet auf seine eigenständig strukturierte Darstellungsweise hin. Ausführliche Diskussionen etwa der Meinungen von Scotus oder Aureoli belegen zudem, dass er weit über Aegidius hinaus die theologischen Diskussionen zur Kenntnis nimmt.122 Auch sein Lösungsansatz zur Frage nach der Wirkweise der Sakramente dürfte ein eigenständiger sein. Zugleich allerdings zeugt er vom Respekt, den Thomas von Strassburg seinen grossen Vorgängern gegenüber hat: So bezeichnet er die neutestamentlichen Sakramente zuerst vermittelnd zwischen Scotus und Thomas von Aquin als instrumentale Ursache, die aber nur aufgrund einer göttlichen Anordnung zum Gnadenempfang vorbereitet123, bevor er schliesslich – si proprie loqui velimus – die Sakramente eine causa conditionalis nennt (fol. 64va). Anders auch als etwa Durandus und Aureoli, die ihren grossen Vorgängern entgegengehalten haben, dass die dicta sanctorum gar keine sakramentale Ursächlichkeit behaupteten und es daher auch gar nicht notwendig sei, die Sakramente als eigentliche Ursache der Gnade zu verstehen124, bleibt es für den Strassburger (wie auch für Petrus von Aquila) ein Anliegen, im Einklang mit Thomas von Aquin und Scotus die Sakramente als wahre Ursachen herauszustellen und daher die Eigentlichkeit solch konditionaler Kausalität zu 120 Am erhaltenen Textstück von Aegidius orientieren sich vor allem das vierte und das fünfte Argument, vgl. fol. 56vb – 57ra und Aegidius Romanus (ed. Luna 2003: 453 f.). 121 Insbesondere Trapp (1956) hat sich stark gemacht, diese Marginalien nicht zu vernachlässigen oder als spätere Hinzufügungen abzuwerten, sondern als gewollte Zitierweise der Kommentatoren zu verstehen. Ein erster, aus den Marginalien gewonnener Überblick über die wichtigsten Quellen von Buch I findet sich ebd.: 179 f. 122 Zu Scotus vgl. etwa fol. 63va, zu Aureoli vgl. fol. 64va. 123 Vgl. die vierte conclusio fol. 64rb: sacramenta novae legis sunt gratiae divinae causa instrumentalis dispositiva dispositione extrinseca habilitante subiectum ad recipiendum gratiam non ex natura rei, sed tantummodo ex institutione, seu ordinatione Dei (»die neutestamentlichen Sakramente sind instrumentelle und vorbereitende Ursache der göttlichen Gnade, welche das Subjekt durch eine äusserliche Vorbereitung befähigen, die Gnade nicht aus der Natur der Sache zu empfangen, sondern allein wegen der Einsetzung oder Anordnung Gottes«). 124 S. o. S. 41 und S. 49, Anm. 63.
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betonen, sofern sie, wie im Fall der Sakramente, auf göttlicher Anordnung beruht.125 Die beiden Kommentare des Thomas von Strassburg und des Petrus von Aquila weisen damit Charakteristika auf, die deutlich traditioneller scheinen als die Eigenheiten der Pariser Kommentare des frühen 14. Jahrhunderts. Nicht nur in formalen Aspekten wie der Nähe zur Lombardschen Grundstruktur oder in der thematischen Fokussierung der Fragen, sondern auch im Umgang mit den grossen Vorläufern der Hochscholastik zeigen die beiden einen konservativen Ansatz, der nun, was entscheidend sein dürfte, den Oxforder Entwicklungen genau entgegenläuft. Das zeigt sich schliesslich auch in der Anwendung von logischen und physikalischen Methoden. Dass Aquila hier kaum über Scotus hinausreicht, dürfte verständlich sein, aber auch Thomas von Strassburg ist hier weit zurückhaltender als es etwa Petrus Aureoli noch gewesen ist. Sollte es sich hierbei nun nicht nur einfach um die Eigenheiten der beiden einzigen erhaltenen Pariser Kommentare aus den 1330er Jahren handeln, sondern um einen allgemeinen Trend, dann wird auch schnell verständlich, dass die Übernahme von Oxforder Charakteristika in Paris als ein Bruch hat empfunden werden können.
3.2
Pariser Kommentare zur Jahrhundertmitte
Im Vergleich zu Thomas von Strassburg und zu Petrus von Aquila springen bei den Kommentaren der 1340er Jahre zuerst einmal einige strukturelle Äusserlichkeiten ins Auge. Während insbesondere beim Strassburger ein Bestreben nach umfassender Behandlung des Lombardschen Grundtexts deutlich geworden ist, arbeitet Gregor von Rimini seinen Kommentar nur noch zu den ersten beiden Büchern des Lombarden aus, sein Ordensgenosse und Nachfolger als Sententiar, Alfonsus Vargas Toletanus, sogar ausschliesslich zu Buch I.126 Von 125 Vgl. fol. 64vb: nos dicere possumus, quod quicquid est immutabliter institutum ex ordinatione Dei, qui est supraema omnium causarum, hoc non convenit rebus per accidens, sed per se. Et per consequens sacramenta sunt per se causa gratiae; non ex natura propria, sed ex immutabili ordinatione divina (»wir können sagen, was unveränderlich durch Anordnung Gottes festgelegt worden ist, der die höchste aller Ursachen ist, all dies kommt den Dingen nicht akzidentiell, sondern aus ihnen selbst zu. Folglich sind die Sakramente aus sich selbst Ursache der Gnade: zwar nicht wegen ihrer eigenen Natur, aber wegen einer unveränderlichen göttlichen Anordnung«). 126 Angesichts der hier untersuchten Texte scheint die Behauptung kaum haltbar zu sein, diese Reduktion sei »conform¤ment un usage devenu courant Paris au XIVe siºcle«, wie Bermon (2002: 272 Anm. 22) behauptet. Rimini las die Sentenzen 1343/44. Sein Kommentar ist kritisch ediert (ed. Trapp 1979 – 1987). Rimini ist einer der am besten untersuchten Autoren des 14. Jahrhunderts. Für einen Literatur-Überblick vgl. Mandrella (2010), spezifischer zu seinem Sentenzenkommentar vgl. Courtenay (1973: 157) und den eben erwähnten Bermon (2002). Alphons Vargas las die Sentenzen 1344/45. Sein Kommentar
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Vornherein scheint damit eine Ausrichtung an Lombards struktureller, aber auch inhaltlicher Komposition fallen gelassen worden zu sein, was auch ein Blick auf die Quästionenverzeichnisse der beiden Kommentare bestätigt: Zwar halten beide an der Distinktionen-Einteilung fest, behandeln aber einen Grossteil zusammengefasst in Gruppen von zwei bis drei distinctiones. Gregor lässt zudem 14 Distinktionen komplett aus.127 Weil nun beide Kommentare getränkt sind mit Bezügen und Verweisen auf genau jene Oxforder Autoren, welche bisher in Paris kaum wahrgenommen worden sind, welche aber einen ähnlich freien Umgang mit Lombards Grundtext aufweisen, ist nicht zu Unrecht behauptet worden, es seien diese Pariser Veränderungen auf Oxforder Einflüsse zurückzuführen.128 Dennoch zeigt etwa beider Festhalten an der Distinktionen-Einteilung, dass der Oxforder Stil nicht einfach direkt übernommen worden ist, sondern dass sich ein differenzierteres Bild abzeichnet. Um die Thematik der vorliegenden Untersuchung wieder aufzugreifen, sei dies an ein paar Kommentaren nachverfolgt, die Buch IV in ihre Auslegung mit einbezogen haben. Der Zisterzienser Johannes von Mirecourt, der als socius von Alfonsus Vargas 1344/45 die Sentenzen gelesen hat, gilt insofern als interessanter Kandidat, als die Pariser Universität aus seinem Sentenzenkommentar 41 articulos […] erroneos, suspectos ac male sonantes in fide ac etiam in bonis moribus (»irrige, verdächtige und für den Glauben oder die guten Sitten falsch klingende Artikel«) verurteilt hat, was gemeinhin auf seine Prägung durch englische Einflüsse zurückgeführt wird.129 Tatsächlich ist sein Kommentar zumindest rein äusserlich noch ›englischer‹ gehalten als die beiden gerade erwähnten, auch wenn Mirecourt über alle vier Bücher der Sentenzen liest: Der Kommentar zu Buch IV beschränkt sich auf gerade mal zwei Quästionen, ein Distinktionenbezug fehlt völlig und entsprechend sind auch keine divisiones textus oder expositiones zu finden.130 Quaestio I des vierten Buchs, welche die Frage nach der sakramentalen
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wurde hier im Frühdruck Venedig 1490 konsultiert. Zu Person und Werk vgl. grundlegend Kürzinger (1930) sowie Trapp (1956: 213 – 222). In Buch I fehlt ein Kommentar zu den Distinktionen 18, 21 – 23, 25 und 37, in Buch II zu 8, 13 – 14 und 19 – 23. Bei Alfonsus werden nur gerade 13 der 48 Distinktionen von Buch I einzeln behandelt (1 – 8, 13, 17 – 18, 21 und 24). Vgl. Bakker & Schabel (2002: 426). Die Quellen von Alfonsus Vargas hat Kürzinger (1930: 44 – 107) ausgewertet, einen Überblick bietet auch Trapp (1956: 220 – 222), für die Quellen von Gregor vgl. den Registerband der kritischen Edition. Vgl. Asztalos (1993: 378). Die Artikel ediert hat Stegmüller (1933) als Teil seiner Edition von Mirecourts zwei Apologien. Die Liste in Denifle (1891: 610 – 613) ist unvollständig und bezieht zudem Artikel mit ein, die nicht auf Mirecourts Verurteilung zurückgehen. Die hier zitierte Einleitung nachgetragen hat Courtenay (1986: 191). Zu Mirecourts Biographie vgl. Courtenay (1972: 226 ff.). Eine aktuelle Bibliographie bietet Parodi (2003). Während es zum Kommentar zu Buch I eine vorläufige online-Edition gibt (ed. Parodi 2003), sind die weiteren drei Bücher weiterhin nur in Handschriften zugänglich. Die vorliegenden Untersuchungen stützen sich auf Paris, Bibliothºque Nationale 15883 (be-
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Wirksamkeit behandelt, steht den englischen Vorläufern auch in Ausführlichkeit nicht nach: Pro solutione quaestionis stellt Mirecourt sechs conclusiones auf (fol. 133rb), für die er zehn Argumente anbringt (bis fol. 134ra), um dann auf acht Einwände einzugehen, die er zum Teil über mehrere Manuskript-Spalten hinweg diskutiert (bis fol. 136vb).131 Aus diesen Diskussionen wird deutlich, dass Mirecourt, wie das etwa auch bei Wodeham zu sehen gewesen ist, ins direkte Gespräch mit einzelnen Argumenten seiner Gegner tritt. Ein fast repetitives ad illud dico durchzieht den ganzen Text. Die Gesprächspartner allerdings bleiben – soweit ich sehe – anonym. Für Passagen aus Mirecourts Kommentar zu Buch I ist nachgewiesen worden, dass er seinen Text bisweilen fast schon im Stile einer lectura secundum alios aus Zitaten verschiedenster englischer Kommentare zusammenstellt. Den Rahmen der Studie würde es allerdings sprengen nachzuprüfen, inwiefern dies in der vorliegenden quaestio ebenfalls zutrifft und inwiefern die Gesprächspartner nicht vielmehr Mirecourts socii sind.132 Immerhin kann festgehalten werden, dass auch der englische Stil in Mirecourts Kommentar Eingang gefunden hat – auch wenn dies in erstaunlich zurückhaltendem Ausmass geschieht. In den zehn Argumenten zur Stützung seiner conclusiones etwa führt er einmal Überlegungen zum Infiniten und einmal zur Selbstbewegung an, in einem einzigen Argument greift er zudem auf die typische Verwendung von Variablen zurück.133 Auch inhaltlich führt ihn dies zu keinen Neuerungen. So, wie schon in der Oxforder Tradition Varianten von Scotus’ Position zur sakramentalen Wirksamkeit überwogen haben, so präsentiert auch Mirecourt eine Lösung, die in Paris schon vertreten worden ist und die sogar traditioneller ausfällt als die in England übliche pactum-Theorie: Für Mirecourt nämlich sind die Sakramente causa dispositiva gratiae, womit er letztlich den thomistischen Lösungsansatz übernimmt, den in Oxford nicht einmal die Dominikaner vertreten haben.134
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schrieben bei Parodi 2003). Ein Quästionenverzeichnis findet sich bei Birkenmajer (1922: 104 – 108). Die vorliegende quaestio fällt damit insofern aus dem üblichen Schema, das Courtenay (1972: 243) in Mirecourts Vorgehen aufgefunden hat, heraus, als die obiectiones nicht direkt nach den conclusiones gebracht werden. Die Widerlegung des argumentum principale in oppositum fällt zudem sehr kurz aus (fol. 136vb; s.u. Anm. 134). Immerhin entsprechen die sechs conclusiones Mirecourts favorisierter Anzahl. Für Mirecourts englische Anleihen in quaestio 35 und 36 vgl. Genest/Vigneaux (1988: 293 – 295). Für weitere Beispiele vgl. Courtenay (1973: 152 f.) und Murdoch (1978: 56 mit Anm. 26). Mirecourts zahlreiche socii sind bei Courtenay (1972: 227 Anm. 7) aufgelistet. Zum Infiniten vgl. Argument vier, zur Selbstbewegung Argument fünf (beides fol. 133va). Die Variablen werden im zehnten Argument fol. 134ra verwendet. So schon in der sechsten conclusio fol. 133rb (Sexta conclusio est quod sacramenta a deo instituta sunt causa dispositiva gratiae – »die sechste These ist, dass die von Gott eingesetzten Sakramente dispositive Ursache der Gnade sind«). Vgl. den Abschluss der quaestio fol. 136vb: Ad argumentum in principio quaestionis […] dico quod sacramenta legis novae
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Damit wird deutlich, dass Mirecourt die Sentenzen zwar in einer Weise kommentiert hat, die sich deutlich von Thomas von Strassburg oder Petrus von Aquila abhebt, dass er deswegen aber dennoch den Oxforder Entwicklungen gegenüber einen eigenständigen Weg gegangen ist. Einmal abgesehen davon, was dies für die historische Einordnung von Mirecourts Verurteilung zu bedeuten hätte135, zeugt der untersuchte Abschnitt seines Kommentars von einer differenzierten Übernahme von Oxforder Charakteristika in Verschmelzung mit herkömmlichen Pariser Eigenheiten. Dies lässt sich schliesslich auch im Hinblick auf die Transfer-Thematik bestätigen: Mirecourt wurde nachgesagt, er habe vor allem mit den in Paris noch unbekannten englischen Zitaten sein Publikum auf die billigst mögliche Weise blenden wollen, so dass sein einziger philosophie-historischer Wert darin bestehe, die Oxforder opinio communior in Paris bekannt gemacht zu haben.136 Selbst ohne eingehende Aufschlüsselung seiner Quellen lässt sich dies von der vorliegenden quaestio her widerlegen: Mirecourts Position steht der Oxforder opinio communior gerade entgegen, und er erweist sich vielmehr als seriöser Kommentator, der dem herkömmlichen Pariser Ideal gemäss eigenständig die ihm am meisten einleuchtende Position vertritt und dazu die gängigen Meinungen diskutiert – dass er dabei ein Jahr nach dem Kommentar des Gregor von Rimini die englischen Meinungen nicht aussen vor lässt, ist insofern nur ein weiteres Zeugnis für seine Redlichkeit als Kommentator. Immerhin scheinen seine ersten Gegner zumindest die vorliegende quaestio so genau gelesen (und richtig verstanden) zu haben, dass sie ihr nichts Verdächtiges haben entnehmen können: Von den 1347 verurteilten Thesen zielt keine einzige auf Mirecourts Sakramentenlehre ab. Ohnehin ist festzuhalten, dass die Verurteilung keine allzu weitreichenden Folgen gehabt zu haben scheint. Im Gegensatz zum ein Jahr früher verurteilten Nikolaus von Autrecourt, sunt causa dispositiva gratiae (»gegen das Argument am Beginn der quaestio sage ich, dass die neutestamentlichen Sakramente dispositive Ursache der Gnade sind«), vgl. Courtenay (1973: 168). 135 So hat vor allem Courtenay (1972 – 73) versucht, Mirecourt anhand seiner Eigenständigkeit gegenüber der englischen Tradition zu rehabilitieren, was etwa Caroti (2004: 196) aufgenommen hat. Erstaunlich unberührt von Courtenays Einsichten bleiben allerdings Genest & Vigneaux (1988), deren tendenziöses Bild (vgl. nächste Anmerkung) auch etwa Kaluza (1998: 438) beeinflusst zu haben scheint. 136 So Genest & Vigneax (1988: 291): »Plus on serre de prºs ses sources, plus on se rend compte quel point elle reflºte l’opinio communior d’Oxford […]. Le rúle de Mirecourt aura ¤t¤ de la divulguer Paris. C’est l son seul titre figurer dans une histoire de la pens¤e m¤di¤vale. […] Il parat avoir ¤t¤ d¤sireux d’¤blouir aux moindres frais son auditoire, en lui pr¤sentant du nouveau. A cet ¤gard, il a b¤n¤fici¤ d’une conjoncture exceptionnellement favorable. Quand son tour de lire les Sentences est arriv¤, les controverses oxoniennes des vingt ann¤es pr¤c¤dentes ¤taient encore mal connues Paris.« Von einem »desire to show off« sprechen auch noch Bakker & Schabel (2002: 433), vgl. ebenso Schabel (1998: 438).
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dessen Schriften verbrannt worden sind, ist Mirecourts Kommentar erhalten geblieben und rezipiert worden.137 Nur ein Jahr nach der Verurteilung nimmt sein Ordensbruder und Nachfolger als sententiarius, Peter Ceffons, Lehren von Mirecourt in seinem Kommentar wieder auf; im Widmungsschreiben, das er der etwas später entstandenen Ordinatio seines Kommentars voranstellt, zieht er sogar offen her über die tres vetulae rugosae (»die drei runzligen alten Weiber«), die Mirecourts Verurteilung heraufbeschworen haben sollen.138 Auch Ceffons Kommentar zeugt von der Rezeption englischer Vorgehensweisen und Stilformen. Auch bei ihm zeigt sich aber ein differenziertes Bild. Strukturell gibt sich sein Kommentar völlig losgelöst vom Lombardschen Grundtext. Zwar liest er über alle vier Bücher, zu Buch IV stellt er aber bloss einige wenige Quästionen.139 Ein Verzeichnis am Ende des Manuskripts (fol. 224v) listet acht Quästionen auf; die vier letzten allerdings sind alle auf Probleme rund ums Gelübde ausgerichtet und zumindest Quästionen sechs und sieben werden im Fliesstext explizit als dubia bezeichnet.140 Weil auch innerhalb der dritten quaestio vier dubia in Quästionenform integriert sind, dürften Quästionen fünf bis acht damit ursprünglich eine einzige quaestio gebildet haben, so dass Ceffons zu Buch IV insgesamt nur fünf Quästionen gestellt hat.141 Deren erste ist zudem eine nur lose an die Themen von Buch IV angebundene quaestio principalis142 ; und auch die zweite quaestio ist noch als Prolegomenon zur Sakramententhematik formuliert.143 Nur drei Quästionen wenden sich damit überhaupt Themen aus Lom137 Vgl. Asztalos (1993: 378) und Bakker & Schabel (2002: 434). Für Beispiele zur Rezeption von Mirecourt vgl. Murdoch (1978) und nun vor allem Caroti (2004). 138 Das Widmungsschreiben hat Trapp ediert (1957: 138). Ansonsten ist Ceffons Kommentar nur in einer einzigen Handschrift (Troyes 62, hier fol. 1vb) erhalten. Zu Ceffons Kritik an der Verurteilung Mirecourts vgl. Trapp (1957: 147 f.). Zu Ceffons Kommentar ganz knapp auch Murdoch (1978: 55). 139 Zu Buch I sind es 44, zu Buch II 85 (!) und zu Buch III 13 Quästionen. Die Fragestellung der jeweils ersten und letzten quaestio sowie die principia hat Trapp (1957: 103 – 105) transkribiert. 140 Vgl. fol. 219vb und 221rb. 141 Dies dürfte ein Argument dafür sein, dass Ceffons nicht selbst der Schreiber von Ms Troyes 62 ist, wie Trapp (1957: 121 f.) vorgeschlagen hat. Vgl. auch Murdoch (1978: 70 Anm. 21). 142 Fol. 207ra – 211vb: utrum ecclesia militans quae ab illo regulatur qui est alpha et o, principium est et finis, necessario dignissimum veneretur hiis diebus eukaristie sacramentum (»ob die streitende Kirche, welche von dem gelenkt wird, der das A ist und das O, der Anfang und das Ende, in diesem Tagen das würdigste Sakrament der Eucharistie notwendigerweise feiert«). Gemessen an Trapps Edition des Widmungsbriefes würde eine kritische Edition allein dieser quaestio über 80 Seiten benötigen. 143 Vgl. die Einleitung zur quaestio fol. 211vb: Circa materiam sacramentorum de qua agit magister in quarto in quo intenditur actus interior et exterior quaero utrum actus extrinsecus addat ad meritum vel demeritum voluntatis (»zur Materie der Sakramente, welche der Lombarde im vierten Buch behandelt und in welchen ein innerlicher und ein äusserlicher Akt angenommen wird, frage ich, ob der äusserliche Akt etwas zu Verdienst oder Verfehlen des Willens hinzufügt«: 211vb – 213va).
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bards Sentenzen zu. Das Ideal einer umfassenden Behandlung scheint insofern auch bei Ceffons völlig in den Hintergrund getreten zu sein. Hingegen bindet Ceffons Quästionen drei und vier explizit an die Distinktionenstruktur an.144 Innerhalb von quaestio drei greift er zudem auf ein ähnlich akkumulatives Verfahren zurück, wie dies auch bei Holkot anzutreffen gewesen ist, das aber auch etwa Thomas von Strassburg angewendet hat, um Material zu präsentieren, das nicht direkt zur gestellten quaestio, aber noch zur behandelten distinctio gehört: Losgelöst von der Tragweite der eigentlichen Fragestellung utrum quislibet viator rite et canonice recipiens sacramentum ecclesiae recipiat et gratiam (»ob jeder beliebige Mensch, der ein Sakrament der Kirche korrekt und rechtmässig empfängt, auch die Gnade empfängt«: fol. 213va) behandeln die bereits erwähnten dubia von Ceffons quaestio nämlich drei Fragen zur Beschneidung, zu den weiteren alttestamentlichen Sakramenten und zur Möglichkeit, ohne Sakramente die Gnade zu vermitteln.145 Damit zeigt sich bei ihm ein Vorgehen, das typisch werden sollte für Sentenzenkommentare des späten 14. Jahrhunderts und das auch ein letzter Autor angewandt hat, der hier noch zu besprechen ist: Hugolino von Orvieto. Der Augustiner-Eremit Hugolino, der als socius von Ceffons die Sentenzen gelesen hat, gilt gemeinhin als gemässigter Autor. Bisweilen ist er sogar als Redaktor der verurteilten Artikel von Mirecourt gehandelt worden.146 Dennoch erscheint sein Kommentar kaum weniger ›englisch‹ als jener von Ceffons oder Mirecourt. Die immerhin 21 Quästionen zu Buch IV sind in sieben Gruppen zusammengefasst, welche jeweils eine ganze Reihe von Distinktionen abdecken sollen. Am Distinktionenbezug wird damit festgehalten bei einem zugleich sehr freien Umgang mit Lombards Grundtext. Die einzelnen Quästionen allerdings sind in Artikel aufgeteilt, welche grösstenteils selber wieder als Quästionen gehalten sind; und innerhalb dieser einzelnen Artikel kann es vorkommen, dass als Unterabschnitte noch einmal weitere Fragen aufgegriffen und behandelt werden. Im Rahmen etwa der quaestio unica zur ersten Distinktion von Buch IV sieht
144 So gehört quaestio drei zur ersten (circa primam distinctionem quarti quaero … – »zur ersten Distinktion des vierten Buches frage ich…«: fol. 213va), quaestio vier zur neunzehnten Distinktion von Lombards Sentenzen (Circa 19 distinctionem quarti sententiarum in qua de potestate ministrorum ecclesiae tractatur quaero … – »zur 19. Distinktion des vierten Buchs der Sentenzen, in welcher die Macht der Diener der Kirche behandelt wird, frage ich…«: fol. 215rb). 145 Die dubia beginnen auf fol. 231va, 213vb, 214ra sowie 214rb. 146 So noch Asztalos (1993: 378), dagegen Zumkeller (1990: 9 mit Anm. 25), vgl. auch Courtenay (1973: 169 f.). Für weitere socii von Ceffons und Hugolino vgl. Trapp (1957: 108). Zu Hugolinos Sentenzenkommentar vgl. Zumkeller (1990: 21 f.). Der Kommentar ist von Willigis Eckermann und Venicio Marcolino kritisch ediert worden (1988).
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dies folgendermassen aus:147 Als Leitfrage stellt Hugolino utrum sacramenta novae legis efficiant ad suscipientis salutem (»ob die neutestamentlichen Sakramente auf das Heil des Empfängers eine Wirkung haben«). Die Quästion selbst ist in zwei Artikel unterteilt. Deren zweiter greift die Frage auf an gratia efficiat actum vel volitionem iustam (»ob die Gnade ein gerechtes Handeln oder Wollen verursacht«), der erste, nicht als quaestio formulierte, handelt de necessitate, utilitate vel efficacia ac de numero et institutione sacramentorum (»von der Notwendigkeit, Nützlichkeit oder Wirksamkeit und von Anzahl und Einsetzung der Sakramente«). Das kumulative Vorgehen von Hugolino ist damit augenfällig. Zusätzlich unterstrichen wird es durch zwei Abschnitte am Ende des ersten Artikels, deren erster der Frage nachgeht quid sit sacramentum (»was ein Sakrament sei«), der zweite fragt an creatura possit creare (»ob ein Geschöpf etwas erschaffen könne«). In einer einzigen quaestio finden sich damit bei Hugolino alle grossen Themen ad sacramenta in generali behandelt, die bei Kommentaren des frühen 14. Jahrhunderts noch in je eigenen Quästionen aufgegriffen worden sind: In das selektive Vorgehen nach Oxforder Vorbild wird der umfassende Anspruch der Pariser Tradition eingebaut. Mit dem Kommentar von Hugolino sind Oxforder und Pariser Elemente so sehr ineinander verschmolzen, dass nicht nur ein neuer Typ von Sentenzenauslegung entsteht, sondern dass auch nicht mehr klar auseinandergehalten werden kann, was nun auf englische Einflüsse und was auf die bestehende Pariser Tradition zurückzuführen ist. Das kumulative Vorgehen Hugolinos findet zwar seine klaren Vorbilder bei Chatton oder Holkot, aber auch Thomas von Strassburg hat einzelnen Quästionen thematisch entfernte Artikel angehängt, um übrig bleibendes Material einer Distinktion noch abhandeln zu können. Auch stilistisch lässt sich Hugolino – wie schon die beiden vorher besprochenen Autoren Mirecourt und Ceffons – nicht eindeutig zuordnen. Zwar benutzt er beispielsweise Variablen, greift zugleich aber in einer Ausführlichkeit auf Bibelund Autoritäten-Zitate zurück, die vor allem für die Pariser Kommentare des frühen 14. Jahrhunderts üblich gewesen ist.148 Selbst bei der knappen Lösung, die Hugolino zur Frage nach der Wirksamkeit der Sakramente anführt, muss die Rezeptionsfrage offen bleiben: Für Hugolino sind die Sakramente causae sine quibus non, was neben Ockham ja auch Durandus vertreten hat.149
147 Hugolino von Orvieto (ed. Eckermann & Marcolino 1988: 169 – 178). Einige Beachtung gefunden hat die quaestio bei Eckermann (1990). 148 Für den Variablengebrauch in der hier besprochenen quaestio vgl. Hugolino von Orvieto (ed. Eckermann & Marcolino 1988: 177). Für den Rückgriff auf Bibel- und AutoritätenZitate vgl. ebd. 173 oder 175. 149 Hugolino von Orvieto (1988: 175 f.); zu Ockham und Durandus s. o. S. 51.
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Ergebnisse und Ausblick
Ausgehend vom mehrschichtigen Vermittlungsprozess, der in der Kommentierung von Lombards Sentenzen vollzogen wird, hat die vorliegende Studie strukturelle Merkmale der Sentenzentradition zwischen 1310 und 1350 in Paris und Oxford nachverfolgt. Die thematische Fokussierung auf die Frage nach der Wirkweise der Sakramente – einer Problematik aus Buch IV von Lombards Sentenzen – sollte dabei zu evaluieren helfen, inwiefern die Veränderungen in den Pariser Kommentaren der 1340er Jahre auf englische Einflüsse zurückzuführen sind, eine These, die bisher vor allem im Hinblick auf Buch I entwickelt worden ist. Dazu sind in einem ersten Schritt einige Pariser Kommentare des frühen 14. Jahrhunderts untersucht worden, ein zweiter hat sich vier klassischen Autoren des sogenannten Oxforder ›Goldenen Zeitalters‹ zugewandt, bevor in einem dritten Schritt schliesslich drei Pariser Autoren der 1340er Jahre betrachtet worden sind. Nun haben die Texte dieses letzten Abschnittes ein differenziertes Bild ergeben, was den Einfluss des englischen Stils auf dem Kontinent betrifft: Zwar lässt sich dieser Einfluss in den hier untersuchten Abschnitten ausmachen, die spezifisch englischen Charakteristika verschmelzen aber schnell mit nicht minder prägenden traditionellen Eigenheiten, so dass es schliesslich schwierig wird, einzelne Elemente auf die eine oder die andere Tradition zurückzuführen. Grund hierfür dürfte in erster Linie sein, dass sich, wie die ersten beiden Kapitel gezeigt haben, in Oxford nichts grundsätzlich Neues, von der Pariser Tradition Verschiedenes entwickelt hat, sondern dass beiden gemeinsame Merkmale in Oxford ihre spezifische Prägung erhalten haben. Dies gilt für den freien Umgang mit Lombards Struktur ebenso wie für die Aufnahme eines von Logik und Physik geprägten Stils: In beiden Fällen werden schon in Oxford, aber dann auch im Paris der 1340er Jahre nur Tendenzen verstärkt, die schon in der Pariser Tradition des frühen 14. Jahrhunderts vorhanden gewesen sind. Dass sich die englischen Entwicklungen dennoch so stark von den kontinentalen abheben, scheint seinerseits mit einer Pariser Entwicklung der 1330er Jahre zusammenzuhängen, die in vielen Punkten den Oxforder Tendenzen genau entgegenläuft: Wenn denn die Kommentare des Thomas von Strassburg und des Petrus von Aquila nicht einfach nur zwei traditionalistische Extremfälle darstellen, die zufällig als einzige erhalten geblieben sind, so ist in den 1330er Jahren in Paris ein konservativer Stil gepflegt worden, der in manchem hinter die Pariser Entwicklungen des frühen 14. Jahrhunderts zurückgeht. Als umso fruchtbarer hat sich die Konfrontation der zwei Strömungen erwiesen, aus der sich schliesslich jener neue Stil entwickelt hat, der im Kommentar des Hugolino von Orvieto schon als etablierte Form anzutreffen gewesen ist. Obwohl nun diese Entwicklung vorwiegend an einer spezifischen Thematik
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aus dem vierten Buch von Lombards Sentenzen erarbeitet worden ist, dürfte sie im Grossen und Ganzen einer allgemeinen Tendenz der Sentenzentradition entsprechen.150 Eine Eigenart der Kommentare zu Buch IV dürfte zwar sein, dass sich hier rein von der Themenlage her überhaupt nur wenige Möglichkeiten bieten, die erwähnten logischen und physikalischen Methoden auf die gestellten Probleme anzuwenden. Der vorliegende Befund hierzu dürfte daher etwas zurückhaltender ausgefallen sein, als dies etwa im Hinblick auf Buch I oder Buch II hätte geschehen können – an der Stossrichtung der beschriebenen Tendenz ändert dies allerdings nichts. Auch eine zweite Eigenheit der Kommentare zu Buch IV dürfte am grundlegenden Befund nichts ändern: Die strukturelle Loslösung von Lombards Grundtext taucht in Buch IV nämlich früher und stärker auf als bei den übrigen Büchern. Während etwa Chatton und Wodeham in den Büchern I bis III noch an einem Distinktionenbezug festhalten, lassen sie ihn in Buch IV bereits fallen, und auch die Anzahl gestellter Quästionen nimmt bei Buch IV früher und massiver ab als bei den anderen Büchern. Damit wird Buch IV nun aber nicht zum Spezial-, sondern vielmehr zum Modellfall für die übrigen drei Bücher, bei denen sich mit etwas Verspätung dieselben Tendenzen feststellen lassen. Es ist nun nicht auszuschliessen, dass diese beiden Eigenarten der Buch-IVKommentierung zusammenhängen, dass nämlich das Interesse an einem grossen Teil seiner Themen gerade deswegen verloren gegangen ist, weil hier mit logischen und physikalischen Methoden nicht allzu viel zu holen ist. Ein Ausblick auf die weitere Entwicklung zumindest bestätigt dies, denn die verhaltenere Betrachtung von Buch IV hält auch über die hier untersuchte Zeitspanne hinaus an: Von Johannes de Ripa (sententiarius nach 1354) über Jakob von Altavilla (sententiarius 1369/70) bis zu Peter von Candia (sententiarius 1378/79) formulieren die meisten Kommentatoren höchstens ein paar wenige Quästionen zu Buch IV. Ins Zentrum dieser Kommentare stellen sie allerdings jene Thematik, an der am ehesten noch logische und physikalische Probleme aufgeworfen werden, nämlich die Transsubstantiationslehre.151 150 Vgl. die ähnlichen Ergebnisse bei Schabel (1998) und nun auch Bakker & Schabel (2002). 151 Von Johannes von Ripa scheint ein Kommentar zu Buch IV zumindest nicht erhalten zu sein, ausschliesslich Buch I hat Andreas de Novocastro kommentiert (sententiarius 1358/ 59). Kommentare mit nur einer quaestio zu Buch IV verfassen neben Peter von Candia etwa auch Heinrich Totting von Oyta (in seiner zweiten Pariser Sentenzenlesung) oder Heinrich von Langenstein, alle drei konzentrieren sich in ihrer Frage auf die Eucharistie. Auszüge aus Oyta sind transkribiert bei Bakker (1999: 85 ff. und 231 ff.), für die vorliegende Studie wurden die Mss. Prag V.B.25 und München, Clm. 8867 verwendet. Peter von Candia ist in einer Online-Edition zugänglich (ed. Duba u. a. 2004), Langenstein schliesslich hat Damerau (1980) herausgegeben. Auch bei Jakobus von Altavilla, der zu Buch IV sechs Quästionen formuliert, nimmt eine Frage zur Eucharistie am meisten Raum ein (16 Folia in Clm 11591; zur Zuordnung dieser Handschrift s.u. Anm. 157). Es gibt aber auch Ausnah-
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Ein Ausblick auf die weitere Entwicklung bestätigt zudem auch, wie sehr sich der beschriebene neue Stil etablieren sollte: Im Rahmen dieser wenigen Quästionen zu Buch IV wird jeweils doch weit mehr behandelt, als was direkt unter die einleitende Fragestellung fällen würde.152 So variantenreich sich die Sentenzentradition auch in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts zeigt, wird damit doch das Akkumulieren von Themen unter eine übergeordnete quaestio zur vorherrschenden Kommentarform. Bezeichnend ist hier etwa der Kommentarstil des Marsilius von Inghen, eines der wenigen Autoren, dem an einer ausführlicheren Betrachtung auch von Buch IV gelegen ist und dessen Quästionenform in gewissem Sinne schon als Reaktion auf diesen neuen Stil verstanden werden kann: Am Anfang einer quaestio fügt er an die Formulierung der Fragestellung jeweils an, was die Voraussetzungen dieser Frage seien, was die quaestio »supponiere«. Marsilius leitet daraus nun schon zu Beginn der quaestio – noch vor den argumenta quod sic/quod non – eine Reihe weiterer Fragen ab, welche auch noch zu klären seien.153 Vor dem Hintergrund der beschriebenen Quästionenform dürfte dies als Versuch zu verstehen sein, in die bisweilen sehr unübersichtliche Themen-Akkumulation eine klarere und übersichtlichere Struktur hineinzubringen, wie etwa schon Petrus Aureoli mit ähnlichen strukturierenden Eingriffen die Nachteile eines positions-zentrierten Ansatzes aufzufangen versucht hat. Marsilius’ Kommentar zeugt zudem von einer sehr ausgiebigen und über weite Strecken expliziten Rezeption früherer Kommentare.154 Interessant ist, dass er sich nicht nur inhaltlich, sondern zum Teil auch strukturell an Kommentare aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts anlehnt, was – wie eingangs erwähnt – als typisches Merkmal der Kommentartradition des späteren 14. Jahrhunderts festgehalten worden ist.155 Zwar könnte Marsilius selbst wohl
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men: Neben Johannes Hiltalingen von Basel (sententiarius 1365/66 – vgl. aber Courtenay 1978: 141) ist vor allem Michael Aiguani zu erwähnen (sententiarius 1362/63), dessen Kommentar fast das ganze Buch IV berücksichtigt. Vgl. Bakker & Schabel (2002: 429 f.). Marsilius wird nachfolgend aus dem Frühdruck Strassburg 1501 zitiert; eine kritische Edition besteht bisher erst zu Buch I, Distinktionen 1 – 21 (ed. Santos Noya 2000). Marsilius’ Kommentar ist in der erhaltenen Form einer Ordinatio zwar erst nach 1390 in Heidelberg entstanden, geht aber auf Materialien aus seiner Pariser Sentenzenlesung zurück, vgl. Hoenen (2002: 479 f.). Zu Marsilius’ Quellen vgl. neben Hoenen (1993: 20 f. und 2002: 497 – 503) auch Santos-Noya (2000). S. o. S. 34. Was Marsilius betrifft, so entspricht etwa die Struktur des dritten Artikels aus der in der ersten quaestio zu Buch IV (in etwas reduzierter Form) der Struktur der ersten quaestio zu Buch IV von Thomas von Strassburg (ed. 1564: fol. 56vb). Die Präsentation der zweiten conclusio zur ersten Unterfrage dieses Artikels (ed. 1501: fol. 475va) hält sich weitgehend an Wodehams Einleitung zu dessen zweiter quaestio von Buch IV (Univ. 193: fol. 162va – b). Gerade hier zeigt sich aber, dass Marsilius’ Kommentar nicht einfach als eine
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höchstens unter einen sehr weit gefassten Begriff einer lectura secundum alios fallen. Für einige seiner Zeitgenossen ist inzwischen aber aufgezeigt worden, in welcher Vielfalt und Ausführlichkeit sie die Kommentare von Vorläufern aufgenommen haben.156 Die Untersuchung des Phänomens steckt dennoch weiterhin erst in ihren Anfängen. Daher sei vor dem Hintergrund der vorliegenden Ergebnisse bloss angemerkt, wie lohnend es sein dürfte, sich diesen Texten unter Vermittlungsaspekten zuzuwenden, statt etwa die Kategorie des Plagiats zu bemühen.157 Plagiat impliziert Täuschung, die vorliegenden Texte haben aber eine klare Tendenz gezeigt hin zu einem immer expliziteren und genauer belegten Quellenbezug; und auch die bestehenden Untersuchungen zu den lecturae secundum alios im späteren 14. Jahrhundert haben verdeutlicht, wie offen die Autoren bisweilen mit ihren Anlehnungen umgehen.158 Unter den hier untersuchten früheren Texten würde höchstens die komplexe Gemengelage von Durandus’ Kommentar und dem Anonymus aus Vat. lat. 985 den heutigen Vorstellungen eines Plagiats entsprechen. Sowohl bei Petrus von Aquila als auch bei Johannes von Mirecourt hat sich aber gezeigt, dass beide ihre Übernahmen bewusst einsetzen, um im mehrschichtigen Vermittlungsgeschehen der Sentenzenkommentierung ein klares Ziel zu verfolgen: Bei Petrus von Aquila ist dies die Bereitstellung einer zugänglichen Darstellung von Scotus’ Ordinatio, bei Mirecourt ist es die exemplarische Auseinandersetzung mit den provokantesten lectura secundum alios verstanden werden kann: Die Präsentation dieser conclusio schliesst Marsilius nämlich mit den Worten ab: sed salva reverentia tantorum doctorum istud non videtur bene dictum (»doch trotz der Grösse so vieler Doktoren scheint mir dies nicht gut gesagt zu sein«), um im Anschluss daran seine eigene Meinung zu präsentieren. 156 Vgl. Trapp (1956: 251 – 255) und Bakker & Schabel (2002: 438 – 461). Ein Extrembeispiel dürfte die sogenannte lectura eberbachi des Heinrich von Langenstein sein, welche in der Münchner Handschrift Clm 11591 im Quästionenverzeichnis als Kommentar eines Henrici de Hassia ausgewiesen wird (fol. 381v). Damerau hat mehrfach aufgezeigt, dass diese lectura inhaltlich zu sehr von Heinrichs sonstigen Lehren entfernt sei, um von ihm stammen zu können, und hat als Autoren stattdessen einen Heinrich von Allendorf vorgeschlagen (1963: 33 f. und 1980: XXXIII – XXXVII). Wie Trapp (1956) schon suggeriert hat, dürfte es sich bei Clm 11591 allerdings schlicht und einfach um den Kommentar des damaligen Eberbacher Abtes Jakob von Altavilla halten – Langenstein dürfte diesen Kommentar bei seinem dortigen Besuch 1382/83 rezitiert haben, was dann zu der Zuweisung geführt hat (vgl. Shank 1988: 216 f. und in seinem Gefolge Schabel 1997: 160, etwas zurückhaltender Courtenay 2000: 17 Anm. 40). An Stichproben zu Buch IV im Vergleich mit Brügge, Bib. Ville 181, hat dies in den Vorbereitungen zur vorliegenden Studie bestätigt werden können. 157 So am krassesten sicherlich Genest & Vigenaux (1988), ähnlich deutlich auch Kaluza (1998: 438). Aber bereits Trapp (1956: 154) ebenso wie nun auch Bakker & Schabel (2002: 438) nehmen die Kategorie auf, selbst wenn sie den Begriff »Plagiarism« in Anführungszeichen setzen. Eine differenzierte Evaluation im Hinblick auf Marsilius von Inghen bietet Hoenen (2000: 45). 158 Vgl. etwa Angelus Dobelins Umgang mit Klenkok und Johannes Hiltalingen bei Trapp (1956: 253) oder Altavillas Umgang mit Thomas von Strassburg bei Bakker & Schabel (2002: 443).
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Argumenten seiner Zeit. An ihren eigenen Ansprüchen und an ihrem Vermittlungsziel gemessen, dürfte sich daher auch für die Kommentare des späteren 14. Jahrhunderts ein Bild ergeben, das einem besseren Verständnis dieser Texte nur dienlich sein dürfte. In besonderem Masse gilt dies schliesslich auch für die Sentenzentradition des 15. und frühen 16. Jahrhunderts. Zwar zeigt sich hier im Kommentarstil noch einmal ein völlig neues Bild159, die Anlehnung an frühere Autoren ist aber – wie die eingangs erwähnten Beispiele zeigen – noch verstärkt worden. Dass nun allerdings Werke, die sich schon im Titel einer bestimmten via oder einem bestimmten Autor anschliessen, keinen besonderen Anspruch auf Originalität erheben, sollte offenkundig sein und entsprechend in deren Beurteilung auch nicht als Massstab angesetzt werden. Vielmehr dürfte auch hier der Blick auf die spezifischen Vermittlungsziele eine gewinnbringende Alternative sein. Stärker noch als bei den Autoren des späten 14. Jahrhunderts müsste zudem aber der institutionelle Kontext mit einbezogen werden, da ab dem 15. Jahrhundert bekanntlich ganze Lehrstühle auf die Vermittlung einer spezifischen via ausgerichtet sind. Erst in diesem Rahmen liesse sich überhaupt bestimmen, was die spezifische Leistung eines Autors gewesen ist und inwiefern er den Anforderungen seiner Zeit gerecht geworden ist.
Quellen Adam Wodeham (Univ. 193): Paris, Bibliothºque de l’Universit¤, 193. Adam Wodeham (1512): Super quattuor libros sententiarum. Paris: Johannes Granion. Adam Wodeham (1990): Lectura secunda in librum primum sententiarum. Ed. Rega Wood & Gedeon Gl. St. Bonaventure: St. Bonaventure University. Aegidius Romans (2003): Reportata lecturae super libros I – IV sententiarum. Reportatio Monacensis. Ed. Concetta Luna (Aegidii Romani Opera Omnia, Bd. III.2). Florenz: SISMEL – Galluzo. Aegidius de Viterbo (2010): Commentationes ad mentem Platonis in Magistrum Sententiarum. Ed. Daniel J. Nodes (Studies in Medieval and Reformation Traditions, Bd. 151). Leiden etc.: Brill. 159 Am augenfälligsten ist sicherlich, dass Lombards Grundtext wieder umfassend kommentiert wird. Entsprechend besteht wieder ein klarer Distinktionenbezug, sind die einzelnen Quästionen kürzer gehalten und stärker auf eine einzige Fragestellung ausgerichtet. Offenkundig und bekannt ist zudem die Tendenz, neben den klassischen Autoritäten vorwiegend Autoren des 13. Jahrhunderts zu zitieren. Erst um 1500 tauchen beim erwähnten Gabriel Biel und dann vor allem bei John Mair auch explizite Verweise auf englische Autoren wie Ockham oder Wodeham wieder auf, wozu schliesslich auch der eingangs erwähnte Kommentar von Jacques Almain super sententias magistri Roberti Holcot passt.
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Manuel Lorenz
Bogomilen, Katharer und bosnische ›Christen‹. Der Transfer dualistischer Häresien zwischen Orient und Okzident (11. – 13. Jh.)
Von den Manichäern1 der Spätantike bis zu den Katharern2 des Mittelalters könne, so skandierte 1879 Marie-Jean-C¤lestin Douais (195 f.), eine ununterbrochene historische Linie gezogen werden: »Et bientút cette vague grossissante«, fuhr der damalige Bischof von Beauvais fort, »aprºs avoir couvert la Grºce et les r¤gions du Danube, inonda la Dalmatie, la Hongrie, l’Allemagne, l’Italie et la France«. Dass diese Annahme, die eine enorme ideengeschichtliche Transferleistung voraussetzt, sich bis in die Gegenwart hinein großer Beliebtheit erfreut, hat zuletzt mit Nachdruck Yuri Stoyanov (2001) gezeigt. Die Überprüfung dieser auratischen These kann im Folgenden in toto nicht geleistet werden. Dafür soll aber ein Teilausschnitt derselben ins Auge gefasst werden – der Austausch (häretisch-)dualistischer Glaubensauffassungen zwischen Ost und West bzw. Byzanz, der Balkanhalbinsel und Mitteleuropa im Hochmittelalter. Zuerst soll also nach der Abhängigkeit der Katharer von den Bogomilen gefragt werden, wobei zu klären sein wird, ob die Quellen auf eine orientalische Herkunft der Katharer verweisen, was dies zu bedeuten hätte, 1 Die Religion des Manichäismus ist nach ihrem Stifter Mani benannt, der sie im dritten Jahrhundert in Mesopotamien begründete. Jene (historische) gnostische Religion, die sich sowohl im römischen Reich als auch in Zentralasien und China verbreitete, verband christliche, zoroastrische und zervanistische Lehren – verstand Mani sich doch als Erneuerer der Lehren Jesu, Zarathustras und Buddhas. Siehe hierzu allgemein Böhlig (1980 & 1992), Klimkeit (1989 & 1997) & Koenen (1993). 2 Das Katharertum ist eine dualistisch-christliche Glaubensform, die spätestens ab dem 12. Jahrhundert in Deutschland, Frankreich und Italien in Erscheinung trat, als Häresie gebrandmarkt wurde und bis ins 14. Jahrhundert hinein überdauerte. Der Frage nach dem Erscheinungszeitpunkt und der Herkunft des Katharertums wird weiter unten nachgegangen werden. Siehe hierzu allgemein Borst (1953), Manselli (1963), Rottenwöhrer (1982 – 2005), Lambert (2001) und Jim¤nez Sanchez (2008). Zu den Katharern im Rheinland siehe Manselli (1953; 1965 & 1967), Harrison (1990 & 1991), Brenon (1995a), Jim¤nez Sanchez (2002) und Brunn (2006). Zu den Katharern in Frankreich siehe Duvernoy (1976; 1978 & 1993), Brenon (1996), Given (1997), Arnold (2001) und Pegg (2001a & 2008). Zu den Katharern in Italien liegt bislang noch keine Gesamtschau vor. Siehe dazu daher die entsprechenden Kapitel in der oben genannten allgemeinen Katharerliteratur.
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inwiefern sich die katharischen und bogomilischen Glaubensvorstellungen gleichen sowie auf welche Weise jene dualistischen Ideen wann in den Westen getragen worden sein könnten. Danach wird das mutmaßlich (häretisch-)dualistische Wesen der bosnischen Kirche thematisiert und im Zuge dessen eruiert werden, in welche Beziehung die lateinischen Zeugnisse die Katharer und den Balkan zueinander setzen, wie die Häresievorwürfe gegen die bosnische Kirche bzw. die bosnischen ›Christen‹ zu bewerten sind und ob die dualistischen Häretiker vom (bogomilischen) Osten, vom katharischen (Westen) oder von beiden Richtungen aus Bosnien erreichte.
1.
Die Katharer, der Orient und die Bogomilen
Sowohl die wenigen originär katharischen Quellen selbst als auch die antikatharischen, inquisitorischen Polemiken weisen immer wieder auf den östlichen Ursprung des Katharertums hin. Was die katharischen Quellen anbetrifft, verweist schon der Bericht des viel diskutierten südfranzösischen Katharerkonzils von Saint-F¤lix (1167) auf eine häretische Verbindung zum Osten.3 Ein gewisser papa Niquinta erteilt darin das ›Sakrament‹ des Konsolamentum, weiht Vertreter aus Nordfrankreich, Albi, Toulouse, Carcassonne, Agen und der Lombardei zu ›Bischöfen‹ und ordnet das französische und italienische Katharertum neu. Im Zuge dessen nennt er auch die östlichen ›Kirchen‹ jener Glaubensgemeinschaft: die »Kirche von Rom, von Drogometia, von Melenguia, von Bulgarien und von Dalmatien« (Ecclesia Romana, et Drogometiae, et Melenguiae, et Bulgariae, et Dalmatiae).4 Im Falle des 3 Zerner (2001a) veranstaltete 1999 ein Kolloquium, auf dem die Authentizität des ›Konzils‹ diskutierte wurde. Sowohl sie selbst als auch Biget sprachen sich dafür aus, dass der Text eine Fälschung sei. Kurioserweise wollte Zerner (2001b) das Dokument im 17. Jahrhundert entstanden wissen, während Biget (2001) zugunsten der 1220er Jahre argumentierte. Zu einer Kritik an diesen Lesarten siehe Zambon (2005), Zbral (2005) und dens. (2006). Zbral (ebd.: 162) unterstreicht sowohl die Bedeutsamkeit als auch die Ambiguität des Dokuments: »Son interpretation touch¤ de trºs prºs l’id¤e que l’on veut se faire de la dissidence […]. En fait, il y a beaucoup d’interpretations possibles de sa r¤daction.« Pegg (2001a: 187, Anm. 14) kommt in seiner dichten Gesamtkritik der (vor allem Südfrankreich betreffenden) Katharerforschung zu folgendem radikalen Schluss: »Now, because so much about this document resembles a story by Jorge Luis Borges, and because one needs to already believe in connections between Cathars and Bogomils to see the evidence within the text (even though the text itself is the foundational proof underlying this belief about Catharism and Bogomilism), it is more prudent, for the present, to remain unconvinced about its historical veracity.« 4 [I]n diebus illis ecclesia Tolosana adduxit papa Niquinta in Castro Sancti Felicii et magna multitudo hominum et mulierum eccl. Tolosanae, aliarumque ecclesiarum vicine congregaverunt se ibi, ut acciperent consolamentum quod dominus papa Niquinta coepit consolare […]. Postea vero Robertus d’Espernone accepit consolamentum et ordinem episcopi a domino papa Niquinta [etc.] […]. Post hec vero papa Niquinta dix. eccl. Tolosanae. Vos dixistis mihi, ut ego
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Niquinta ist die Apposition papa irreführend und hat wohl einige Polemiker dazu verleitet, den Katharern einen eigenen Papst anzudichten. Wahrscheinlicher ist, dass damit pappas (p\ppar) gemeint ist, womit in Byzanz Priester oder Mönche benannt wurden.5 Die Ecclesia Romana hingegen zielt auf das Neue Rom, Konstantinopel, ab, und Melenguia verweist vermutlich auf das Gebiet des slavischen Stammes der Melenguier auf der Peloponnes.6 Drogometia könnte – als Variante von Drugonthia – folgende Regionen bezeichnen: Westmakedonien (siehe Jim¤nez Sanchez 1994: 13 f.), Makedonien und Thrakien, die Gegend des Flusses Dragovitsa südöstlich von Sofia (siehe Sˇanjek 1972: 790) oder das orthodoxe Bistum von Dragovet (siehe Hamilton 1978: 38). Diese ersten, bruchstückhaften Informationen werden von den Polemikern und Inquisitoren des 13. Jahrhunderts ergänzt. So berichtet der anonyme Traktat De heresi catharorum in Lombardia (1210 – 1215) von einem katharischen ›Bischof‹ namens Markus, dem die Lombardei, die Toskana und die Marken unterstellt gewesen waren und der dem katharischen ordo von Bulgarien angehört hatte. Eines Tages kam ein gewisser papas Nicheta – der sicherlich mit dem obigen Niquinta identisch ist – aus Konstantinopel in die Lombardei und stellte den ordo von Bulgarien in Frage, woraufhin Markus und die Seinen den ordo von Drugonthia des Niketas annahmen.7 Nach Markus’ Tod tauchte von jenseits des Meeres ein gewisser Petracius mit seinem Gefolge auf, diskreditierte den ordo von Drugonthia und verursachte dergestalt ein Schisma.8 Als es danach zu weiteren Spaltungen kam, schickten die zerstrittenen Parteien zur Legiti-
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dicam vobis, consuetudines primitivar. Ecclesiarum sint leues aut graues, et ego dicam vobis septem eccl. Asuae fuerunt divisas et terminatas inter illas, et nulla illarum faciebat ad aliam aliquam rem ad suam contradic[t]ionem. Et eccl. Romanae, et Drogometiae et Melenguiae, et Bulgariae, et Dalmatiae sunt divisas et termin. et una ad altera non facit aliq. rem ad suam contradictionem et ita pacem habent inter se. Similiter et vos facite […]. Charta von SaintF¤lix: 27. Siehe Lambert (2001: 49); ähnlich bei Borst (1953: 96 f., Anm. 24; 201, Anm. 26). Zu Niquinta allgemein siehe Obolensky (1983: 489 – 500). Zur Lokalisierung allgemein siehe Sˇanjek (1972: 767 – 799). Kritik hieran bei Rottenwöhrer (1990: 478 – 483). In primis temporibus cum heresis catharorum in Lombardia multiplicari cepit, primum habuerunt quemdam episcopum Marcum nomine, sub cuius regimine omnes lombardi et tussi et marchisiani regebantur. Et iste Marcus habebat ordinem suum de Bulgaria. Adveniens quidam, papas Nicheta nomine, de constantinopolitanis partibus in Lombardiam, cepit causari ordinem Bulgarie, quem Marcus habebat. Unde Marcus episcopus cum suis omnibus complicibus commoratus est. De heresi catharorum: 306. Preterea, alio tempore, venit quidam de ultramarinis partibus, Petracius nomine, cum sociis suis […]. Et causa verborum istius Petracii, quidam dubitaverunt de ordine accepto ab illo Simone, quidam non; et de hac causa seditio orta est inter eos et ita in duas partes divisi sunt. Ebd.
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mierung ihres ordo Kandidaten zur ›Bischofs‹-Weihe nach Drugonthia, Bulgarien und Bosnien.9 60 Jahre nach De heresi catharorum sollte auch der dominikanische Inquisitor Anselm von Alessandria die Herkunft des Katharertums im Osten verorten. In seinem Tractatus de hereticis (ca. 1276) führt er es auf den Perser Mani zurück und lokalisiert die drei katharischen Ur-›Bistümer‹ in Drugonthia, Bulgarien und Philadelphia. Griechische Kaufleute hätten jene Häresie dann aus Bulgarien nach Konstantinopel gebracht, wo auch Franken, welche die Stadt erobern hatten wollen, mit ihr in Berührung gekommen seien und dort ein lateinisches Katharer-›Bistum‹ etabliert hätten. Als die Kreuzfahrer in der Folge nach Frankreich zurückkehrten, hätten sie das Katharertum auch dort etabliert, wo es als bulgarische Häresie bekannt geworden sei.10 Von Konstantinopel aus sei das Katharertum schließlich vermittels bosnischer Händler auch nach Bosnien gelangt.11 Was Papas Niceta betrifft, ist dieser bei Anselm ein »Bischof jener von Konstantinopel« (episcopus illorum de Constantinopolim), der in Misskredit gerät, weswegen Markus, der auch hier von Niketas zum ›Bischof‹ geweiht worden war, nach Bulgarien reisen will, um den dortigen ordo zu empfangen.12 9 Unde multitudo prius in duas partes divisa, tunc in sex partes dispertita est. Sicut autem superius dictum est, ante terminum in quo promiserant illi Garatto dare societatem et expensas eundi in Bulgariam, quidam de Diszennzano, facta congregatione, elegerunt quendam sibi episcopum nomine Johannem bellum, et eum miserunt ultra mare in Drugonthiam ut ibi ordinaretur episcopus; et hec est modo pars amezonis. Item quidam de Mantua cum suis sequacibus elegerunt quemdam nomine Coloiannem sibi in episcopum et, eo in Sclavenia misso, post receptionem ordinis, episcopatus officio super eos functus est. Eodem itaque modo quidam alius, Nicola nomine, a congregatione vicentinorum electus et in Sclavania ad ordinem recipiendum missus, post reditum ab eis episcopus teneretur. Similiter et in Tussia duo episcopi ordinati sunt. Ebd.: 308. 10 Zur synonymen Verwendung des Terminus bougre (= Bulgare) mit Häresie in Nordfrankreich Anfang des 13. Jahrhunderts siehe Zerner (1989). 11 Notandum quod in Persia fuit quidam vocabatur Manes […]. Et docuit in partibus Drugontie et Bulgarie et Filadelfie; et multiplicata est ibi heresis ita quod fecerunt tres episcopos: Drugontie, alius Bulgarie, alius Filadelfie. Postmodum greci de Constantinopolim, qui sunt confines Bulgarie per tres dietas, iverunt causa mercacionis illuc, et reversi ad terram suam cum multiplicarentur, ibi fecerunt episcopum, qui dicitur episcopus grecorum. Postea francigene iverunt Constantinopolim ut subiugarent terram et invenerunt istam secta, et multiplicati fecerunt episcopum, qui dicitur episcopus latinorum. Postea quidam de Sclavonia, scilicet de terra que dicitur Bossona, iverunt Constantinopolim causa mercacionis; reversi ad terram suam predicaverunt et, multiplicati, constituerunt episcopum qui dicitur episcopus Sclavonie sive Bossone. Postea francigene, qui iverant Constantinopolim, redierunt ad propria et predicaverunt, et multiplicati constituerunt episcopum Francie. Et quia francigene seducti fuerunt primo in Constantinopoli a bulgaris, vocant per totam Franciam hereticos bulgaros […]. Anselm von Alessandria, Tractatus: 308. 12 Postea venit quidam qui vocabatur papas Nicheta, qui episcopus erat illorum de Constantinopolim, et dixit: ›Vos estis tot quod bene expedit quod habeatis episcopum‹. Et sic elegerunt predictum Marchum in episcopum, cui obediebant omnes subradicti lonbardi, tusci et illi de Marchia. Et iste papas Nicheta confirmavit eum. Post aliquantulum temporis, Marchus in-
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Zu alledem passt die prägnante Aufzählung der katharischen Ostkirchen, die der Ex-Häresiarch und dominikanische Inquisitor Ranieri Sacconi ein Vierteljahrhundert vor Anselm von Alessandria, nämlich 1250, in seiner Summa de Catharis et Leonistis seu Pauperibus de Lugduno (50) liefert: »Die Kirche von Slavonien, die Kirche der Lateiner von Konstantinopel, die Kirche der dortigen Griechen, die Kirche von Philadelphia in Romania, die Kirche von Bulgarien, die Kirche von Duguuithia. Und alle haben sie ihren Ursprung in den beiden letztgenannten« (Ecclesia Sclauonie. Ecclesia Latinorum de Constantinopoli. Ecclesia Grecorum ibidem. Ecclesia Philadelfie, in Romania. Ecclesia Bulgarie. Ecclesia Duguuithie. Et omnes habuerunt originem a duabus ultimis). Außerdem nennt er einen Katharer-›Bischof‹ namens Nazarius, der in hohem Alter vor ihm erschienen sei und behauptet habe, die Heilige Jungfrau sei ein Engel und Christus habe keine menschliche sondern eine engelhafte Natur, einen himmlischen Körper angenommen – (Irr-)Lehren, die er 60 Jahre zuvor von einem ›Bischof‹ der bulgarischen ›Kirche‹ gelernt habe.13 Jener Nazarius ist aber auch im Carcassonner Exemplar der Interrogatio Iohannis bzw. des Geheimen Abendmahl, eines dualistischen Apokryphon, bezeugt, dessen Kolophon vermerkt, dass dies das ›Geheimnis‹ der Häretiker von Concorezzo (bei Monza) sei, welches von Bulgarien zu ihrem ›Bischof‹ Nazarius gelangt sei.14 Sowohl die Polemiker und Inquisitoren als auch – in geringerem Maße – die Katharer selbst verweisen vierfach nach Osten: Erstens in der Person des Niketas, dessen durchgängig angeführte Apposition papa(s) höchstwahrscheinlich das griechische pappas (p\ppar) meint und schon allein dadurch an einen heterodoxen byzantinischen Religiosen denken lässt. Außerdem wird Niketas als tellexit quod papas Nicheta male finierat vitam suam, et ideo voluit ire ultra mare ut reciperet ordinem episcopalem ab episcopo de Bulgaria. Et quando fuit in Calabria, invenit quemdam diaconum catharorum qui dicebatur Illarius, qui dixit ei quod nullo modo posset ire ultra mare; unde cepit reverti. Ebd.: 309. Dass es in Konstantinopel tatsächlich ein lateinisches Katharer-›Bistum‹ gegeben haben könnte, geht aus Hugo Eterianos Traktat Contra Patarenos hervor. Darin richtet sich der Autor nämlich gegen dortige dualistische Häretiker westlicher Provenienz, deren Glauben stark an die Katharer erinnert. 13 Nazarius uero quondam eorum episcopus et antiquissimus coram me et aliis multis dixit quod beata Virgo fuit angelus, et quod Christus non assumpsit naturam humanam sed angelicam, siue corpus celeste, et dixit quod habuit hunc errorem ab episcopo et filio maiore ecclesie Bulgarie iam fere elapsis annis LX. Ebd.: 58. 14 Explicit secretum hereticorum de Concorresio portatum de Bulgaria Nazario suo episcopo plenum erroribus. Le livre secret: 86. Biget (2003: 149 f.) findet es abenteuerlich, den Ursprung der Interrogatio Iohannis nur aufgrund der Endklausel in Bulgarien bzw. bei den Bogomilen zu suchen: Nichts würde die Korrektheit des Kolophon bezeugen, und im gräkobulgarischen Raum sei bislang kein griechisches oder slavisches Exemplar des Apokryphon ausgemacht worden. Gleichzeitig gilt allerdings auch, dass nichts gegen die Korrektheit des Kolophon spricht. Die Information Ranieri Sacconis, dass ein gewisser Nazarius bestimmte (Irr-)Lehren von einem ›Bischof‹ der ecclesia Bulgariae gelernt habe, lässt die fragliche Phrase eher als stimmig erscheinen – es sei denn, man bezweifelt auch diese Aussage.
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häretischer ›Bischof‹ aus Konstantinopel beschrieben, der den ordo Drugonthiae in den Westen gebracht hat. Zweitens wird der Ursprung des Katharertums immer in Bulgarien und Drugonthia verortet. Aus Bulgarien scheinen die westlichen Katharer ihren ersten ordo empfangen zu haben; dann folgte jener aus Drugonthia. Dort – und in Bosnien – suchten sie Legitimation, wenn ihr Glauben in Frage stand. Und nicht zuletzt kam vielleicht auch einer der wenigen überlieferten originär katharischen Texte, die Interrogatio Iohannis, aus Bulgarien. Drittens scheint Konstantinopel ein wichtiger Knotenpunkt des Katharertums gewesen zu sein. Von dort aus kam Niketas in den Westen, dort existierte ein griechisches und lateinisches ›Bistum‹, von dort gelangte die Häresie nach Bosnien und nach Frankreich. Viertens werden permanent bestimmte Regionen ›jenseits des Meeres‹ als katharisch infiziert dargestellt: abgesehen von Bulgarien, Drugonthia und Konstantinopel namentlich Dalmatien bzw. Bosnien, Philadelphia und Melenguia, also slavische und griechische Gebiete. Alles legt den Transfer von (häretischem) Gedankengut vom Osten her nahe. Die zitierten Quellen sind dabei nicht unproblematisch. Wie schon angemerkt, ist die Charta des Katharerkonzils von Saint-F¤lix höchst umstritten (siehe Anm. 3), und bei den polemischen und inquisitorischen Texten handelt es sich um Fremdbeschreibungen der rechtgläubigen, antihäretischen Speerspitze, von der anzunehmen ist, dass sie das Katharertum zu diskreditieren suchte.15 Was die Charta angeht, würde sie auch eine Verbindung zum Osten dokumentieren, wenn sie nicht originär katharisch und erst im 13. Jahrhundert entstanden wäre. Die besprochenen Streitschriften müssen sich den Vorwurf Jean-Louis Bigets (2003: 161) gefallen lassen, sie hätten den Ursprung des Katharertums nur aus Xenophobie und politischen Ost-West-Gegensätzen heraus im Orient verortet. Darin seien sie der patristischen Tradition gefolgt, die im Osten eine »r¤gion mal¤fique et perverse« gesehen hätte. Und wenn die Zeitgenossen die häretischen Vorfälle von Orl¤ans (1022) und Arras (1025) nach Italien zurückverfolgten, sei dies nur geschehen, weil »[p]our les gens du Nord, la p¤ninsule repr¤sente alors l’exotisme et la perversion«. Des Weiteren nennt Biget die Kreuzzüge des 12. Jahrhunderts, die Spannungen zwischen Friedrich I. Barbarossa und Manuel I. Komnenos (1161 – 1164), die Handelsstreitigkeiten zwi15 Der polemische Charakter jener Texte geht oft schon aus ihren Titel hervor, wie folgende Beispiele zeigen: Eckbert von Schönau, Sermones contra Catharos (1163), Magister Vacarius, Liber contra multiplices et varios errores (1185 – ca. 1200), Praepositinus von Cremona ( ? ), Summa contra haereticos (1184 – 1210), Durandus von Huesca, Liber Antiheresis (1190 – 1194) und Liber contra Manicheos (1222 – 1223), Petrus von Verona (?), Summa contra patarenos (ca. 1235), Giacomo Capelli, Summa contra haereticos (1240 – 1260), Moneta von Cremona, Adversus catharos et valdenses libri quinque (ca. 1241). Zur verwandten Problematik der Interpretation von Inquisitionsprotokollen siehe Grundmann (1965); Lerner (1972: 4 – 6); Merlo (1977: 11 – 15); Arnold (2001: 4 – 12); Biller & Bruschi (2003).
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schen dem Westen und Byzanz sowie das Lateinische Kaiserreich von Konstantinopel (1204 – 1261). Außerdem gibt er die westlichen Differenzen mit Bulgarien und Griechenland sowie die päpstlichen Probleme mit Dalmatien, Ungarn und dem Balkan an.16 Abgesehen davon, dass diese Ereignisse genauso gut als Möglichkeit zu (häretischem) (Ideen-)Austausch zwischen Ost und West interpretiert werden können bzw. müssen, scheinen sie auf die zitierten Streitschriften keinerlei negativen Einfluss gehabt zu haben. Letztere beschreiben die Herkunft bzw. Geschichte des Katharertums äußerst neutral und sprechen an keiner Stelle von ›unheilvollen‹, ›perversen‹ Gegenden. Eher trifft in diesem Falle Bernard Hamiltons Diktum zu, dass, da Häresie im Mittelalter mit Krankheit gleichgesetzt wurde, ihre Gegner es als notwendig erachtet haben müssen, selbige wirklichkeitsgetreu zu identifizieren. Eine Fehldiagnose hätte eine unwirksame Behandlung zur Folge gehabt.17 Wollte man Häretiker diffamieren, gab es effizientere Mittel, als ihren Ursprung über beinahe zwei Jahrhunderte hinweg im immer selben Osten (Bulgarien, Drugonthia und Konstantinopel) zu verorten – zum Beispiel den Topos nächtlicher, häretischer Konventikel, bei denen Dämonen beschworen, Satan in der Erscheinung eines Katers angebetet und sexuelle Orgien gefeiert wurden.18 Das Bestreben, eine möglichst genaue Beschreibung der religiösen Devianz zu verfassen, hatte dann aber sogar zur Folge, dass der franziskanische Inquisitor Giacomo Capelli die Katharer in seiner Mitte des 13. Jahrhunderts entstandenen antihäretischen Summe von solcherlei ungerechtfertigten Vorwürfen und verleumderischen Gerüchten freisprach.19 Einen ähnlichen Ansatz vertrat zur gleichen Zeit die anonyme Disputatio inter Catholicum et Paterinum hereticum 16 Siehe ebd.: 161 f. Eine differenziertere Sichtweise der Katharer als vermeintliche Fremdkörper vertritt Bozûky (2000). 17 Siehe Hamilton (2006: 95). Zum Zusammenhang zwischen Häresie und Krankheit siehe Moore (1983). 18 Siehe hierzu Merlo (1988) und insbesondere Patschovsky (1991), der hierin (331 f.) noch einmal auf die Möglichkeit – nicht die Notwendigkeit! – aufmerksam macht, die (Fremd-) Bezeichnung ›Katharer‹, von der sich das deutsche Wort ›Ketzer‹ etymologisch herleitet, auf den ›Kater‹, lateinisch: cattus, zurückzuführen – wie das beispielsweise Alan von Lille (neben zwei weiteren Erklärungsmodellen) und Konrad von Marburg tun. Auch in der Disputatio inter Catholicum et Paterinum hereticum (ca. 1250) werden die Katharer als ministri Sathane bezeichnet. […] [D]iabolici estis, heißt es dort, qui etiam occulte Luciferum adoratis. Disputatio: 15, 51. 19 Viri enim et mulieres illius secte, votum et propositum observantes, nullo modo corruptione luxurie fedantur […] profecto fama fornicationis que inter eos esse dicitur falsissima est. Nam verum est quod semel in mense, aut in die aut in nocte propter rumorem populi vitandum et viri et mulieres conveniunt non ut fornicentur ad invicem, ut quidam mentiuntur, sed ut predicationem audiant et confessionem [peccatorum] prelato suo faciant […]. Multis quidem blasphemiarum calumniis a vulgari fama falso dilacerantur dicentibus illos multa turpia et horrenda facta committere e quibus sunt innocentes. Giacomo Capelli, Summa: CLVIIf. Siehe hierzu auch Ilarino da Milano (1940: v. a. S. 76 f.); Thouzellier (1975).
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(77), die teilweise die Kirchenkritik der Katharer – und ja überhaupt aller Reform- bzw. Laienbewegungen v. a. der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts – akzeptiert: »Wir wissen, dass sich in der römischen Kirche Ehebrecher, Habgierige, Ehrsüchtige und reißende Wölfe befinden« (Adulteros, avaros, ambitiosos, luposque rapaces in ecclesia romana esse cognoscimus). Diffamierung erfolgte zumeist anders – beispielsweise, indem die Uneinigkeit und Zerstrittenheit der Katharer mit der Einheit und Harmonie der Katholiken kontrastiert wurde20 oder indem die Häretiker als »böswillig, einfältig, kläglich, überaus frevelhaft sowie heuchlerisch« (maligni, stulti, miseri, sceleratissimi, ypocritae) beschimpft und ihre Lehren als errores sowie falsissime bezeichnet wurden.21 Im Übrigen war der Osten im Mittelalter durchaus auch positiv konnotiert. Dies geht schon allein aus den Mappae Mundi hervor, jenen Weltkarten, die ja weniger eine maßstabsgetreue geographische Wiedergabe der Welt zum Ziel hatten, als vielmehr eine symbolische Darstellung des Weltbildes bzw. eine Vergegenwärtigung der (Heils-)Geschichte.22 Fast alle christlichen Weltkarten waren nach Osten ausgerichtet (›orientiert‹); ab dem ersten Kreuzzug wird Jerusalem stets im Zentrum des Erdkreises abgebildet.23 Damit kamen die Kartographen dem Propheten Ezechiel und seinem Erzexegeten Hieronymus nach, jene Stadt zum Umbilicus Mundi zu machen.24 Jerusalem wird als die Stätte des Wirkens, Leidens, Sterbens und Auferstehens Christi verstanden, dessen Parusie gemäß Matthäus 24,27 ebenfalls vom Osten her erwartet wird.25 Im Osten hat sowohl das Christentum als auch das Mönchtum seinen Ursprung; dort sind auch die Predigtorte und Gräber der Apostel verzeichnet. In Asien werden Mitchristen gesucht, die dem Westen im Kreuzzug zur Seite stehen (siehe Von den Brincken 2008b & f); am östlichen Ende der Welt herrscht der Priesterkönig Johannes, der als möglicher Verbündeter im Kampf gegen die Ungläubigen 20 Siehe zum Beispiel Salvo Burci, der in seinem Liber Supra Stella immer wieder auf die Zersplitterung der Katharer aufmerksam macht, zwischen den verfeindeten Albanensern und Concorezzanern unterscheidet und auf die Streitigkeiten selbst innerhalb dieser Gruppen hinweist. Die so bewiesene Uneinigkeit und Dissonanz soll zeigen, dass man es hier nicht mit der wahren Kirche Gottes zu tun haben kann. Salvo Burci, Liber Supra Stella: 309. 21 Zu maligni, stulti und miseri siehe ebd.: 308 f., 311, 317, 329; zu sceleratissimi und ypocritae siehe die Disputatio: 13 f., 18, 79. Siehe hierzu allgemein Grundmann (1927). 22 Zu den Mappae Mundi im Mittelalter siehe v. a. Von den Brincken (2008). 23 Zu Jerusalem im Mittelalter siehe Bauer, Herbers & Jaspert (2002); Wieczorek (2005). Zu Jerusalem auf Mappae Mundi siehe Von den Brincken (2008d); Baumgärtner (2002). 24 Ezechiel 5,5: […] haec dicit Dominus Deus ista est Hierusalem in medio gentium posui eam et in circuitu eius terras […]. In Hieronymus’ Ezechielkommentar heißt es dazu wie folgt: Jerusalem in medio mundi sitam, hic item propheta testatur, umbilicum terrae eam esse demonstrans […]. Hieronymus, Commentariorum: 56 (cap. II,5). Zu Jerusalem als Umbilicus Mundi siehe Baumgärtner (2005). 25 Matthäus 24,27: Sicut enim fulgur exit ab oriente et paret usque in occidente ita erit et adventus Filii hominis.
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vorgestellt wird (siehe Knefelkamp 1986; Von den Brincken 1985). Ebenfalls im entlegensten Osten ist das Paradies samt seiner vier Flüsse angesiedelt, dem eine einzigartige eschatologische Bedeutung zukommt.26 Das Böse hingegen, das Unheilvolle und Perverse, ist sowohl im fernsten Nordosten als auch im äußersten Süden untergebracht. Im Nordosten verzeichnen vor allem die englischen Kartographen sowohl die Endzeitvölker Gog und Magog als auch die eingeschlossenen Nationen;27 am südlichen Kartenrand befindet sich der vierte Kontinent, der die Terra Incognita versinnbildlicht (siehe Von den Brincken 1992: v. a. 193 – 202; dies. 2008c). Dort sind insbesondere im 13. Jahrhundert vielgestaltige Monstergalerien abgebildet. Und wenn Kaiser Friedrich II. in einem Rundschreiben vom 3. Juli 1241 den plötzlichen Einfall der Mongolen bzw. Tataren nach Europa thematisiert, lässt er sie aus dem heißen Süden, dem entlegensten Ende der Welt kommen.28 Matthäus Paris versucht Friedrich daraufhin in seiner Chronik vom Vorwurf zu befreien, er habe als Antichrist jenes apokalyptische Endzeitvolk herbeigerufen, und lokalisiert den Ursprung der Tataren in gänzlich unbekannten Regionen.29
26 Offenbarung 21,2 und 10: […] et civitatem sanctam Hierusalem novam vidi descendentem de caelo a Deo paratam sicut sponsam ornatam viro suo […]; […] et sustulit me in spiritu in montem magnum et altum et ostendit mihi civitatem sanctam Hierusalem descendentem de caelo a Deo […]. 27 Siehe Von den Brincken (1989). Der (skandinavisch-slavische) Norden wurde noch bis ins 12. Jahrhundert (als Hamburg-Bremer Missionsraum) als aquilo bezeichnet. Siehe Fraesdorff (2005: v. a. S. 355). Von den Brincken (2008e: 181) hat darauf hingewiesen, dass Nordund Osteuropa auf den Weltkarten des frühen und hohen Mittelalters merkwürdig ineinander fallen. Dies würde auch erklären, »wie die Bezeichnung Dacia, in der Antike und auch noch bei Beatus von Li¤bana Dakien, nicht nur für das Land am Schwarzen Meer, sondern auch für Dänemark gebräuchlich wurde«. Wo einzelne südosteuropäische Regionen liegen, war folglich nicht immer eindeutig: »Südosteuropa erhält seine kartographisch korrekte Ausgestaltung im Abendland seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts.« Ebd.: 185. Siehe hierzu auch dies. (2008a). 28 Egressa enim dudum ex ultimis mundi finibus de regione australi, que diu sole sub torrida zona tosta latuerat, que postea, versus partes borealis occupatis violenter regionibus, diu manens ut brucus multiplicatur, gens barbare nacionis et vite, quo nescimus a loco vel origine, Tartari nuncupata, non absque previsio Dei iudicio ad sui populi correptionem et correccionem, non utinam ad tocius christianitatis dispendium ad hec novissima tempora reservatur. [Das Rundschreiben ist einzig in der Chronik des Matthäus Paris überliefert:] Matheus Parisiensis, Ex Cronicis Maioribus: 210. Die Mongoleneinfälle machten den Westen auf den fernen Osten aufmerksam und ließen transkontinentale Kontakte zwischen Europa und Asien entstehen: »Nach ersten kriegerischen Auseinandersetzungen führten die innerhalb kürzester Zeit einsetzenden Asienreisen neugierige Kaufleute, Diplomaten und Missionare zu weiterreichenden ›Kulturberührungen‹, die letztendlich das Weltbild des Abendlandes grundlegend veränderten.« Baumgärtner (1997: 228). Siehe hierzu auch Dawson (1955). 29 Dicitur enim in ea, gentem ipsam ignotam Tartarorum ab australibus mundi, que sub torrida zona sunt, partibus erupisse, quod evidenter apparet ficticium. Non enim audivimus, eos australes vel etiam orientales partes peragrasse. Occulta insuper eorum consilia et investi-
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Weder war der Osten im Mittelalter folglich gemeinhin negativ konnotiert, noch wird er in den zitierten Streitschriften schlecht dargestellt. Der Hinweis auf den Ursprung des Katharertums in Bulgarien, Drugonthia und Konstantinopel, welcher allen Quellen gemein ist, kann daher nicht als Polemik abgetan werden, sondern muss im Gegenteil äußerst ernst genommen werden. Die Konflikte zwischen Ost und West im 12. und 13. Jahrhundert hatten den Nebeneffekt, die kulturelle Auseinandersetzung zwischen Morgen- und Abendland zu fördern, was eher für als gegen einen Transfer von (häretischen) Ideen spricht. Im Osten, in Bulgarien, hatte aber im 10. Jahrhundert der Dorfpriester Bogomil30 ein dualistisches Glaubensgebäude entworfen, das im Laufe des 11. Jahrhundert seinen Weg auch nach Konstantinopel finden sollte.31 Inwiefern das Katharertum dem Bogomilismus ähnelt, wurde und wird in der Forschung genauso kontrovers diskutiert, wie die Frage – wenn –, wie und wann jene Häresie vom Orient in den Okzident gelangt sein könnte.32 Lange galt, dass, wie Bernard Hamilton 1994 behauptete, »[n]o reputable scholar […] doubts that Catharism was an offshoot of medieval eastern dualism«33. Allerdings hatte dies schon zuvor Herbert Grundmann (1935: 27) relativiert, indem er die Katharer nicht ausschließlich auf die Bogomilen zurückführte, sondern ihre eigentlichen Wurzeln in den apostolischen, teils häretischen Reformbewegungen des 11. und frühen 12. Jahrhunderts sah. Ab 1140 hätte dann der östliche Dualismus den westlichen, häretischen Bewegungen neue Kraft verliehen. Unter dem Einfluss des postmodernen Dekonstruktivismus ist jüngst vermehrt darauf hingewiesen worden, dass der Zusammenhang zwischen Bogomilen und Katharern längst nicht so groß sei, wie allgemein angenommen und dass weder evident noch unwiderlegbar sei, dass eine solche Verbindung je existiert habe.34
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gabiles ipsorum Tartarorum via set conspiraciones quam plures plenas esse imperialibus consiliis suspicantur […]. Matheus Parisiensis, Ex Cronicis Maioribus: 213. Das Wenige, was über die Person Bogomils bekannt ist, stammt aus dem Diskurs des bulgarisch-orthodoxen Priesters Kosmas (10. Jahrhundert). Darin heißt es wie folgt: »Während der Herrschaft des guten christlichen Zaren Peter [I.] lebte ein (Dorf-)Priester namens Bogu milu˘, [d.h.] ›des Erbarmens bzw. der Liebe Gottes würdig‹, aber eigentlich Bogu nemilu˘, [d.h.] ›des Erbarmens bzw. der Liebe Gottes unwürdig‹, der in Bulgarien als erster die Häresie predigte.« Kosmas, Le Trait¤: 54. Diese alternative Schreibweise des Namens – Bogumil – wird nur verwendet, um das Wortspiel (mit Bogu nemil) vorzubereiten. Ansonsten ist immer von Bogomilu˘ die Rede, was dem griechischen Theophilos und dem deutschen Gottlieb entspricht. Siehe ebd., Anm. 3. Mit Blick auf die bulgarische Geschichte hat Fine (1983: 179) allerdings bemerkt, dass »Bogomilism’s importance has been tremendously exaggerated in all historical works« und dass »one would be justified in writing a history of medieval Bulgaria without the Bogomils at all«. Stephenson (2000) erwähnt die Bogomilen in seiner Monographie noch nicht einmal. Einen guten Einblick in die Diskussion gewährt Bozûky (2003). Hamilton (1994: 38). Insbesondere die slavische Forschung hat die unmittelbare Abkunft der Katharer von den Bogomilen unterstrichen. Siehe v. a. Angelov (1978); Semkov (1981). Siehe v. a. Pegg (2001a: 185 – 188); Zerner (1998 & 2001b); Biget (2003). Zu einer Kritik der
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Die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Häresien sind allerdings nicht zu übersehen.35 Grundlegend teilen beide eine dualistische Kosmogonie und eine umfassende Kirchenkritik. Beide glauben, Gottvater habe die gute, spirituelle, himmlische Welt geschaffen, Satan die böse, materielle, irdische (siehe Kosmas, Le Trait¤: 181 – 188; Rottenwöhrer 1990: 74 – 79, 97 – 99). Infolgedessen wird der Großteil des Alten Testaments abgelehnt und alles Materielle verabscheut (siehe Kosmas, Le Trait¤: 168 – 177; Rottenwöhrer 1990: 95 f.). Die Trinität wird als eine Person mit drei unterschiedlichen Gesichtern vorgestellt (siehe Kosmas, Le Trait¤: 178 – 181; Rottenwöhrer 1990: 76 f., 92). Die (Amts-)Kirche wird als Dienerin des Teufels ebenso abgewiesen wie Kirchengebäude, die Verehrung des Kreuzes, der Jungfrau Maria, der Heiligen bzw. Ikonen und der Reliquien sowie v. a. die Sakramente der Ehe und der Wassertaufe (siehe Kosmas, Le Trait¤: 203 – 209, 213 – 237; Rottenöhrer 1990: 90 – 92, 100, 108 – 111). Stattdessen wird behauptet, selbst die apostolische, evangeliumsgemäße Kirche zu sein (siehe Kosmas, Le Trait¤: 150 – 152; Rottenwöhrer 1990: 86 f.), derer man durch die Geistes- bzw. Feuertaufe teilhaftig wird.36 Sowohl die Bogomilen als auch die Katharer gebrauchen ausschließlich und nachdrücklich das Vaterunser (siehe Kosmas, Le Trait¤: 245 – 249; Rottenöhrer 1990: 106 f.). Beide fasten an den Wochentagen Montag, Mittwoch und Freitag (siehe Kosmas, Le Trait¤: 244; Rottenwöhrer 1990: 114); beide halten sich von jeglicher tierischen – mit der Fortpflanzung zusammenhängender – Ernährung (Fleisch, Eier, Milch und Käse) fern und üben auch anderweitig extreme Askese (siehe Kosmas, Le Trait¤: 260 – 272; Rottenwöhrer 1990: 113). Sie greifen auf ein gemeinsames Repertoire an Metaphern, Allegorien und Erzählungen zurück, um die Schöpfung, das Alte Testamen und große Teile des Neuen Testaments zu erläutern und zu allegoridekonstruktivistischen Lesart der Katharerforschung siehe Roquebert (2005). In der Waldenserforschung hat der Dekonstruktivismus dazu geführt, nicht mehr vom (einen) ›Waldensertum‹ sonder von (mehreren) ›Waldensertümern‹ zu sprechen. Siehe Merlo (1984 & 1991); Cameron (1984). Zu einer Kritik hieran siehe Biller (2006). 35 Zu den Bogomilen allgemein siehe Obolensky (1948) ; Hamilton & Hamilton (1998). Zum ursprünglichen, bulgarischen Bogomilismus siehe ebd.: 114 – 134 ; Kosmas, Le Trait¤: 53 – 128. Zu den Bogomilen in Konstantinopel siehe die Abhandlung des Euthymios, Mönch des Periblepton-Klosters in Konstantinopel (um 1045), in ebd.: 142 – 164, Anna Komnenas Bericht über den Prozess gegen den Bogomilen Basil im fünfzehnten Kapitel ihrer Alexiade, in: ebd., S. 175 – 180 und die Panoplia dogmatica des Euthymios Zigabenos, [auszugsweise] in: ebd.: 180 – 207. Ein Vergleich zwischen den Bogomilen und den Katharern ist zu finden bei Puech (1979); Rottenwöhrer (1990: 74 – 114; 570 f.); Lambert (2001: 32 – 35). Natürlich ist weder der Bogomilismus noch das Katharertum derart geschlossen und stimmig wie im Folgenden dargestellt. Beide Bewegungen weisen je nach Zeit und Raum unterschiedliche Ausdrucksformen auf. Da es hier aber lediglich um die wichtigen, großen Linien gehen soll, wird auf eine derartige Ausdifferenzierung verzichtet. 36 Siehe Kosmas, Le Trait¤: 250 – 255; Rottenwöhrer (1990: 102 – 105). Mit dem Initiationsritus sowohl der Bogomilen als auch der Katharer hat sich 1993 der 20. Jahrgang der Zeitschrift »Heresis« befasst. Siehe hierin v. a. Hagman.
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sieren (siehe Kosmas, Le Trait¤: 188 – 205; Rottenwöhrer 1990: 79 f., 89). Den Sündenfall betreffend, habe zum Beispiel Satan im Körper einer Schlange Eva verführt und mit ihr geschlechtlich verkehrt. Christus wiederum habe auf Erden nur über einen Scheinleib verfügt, habe nur scheinbar gelitten und sei nur scheinbar gestorben. Seine Wunder hätten nicht physisch stattgefunden, sondern seien symbolisch zu verstehen (siehe Kosmas, Le Trait¤: 205 – 213; Rottenwöhrer 1990: 75 – 91, 99 f.). Wie Malcolm Lambert (2001: 38) konstatiert hat, fehlen zwar nach wie vor »sichere Belege für ein bogomilisches Eindringen in den Westen und die darauf folgende Verbreitung ihrer Glaubensauffassungen«; dennoch frappiert aber die große Übereinstimmung der Rituale und (Glaubens-)Vorstellungen beider Häresien, so dass »gewisse Kommunikationswege persönlicher, mündlicher oder schriftlicher Art angenommen werden [müssen]«37. Wann und wie ein solcher Transfer von (häretischen) Ideen stattgefunden haben mag, wird rege diskutiert. Heikel ist dabei, dass die Häresien, die im Westen seit dem frühen 11. Jahrhundert überliefert sind, einerseits gelegentlich als ›manichäisch‹ bezeichnet werden, andererseits Glaubensinhalte aufweisen, die sich teilweise mit jenen der Bogomilen bzw. Katharern überschneiden. Die spätantike dualistische Häresie der Manichäer war dem Mittelalter durch Augustinus bekannt, der in Nordafrika selbst ein Jahrzehnt lang ›Hörer‹ jener Sekte gewesen war, bevor er sich von ihr abgewandt und sie in zahlreichen Schriften bekämpft hatte.38 Die Polemiker des 12. und 13. Jahrhunderts sahen in den dualistischen Katharern daher unweigerlich die Nachfahren der Manichäer bzw. gar die Neo-Manichäer.39 Was bedeutet es aber, wenn Häretiker im 11. und 37 Lambert (2001: 34). Infolge dessen rechnen v. a. Duvernoy (1976, 1978 & 1993), Hagman (1994) und Brenon (1996) die Bogomilen und Katharern ein und derselben, einheitlichen – übrigens mehr christlichen als dualistischen – Religion zu. Brenon, von 1982 bis 1998 Direktorin des »Centre National d’Ãtudes Cathares Ren¤-Nelli« in Carcassonne, gründete 1983 die Zeitschrift Heresis, welche sich stark für diese Sichtweise einsetzt. 38 Augustinus verfasste dreizehn Werke gegen die Manichäer: De moribus ecclesiae catholicae et de moribus Manichaeorum libri duo, De libero arbitrio libri tres, De Genesi contra Manichaeos libri duo, De vera religione, De utilitate credendi ad Honoratum, De duabus animabus, Disputatio contra Fortunatum Manichaeum, Contra Adimantum, Contra epistolam Manichaei quam vocant fundament, Contra Faustum libri XXXIII, De actis cum Felice Manichaeo libri duo, De natura boni, Contra Secundinum Manichaeum. Siehe hierzu Lee (1999); Van Oort (2001). 39 Siehe z. B. den schon zitierten Traktat von Anselm von Alessandria, der die Geschichte der Katharer bei Mani anfangen lässt, den Liber contra Manicheos des Durandus von Huesca oder aber auch die Disputatio inter Catholicum et Paterinum hereticum (XXVIII), deren ursprünglicher Titel Contra Manicheos qui Patareni dicuntur lautet. Hierin folgte ihnen lange die (Katharer-)Forschung. Siehe Douais (1879); Dondaine (1939); Runciman (1947); Obolensky (1948); Soederberg (1949); Borst (1953); Stoyanov (2000). Schmidt (1849), der Pionier der modernen Katharerforschung, hatte sich hiergegen allerdings schon Mitte des 19. Jahrhunderts ausgesprochen. Zu Schmidt siehe Hamilton (1998: v. a. 192 – 196). Pegg
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frühen 12. Jahrhunderts als ›Manichäer‹ bezeichnet werden? Der Umkehrschluss würde nahe legen, dass damit ebenfalls dualistische Glaubensinhalte gekennzeichnet werden sollten und es sich also um (Proto-)Katharer handelt.40 Jene ›Manichäer‹ beispielsweise, die der Chronist Ademar von Chabannes 1018 in Aquitanien ausmacht, weisen in seiner knappen Charakterisierung Merkmale auf, die durchaus als katharisch interpretiert werden können: Sie lehnen die Taufe, das Kreuz und alle vernünftigen Kirchenlehren ab, essen kein Fleisch, treten wie Mönche auf und täuschen Keuschheit zumindest vor.41 Vier Jahre später identifizierte Ademar ›Manichäer‹ in Orl¤ans, die er denkbar unkatharisch beschreibt: Sie hätten sich von einem Bauern verführen lassen, der behauptetet habe, er könne ihnen große Kraft geben, und der Pulver aus toten Kindern besessen habe, das bei Berührung augenblicklich zum ›Manichäer‹ machte. Jene Häretiker hätten den Teufel verehrt, der ihnen einmal als Äthiopier, ein anderes Mal als Engel des Lichts erschienen sei, und der ihnen täglich Geld verschafft habe. Heimlich hätten sie Christus verworfen, gesündigt und Verbrechen begangen, während sie öffentlich vorgegeben hätten, wahre Christen zu sein.42 Großzügig gesehen, könnte noch die Verwerfung Christi als doketistisch (2001a: 182 f.) beschreibt diese »powerful intellectualist and idealist bias« wie folgt: »All heresies, like all religions, are understood to be nothing more than distinctive attitudes, abstract doctrines, clear philosophies, elaborate discourses, pristine representations, in other words, intellectually pure entities, able to be cleanly sifted out from other less coherent ideas and, most crucially, never contaminated by material existence or historical specificity […]. The heresy of the good men, for instance, becomes nothing more than a set of stable dualist ideas (good God, bad God, benign spirit, evil matter) lodged in the heads of people – which, if those minds move, so too those vacuum-sealed beliefs. The original heresy, no matter how many different societies rose and fell through the decades, no matter how great the geographical and cultural differences, stays recognizably the same.« 40 Dieselben Wissenschaftler, die in den (Bogomilen und) Katharern Nachfahren der Manichäer sehen, gehen auch von einem (bogomilisch beeinflussten) (Proto-)Katharertum aus. Siehe Anm. 49. Zur seltenen Bezeichnung der Katharer als ›Arianer‹ seit dem 12. Jahrhundert siehe Manselli (1956); Congar (1959). 41 Paulo post exorti sunt per Aquitaniam Manichei, seducentes plebem. Negabant baptismum et crucem et quicquid sanae doctrinae est. Abstinentes a cibis, quasi monachi apparebant, et castitatem simulabant, sed inter se ipsos omnem luxuriam exercebant, et nuncii antichristi erant, multosque a fide exorbitare fecerunt. Ademari historiarum: 138. Siehe dazu auch den Hinweis Ademars von Chabannes für das Jahr 1020: His diebus concilium adgregavit episcoporum et abbatum dux Willelmus apud Sanctum Carrofum propter extinguendas haereses, quae vulgo a Manicheis disseminabantur. Ibi adfuerunt omnes Aquitaniae principes, quibus precepit pacem firmare et aecclesiam Dei catholicam venerari. Ebd.: 148. 42 Eo tempore 10 ex canonicis sanctae Crucis Aurelianis, qui videbantur esse religiosiores aliis, probati sunt esse Manichei […]. Nam ipsi decepti a quodam rustico, qui se dicebat facere virtutes, et pulverem ex mortuis pueris secum ferebat, de quo si quem posset communicare, mox Manicheum faciebat, adorabant Diabolum, qui primo eis in Aetyopis, deinde angeli lucis figuratione apparebat, et eis multum cotidie argentum deferebat. Cuius verbis obedientes, penitus Christum latenter respuerant, et abhominationes et crimina, quae dici etiam flagitium est, in occulto exercebant, et in aperto christianos veros se fallebant. Ebd.: 143. Im selben
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und also katharisch ausgelegt werden; alle anderen Punkte – Magie, Infantizid, Teufelsanbetung und Heuchelei – sind polemische Gemeinplätze, die daran zweifeln lassen, ob die Bezeichnung ›Manichäer‹ hier tatsächlich verwendet wurde, um Dualismus und also (Proto-)Katharismus zu indizieren.43 Auch sprechen die vier weiteren Zeugen jenes gut dokumentierten Vorfalls – Johannes von Ripoll, Andreas von Fleury, Rodulfus Glaber und Paul von Saint-Pºre in Chartres – nirgends von ›Manichäern‹ und schreiben den Häretikern gänzlich unkatharische Merkmale wie Promiskuität und Hedonismus zu.44 Rodulfus Glaber verortet jenen ›Irrglauben‹ sogar außerhalb jeglicher heterodoxer Tradition, wenn er sagt, er sei einfältiger und kläglicher als jede antike Häresie.45 Das Bild eines (Proto-)Katharertums entsteht nur dann, wenn man alle – teilweise sehr unterschiedlichen und insgesamt in verschiedenem Maße zuverlässigen – Berichte übereinander legt, wegschneidet, was un- oder gar antikatharisch ist, und als katharisch erklärt, was zunächst einmal lediglich apostolisch, asketisch und antiklerikal ist.46 Denn, um ein Beispiel zu nennen: Die Katharer verzichten
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Jahr entdeckt Ademar von Chabannes auch ›Manichäer‹ in Toulouse, über die er sich allerdings nur äußerst lakonisch äußert: Nihilominus apud Tolosam inventi sunt Manichei, et ipsi distructi […]. Ebd. Die species pietatis (nach 2. Timotheus 3,5) bzw. hypocrisis stellt eine der beiden Hauptmerkmale des mittelalterlichen Häretikertypus dar. Die Heuchelei aber ist Frucht der superbia, dem anderen wichtigen Merkmal. Siehe Grundmann (1927: v. a. 94 – 105). Einen guten Überblick über die fünf Berichte der Häresie von Orl¤ans (1018) bietet Gorre (1982: 56 – 119). His dictis, continuo palam exposuerunt omnium antiquarum stultissimam ac miserrimam, nempe sui deceptricem heresem. Rodulfus Glaber, Historiarvm: 140 f. Außerdem heißt es hierzu bei Glaber (ebd.: 142 f.) (ganz unkatharisch) wie folgt: Dicebant ergo deliramenta esse quicquid in veteri ac novo canone certis signis ac prodigiis veteribusque testatoribus de trina et una deitate beata confirmat auctoritas. Celum pariter ac terram, ut conspiciuntur, absque auctore inicii semper exitisse asserebant. Et cum universarum heresum insanientes canum more latrantes deterrima, in hoc tamen Aepicureis erant hereticis similes, quoniam voluptatum flagitiis credebant non recompensari ultionis vindictam. Omne Christianorum opus, pietatis dumtaxat et iusticie, quod estimatur precium remunerationis eterne, laborem superfluum iudicabant esse. Morghen (1951: 212 – 286) bestritt Mitte des 20. Jahrhunderts am prominentesten, dass die Häresien des 11. und frühen 12. Jahrhunderts als (proto-)katharisch zu verstehen seien. Er versuchte die fraglichen Glaubenspunkte aus der christlichen Tradition selbst herzuleiten und akzeptierte die bogomilisch-dualistische Einflussnahme erst ab 1143. Siehe auch dens. (1957: 82 – 104; 1966). Den Grundstein hierzu hatte zuvor schon Grundmann (1935: S. 23 f.) gelegt: »Drittens endlich hat sich die Armutsidee und die apostolische Wanderpredigt im Laufe des 12. Jahrhunderts in manchen Kreisen, besonders in Südfrankreich und in der Lombardei, mit dualistischen Weltlehren verbunden und ist, ohne Zweifel vom griechischen Osten her, immer mehr von spekulativen Ideen durchdrungen worden, in denen ein großer Teil der manichäischen Kosmogonie und Mythologie seltsam wieder auflebte.« Dem widersprach augenblicklich Dondaine (1952), der sich entschieden gegen eine indigene Genese der Häresien des 11. Jahrhunderts aussprach. Morghens Schüler Manselli (1963: 118 – 138) und Violante (1968) übernahmen seine Sichtweise und entwickelten sie weiter. Siehe zu
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nicht einfach nur auf Fleisch und Fett, wie das Johannes von Ripoll seinen Häretikern attestiert, sondern sie lehnen auch gleichzeitig Milch und Eier ab. Solch ein Kuriosum hätte dem Schreiber genauso auffallen müssen, wie die katharische Begründung für dasselbige – dass jene tierischen Produkte nämlich mit der Fortführung der materiellen, bösen Welt zusammenhängen. Ähnlich verhält es sich mit der Taufe, deren Gnadenwirkung die Katharer ja nicht einfach negieren, sondern vermittels der Feuer- bzw. Geistestaufe durch Handauflegung ersetzen.47 Auch Paul von Saint-Pºre in Chartres stellt vermeintlich katharische Merkmale wie Doketismus, Ablehnung der Taufe und Eucharistie, Negation der Heiligenverehrung48 sowie Handauflegung zur Sündenvergebung und Geistbe-
dieser Linie aber auch Thouzellier (1954); Puech (1979); Moore (1977); Stock (1983: v. a. 98 f., 102 f.); Lobrichon (1992). Lambert (1977: 31) hatte zuerst noch behauptet, dass manche Doktrinen der Häresien des 11. Jahrhunderts Bestandteile enthalten würden, die weder einer westlichen Reformbewegung noch irgendeiner anderen gesellschaftlichen Umwälzung jener Zeit entspringen könnten: »They require that we postulate the intervention of a non-Western force.« In der zweiten Auflage seiner Monographie (1992: 9 – 32), die nun bezeichnenderweise keine Bogomilen mehr im Titel führt, hat er das zweite Kapitel, »Early Western Heresy and Eastern Dualism«, komplett gestrichen und das dritte Kapitel, »The Revival of Heresy in the West 1000 – 1051« gänzlich neu geschrieben. Auf S. 20, Anm. 21 gibt er zu, von Moore überzeugt worden zu sein. Eine dritte Lesart stellte Duvernoy (1976; 1978; 1981; 1993 & 1995) vor, der den Bogomilismus und das Katharertum als ein und dieselbe christliche Glaubensform interpretierte, die ausnahmslos auf der Bibel basieren würde und deren Dualismus ein sekundäres Phänomen sei. Ab der Jahrtausendwende habe diese (Gegen-)Kirche dann ihren Weg aus dem Osten in den Westen gefunden. Siehe hierzu aber auch Brenon (1995b); Hagman (1994). Der 2006 von Michael Frassetto herausgegebene Band »Heresy and the Persecuting Society in the Middle Ages« hat jüngst Aufsätze versammelt, in denen vermittels unverbrauchten Quellenmaterials – darunter v. a. der ins frühe 11. Jahrhundert vordatierte ›Brief‹ Heriberts von P¤rigord – und neuesten Erkenntnissen versucht wird, Moores These zugunsten derjenigen Dondaines zu widerlegen. Siehe hierin die Beiträge von Callahan, Frassetto & Hamilton. Moore selbst lässt im selben Sammelband die Debatte Revue passieren und gibt eine aktuelle Stellungnahme ab. Siehe aber auch schon zuvor Frassetto (1999); Taylor (2000). 47 Nam fecit rex Robertus vivos ardere de melioribus clericis sive de nobilioribus laicis prope XIIII ejusdem civitatis; qui, Deo odibiles perosique caelo et terrae abnegando abnegabant sacri baptismi gratiam, dominici quoque corporis et sanguinis consecrationem. Cum hoc, post perpetrata scelera viciorum, vitabant posse recipi veniam peccatorum. Enim vero cum his assercionibus, nupciis detraebant; a cibis etiam quos Deus creavit, hoc est a carne et adipe, tamquam ab inmundiciis, se abstinebant. Brief von Johannes von Ripoll aus dem Jahr 1023 an seinen Abt Oliva de Besalffl, in: Vita Gauzlini Abbatis Floriacensis Monasterii: 180 – 183. So vertreten im 11. und 12. Jahrhundert ja auch nachweislich nicht-katharische Häretiker Sichtweisen, die gemeinhin als entschieden katharisch verstanden werden (können). Petrus von Bruis lehnt beispielsweise die Realpräsens Christi in der Eucharistie, die Kindestaufe, die Fürbitte für Verstorbene, Kirchengebäude, das Kreuz und das Alte Testament ab. Siehe Fearns (1966: v. a. 321 – 326). 48 […] dicentes Christum de virgine Maria non esse natum, neque pro hominibus passum, nec vere in sepulchro positum, nec a mortuis resurrexisse; addentes in baptismo non esse ullam scelerum ablutionem, neque sacramentum corporis et sanguinis Christi in consecratione
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gabung49 hastig neben Topoi wie nächtliche Konventikel, Teufelbeschwörung, Orgien, Kinderverbrennung und magische Asche.50 Dass Paul seinen Bericht 60 Jahre nach den Ereignissen von Orl¤ans niederschreibt und seine Informationen bestenfalls aus dritter Hand stammen, lässt seine Glaubwürdigkeit nicht größer werden (siehe Gorre 1982: 62). Die häretischen Vorkommnisse von Arras (1025) (siehe Gerardus Cameracensis Episcopus I, Acta; Russell 1962), Montforte (1028) (siehe Landulfi historia: 65 f.), Chlons-sur-Marne (1046 – 1048) (siehe Anselmi gesta: 226 – 228), Goslar (1052) (siehe Herimanni Augiensis chronicon: 130; Lamberti Hersfeldensis annales: 155) und Soissons (1114) (siehe Guibert von Nogent, De vita sua: 951 – 953, cap. XVII) sind nicht so vielfältig dokumentiert, erinnern aber an Orl¤ans: Mutmaßlich katharische und un- oder gar antikatharische Merkmale stehen unkommentiert nebeneinander und werden durch wirklichkeitsferne Gemeinplätze ergänzt, während gleichzeitig jeglicher Hinweis auf eine östliche Provenienz fehlt. Der Begriff ›Manichäer‹ ist hier – wenn – offenbar gleichbedeutend mit ›Häretiker‹ gebraucht worden. Von veritablen Katharern scheint erst Everwin von Steinfeld 1143 zu berichten. In einem Brief schildert er Bernhard von Clairvaux einen Gerichtsprozess gegen Häretiker, die in der Nähe von Köln ausfindig gemacht worden waren. Zwei von ihnen – einer, den sie als ihren Bischof bezeichnet hatten, und sein Gefährte – waren nicht in die römische Kirche zurückgekehrt, sondern hatten versucht, sich durch Worte Christi und der Apostel zu verteidigen, und waren dann einer spontanen Lynchjustiz der aufgebrachten Menge zum Opfer gefallen.51 Everwin beschreibt ihre Häresie wie folgt: Sie sehen sich als wahre sacerdotis. Sanctos martyres atque confessores implorare pro nichilo ducebant. Cartulaire: 111. 49 Pandemus tibi salutis hostium, quo ingressus, per impositionem videlicet manuum nostrarum, ab omni peccati labe mundaberis, atque Sancti Spiritus dono repleberis, qui scripturarum omnium profunditatem ac veram divinitatem, absque scupulo, te docebit. Ebd. 50 Congregabantur siquidem certis noctibus in domo denominata, singuli lucernas tenentes in manibus, et, ad instar letaniae, demonum nomina declamabant, donec subito demonem in similitudine cujuslibet bestiolae inter eos viderent descendere. Qui statim ut visibilis illa videbatur visio, omnibus extinctis luminaribus, quamprimum quisque poterat, mulierem quae ad manum sibi veniebat, ad abutendum arripiebat, sine peccati respectu, et utrum mater aut soror aut monacha haberetur, pro sanctitate ac religione ejus concubitus ab illis estimabatur. Ex quo spurcissimo concubitu infans generatus, octava die, in medio eorum copioso igne accenso, piabatur per ignem, more antiquorum paganorum, et sic in igne cremabatur. Cujus cinis tanta veneratione colligebatur atque custodiebatur, ut christiana religiositas corpus Christi custodiri solet, aegris dandum de hoc seculo exituris ad viaticum. Inerat enim tanta vis diabolicae fraudis in ipso cenere, ut quicumque de praefata heresi imbutus fuisset et de eodem cinere, quamvis sumendo parum praelibavisset, vix unquam postea de eadem heresi gressum mentis ad viam veritatis dirigere valeret. Ebd.: 112. 51 Nuper apud nos iuxta Coloniam quidam haeretici detecti sunt, quorum quidam cum satisfatione ad ecclesiam redierunt. Duo ex eis, scilicet qui dicebatur episcupus eorum cum socio
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Kirche, echte Nachfolger Christi und wirkliche Nachahmer apostolischen Lebens, lehnen infolgedessen alle weltlichen Güter ab und leben in Armut. Sie behaupten, nicht von dieser Welt zu sein und beschuldigen im Gegenzug die (Amts-)Kirche, sich dem Diesseits verschrieben zu haben.52 Sie trinken keine Milch und nehmen nichts zu sich, was durch Geschlechtsverkehr entstanden ist.53 Sie verurteilen die Ehe, bekennen öffentlich, ihre tägliche Mahlzeit durch das Vater Unser zu weihen, lehnen die Wassertaufe ab und praktizieren stattdessen eine durch Handauflegung vollzogene Geistestaufe. Die Getauften, ›Auserwählte‹ genannt, dürfen dann selbst taufen sowie Brot und Wein weihen. Den ›Auserwählten‹ stehen die ungetauften Mitglieder, die ›Gläubigen‹, gegenüber.54 Zu beiden Kategorien gehören auch Frauen. Sie nennen sich Apostel und suo, nobis restiterunt in conventu clericorum et laicorum, praesente ipso domino archiepiscopo cum magnis viris nobilibus, haeresim suam defendentes ex verbis Christi et Apostoli. Sed, cum vidissent se non posse procedere, petientur ut eis statueretur dies, in quo adducerent de suis viros fidei suae peritos; promittentes se velle ecclesiae sociari, si magistros suos viderent in responsione deficere: aliquin se velle potius mori, quam ab sententia deflecti. Quo audito, cum per triduum essent admoniti, et resipicere noluissent, rapti sunt a populis nimio zelo permotis, nobis tamen invitis, et in ignem positi, atque cremati; et, quod magis mirabile est, ipsi tormentantum ignis non solum cum patientia, sed et cum laetitia introierunt et sostinuerunt. Brief Everwins von Steinfeld von 1143 an Bernhard von Clairvaux, in: Diversorum: 677. 52 Dicunt apud se tantum ecclesiam esse, eo quod ipsi soli vestigiis Christi inhaereant; et apostolicae vitae veri sectatores permaneant, ea quae mundi sunt non quaerentes, non domum, nec agros, nec aliquid peculium possidentes: sicut Christus non possedit, nec discipulis suis possedienda concessit […]. De se dicunt: Nos pauperes Christi, instabiles, de civitate in civitatem fugientes, sicut oves in medio luporum cum tamen sanctam et arctissimam vitam ducamus in ieiuno et abstinentiis, in orationibus et laboribus die ac nocte, et necessaria ex eis vitae quaerentes. Nos hoc sustinemus, quia de mundo non sumus: vos autem mundi amatores, cum mundo estis. Ebd.: 677 f. 53 In cibis suis vetant omne genus lactis, et quod inde conficitur, et quidquid ex coitu procreatur. Ebd.: 678. 54 In sacramentis suis velo se tengunt: tamen nobis aperte confessi sunt, quod in mensa sua quotidie cum manducant, ad formam Christi et Apostolorum, cibum suum et potum in corpus Christi et sanguinem per Dominicam orationem consecrant, ut inde se membra et corpus Christi nutriant. Nos vero dicunt in sacramentis non tenere veritatem, sed quamdam umbram et hominum traditionem. Confessi sunt etiam manifeste se praeter aquam, in ignem et spiritum baptizare, et baptizatos esse: adducentes illud testimonium Ioannis Baptistae baptizantis in aqua, et dicentis de Christo: ›Ille vos baptizabit in Spiritu Sancto et igne‹ (Matthäus 3,11); et in alio loco: ›Ego baptizo in aqua, maior autem vestrum stetit, quem vos nescitis‹ (Johannes 1,26), quasi alio baptismo praeter aquam vos baptizaturus. Et talem baptismus per impositionem manuum debere fieri conati sunt ostendere testimonio Lucae, qui in Actibus Apostolorum describens baptismum Pauli, quem ab Anania suscepit ad praeceptum Christi, nullam mentionem fecit de aqua, sed tantum de manus impositione: et quidiquid invenitur tam in Actibus Apostolorum, quam in Epistolis Pauli, de manus impositione, ad hunc baptismum dicunt electum, et habere potestatem alios qui digni fuerint baptizandi, et in mensa sua corpus Christi et sanguinem consecrandi. Prius enim per manus impositionem de numero eorum, quos auditores vocant, recipiunt eum inter credentes: et sic licebit eum interesse orationibus eorum, usquedum satis probatum eum faciant electum. De
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haben einen eigenen Papst.55 Was die Herkunft jener Häresie betrifft, behaupteten sie, diese sei seit den Tagen der Märtyrer verborgen gewesen und habe in Griechenland und in einigen anderen Ländern überdauert.56 Es ist einerseits zu bemerken, dass Everwin die katharisch anmutenden Charakteristika jener Häresie nicht einfach nur lakonisch aufzählt – exklusive Apostelnachfolge, Veganismus, Ablehnung der Ehe, Zentralität des Vater Unser, Geistestaufe durch Handauflegung statt Wassertaufe, Unterteilung der (auch weiblichen) Mitglieder in ›Auserwählte‹ und ›Gläubige‹ –, sondern versucht, sie zu erläutern und derart einem Gesamtkonzept nachzuspüren; andererseits wird hier – von Seiten der Häretiker selbst – zum ersten Mal auf einen östlichen, (nicht nur) griechischen Ursprung hingewiesen. Details wie die Titulierung des Anführers als ›Bischof‹ und die Erwähnung eines häretischen ›Papstes‹ könnten auf die handfesteren Informationen der Charta von Saint-F¤lix und der Polemiker des 13. Jahrhunderts vorausdeutet, wo ja von katharischen ›Bischöfen‹ und einem ›Papst‹ – der sich als p\ppar bzw. byzantinischer Religiose herausgestellt hat – die Rede ist. Aller Wahrscheinlichkeit nach bezeugt Everwin von Steinfeld tatsächlich als erster die Katharer.57 Ihren Namen sollte ihnen aber erst 20 Jahre später Eckbert von Schönau geben. Nachdem 1163 in Köln eine Gruppe von Häretikern verurteilt und verbrannt worden war, schrieb Eckbert dreizehn Sermones contra Catharos, in denen er sowohl ihren Ursprung als auch ihre Wesenheit zu ergründen sucht.58 Die Forschung hat jene Predigten zum einen zwar regelmäßig zu den Vorreitern der antikatharischen Summen des 13. Jahrhunderts erklärt; zum anderen ist aber immer wieder eingeräumt worden, dass Eckbert seine Informationen größtenteils aus den antimanichäischen Schriften des Augustinus entlehnt hat.59
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baptismo nostro non curant. Nuptias damnant, sed causam ab eis investigare non potui; vel quia eam fateri non audebant, vel potius quia eam ignorabant. Ebd. Et hi sunt illi haeretici, qui se dicunt apostolos, et suum papam habent. Alii papam nostrum annihilant, nec tamen alium praeter eum habere fatentur. Isti apostolici Satanae habent inter se feminas (ut dicunt) continentes, viduas, virgines, uxores suas, quasdam inter electas, quasdam inter credentes; quasi ad formam apostolorum, quibus concessa fuit potestas circumducendi mulieres. Ebd.: 679 f. Illi vero qui combusti sunt, dixereunt nobis in defensione sua, hanc haeresim usque ad haec tempora occultatam fuisse a temporibus martirum, et permanisse in Graecia, et quibusdam aliis terris. Ebd.: 679. Dieser Sichtweise folgen Borst (1953: 91); Manselli (1953; 1967 & 1963: 150 – 156); Moore (1977: 168 – 175); Lambert (1977: 60 f.); Jim¤nez Sanchez (2002). Siehe Eckbert von Schönau, Sermones; Harrison (1990). Für eine ausführlichere Schilderung der Verurteilung und Verbrennung jener Häretiker als beim diesbezüglich wortkargen Eckbert siehe die Chronica regia Coloniensis: 114 und – ein wenig anders – den Caesarii Heisterbacensis monachi Ordinis Cisterciensis Dialogus Miraculorum: 298 f. (cap. V,29). Siehe Grundmann (1935: 24 – 26); Borst (1953: 6 f.); Manselli (1965: 332 f.); Lambert (1977: 63); Moore (1977: 176 – 179). Siehe aber auch Duvernoy (1976: 14), der behauptet, Eckberts
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Davon ausgehend hat Uwe Brunn die These aufgestellt, dass – zumindest im Rheinland – »l’h¤r¤sie d¤nomm¤e ›cathare‹ […] est n¤e d’une construction discursive complexe en Occident et non pas des ¤changes doctrinaux avec l’Orient«60. Das andere interpretatorische Extrem vertritt Robert Harrison (1991: 48), dessen (Neu-)Edition der Sermones contra Catharos ihn davon überzeugt hat, dass »[i]t is no longer permissible to dismiss the sermons as a compendium of Augustine’s anti-Manichaean writings«. Eckbert nun führt jene dualistische Häresie auf den Manichäismus bzw. die manichäische Sekte der ›Katharisten‹ zurück61, setzt sie mit dieser aber nicht gleich, sondern zeigt sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede auf. Scheinbar haben auch manche Katharer einen manichäischen Ursprung ihres Glaubens angenommen, pflegten sie laut Eckbert doch zu behaupten, dass der heilige Augustinus ihre Geheimnisse offenbart hätte.62 Eckbert (Sermones: 16) nennt zentrale katharische Glaubenspunkte wie die in der Interrogatio Iohannis überlieferte, nicht-manichäische Vorstellung, die menschlichen Seelen seien jene abgefallenen Engel, die am Anfang der Welt aus dem Himmel gestoßen worden und in die menschlichen Körper gesperrt worden seien und nur Heil erlangen könnten, wenn sie in den Körper eines Katharers gerieten. Den in der Interrogatio Iohannis ebenfalls bezeugten Doketismus führt Eckbert (ebd.: 94) allerdings explizit als manichäischkatharische Gemeinsamkeit an. Von der Geistestaufe durch Handauflegung – dem sogenannten ›Konsolamentum‹ – und dem Brotbrechen weiß er (ebd.: 51 f.) genauso zu berichten, wie von der Ablehnung der Eucharistie bzw. Messe (siehe ebd.: 84 – 94), des Fleischgenusses (siehe ebd.: 36 – 41) und der Ehe (siehe ebd.: 26 – 36). Zuletzt sei noch seine gänzlich unmanichäische Bezeichnung der katharischen Führungsschicht als ›Vollkommene‹, ›Gelehrte‹ und ›Erzkatharer‹ erwähnt (siehe ebd.: 26 und 51). Auch wenn seit Uwe Brunns Untersuchungen sicherlich nicht mehr von einem einheitlichen, organisierten rheinländischen Katharertum gesprochen werden darf 63 und jene Häresie hier auch (schon) für politische
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Predigten seien trotz ihrer Augustinus-Anleihen sehr wertvoll und würden viel zu oft unterschätzt. Brunn (2003 : 190). Siehe aber auch dens. (2002 & 2006). Ihm folgen darin Biget (2003: 150 – 152) ; Pegg (2008: 201 f., Anm. 19) ; Given (2008). Sciendum vero est, et non celandum auribus vulgi, quoniam indubitanter secta eorum, de quibus agimus, originem accepit a Manichaeo haeresiarcha, cujus doctrina maledicta erat et tota venenosa, et radicata est in populo isto perverso […]. Et sicut diximus, haec omnia nobis veraciter comperta sunt de omnibus istis quos nunc Catharos vocant; et ipsi originem habuerunt a quibusdam discipulis Manichaei, qui olim Catharistae dicebantur. Eckbert von Schönau, Sermones: 16 – 18. Produnt autem semetipsos quod sint de errore Manichei in eo quod dicere solent qoud beatus Augustinus prodiderit secreta eorum. Ebd.: 18. So etwa noch bei Brenon (1995a). Given (2008: 962 f.) sieht hingegen gerade in der Erkenntnis, dass das (rheinländische) Katharertum nicht so einheitlich und organisiert war, wie klassischerweise dargestellt, den Mehrwert von Uwe Brunns Arbeit: »Not everyone will
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Zwecke instrumentalisiert worden ist, kann davon ausgegangen werden, dass sowohl Everwin von Steinfeld als auch Eckbert von Schönau dieselbe dualistische Häresie östlichen Ursprungs beschreiben wie die Polemiker v. a. des 13. Jahrhunderts. Alles spricht folglich dafür, dass in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts ein Transfer bogomilischen Gedankenguts von Ost nach West stattgefunden hat. Darüber, wann genau, auf welchem Wege und in welcher Sprache dies geschah, kann hingegen nur spekuliert werden. Berührungspunkte zwischen Orient und Okzident gab es seit dem ersten Kreuzzug 1096 zu genüge. Die einzigen konkreten Anhaltspunkte dazu liefert die schon zitierte Passage aus dem Tractatus de hereticis des Anselm von Alessandria, der zwar über ein Jahrhundert nach dem ersten Auftauchen der Katharer entstanden ist, aber dennoch als recht zuverlässig gilt (siehe z. B. Lambert 2001: 39). Laut Anselm hatten fränkische Kreuzfahrer jene Häresie in Konstantinopel übernommen, vor Ort ein lateinisches Katharer-›Bistum‹ gegründet und den Glauben bei ihrer Rückkehr nach Frankreich gebracht. Allein, mit solch knappen Informationen lässt sich nur schwerlich feststellen, welcher Kreuzzug gemeint ist. Dementsprechend ist in der Forschung vom ersten Kreuzzug (siehe – gemäß Anselm von Alessandria – Hamilton 1994: 45), vom gescheiterten von 110164, vom zweiten (siehe Dondaine 1950a: 240; Borst 1953: 90, Anm. 4; Thouzellier 1954 & 1969b) oder gar – einen Irrtum Anselms annehmend – vom vierten (siehe Lambert 2001: 40) die Rede. Immerhin muss wohl nicht von bulgarischen oder griechischen bogomilischen Missionaren ausgegangen werden, was ihre vollständige Abwesenheit in den find all of Brunn’s deductions and inferences about his texts and their interrelationships completely convincing. But he has provided much ammunition for those who would see the Cathar heresy not as a highly institutionalized sect with an elaborate theology that offered a serious challenge to orthodoxy, but as a mere specter that haunted the minds of those troubled by the phenomenon of religious dissidence.« 64 Siehe ebd.: 42 – 44. Im Jahr 1163 schrieb die Mystikerin Hildegard von Bingen, die mit Elisabeth von Schönau, der Schwester Eckberts von Schönau befreundet war, eine Vision nieder, in welcher sie die Katharer in ein apokalyptisches Szenario einordnet (siehe Analecta Sanctae Hildegardis: 349). Jene Häretiker sieht sie als Folge der Freilassung sowohl des Teufels (Offenbarung 9,11) als auch der vier Winde, die bis dato an den vier Ecken der Welt von vier Engeln festgehalten worden waren (Offenbarung 7,1 – 3). Der Teufel sei sechzig Jahre und zwanzig und vier Monate – also entweder 62 oder 80 (60 + 20) Jahre – zuvor freigelassen worden, was entweder auf das Jahr 1101 oder auf den 25. März 1083 fällt. Die vier Winde aber, welche die Verbreitung von Irrlehren bedeuteten, seien 23 Jahre und vier Monate zuvor losgelassen worden, was in den März 1140 fällt. Während letzteres gut zu Everwin von Steinfeld passt, der 1143 ja als erster das Auftauchen der Katharer im Rheinland dokumentierte, ist die ambige erstgenannte Zeitangabe problematischer. 1083 könnte sich auf die Einnahme des Petersdoms in Rom durch Heinrich IV. beziehen – für die päpstliche Partei ein Ereignis apokalyptischen Ausmaßes; 1101 würde das Scheitern jener Kreuzritter bezeichnen, die damals ihren bedrohten Glaubensgenossen im Heiligen Land zur Hilfe eilen wollten. Hamilton (1994: 44) findet die letztere Möglichkeit wahrscheinlicher.
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westlichen Quellen erklären würde.65 Und wenn es in Konstantinopel tatsächlich jene lateinischen Katharer gegeben hat, von denen nicht nur Anselm berichtet, sondern die auch Hugo Eteriano in seinem Traktat Contra Patarenos zu beschreiben scheint, wäre die östliche dualistische Häresie – wahrscheinlich in Lateinisch – durch Lateiner in den Westen gelangt, um dort von denselben verbreitet zu werden.
2.
Die Katharer, der Balkan und die bosnischen ›Christen‹
Sowohl die Charta von Saint-F¤lix als auch die Polemiken des 13. Jahrhunderts sprechen von einem slavonischen ordo der Katharer.66 Anselm von Alessandria teilt mit, dass die katharische Häresie vermittels bosnischer Händler von Konstantinopel aus nach Bosnien gelangt sei;67 der anonyme Verfasser des Traktats De heresi catharorum will wissen, dass die Katharer von Mantua und Vicenza (nach jenem großen Schisma, welches dem italienischen Katharertum Ende des 12. Jahrhunderts widerfuhr) ihre ›Bischofs‹-Kandidaten nach Slavonien geschickt hätten, um sie dort ordinieren zu lassen.68 Seitdem würden die italie65 Hamilton (2006: 96), der manche häretischen Vorkommnisse des 11. und frühen 12. Jahrhunderts als (proto-)katharisch interpretiert, hat die These aufgestellt, dass unter jenen zahlreichen orthodoxen Religiosen, die im späten 10. und frühen 11. Jahrhundert den Westen besuchten, klandestin auch Bogomilen gewesen sein könnten, als deren äußerliches Merkmal Euthymios aus dem Peribleptos-Kloster (ca. 1045) ja ihr monastisches Aussehen herausstellte. Im Westen wären sie so immer als orthodoxe Mönche identifiziert worden. Zu byzantinischen Mönchen im Westen zwischen 950 und 1050 siehe dens. & McNulty (1963). Auch Moore (1977: 168) war noch davon ausgegangen, dass die von Everwin von Steinfeld angezeigte dualistische Häresie auf bogomilische Missionare zurückzuführen sei. 66 In der Charta von Saint-F¤lix (27) ist von der ecclesia Dalmatiae die Rede, im anonymen Traktat De heresi catharorum (308), bei Ranieri Sacconi (Summa: 50) und bei Anselm von Alessandria (Tractatus: 308) von der ecclesia bzw. dem episcopus Sclavoniae bzw. Bossonae. Siehe hierzu allgemein Sˇidak (1955; dt. Zusammenfassung auf S. 40). 67 Postea quidam de Sclavonia, scilicet de terra que dicitur Bossona, iverunt Constantinopolim causa mercacionis; reversi ad terram suam predicaverunt et, multiplicati, constituerunt episcopum qui dicitur episcopus Sclavonie sive Bossone. Anselm von Alessandria, Tractatus: 308. 68 Item quidam de Mantua cum suis sequacibus elegerunt quemdam nomine Coloiannem sibi in episcopum et, eo in Sclavenia misso, post receptionem ordinis, episcopatus officio super eos functus est. Eodem itaque modo quidam alius, Nicola nomine, a congregatione vicentinorum electus et in Sclavania ad ordinem recipiendum missus, post reditum ab eis episcopus teneretur. De heresi catharorum: 308. Dies klingt noch 1387 in der Aussage eines gewissen Jakob Bech vor der (Waldenser-)Inquisition in Pinerolo nach. Jakob sei zu drei Katharern eingeladen worden, die ihn bekehren hätten wollen. Einer von ihnen sei Slavonier gewesen. Vor ungefähr einem Jahrzehnt hätte er nach Bosnien gehen sollen, um von den dortigen Meistern den zuvor geschilderten (katharischen) Glauben vollständig zu erlernen. Eine unsichere See hätte aber die Überquerung des Meeres verhindert und er sei unverrichteter Dinge nach Chieri zurückgekehrt. Es seien aber andere nach Bosnien gegangen, um dort die besagte
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nischen Katharer drei unterschiedlichen ordines anhängen, nämlich dem slavonischen, dem bulgarischen und jenem von Drugonthia69, wobei der slavonische sich einerseits durch einen gemäßigten Dualismus, andererseits durch sein Verständnis der Jungfrau Maria (und aber auch Christi und Johannes’ des Täufers) als Engel charakterisierte.70 In den Streitschriften wird folglich behauptet, es habe in Slavonien eine dualistische Häresie eigener Ausprägung gegeben, auf die sich ab dem Ende des 12. Jahrhunderts die Katharer von Mantua und Vicenza bezogen hätten.71 Nur, welche Region(en) umfasste das viel genannte Slavonien? Entweder war dies damals klar und brauchte nicht weiter präzisiert werden, oder die zitierten Autoren wussten selbst nicht, was sie damit meinten. Einzig Anselm von Alessandria setzt Slavonien mit Bosnien gleich; Niketas listet statt Slavonien Dalmatien auf. Einen weiteren Hinweis liefert der der päpstliche Legat Konrad von Urach. Dieser hatte Theobald, dem Erzbischof von Rouen, 1223 in einem Brief mitgeteilt, dass es in den Grenzen von Bulgarien, Kroatien und Dalmatien, in der Nähe von Ungarn, einen Häretikerpapst gebe, dessen Repräsentant im
Doktrin zu erlernen – einer zirka 40 Jahre zuvor, zwei andere gegen 1360 und wiederum welche um 1380 und 1382 herum. Es folgt eine Darlegung der Irrtümer der Häretiker von Chieri. Siehe den Processus Contra Valdenses in Lombardia Superiori, Anno 1387: I, 45 – 55; Sˇanjek (1985). 69 Garattus episcopus ordinatus de Bulgaria manet concorrentii […]; Coloiannes episcopus de Mantua; et habet ordinem de Sclavania […]. Marchisius de soiano episcopus de Drugonthia. De heresi catharorum: 312. 70 Sclavini […] credunt quod filius Dei, scilicet Ihesus Christus, et Johannes Ewangelista et Maria fuerunt tres angeli apparentes in carne. Ebd.: 311. Sclavi vero dicunt, quod Deus pater justorum tres angelos misit in mundum: Unus ex eis formam mulieris accepit in mundo isto; et hic dictus est Maria. Alii vero duo viriles formas sumpserunt, scilicet Christus et Johannes Evangelista, quem adhuc credunt Sclavi, et qui duo ponunt principia […]. Machinantur autem insuper illum angelum, qui in mulieri forma appellatus est Maria, assumpsisse intra se alium angelum, qui dictus est Jesus. Monetae Cremonensis adversus Catharos: 233. Heretici de Baiolo […] credunt […] Ihesus Christus, et Johannes Baptista necnon Maria fuere tres angeli apparentes in carne. Brevis summula: 347v. 71 Die v. a. von Ranieri Sacconi und Anselm von Alessandria vorgenommene Einteilung der italienischen Katharer in verschiedene, sich voneinander unterscheidende und miteinander im Streit liegende ›Bistümer‹ bzw. ›Kirchen‹ und ordines findet außerhalb der antihäretischen Traktate kaum Bestätigung. Nicht zuletzt der außerordentlich gut dokumentierte Fall des Armanno Pungilupo zeigt, dass Katharer in Italien über die Grenzen der vermeintlichen ›Kirchen‹ und ordines hinweg miteinander verkehrten und kommunizierten. Dieser Tatbestand hat Zanella (1995b: 114) zu folgendem radikalen Schluss veranlasst: »I due trattatisti domenicani forniscono con le loro opere un quadro del mondo ereticale il pi· possibile coerente, organizzato, gerarchizzato ed articolato per sette in aperto contrasto vicendevole, cioº per credenze dottrinali contrapposte, perch¤ non sarrebero riusciti a considerare altrimenti il movimento ereticale. Se non era cos
, come lo si sarebbe potuto conoscere ?« Zu Armanno Pungilupo siehe d’Alatri (1986 : 69 – 73) ; Zanella (1995a & b); Lambert (2001: 299 – 301).
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Westen der südfranzösische Katharer Bartholomäus von Carcassonne sei.72 Auch wenn der katharische Papst als Topos abgetan werden muss und Bartholomäus als unbedeutender Katharer identifiziert werden kann73, zeigt auch diese Nachricht, welch große Bedeutung die rechtgläubigen Polemiker dem Balkan innerhalb des Katharertums zuschrieben. Die Region, die Konrad eingrenzt, ist von der Forschung einmütig als Bosnien interpretiert worden (siehe Sˇanjek 1976: 79). All dies deckt sich mit dem Ergebnis von Franjo Sˇanjeks eingehender Untersuchung: »[L]’Eglise cathare de l’ordre slavon serait situer en Croatie, pr¤cis¤ment dans les provinces orientales de Bosnie et Hum (Herz¤govine).«74 Außerhalb der polemischen Traktate wird zum ersten Mal 1199/1200 auf eine ›Irrlehre‹ in Bosnien hingewiesen. Damals hatte Vulkan, König über Duklja und Dalmatien, Innozenz III. davon in Kenntnis gesetzt, dass sich in Bosnien eine Häresie etablieren würde, der schon Ban Kulin, seine Familie und mehr als 10.000 Christen verfallen seien.75 Diese Information muss allerdings vor folgendem Hintergrund betrachtet werden:76 Der Tod des Basileios Manuel I. Komnenos 1180 ermöglichte Bosnien einen Aufschwung, der vor allem auf einen Handelsvertrag mit Dubrovnik von 1189 zurückgeht.77 Außerdem organisierte der Ban Kulin das bosnische Rechtssystem 72 Ecce quod vidimus in finibus Brunarum, Croatiae, et Dalmatiae juxta Hungariam nationem, ut per antipapam moras Antichristi de cetero breviores esse minime dubitetur, dum novus Lucifer novae arrogantiae fellibus intumescens, sed suam contendit ponere in lateribus aquilonis, non tam ut sit similis Altissimo apostolorum principis successori, quam ut ipsum cum universali ecclesia deprimat et annulet. Hinc est quod papa perfidiae, qui maceriam vinea Domini Sabaoth jam pro magna parte dedit in direptionem, et singularis ferus vineam depascitur et conculcar : ad eum confluunt Albigenses […]. Iste Satanas quemdam suae perversitatis hominem usque in Agennum diocesim diffamavit, nomine Bartholomaeum Carcassensem. Est enim de Carcassona oriundus, vices illius agentem, ut illis corruptis partibus propinetur uberius fel draconis in calice Babilonis […]. Brief von Konrad von Urach vom 6. Februar 1223 an Bischof Theobald von Rouen und dessen Suffragane, in: Sˇanjek (2003b: 88). Siehe hierzu auch dens. (1973). 73 Siehe Lambert (2001: 62). Thouzellier (1961) hatte den Bericht Konrads von Urach 1961 noch als historisch verstanden. Ihr Schüler Sˇanjek (1976: 80 f.) folgte ihr darin. Wichtige und berechtigte Kritik an Sˇanjeks Dissertationsschrift ist zu finden bei Manselli (1977). 74 Sˇanjek (1976: 28). Fine (1975: 118 f.) ist bei der Verortung des hier gemeinten Slavoniens ein wenig vorsichtiger und lokalisiert es zuallererst im allgemeinen slavischen Raum exklusive Bulgarien und Drugonthia, also in Dalmatien, Kroatien, Bosnien, Duklja/Zeta (Südostmontenegro) und Raszien (eine Region in Südwestserbien). 75 Demum vero paternitatem vestram nolumus latere quia heresis non modica in terra regis Ungarie, vidilicet Bossina, pullurare videtur in tantum quod peccatis exigentibus ipse ba(nus) Culinus cum uxore sua et consanguineis suis seductus, plusquam decem milia christianorum in eandem heresim introduxit. Brief von Vulkan, Herrscher über Duklja und Dalmatien, von 1199/1200 an Papst Innozenz III., in: Sˇanjek (2003b: 70). Zur Auseinandersetzung Innozenz’ III. mit den Häresievorwürfen gegen Bosnien siehe dens. (2003a). 76 Zur Geschichte des Balkans bzw. Bosniens im Mittelalter siehe Fine (1987); Malcolm (2000: 23 – 74). 77 Der Text ist abgedruckt bei Perojevic´ (1942: 206). Die kurze, blühende Epoche des Ban Kulin
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neu und beschloss die Ansiedlung auswärtiger Handwerker und Bergleute (siehe Perojevic´ 1942: 215). Mit Dubrovnik verband Bosnien aber auch die Kirchenverwaltung, war die Diözese Bosnien doch der Erzdiözese Dubrovnik untergeordnet.78 Ein daraus entstandener Eklat demonstriert, wie Vulkan schon damals versuchte, Kulin religiöse Devianz nachzuweisen und ihn derart politisch zu schwächen. Auf Drängen Kulins wurde nämlich 1189 der Ortspriester Radogost vom Erzbischof Bernhard von Dubrovnik, einem Parteigänger Bosniens, zum Bischof geweiht. Allein, es fehlten dabei einerseits die kanonisch vorgeschriebenen anderen beiden Bischöfe; andererseits legte Radogost seine Professio fidei nicht auf Latein sondern in seiner Muttersprache ab.79 Bewirkte schon dies beim Klerus von Dubrovnik Unmut, veranlasste es Erzbischof Bernhard von Split, der auf der Seite Vulkans stand, seinen Amtskollegen beim Papst zu denunzieren. Der Gegensatz zwischen Vulkan und dem Ban Kulin hatte aber schon länger bestanden und war gänzlich unreligiösen Ursprungs. Zuvor hatte Vulkan nämlich das Fürstentum Duklja erobert und die Witwe des vormaligen Herrschers Miroslav, welche gleichzeitig die Schwester Kulins war, samt ihrem Sohn, dem legitimen Nachfolger Miroslavs, ins Exil geschickt. Auf Vulkans Ersuch hin, als neuer Herrscher über Duklja päpstlich approbiert zu werden, hatte Innozenz III. im Jahr 1199 seinen Legaten Johannes de Casamare gesandt, der vor Ort die Situation der Kirche überprüfen sollte. Als Ergebnis wurde Vulkan aufgetragen, einige kirchliche Reformen durchzuführen, wozu dieser sich bereiterklärte und gleichzeitig auf die eingangs zitierte vermeintliche Häresie seines bedrohlich erstarkten Nachbarn hinwies. Während sich die Anschuldigung Bernhards von Split gegen Bernhard von Dubrovnik (angesichts der Radogost-Affäre) trotz ihrer offensichtlichen politischen Motivation auf nachvollziehbares religiöses Fehlverhalten stützte, ist der Häresievorwurf Vulkans gegen Kulin (1199/1200) vorerst abstrakt. Mit keinem Wort charakterisiert er jene von ihm vorgebrachte Häresie; weder ist von Katharern bzw. Patarenern noch von Manichäern die Rede. In Anbetracht der entschiedenen, nachweislichen Rechtgläubigkeit Kulins überrascht die Pauschalität der Denunziation kaum (siehe Fine 1975: 121 – 123; 1987: 47). Ein Brief Innozenz’ III. an den kroatisch-ungarischen König Emmerich vom 11. Oktober 1200 lässt Vulkans Andeutungen konkret werden. Hierin teilt der Papst mit, ihm sei zu Ohren gekommen, dass Bernhard von Split nicht wenige Patarener – d. h.: Katharer – aus den dalmatischen Küstenstädten Split und zwischen 1180 und 1204 ist ins volkskulturelle Gedächtnis Bosniens eingedrungen, so dass dort noch heute gesagt wird: »Od Kulina bana i dobrijeh dana.« (»Von dem Ban Kulin und den guten Tagen.«) Zitiert bei Neweklowsky (1996: 36). 78 Zu Folgendem siehe Perojevic´ (1942: 208 – 212). 79 Die Quelle ist nicht bekannt, wird aber sowohl von Giugno Resti (Chronica Ragusani: 63) als auch von Mauro Orbini (Il Regno degli Slavi: 350) verwendet.
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Trogir vertrieben habe, denen Kulin (in seinem Land) nicht nur einen sicheren Schlupfwinkel geboten, sondern sie auch offen geschützt habe. Kulin habe ihnen sowohl sein Territorium als auch sich selbst preisgegeben, würde sie anstelle bzw. sogar mehr als die Katholiken verehren und sie Christen par exellence nennen. Emmerich, dem formal ja auch Bosnien unterstand, solle, falls Kulin dies noch nicht getan habe, sowohl den Ban als auch die Häretiker enteignen und sie seines Territoriums verweisen.80 Jene Häretiker von Split und Trogir bezeugt aber 1266 der Erzbischof Thomas von Split im 23. Kapitel seiner Historia Salonitanorum Pontificum atque Spalatensium. Hierin erzählt er von einem Ketzerprozess gegen das Bruderpaar Matthäus und Aristodius, der zur Zeit des Erzbischofs Bernhard (von Split) stattgefunden hatte (siehe Fine 1965: 223 – 229). Die beiden Bürger von Zadar, apulischer Abkunft, Maler und Goldarbeiter, hätten die lateinische und slavonische Literatur gekannt und den Großteil ihres Lebens in Bosnien verbracht. Sie hätten die Häresie nicht nur geglaubt, sondern auch gepredigt, wodurch Bernhard von Split auf sie aufmerksam geworden sei. Dieser hätte sie enteignet und aus Split bzw. seiner Erzdiözese gejagt, woraufhin die beiden Brüder ihre (Glaubens-)Fehler eingesehen, der Häresie abgeschworen und ihren Besitz zurück bekommen hätten.81 Auch wenn Thomas kein Wort über den Charakter jener Häresie verliert, ist durchaus möglich, dass es sich hierbei um Katharer gehandelt hat. Einerseits erwähnt die Charta von Saint-F¤lix ja eine dalmatische Katharer-›Kirche‹, andererseits bot der florierende Adriahandel um 80 Accepimus autem, quod cum nuper venerabilis frater noster (Bernardus), Spalatensis archiepiscopus, Patarenos non paucos de Spalatensi et Traguriensi civitatibus effugasset, nobilis vir Culinus banus Bossinus iniquitati eorum non solum tutm latibulum, sed presidium contulit manifestum, et perversitati eorundem terram suam et seipsum exponens, ipsos pro catholicis, immo ultra catholicos honoravit, vocans eos antonomasice christianos […], et nisi banus predictus universos hereticos de terra sue potestati subiecta proscripserit, bonis eorum omnibus confiscatis, tu eum et hereticos ipsos non solum de terra eius, sed de toto Vngarie regno proscribes, et bona talium ubicumque per terram tuam poterunt inveniri confisces […]. Brief von Innozenz III. vom 11. Oktober 1200 an Emmerich, König von Kroatien und Ungarn, in: Sˇanjek (2003b: 72) (Konjektur vom Hrsg.). 81 Fuerunt namque eo tempore duo fratres, filii Zorobabel, quorum alter Matheus, alter vero Aristodius vocabatur. Hi quamvis essent ex patre Apulo, erant tamen a pueritia Jadrenses cives effecti. Conversabantur vero ex maiori parte apud Bosnam, quia erant pictores optimi et in auri fabrili arte satis exercitati; competenter etiam latine et sclavonice litterature habebant peritiam. Erant, fallente Diabolo, in baratrum heretice pestis immersi, ut non solum impiam heresim obcecato corde crederent, sed etiam scelestis labiis predicarent. Hos invenit Bernardus Spalati commorantes, multosque iam pestiferi dogmatis tabe ab eis infectos. Cepit ergo paulatim eos ad catholicam normam miti sermone allicere, frequenter exhortans. Sec cum illi heretica calliditate tergiversantes dissimularent converti, statim archiepiscopus fecit omnia bona eorum diripi, eosque anathematis vinculo innondatos, cum magno opprobrio de civitate expelli. Tunc predicti fratres, videntes se maximis iniuriis dampnisque affectos, ad mandatum ecclesie sunt reverse; fecitque eos archiepiscopus suam heresim, tactis sacrosanctis evangeliis, abiurare; ipsosque ab excommunicationis nexu debita solempnitate expediens, ipsorum bona restitui fecit. Thomas archidiaconus Spalatensis, Historia Salonitana: 80.
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1200 genügend Möglichkeit zum Häresietransfer zwischen Nordostitalien und Dalmatien. Außerdem findet sich in den Kommunalstatuten Trogirs und Splits vom Anfang des 14. Jahrhundert ein antikatharisches Gesetzt (siehe Sˇanjek 2003b: 102 – 105). Dass aber Kulin zum Katharertum übergetreten sei, scheint in Anbetracht sowohl seiner entschiedenen Rechtgläubigkeit als auch der großen Gegnerschaft der Informanten sehr unwahrscheinlich. Vorstellbar ist, dass Innozenz den kritischen Zustand der katholischen Kirche in Bosnien82 mit den Katharern von Split und Trogir vermengt. Innozenz jedenfalls setzt Bernhard, den Erzbischof von Split, davon in Kenntnis, dass in Bosnien eine Großzahl von Leuten verweilen würde, die unter starkem Verdacht stünden, Katharer zu sein.83 Der Papst berichtet weiter, Kulin habe sich bei ihm entschuldigt und sagte, dass er geglaubt habe, sie seien keine Häretiker sondern Katholiken gewesen und dass er bereit sei, einige von ihnen zur Klärung des Sachverhalts an den Heiligen Stuhl zu schicken.84 Kulin hätte dann tatsächlich Bernhard von Dubrovnik, Marinus, den Erzdiakon von Dubrovnik, und einige der angeblichen Katharer nach Rom gesandt, um dort zu erbitten, einen qualifizierten päpstlichen Legaten zur Untersuchung der Rechtgläubigkeit nach Bosnien zu schicken.85 Innozenz ging auf Kulin ein, trug Johannes von Casamare die Legation auf und bat Bernhard von Split um seine Zusammenarbeit (siehe Sˇanjek 2003b: 76). Da letzteren andere Verpflichtungen in Beschlag nahmen, übernahm Martin, der schon genannte Erzdiakon von Dubrovnik, dessen Aufgabe (siehe Perojevic´ 1942: 212 f.). 82 Fine (1975: 49) bestätigt in seiner Untersuchung der mittelalterlichen bosnischen Kirche, was 1189 schon beim Radogost-Eklat manifest wurde: »Beyond the problem of communication arising out of language differences (and hence difficulties) is that of communication arising out of cultural differences. An educated Italian could well have taken for heresy the pagan practices which the Bosnian peasant mingled with his Christianity. But beyond this, since Bosnia was not a land seething with enthusiasm and interest in churches and formal religions, it is doubtful that the legate, if he wandered about in a town or village, ever saw anything heretical at all.« 83 Cum igitur in terra nobilis viri Culini bani quorumdam hominum multitudo moretur, qui de dampnata Catharorum heresi sunt vehementer suspecti et graviter infamati […]. Brief von Innozenz III. vom 21. November 1202 an Bernhard, Erzbischof von Split, und Johannes von Casamare, in: Sˇanjek (2003b: 74). 84 Nos […] regi Vngarorum illustri apostolica scripta direximus contra illos, qui prefatum Culinum super hoc arguens et obiurgans precepit, ut huiusmodi homines de tota terra sibi subiecta proscriberet, bonis eorum omnibus confiscatis. Ipse vero semetipsum excusans respondit, quod eos non hereticos, sed catholicos esse credebat, partus quosdam eorum pro omnibus ad sedem apostolicam destinare. Ebd. 85 Nuper ergo prefatus Culinus venerabilem fratrem nostrum archiepiscopum et dilectum filium archidiaconum Ragusinum et cum eis quosdam ex prefatis hominibus ad nostram presentiam destinavit petens humiliter et implorans, ut aliquem virum idoneum de latere nostro in terram suam mittere dignaremur, qui tam ipsum quam homines suos de fide ac conversatione diligenter examinet. Ebd.
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Es fällt auf, dass der Papst plötzlich nicht mehr von Katharern sondern nurmehr von des Katharertums Verdächtigen spricht. Auch Kulins Entschuldigung klingt authentisch und wird durch seine Bemühungen, die Angelegenheit zu klären, unterstrichen. Als Ergebnis der päpstlichen Legation wurde für den 8. April 1203 ein Konzil im bosnischen Bilino Polje einberufen, dem, abgesehen von den päpstlichen Legaten, der Ban Kulin, Repräsentanten des bosnischen Adels und sieben Obere der bosnischen Christen beiwohnten, und das gute drei Wochen später, am 30. April, auf einer Donauinsel jenseits von Csepel (südlich von Budapest) in Gegenwart Kulins, Emmerichs und der ungarischen Kirchenvertreter wiederholt wurde.86 Im Namen des ewigen Gottes, dem Schöpfer aller Dinge und Erlöser des Menschengeschlechts versprechen die bosnischen Prioren, die Riten und Gebote der sancta Romana ecclesia anzunehmen, ihnen gemäß zu leben und nie mehr der Häresie zu verfallen. Sie entsagen sich des Vorwurfs, Schismatiker zu sein, und erkennen die römische (Mutter-)Kirche als Haupt der gesamten, einheitlichen Kirche an. Sie versprachen, in ihren Konventen das Stundengebet zu praktizieren, in all ihren Kirchen Altäre und Kreuze aufzustellen und sowohl das Alte als auch das Neue Testament zu lesen. Priester sollten dort an Sonn- und Feiertagen die Messe halten, Beichten hören und Bußen auferlegen. Neben ihren Oratorien würden Friedhöfe etabliert werden; mindestens sieben Mal im Jahr sollten sie von einem Priester die Kommunion empfangen. Sie verpflichteten sich dazu, das Fasten und die Feiertage gemäß den kirchlichen Vorschriften zu begehen und in ihren Konventen eine strenge Geschlechtertrennung auszuüben. Sie sollten keine Eheleute aufnehmen, wenn dem nicht beide Parteien zustimmen würden. Außerdem – und dies lässt aufmerken – sollten sie keine Manichäer oder andere Häretiker aufnehmen. Sie sagten zu, ein farbloses, knöchellanges Habit zu tragen und versprachen, sich fortan nicht mehr wie bislang ›Christen‹ sondern nurmehr Brüder zu nennen. Beim Tod eines Magisters, der jene Gemeinschaft wohl leitete, sollten die Priore mit dem Einverständnis der anderen Brüder einen neuen Magister wählen, der vom Papst bestätigt werden musste. Zuletzt erklärten sie sich dazu bereit, jedwede Änderung des Dokuments durch die römische Kirche zu akzeptieren.87 86 Zum siebenhundertjährigen Jubiläum des Konzils wurde 2003 sowohl in Sarajevo als auch in Zagreb ein Konress veranstaltet, der jenem Ereignis von Bilino Polje (und verwandten Themen) gewidmet war. Als Resultat entstand ein gemeinsam unter der Leitung von Sˇanjek (2005) herausgegebener Sammelband, dessen Artikel allesamt englische Zusammenfassungen enthalten. Was die geographische Verortung von Bilino Polje anbetrifft, so lag es entweder nahe des heutigen Zenica oder beim zentralbosnischen Visoko. Siehe hierzu Sˇkergo (2005). 87 In nomine dei eterni creatoris omnium et humani generis redemptoris […]. Nos priores illorum hominum, qui hactenus singulariter Christiani nominis prerogativa vocati sumus in territorio Bosne […] promittimus […], stare ordinationi et mandatis sancte Romane ecclesie
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Obwohl das Dokument in der Forschung durchwegs als ›Abschwörung von Bilino Polje‹ bezeichnet wird, stellt es viel mehr die Verpflichtung jener bosnischen Gemeinschaft auf die römische Kirche anstatt ihrer Abschwörung von einer vermeintlichen Häresie dar. Wie Raoul Manselli treffend bemerkt hat, gleicht die Urkunde eher dem Glaubensbekenntnis des Petrus Valdes als der (zwischen 1176 und 1190 entstandenen) Manifestatio des Mailänder Ex-Katharers Buonaccorso.88 Es werden nämlich nicht etwa falsche, häretische Glaubenspunkte aufgezählt, sondern richtige, rechtgläubige. Freilich lassen letztere in etwa darauf schließen, was jenen bosnischen ›Christen‹ den Vorwurf eingebracht haben mag, scismati zu sein. Dabei geht es aber nicht etwa um dualistische Lehren, sondern um die Glaubenspraxis und das Zusammenleben jener selbsternannten ›Christen‹, die eindeutig – das belegen allein schon Termini wie tam de vita et conversatione nostra, quam ipsius obsecundare obedientie et vivere institutis, obligantes nos pro omnibus, qui sunt de nostra societate et loca nostra cum possessionibus et rebus omnibus, si aliquo tempore deinceps sectati fuerimus hereticam pravitatem. In primis abrenuntiamus scismati, quo ducimur infamati, et Romanam ecclesiam matrem nostram caput totius ecclesiastice unitatis recognoscimus, et in omnibus locis nostris, ubi fratrum conventus commoratur, oratoria habebimus, in quibis fratres de nocte ad matutinas, et diebus ad horas cantandas publice simul conveniemus. In omnibus autem ecclesiis habebimus altaria et cruces, libros vero tam novi quam veteris testamenti, sicut facit ecclesia Romana, legemus. Per singula loca nostra habebimus sacerdotes, qui dominicis et festivis diebus adminus missas secundum ordinem ecclesiasticum debeant celebrare, confessiones audire et penitentias tribuere. Cimiteria habebimus iuxta oratoria, in quibus fratres sepeliuntur et advenientes, si casu ibi obierint. Septies in anno ad minus corpus domini de manu sacerdotis accipiemus […]. Jeiunia constituta ab ecclesia observabimus, et in ea que maiores nostri provide preceperunt costodiemus. Femine vero que de nostra erunt religione, a viris separate tam in dormitoriis quam (in) refectoriis […]. Neque de cetero recipiemus aliquem vel aliquam coniugatam, nisi mutuo consensu, continentia promissa, ambo pariter convertantur. Festivitates autem sanctorum a sanctis patribus ordinatas celebrabimus, et nullum deinceps ex certa scientia manicheum vel alium hereticum ad habitandum nobiscum recipiendum. Et sicut separamur ab aliis secularibus vita et conversatione, ita etiam habitu secernamur vestimentorum, que vestimenta erunt clausa, non colorata, usque ad talos mensurata. Nos autem de cetero Christianos, sicut hactenus, sed fratres nos nominabimus, ne singularitate nominis aliis Christianis iniuria inferatur. Mortuo vero magistro, de hinc usque in perpetuum, priores cum consilio fratrum deum timentium eligent prelatum a Romano tantum pontifice confirmandum. Et si quid aliud ecclesia addere vel minuere voluerit cum devotione recipiemus et observabimus. Sˇanjek (2003b: 80 – 83) (Hervorhebungen und Konjekturen vom Hrsg.). Es wird allgemein angenommen, dass das überlieferte Dokument eine zeitgenössische lateinische Übersetzung eines verlorengegangenen slavischen Originals sei. Siehe z. B. Fine (1975: 126). 88 Siehe Manselli (1977: 604); Ilarino da Milano (1938). Dennoch muss darauf hingewiesen werden, dass die Konzilsakte von Bilino Polje entgegen Sˇanjeks (1991; 2003a: 1217) (und aber auch Thouzelliers [1969a: 38]) Meinung nicht als Vorbild für die Glaubensbekenntnisse der Armen Katholiken des Durandus von Huesca und der Versöhnten Armen – die Sˇanjek fälschlicherweise Humiliaten nennt – des Bernardus Primus und Wilhem Arnaldi gedient haben kann. Die besagten confessiones gehen auf diejenige des Petrus Valdes zurück, die wiederum auf jene des Gerbert von Aurillac rekurriert.
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»Priore, Bruderschaft, Gesellschaft, Konvent und Magister« (priores, fraternitas, societas, conventus, magister)89 (statt die im katharischen Kontext gebräuchlichen Begriffe Kirche, ordo, Bischof, Vollkommener, Gläubiger etc. [ecclesia, ordo, episcopus, perfectus, credens etc.]) – monastischen bzw. zumindest bruderschaftlichen Hintergrunds waren.90 In seiner ausführlichen Diskussion des Konzils kommt John V.A. Fine dann auch zum einzig akzeptablen Schluss, dass es keinen Hinweis darauf gebe, »that the leaders of any heretical movement were present at Bilino polje«91. Der Vorschlag des Johannes de Casamaris im selben Jahr, man solle die bosnische Diözese mit einem lateinischen Bischof besetzen und das überhaupt viel zu große Bistum in drei bis vier neue Bistümer unterteilen92, zeigt, was das eigentliche Problem gewesen zu sein scheint: der kritische Zustand der bosnischen Kirche. Noch 1232 schreibt Papst Gregor IX. den Erzbischöfen von Kalocsa und Zagreb, ihm sei zu Ohren gekommen, dass der bosnische Bischof nicht lesen könne, öffentlich Häretiker verteidige und sein Amt vermittels eines öffentlichen Häretikers durch Simonie bekommen habe. Niemand in seiner Kirche würde die Offizien feiern oder die Sakramente spenden; es würde sogar gesagt, ihm seien die kirchlichen Diensten (servicia) fremd und er beherrsche die Taufformel nicht. Es würde behauptet, er lebe mit seinem eigenen Bruder, einem öffentlichem Häresiarchen, in einem bestimmten Dorf, und, anstelle diesen wieder auf den rechten Weg zu führen, hätte er ihn in seinem Fehlverhalten unterstützt und verteidigt.93 Die Wirrnis dieser Darstellung samt ihrer pauschalen Häresievorwürfe spiegelt wohl treffend den damaligen Zustand der bosnischen Kirche wider. Gregor zögerte nicht lang und beauftragte 1233 seinen Legaten in Ungarn, Jakob von Praeneste, damit, den besagten Bischof zu entfernen, da er sich seines Amtes als unwürdig erwiesen habe. Der Papst scheint dem Bischof zu glauben, wenn dieser behauptet, er habe aus Unwissenheit 89 Sˇanjek (1976: 48) stellt in Frage, ob die zitierten Begriffe im slavischen Original auch derart monastisch konnotiert gewesen seien. 90 Vor allem katholische Forscher haben ob des dezidiert monastischen Charakters jener Gruppe gemutmaßt, dass es sich um eine Art rustikalen Benediktinertums handeln würde. Siehe z. B. Dzˇaja (1978: 55). Da es in Bosnien aber keine Spur benediktinischer Aktivität gibt, hat Miletic´ (1957: 56 – 58) – unter besonderer Berücksichtigung der Doppelklöster, in welchen sich die Christiani offenbar zu organisieren pflegten – die bosnischen ›Christen‹ als basilianische Mönche interpretiert. 91 Siehe Fine (1975: 129). Lambert (2001: 116) sieht in den hier dargestellten Christiani »Schwärmer und klosterähnliche Gruppen«. Sˇanjek (1976: 47 – 52) hingegen geht ohne eine nachvollziehbare Argumentationlinie davon aus, dass es sich bei ihnen um dualistische Häretiker gehandelt hat. 92 Si posset fieri, quod aliquis Latinus ibi poneretur et aliqui etiam ibi tres vel quatuor crearentur novi […]. Brief des Johannes de Casamaris von 1203 an Innozenz III., in: Sˇanjek (2003b: 84). 93 Noch 1235 setzt Papst Gregor IX. den Dominikanerprior von Treviso von den unkatholischen Heiratsbräuchen in Sclavonie partibus in Kenntnis. Siehe ebd.: 94.
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heraus gesündigt; das Problem, so der Pontifex, sei, dass Bosnien vielleicht zu groß für einen einzelnen Mann sei – vor allem, da es mit der Häresie infiziert sei. Wie dreißig Jahre vor ihm Johannes de Casamaris schlägt der vor, Bosnien in zwei bis vier Bistümer zu unterteilen.94 Im Licht dieser ständigen, aus Abgelegenheit und Unbildung entstehenden Missverständnisse, der anhaltenden (kirchen-)politischen Gegensätze bzw. Machtansprüche und der offenbar faktischen, aber nicht greifbaren dualistischen Häresie fällt es schwer, die ungarischen Kreuzzüge gegen Bosnien korrekt einzuordnen. Es ist nicht nötig, die komplexen Abläufe jener mutmaßlich heiligen Kriegsunternehmungen, die sich über die Jahre 1235 – 1236 und 1237 – 1238 erstreckten, detailliert zu erörtern (siehe Fine 1975: 137 – 145). Sowohl Gregor als auch Koloman, dem Herzog von Kroatien und Bruder des ungarischen Königs, ging es vordergründig um die Bekehrung bzw. Ausrottung der in Bosnien bedindlichen Häretiker, wobei wieder einmal unklar ist, ob damit eine irrig-schismatische bosnische Kirche oder ganz konkret dualistische Häretiker gemeint waren. Aber selbst Franjo Sˇanjek (1976: 72), der die bosnischen Christen als katharisch versteht, glaubt, dass »Coloman ait profit¤ de ses crois¤s pour devenir seigneur de Bosnie«. Der Herzog von Kroatien hatte jedenfalls Bosnien und Hum unterworfen und der Papst bedankte sich bei diesem für den Sieg über die Häresie (siehe Vetera monumenta: 168). Um dies auch kirchenpolitisch zu verdeutlichen, wurde augenblicklich der Dominikaner Ponsa zum Bischof von Bosnien ernannt und im Landeszentrum sein mit dominikanischen Klerikern ausgestatteter Bischofssitz eingerichtet (siehe ebd.: 169). Ein Jahr später gewann Ban Matthäus Ninoslav seine Macht wieder zurück (siehe ebd.: 107); 1247 unterstellte Papst Innozenz IV. auf die Anfrage des ungarischen Königs Bela IV. hin die Diözese Bosnien der Erzdiözese Kalocsa und verlegte den Bischofssitz ins außerbosnische Óakovo (siehe ebd.: 204; Codex diplomaticus IV: 494). Die Häresievorwürfe gegen Bosnien vom Anfang bis zur Mitte des 13. Jahr94 Quamvis autem idem episcopus ex simplicitate asserat se pecasse, quia tamen non in peccato huiusmodi decipere vel posse decipi multum differt, nos quos zelus comedit animarum, volentes earum periculis obviare mandamus, quatenus eodem episcopo a regimine Bosnensis ecclesie prorsus amoto, tam in eadem ecclesia quam in locis aliis Bosnensis diocesis, que ut dicitur non modicum est diffusa, duos vel tres aut quatuor, prout videris expedire, doctos in lege domini, quos ad hoc idoneos esse cognoveris, studeas in episcopos ordinare, metropolitani archiepiscopi iure salvo; eisdem in remissionem peccatorum iniungens, ut cum habitatores illius terre dicantur in facultatibus tenues et in malitia locupletes, utpote qui pro magna parte sunt infecti heretica pravitate, paupertatem Christi pauperis imitando ardenti spiritu ad despectos accedere non recusent […]. Brief von Papst Gregor IX. vom 30. Mai 1233 an Jakob von Praeneste, in: Sˇanjek (2003b: 92). 1233/1234 besetzte der Papst Bosnien dann auch mit Johannes von Wildeshausen, dem vormaligen Provinzial der Dominikaner in Ungarn, der 1235 dann vergeblich darum ersuchte, von dieser unliebsamen Aufgabe befreit zu werden. Siehe ebd.: 96 – 99.
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hunderts bewegen sich kaum lokalisierbar zwischen Missverständnissen, Politik und Wahrheit. Problematisch ist, dass zwar einerseits die Präsenz dualistischer Häretiker um 1200 an der dalmatischen Küste und ihre Flucht nach Bosnien äußerst glaubwürdig scheint; andererseits aber dem bosnischen Monastizismus bzw. der gegen Mitte des 13. Jahrhunderts daraus entstehenden Kirche nur schwerlich dualistische Häresie nachgewiesen werden kann.95 Als Beweis für das (katharisch-)dualistische Wesen der bosnischen Kirche werden – abgesehen von den Aussagen der lateinischen Inquisitoren – immer wieder insbesondere folgende drei Punkte angeführt: (1.) Die Grabsteine, (2.) die Organisation und (3.) das Testament des gost Radin. In vielen Teilen Bosniens stehen zu Tausenden jene stec´ci (Singular : stec´ak) genannten Grabsteine. Ungefähr 6.000 sind graviert; gut 200 tragen Inschriften.96 Da sich ihr Verbreitungsgebiet mit jenem der bosnischen Kirche überschneidet, sah man sie früh als Ausdrucksform ihres (bogomilischen) dualis95 Schmidts (1849) These, die bosnische Kirche als bogomilische Gemeinschaft zu verstehen, die zur selben Bewegung gehörte wie die westeuropäischen Katharer, wurde von Racˇki (1869 – 1870) aufgenommen und verfeinert. Ihm folgten darin Jirecˇek (1876); Ruvarac ´ orovic´ (1940); Barada (1940 – 1941); Kniewald (1949); (1878); Klaic´ (1885); Sˇisˇic´ (1914); C Mandic´ (1962). Petranovic´ (1867) verfolgte eine andere These, die besagte, die bosnische Kirche sei eigentlich eine orthodoxe Kirche gewesen, die vermittels mazedonischer Bogomilen häretisch wurde und seit dem 11. Jahrhundert durch Serbien nach Bosnien gedrungen sei. Dem folgte v. a. die serbische Wissenschaft, allen voran Glusˇac (1924). Glusˇac (1941 – 1945) ging sogar soweit, die Bogomilen als Erfindung der Historiographie zu bezeichnen. Andere Historiker versuchten die katholische Rechtgläubigkeit der bosnischen Kirche vorzuführen: Hoffer (1901); Milobar (1903); Vego (1937 & 1963); Truhelka (1942); Petrovic´ (1953); Miletic´ (1957); Loos (1974); Sˇidak (1975). Für eine marxistische Lesart, welche die (häretische) bosnische Kirche als Vorläufer der Sozialisten sieht, siehe Tasˇkovski (1949). Der These Racˇkis schlossen sich im Westen grosso modo v. a. folgende Wissenschaftler an: Runciman (1947); Obolensky (1948); Borst (1953); Duvernoy (1976 & 1978); Stoyanov (2000); (mit Abstrichen) Sˇankek (2003c). Fine (1975: 151) gibt zwar zu, dass es in der bosnischen Kirche dualistische, eventuell sogar originär katharische Elemente gebe, versteht diese aber nicht als wesentlich und kommt daher zum Schluss, dass »there is certainly no evidence in our sources from the fourteenth and fifteenth centuries to conclude that the Bosnian Church was dualist«. Malcolm (2000: 54 – 74) geht gar nicht mehr von einer dualistischen bosnischen Kirche bogomilischer Abkunft aus; Lambert (1994: 30) kommt zum Schluss, »daß kein einziges Element […] als unwiderlegbarer Beweis [dafür] angesehen werden kann, [die Bosnische Kirche als häretische, das heißt dualistische, Staatsreligion zu beschreiben]«. Dennoch glaubt er an eine – schwache – dualistische Beeinflussung der bosnischen Kirche. Am prägnantesten hat diese Zweifel zuletzt Thomas (2003: 127) zum Ausdruck gebracht, wenn er mit Blick auf die bosnische Kirche sagt, dass »il ne parat plus possible d’affirmer ses liens avec le bogomilisme, ni mÞme de soutenir sans r¤serves qu’elle ait ¤t¤ h¤r¤tique dualiste«. Für eine detaillierte Besprechung der Literatur siehe Dzˇaja (1978: 1 – 68); Sˇanjek (2003c: 92 – 96). 96 Zu den statistischen, räumlichen und zeitlichen Fakten der stec´ci siehe Wenzel (1962, 102 – 115; 1965). Ediert hat eine Großzahl von Grabsteinen Vego (1962 – 1970). Korrekturen und andere Lesarten bei Hamp (1969). Die Motive sind u. a. ediert worden in den neun Bänden von Srednjevjekovni nadgrobni spomenici Bosne i Hercegovine.
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tisch-häretischen Glaubens.97 Wenn auf den Steinen Jagdszenen abgebildet waren, wurden diese als dualistische Symbolik gedeutet, Männer, die ihre Hände erheben, wurden als Geistliche interpretiert, welche das katharische Sakrament des Konsolamentums spenden (siehe Kniewald 1964; Wild 1970). Erstens sind die stec´ci aber nicht auf das Hoheitsgebiet der bosnischen Kirche und das 14. und 15. Jahrhundert beschränkt – sie finden sich genauso gut in Kroatien, Dalmatien, Serbien und Montenegro und datieren ebenso auf das 17. und 18. Jahrhundert, was bedeutet, dass auch Katholiken, Orthodoxe und Moslems derartige Grabsteine fertigten (siehe Miletic´ & Höckmann 1967: [Karte gegenüber von] 1; Dzˇaja 1978: 25 f.); (und: andersherum sind in den nachweislich bogomilischen Gebieten Bulgariens und Thrakiens keine jener Grabsteine errichtet worden;) zweitens ist die Anzahl derjenigen stec´ci, welche Abbildungen aufweisen, die im weitesten Sinne für eine dualistische Deutung in Frage kommen, verschwindend gering.98 Die Deutungen selbst sind sehr gewollt99 und nicht wenige Steine bilden das gänzlich antikatharische Kreuzeszeichen ab.100 Es spricht nichts dafür, die stec´ci als Ausdruck einer (bogomilischen) dualistischhäretischen Kirche in Bosnien zu verstehen. Die bosnische Kirche war in vier Ständen organisiert: Djed (Großvater), veliki gost (großer Gastgeber), gost (Gastgeber) und starac (Älteste). Gleichzeitig war strojnik (Verwalter) auf alle Ränge außer den djed anwendbar. Franjo Sˇanjek (1976: 87 – 105; ähnlich bei Kniewald 1964: 583 – 593) hat die These stark gemacht, es würde sich hierbei um ein Pendant der katharischen Organisation handeln, stellt die Ränge der bosnischen Kirche mit dem ›Bischof‹, filius major, filius minor und ›Diakon‹ der Katharer gleich und sieht im bosnischen krstjanin den katharischen Initiierten bzw. Vollkommenen. Maja Miletic´ (1957: 102) hat gezeigt, dass naheliegender ist, die Bezeichnungen monastisch zu interpretieren – entstand die bosnische Kirche doch aller Wahrscheinlichkeit nach aus jener Mönchsgemeinschaft, die 1203 in Bilino Polje in Erscheinung trat. Der djed wäre dann das Haupt der gesamten Kirche, seine Amtsbezeichnung gleichbedeutend mit dem lateinischen nonnus, womit sowohl im östlichen als auch im westlichen Monastizismus Priore und Äbte gehobenen Ranges benannt wurden. Die an97 Als erster brachte Ende des 19. Jahrhundert Asbûth (1888: 94 – 118) diese These hervor. Siehe seit dem v. a. Solovjev (1954 & 1959). 98 Miletic´ (1957), die sich entschieden gegen die Annahme erwehrt, die stec´ci seien bogomilischen Ursprungs, hat unter 60.000 Steinen nur drei ausgemacht, welche Inschriften aufweisen, die mit der bosnischen Kirche in Zusammenhang gebracht werden können. Eine umfangreiche Kritik an dieser Theorie liefert auch Fine (1975: 88 – 93, 260 – 264). 99 Männer, die ihre Arme emporheben, sind beispielsweise auch auf den großen irländischen Kreuzen abgebildet. Siehe Lambert (1994: 38). Andere vermeintlich dualistische Abbildungen stellen sich bei genauerer Betrachtung als heidnisch, heraldisch oder walachisch heraus. Siehe Wenzel (1961; 1962: 115 – 119, 141 f.; 1965). 100 Solovjev (1956: 17) hat mindestens 85 Steine gefunden, auf denen Kreuze abgebildet sind.
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deren Bezeichnungen stünden für ältere Mitglieder oder Amtsträger der Klöster. Der Titel gost, also Gastgeber, gehe auf die wichtige, in der Urkunde von Bilino Polje angesprochene, Funktion der bosnischen Klöster als Hospizien zurück;101 der Terminus krstjanin sei gleichbedeutend mit dem Mönch im Allgemeinen (siehe ebd.: 52 f.; Dragojlovic´ 1987: 150 f.). Auch die katharische ›Kirche‹ samt Diözesanstruktur, Sakramenten, Dogmen, ausdifferenziertem Klerus und Laien ist ja – ob von den Inquisitoren und Historikern konstruiert oder nicht – zum großen Teil ein Spiegelbild der römischen Kirche (siehe Anm. 71). Die diskutierten Strukturen lassen sich im Grunde im gesamten – auch häretischen – Christentum finden. Das Testament des gost Radin, einem der letzten Prälaten der alten bosnischen Kirche und Berater Herzogs Stjepan Vukcˇic´ Kosacˇa von Sankt Sabas, ist eine der wenigen originären Quellen der bosnischen Kirche. Am 5. Januar 1466 in Dubrovnik aufgesetzt, galt es lange als wichtiges Beweisstück für die häretische Natur der bosnischen ›Christen‹, welches, wie Franjo Sˇanjek (1976: 202; zuvor aber auch schon Truhelka 1916; Solovjev 1965) formulierte, zeigen würde, dass ihre gesellschaftlichen Strukturen und Glaubenspunkte mit jenen der Katharer korrespondierten. Allein, schon auf den ersten Blick fallen zahlreiche un- oder gar antikatharische doktrinäre Aspekte ins Auge wie etwa das Kreuz, das dem Dokument vorangestellt ist, und andere, vermeintlich katharische Glaubenspunkte gehen auf Übersetzungsfehler zurück (siehe Lambert 1977: 146 – 148, 374 – 380; 1994: Neuübersetzung des Testaments auf S. 46 – 49). Der zölibatär lebende Radin glaubt an nur einen Gott, an die Trinität, das Jüngste Gericht und die Sündenvergebung. An bestimmten Feiertagen – u. a. an jenen der orthodoxen Heiligen Nedelja und Petka – sollten bedürftige Katholiken gegen Geld in ihren Kirchen für seine Seele Kerzen anzünden, getaufte Mitglieder seiner eigenen, als apostolisch verstandenen Kirche und ›christliche‹ Bauern auf den Knien für seine Seele beten. Es sollten dafür aber vor allem arme, betagte Bauern ausgesucht werden, die gut seien und die Sünde nicht liebten. Außerdem will der gost sich in einer Kirche ein Grabmonument bauen lassen. Das alles ist zwar nicht durchweg katholisch, auf keinen Fall aber katharisch – am ehesten noch synkretisch (siehe Lambert 2001: 327). Gleichwohl gibt es immer noch Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen der bosnischen Kirche und dem Katharertum. Zum einen nämlich ihre Benennung als Patarener (= Katharer) und Manichäer in lateinischen Quellen des 13. – aber vor allem 14. – bis 15. Jahrhunderts102 sowie ihre Beschreibung 101 Siehe ebd.: 50 – 66, 117 – 121; Malcolm (2000: 62 – 66); ähnlich bei Mudry (1999: 261). Dragojlovic´ (1987: 157) hat konstatiert, dass der Terminus gast (= gost) im slavischen Mönchtum bisweilen verwendet wurde, um den Igumen oder Abt zu benennen. 102 Siehe Malcolm (2000: 60 – 62); Fine (1975: 187 – 201, 219 – 260, 264 – 277, 295 – 301, 307 – 345);
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als dualistische, quasi-katharische Häresie bei den Inquisitoren desselben Zeitraums;103 zum anderen der sogenannte Radosav-Codex aus dem 15. Jahrhundert (siehe Solovjev 1948; Kniewald 1964: 599). Man könnte freilich sowohl die Bezeichnung der bosnischen ›Christen‹ als Patarener und Manichäer als auch die Erörterungen der Inquisitoren als reine Polemik abtun. Das würde aber genauso fehlerhaft sein, wie ihnen aufs Wort zu glauben, was ja in den bosnischen Quellen auf keine historische Wirklichkeit trifft. Die Indizien für eine Flucht dualistischer Häretiker aus Dalmatien Richtung Bosnien sind schon mehrmals vorgebracht worden. Diese häretische Minderheit könnte aber die krstjani wenigstens beeinflusst und die lateinischen Schreiber dazu veranlasst haben, die gesamte bosnische Kirche als häretisch anzusehen. Die westlichen Ketzergesetze würden das letztgenannte Verhalten erklären, wird dort doch selbst zum Ketzer, wer Häretiker unterstützt oder nicht gegen sie vorgeht.104 Der kirchenslavische Radosav-Codex wirft ebenfalls Fragen auf. Er enthält ein Ritual, welches die Kurzversion eines provenzalischen Katharerrituals aus dem 13. Jahrhundert zu sein scheint, allerdings keine katharischen Gedanken aufweist, sondern geradezu als katholisch bzw. orthodox durchgehen könnte (siehe Sˇidak 1937: 116 – 122; Sˇanjek 1976: 185 – 194; Fine 1975: 83). Ein letztes Rätsel gibt die (Richtung der) Herkunft der bosnischen Dualisten auf. Die einen behaupten gemäß Racˇki (1869 – 1870: 377 f.), die Häretiker seien vom (bogomilischen) Osten her – von Bulgarien bzw. Mazedonien über Serbien – nach Bosnien gekommen.105 Spätestens seit Jaroslav Sˇidak (1937: 60 – 63; 1940: 60) wird aber auch davon ausgegangen, dass jene Häresie vom (katharischen) Westen aus über Dalmatien seinen Weg dorthin fand.106 Racˇki hat zuallererst die Aussage Anselms von Alessandria auf seiner Seite, der den bogomilischen Dualismus ja von bosnischen Kaufleuten nach Bosnien bringen ließ. Außerdem
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Lambert (1977: 143 f.). Die gosti wurden im katholischen Dubrovnik regelmäßig als Diplomaten bosnischer Herrscher empfangen und bei der Gelegenheit als Patarener bezeichnet. Siehe Dinic´ (1967: 181 – 236). Siehe Fine (1975: 54 – 58). Die wichtigsten inquisitorischen Quellen zu den bosnischen ›Christen‹ sind folgende: Paulus von Dalmatien, Dialogus inter christianum romanum et patarenum bosnensem (ca. 1250); Bartholomäus von Alverna, Dubia ecclesiastica (1372/ 1373); der anonyme Traktat Isti sunt herrores quos communiter Patareni de Bosna credunt et tenent (14. Jh.); Jakobus de Marchia, Dialogus contra manichaeos in Bosna (15. Jh.); der anonyme Tractatus contra patharenos ad catholice fidei defensionem (vor 1441); Johannes Torquemada, Symbolum pro informatione manichaeorum regni Bosnae (1461). Die wichtigsten Abschnitte der aufgezählten Quellen sind abgedruckt bei Sˇanjek (2003b: 151 – 306). Siehe z. B. die wichtige antihäretische Dekretale Ad extirpanda vom 15. Mai 1252, in: Sacrorum Conciliorum: 569 – 575. ´ orovic´ (1924); Sˇisˇic´ (1944: Zuvor schon bei Petranovic´ (1867: 1 – 104), später dann bei C 135); Runciman (1947: 98 – 101); Kniewald (1949: 117); Solovjev (1955: 641). Dies vertrat aber schon im 18. Jahrhundert Daniele Farlati (Illyricum sacrum: 44).
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stützt er sich auf die Vita des Heiligen Simeon (= Stefan Nemanja, serbischer Großzˇupan) von seinem Sohn, dem serbischen König Stefan II. Nemanjic´, aus dem 13. Jahrhundert, in der von einer Ketzerverfolgung in Serbien die Rede ist (siehe Sˇafrik 1851: 6 – 8). Bei jenen Häretikern könnte es sich um Bogomilen handeln, die dann ins benachbarte Bosnien geflohen wären.107 Die andere Annahme, die Dualisten seien von Dalmatien aus nach Bosnien gelangt, wird, wie schon mehrmals erwähnt, durch mehrer lateinische Quellen bestätigt.108 Malcolm D. Lambert (2001: 317) hat einen sinnvollen Kompromiss zwischen den beiden Sichtweisen gefunden, indem er sowohl die slavonischen, häretischen Kaufleute Anselms von Alessandria als auch die vertriebenen Häretiker Stefans II. Nemanjic´ nicht nach Bosnien sondern nach Dalmatien geraten lässt. Der bosnische Handel war in jener Zeit derart unentwickelt, dass eine Handelsbeziehung nach Byzanz kaum denkbar ist. Anselm scheint hier allgemeine geographische Begriffe – Slavonien und Bosnien – miteinander vermengt zu haben. Die dualistische Häresie könnte (zuerst Dalmatien und dann) Bosnien also sowohl von Osten als auch vom Westen her erreicht haben. Für eine Beieinflussung durch den Westen sprechen einerseits die im 13. Jahrhundert erwähnte Orientierung – im Sinne des Wortes – bestimmter italienischer Katharergruppen nach Slavonien; dann aber auch die ab dem Ende des 13. Jahrhunderts dokumentierte Flucht italienischer Häretiker dorthin.109 Die Frage nach dem Dualismus der bosnischen Kirche bleibt, wo nicht bestritten, zumindest offen.
3.
Zusammenfassung
Im Zentrum der Untersuchung standen die beiden Fragen, ob die Katharer des Rheinlandes, Frankreichs und Italiens ihre dualistischen Glaubensvorstellungen (1.) von den bulgarisch-byzantinischen Bogomilen empfangen und dann (2.) an die bosnischen ›Christen‹ weitergegeben haben. Wenn dem so ist, würde es sich 107 Für eine Kritik hieran siehe v. a. Sˇanjek (1976: 52 – 63). 108 Siehe auch die im 18. Jahrhundert verfasste bosnische Chronik des Franziskaners Nikola Lasˇvanin (= Ljetopis Fra Nikole Lasˇvanina: 37), der auf nicht näher genannte Quellen zurückgreift und Ende des 13. Jahrhundert dalmatische Patarener nach Bosnien fliehen lässt. Dabei bezieht er sich auch auf einen Brief von Papst Johannes XXII. von 1319 an den bosnischen Herrscher Mladen Sˇubic´ (in: Codex diplomaticus VIII: 535 f.), in dem der Pontifex ihn darum ersucht, endlich die Häresie in Bosnien auszulöschen. 109 Siehe die oben (Anm. 96) zitierte Aussage des Jakob Bech 1387/1388. Außerdem sind in den Quaterni racionum, den Rechnungsbüchern, des lombardischen Inquisitors Lanfranco da Bergamo zwischen 1293 und 1299 Fälle überliefert, bei dem der Dominikaner lombardische Häretiker jagte, die von Lodi aus ad hereticos in Slavonien geflohen waren. Siehe Biscaro (1922: 454 f., 464 – 466, 511 f., 520).
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um eine beachtliche ideelle Transferleistung handeln, da sich große zeitliche und geographische Räume zwischen der bogomilischen und der katharischen Häresie befinden. Zuerst ist festgestellt worden, dass sowohl die mutmaßlich eigenen katharischen als auch die nichtkatharischen polemischen Texte den Ursprung der Katharer durchweg im Osten verorten und dabei Bulgarien, Drugonthia und Konstantinopel besonders gewichten. Der Einwand, die Polemiker würden jene Häresie nur deshalb auf den Osten zurückführen, weil für die Zeitgenossen von dort alles Negative herkomme, konnte zurückgewiesen und – ganz im Gegenteil – demonstriert werden, dass der Orient damals sogar eher positiv konnotiert war. In Bulgarien, Drugonthia und Konstantinopel, wohin die Quellen ja allesamt deuten, hatte sich aber im 10. und 11. Jahrhundert die dualistische Glaubensvorstellung der Bogomilen verbreitet. Ein Vergleich zwischen der bogomilischen und katharischen Lehre offenbarte eine derart große Übereinstimmung, dass ein Transfer dualistisch-häretischer Gedanken zwischen Ost und West überaus wahrscheinlich scheint. Dabei lässt die rege Bezeichnung der westlichen Häretiker des 11. und frühen 12. Jahrhundert als ›Manichäer‹ mehr auf eine toposhafte Anknüpfung an das antihäretische Vokabular des Augustinus schließen denn auf ein veritables (Proto-)Katharertum. Die ersten Katharer identifizierten also immer noch Everwin von Steinfeld im Rheinland (1143) und Eckbert von Schönau in Köln (1163), so dass die Ideenübermittlung zu einem unbestimmten Zeitpunkt innerhalb der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts vermittels lateinischer, von jener Häresie beeinflussten Kreuzfahrer aus Konstantinopel stattgefunden haben muss. Die Balkanhalbinsel betreffend ist konstatiert worden, dass die lateinischen antihäretischen Streitschriften des 13. Jahrhunderts von einem katharischen ordo von Slavonien mit eigener doktrinären Ausrichtung sprechen, auf den sich die Katharer von Mantua und Vicenza ab dem Ende des 12. Jahrhundert bezogen hätten. Mit Slavonien müssen dabei Bosnien und Hum (heute: Herzegowina) gemeint worden sein. Um 1200 wurden dann auch tatsächlich mehrheitlich pauschale Häresievorwürfe gegen Bosnien laut, die bis ins 15. Jahrhundert aufrechterhalten bleiben sollten. Für die hier behandelte Zeit bis ca. 1250 konnte allerdings nachgewiesen werden, dass es sich dabei von Seiten der kroatischungarischen Ankläger (samt dem Erzbischof von Split) um politische Rivalität und also Machtinteressen ging; von Seiten des Papstes handelte es ich um Missverständnisse, die sowohl auf den kritischen Zustand der bosnischen Kirche als auch auf die großen (religiös-)kulturellen Unterschiede zwischen Bosnien und dem Westen – wozu auch Dalmatien gehörte – zurückzuführen sind. Weder die bosnischen ›Christen‹ des Konzils von Bilino Polje (1203) noch die in den Bosnien-Kreuzzügen der 1230er Jahre vordergründig bekämpfte bosnische Kirche weisen dualistische Merkmale auf, die prägnant genug sind, um von
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Katharertum oder Bogomilismus zu reden. Allerdings gibt es auch Hinweise darauf, dass es in Bosnien seit ca. 1200 dualistische Häretiker gegeben hat, so zum Beispiel jene, die aus Trogir und Split dorthin geflohen waren. Die Kronzeugen für ein dualistisches, katharisch-bogomilisches Wesen der bosnischen Kirche – die Grabsteine, die Organisation und das Testament des gost Radin – haben sich als nicht überzeugend herausgestellt; es bleiben jedoch immer noch genügend ungeklärte Punkte, die eine geringfügige Beeinflussung der bosnischen Kirche durch dualistische Häretiker nahelegen. Auch die Frage nach der Herkunft jener häretischen Minderheit kann nicht eindeutig beantwortet werden. Am wahrscheinlichsten ist, dass sie – falls es sich um Bogomilen aus Konstantinopel handelt – den Umweg über Dalmatien machte; gleichzeitig legen manche Quellen aber auch den Einfluss italienischer Katharer nahe. Von einem ungestörten Transfer dualistischer Glaubensvorstellungen zwischen Bogomilen, Katharern und bosnischen ›Christen‹ kann nur bedingt gesprochen werden. Im eindeutigeren Fall der Bogomilen und Katharer ist die Abhängigkeit zwar augenscheinlich; offen bleibt aber weiterhin, welche Bedeutung der Dualismus innerhalb der katharischen Häresie zukam, die sich ja auch auf die Tradition apostolischer Christusnachfolge berufen konnte, welche ab dem 11. Jahrhundert im Westen auszumachen ist. Die bosnische Kirche ist hingegen höchstens unwesentlich von dualistischem Ideengut beeinflusst worden; jene Häretiker, von denen nicht mit endgültiger Sicherheit gesagt werden kann, ob sie (katharisch) aus Italien, (bogomilisch) aus Byzanz oder aus beiden Regionen gleichermaßen nach Bosnien kamen, blieben dort höchstwahrscheinlich bis zuletzt eine Minderheit.
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Byzanz als Drehscheibe des merowingerzeitlichen Handels zwischen Ost und West – Das Beispiel Granat
1.
Einleitung
Der vorliegende Aufsatz1 beleuchtet die weitreichenden Handelskontakte zwischen Ost und West – in diesem Fall Südasien und Mitteleuropa – und zeigt am Beispiel Granat die Rolle auf, die das Byzantinische Reich bei der Vermittlung, Weitergabe und Verarbeitung des Rohedelsteins und den daraus hergestellten Halbfabrikaten im Frühmittelalter spielte. Die folgenden Ausführungen fassen den aktuellen Forschungsstand zusammen und beleuchten ihn kritisch. Das Beispiel des roten Edelsteins Granat eignet sich aus Sicht der Archäologie besonders gut für einen Beitrag zu »Byzanz« und »Transfer«, weil er Informationen zu diesen Themen gleich auf zwei Ebenen bietet. Einerseits wurde der Transfer im konkreten, materiellen Sinn, d. h. der Handel, über den ostmediterranen Raum abgewickelt. Der im ganzen mediterranen Raum beliebte Edelstein (Freeden 2000: 114) wurde von Indien und Sri Lanka über das Rote Meer und das östliche Mittelmeer in das Gebiet nördlich der Alpen verhandelt. Ein großer Teil dieser Route lag damals im Herrschaftsbereich des Byzantinischen Reiches (Drauschke 2005: 40), das als Handelsdrehscheibe fungierte. Andererseits lässt die Stilistik der damit verzierten Objekte, wie beispielsweise die im frühen Mittelalter beliebten Gewandschließen (Fibeln), auch ideelle Transferleistungen im Bereich des Kunsthandwerks erkennen. Das Byzantinische Reich übte einen starken stilistischen Einfluss auf die Gebiete nördlich der Alpen aus (Daim 2000: 80 f.; Drauschke 2005: 35 ff., 162 ff.; Drauschke 2008: 370 f.). Es liegen Hinweise auf Werkstätten für die Herstellung von Halbfabrikaten und Granatobjekten im byzantinisch beherrschten Mittelmeergebiet vor. 1 Der vorliegende Aufsatz basiert auf einem Vortrag gleichen Titels, der im Rahmen des Tandemseminars »Byzanz – das andere Mittelalter« des Freiburger Promotionskollegs »Lern- und Lebensräume im Mittelalter« am 4. Juli 2008 gehalten wurde. Er baut auf Ergebnissen auf, die im Zusammenhang mit meiner Dissertation »Fibelausstattung und Lebensalter in der Merowingerzeit« erzielt wurden.
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Immer wieder vermutete die archäologische Forschung, dass die qualitativ hochwertigsten Schmuckgegenstände des nordalpinen Raumes mediterranen Ursprungs sind, die weniger qualitätvollen Objekte hingegen im Merowingerreich selbst produziert wurden. Die Ausprägungen und die Intensität dieses Wissenstransfers werden jedoch bis heute kontrovers diskutiert. Diesen Themenbereich werde ich im Folgenden aber nur am Rande erörtern. Granat war nicht das einzige Fernhandelsgut, das seinen Weg über den ostmediterranen Raum oder aus dem östlichen Mittelmeergebiet selbst in die Gebiete nördlich der Alpen fand (Drauschke 2005: 39; Kessler 2001: 118 f.; Tomber 2008: 54 f.). Auch Gewürze, Rohstoffe, Textilien, sowie exotische Lebensmittel und verschiedene andere Güter wurden ebenso verhandelt (Abb. 1).2 Allerdings ist über die genauen Modalitäten des Warenaustauschs im frühen Mittelalter bislang noch relativ wenig bekannt (Drauschke 2005: 292). Archäologische Belege für Handelsbeziehungen, d. h. den Transfer von Gütern, Menschen und Ideen, zwischen Ost und West gibt es in beide Richtungen. Beispielsweise fanden sich spätantike byzantinische Münzen des 4. bis 6. Jahrhunderts auf dem indischen Subkontinent (Kessler 2001: 116, 124; Ptak 2007: 103; Tomber 2008: 33 ff.; Vielitz 2003: 19) und belegen somit den Kontakt zwischen dem Byzantinischen Reich und vorzugsweise Südindien und Sri Lanka bis in diese Zeit hinein. Keramik verschiedenster Funktion und Herkunft wurde über den gesamten Indischen Ozean in alle Richtungen vertrieben (Tomber 2008: 38 ff.). So finden sich spätrömische Amphoren auf Grabungen in Indien ebenso wie indische Keramik in Ägypten. Aber auch mesopotamische, ostafrikanische und südarabische Waren gelangten in die Gebiete rund um das Arabische Meer. Teilweise erstreckte sich das Handelsnetz weit über den byzantinisch beeinflussten Raum hinaus nach Norden. So bezeugen der zeitlich etwas später datierende berühmte Buddha von Helgö in Schweden (Gyllensvärd 2004: 11, 23 f.; Holmqvist 1961: 112) (Abb. 2) und die in Nordeuropa gefundenen Dirhems, arabische Silbermünzen des 9. bis 11. Jahrhunderts, einen regen und weitreichenden Austausch (Ilisch 2002: 326 f.). Vergleichsweise viel ist über den Handel mit Seide bekannt (Müller 2010: bes. 81). Schon in römischer Zeit wurden Seidenstoffe und -gewänder aus China nach Europa importiert. Die Handelsroute verlief einerseits über die Seidenstraße durch das Tarimbecken und Baktrien, andererseits über den Seeweg durch das Arabische und das Rote Meer (Tomber 2008: 57) (Abb. 3). Entlang der Seeroute überliefern die Schriftquellen sogar einzelne Häfen und Handelszen2 Einige archäologisch nachgewiesene Beispiele: Amethyst, Cypraeen (Tigermuscheln), Elfenbein, Glasperlen, Koptisches Bronzegeschirr, Millefioriperlen, Münzen, Nelken, Pfeffer, Quecksilber, Schwefel, Seide, Soda, Weihrauch, Zimt, wobei besonders Gewürze, Lebensmittel und Textilien aufgrund der Überlieferungsbedingungen schwer zu fassen sind.
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Abb. 1: Häfen und Handelsprodukte nach Kosmas Indikopleustes (aus Roth 1980: 319)
tren (Tomber 2008: 20 ff., bes. 23), die sicherlich auch als Umschlagplätze für andere Handelsgüter dienten. Der Handel erfolgte nach diesen Quellen in Etappen, chinesische Händler brachten die Ware bis nach Süd- oder Zentralasien, wo sie von den dortigen Händlern übernommen und weiterverhandelt wurde (Höllmann 2004: 23).
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Abb. 2: Der Buddha von Helgö (aus Gyllensvärd 2004: 11)
2.
Was ist Granat?
Wenn in der Archäologie auf die roten Steineinlagen der frühmittelalterlichen Schmuckstücke Bezug genommen wird, spricht man meist von Almandin (Arrhenius 1998: 583). Dieser ist jedoch eine Unterart von Granat, einer Gruppe von Silikatmineralien, die sich in mehrere Varianten unterteilt (Fehr et al. 1995: 2; Zang 1995: 20). Je nach Elementzusammensetzung der sogenannten Endgruppe handelt es sich um Almandin, Pyrop, Spessartin, Grossular oder eine andere Varietät3, die optisch kaum voneinander zu unterscheiden sind (Zang 1995: 21). Die einzelnen Granatvarianten treten jedoch selten in Reinform auf, sondern als Mischkristalle unterschiedlicher Kombinationen miteinander. Die Benennung erfolgt anhand der am häufigsten enthaltenen Endgruppe (Calligaro 2007: 115 f.; Greiff 1998, 605; Quast & Schüssler 2000: 77; Zang 1995: 20). Da im frühen 3 Allen Varianten dieser Silikatmineralien liegt die chemische Formel [SiO4]3X zu Grunde. Je nach Variante unterscheidet sich die Endgruppe X. Beim eisenreichen Almandin handelt es sich um Fe3Al2. Pyrop hingegen ist reich an Magnesium, seine chemische Formel lautet entsprechend Mg3Al2[SiO4]3 (Zang 1995: 20 f.).
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Abb. 3: Die Routen der Seidenstraße (aus Liu & Shaffer 2007: 20)
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Mittelalter nicht nur die Varietät Almandin als Schmuckstein verwendet wurde, müsste man deshalb richtigerweise von Granat und nicht von Almandin sprechen. Ganz korrekt wäre die Bezeichnung roter Granat, denn es kommen auch andere Farbvarietäten vor, die im Frühmittelalter aber nicht verwendet wurden. Granat ist ein auf der ganzen Welt vorkommendes Mineral (Fehr et al. 1995: 2), das aber in Edelsteinqualität selten ist (Quast & Schüssler 2000: 77; Zang 1995: 41). Dies gilt besonders für den im Frühmittelalter verwendeten spaltbaren Granat (Arrhenius 1998: 584). Den zeitgenössischen Schriftquellen zufolge beutete man in der Antike und Spätantike Lagerstätten in Ägypten, Äthiopien, Westanatolien, Indien, Pakistan und Sri Lanka aus (Cosmas Indikopleustes, Buch XI – Sur l’¡le de Taprobane, Absatz 16; Isidorus Hispalensis, Buch XVI – Von Steinen und Metallen, Kapitel XIV – Von den Feurigen; Plinius Secundus, Buch XXXVII – Steine: Edelsteine, Gemmen, Bernstein, Kapitel XXV; Theophrastus, Absatz 18). Plinius der Ältere überlieferte (Plinius Secundus, Buch XXXVII – Steine: Edelsteine, Gemmen, Bernstein, Kapitel XXV), dass der Name Almandin (oder Alabandin) von der Stadt Alabanda (Abb. 4), dem heutigen Araphisar in der türkischen Provinz Aydın (Greiff 1998: 601; Quast & Schüssler 2000: 76; Roth 1980: 318), herzuleiten sei, in der man den Edelstein verarbeitet habe. Dies deutet auf eine besondere Bedeutung des ostmediterranen Raumes für die Granatverarbeitung hin, denn Alabanda lag während der hier interessierenden Zeitspanne im byzantinischen Machtbereich. Da die einzelnen antiken Autoren teilweise verschiedene Bezeichnungen verwendeten, stellt die Zuordnung der in den Quellen genannten Edelsteine ein Problem dar, da sich die Begriffe nicht unbedingt auf Granat beziehen müssen. Möglicherweise bezeichnete man damit auch andere Edelsteine, die optisch nicht von Granat zu unterscheiden sind. Ob es sich um synonym verwendete Begriffe handelte, die sich ganz allgemein auf rote Edelsteine bezogen, oder ob damit eine Unterscheidung getroffen wurde, lässt sich heute nicht mehr klären. So sprach Theophrast im 4. Jahrhundert vor Chr. von Anthrax oder Anthrakion (Theophrastus, Absatz 18). Die von ihm erwähnten Vorkommen entsprechen aber nur bedingt realen Abbaugebieten von Granat. Indien beispielsweise wird bei ihm nicht erwähnt. Plinius d. Ä. im ersten nachchristlichen Jahrhundert zitierte einige ältere Autoren wie Theophrast, bezeichnete den Edelstein aber als Carbunculus (Plinius Secundus, Buch XXXVII – Steine: Edelsteine, Gemmen, Bernstein, Kapitel XXV) (Abb. 4). Er unterschied zwei Gruppen, den indischen und den garamantischen Carbunculus, der von den Griechen Carchedonia genannt werde. Zur zweiten Gruppe zähle auch der äthiopische und alabandische Granat, der in Alabanda verarbeitet werde, aber aus dem in der Nähe liegenden Orthosia
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Abb. 4: Fundorte des Granats nach Plinius (aus Roth 1980: 318)
stamme (Plinius Secundus, Buch XXXVII – Steine: Edelsteine, Gemmen, Bernstein, Kapitel XXV). Kosmas Indikopleustes war um die Mitte des 6. Jahrhunderts ägyptischer Händler auf der Seeroute nach Indien und Sri Lanka (Pigulewskaja 1969: 111 ff.). Später trat er in Alexandria in ein Kloster ein und schrieb dort seinen Reisebericht, die Christliche Topographie (Cosmas Indikopleustes, Buch XI – Sur l’¡le de Taprobane, Absatz 16). In diesem Werk erwähnte er einzelne Handelszentren in Indien und Sri Lanka und nannte die Güter, die von diesen Orten aus verhandelt wurden. Der Export von Alabandenum erfolgte demnach von Kaber aus
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(Cosmas Indikopleustes, Buch XI – Sur l’¡le de Taprobane, Absatz 16), hierbei handelt es sich um das im heutigen Bundesstaat Tamil Nadu gelegene südostindische Kaveripattanam4 (Roth 1980: 318) (Abb. 1). Isidor von Sevilla schrieb im 7. Jahrhundert in seiner Enzyklopädie unter anderem von Alabandina, das nach der Region Alabanda benannt sei (Isidorus Hispalensis, Buch XVI – Von Steinen und Metallen, Kapitel XIV – Von den Feurigen). In seinem Kapitel »De ignitis« beschrieb er weitere Edelsteine, die ebenfalls als Granat angesprochen werden können. Er nannte sowohl die bekannten Bezeichnungen Carbunculus, Anthrax und Carchedonia als auch neue Benennungen wie beispielsweise Sandasirus, der aus Indien stamme und in dem »goldene Tropfen« schimmerten (Isidorus Hispalensis, Buch XVI – Von Steinen und Metallen, Kapitel XIV – Von den Feurigen). Hierbei könnte es sich um Sterngranat handeln, der sowohl in Indien und Sri Lanka aber auch in Tansania vorkommt (Siehe hierzu Fehr et al. 1995: 16). Insgesamt zeigt sich bei allen (spät)antiken Autoren eine unklare Zuordnung der verwendeten Begriffe Anthrax, Carbunculus und Alabandenum zu den heute definierten Mineralien. Wie bereits angedeutet, könnte es sich deshalb bei den in den Schriftquellen erwähnten Namen nicht nur um Granat handeln, sondern auch um Rubin, Achat und andere Edelsteine (Greiff 1995: 66; Greiff 1998: 600), die erst mit modernen naturwissenschaftlichen Methoden voneinander abzugrenzen sind oder deren Unterscheidung in der Spätantike nicht von Bedeutung war. Auch die erwähnten Vorkommen sind problematisch, denn es handelt sich dabei nur teilweise um tatsächliche Granatlagerstätten; oft sind mit den genannten Orten auch die zentralen Seehandelsorte oder Steinbearbeitungszentren jener Zeit aufgeführt (Greiff 1995: 67; Greiff 1998: 601; Kory & Steiniger 2001: 275). Auch archäologische Quellen belegen den Handel mit Granat. So zeigen nordindische Granate aus sri-lankischen Handelsstädten (Kessler 2001: 123 f.; Schüssler et al. 2001: 240 f.), dass auch innerhalb des indischen Subkontinents mit dem Edelstein gehandelt und der Vertrieb wohl über zentrale Orte abgewickelt wurde (Kessler 2001: 124). Rohgranate bzw. Halbfabrikate fanden sich beispielsweise in Paviken auf Gotland (Lundström 1973: 70), wo große Mengen in einem begrenzten Grabungsareal gefundener Rohgranate eine Werkstatt oder ein Warenlager vermuten ließen (Lundström 1973: 76), in der Crypta Balbi in Rom (Manacorda & Zanini 1989: 30; Ricci 2001: 338; Serlorenzi 2003: 207 f.), deren Funde Hinweise auf eine in der Nähe gelegene Werkstatt lieferten, und in einem Hort aus Karthago, der als Handwerkerdepot angesprochen wurde (Haevernick 1973: 553). Der bekannte Karthago-Hort ist in seiner Ansprache jedoch unsicher. Einerseits ist nicht zu klären, ob Karthago mit seiner großen 4 Häufig auch Kaveripattinam geschrieben.
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Bedeutung für den Orienthandel (Pirenne 1987: 31) allein Handelsposten oder zusätzlich auch Verarbeitungsort des Granats war, wie Thea Elisabeth Haevernick annimmt (Haevernick 1973: 553). Dies ist aber eher von nebensächlicher Bedeutung, entscheidender ist die Frage nach der Geschlossenheit des Horts, denn manche Forscher gehen davon aus, dass nicht alle Stücke aus dem 5. und 6. Jahrhundert stammen, sondern dass auch neuzeitliche Stücke darunter sind (Drauschke 2005: 45), wie Thomas Calligaro et al. jetzt nachweisen konnten (2009: 156 f., 164). Zudem sind die Fundumstände des Hortes nicht überliefert, was eine Zusammengehörigkeit der Granatplättchen in Frage stellt (HaasGebhard & Looz 2009: 583). Sollten diese Kritikpunkte zutreffen, wäre der Hort aus Karthago nur noch eingeschränkt zur Rekonstruktion von Handelsrouten und möglichen Verarbeitungszentren von Granat im Frühmittelalter heranzuziehen.
3.
Naturwissenschaftliche Untersuchungen zur Herkunftsbestimmung des Granats
Um die Herkunft des Granats und die im Frühmittelalter ausgebeuteten Lagerstätten zu bestimmen und damit mehr über die Verarbeitung und den Handel mit dem Edelstein zu erfahren, führten mehrere Forschergruppen naturwissenschaftliche Untersuchungen durch (Arrhenius 1985; Calligaro et al. 2007; Farges 1998; Gilg et al. 2010; Greiff 1998; Quast & Schüssler 2000; Roy & Vanhaeke 1997). Hierbei ermittelte man mit verschiedenen Verfahren5 die einzelnen chemischen Elemente und Spurenelemente der Proben (Abb. 5). Zusätzlich spielten die Ergebnisse aus optischen, geologischen und mineralogischen Untersuchungen für die Lagerstättenbestimmung eine Rolle. Bislang ist es nicht möglich, die einzelnen Varietäten anhand charakteristischer Elementzusammensetzungen bestimmten Lagerstätten zuzuordnen, es zeigen sich aber Schwerpunkte in der Verbreitung, die eine regionale Eingrenzung erlauben. Die Zuordnung erfolgt über Gemeinsamkeiten zwischen Lagerstätte und untersuchtem Granat in der Varianten-Verteilung der Mischkristalle (Quast & Schüssler 2000: 77), der chemischen Zusammensetzung, den Einschlüssen (Calligaro et al. 2007: 116) sowie dem Alter der Muttergesteine und Einschlüsse (Calligaro et al. 2007: 123 ff.). Anhand der chemischen Charakterisierung ließen sich bereits bei älteren 5 RFA (Röntgenfluoreszenzanalyse), PIXE (Partikel-induzierte Röntgenemission), XRD (Röntgendiffraktion), SEM-EDX (Energiedispersive Röntgenspektroskopie mithilfe eines Rasterelektronenmikroskops). Eine gute Beschreibung der einzelnen Analyseverfahren findet sich bei Schreiner et al. (2000: 288 ff.).
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Abb. 5: Die Scheibenfibeln der Arnegunde während der Analyse (aus Calligaro et al. 2007: 129)
Analysen zwei geographisch und zeitlich voneinander abgrenzbare Hauptgruppen bilden, die von einigen Nebengruppen ergänzt werden. Eine der Hauptgruppen wurde vor allem im 5. und 6. Jahrhundert verwendet und ist identisch mit Referenzproben aus Indien und Sri Lanka (Abb. 6). Die zweite, im 7. und 8. Jahrhundert genutzte Gruppe entspricht der Zusammensetzung heute abgebauter böhmischer Granatvorkommen (Calligaro et al. 2007: 128; Farges 1998: 327 ff.; Gilg et al. 2010: 97, 99 f.; Greiff 1998: 614, 621, 624 f.; Quast & Schüssler 2000: 83 – 87; Roy & Vanhaeke 1997: 131 f.). Eine neuere Analyse des Mus¤e d’Arch¤ologie Nationale in Paris ermittelte zusätzlich anhand von Einschlüssen das Alter der Granate (Calligaro et al. 2007: 123 ff.). Dieses konnte mit dem Alter der in Frage kommenden Muttergesteine verglichen werden und ermöglichte so eine genauere Eingrenzung und Aufschlüsselung der möglichen Lagerstätten in fünf Gruppen (Calligaro et al. 2007: 125 ff.) (Abb. 7). Weiterhin zeigte sich, dass Granate aus Südasien nie gemeinsam mit böhmischen Granaten auf den gleichen Objekten anzutreffen sind (Calligaro et al. 2007: 127). Auch eine Herkunft der Granate aus afrikanischen Vorkommen wollten die Pariser Bearbeiter nicht ausschließen, da Ostafrika zur Entstehungszeit der indischen Granate mit der Indischen Platte zusammenhing und damit das gleiche Alter hat sowie ein sehr ähnliches geologisches und chemi-
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Abb. 6: Fundlokalitäten der Referenzgranate in Südasien (aus Greiff 1998: 612)
sches Profil besitzen müsste (Calligaro et al. 2007: 125). Eine Überprüfung scheiterte damals an den fehlenden Referenzproben aus Afrika, das aber schon Plinius als Herkunftsregion erwähnte (Plinius Secundus, Buch XXXVII – Steine: Edelsteine, Gemmen, Bernstein, Kapitel XXV) (Abb. 4). Die aktuellsten Untersuchungen (Gilg et al. 2010) des Mus¤e d’Arch¤ologie Nationale gemeinsam mit der Archäologischen Staatssammlung München am Centre de Recherche et de Restauration des Mus¤es de France unter der Leitung von Thomas Calligarû, Patrick P¤rin und Brigitte Haas-Gebhard erbrachten
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Abb. 7: Die zeitliche Abfolge der Granattypen (aus Calligaro et al. 2007: 132). Typ I aus Rajasthan, Typ II von der Ostküste Indiens, Typ III aus Sri Lanka, Typ IV ist unklar (sicher nicht Böhmen, vielleicht Nordostindien), Typ V aus Böhmen.
jüngst den Beleg, dass wohl auch aus Afrika, genauer gesagt Nigeria, Granate (Pyrop) während der Merowingerzeit nach Europa gelangten (Gilg et al. 2010: 98). Möglich seien auch Pyrop-Vorkommen in Portugal, die zusammen mit den nigerianischen Lagerstätten mit den bei Plinius genannten lusitanischen und garamantischen Granaten übereinstimmen könnten (Gilg et al 2010: 98). Zu den Almandinlagerstätten im südlichen Indien, Sri Lanka, aber auch in Ostafrika und Madagaskar konnten die gemessenen Proben noch nicht genauer zugeordnet werden, da noch nicht zu jeder Provenienz Referenzproben vorliegen (Gilg et al. 2010: 98). Auch in Rajasthan sind noch nicht alle Lagerstätten beprobt, dort scheint sich aber dennoch eine eigenständige Gruppe von den übrigen südasiatischen Vorkommen abzugrenzen (Gilg et al. 2010: 99). Die im skandinavischen Raum verwendeten Granate stimmen nach Untersuchungen von Johan Löfgren (1973: 83, 88) sowie Hans Albert Gilg et al. (2010: 99) perfekt mit Lagerstätten in Sjönevad, Schweden überein. Diese Granatvorkommen wurden offenbar nur in Schweden und Dänemark verwendet und nicht in andere Regionen exportiert. Ebenso importierte man keinen Granat aus anderen Regionen nach Skandinavien. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der im 5. und 6. Jahrhundert in Mitteleuropa verwendete Granat der Almandin-Gruppe überwiegend aus Indien und Sri Lanka kam, die im 7. Jahrhundert ausgebeuteten Vorkommen an Pyropen dagegen hauptsächlich in Böhmen lagen (Abb. 7). Die Handelswege für den südasiatischen Granat führten sehr wahrscheinlich auf dem Seeweg über die
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Arabische Halbinsel und das Rote Meer in den ostmediterranen Raum und dann weiter in das Gebiet nördlich der Alpen (Abb. 3).
4.
Die Verarbeitung des Granats im Frühmittelalter
Aufgrund archäologischer bzw. literarischer Hinweise nimmt die Forschung für mehrere Orte eine Weiterverarbeitung des Rohgranats oder eine Werkstatt zur Herstellung von granatverzierten Objekten an. Zu den möglichen Verarbeitungsorten gehört das oben genannte Karthago, das beispielsweise Helmut Roth und Kathrin Vielitz (Roth 1980: 310, 323, 330; Vielitz 2003: 20) aufgrund des erwähnten Granat-Hortfundes als Verarbeitungsplatz interpretieren. Einen sicheren Beleg für eine Weiterverarbeitung von Granat in Karthago gibt es aber nicht, zudem ist der für die Ansprache entscheidende Hort unsicheren Ursprungs. Als eventuelles Verarbeitungszentrum diskutiert man ferner die bereits erwähnten Fundorte Crypta Balbi, die einige Archäologen als edelsteinverarbeitendes Atelier sehen (Drauschke 2005: 45; Manacorda & Zanini 1989: 30; Serlorenzi 2003: 207 f.; Ricci 2001: 331) und Paviken, das Per Lundström als Feinschmiedewerkstatt deutet (Lundström 1973: 76 f.), eine Überlegung, der sich auch Vielitz anschließt (Vielitz 2003: 20). Hinzu kommt das indische Kaveripattanam, bei dem es sich jedoch wahrscheinlicher um einen Handelsplatz handelt (Tomber 2008: 138). Schon bei Kosmas Indikopleustes ist es als Handels- und nicht als Verarbeitungszentrum erwähnt (Cosmas Indikopleustes, Buch XI – Sur l’¡le de Taprobane, Absatz 16), worauf auch die für indische Hafenstädte typische Endung »-pattana« hinweist (Kessler 2001: 118, 120). Bisher erbrachten die Grabungen vor Ort keinen Hinweis auf eine Weiterverarbeitung von Granat (Roth 1980: 318). Das von Plinius erwähnte Alabanda (Plinius Secundus, Buch XXXVII – Steine: Edelsteine, Gemmen, Bernstein, Kapitel XXV) wird von ihm als Verarbeitungszentrum beschrieben, in dem die in Orthosia abgebauten Rohgranate vor dem Weitertransport in die gewünschten Formen geschliffen wurden (Kory & Steiniger 2001: 275). Allerdings gibt es bisher keinerlei archäologische Hinweise auf eine granatverarbeitende Werkstatt in Alabanda. Alle genannten Orte – die hier nur beispielhaft für eine größere Zahl möglicher Verarbeitungsorte stehen – sind insofern mit gewissen Unsicherheiten behaftet, da sie zwar in den Schriftquellen als Herstellungs- oder Verarbeitungszentrum erwähnt wurden oder es Funde von Rohsteinen und Halbfabrikaten (Plättchen) von dort gibt; einen konkreten Hinweis auf eine granatverarbeitende Werkstatt erbrachte aber keine dieser Fundstellen. Dies ist jedoch ein grundlegendes Problem, denn es ist nur unter äußerst günstigen Voraussetzungen möglich, eine Werkstatt archäologisch so sicher nachzuweisen, dass man
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sie als eindeutigen Beleg heranziehen könnte. Selbst von der Crypta Balbi mit ihren vielen Werkzeugen, Herstellungsresten und Halbfabrikaten fehlt ein konkreter Nachweis, denn das bisher untersuchte Grabungsareal erfasste den Abfallbereich und nicht die eigentliche Werkstatt (Serlorenzi 2003: 207). Es bleibt also abzuwarten, ob in Zukunft ein sicherer Beleg für eine granatverarbeitende Werkstatt erbracht werden kann. Wo genau die Granatplättchen geschliffen wurden – an oder in der Nähe der Lagerstätte, im ostmediterranen Raum, der selbst ein großes Absatzgebiet darstellte oder in Europa –, lässt sich momentan nicht klären. Alle Möglichkeiten sind durchaus plausibel, sichere Hinweise in die eine oder andere Richtung gibt es aber nicht. Für eine Herstellung der Plättchen bei den Lagerstätten spräche, dass damit weniger taubes Material transportiert werden müsste, da das unbrauchbare Rohmaterial schon vor Ort aussortiert würde. Das Schleifen von Granat verlangt spezialisiertes Fachwissen, deshalb argumentieren einige Wissenschaftler (Amrein & Binder 1997: 366; Arrhenius 1985: 124, 194; Drauschke 2005: 45, 293; Haas-Gebhard & Looz 2009: 583; Koch 1987: 344; Quast & Schüssler 2000: 92; Steuer 1997: 395 ff.; Steuer 1999: 550), dass dieses nur in den zentralen Orten Ostroms wie der Hauptstadt Konstantinopel verfügbar war. Eine Herstellung von Granatplättchen sei somit nur an wenigen Orten im ostmediterranen Raum möglich gewesen. Dagegen spricht aber nach Ansicht von Vielitz (2003: 20) die häufig zu beobachtende hervorragende farbliche Übereinstimmung und das lückenlose Zusammenpassen der Granatplättchen auf den einzelnen damit verzierten Objekten. Eine so gute optische und flächige Passung sei nur dann zu erreichen, wenn die Plättchen direkt bei der Herstellung des Objekts entsprechend zusammengestellt und zugeschliffen worden wären. Dies spreche für Werkstätten direkt im fränkischen Kernland (Vielitz 2000: 442), wobei in jedem Fall nur wenige Handwerker das Wissen um die richtige Handhabung der Granate besaßen (Vielitz 2000: 442; Vielitz 2003: 20).
5.
Die Verwendung von Granat in der Merowingerzeit – Cloisonné
Vom 5. bis ins 7. Jahrhundert hinein wurden im gesamten mittel- und osteuropäischen Raum Schmuckstücke, aber auch Gebrauchsgegenstände mit der sogenannten Cloisonn¤-Technik verziert. Diese über das Merowingerreich hinaus für jene Zeit typische Verzierungstechnik bestand aus einem charakteristischen Zusammenspiel von Gold und roten Granatplättchen (Abb. 8).
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Abb. 8: Granatscheibenfibel aus dem Gräberfeld von Beringen (aus Amrein & Binder 1997: 367)
Hergestellt wurde das Cloisonn¤ (Arrhenius 1985: 14 ff., 79 ff.; Vielitz 2003: 15 – 26), indem auf eine meist eiserne Grundplatte Stege aus Goldblech gelötet wurden. Die entstandenen Kästchen wurden mit einer Kittmasse aufgefüllt, die mit einer gewaffelten Goldfolie abgedeckt wurde, auf der wiederum die Granatplättchen zu liegen kamen. Abschließend wurden die Goldstege flachgeklopft, wodurch eine ebene Oberfläche entstand und das überstehende Material der Stege für einen besseren Halt der Plättchen sorgte. Durch die Strukturierung der Goldfolie wurde das Licht stärker reflektiert, was den Glanz der Granate verstärkte (Abb. 9). Anhand der Zusammensetzung der Kittmasse versuchte Birgit Arrhenius Werkstattkreise abzugrenzen (Arrhenius 1985: 100 ff., 127 ff., 162 ff.). Diese Idee wurde aber von der nachfolgenden Forschung nicht weiter aufgegriffen. Vielitz (2003: 26) riet zur Vorsicht, da die Verbreitung der verschiedenen Kittvarianten ein zu unklares Bild ergebe und keine sicheren Aussagen möglich seien. Die Herkunft des Cloisonn¤-Stils ist seit dem Beginn der Forschung im 19. Jahrhundert umstritten, bis heute hat sich keine der vertretenen Ansichten durchgesetzt. Es handelt sich bei diesem Thema um ein weites und sehr kontroverses Feld, auf das ich in diesem Rahmen nicht weiter eingehen kann. Grundsätzlich geht es darum, ob das Cloisonn¤ eine spätrömische Technik ist, die sich aus spätantiken Formen entwickelte (Arrhenius 1969: 47; Drauschke 2005: 36, 164; Greiff & Banerjee 1994: 198), in die aber auch weitere Einflüsse, vor allem aus den nordpontischen Gebieten oder dem Sassanidischen Reich, hineinspielen könnten (Adams 2000: 13 ff., 49; Arrhenius 1984: 30; Arrhenius 1985: 14; Gilg et al. 2010: 87 f.; Greiff 1998: 599; Kazanski & P¤rin: 2001, 81 ff.;
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Abb. 9: Schematischer Aufbau einer Cloisonn¤fibel (aus Vielitz 2003: 16)
Roth 1980: 315; Sˇcˇukin & Bazˇan 1994: 244 f.; Sˇcˇukin & Bazˇan 1995: 64, 67; Zasetskaya 1999: 344 f). Alternativ wurde in der älteren Literatur (Koch 1987: 343) eine »barbarische« Entwicklung angenommen, bei der sich der Stil im Osten, konkret im Gebiet um die Krim und damit ebenfalls im nordpontischen Raum, entwickelt habe und mit den Goten oder Hunnen nach Europa gelangt sei. Diese Ansicht findet sich in aktuelleren Werken zwar noch als eine Möglichkeit erwähnt, sie wird aber nicht mehr ernsthaft vertreten. Festzuhalten bleibt, dass bei allen geäußerten Theorien der Raum um das Schwarze Meer als Ursprungsgebiet eine Rolle spielt (Gilg et al. 2010: 87). Die Unterschiede liegen im Einfluss, der dem Oströmischen Reich bei der Entwicklung und Produktion des Cloisonn¤s zugestanden wird, sowie in der genaueren Lokalisierung des Entstehungsgebietes und den stilistischen Traditionen, die zur Ausbildung des Cloisonn¤-Stils beitrugen. Grundlegendes Problem dieser teilweise emotional aufgeladenen Diskussion ist die Fundverbreitung. Da im byzantinischen Kerngebiet den Toten üblicherweise keine Beigaben mitgegeben wurden, finden sich dort nur vereinzelt Objekte mit Cloisonn¤. Dieser geringe Fundniederschlag steht im deutlichen Gegensatz zu Ost- und Mitteleuropa, von wo dank umfangreicher Grabausstattungen zahlreiche Objekte in Cloisonn¤-Technik bekannt sind (Adams 2000: 13 f.; Drauschke 2005: 162, 169). Dieses Verbreitungsbild entspricht aber nicht dem tatsächlichen Vorkommen und den Verbreitungsschwerpunkten zur damaligen Zeit, sondern spiegelt vor allem das Beigabenverhalten in den einzelnen Regionen wider (Drauschke 2008: 372, 374). Für eine Herleitung aus dem byzantinischen Kulturraum und der Ansprache des Cloisonn¤s als ein spätrömisches Phänomen spräche einerseits das Fund-
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vorkommen auf dem Balkan und in Italien, Regionen, die in jener Zeit zum Byzantinischen Reich bzw. dessen unmittelbarem Einflussgebiet gehörten, sowie andererseits die langobardenzeitlichen Funde aus Pannonien, die sich – wie viele andere Objekte dieser Zeit auch – nachweislich an ostmediterranen Vorbildern orientierten. Insgesamt zeige sich für cloisonnierte Fibeln eine formal einheitliche Fundregion eines mediterranen Typs (Drauschke 2005: 164), der bis über die Alpen nach Mitteleuropa vordrang. Die Verwendung christlicher Motivik auf herausragenden Stücken, wie den Scheibenfibeln der Zeit um 500 aus Unterhaching bei München, legt ebenfalls eine Verbindung in den mediterranen Raum nahe, der zu jener Zeit deutlich christlicher geprägt war als der Fundort (Haas-Gebhard 2010: 107 ff.). Für die Unterhachinger Stücke grenzt HaasGebhard die Herkunft sogar auf Ober- und Mittelitalien ein; am ehesten kämen aus stilistischen und handwerklichen Gründen Rom und Ravenna als Produktionsstätten in Frage (Haas-Gebhard 2010: 109).
6.
Das Ende des Handels mit südasiatischen Granaten – das Ende des Cloisonné-Stils?
Für das Ende der Verwendung von südasiatischem Granat in Europa wurde meist das Abschneiden der Handelswege als Ursache angenommen (Abb. 3). Der Landweg war zu allen Zeiten weniger beliebt als der Seeweg, da er teurer, länger und krisenanfälliger war. Zudem stand die Landverbindung zwischen Indien und dem Mittelmeerraum in jener Zeit in weiten Teilen unter der Herrschaft der Sassaniden und später der Araber, die als die größten Widersacher der oströmischen Kaiser angesehen werden (Freeden 2000: 115; Kessler 2001: 123; Ptak 2007: 105; Roth 1980: 324). Ein Handel des Granats auf diesem Weg wird von den meisten Wissenschaftlern nicht angenommen. Der Seeweg über das Rote Meer gilt ab dem späten 6. Jahrhundert ebenfalls als durch die Expansion der Sassaniden bzw. Araber beeinträchtigt. Diese Expansion über die Arabische Halbinsel hinweg auf den afrikanischen Kontinent und damit der Wegfall einer längeren Passage byzantinisch kontrollierter Wegstrecke zwischen dem Mittelmeer und Südasien sehen viele Forscher als Grund für das Ausbleiben südasiatischer Granate im Mittelmeerraum und in Europa an. Schon 1937 argumentierte Herta Rupp (1937: 91 ff.) in diese Richtung, als sie die kriegerischen Auseinandersetzungen des Byzantinischen Reiches vor allem mit den Arabern Anfang des 7. Jahrhunderts als Grund für das Ende des Cloisonn¤s wertete. Dadurch seien sowohl der Seeweg als auch die Karawanenstraßen unterbrochen worden. Des Weiteren wertete sie den Zusammenhang zwischen den Auseinandersetzungen und dem Ende des Cloisonn¤s als Beleg für
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die Herkunft der Granate aus Indien, die damals noch nicht mit naturwissenschaftlichen Methoden nachgewiesen werden konnte. Uta von Freeden interpretierte im Jahr 2000 (Freeden 2000: 117 f.) den Machtwechsel am Roten Meer vom Byzantinischen Reich zu den Sassaniden Ende des 6. Jahrhunderts als Ursache für das Ausbleiben der Granate aus Indien und Sri Lanka (Ebenso: Drauschke 2005: 255; Quast & Schüssler 2000: 88). Es habe sich um eine ökonomische Konsequenz der neuen Verhältnisse im Roten Meer gehandelt, die sich aber schon seit der Mitte des 6. Jahrhunderts wandelten (Freeden 2000: 119). Die drastische Verknappung der importierten Granatmengen führte ihrer Meinung dazu, dass nach Ersatz für den Granat gesucht wurde, indem man ab der Mitte des 6. Jahrhunderts auf andere Techniken wie Filigran und Niello oder engzellige Tauschierungen6 auswich (Freeden, 2000: 113, 118 ff.). Modische Gründe für die Abkehr von Granateinlagen lehnte von Freeden ab, da man für herausragende Fibeln des 7. Jahrhunderts weiterhin Cloisonn¤ verwendet habe (Freeden 2000: 120). Des Weiteren führt sie an, dass die Byzantiner auch vor den Auseinandersetzungen am Roten Meer im Indischen Ozean keine sonderlich große Rolle spielten. Trotzdem sollen die Sassaniden aufgrund der Handelskonkurrenz versucht haben, durch die Eroberung der Arabischen Halbinsel auch den Zwischenhandel komplett zu kontrollieren (Freeden 2000: 117). Wenn die Sassaniden aber den Handel im Indischen Ozean beherrschten, dessen westliche Anlaufhäfen im Roten Meer und zum Teil an der Küste der Arabischen Halbinsel lagen, bestand für sie wenig Anlass, dieses Gebiet zu erobern. Der 1935 verstorbene Henri Pirenne (Pirenne 1963; Pirenne 1987) hingegen hatte das Ende des Cloisonn¤s etwas anders erklärt. Seiner Meinung nach bedingten die arabischen Eroberungen um die Mitte des 7. Jahrhunderts ein Ende des Mittelmeerraumes als einheitlichen Wirtschaftsraum, wodurch auch die Handelsströme in den Orient abgebrochen seien (Pirenne 1963: 120, 139, 242; Pirenne 1987: 91 f.). Diese von starken Umbrüchen gekennzeichnete Zeit stellte für ihn das eigentliche Ende der Antike dar, da diese Phase die seit Jahrhunderten bestehende Einheit des Mittelmeeres zerstörte (Pirenne 1963: 139). Nicht das Abschneiden der Handelsrouten durch das Rote Meer nach Südasien son6 Filigran: Verzierung durch feine Golddrähte, die auf die Oberfläche ebenfalls goldener Objekte aufgelötet werden. Niello: Legierung aus Silber und Schwefel. Damit werden kleine gepunzte Vertiefungen in silbernen Objekten aufgefüllt, wodurch ein starker Farbkontrast zwischen dem schwarzen Niello und der hellen Farbe des Silbers entsteht. Meist wird durch zwei Reihen gegenständiger Dreiecke der Eindruck eines Zick-Zack-Bandes bewirkt. Tauschierung: Findet sich meist bei Objekten aus Eisen. In Vertiefungen werden Messingund/oder Silberdrähte eingehämmert, die auf dem dunkleren Hintergrund des Eisens ein Muster ergeben. Häufig sind die Drähte so angeordnet, dass sich ein Zellen- oder Wabenmuster ergibt.
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dern die Zersplitterung des Mittelmeeres in verschiedene Machtbereiche stellte für Pirenne den entscheidenden Faktor für das Ende des Mittelmeerhandels und damit des Cloisonn¤s nördlich der Alpen dar. Jörg Drauschke (2005: 255 f.) sah die Ursachen für den geringer werdenden Anteil orientalischer bzw. über den Orient verhandelter Waren eher in einer längerfristigen Entwicklung im Sinne einer »Histoire du longue dur¤e«, bei der nicht die Ereignis- oder Personengeschichte entscheidend war, sondern der langsame Wandel grundlegender Strukturen, die sich zudem vielmehr in Europa und dem Byzantinischen Reich selbst abspielten. Der innere Zerfall des Byzantinischen Reiches könne eher für den Rückgang des Handels verantwortlich sein als die arabischen Eroberungen (Drauschke 2005: 300). Trotzdem spreche seiner Ansicht nach das plötzliche Ausbleiben des südasiatischen Granats und die Nutzung von Ersatzmaterialien eher gegen einen Modewandel als Ursache (Drauschke 2005: 255, 291). Denn trotz aller Krisen und Umwandlungen im 7. Jahrhundert seien die ökonomischen Strukturen weitgehend intakt erhalten geblieben, wie sich in den zwar verminderten aber fortdauernden Handelsbeziehungen zeige (Drauschke 2005: 300; Drauschke 2008: 415, 417; Roth 1980: 324). Völlig anders als Rupp und von Freeden argumentierte Calligaro 2007, der keinen Abbruch des Handels zwischen dem Indischen Ozean und dem Mittelmeer am Ende des 6. Jahrhunderts feststellen konnte (Calligaro et al. 2007: 128). Von einem Abbrechen des Fernhandels oder Handelsengpässen durch die Eroberungen rund um das Rote Meer hätten nicht nur die Granate betroffen sein dürfen, sondern auch alle anderen Fernhandelsgüter, was aber nicht der Fall sei (Ebenso: Drauschke 2005: 300; Kessler 2001: 113; Lennartz 2001: 272, 278; Roth 1980: 324). Weiterhin argumentierte er, dass die Sassaniden auch schon vor der Eroberung Südarabiens den Seehandel mit Indien und Asien beherrschten (Ebenso: Drauschke 2005: 290 f.). Danach müsse sich deshalb nicht unbedingt viel im Fernhandel geändert haben. Die Eroberung Südarabiens habe für die Sassaniden nur einen weiteren tributpflichtigen Vasallen bedeutet, sie hätten keine direkte Kontrolle über den Handel im Roten Meer ausgeübt (Ebenso: Lennartz 2001: 270). Ein Abbruch des sicher lukrativen Fernhandels sei sehr wahrscheinlich nicht in ihrem Interesse gewesen. Die Ursachen für das Ausbleiben der südasiatischen Granate und den Wechsel zu böhmischen Granaten müssten nach Ansicht Calligaros entsprechend woanders zu suchen sein, wobei noch zu klären sei, ob es sich um geopolitische oder ökonomische Gründe gehandelt habe (Calligaro et al. 2007: 112, 137; Gilg et al. 2010: 100). Nachdem die Quelle für südasiatische Granate versiegt war und nur noch die für das engzellige Cloisonn¤ unzureichend geeigneten böhmischen Granate zur Verfügung standen, musste zwangsläufig ein Ausweichen auf andere Verzierungstechniken erfolgen (Calligaro et al. 2007: 112, 128, 137).
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Ähnlich sieht es auch Annette Lennartz; ihrer Ansicht nach zeigen die arabischen Quellen zu den Ereignissen am Roten Meer Ende des 6. Jahrhunderts, dass das sassanidische Eingreifen dort nicht der Erlangung oder Festigung einer Vormachtstellung und damit einem Schlag gegen den byzantinischen Handel diente, sondern seine Ursache in den religiösen Konflikten der Region hatte (Lennartz 2001: 270 f.). Somit veranschauliche die Einflussnahme der Sassaniden deren Interesse an einem ungestörten Handel, was sich im weiterhin friedlichen und guten Verhältnis zwischen Byzanz und Persien zeige (Lennartz 2001: 271 f.). Auch für das 7. Jahrhundert schloss sie eine Handelsunterbrechung aus (Lennartz 2001: 274 f., 278). Die Kriegshandlungen im Bereich Ägyptens hätten maximal kurzfristige Störungen und Engpässe verursacht, aber den Fernhandel nicht zum Erliegen gebracht (Lennartz 2001: 275, 278). Lennartz nannte orientalische Güter wie Amethyst und Elfenbein, die vermehrt gerade in der Zeit der Eroberungen am Roten Meer und in Ägypten in die Gräber nördlich der Alpen gelangten (Lennartz 2001: 275 f.). Mit einem Abbrechen des Fernhandels lasse sich dies nicht erklären. Sollte jedoch tatsächlich ein Rohstoffengpass hinter dem Lagerstättenwechsel vom indischen Subkontinent nach Böhmen stecken, sei dieser mit Pirennes These vom Abbruch des Mittelmeerhandels plausibler zu erklären als mit den anderen Theorien (Lennartz 2001: 269). Allerdings sei der orientalische Granat durch einen intensiven Abbau in Böhmen relativ gesehen teurer geworden, was auch ein Grund für den Wechsel gewesen sein könne (Lennartz 2001: 277; Gilg et al. 2010: 100). Unabhängig von einem möglichen Abbrechen des Fernhandels stelle sich laut Lennartz die Frage, warum trotz der ab dem 7. Jahrhundert ausgebeuteten Vorkommen in Böhmen ein Modewechsel stattfand. Dieser lasse sich durch Materialmangel nicht schlüssig erklären, denn eine ökonomische Notwenigkeit für »Ersatzverzierungen« habe nicht bestanden (Lennartz 2001: 270). Die schlechtere Eignung der böhmischen Granate für engzelliges Cloisonn¤ scheint ihr nicht bekannt gewesen zu sein, wodurch ihre Argumentation in diesem Punkt Schwachstellen aufweist. Gegen einen Abbruch des Handels aufgrund der Ereignisse um das Rote Meer plädierte auch Roderich Ptak. Er erkannte zwar eine gewisse Konkurrenz zwischen dem Roten Meer und dem Persischen Golf an (Ptak 2007: 103, 107), die ab 570 n. Chr. zu einer Verminderung des Handels im Roten Meer geführt habe. Abgesehen von dieser Verschiebung sah er jedoch keine Beeinträchtigung des Handels jener Zeit (Ptak 2007: 105). Sein Hauptargument war, dass das Sassanidenreich das gesamte Arabische Meer beherrschte und somit ein einheitlicher Handelsraum von Indien bis Afrika bestanden habe, der eine Stabilisierung des Seehandels bewirkte (Ptak 2007: 103 f.). Auch für das Mittelmeer führte er an,
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dass das im 7. und 8. Jahrhundert von Afghanistan bis Spanien reichende Herrschaftsgebiet der Ummayaden eher förderlich als hinderlich für Handel in dieser Region gewesen wäre (Ptak 2007: 141). Auch Dietrich Claude argumentierte, dass für die Araber kein Grund bestand, den Mittelmeerhandel zu beeinträchtigen, sie profitierten im Gegenteil von einem florierenden Handel (Claude 1985: 271, 280 f.). Der Rückgang des Mittelmeerhandels sei vielmehr von außen bewirkt worden, wofür er aber eine plausible Erklärung schuldig blieb (Claude 1985: 294). Schon die Konflikte zwischen Byzanz und den Sassaniden hätten seiner Ansicht nach im 5. und 6. Jahrhundert Auswirkungen auf den Fernhandel haben müssen (Claude 1985: 266), sie kämen demnach ebenso wie die späteren Konflikte mit den Arabern nur bedingt als Auslöser für den abnehmenden Handel im 7. Jahrhundert in Frage. Das Verschwinden mediterraner Importe in Mitteleuropa könne auch durch ein verändertes Beigabenverhalten nördlich der Alpen bedingt sein (Claude 1985: 305). Fasst man die Ergebnisse und Aussagen der oben genannten Thesen zusammen, lässt sich festhalten, dass die Gründe für das Ende des Cloisonn¤s nicht unbedingt in der Ereignis- und Militärgeschichte liegen müssen. Vielmehr kann es sich ebenso um einen Stilwandel handeln, der sich aufgrund von veränderten Modevorstellungen vollzog, wie von einigen Autoren diskutiert wurde (Claude 1985: 305; Calligaro et al. 2007: 112, 128, 137; Drauschke 2005: 53; Drauschke 2008: 415; Lennartz 2001: 270). Die Technik der flächigen Zelleneinlagen aus Granatplättchen hielt sich insgesamt sehr lange und ein Modewechsel nach gut 200 Jahren wäre durchaus nicht weiter verwunderlich. In diese Richtung weist auch eine Anmerkung von Freedens, auch wenn sie selbst völlig anders argumentierte. Sie sah die Tatsache, dass »Cloisonn¤arbeiten im eigentlichen Sinn […] nach dem 8. Jahrhundert nur noch im Norden und dem byzantinischen Umkreis hergestellt« (Arrhenius 1984: 32 f.) wurden, als Beleg dafür an, dass im Fränkischen Reich der Mangel an Rohmaterial und nicht ein Modewandel Grund für das Ende des Cloisonn¤s war. In Skandinavien und in Byzanz habe man weiterhin über Granat verfügt und konnte die Verzierungstechnik weiterführen (Freeden 2000: 122). Diese Argumentation ist jedoch meines Erachtens viel eher ein Hinweis auf einen Modewandel. Denn warum sollte in Mitteleuropa der Nachschub an Granat wegbrechen, wenn im Mittelmeerraum und im Norden weiterhin mit Granat gearbeitet wurde und somit offensichtlich kein Nachschubproblem bestand? Kontakte von Mitteleuropa in beide Regionen mit einem regen Warenaustausch sind auch für diese Zeit nachzuweisen, weshalb es keinen plausiblen Grund gibt, der erklären würde, warum ausgerechnet Granat nicht mehr verhandelt wurde. Gegen von Freedens Argumentation spricht besonders der Abbau böhmischer Granate ab dem
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7. Jahrhundert, von einem Mangel an Rohmaterial kann in Mitteleuropa also nicht die Rede sein. Sowohl für den Wechsel der Granatvorkommen als auch für das Ende des Cloisonn¤-Stils wäre auch eine Erklärung ausgehend von der internen Krise des Byzantinischen Reiches im 7. Jahrhundert möglich, wodurch Ostrom für Mittelund Westeuropa als kulturelles Zentrum stark an Bedeutung verlor (Daim 2000: 80 f.; Drauschke 2005: 35 f., 299 f.; Drauschke 2008: 370). Diese Funktion hatte es auch archäologisch nachgewiesen bis in diese Zeit inne, erst im Laufe der Karolingerzeit und danach schwand der Einfluss Byzanz’ auf den Westen nach und nach (Lilie 2005: 11, 60). Prinzipiell stellt sich zudem die Frage, ob eher kurzfristige Veränderungen und Engpässe, wie sie für das Rote Meer zum Ende des 6. und beginnenden 7. Jahrhunderts aufgrund der Auseinandersetzungen zwischen Byzanz und den Sassaniden bzw. Arabern angenommen wurden, überhaupt einen Niederschlag im archäologischen Material finden (Lennartz 2001: 278). In den archäologischen Befund spielen viele verschiedene Faktoren hinein, die temporäre Schwankungen in der verfügbaren Menge eines Rohstoffes ausgleichen; ein kurzer Engpass ›verschwimmt‹ gewissermaßen im Befund und ist damit archäologisch nicht fassbar. Falls die Sassaniden oder Araber für den Abbruch des Granathandels verantwortlich waren, ließe sich dies archäologisch nicht auseinanderhalten, denn die entsprechenden Ereignisse liegen zu eng beieinander, als dass sie anhand archäologischer Datierungen erfasst und unterschieden werden könnten. Ganz allgemein hinterfragte Drauschke (2005: 253), ob historische Ereignisse überhaupt in einem sinnvollen Rahmen mit dem Fundniederschlag der entsprechenden Regionen zu parallelisieren sind und ob sie als Hintergrund für das Vorhandensein und die Intensität der Warenvermittlung herangezogen werden können. Als eine bisher nicht berücksichtigte alternative Erklärung für das Ausbleiben des südasiatischen Granats in Mitteleuropa und eine Beeinträchtigung des Fernhandels führt Ptak innerindische Konflikte an, die im 7. Jahrhundert in der Gegend des heutigen Tamil Nadu ausbrachen (Ptak 2007: 133) (Abb. 6). In Tamil Nadu liegt auch Kaveripattanam, das bei Kosmas als einer der wichtigsten Handelsorte für Granat beschrieben wird. Ein Zusammenhang zwischen beiden Ereignissen könnte durchaus bestehen. Auch der Zusammenbruch des Guptareiches in Nordwestindien in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts könnte laut Ptak Auswirkungen auf den Granathandel gehabt haben (Ptak 2007: 138). Da sich die dortigen Verhältnisse erst im Laufe der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts wieder stabilisierten, könnte die Menge an exportiertem Granat aus Rajasthan (Abb. 6), das zum Guptareich gehörte und als einer der Hauptlieferanten für spaltbaren Granat gilt, drastisch zurückgegangen sein.
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Es kämen also durchaus verschiedene Ereignisse in Südasien selbst als Auslöser für das Verschwinden des indischen und sri-lankischen Granats in Europa in Frage.
7.
Schluss
Auch wenn die genauen Mechanismen für das Ende des Cloisonn¤s noch nicht sicher identifiziert wurden, können einige Punkte festgehalten werden. In der Zeit um 600 wurden granatverzierte Fibeln in Mittel- und Westeuropa seltener (Drauschke 2005: 53), was mit dem allgemeinen Rückgang der Beigabenmenge in Mitteleuropa im Laufe des 7. Jahrhunderts zusammenhängen könnte (Lennartz 2001: 277). Zusätzlich fällt auf, dass im 7. Jahrhundert die verwendete Menge Granat je Fibel ebenfalls zurückging (Drauschke 2005: 53), unabhängig von dessen Herkunft. Gleichzeitig fand ab 600 der Wechsel von indischem und sri-lankischem Granat hin zu böhmischen Vorkommen statt (Calligaro et al. 2007: 128, 132). Südasiatischer Granat scheint nicht mehr beliebt, zu teuer oder nicht mehr verfügbar gewesen zu sein; die Ursache für sein Ausbleiben in Mitteleuropa ist momentan nicht eindeutig zu bestimmen. Der Rückgriff auf böhmischen Granat ist aus technischen Gründen wenig nachvollziehbar, da die kleineren und nicht plattig spaltbaren böhmischen Granate für die Technik des klassischen engzelligen Cloisonn¤s deutlich schlechter geeignet sind als die aus Südasien importierten Steine (Calligaro et al 2007: 128). Das weniger gut geeignete Material, das im 7. Jahrhundert zur Verfügung stand, könnte zu einer verminderten Verwendung des Cloisonn¤s und einem Modewechsel beigetragen haben. Hier scheinen mehrere Phänomene zusammenzuspielen; einerseits die verminderten Beigabenzahlen des 7. Jahrhunderts, die sich in weniger Granatobjekten und weniger verwendetem Granat zeigen. Andererseits das bisher unerklärte Ausweichen auf Granatvarietäten, die nicht die gewünschten Eigenschaften besitzen und wohl zwangsläufig einen Wechsel auf andere Materialien und Techniken bedingten, was einen Modewandel noch verstärkte. Die seltener werdenden importierten Funde in Mitteleuropa könnten nahelegen, dass der Kontakt zum Mittelmeerraum und dem Byzantinischen Reich abbrach, jedoch handelt es sich nur um eine Verminderung der in den Boden gelangten Objekte. Sowohl die Schriftquellen als auch die einzelnen archäologischen Fundgattungen belegen ein Weiterbestehen der Verbindungen (Drauschke 2002: 154; Drauschke 2005: 255; Kessler 2001: 113; Roth 1980: 324), auch weit über das Mittelmeer hinaus in den Fernen Orient. Allerdings scheinen der Orienthandel und der Handel unter den Mittelmeeranrainern ab dem 7. Jahr-
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hundert in geringerem Umfang stattgefunden zu haben, als es noch im 5. und 6. Jahrhundert der Fall war (Drauschke 2002: 154). Aus archäologischer Sicht kann folglich nicht so einseitig argumentiert werden, wie es Pirenne oder von Freeden taten, denn wie beschrieben kamen die Handelsströme auch im 7. Jahrhundert nicht völlig zum Erliegen (Drauschke 2002: 154). Der Fernhandel nach Europa scheint in der Folgezeit jedoch nicht mehr ausschließlich über das Mittelmeer gelaufen zu sein, sondern verlagerte sich zusätzlich auf die Ostsee und die osteuropäischen Flüsse (Lennartz 2001: 277; Pirenne 1987: 91). Der Ostseeraum entwickelte sich ab dem 8. Jahrhundert zu einem neuen maritimen Wirtschaftszentrum (Pirenne 1963: 140; Pirenne 1987: 91), über den in großem Umfang auch orientalische Waren transportiert wurden, wie beispielhaft die eingangs erwähnten arabischen Dirhems und die Buddhafigur aus Helgö zeigen.
8.
Ausblick
Zukünftige Forschungen sollten die Herkunft des Cloisonn¤-Stils und in der Folge die stilistischen Zusammenhänge klären, damit aus dieser Richtung fundierte Argumente für die Diskussion des Themenfeldes Granat und Cloisonn¤ vorliegen. Momentan wirkt sich hier die für das byzantinische Kerngebiet schlechtere Dokumentations- und Publikationslage noch einschränkend aus (Daim 2000: 80). Trotz des geringeren Fundniederschlags in diesem Gebiet, der durch das damalige Beigabenverhalten bedingt ist, gibt es Vergleichsfunde aus dem östlichen Mittelmeerraum. Sie sind bislang rar und wenig publiziert, jedoch eindeutig vorhanden (Drauschke 2005: 162 f., 169). Des Weiteren ist entscheidend, besonders die Granatschleifereien, aber auch die Goldschmiedewerkstätten sicher zu lokalisieren, da diese ein wichtiger Bestandteil im Netz des Granathandels zwischen Ost und West waren. Ebenso wichtig wäre es, zu klären, warum der Wechsel zu den böhmischen Granaten stattfand, die – wie erwähnt – für den engzelligen Cloisonn¤-Stil des 5. und 6. Jahrhunderts nur sehr begrenzt geeignet sind. Im Normalfall sind die Kristalle der böhmischen Vorkommen zu klein für die Produktion von Plättchen und damit den Einsatz in engzelligem Cloisonn¤. Die Faktoren, die für das Ende des Cloisonn¤s in Mitteleuropa eine Rolle spielten, bedürfen ebenfalls einer Analyse. Die den besprochenen Thesen zu Grunde liegenden jeweils monokausalen Erklärungsmuster sind sicher nicht ausreichend, um das komplexe Gebilde Granat und Cloisonn¤ umfassend zu erklären.
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Auch sollten in Zukunft die historischen und archäologischen Gegebenheiten sowohl in den Ursprungsgebieten des Granats als auch entlang der gesamten Handelsroute mit in die Überlegungen einbezogen werden.
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Madlen Doerr
Transfer einer ›Heiligen‹ vom 15. ins 17. Jahrhundert? Überlegungen zu zwei im 17. Jahrhundert tradierten Typen des Lebens der Magdalena Beutlerin
Am 5. Januar 1431 versammelte sich eine große Menschenmenge in der kleinen Klosterkirche von St. Klara in der Lehener Vorstadt Freiburgs im Breisgau. Man war überzeugt, an dem von ihr selbst prophezeiten Tod einer Heiligen teilhaben zu können: Die Klarissin Magdalena Beutler hatte einen guten Monat zuvor von Gott mitgeteilt bekommen, sie würde am Dreikönigstag sterben. Diese Nachricht hatte sich schnell in der ganzen Region verbreitet, und so versammelte sich denn auch am Vorabend des Dreikönigstages diese große Menge an Menschen in der Kirche von St. Klara, nicht nur aus Freiburg, sondern aus der ganzen Region und aus jedem Stand: Adelige wie Bürger und einfaches Volk, Laien wie Geistliche. Die Menge wurde allerdings enttäuscht, denn Magdalena starb nicht und musste nach einigen Tagen aufgeben. Dieses so Aufsehen erregende Ereignis wird von einem Zeitgenossen Magdalenas, dem damaligen Basler Dominikanerprior Johannes Nyder (Nyder/ Biedermann 1971: 131 f.) sowie in zwei Abschriften einer wohl noch zu Magdalenas Lebzeiten entstandenen Vita aus der Mitte des 17. Jahrhunderts überliefert. Eine zweite Vita, in einer Abschrift vom Ende des 15. Jahrhunderts erhalten, und mehrere frühneuzeitliche Kurzviten erwähnen es nicht, sondern, wie im Fall der zweiten Vita, nur das zweite Ereignis, für das Magdalena berühmt wurde, eine ebenfalls schon spektakuläre Entrückung durch Christus zur Durchsetzung der Reform in St. Klara im Jahr 1429. Die Kurzviten beschränken sich sogar nur auf eine Darstellung ihres extrem frommen Lebens in großer Askese und von Reformeifer erfüllt und betonen zusätzlich noch ihre prophetische Gabe. Die Grundform dieser Kurzviten dürfte im 17. Jahrhundert entstanden sein. Sie nehmen ihre Informationen größtenteils nicht aus den beiden Viten, sondern aus davon unabhängigen, unbekannten Quellen. In diesem Beitrag soll neben einer Vorstellung der Biographie Magdalenas der Fokus auf die beiden Handschriften aus dem 17. Jahrhundert sowie die Kurzviten gerichtet werden. Die eine der beiden Handschriften (F), die in der Universitätsbibliothek Freiburg aufbewahrt wird, ist der Forschung schon lange bekannt: Sie wurde 1657 fertiggestellt und zusammen mit der Mainzer Vita (M)
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von 1491 von Wilhelm Schleussner teilediert (Schleussner 1907). Weitestgehend unbeachtet von der bisherigen Forschung blieben die (leider sehr spärlichen) Bestände von St. Klara, die heute im Archiv der franziskanischen Provinz in Schwaz/Tirol liegen, unter anderem eine Schwesternhandschrift (S) zu F, entstanden im Jahr 1658, also nur ein Jahr nach F1. Dieser Befund rückt das Interesse des Konventes im 17. Jahrhundert an Magdalena Beutlerin in ein völlig neues Licht und es stellt sich die Frage, warum diese vor zweihundert Jahren verstorbene Mitschwester plötzlich so wichtig wurde, dass man ihre Vita innerhalb von zwei Jahren gleich zweimal abgeschrieben hat, zuvor aber auch noch mit den Kurzviten K1, K2 und S1 ein zweite, stark konzeptionell überarbeitete Version einer Lebensbeschreibung der Magdalena Beutlerin vorgelegt wurde. Hat man versucht, ihr Leben gewissermaßen ins 17. Jahrhundert zu transferieren, um ihr neue Bedeutung zu verleihen, nicht mehr zeitgemäße Aspekte jedoch zu verschleiern? Weshalb aber dann parallel dazu noch eine Pflege des ›alten‹ Vitentyps, also die Abschriften F und S, die auf einer älteren Vorlage basieren und im Gegensatz zu den Kurzviten Entrückung und Todesvision wieder aufnehmen? Neben dem Versuch einer Antwort aus historischer Perspektive wird diese Arbeit auch die Konzeptionen der beiden Viten aus dem 15. Jahrhundert im Vergleich zu den Kurzviten näher betrachten, um so zu einem Ergebnis zu kommen. Laut beiden Viten wurde Magdalena als Tochter des Kenzinger Kaufmannes und Ratsherren Georg Beutler und seiner Gattin Margaretha von Winterthur im Jahr 1407 geboren.2 Bereits ihr Elternhaus war sehr fromm, wie beide Viten betonen, in beiden hat die Mutter auch den einer Heiligen geziemenden Traum der künftigen Bedeutung des Kindes während der Schwangerschaft. Auch der anonymen Großmutter wurde schon während der Schwangerschaft mit Margaretha die Bedeutung ihrer Tochter und zukünftigen Enkelin aufgezeigt. Sie sah einen Baum aus ihrem Herzen wachsen, dessen beiden Äste sich bis zum Himmel hinzogen. Der eine war mit einer wunderschönen Blüte, nach M einer Lilie, geschmückt. Während M es bei der Beschreibung belässt, interpretiert die jüngere Vita die beiden Äste noch auf Margaretha und Magdalena (Schleussner 1907: 22). Mit Magdalenas Geburt ist auch schon ein erstes Wunder verknüpft: Der Vater wird während der Schwangerschaft seiner Frau von Räubern entführt, auf sein flehendes Bitten zur Jungfrau Maria erscheint ihm diese und kündigt seine Freilassung mit dem Tag der Geburt seiner Tochter an. Nach beiden Viten 1 F und S werden künftig als die ›jüngere Vita‹ bezeichnet, M als die ›ältere‹ oder ›Mainzer Vita‹. ›Jünger‹ und ›älter‹ bezieht sich nicht auf die Entstehungszeit der Viten, sondern auf die Überlieferungsgeschichte (bzw. die Datierung der Hss.). 2 Alle Viten geben einstimmig das Geburtsjahr 1407 an, die Tagesangabe St. Maria Magdalena am 21. Juli erfolgt nur in den Kurzviten, die Nennung der Uhrzeit nur in K2. Der Prolog in S folgt K2, hat allerdings einen Zeilensprung, durch den das Datum ungenannt bleibt und deshalb nur die Uhrzeit angegeben wird.
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gebiert Magdalenas Mutter das Kind während einer göttlichen Verzückung – und somit schmerzfrei –, nach M über die Passion, in F und S hat sie eine weitere Vision zur künftigen Bedeutung ihrer Tochter. Zwei Jahre nach Magdalenas Geburt stirbt der Vater, und die Mutter Margaretha widmet sich nun völlig der Religion. Die jüngere Vita berichtet über einen Kontakt der Mutter zu einem »Gottesfreund«, welcher ihr den Rat gibt, Magdalena in ein Kloster zu geben, näher ausgeführt, in das Klarissenkloster in Freiburg. Dies geschieht bereits in Prophezeiung ihres zukünftigen Wirkens dort, was in einem Brief des Gottesfreundes an St. Klara ausgeführt wird. In M fehlt eine Erklärung dazu, warum Magdalena in das Franziskanerinnenkloster gegeben wurde. Die zukünftige Bedeutung des Kindes wird aber auch hier deutlich: Der in F und S dem Gottesfreund zugeschriebene Brief über die zukünftige Bedeutung des Kindes wird in M mit Magdalenas Eintritt ins Kloster von einer Klausnerin in Beuggen verfasst, er wird auch in der Kurzvita K2 überliefert. K2 verpasst der bisher anonymen Klausnerin auch einen Namen, Catherina: diss kint sal werden eyn nuwe doichter des hymelssen vaters und eyn gemahel des sons und eyn wonunge des helgen geistes und eyn gnadenriche blume der helgen christenheit (Schleussner 1907: 25, K2, fol. 3v). Die in F und S dem Gottesfreund zugeschriebene Prophezeiung hat fast den gleichen Wortlaut.3 Die Mutter hatte Kontakt zu dem Spital in Marburg. Die jüngere Vita berichtet, sie habe ihr gesamtes Vermögen an das Spital gegeben. Die von dem u. a. auch in Freiburg wirkenden spätmittelalterlichen Ordensreformer Johannes Meyer verfasste Vita Margarethas berichtet ausführlicher, sie sei auch persönlich nach Marburg gereist, habe dort im Spital gearbeitet, sei des Mordes verdächtigt und zum Tode verurteilt und erst im letzten Moment von einem ihr bekannten Geistlichen gerettet worden. Margaretha von Winterthur führte auch laut Magdalenas Viten ein sehr frommes Leben und verbrachte sehr viel Zeit in der Kirche beim Gebet. Die kleine Magdalena blieb währenddessen lange sich selbst überlassen in der Stube eingesperrt und kompensierte die Vereinsamung mit einer frühkindlichen Frömmigkeit, die sich unter anderem in Christusvisionen und einem schon früh angelegten hohen theologischen Verständnis äußerte. Der Mutter wurde Magdalena deshalb laut beiden Viten wiederum so lieb, dass sie den Klostereintritt des Kindes verzögerte. Magdalena wurde daraufhin sterbenskrank und lag schon auf dem Totenbett, als eine Erneuerung des Gelübdes der Mutter, das Kind ins Kloster zu geben, sie wieder ins Leben zurückholte. Mit fünf Jahren wurde Magdalena dann an das Freiburger Franziskanerinnenkloster übergeben, die Mutter trat einige Jahre später in das dominikanische Reformkloster Unterlinden in Colmar ein. Sie wurde später nach Basel in das Kloster An den Steinen 3 Abweichung: Inladerin dess h. geistes, S, fol. 16r.
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geschickt, um hier die Reform des Konventes durchzusetzen.4 Hier stellt sich die Frage, warum Margaretha von Winterthur das Franziskanerinnenkloster für ihre Tochter wählte. Die Wahl wird in der jüngeren Vita in Verbindung mit einem Gottesfreund geschildert, der in der Vita der Mutter dann von Johannes Meyer als der Gottesfreund im Oberland benannt wird – ob nun in Kenntnis der jüngeren Vita oder eigner dominkanischer Tradition hin, kann nicht mehr ausgemacht werden. Wie die germanistische Forschung schon früh zeigen konnte, handelt es sich bei diesem heiligen Mann nicht um eine reale Person, sondern um eine von dem Straßburger Bankier Rulman Merswin und seinem geistlichen Berater Nikolaus von Löwen ins Leben gerufene literarische Fiktion, die im Umfeld der sogenannten ›Gottesfreundei‹ anzusiedeln ist (u. a. Denifle 1881, Rieder 1905). Die religiöse Heimat dieser Gottesfreunde kann nicht auf einen Orden beschränkt werden: Wir finden unter ihnen viele Dominikaner ; ein wichtiger Überlieferungsstrang läuft jedoch auch über die Johanniterkommende Im Grünen Wörth in Straßburg (Rapp 1994).5 Die Anbindung an die Gottesfreunde verhilft also noch nicht zu einer eindeutigen Zuordnung der ursprünglichen religiösen Ausrichtung Margarethas von Winterthur. Der Hinweis, sie habe ihr Vermögen an das Elisabethspital in Marburg gespendet und eventuell auch dort für einige Zeit gelebt, könnte als Nachfolge auf den Spuren der heiligen Elisabeth gewertet werden. Diese ließ sich ursprünglich von den Franziskanern begeistern, wenngleich ihr Beichtvater Magister Konrad von Marburg wiederum ein Weltgeistlicher war, der den Franziskanern nicht sonderlich nahe stand, und das Spital später von den Deutschherren übernommen wurde.6 Das Patrozinium der Marburger Spitalkirche war aber auch im 15. Jahrhundert noch Franziskus von Assisi geweiht, wie auch die Franziskanerinnen in dieser Zeit eine neue Be4 K2 berichtet ebenfalls über den weiteren Lebensweg der Mutter, allerdings in umgekehrter Reihenfolge. Nach dieser Kurzvita war sie erst in Basel, dann in Colmar. Hier liegt aber offensichtlich ein Fehler von K2 vor, da sich alle anderen Quellen und insbesondere auch die Vita der Mutter in diesem Punkt einig sind, vgl. K2, fol. 3v u. 4r (s. Anhang). 5 Regina D. Schiewer (2007) regte zu neuen Forschungen zu den Gottesfreunden und einem reflektierten Umgang mit dem Begriff an. Sie zeigt, dass die Gottesfreunde noch weniger als noch bei Rapp angenommen eine feste Gemeinschaft bildeten, sondern dass die Bezeichnung »Gottesfreund« ein Ideal definiert, welchem ein religiös motivierter Mensch nacheifert. 6 Zur Beziehung zwischen Elisabeth und den Franziskanern vgl. die Ausführungen von Werner (2007: 116), der versucht, die Nähe zwischen Konrad und den Franziskanern aufzuzeigen. Dem widerspricht Bertelsmeier-Kierst (2008: 11) ausdrücklich mit Verweis auf die Marginalisierungsversuche der Beziehungen Elisabeths zu den Franziskanern, die Konrad in seiner Elisabeth-Vita vorgenommen hat. Außerdem verbot er ihr den Verzicht auf ihren weltlichen Besitz und Krankenpflege nach franziskanischem Vorbild. Wehrli-Johns (2007: 160) zeigt wiederum, dass im Libellus, der Vita Elisabeths nach den Aussagen der Dienerinnen, eine stärkere Anbindung an die Franziskaner vorgenommen wurde als in der Elisabeth-Vita des Konrad von Marburg.
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geisterung für Elisabeth an den Tag legten, allerdings erst mit Einführung der Reform. In Freiburg findet sich sogar ein von Sybilla von Bondorf gemalter Bildzyklus zum Leben der Heiligen (Bodemann 2008: 297 f.). Dieser ist aber auch hier erst nach Magdalenas Zeit anzusiedeln. Er wäre eher als Folge der Reform anzusehen, als dass er auf eine direkte Verbindungslinie zwischen Franziskanern und der thüringischen Heiligen verweisen würde, die Magdalenas Mutter hätte dazu inspirieren können, ihre Tochter in St. Klara unterzubringen. Außerdem gab die Mutter laut M auch schon früh Vermögen an ein Kloster in Colmar, damit kann eigentlich nur das damals noch nicht reformierte Unterlinden gemeint sein, in welches sie später eintrat (M, fol. 16va). So muss die ursprüngliche religiöse Ausrichtung der Familie offen bleiben. Möglich wäre aber auch, dass die Franziskanerinnen die einzige Möglichkeit waren, ihre Tochter unterzubringen, da zumindest von einem Reformkloster sicher keine Oblaten aufgenommen wurden.7 Wie die dominikanischen Frauenklöster Freiburgs dies im 15. Jahrhundert handhabten, ist nicht bekannt.8 In den Anfangsjahren der Konvente wurden zumindest gelegentlich Kinder aufgenommen. Dies berichtet jedenfalls das Adelhauser Schwesternbuch im Fall der Anna von Hoch, die allerdings bei ihrem Eintritt schon zehn Jahre alt war (König 1880: 172). Eine Stelle in M könnte einen Hinweis darauf liefern, dass in St. Klara nach der Reform Kinder, zumindest jüngere Mädchen aufgenommen wurden, angelockt durch Magdalens Anziehungskraft: diße dinge und ander große dynge me dan hie geschreben ist. hant vil junfrauwen gehort und gesehen von yr. die alle eyn sunderlicher begirde zuo dem heren hant dar dorch entpfangen und dar umb die wernt genzliche verlaßen hant und yn das closter komen synt luderlichen durch got. und yn recht armut der zit sich ergeben hant alleyn got zu dienen. und synt auch an der vil guder kynder noch die auch begyrde hant dar yn zu kommen (M, fol. 22va). Dass Margaretha später mit ihrer Entscheidung, ihr Kind in dem nicht-reformierten Freiburger Franziskanerinnenkloster zu wissen, nicht glücklich war, geht aus beiden Viten hervor: aus der jüngeren deutlich, aus der älteren zumindest indirekt9 :
7 Greenspan (1984: 23) merkt an, dass es für St. Klara sonst keine Hinweise auf Aufnahmen im Kindesalter gibt: Sie geht von einer Ausnahme aus. 8 Ein Blick in die Region zeigt eine sehr unterschiedliche Handhabung: Das bis 1480 nicht reformierte Basler Dominikanerinnenkloster Klingental nahm regelmäßig Oblaten auf, manche sogar schon im Kleinkindalter (Weiss-Müller 1956: 21 f.). Für ein weiteres Kloster in Basel, St. Maria Magdalena an den Steinen, war die Aufnahme von Kindern jedoch die Ausnahme (Erdin 1956: 41). Für die Freiburger Klöster fehlt für das 15. Jahrhundert die Quellenbasis, um sichere Aussagen über das gewöhnliche Aufnahmealter machen zu können. 9 M überliefert einen Brief Magdalenas, in dem sie berichtet, sie habe sie aus dem Kloster nehmen wollen, da St. Klara Privateigentum zuließ (Schleussner 1907: S. 27).
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[F, pag. 27] Do eß nun etlich alterß was und gehorsam solt dun do wart sein muter vermanet von irem beichtiger hieß vater gengenhach, wie dass sie solt fordern das man ir ir kind wider solt heraus geben, das det sie zu wissen dem vorgenannten Gottesfreundt, do wart ir geantwurt also, du solt deinem bichtiger gehorsam sein und solt es fordern, eß beschicht doch nit das eß aus dem closter [28] kumm eß ist allein die firsichtigkeit Gotteß das noch dieser vorterung fil gutß folgen, und diese vorterung beschach und bat des man ir ir kind hinauß geb do war das kind und die fraun alle ser betriebt und under vil anderen Reden die beder deil geschach, do ward diese sach vir Rat gezogen, do ward erkand das der burger Meister selbtrit in das closter solt gen und dass kind dieser sahen ernstlich an unseren hern und gott und eins mals nach einer messin. Do begert eß von ganzten herzen von gott das er im zo verston gab was fir in sein liebster will wer do war im also wor in einem gesicht, wie das sant Franciscuß und sant Clara zu im kemen und sant franciscus nam im sein hand und gab sie unseren hern in sein hand, do dunket eß wie unser herrgott als götlich an= [29] seh do bei wart im zuo verston geben wie das eß dis ort nit solt verwandlen dornoch kam der burgermeister selbtrit in das closter genant Albrecht von Kipenheim und Rudolf von Kilchen und peter ferber und besahen und verherten dis kind. Do gab eß inen ein schlechte antwurt, do bei sie doh wol verstunden das eß nit aus dem closter wolt. Dornach ward es nit mer gefortert, dornach sproh die muter zu im, min kind du solt diese ver manung von mir erhalten, zu dem ersten solt du dich halten in ganzer lediger volkummener armut und in freier lediger abgeschiedenheit aller creaturen und ker dein hertz alle zeit allein zu gott, dis befilt eß zu allen zeiten.
Auf wen die Initiative zurückgeht, auf den Beichtvater, Peter Gengenbach, der die Reform der Klöster Unterlinden und St. Maria Magdalena an den Steinen begleitete10 oder aber die Mutter selbst, wird sich wohl nicht mehr herausfinden lassen. Magdalenas Leben in St. Klara wurde nach dieser Entscheidung nicht weniger fromm als zuvor. Sie lebte laut der jüngeren Vita bereits als Kind in großer Askese und bewies ein hohes theologisches Verständnis. Sie begriff früh das Geheimnis des Sakramentes und hatte Einblick in komplizierte theologische Komplexe, die sie mit ihren Mitschwestern diskutierte. Ihre asketische Lebensweise äußerte sich in strengem, selbstauferlegtem Fasten und körperlichen Kasteiungen: Sie trug härene Gewänder und schlief auf bloßem Boden mit täglichem Schlafentzug. Nach M begann die intensive Zeit der asketischen Lebensführung erst mit dem 12. Lebensjahr. Beide Viten überliefern einen Brief der zumindest in M schon eingeführten Klausnerin Katharina von Beuggen, die Magdalena schrieb, sie solle von ihrer übertriebenen Askese zumindest an Krankheitstagen Abstand nehmen, da sie das Leben verkürze und Gott noch etwas mit ihr vorhätte: wan in dem 22 jor deines olterss so wirt dich der herr nutzen.11 Nach der jüngeren Vita ist Magdalena zu diesem Zeitpunkt 17. Nachdem ihr Verbleib im Kloster durch die Befragung durch Bürgermeister Albrecht von Kippenheim und die beiden Ratsmitglieder Rudolf von Kirchen 10 Zu Peter Gengenbach OP vgl. Erdin (1956: 56 – 59). 11 F, pag. 33, fast gleichlautende Formulierung in M, fol. 24r (Schleussner 1907: 28).
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und Peter Färber12 zugesichert war, interessierte sich Magdalena, vermutlich durch das Beispiel der Mutter angeregt, zunehmend selbst für die Belange der Klosterreform. St. Klara war eine Stiftung des Freiburger Ritterbürgertums und hatte von Anfang an Schwierigkeiten, die in der von der Ordensgründerin Klara geforderte Armut einzuhalten, sowohl was die persönliche Armut als auch die Besitzlosigkeit des Konventes anging (Ueding 1961: 160). Insbesondere gegen den Privatbesitz der Schwestern versuchte Magdalena mit allen Mitteln anzukämpfen, war jedoch lange nicht erfolgreich. Schließlich griff sie zu einem ungewöhnlichen Mittel und inszenierte eine Entführung durch Christus aus diesen für sie so unhaltbaren Zuständen. Offensichtlich gelang es ihr, im Chor der Kirche ein perfektes Versteck zu finden, in dem sie für mehrere Tage, von Donnerstag bis Sonntag, unentdeckt bleiben, jedoch die erschreckten Reaktionen ihrer Mitschwestern auf ihr Verschwinden mithören konnte. Eine ihrer Mitschwestern berichtete, sie habe Magdalena kurz vor der Prim noch gesehen und wurde später deshalb von Magdalena in der Erklärung für ihr Verschwinden der Lüge bezichtigt. Die Abgabe der Erklärung inszenierte Magdalena ebenfalls sehr wirkungsvoll: Während sich die Schwestern in der Nacht nach ihrem Verschwinden zur Mette im Chor der Klosterkirche versammelten, fiel ein zusammengerollter Brief in den Kirchenraum. Es war eine mit Blut geschriebene Botschaft von Magdalena, in dem sie die Einhaltung der Besitzlosigkeit forderte, andernfalls würde sie Christus nicht wieder zurück ins Kloster lassen. In diesem Bericht gleichen sich die beiden Viten weitestgehend. Die Schwestern, die schon befürchtet hatten, Magdalena habe im Wahnsinn das Kloster verlassen, und sie überall gesucht hatten, waren erleichtert und glaubten offensichtlich die Geschichte, obwohl sie laut der jüngeren Vita am Freitagmorgen Magdalenas Gebetsbücher vor dem Altar fanden, die diese wohl während des nächtlichen Gebetes dort vergessen hatte, worauf eine weitere ergebnislose Suchaktion angesetzt wurde. Nach eingehender Beratung mit ihren Beichtvätern fanden sie Magdalena zur Mette in der Nacht zum Sonntag regungslos ausgestreckt, mit dem Gesicht zum Boden, vor dem Altar liegen. Sie 12 Durch die Nennung dieser drei Namen ist eine Datierung der Rückforderung auf 1421 möglich. Albrecht von Kippenheim ist mehrmals Bürgermeister, im in Frage kommenden Zeitraum 1415, 1418 und 1421. Rudolf von Kirchen wurde auf Grund einer Spionage von Ratsgeheimnissen zugunsten der Franziskaner 1408 aus dem Rat ausgeschlossen und ist erstmals wieder 1418, aber auch 1421 dort vertreten. 1418 und 1421 ist auch Peter Färber als Vertreter der Färberzunft im Rat. 1418 wäre in Hinblick auf Magdalenas Alter als Jahr der Rückforderung ideal, denn das ›klassische‹ Professalter liegt bei 12 (Weiss-Müller 1956: 22). Unterlinden wurde allerdings erst 1419 reformiert, Magdalenas Mutter trat laut ihrer Vita erst anschließend ein (Denifle 1876: 484), so dass, wenn die Angaben der Vita stimmen, 1418 nicht in Frage kommt. So bleibt 1421 als Jahr der Rückforderung, Magdalena dürfte so beim Ablegen der Profess 13 oder 14 Jahre alt gewesen sein. Vgl. Stadtarchiv Freiburg, B5 1a 1, fol. 33v – 43r.
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verweigerte zunächst jede Aussage über ihr Verbleiben und kommunizierte laut M zunächst nur schriftlich mit ihren Mitschwestern (laut der jüngeren Vita sprach Magdalena schon in der Nacht der ›Rückkehr‹ mit ihnen). Unter anderem legte sie auch Rechenschaft über den Bücherfund im Chor ab. In M brach Magdalena erst nach 3 Tagen eindrucksvoll mit der Forderung nach der Einführung der Reform ihr Schweigen. M konstatiert daraufhin den bewussten Entschluss der Mitschwestern zur Reform: Da ret sie myt yne solich wort, die yne brachten frucht und nucze, also daz sie sich genczlichen liessen yn allen dyngen und sich gancze ergaben czu wilger armut und uns czu anderen strengen ubungen, den sie vorhyn strencklich widerstanden hatten (Schleussner 1907: 112). Die Einführung der Reform kann insgesamt als gelungen betrachtet werden. Darüber lassen zumindest die Viten keinen Zweifel, auch wenn sich St. Klara erst wesentlich später offiziell der franziskanischen Reformbewegung angeschlossen hat.13 Äußeres Anzeichen der Reform neben den Selbstbezeugungen aus dem Kloster war das Aufkommen einer blühenden Handschriftenkultur in St. Klara im weiteren Verlauf des 15. Jahrhunderts. Zu nennen wären hier etwa die Miniaturenmalerin Sybilla von Bondorf und die Schreiberin Elisabeth Vögtin, die auch in der Kurzvita K2 als Mitverfasserin einer Vita Magdalenas genannt wird. Nach diesem Erfolg wurde Magdalenas zuvor schon makelloses Leben noch heiliger. Sie hatte nach wie vor Visionen und Offenbarungen und am Karfreitag 1430 schwitzte sie blutigen Schweiß, weinte blutige Tränen und erhielt Stigmata – gewissermaßen das letzte Indiz, das noch fehlte, um ihr Auftreten als Heilige zu vervollständigen. Dieser Bericht wird jedoch in M nicht mehr wiedergegeben, die biographischen Angaben enden dort Anfang 1430. Anfang Dezember 1430 glaubte Magdalena, die anfangs vorgestellte Vision einer Ankündigung ihres eigenen Todes auf den Dreikönigstag 1431 bekommen zu haben. Sie vertraute sich ihren Mitschwestern an, welche dafür sorgten, dass sich diese Nachricht in Windeseile in der ganzen Region verbreitete und dann eben zu der kleinen Völkerwanderung in die Lehener Vorstadt führte: venerunt de predictis regionibus in curribus et equis et pedibus nobiles, rustici et clerici et monachi seculares et ecclesiastici14 (Nyder/Biedermann 1971: 131). Wie Johannes Nyder es in seinem Bericht ausdrückte, war unter den monachi seculares et ecclesiastici der von ihm persönlich geschickte Prokurator des Basler Domini-
13 Die Reform wurde in St. Klara 1528 aus taktischen Erwägungen während der Reformationswirren eingeführt, vgl. Ueding 1961: 190. 14 »Es kamen aus den zuvor genannten Regionen in Karren, Pferden und zu Fuß Adelige, Bauern und Kleriker und Mönche, weltliche und geistliche.«
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kanerklosters, Bruder Johannes, der kurz zuvor das Prioramt in Basel angetreten hatte. Magdalena hatte zur Vorbereitung auf ihr Sterben seit Wochen gefastet und fast die gesamte Zeit in permanentem Gebet verbracht, allerdings auch 17 Tage im Krankenzimmer. Sie legte sich am Vorabend des Dreikönigtages, einem Freitag, ausgestreckt vor den Altar, laut Nyder mit dem Kopf im Schoß einer Mitschwester, und harrte gemeinsam mit ihrem Konvent der Dinge, die da kommen sollten. Mit ihr wachte außerdem eine Gesandtschaft des Rates, die das Stadtführungsgremium immer auf dem aktuellen Stand halten sollte. Anwesend waren auch Hamann Schnidke, der Stadtschreiber, und Meister Paulus Glotterer, der Stadtarzt. Letzterer ist der einzige Zeuge, den Nyder außer seinem eigenen Gesandten mit Namen erwähnt. Die Klausur wurde wohl zumindest teilweise gelockert: etlich von dem rat und andere Personen, bede geistlich und weltlich, kamen zu dem prouinzial und baten in mit solcher ernstlicher bitt, das er sie mit im in das closter fierte (Schleussner 1907: 120). Es handelte sich hierbei um die in der ›Zeugenliste‹ aufgeführten Personen. Die jüngere Vita ist sich also der Nichteinhaltung der Klausur bewusst, doch wird sie nicht weiter kommentiert. Nach Nyder übernahm die Kontrolle von Magdalenas Vitalfunktionen der Arzt, qui in pulsu praedictae notaret sororis moriturae vitam adesse vel abesse15 (Nyder/Biedermann 1971: 132). Magdalena wurde also von einem Nichtgeistlichen berührt. Ansonsten findet sich bei ihm, in Übereinstimmung mit F und S, der Hinweis auf eine gewisse Einhaltung der Klausur : Astantibus igitur sororibus omnibus, mane in choro, et dictis viris, et multis aliis maturis, ecclesiasticis et regularibus, plebeis vero extra in ecclesia tantum prodigium expectantibus16 (Nyder/Biedermann 1971: 132). Im Chor, in der unmittelbaren Nähe Magdalenas, befanden sich also nur Magdalena, ihre Mitschwestern und die zuvor genannten Männer, also wohl überwiegend Geistliche, aber auch die Ratsangehörigen und der Stadtarzt. Ein Verstoß gegen die Klausur liegt also in jedem Fall vor, wenn auch mit Wissen und dem Segen des Provinzials. Die Schilderung der weiteren Ereignisse unterscheidet sich bei Nyder und der jüngeren Vita deutlich, was ihre Ausführungen angeht. Nyder berichtet kurz und zielgerichtet, Magdalena sei nicht gestorben und hätte schließlich mit der Bitte, ihr etwas zu essen zu geben, das ›Experiment‹ abgebrochen. Nach S und F zieht sich dieser Prozess noch über eine Woche hin. Magdalena wird mehrmals vom Provinzial ermahnt, sie solle Auskunft geben, wie es um sie stehe. Die Ratsangehörigen suchen mehrmals Rücksprache mit dem Rat, wie 15 »[…] der am Puls der zuvor genannten sterbenden Schwester bemerkte, ob das Leben da oder weg sei.« 16 »[Magdalena] beistehend verblieben aber alle Schwestern im Chor, und die genannten Männer und viele andere, Geistliche und Regulierte, das Volk aber erwartete das Wunder außerhalb in der Kirche.«
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man mit der sich abzeichnenden Blamage umzugehen habe. Sie werden erst zum Ausharren aufgerufen und schließlich wird der Lesemeister der Augustiner damit beauftragt, am Montag offiziell den Ausgang der Angelegenheit zu verkünden. Das Interesse an dieser Kundgebung war so groß, das man sorget, das die leit einander ertrugken wurden (F, pag. 118). Einen Tag zuvor hatte Magdalena noch beim Verlesen der Passion Stigmata vor den anwesenden Zeugen erhalten. Montag bis Donnerstag verharrte Magdalena mehr oder minder regungslos in der Kirche, am Donnerstag erhielt sie das Sakrament und dadurch neue Kraft. Am Freitag wurde sie unter der Aufsicht von zwei Mitschwestern, Clara von Kippenheim und Sophie von Blumeck, in der Kirche zurückgelassen, da der Provinzial und die übrigen Schwestern eine Kapitelversammlung einberufen hatten. Magdalena sandte ihre beiden Mitschwestern unter einem Vorwand aus der Kirche und verschwand bis zum Sonntagmorgen, dieses Mal in perfekter Abstimmung mit Tod und Auferstehung Christi. Außerdem wird noch der Brief einer sonst nicht weiter benannten Zisterzienserschwester aufgeführt, die bekennt, Gott habe ihr zu der prophezeiten Sterbestunde Magdalenas aufgetragen, dafür zu beten, dass diese wieder ins Leben zurückkehren würde. Die jüngere Vita impliziert also, dass Magdalena wie geplant gestorben wäre und nur durch ein Wunder Gottes wieder ins Leben zurückgekehrt sei. F und S lassen allerdings den Spott der Welt nicht aus, den Magdalena nach ihrer gescheiterten Prophezeiung erhält: Ir heiliges seliges leben ward von menigen sindigen menschen verspotet und vernint, und ward dicke gezigen, das sie wer ein zauberin. Auf diese Anschuldigungen reagiert Magdalena jedoch vorbildlich: Dise durchechtung leit sie mit grosen freiden undd begirten, wan man ir scheltwort zusproch, do ward sie frelich und wer ir verschmecht andet, so begert sie sunder gnod von gott und so man sie lobt, so wart sie betriebt und traurig gesenen (Schleussner 1907: 126). Magdalena setzte ihr einer ›Heiligen‹ geziemendes Leben fort. Die jüngere Vita berichtet noch von insgesamt vier Entrückungen bis 1436. Dann enden die biographischen Angaben und es folgen Visionen und Offenbarungen, die den größten Teil des Textes ausmachen. Schleussner, der (Teil-)Editor von M und F, versuchte, in guter germanistischer Tradition, die beiden Originale, OM und OF, zu rekonstruieren und war der Ansicht, dass der Kompilator von OF OM zumindest teilweise zur Verfügung gehabt haben musste. In der Tat handelt es sich bei beiden Texten um eine Abschrift. Bei M wird dies daraus ersichtlich, dass die Handschrift, die außer Magdalenas Vita noch weitere geistliche Texte wie Lehren und ein FranziskusLeben enthält, 1491 im Mainzer St. Agneskloster entstanden ist, wie das Explizit vermerkt: […] anno domini mccccxci ist geschreben diss buche von eyner closterjunffrauwen, genant suster Maria Alden, under der regerunge der wirdigen
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frauwen, frauwe Magdalena Kuchen, eptissen des junffrauwenclosters zu sant agnesen, in welchs closter auch diss buch gehort (Schleussner 1907: 18). F enthält gleich im Incipit einen Quellenverweis: Hienoch folgt das Leben unserer guoten seligen Magdalena und wart angefangen zu schreiben an der heiligen Mutter st. clara dag do man zelt 1656 jor genommen us dem alten breiten buch mit den seiden deken (F, pag. 1). S verzichtet auf eine Quellenberufung und steigt sofort in medias res ein: hernach volgt das Leben der gueten seligen Schwester Magdalena st. Clarae ordinis zu freyburg in breisgow welche geboren da an zalt nach christi geburt eintausend fürhundert sibent Jahr. Zu aber umb 6 uhr an einem freitag. und ist gestorben anno 1458 (S, fol. 1r). Die seltsame Formulierung verweist auf einen Zeilensprung. Es handelt sich um eine Abschrift der Kurzvita K2, die im Gegensatz zur den ausführlichen Viten die Geburtsstunde angibt. Die sonstigen Unterschiede zwischen F und S sind minimal. S gibt bis auf gelegentliche minimale Abweichungen den gleichen Text wie F wieder. Der einzige etwas größere Unterschied besteht in einer etwas veränderten Zusammensetzung der folgenden Mirakelsammlung. Beide Handschriften kündigen 50 Mirakel an, S bringt aber letztlich 51 Mirakel. Nr. 31 von S findet sich nicht in F: Es war zu Freyburg ein fraw, die hate ein alte Mueter, die verlor sy und suchte selbige 5 tage und kundte sie nunderst finden, do befahl sy selbige in die fürbit der seligen Magtalena, als bald dete sye ir Mueter wiederum finden (S, fol. 295r). Außerdem fassen F und S die einzelnen Mirakel teilweise unterschiedlich zusammen oder es gibt kleine Unterschiede in der Reihenfolge. Schleussner nahm bei seiner Teiledition, bei der er das Hauptaugenmerk auf die Biographie Magdalenas legte und deshalb die Offenbarungs- und Visionstexte größtenteils nicht aufnahm, die biographisch geordnete Freiburger Handschrift der jüngeren Vita als Leithandschrift und stellte ihr die entsprechenden Passagen aus der Mainzer Handschrift entgegen, in der sich die biographischen Informationen über den gesamten Text verteilen. Ganz selten bietet M in biographischer Hinsicht Informationen, die die jüngere Vita nicht kennt. Wortwörtliche Übereinstimmungen sind selten und betreffen meist Briefe. Was Gebete und Offenbarungen angeht, so weist M jedoch öfter Eigenständigkeit auf und überliefert Passagen, die die jüngere Vita nicht kennt. Es handelt sich um mehrere Lagen von insgesamt 80 Blatt, die in der jüngeren Vita kaum Berücksichtigung finden. Hier geht Schleussner davon aus, dass der Kompilator der jüngeren Vita diesen Teil nicht kannte. Auch gegen Ende von M gibt es nochmals einen 15 Blatt umfassenden Teil, der bis auf eine Offenbarung, die in F und S im Gegensatz zu M allerdings datiert ist und so von einer anderen Quelle stammen muss, keinen Eingang in die jüngere Vita gefunden hat. Trotzdem ist Schleussner der Ansicht, dass der Kompilator von OF das Original von M (bis auf den oben genannten Teil 24v – 105v) benutzt haben muss, und spricht von einem einma-
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ligen Beispiel zur Darstellung der Vorgehensweise einer Zusammenstellung einer Vita. Er hielt OM für eine Art ›Zettelkasten‹ für eine spätere, mit OF verwirklichte Reinschrift der Magdalenenvita: Das Handschriftenverhältnis ist ein sehr interessantes. In OM haben wir die älteste, auf Magdalena bezügliche Niederschrift (in getreuer Kopie, wie der Vergleich mit F zeigt), das Material für eine spätere Lebensbeschreibung, die dann in OF gegeben ist. Daß sich wie hier ein solches Konzept erhalten hat, dürfte ein seltener Fall sein. Die vergleichende Nebeneinanderstellung der beiden Handschriften und ihr Verhältnis zueinander kann als kritisches Schulbeispiel dienen für Fälle, wo die Forschung auf spätere Überlieferungen angewiesen ist und wo die Legendenbildung bereits den ursprünglichen Kern umrankt hat (Schleussner 1907: 21).
Ansätze zu Legendenbildung finden sich allerdings in beiden Vitentypen. Insbesondere die mystische Entrückung wird in der jüngeren Vita plausibler und detaillierter wiedergegeben, man denke beispielsweise an den Bücherfund vor dem Altar, für den später, nach Magdalenas Wiederauftauchen, eine Erklärung der Schwestern eingefordert wird. Ebenso wirken die drei Tage Schweigen bis zur Annahme der Reform in M reichlich stilisiert. Auch gibt es nur wenige Formulierungsübereinstimmungen zwischen den beiden Vitentypen, etwa im Fall des ersten Briefes der Klausnerin zu Beuggen beziehungsweise des Gottesfreundes zur künftigen Bedeutung der kleinen Magdalena, also einer Passage, die gut aus einer dritten, heute unbekannten Quelle stammen kann. Es ist also nicht unbedingt Voraussetzung, dass der Kompilator der jüngeren Vita die Vorlage der älteren zu seiner Zusammenstellung genutzt hat. Für OF nimmt Schleussner aufgrund der in F eingefügten Datierungen einiger Offenbarungen eine Entstehungszeit noch zu Lebzeiten Magdalenas zwischen 1443 und 1445 an. Das in F und S überlieferte Todesdatum sieht er als sekundär eingefügt an, da auch OF ohne Abschluss gewesen sein müsse. Ein weiteres Argument sieht er in einem in F eingelegten Blatt mit einer ansonsten nur in den jüngeren Kurzviten des 17. Jahrhundert überlieferten Prophezeiung Magdalenas, die, sofern sie echt sein sollte, doch in OF hätte eingefügt werden müssen. Die merkwürdige Anordnung von OM erklärt Schleussner mit einer nachträglichen Bearbeitungen und Zerlegung des ursprünglichen Textes in drei Teile. Anlass für diese Bearbeitung sei die Anforderung von Magdalenas Vita durch die St. Agneser Schwestern in Mainz gewesen. Man hätte die mittlerweile als peinlich empfundene Todesszene entfernen wollen und deshalb nicht OF nach Mainz geschickt, sondern hätte in die Materialsammlung für OF so eingegriffen, dass die peinliche Szene aus ihr getilgt und durch Offenbarungen ersetzt wurde. Die Aufzeichnungen in M setzen 1429 ein, dem Jahr des Verschwindens, in dem Magdalenas Leben als aufzeichnungswürdig angesehen wurde. Dieser Teil umfasst in M die folia 15v – 24v. Diese Ereignisse seien laut Schleussner in OF
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ursprünglich mit der Todesszene fortgesetzt worden, welche dann aber aus der Handschrift entfernt und durch den Teil mit Offenbarungen ersetzt worden seien, die sich nicht in F wiederfinden lassen. Die ursprüngliche Anordnung von OM sieht Schleussner folgendermaßen: 15v – 24v, der entfernte Teil mit der Sterbeszene, 105v – 184r (Kindheit und Offenbarungen), 24v – 105v (Offenbarungen) und als Schluss 184r – 200v (Offenbarungen). Schleussners These klingt auf den ersten Blick abenteuerlich, ist aber bei näherer Betrachtung durchaus als plausibel einzuschätzen, zumindest, was einen zensierenden Eingriff in OM angeht. Ob die Handschrift wirklich so komplett auf den Kopf gestellt wurde, wie Schleussner das glauben machen will, darf wohl mit einem Fragezeichen versehen werden, denn eine Tilgung der Sterbeszene hätte ja für diesen Zweck völlig ausgereicht. Ebenfalls unklar bleibt, warum das bei Schleussner lediglich als Materialsammlung eingeschätzte OM zeitlich weiter als die bearbeitete Vita geführt wird. Da die jüngere Vita auch selten wortwörtliche Übereinstimmungen mit M aufweist, ist dies ein weiterer Hinweis dafür, dass OM nicht als unmittelbare Vorlage für die jüngere Vita gedient hat, sondern von dieser unabhängig geführt wurde. Die von Schleussner vorgenommene Einordnung der älteren Vita als der ›ursprünglicheren‹ (und damit auch wahrheitsnäheren) und der jüngeren als einer Bearbeitung mit deutlich legendenhafteren Tendenzen greift also nicht. M und auf der anderen Seite F und S sind weitestgehend unabhängig voneinander, sie greifen nur teilweise auf die gleichen Quellen zurück, wie etwa die Briefe der Klausnerin in Beuggen. Nun aber zu der Frage, warum Anfang des 17. Jahrhunderts Magdalenas Leben wieder tradiert wurde, diesmal jedoch mit einem deutlich abgewandelten Konzept. Anstelle der ausführlichen Vita tritt nun eine Kurzvita, für die sowohl die jüngere als auch die Mainzer Vita kaum oder gar nicht als Quelle in Frage kommen. Überliefert wird diese Kurzvita mit diversen Abweichungen in drei Fassungen: 1) Die am ursprünglichsten scheinende und ausführlichste Fassung überliefert das Gedenkbuch der Klarissen in Freiburg, im Folgenden als K2 bezeichnet, s. auch Anhang.17 2) Eine weitere Kurzvita, gewissermaßen eine Kurzfassung von K2, findet sich in den Protokollen der Franziskaner in Freiburg, hier als K1 bezeichnet, s. Anhang. 3) Eine lateinische Version der Kurzfassung K1 in Schwaz: S1.
17 Um unnötige Verwirrung zu vermeiden, werden die von Schleussner gewählten Abkürzungen übernommen, wenngleich auch K2 die ältere der Karlsruher Kurzviten ist und damit eher K1 genannt werden müsste.
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Bevor nun ein näherer Blick auf die Kurzviten geworfen wird, ist es sinnvoll, einen kurzen Abriss der historischen Situation von St. Klara im 17. Jahrhundert zu geben. St. Klara hatte sich nach der Zustimmung zu den Forderungen nach einer Reform durch Magdalena und deren mutmaßliche Umsetzung nicht gleich offiziell der Observanzbewegung angeschlossen. Dieser Schritt wurde erst 1528 offiziell vollzogen. Gründe hierfür waren damals taktisches Vorgehen während der Reformationszeit. Keine hundert Jahre später, 1613, wurde aber erneuter Bedarf nach Reformen festgestellt. Diese wurden schließlich 1622 auch durchgeführt, über den Umweg einer zeitweisen Betreuung durch die Freiburger Kapuzinerbrüder. Das nächste große einschneidende Ereignis für St. Klara fand im Juni 1644 statt. Der damalige Stadtkommandant Friedrich Ludwig Kanowsky, Kommandant der schwedisch-französischen Koalition, ließ die Vorstädte zum größten Teil sprengen, um die Stadt besser verteidigen zu können; bei dieser Aktion musste auch St. Klara weichen. Die Schwestern fanden bis zur Fertigstellung des Neubaus ihres Konventes 1657 Unterkunft im franziskanischen Regelhaus Zum Lämmlein, welches in der Altstadt und somit in sicherem Gebiet lag. 1657 wurde dann der an alter Stelle errichtete Neubau des Klosters bezogen, allerdings nur vorübergehend, denn mit der Vauban’schen Stadtbefestigung musste der Standort in der Lehener Vorstadt endgültig aufgegeben werden (Ueding 1961: 191 f.). K2 bietet die ausführlichste Version der Kurzviten, sie dürfte auch die älteste der erhaltenen Fassungen sein, entstanden später als 1622, dem Jahr der erneuten Reform in St. Klara, und früher als 1644, dem Jahr der Zerstörung des Konventes im Rahmen der Verteidigungsmaßnahmen durch Kanowsky, denn anders als in K1 und S1 spielt die Zerstörungsprophezeiung bei K2 noch keine Rolle. Als Hauptquelle beruft sich die Schreiberin, die ungenannt bleibt, auf ein Jahrzeitbuch, nennt aber auch zum Schluss ein von Elisabeth Vögtin geschriebenes Leben Magdalenas. Der Anfang der Kurzvita gibt Rätsel auf. Die etwas merkwürdige, schwer eingängliche Passage ist auf den ersten Blick eigentlich nur so zu verstehen, als habe Magdalena höchstpersönlich am St. Martinstag 1429, also nur wenige Tage nach der Inszenierung der Entrückung, ein Jahrzeitbuch angefangen, um die 157 Jahre seit dem gemeinhin im Kloster überlieferten Gründungsdatum 127218 in Hinsicht auf Einkleidungen, Nahrung und Sterbedaten der Schwestern aufzuarbeiten. Insbesondere der Hinweis, dass sich die Schreiberin später noch
18 So überliefert in der ebenfalls aus dem 17. Jahrhundert stammenden Klosterchronik der Rosina Schädin, GLA 65/217 fol. 1.
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ausführlich Magdalena widmen wird, scheint diese Interpretation abzurunden, die aber trotzdem ein Notbehelf bleibt. An dieser Stelle hilft ein Blick in S1 weiter, welches hier auch große Verwandtschaft zu K2 zeigt. Der lateinische Text der allgemeinen Geschichte St. Klaras weist im Vergleich zu K2 so viele Gemeinsamkeiten auf, dass nun deutlich wird, was im deutschen, möglicherweise auch durch Auslassungen und Zeilensprünge bei der Abschrift, so unverständlich bleibt. So zeigt sich, dass der Martinstag 1429 mitnichten der Beginn der Anlage des Buches und Magdalena auch nicht seine Schreiberin ist, sondern der Beginn der Reform. Sie zeigt sich hauptsächlich darin, dass von nun an Bekleidung und Ernährung auf eine gemeinsame Basis gestellt werden, 157 Jahre nach der Gründung St. Klaras und nach dem Tod von 159 Schwestern. Diese Einführung der Reform wurde nach K2 in den Jahrzeitbüchern St. Klaras vermerkt, ob die Anlage selbst aus dieser Zeit stammt, muss offen bleiben, da kein spätmittelalterliches Jahrzeitbuch aus dem Kloster überliefert ist. Die Erwähnung der Einführung der Reform in einem Jahrzeitbuch scheint nicht ganz zu dem eigentlichen Anliegen eines Jahrzeitbuches, also die Besinnung auf bisherige Stifter und Wohltäter des Konventes, zu passen, denn die Reform impliziert ja unter anderem eine Abwendung von Besitz. Die Einführung der extremen Observanz in dominikanischen Frauenklöstern führte beispielsweise dazu, dass zwar nicht auf Besitz verzichtet, die individuellen Jahrzeiten jedoch eingestellt und in ein allgemeines Stiftergedenken umgewandelt wurden.19 Mit der Einführung der Observanz in männlichen Minoritenkonventen kam es dazu, dass insbesondere ewige Seelmessstiftungen nicht mehr möglich waren, da diese mit regelmäßigen Zahlungen verbunden waren, deren Annahme mit der Einführung der Observanz den Brüdern eigentlich verboten wurde (Drexhage-Leisebein 1992: 214). Für die Frauenkonvente war allerdings das Armutsgebot, was den Konventsbesitz anging, von Anfang an nicht so streng gehandhabt worden, Klara von Assisi hatte sich hier mit ihrer Auffassung von strikter Armut nicht durchsetzen können. Die klausurierten Frauenkonvente brauchten schlicht und ergreifend Besitz, um überleben zu können. Dominikanische observante Klöster standen teilweise nach der Reform wirtschaftlich gesehen besser da20, für einige dominikanische Konvente lässt sich explizit die Neuabfassung von Seelbüchern nach Einführung der Observanz nachweisen, wie beispielsweise für St. Maria Magdalena in Freiburg.21 Zwischen der weiteren 19 Dies zeigt Sigrid Schmitt (2010) am Beispiel des Straßburger Dominikanerinnenkloster St. Agnes. 20 Bei der Entscheidung der Einführung der Reform im Basler Kloster St. Maria Magdalena an den Steinen spielte die Hoffnung des Rates auf einen materiellen Gewinn (nicht nur) für das Kloster eine Rolle, dies traf auch zu (Erdin 1956: 52, 72). 21 Stadtarchiv Freiburg, B5 1a 1, fol. 60r – 62r.
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Pflege von Jahrzeitbüchern und der Einführung der Reform besteht also nicht zwingend ein Widerspruch, insbesondere angesichts der Tatsache, dass sich St. Klara ja nicht offiziell der franziskanischen Observanzbewegung angeschlossen hatte. Das Aufkommen der Kurzviten im 17. Jahrhundert ist sicherlich mit der erneuten Reform St. Klaras 1622 zu sehen, sie dürfte Anlass gewesen sein, sich der berühmten Reformschwester aus dem 15. Jahrhundert zu erinnern. Das Datum wird in K2 auch in Verbindung mit einer Forderung respektive Vision Magdalenas genannt. Offensichtlich hatte man mit 200 Jahren Abstand jedoch einen anderen Blick auf die Ereignisse von damals und stand ihnen wesentlich skeptischer gegenüber als die Mitschwestern Magdalenas. Daher reduzierte man Magdalena auf die Punkte, die ihre Glaubwürdigkeit nicht herabsetzten, nämlich ihre vorbildlich fromme Lebensführung und ihre prophetischen Gaben, und gab sie so zeitgemäß wieder. Dadurch transferierte man ihr Leben gewissermaßen ins 17. Jahrhundert. Hielt man Ende des 15. Jahrhunderts zumindest noch die mystische Entrückung durch Christus für überlieferungswürdig, wie sie in M noch sichtbar wird, so wurde für die Konzeption der Kurzvita alles weggelassen, was den Anschein der Unglaubwürdigkeit erwecken (oder aber die Nonnen von damals als gar zu gutgläubig darstellen) könnte: neben der Todesszene also auch die Entrückung. Die Todesszene wird nur gewissermaßen kodiert erwähnt, in dem auf Neider und Verhöhnung Magdalenas hingewiesen wird. Mit der Zerstörung des Klosters 1644 wurde die prophetische Begabung Magdalenas nochmals in neues Licht gerückt. Man fand eine Zerstörungsprophezeiung Magdalenas und damit ihre Voraussetzungen bestätigt, vor der Sprengung des Klosters waren tatsächlich drei Schwestern mit Namen Magdalena im Kloster. So erhielt die Prophetin Magdalena nochmals neue Bedeutung und man veränderte wiederum ihre Vita. Die Reformschwester war nun nicht mehr von großer Bedeutung. So konnte man auch auf Informationen über die Mutter verzichten, von der Magdalena die Impulse zur Reform erhalten hatte. Der Fokus von K1 und analog dazu auch S1 liegt völlig auf der Prophetin, deren Glaubwürdigkeit durch ihre strenge, asketische Lebensführung unterstrichen wird. Schleussner äußerte leichte Zweifel an der Echtheit der Prophezeiung, da sie sich weder in der älteren noch in der jüngeren Vita findet, was aber auch an dem Abbruch beider Aufzeichnungen vor Magdalenas Tod liegen könnte (Schleussner 1907: 201). Da sich aber die Kurzviten auf andere Quellen als die beiden Viten berufen, ist es gut denkbar, dass die Prophezeiung der Zerstörung erst mit deren plötzlich eintretenden Aktualität als nennenswert empfunden wurde, so, wie K2 auf eine zwischen 1622 und 1644 aktuelle Prophezeiung Bezug genommen hat. Ganz offensichtlich wurde jedoch diese versachlichte Memoria Magdalenas in
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den Kurzviten den Bedürfnissen der Schwestern im ›Exil‹, also der Zeit im Regelhaus, nicht mehr gerecht. Die Gründe hierfür können nur vermutet werden. Brauchten etwa die Schwestern von St. Klara angesichts der räumlichen Enge und der Konflikte mit den Regelschwestern, die sicherlich unausweichlich waren, eine gemeinsame Identifikationsfigur zur Abgrenzung gegenüber den Tertiarinnen? Wuchs nach den langen Kriegsjahren wieder eine gewisse ›Toleranz‹ für geistliche Erfahrungen, die am Rand der Unglaubwürdigkeit standen? Jedenfalls stieg das Interesse an Magdalena so sehr, dass man sich nicht mehr mit den spröden Kurzviten begnügen wollte und innerhalb von zwei Jahren die spätmittelalterliche Vita gleich zweimal abgeschrieben hat. Ob man hier bewusst auf die ›rundere‹ Fassung der jüngeren Vita zurückgegriffen hat oder aber die ältere Vita durch Verlust gar nicht mehr zur Verfügung stand – Rosina Schädin nennt in ihrer Chronik einen Klosterbrand von 1547, dem ihrer Vermutung nach viele alte Schriften des Klosters zum Opfer fielen (Ueding 1961: 142, 190) –, wird wohl nicht mehr mit Sicherheit gesagt werden können. Jedenfalls hielt man offensichtlich 1657/58 wieder die ›volle‹ Wahrheit über Magdalena den Leserinnen für zumutbar, während man sich zu Beginn des Jahrhunderts noch genötigt sah, das Leben der Magdalena an die Zeit anzupassen und die beiden herausragenden Ereignisse daraus zu entfernen.
Anhang Vita der Magdalena Beutler aus dem Gedenkbuch der Klarissen, GLA Karlsruhe 65/217 (K2) [3r] Wür aber haben in alten Jorzeitbüchlin, das die gemain zuhalten in Erklaidungen, speiß und dranckh, sey angefangen worden an der hailigen bischoffs st. martins tag. In dem jor do man zalt hat von gottes geburt 1429. Von unserer seeligen schwester Magtalena Beütlerin (von deren gottseeligem leben ich hernach mer schreiben will) und ist von der Zeit dar unsser Clarissenkloster angefangen, biss uff die Zeit, das die gemain in Erklaidungen wie obbemelt angefangen worden verloffen 157 jor unnd sind under dißer zeit gestorben 159 schwestern. [3v] [die daussent vier hundert siben; marginal eingefügt, Verbesserung des Geburtjahres Magdalenas] Unsser erstgedachte gottseelige mitschwester Magtalena Beüttlerin wart geboren in dem jor 1047 an St. Maria Magdtalena obend zu nacht um 6 ur. durch welhle Gott viell gnadenreiche wunder werck gewürckt hat. Si waß Geboren von frummen namhaften Elteren, die da in der forcht und liebe gottes gelebt und nach der zeit reich waren. Ir vatter hieß Jeorius beüttler und was ain namhaffter Kauffman in dem stättlin zu Kenzingen ir mutter Margaretha die was von gott begehrt mit viell sundern
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gnaden war gar ein hailig frauen. Als das seelig kind magtalena fünff jor alt ward do gab si es Gott zu ainem lebenden opffer mit begürd, das er mit im volbracht seinen liebsten willen und gab es in unsser Closter St. Clara alshir zu freyburg. Und zu dieser Zeit war ain andechtig klussnerin zu bücken die hieß Catherina, die schreib unsserem Convent einen brieff mit nachfolgenden worten. Diß kind soll werden ain noüwe dochter Gott des vatters und ain gemahel des Sunß und ain inladerin des h. gaists, und ein gnadenriche blumen der h. Cristenhait der ehren gun ich euch wol zu eweren kloster. Und als die andechtig mutter von gott beraubt ward ires gemahels und irer kinder do ließ verließ si all ir haab und gutt durch Gott und Gieng in das Elend, und laid vill demutt und durchechtung, sy gieng von hauß zu hauß betteln auch von welchen sie bekandt waß, ward sie für taub und wensinig gehalten und nach etlicher zeit kam si in das closter, genant an den stainen zu baßel st. dominici orden. und do si etliche jar seeligklichen aldo gelebt hat, ward [4r] si in der gehorsam mit anderen andechtigen Schwestern geschickt gen under Linden zu Kollmar, dar zu pflanzen aldo si ier jor gnadenreichlichen verzechth und si ward offt verzuckt dan gott wirckte vill wunder mit iren, wie dan die prediger herrin. etlich beschrüften ires Lebens, nebent anderen ires ordens gottseeligen closterfrouwen beschriben, oder in truckh geben lasen. Ir seelige dochter Magtalena hat ain gnadenreiches gottseeliges andechtiges leben gefüreth biß an ir end, mit vill strangkaith, vasten und wachen. si trueg allezeit ain eyssern khetten an irem leib unnd offtermalen ain härrin hembd und schuoch nur mit sollen, oben mit riemen, ain schlechtes khüttlin und mentelin. ir bett was ain strauwsackh uff der erden unnd ain hölzin bloch mit ainem wullin küsselin unnder dem haupt. si fastett täglich biß noch der vesper, sie ass selten speiß di iren lustig waß unnd aß dan zuleczst uff die speiß die bitter wurzcel enczion und sprach, si wer iren gesund an seel und leib. Gott hat si auch schwerlichen geüebt mit vasten für die seelen: sie hat ohnzahl vil für sie gefastet. auch waß si aines demüttigen wandels, ainem lieblichen gebedt güettig und barmherzig niemant ging von iren ungetrest der in betrubtnis was. Ir zeit hat si das werthail zubrocht in ainigkhait in irer zellen. In Ir Shauligkait und mit schreiben die offenbarungen gottes und gebott. si war auch gekerth in das leiden Jhsu xpi unnd befand das auch zu zeiten an irem leib, besonders zu den fronfasten unnd freytagen. si hat grossenn frost, hunger und turst, viel betrüebtnus unnd verfolgung mit gedult umb die gerechtigkaith gelitten. Si wachet alle nacht der mettin unnd leüth die glockhen und weckht die schwesteren zur mettin, grosse treuw unnd liebe hat si zu inen, wie dan durch si die schwestern zu leben ohn aygenschaft angefangen. [4v] schwerer durchechtung hat sie gelitten durch die werckh, die der welt frembd und ungläublichen waren. [4v] Gott der almechtig hat iren durch das hail seiner gläubigen, den lebenden und dotdten und auch zu nutzen der künfftigen vil geoffenbaret sein verborgen gericht die der welt unbekant und unwissent sind. er hat si lassen sehen die Ehr seines reichs und den lohn der seeligen, auch die pein
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unnd straff der sunder und ir klag und betrubtnus, besonder der armen seelen im fegfüer. Under anderen offenbarungen hat ir gott auch eröffnet (als die schwestern dis Convents selbiger zeit, war auch lang hernacher biß in das 1622 jar allezeit 3 tag in der wochen mit flaisch gespeist worden) das die obrigkaithen den schwestern soll erlauben, welche under iren auß sonderbarem Eyffer der andacht ain ganzes jor taglichen begert ohn flaisch gespeist zu werden wan solches gefiel im gar woll und von welchen schwestern er solches beger denselbigen woll er das geben wie dan im obermelten jor beschehen ist. von welchen hernach weiter gemelt wird. Unnser gottseelige schwester Magtalena beschloss ir leben mit ainem gar seeligen gnadenreichen und aussgenommen wolberaidten gutten end in dem jor, als man zalt von der geburtt xpi unnssers herren 1458, den 5. decembris am morgen unnder der hailigen mess. Ir laib war nicht abscheülich oder forchtsam, besonder lieblich unnd gnadreichlich. Si hat an iren kein zeichen des todts, dan das sie blaich waß unnd das linckh aug hat si ain wenig offen. Von iren tugenten unnd gottseeligen leben schreibt s. Elisbabeth Vögtin, das si solches selber gesehen und gehert hab und achtzehen jar bey unnd nebent iren gelebt.
Vita der Magdalena Beutlerin nach den Protokollen der Franziskaner, GLA Karlsruhe, 65/214 (K1): [48] Im Jar 1407 an Sant Maria Magdalena abent ist Magdalena Büttlerin in Kenzingen eheliche gebohren worden. Ihr Vatter war ein reicher Kaufman, dise ist durch ihre Mutter Margaritta einer Tugentreichen Frauen im fünften jahr ihres alters gott dem allmechtig alhier zu freiburg alhir in dem closter in aufgeopfert worden, von welcher Zeit alßo sie stetigs darin herbliben und hernach den orden auf genomen. Alß sie nun erwaxen, hat sie ein sehr streng hart und rauches leben gefirhet, sie trug alzeit ein eisnern Khetten um ihren leib und mer mal ein härners hembt, und schuch mit solen, oben yber aber mit riehmen, ihr chlaidung war ein schlehtes kitelein. /so noch vorhanden/ und mäntelin, ihr bett war ein strohsack, unter das haubt legte sie ein blokh, aß wenig und zenam erst nach der Vesper und alzeit zu letzt dessen ass sie zur mortification das bittern kraut puluer entzian: ist offt verzälcht worden und soll unter anderen prophezeit haben wan drey Magdalena in dis ihren Clarissen closter werden zu samen chomen so wardt selbig closters zu grundt gehn sind und zerscherat werden dise zusammenkunfft der drey Magdalenen ist geschehen anno 1632. Die erste hieß Helena Magdalena Bractin von asch war damals abbtissin von Brixen auß Tyrol hirher geseyt: die ander hieß Magdalena gaitern in Closters aber Caecilia: die drite Magdalena Descherin, diße auß wegen dermal gegen wertige Kriegsgefahr 3. Jahr in Novitiat pro laica aufgehaltn worden und wegen einer schwer Krankheit hatt wieder mißen in die werlt chern: die verwustung aber ist erfolget anno 1644 der 20. Tag
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juny, alß frederic ludowicus Konofftzgi beid konfoederierter Cronen Frankraich und shweden, Oberster zu Fuß und Comendant im freyburg solches neben anderen Gotts häusern lassenen minieren, sprengen und verbrennen. Sie aber dis gott selit Magdalena Büttlerin ist in Gott heilliglich entschlafen den 5. Dezember anno 1458. an morgens unter der H. mess, und ist nachher [49] nit abscheulich oder forchtsam gewesen sonder liblichen zu sehe, sie het chein Zeichen des Todts. alß daes Sie blaich war, und daß Ein sche aug behelt sie ein wenig offen: ist in ihrn Closter begrabn im ersten Grab vor den gebeyden als gegen, des Thurners hof.
Quellen Denifle, Heinrich (1876): Das Leben der Margaretha von Kentzingen. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und Literatur, S. 478 – 491. GLA Karlsruhe: Protokolle der Franziskaner in Freiburg Hs. 65/214 (K1). GLA Karlsruhe: Gedenkbuch der Klarissen in Freiburg Hs. 65/217 (K2). Nyder, Johannes; Biedermann, Hans (Hrsg.) (ND 1971): Formicarius. Graz: Akademische Druck- u. Verlagsanstalt. Schwaz, Franziskanisches Provinzialarchiv : Vita der Magdalena Beutler, Cod. 82 (S). Schwaz, Franziskanisches Provinzialarchiv : Lateinische Geschichte des Franziskanerkonventes in Freiburg, Cod. 494 (S1). Schleussner, Wilhelm (1907): Magdalena von Freiburg. Eine pseudomystische Erscheinung des späteren Mittelalters, 1407 – 1458. In: Der Katholik, 87, S. 15 – 32, 109 – 27, 199 – 216 (Teiledition M und F). Stadtarchiv Freiburg: Ratsbesatzungsbuch B5 1a 1. Universitätsbibliothek Freiburg: Vita der Magdalena Beutler, Cod. 185 (F). Stadtbibliothek Mainz, Hs. II 16 (M).
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Werner Schäfke
Deutsche und nordische Zwerge: ein Kulturtransfer?
In der mittelalterlichen europäischen Dichtung gehören Zwerge zu den prominenten Figurentypen. Der folgende Vergleich des deutschen und des nordischen Zwergs in der altnordischen Sagaliteratur soll klären, ob Zwerge zusammen mit der kontinentaleuropäischen höfischen Literatur in den Norden ›importiert‹ wurden oder ob sich dort eine genuine Vorstellung von Zwergen findet, die Eingang in die altnordische höfische Literatur gefunden hat. Diese Frage tangiert hauptsächlich die Zwerge in der mittelhochdeutschen höfischen und vorhöfischen Literatur sowie in der altnordischen Sagaliteratur. Sie tangiert aber auch die Zwerge der altfranzösischen Literatur und der nordischen Mythologie. Zwerge finden sich als literarische Figuren in mittelalterlichen Texten besonders im höfischen Roman und in der Heldenepik. Sowohl die altfranzösische wie auch die mittelhochdeutsche Dichtung weisen in diesen Gattungen Zwerge auf (Berger 2007). Aber auch in der altnordischen Literatur sind die mythologische Zwerge der Lieder- und Snorra-Edda am bekanntesten. Aber auch die Sagaliteratur weist eine große Anzahl von Belegstellen für Zwerge in der Sagaliteratur auf. In diesen Prosaerzählungen finden sich Zwerge fast ausschließlich in den Genres der Märchen- und Vorzeitsagas. Die Märchensagas, auch als originale Rittersagas bezeichnet, stellen nordische Neudichtungen nach dem Vorbild des kontinentaleuropäischen höfischen Romans dar (Schier 1970; Nahl 1981; Glauser 1983). Die mittelhochdeutschen und altfranzösischen höfischen Romane fanden im 13. Jahrhundert ihren Weg durch Übersetzungen an den Hof des norwegischen Königs Hkons IV. Hkonarson (1217 – 1263). Das früheste datierte Werk ist eine Übersetzung ins Altnorwegische von Thomas D’Angleterres Tristan, die 1226 von einem Bruder Rûbert für Hkon IV. unter dem Titel Tristrams saga ok so˛ ndar angefertigt wurde. Wenig später entstanden auch die ersten einheimischen Nachdichtungen, die auch Elemente der heroischen Vorzeitsagas beinhalten. Die Gattung der Vorzeitsagas wird in Heldensagas, Wikingersagas und Abenteuersagas untergliedert. Die Heldensagas verarbeiten Heldenmythen, wie sie ebenfalls aus den Eddas bekannt sind. Davon sind die Wikinger- und
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Werner Schäfke
Abenteuersagas zu unterscheiden, da in ihnen keine Heldensagen verarbeitet werden. Zwar finden sich zahlreiche Anklänge an die nordische Mythologie, aber die Handlungen gehören nicht zum Sigurd- oder Dietrichs-Sagenkreis. Abenteuersagas gehören vielmehr zum Typus der Brautwerbe-Erzählungen. Sie sind vom kontinentaleuropäischen höfischen Roman beeinflusst und rezipieren neben Elementen der klassischen Sagaliteratur auch Welterzählstoffe (Naumann 1978). Ihre Abgrenzung untereinander ist jedoch schwierig und wenig ergiebig. Im Folgenden wird vereinfachend von »Abenteuersagas« gesprochen.
1.
Forschungsstand
Zwerge sind die meines Erachtens am zweitbesten erforschten Figuren der niederen nordischen bzw. germanischen Mythologie, die zahlreiche Wesen umfasst, darunter Riesen, Trolle und Alben. Besser erforscht als Zwerge sind nur die Riesen, die aufgrund ihrer prominenten Rolle in der nordischen Mythologie als Widersacher der Götter mehr Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben als die dort nur spärlich überlieferten Zwerge (vgl. Schulz 2004). Weniger beachtet worden sind die Alben, die vornehmlich in altgermanischen Zaubersprüchen und in nicht geringem Maße im altenglischen Raum belegt sind (vgl. Hall 2007: 3). Zwergen allein wurden erst zwei Monographien gewidmet: Lütjens (1977 [1911]) und Harward (1958). Lütjens (1977 [1911]) untersucht Zwerge in der mittelhochdeutschen Dichtung. Harward (1958) zeigt die Spuren keltischer Tradition in den Zwergen im Arthusroman auf. Tarantul (2001) behandelt neben Riesen und Alben auch Zwerge, allerdings durch alle Epochen und nicht nur in einer Literatur, sondern gleich in der deutschen, englischen und nordischen, wobei er bei letzterer oft Übersetzungen anstelle der altnordischen Originaltexte analysiert. Der vorliegende Aufsatz bezieht sich in der Analyse auf eine große Datenmenge. Die einzelnen Belegstellen können also nicht ausführlich besprochen werden. Es wird hier aber versucht dennoch versucht, in kursorischer Form einen Abgleich zwischen deutschen und nordischen Zwergen vorzunehmen. Die grundlegenden Untersuchungen, in denen die Belegstellen zu deutschen bzw. nordischen Zwergen erschöpfend diskutiert und analysiert werden, stellen für diesen Aufsatz Lütjens (1977 [1911]) und Schäfke (2010) dar. Auf die Ergebnisse dieser Arbeiten wird im Folgenden in Kurzform eingegangen.
Deutsche und nordische Zwerge: ein Kulturtransfer?
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Deutsche Zwerge
Abgesehen von den mythologischen Handbüchern von Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Jahrhundertwechsel (Grimm 1992 [1875]; Golther 2000 [1895]; Meyer 1903), existieren nur sehr wenige weitere Untersuchungen zu deutschen Zwergen. Dabei werden deutsche und nordische Zwerge unter dem Dach der germanischen Mythologie subsumiert und nicht getrennt voneinander betrachtet. Lecouteux (1981: 366) hält fest: »Seit August Lütjens Dissertation […] ist das Thema ›Zwerg‹ nicht eingehender behandelt worden.« Lütjens’ (1977 [1911]) Arbeit präsentiert umfassend die Belegstellen für deutsche Zwerge. Lütjens (1977 [1911]) präsentiert umfassend die Belegstellen. Er zeigt auch die Spuren der Konzeption der Zwergenfigur der altfranzösischen Dichtung in den entsprechenden deutschen Umarbeitungen auf (Lütjens 1977 [1911]: 6 – 15). Dabei zeigen sich deutliche Unterschiede: Während der altfranzösische Zwerg »bis zum missachteten Diener und Knecht herabsinkt« (Lütjens 1977 [1911]: 68), tritt der deutsche Zwerg dem Helden ebenbürtig entgegen (ebd.). Er widerspricht damit Wohlgemuth (1906: bes. 94), der entlang einer nicht mit Quellen greifbaren, hypothetischen mythologischen Vorgeschichte des deutschen Zwergs eine umgekehrte Richtung der Entlehnung annimmt. Lecouteux (1981) sieht seinen Aufsatz als Ergänzung zu Lütjens’ Arbeit und stellt ihr eine Diskussion der Etymologie des Appellativums sowie einen kurzen Abgleich mit deutschen Elfen an die Seite. Harward (1958) diskutiert die unterschiedlichen Standpunkte Lütjens’ (1977 [1911]) und Wolgemuths (1906) bezüglich der Wurzeln des Zwergen-Motivs. In Übereinstimmung mit Lütjens weist er Wolgemuths These zurück, die Zwerge des Artusromans seien hauptsächlich von historischen Hofzwergen beeinflusst. Er sieht dort nur geringeren Einfluss, zumal der Grad der Verbreitung der Sitte, sich einen Hofzwerg zu halten, aufgrund der geringen Datenlage für das Mittelalter nicht genau bestimmt werden kann (Harward 1958: 21 – 27). Harward (1958) zeigt hingegen anhand einer Reihe von Einzelanalysen, dass die Zwerge der mittelhochdeutschen und altfranzösischen Dichtung auf keltische Vorbilder zurückgreifen. Ein Vergleich zwischen deutschen und nordischen Zwergen fehlt in den älteren Untersuchungen, da dort nicht zwischen nordischer und mittelalterlicher deutscher Literatur getrennt wird. Unter den jüngeren Arbeiten bietet lediglich Motz (1983), die den Zwerg aus diachroner Perspektive als gemeingermanisches Phänomen betrachtet, einen kurzen Vergleich zwischen deutschen und nordischen Zwergen (Motz 1983: 119 – 121). Da sie sowohl in deutschen als auch nordischen Zwergen Widerspiegelungen megalithischer Priester sieht, erscheint ihr eine genetische Verwandtschaft »plausible« (ebd.: 121).
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Werner Schäfke
Nordische Zwerge
Die Forschung zu nordischen Zwergen hat sich bisher vornehmlich mit den mythologischen Quellen beschäftigt und die in den Märchen- und Abenteuersagas äußerst zahlreich vertretenen Figuren weitestgehend vernachlässigt. Die Zwerge der Lieder- und Snorra-Edda bieten jedoch nicht nur eine schmale Datengrundlage, da sie in den Quellen nur spärlich beschrieben werden. Darüber hinaus unterscheiden sie sich auch gänzlich von den Zwergen der deutschen Literatur. Dies ist insofern zu erwarten, da Zwerge in der mittelhochdeutschen Literatur in vorhöfischen und höfischen Versromanen auftreten und Spuren germanischer Mythologie dort allgemein eher rar sind. In der nordischen Mythologie treten Zwerge in der Snorra-Edda beispielsweise bei der Beschreibung des Kosmos auf. In der Lieder-Edda findet sich etwa in den Alvssml, einem gnomischen Gedicht, der Zwerg Alvss in der Rolle des unerwünschten Brautwerbers. Der Gott Thor tritt gegen ihn in einem Wissenswettstreit an, den der Zwerg verliert. Hier wie dort gibt es keine ausführlichen Beschreibungen des Aussehens. Die Wohnorte – die vier Ecken der Welt, an denen vier Zwerge, benannt nach Himmelsrichtungen, den Himmel stützen – oder der Umstand, dass sie nach der Erschaffung der Welt wie Maden im Fleisch des Ur-Riesen Ymir heranwuchsen, finden sich weder in den Märchen- und Abenteuersagas noch in der mittelhochdeutschen Dichtung wieder. Die vorliegende Untersuchung fokussiert damit auf Zwerge in der Sagaliteratur, insbesondere in den Märchen- und Abenteuersagas, die sich in ihrer Erzählstruktur ähneln (vgl. Nahl 1981). Während Motz (1973, 1977, 1983, 1993a, 1993b), die einzige dezidierte Zwergen-Forscherin der skandinavistischen Mediävistik, neben den Zwergen der mythologischen Texte auch Saga-Zwerge in ihre Untersuchungen mit einschließt, stellen erst Jakobsson (2008) und Schäfke (2010) die einzigen Arbeiten dar, die alleinig Saga-Zwerge in den Blick nehmen. Während der kurze Festschrift-Artikel von Jakobsson (2008) aufbauend auf Motz’ Analysen einen guten Überblick liefert, bietet Schäfke (2010) die erste die Daten erschöpfend diskutierende Arbeit. Motz sieht in Zwergen vor allem Widerspiegelungen heidnischer Priester der Megalithkultur. Jakobsson (2008) betrachtet Zwerge hingegen aus einer literaturwissenschaftlichen Perspektive und sieht sie als »Agents of love« (ebd.). Es ist jedoch anzumerken, dass Jakobsson auch Zwerge, die zwar als Helferfiguren auftreten, aber dem Protagonisten nicht direkt beim Erwerb einer Braut helfen, als »Agents of love« klassifiziert. Da es sich bei den Märchensagas jedoch um Brautwerbegeschichten handelt und jede Helferfigur – ob nun Zwerg oder nicht – damit indirekt beim Brauterwerb hilft, ist seine Theorie wenig aussagekräftig. Schäfke (2010) konzentriert sich auf die Definition der Figur des Zwergs in der
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Sagaliteratur und welche Grenzfälle es zwischen Zwergen und benachbarten Figurenkategorien wie denen der Riesen und Alben gibt.
2.
Literarischer Kulturtransfer
Literatur lässt sich als Teilsystem von Kultur begreifen (vgl. Posner 1992). Geht man von zwei verschiedenen Kulturen aus, zwischen denen ein kultureller Austausch stattfindet, kann dieser Austausch somit auch Literatur betreffen. Ein offensichtliches Beispiel für Literaturtransfer als Kulturtransfer ist die Übersetzung von literarischen Werken, die nicht zuletzt auch stattfinden kann, um Ideologeme zu transferieren, die in diesen Texten vermittelt werden. Dieser Ideologie-Transfer findet auch bei der Übersetzung kontinentaleuropäischer höfischer Literatur ins Altnorwegische statt, die im Zuge der Europäisierung der höfischen Kultur Norwegens im 13. Jahrhundert vorgenommen wurde (Schier 1970; Nahl 1981; Glauser 1983). Etwas weniger offensichtlich wird der Transfer bei Elementen von Literatur, etwa bei Motiven. Diese unterscheiden sich von Text zu Text, je nachdem in welchen größeren Erzählzusammenhang sie eingebettet sind. Schwierig wird das Erkennen eines Transfers bei literarischen Figuren, die zwar greifbar werden können als Typus-Motive (z. B. als »Einzelgänger, Bohemien« oder »böse Frau«, Frenzel 1970: 29). Zwerge stellen jedoch nicht nur ein Typus-Motiv dar, sondern kommen in zahlreichen Motiven als Aktanten vor (etwa als Helfer im Kampf oder Geber). Ein Vergleich von Zwergen als literarischen Figuren in verschiedenen Literaturen muss daher sowohl ihre Rolle als Aktanten in Handlungsstrukturen als auch ihre Figurenkonzeption als Typus-Motiv berücksichtigen. Die Analyse konzentriert sich damit auf die Tiefenstruktur literarischer Texte. Kulturtransfer lässt sich im Hinblick auf Oberflächen- und Tiefenstruktur folgendermaßen bestimmen: Parallelen auf der Ebene der Tiefenstruktur zeigen mögliche genetische Verwandtschaftsbeziehungen oder Weiterentwicklungen von importierten Motiven an. Weniger abstrakte Ähnlichkeiten auf der Erzähloberfläche zeugen von einem direkten oder jüngeren Transfer eines Motivs.
196 2.1
Werner Schäfke
Oberflächen- vs. Tiefenstruktur
Die Definitionen der Begriffe Oberflächen- und Tiefenstruktur variieren von Theorie zu Theorie. In der Textanalyse bezeichnet die Tiefenstruktur das »Was« des Erzählens jenseits seiner Darstellung – wenngleich das »Wie« der Darstellung, die Textoberfläche, das »Was« natürlich stets mit beeinflusst.1 Bei der Figurenanalyse bietet die Tiefenstruktur eine Ebene der Abstraktion, auf der approximativ rekonstruiert werden kann, wie die mentale Repräsentation einer literarischen Figur für den zeitgenössischen Leser, der mit dem behandelten Textkorpus vertraut ist, ausgesehen haben könnte. Für die nordischen Zwerge der Sagaliteratur hat Schäfke (2010) auf Basis aller Belegstellen eine solche Rekonstruktion vorgenommen.2 Aber auch Untersuchungen, die nicht explizit der Theorie der strukturalen Textanalyse folgen, jedoch Zwerge aufgrund einer breiten Datenbasis präsentieren wie z. B. Lütjens (1977 [1911]), können genutzt werden. Vergleicht man nun die Tiefenstrukturen bzw. Abstraktionen von zwei Figurentypen in zwei Literaturen miteinander, können fundierte Aussagen getroffen werden, wie sehr sich diese Typen als Abstrakta ähneln. Je ähnlicher sich zwei Figurentypen tiefenstrukturell sind, desto wahrscheinlich ist wie erwähnt eine genetische Verwandtschaft. Daneben ist natürlich eine Analyse, die stärker an der Oberfläche bleibt, geeignet, um ähnliche Wendungen oder spezielle Instanzen dieser Figurentypen zu vergleichen, also die direkte Entlehnung einer ganzen Figur aufzuzeigen. Der folgende Abschnitt zeigt wie eine literarische Figur als mentale Repräsentation anhand der von Schäfke (2010) entwickelten Methode der literaturwissenschaftlichen Prototypensemantik rekonstruiert werden kann. Anschließend werden unter Punkt 3 die Parallelen von deutschen Zwergen mit dem Modell nordischer Zwerge besprochen.
2.2
Prototypensemantische Figurenanalyse
Zwerge stehen in der Sagaliteratur nicht isoliert da. Sie teilen sich handlungsstrukturell gesehen ein Paradigma mit anderen Wesen der niederen nordischen Mythologie, den Riesen, Trollfrauen und Alben. Der Held der Märchen- und 1 Einführung dazu z. B. Martinez/Scheffel (2007). 2 Der Vollständigkeit halber muss gesagt werden, dass in Schäfke (2010) nur Editionen von Texten, manchmal verschiedene Fassungen oder sogar Redaktionen herangezogen wurden und nicht auf jede handschriftliche Variante eingegangen wurde. Eine ergänzende Arbeit, die die ›Varianten-Zwerge‹ untersucht, würde eine interessante Kontrollstudie darstellen und das in Schäfke (2010) erstellte Modell unter Umständen noch verbessern können. Sie stellt daher ein Desiderat der dwarfology dar.
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Abenteuersagas begegnet diesen Gestalten auf seinen Abenteuerfahrten. Während Riesen und Trollfrauen gewöhnlich als Schädiger auftreten, die den Helden oder andere Menschen bedrohen, treten Zwerge fast ausschließlich als Helfer auf. Schädiger können durch Überwindung im Kampf oder durch List als Helfer attribuiert werden und Helfer wiederum zunächst nicht willens sein, dem Helden ihre Unterstützung zu gewähren. Jedoch findet sich eine Anzahl von Grenzfällen, in denen die Helfer- und Schädiger-Rollen nicht klar zugeschrieben werden können. In der Go˛ ngu-Hrûlfs saga tritt der Zwerg Mo˛ ndull als Schädiger auf, der eine Edeldame rauben möchte. Er wird von dem zu diesem Zeitpunkt beinlosen Saga-Helden überwältigt und als Helfer attribuiert. Nachdem Mo˛ ndull von Go˛ ngu-Hrûlfr aus seinen Diensten entlassen wird, führt der Zwerg sein ursprüngliches Anliegen durch und entführt eine Edeldame. In der Sigur¿ar saga »o˛ gla findet sich eine Figur, die vor allem aufgrund ihrer geringen Körpergröße ein Zwerg zu sein scheint. Sie füllt aber die Rolle des Helfers im Kampf im Herbeirufungsmotiv aus, die gewöhnlicherweise Trollfrauen vorbehalten bleibt (Schulz 2004: 211 – 213). Bemerkenswerterweise wird dieses Männlein namens Npr im Text auch nicht als Zwerg bezeichnet, obwohl es für die Forschung bislang als solcher galt (Wäckerlin 1998; Boberg 1966). Die Skala der möglichen Handlungsfunktionen einer Figur zwischen Helfer und Schädiger zeigt in Verbindung mit gewöhnlicherweise mit verschiedenen Figurentypen besetzten Motiven, dass Figurenkategorien keine scharfen Grenzen besitzen. Mo˛ ndull kann als untypischer Zwerg bezeichnet werden (Jakobsson 2008; Schäfke 2010), während Npr aus allen Kategorien herausfällt und eine Mischung aus Zwerg und Trollfrau darstellt, der mit einer Keule als Nahkampfwaffe auch noch riesische Attribute (Boberg 1966: 118, F531.1.1 und F531.1.2; Schulz 2004: 290 – 292 mit weiterer Literatur) zugeteilt werden (Schäfke 2010). Jegliches Forschungsvorhaben, das Figurentypen als Kategorien mit festen Grenzen beschreiben möchte, muss bei dieser Datenlage zwangsläufig scheitern. Es lässt sich kein Katalog an Merkmalen aufstellen, den alle in den Texten als dvergar (Zwerge) angesprochenen Figuren stets erfüllen. Es reicht schon aus, dass einmal etwas über das Aussehen eines Zwergs erzählt wird und ein anderes Mal nichts. Schon kann keine Kategorisierung als Zwerg aufgrund eines Katalogs äußerlicher Merkmale (etwa Größe) vorgenommen werden. Einzelne Merkmale wie Größe können als Elemente eines übergeordneten Paradigmas, etwa des Aussehens, aufgefasst werden. Geht man nun davon aus, dass nicht alle Paradigmen, die für eine abstrakte Figurenkategorie relevant sind, bei der Beschreibung einer konkreten Figur in einem Einzeltext realisiert werden müssen, lässt sich die Regel aufstellen, dass gewisse Merkmale immer und nur
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dann bei einer konkreten Figur vorhanden sein müssen, wenn das entsprechende Paradigma realisiert wird. Wird beispielsweise etwas über das Aussehen eines Zwergs erzählt, dann wird er immer als klein beschrieben und dieses Merkmal ist dann aus dem Erzählkontext ableitbar. Dies gilt ohne Ausnahme für alle Figuren der Sagaliteratur, die als dvergr (Zwerg) bezeichnet werden. Es lässt sich also die Regel aufstellen, dass alle Zwerge klein sind. Sie wurde von Schäfke (2010) empirisch anhand der Daten aller Saga-Zwerge bewiesen. Interessant ist dies zunächst beim Abgleich mit Figuren, die zwergisch erscheinen, aber in den Texten nicht als dvergr (Zwerg) bezeichnet werden. Fehlen diesen Figuren solche entscheidenden Merkmale wie etwa die geringe Größe, können sie nicht berechtigterweise als Zwerge klassifiziert werden. Beim Vergleich von nordischen mit deutschen Zwergen würde man aber ablesen wollen, ob die bei beiden Figurentypen auftretenden Merkmale überhaupt im Allgemeinen wichtig und typisch sind, oder ob es sich um randseitige Eigenschaften oder gar singulär auftretende Merkmale handelt, die dann entweder zufällig sind oder von gezielter Entlehnung zeugen. Bislang kann ein solcher Katalog von Merkmalen aber nur festhalten, welche Eigenschaft konstitutiv für eine Figurenkategorie ist. Er kann noch keine Auskunft darüber geben, welche der zwergischen Eigenschaften nun typisch, welche weniger typisch sind. Hier stellt die linguistische Prototypensemantik3 das Gedankenmodell bereit, das Merkmale hinsichtlich ihrer Typikalität bestimmbar macht. Man kann beispielsweise von der Häufigkeit des Auftretens der Merkmale bei allen Elementen der Kategorie ausgehen und häufige Merkmale als »typisch«, seltenere Merkmale als »weniger typisch« klassifizieren. Wie viele Zwerge sind klein? Wie viele sind hässlich? Dieses lediglich auf Quantität fokussierte Vorgehen bringt aber keinen nennenswerten Erkenntnisgewinn, wenn man literarische Figuren untersucht, da selbst über zwei Dutzend Zwerge keine befriedigende Datenmenge bieten. Erst anhand binnenstrukturierter Paradigmen, die qualitative Relationen von Merkmalen untereinander (z. B. Kookkurrenz) berücksichtigen, lassen sich Sonder- und Grenzfälle aufzeigen. Strukturiert man die Merkmale hierarchisch, lassen sich Regelmäßigkeiten nach einem Wenn-dann-Muster formulieren: Wenn Zwerge hässlich sind, dann sind sie immer auch klein. Da bei allen Zwergen, wenn ihr Aussehen beschrieben wird, immer ihre Kleinheit erwähnt wird, müssen sie klein sein, wenn irgendeine andere äußerliche Eigenschaft erwähnt wird. Diese Verweisstrukturen bzw. Implikationen verketten und verzweigen sich weiter und ergeben mehrstufige Hierarchien, die ein klareres Bild einer Figur geben als reine Häufigkeitswerte. Für diese Untersuchung lässt sich an den Paradigmen ablesen, wie relevant 3 Einführend z. B. Bärenfänger (2002).
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die Parallelen zwischen deutschen und nordischen Zwergen von den nordischen Zwergen aus gesehen sind. Das wiederum ermöglicht eine fundierte Bewertung ihrer Ähnlichkeit. Nach Schäfke (2010) sind drei verschiedene Arten von Merkmalen zu unterscheiden, die ein Paradigma einer Figurenkategorie (z. B. Aussehen oder Wohnort) bilden: 1. Das konstitutive Merkmal wird immer realisiert, wenn das entsprechende Paradigma im Text aktualisiert wird. Im Paradigma »Aussehen« ist dies wie erwähnt das Merkmal »klein«, das immer realisiert wird, wenn etwas über das Aussehen eines Zwergs in einem Text erzählt wird. 2. Zentrale Merkmale sind alle die Merkmale, die regelmäßig von einem konstitutiven Merkmal oder einem anderen zentralen Merkmal abhängig sind. 3. Periphere Merkmale sind zentralen Merkmalen hierarchisch nebengeordnet, jedoch wesentlich seltener belegt. Sie tauchen gewissermaßen »am Rand« der Kategorie auf und sind rein fakultativ für die Klassifizierung einer Figur als Element der Kategorie. Sie finden sich dementsprechend auch nicht bei Figuren, die Grenzfälle zwischen mehreren Kategorien – etwa Zwerg und Riese – darstellen, da diese Merkmale offenbar nicht geeignet sind, um eine Figur zwergisch zu zeichnen (vgl. Schäfke 2010).
3.
Vergleich
Im Folgenden werden deutsche und nordische Zwerge anhand der Paradigmen Aussehen und Wohnort verglichen. Zunächst werden die Ergebnisse von Lütjens (1977 [1911]) referiert und zur besseren Lesbarkeit dort in Bezug zum nordischen Zwerg gesetzt, wo klare Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu erkennen sind. Darauf folgend wird der nordische Zwerg in Form des von Schäfke (2010) aufgestellten prototypensemantischen Modells vorgestellt. Beim daran anschließenden Vergleich ist das Augenmerk darauf gerichtet, wie wichtig die Parallelen zwischen deutschen und nordischen Zwergen für dieses rekonstruierte prototypensemantische Modell des nordischen Zwergs sind. Für den deutschen Zwerg gibt es noch keine Untersuchung, die sich der Prototypensemantik als Methode bedient, um eine mentale Repräsentation dieses Figurentyps zu rekonstruieren. Daher kann bei dem Referat ihrer Eigenschaften nicht explizit mit den im vorangegangenen Punkt vorgestellten Begrifflichkeiten gearbeitet werden. Es geht auch nicht darum, ein prototypensemantisches Modell für deutsche Zwerge aufzustellen und mit dem Modell für nordische Zwerge zu vergleichen. Eine eigene Rekonstruktion eines solchen Modells kann in einer so kurzen Untersuchung nicht geleistet werden.
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[± m] [± x]
[± y]
[± z] [± n] [± k]
Legende: konstitutives Merkmal
= ist abhängig von zentrales Merkmal
peripheres Merkmal
Abb. 1: Baumdiagramm mit den verschiedenen Merkmalsarten
3.1
Aussehen
Deutsche und nordische Zwerge unterscheiden sich merklich in ihrem Aussehen. Zwar ist für beide Kleinheit konstitutiv. Jedoch ist nur der nordische Zwerg hässlich, während der deutsche Zwerg dies aufgrund seines höfischen Standes als Ritter, Fürst oder König nicht ist. In der Disproportioniertheit ihrer Gliedmaßen entsprechen sich deutsche und nordische Zwerge auf einer abstrakten Ebene. Die konkrete Ausformung dieser Eigenschaft auf der Textoberfläche unterscheidet sich allerdings zum Teil. 3.1.1 Deutsche Zwerge In Bezug auf das Aussehen lassen sich drei Typen von deutschen Zwergen unterscheiden: Der Nibelungen-, der Ortnit- und der Ritter-Zwerg (Lütjens 1977 [1911]: 69 – 72). Lütjens (1977 [1911]: 70) betrachtet sowohl den Nibelungen- als
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auch den Ortnit-Zwerg als ursprünglichen Zwergentypus. Den Ritter-Zwerg wertet er als jüngste Entwicklung, in dem der durch ihn verdrängte Ortnit-Typ aufgegangen ist. Der selten belegte Nibelungen-Zwerg zeichnet sich durch kleine Größe und das Aussehen eines alten Mannes aus: dú vienc er b dem barte / den altgrsen man (Nibelungenlied 497,2). Der einzige weitere Beleg für einen solchen Zwerg findet sich in der Version des Wolfdietrich des Dresdner Heldenbuchs. Der Ortnit-Zwerg ist zwar auch von kleiner Größe, jedoch rührt dies daher, dass er die Gestalt eines Kindes besitzt: du bist in kindes mze, / des vierden jres alt (Ortnit 96,1). Der Ritter-Zwerg, dessen typischster Vertreter der Zwerg im Erec Hartmanns von Aue ist, ist ebenfalls von geringer körperlicher Größe. Er erscheint dabei weder als besonders jung oder alt, jedoch wird seine Größe manchmal mit der eines Kindes verglichen (vgl. Lütjens 1977 [1911]: 71): in kindes jugent bistu gestalt (Virginal 569,5). Nicht nur im Verhalten, sondern auch in der Ausrüstung gleicht dieser Zwergentypus einem Ritter. Er findet sich in einer Vielzahl von Texten, darunter Laurin, Walberan, Antelan, Virginal, Demantin, Wolfdietrich B und Strickers Daniel vom blühenden Tal. Da sich der Nibelungen-Zwerg »nur wenig Geltung zu verschaffen vermochte«, sind dem deutschen Zwerg »irgendwelche Züge von Hässlichkeit beinahe durchweg abzusprechen« (Lütjens 1977 [1911]: 72). Dies stellt einen wesentlichen Unterschied zu den nordischen Zwergen da, für die Hässlichkeit die zweittypischste Eigenschaft nach ihrer Kleinheit ist. 3.1.2 Nordische Zwerge Das Aussehen von nordischen Zwergen bildet ein klar gegliedertes Paradigma. Vorweg lässt sich sagen, dass sich der »typische« nordische Zwerg hinsichtlich seines Aussehens mit keinem der von Lütjens (1977 [1911]) aufgestellten Typen direkt in Verbindung bringen lässt. Der Typ des Ritter-Zwergs fehlt in der altnordischen Literatur gänzlich. Sogar die höfisch beeinflussten alt- und mittelisländischen Märchensagas kennen ihn nicht. Die für den Nibelungen- und den Ortnit-Zwerg relevanten Merkmale ältliches bzw. kindliches Aussehen finden sich bei den Saga-Zwergen nicht. Die einzige Ausnahme stellt der Zwerg Tfflta im Sneglu-Halla »ttr dar, der sich mit den Typen des Ritter- und des Nibelungen-Zwergs in Verbindung bringen lässt, aber eine Sonderstellung in der altnordischen Literatur einnimmt. Die geringe Körpergröße ist für altnordische wie deutsche Zwerge das prototypische Merkmal schlechthin. Im Unterschied zum deutschen Zwerg ist für den altnordischen Hässlichkeit charakteristisch, ebenso wie Beleibtheit. Für Bärtigkeit, wie sie für den Typus des Nibelungen-Zwergs belegt ist, findet sich in der altnordischen Literatur kein Beleg. Auf einer abstrakten Ebene teilen sich
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[+ klein]
[+ hässlich]
[+ dick]
[+ kurze Beine]
[+ deformierter Torso] Legende:: konstitutives Merkmal
[+ großer Kopf]
[+ lange Arme]
[+ hervortretende Augen]
= ist abhängig von zentrales Merkmal
peripheres Merkmal
Abb. 2: Paradigma des Aussehens von nordischen Zwergen (nach Schäfke 2010)
deutsche und nordische Zwerge die Disproportioniertheit ihrer Gliedmaßen, wobei nordische Zwerge oft lange Arme haben, die bei ihren deutschen Pendants nicht zu finden sind. Gemein haben beide allerdings kurze Beine. Während also die wenigen Parallelen auf einer abstrakten Ebene zwischen dem deutschen Zwerg und dem typischen nordischen Zwerg eine geringe Ähnlichkeit deutlich machen, lässt ein Blick auf einen Einzelfall spezielle Gemeinsamkeiten entdecken. Der Befund, dass im Allgemeinen keine nennenswerten Ähnlichkeiten im Aussehen deutscher und nordischer Zwerge außer der Körpergröße zu finden sind, wird von dieser singulären Parallele aber nicht tangiert. Der Zwerg Tfflta im Sneglu-Halla »ttr stellt diese Ausnahme dar. Er ist jedoch auch für nordische Zwerge aus mehreren Gründen ein ›Sonderfall‹. Die Beschreibung Tffltas besitzt im Gegensatz zu der aller anderen nordischen Zwerge größere Ähnlichkeit zu denen des Ritter- und des Nibelungen-Zwergs. Er wird sowohl als elliligr (»ältlich«) beschrieben als auch in seiner Größe mit einem dreijährigen Kind verglichen (Sneglu-Halla »ttr : 283). Bei keinem anderen altnordischen Zwerg wird ältliches Aussehen erwähnt, wie es für den Nibelungen-Zwerg typisch ist. Er ist der einzige Zwerg, dessen Kleinheit wie beim RitterZwerg durch den Vergleich mit einem Kind illustriert wird. Als einziger Zwerg
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der altnordischen Literatur trägt er zudem eine Rüstung wie ein Ritter-Zwerg – und sei dies nur zur Belustigung der Leute am Hof.
3.2
Wohnort
Hinsichtlich ihres Wohnortes und ihrer Lokalisierung in den erzählten Welten finden sich nur globale Parallelen zwischen deutschen und nordischen Zwergen. Vereinfacht gesagt wohnen deutsche Zwerge in Berghöhlen oder eigenen Königreichen, Saga-Zwerge hingegen wohnen in Steinen und leben niemals in eigenen Reichen. Eine Gemeinsamkeit haben mittelhochdeutsche und nordische Zwerge darin, dass sie fast nur im Raum der aventiure auftreten. SagaZwerge finden sich zuweilen aber auch an Höfen von Königen. 3.2.1 Deutsche Zwerge Nach Lütjens (1977 [1911]: 88 – 89) wohnen deutsche Zwerge in hohlen Bergen (z. B. Laurin, Nibelungenlied, Tandareis und Flordibel, Garel, Jüngerer Sigenot, Wolfdietrich B), die in Wäldern situiert sein können (z. B. Demantin, Garel, Goldemar) und zuweilen ganze Zwergenkönigreiche umfassen (Walberan, Ortnit, Laurin, Goldemar). Zwerge sind in der mittelhochdeutschen Dichtung nahezu ausschließlich im Raum der aventiure zu finden. 3.2.2 Nordische Zwerge Der Großteil der Saga-Zwerge tritt ebenfalls im Raum der aventiure auf. Es finden sich in diesen Texten aber auch einige Zwerge, die an Höfen von Königen angesiedelt sind. Ganze Zwergenreiche sind in der altnordischen Literatur im Gegensatz zur mittelhochdeutschen Literatur jedoch nicht zu finden, sieht man von der mythologischen Heimat der Schwarzalben in der Snorra-Edda ab, die in diesem Text mit den Zwergen gleichgesetzt werden. Dort – und nur dort – wohnen nordische Zwerge auch unter der Erde. In den Märchen- und Abenteuersagas wohnen Zwerge ausschließlich in Steinen, wenn sie im Raum der aventiure auftreten. Zwergensteine können eine geringere oder größere Hausähnlichkeit zeigen. Dies unterscheidet die Wohnung nordischer Zwerge deutlich von den Berghöhlen bzw. auf Bergen situierten Schlössern, in denen deutsche Zwerge wohnen. Zwergensteine sind sehr einheitlich lokalisiert. Sie stehen häufig auf Waldlichtungen und/oder auf Inseln beziehungsweise an der Küste. Dies kann jedoch nicht als inhärentes Merkmal der Figurenkategorie des nordischen Zwergs gewertet werden, da es sich hierbei um typische Orte für die Begegnung des Saga-Helden mit Figuren der aventiure handelt, seien dies nun Berserker, Riesen oder Trollfrauen. Dies macht deutlich,
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dass Saga-Zwerge Teil desselben Paradigmas wie die genannten Figuren aufzufassen sind. Daraus muss abgeleitet werden, dass die Theorie von Motz (1983) unhaltbar ist, nach der in der Lokalisierung von Zwergenwohnungen in Wäldern Spuren heidnischer Religiosität zu sehen sei. Zwerge wären demnach die literarische Verarbeitung der Begegnung der Germanen mit megalithischen PriesterSchmieden. Es handelt sich bei der Wohnung von Zwergen in Wäldern aber vielmehr um die Konvention einer Gattung (vgl. Glauser 1983: 200), die eine größere Bandbreite von Figuren betrifft. Es ist hingegen gänzlich unwahrscheinlich, dass es sich um den Nachhall vorgeschichtlicher religiöser Traditionen handelt, die dann im Spätmittelalter auf andere Figuren-Typen wie Berserker und Riesen übertragen wurden.
[+an Hof]
[+groß]
[+hat Türen]
[+schön]
[+in Stein]
[+an Bach]
[+hausähnlich ] [+h
[[+in Wald]
[+an Küste] [+a
[+auf Lichtung]
[+auf Insel]
Abb. 3: Paradigma der Wohnung von nordischen Zwergen (nach Schäfke 2010)
Es gibt nur sehr wenige nordische Zwerge, die an Königshöfen lokalisiert sind, also nicht im Raum der aventiure. Mitunter an diesem Unterschied zeigt sich die Binnengliederung des Figuren-Typus des Saga-Zwergs zwischen den Zwergen in Heldenmythen rezipierenden Sagas, wie dem Norna-Gests »ttr und den Zwergen der Märchen- und Abenteuersagas. Während sich bei ersteren an Königshöfen wohnende Zwerge finden können, gibt es für die Märchensagas nur die hinsichtlich ihres Wohnortes nicht eindeutig zuordenbaren Fälle der Zwerge
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in der Gibbons saga. Lepus dient der Jungfrau Greka, indem er einen fliegenden Teppich steuert und so Personen und Güter schnell zwischen den verschiedenen exotischen Schauplätzen hin- und her transportiert. Der nur in der Hs. AM 585c, 48 der Saga auftretende Zwerg Litr trägt einen Heiltrank, den Prinzessin Greka dem Protagonisten Gibbon einflößt. Eine weitere Ausnahme ist der Zwerg Tfflta im Sneglu-Halla »ttr, der als Hofzwerg am Hofe von König Harald III. (1047 – 1066) in Norwegen lebt. Der »ttr ist in Snorris Heimskringla überliefert, die eine Sammlung von Königssagas, also historiographischen Texten darstellt. Der Unterschied zu den ›fantastischen‹ und ›fiktionalen‹ Märchen- und Abenteuersagas ist also erneut gattungsbedingt erklärbar. Relevant im Vergleich der beiden Zwerg-Typen ist also zum einen, dass deutsche wie nordische Zwerge im Raum der aventiure angesiedelt sind. Zwar finden sich in der Sagaliteratur Ausnahmen, allerdings vorrangig in den stärker mythologisch geprägten oder historiographischen Texten. Zum anderen konnte gezeigt werden, dass nordische Zwerge zwar mit Steinen assoziiert werden, sie aber nicht in Berghöhlen leben wie deutsche Zwerge. Dieser Wohnort bleibt in der nordischen Literatur Riesen und Trollfrauen vorbehalten, weswegen ihnen auch die Bezeichnung Bergbewohner (bjargbffli) zukommt (Schulz 2004: 45; Boberg 1966: 119, F531.6.2.1; Motz 1993b: 86). Eine deutliche Kluft bleibt damit jedoch zwischen den unterirdisch lebenden Zwergen der nordischen Mythologie und den Saga-Zwergen. Dies gibt einen weiteren Hinweis darauf, dass Saga-Zwerge den deutschen Zwergen näher stehen als ihren mythologischen Verwandten. Ob die Zwerge der Mythologie nun den älteren, wohl stärker auf gemeingermanische Vorstellungen zurückgehenden Typus ausmachen, bleibt jedoch offen und hängt von der Einschätzung der Frage ab, ob Snorri Sturluson bei der Beschreibung der unterirdischen Zwergenwohnungen in seiner Edda einer (vorherrschenden) Tradition der nordischen Mythologie entsprochen hat. Bemerkenswert bei der Beschreibung der deutschen Zwerge ist die Erwähnung von den Bächen, die den Bergen oder Felswänden entspringen, in denen sie wohnen (Lütjens 1977 [1911]: 89). In der altnordischen Literatur findet sich in der Sigur¿ar saga »o˛ gla ein einziger Beleg für einen solchen Bach, der vom sonst homogenen Aufbau des Paradigmas abweicht: hann [sc. Sigur¿r] kemur »ar sem einn beckr rann vr fiallinu ofan eptir grof einne (»Er [sc. Sigur¿r] kommt dorthin, wo ein Bach von oben aus einem Berg entlang einer Vertiefung floss.« Sigur¿ar saga »o˛ gla: 113). Beim zwergisch gezeichneten Zauberer Gustr findet sich ein solches Rinnsal in der Sigrgar¿s saga ok Valbrands in Verbindung mit einer Felswand als Behausung. Dies stellt eine noch deutlichere Entsprechung zum deutschen Zwerg dar, allerdings nur bei einer zwergisch gezeichneten Figur und nicht bei einem dvergr (Zwerg). Erneut zeigen sich wie im Fall des Zwergs
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Tfflta auf der Oberfläche einzelne, deutliche Entsprechungen, die jedoch Eigenschaften betreffen, die gerade atypisch für nordische Zwerge und in der altnordischen Literatur nur unikal belegt sind.
3.3
Motivische Einbettung
Was die motivische Einbettung angeht werden die Differenzen zwischen deutschen und nordischen Zwergen besonders deutlich. Während Zwerge in beiden Literaturen im Raum der aventiure zu finden sind, nehmen sie dort jeweils ganz unterschiedliche Funktionen wahr. In der mittelhochdeutschen Literatur sind sie vor allem ritterliche Kämpfer, in der nordischen Literatur hingegen HelferFiguren. 3.3.1 Deutsche Zwerge Lütjens (1977 [1911]: 94 – 104) unterscheidet drei »viel miteinander verschlungene Motivgruppen« (ebd.: 94). Er gliedert sie anhand der Beziehung zwischen dem Helden und dem Zwerg: Feindschaft, Freundschaft und das Meiden des Helden durch den Zwerg. Die letzten beiden Verhältnisse kennt auch die altnordische Literatur. Die kämpferische Auseinandersetzung zwischen Held und Zwerg, die aus Feindschaft resultiert, ist ihr aber fremd. Anlass für diese Kämpfe kann das häufige Motiv (Lütjens 1977 [1911]: 103) des frauenraubenden Zwergs sein, so zu finden im Herzog Ernst, Goldemar, Wolfdietrich B, Ortnit u. a. Dieses Motiv ist in der altnordischen Literatur nur in Einzelfällen und in abgewandelter Weise belegt. Das Motiv des Zwergs als Dieb ist für Lütjens (1977 [1911]: 102) nicht ursprünglich, da sich nur wenige Belegstellen dafür in der mittelhochdeutschen Literatur finden lassen. Er stellt sich damit gegen Wohlgemuth (1906: 89), der den altfranzösischen Zwergentypus der »Larrons« von einem deutschen Vorbild ableiten möchte. Lecouteux (1981: 372) pflichtet Lütjens Aussage bei und stellt dessen vier Belegstellen zusätzlich noch das Eckenlied an die Seite, in dem von einem Schwert erzählt wird, das einst von einem Zwerg gestohlen wurde. Wie in der altnordischen Literatur auch fungieren deutsche Zwerge oft als Ratgeber (acht Belege nach Lütjens 1977 [1911]: 98) und Geber von häufig magischen Gegenständen (ebenfalls acht Belege, ebd.). Nur ein einziges Mal wird ein Zwerg als Heiler tätig (in der Version des Dresdner Heldenbuches des Eckenlieds, ebd.), ein Motiv, das in der altnordischen Literatur wesentlich häufiger belegt ist als das des Ratgebers und Gebers. Zwar helfen deutsche wie nordische Zwerge zuweilen dem Helden im Kampf, der Nah- und Ringkampf, wie er für deutsche Zwerge charakteristisch ist, ist für nordische Zwerge jedoch atypisch. Die solche Hilfe bedingende Verwandtschaft
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zwischen Zwergen und Menschen kennt die altnordische Literatur nicht, lediglich Ziehelternschaft. Zwerge stellen in der altnordischen Literatur eine eigene Gattung dar, wenngleich die Vereinigung zwischen Zwerg und Menschenfrau durchaus belegt ist. 3.3.2 Nordische Zwerge Zwerge treten in der Sagaliteratur als Geber, Heiler, Diebe und Unterstützer im Kampf auf. Keines dieser Motive wird allerdings ausschließlich von Zwergen als Aktanten besetzt. Alle Motive können auch von Riesen oder Trollfrauen besetzt werden. Wenn eine Figur in den Märchen- und Abenteuersagas als Geber oder Heiler auftritt, ist dies typischerweise ein Zwerg. Als Unterstützer im Kampf sind Zwerge eher untypisch. Dieses Motiv wird gewöhnlicherweise von Trollfrauen besetzt (Schulz 2004: 211 – 213). In der Sagaliteratur treten nur vier Zwerge als Kämpfer auf. Sie tun dies auf sehr unterschiedliche Art und Weise und nur einmal im Nahkampf, wie es für die deutschen Zwerge üblich ist. Einmal hilft der Zwerg Litr in der jüngeren Bûsa saga mittels Bogenschießen. Ein anderes Mal im gleichen Text helfen die Zwerge Litr und L¤nar¿r den Helden, indem sie Gift auf heidnische Tempelpriesterinnen verspritzen. Der sehr untypische Zwerg Mo˛ ndull wirkt Gegenzauber zur Kampfmagie des dämonischen Grmr-Ægir in der Go˛ ngu-Hrûlfs saga (siehe dazu Jakobsson 2008; Schäfke 2010). Dem Protagonisten der nach ihm benannten Àorsteins saga Vkingssonar wird gegen den Seeräuber O ˛ tunfaxi beim Ringkampf im Wasser geholfen, als sein Opponent von hinten niedergerungen wird – offenbar durch den Zwerg Sindri. Diese Szene stellt die einzige Belegestelle für den Zwerg als Ringer, sie bleibt aber ein Einzelfall. Lediglich das Männlein Npr, das in der Forschungsliteratur wohl aufgrund seiner Größe zuweilen als Zwerg klassifiziert wird (Boberg 1966, Wäckerlin 1998), kämpft im Nahkampf. Dann kämpft es aber mit einer Keule, die in der altnordischen Literatur die typische Waffe von Riesen ist (Boberg 1966: 118, F531.1.1 und F531.1.2; Schulz 2004: 290 – 292 mit weiterer Literatur). Nps Nahkampf kann also nicht als Instanz des Zwergs als Nahkämpfer gewertet werden. Als Frauenräuber treten nur drei Zwerge auf. Zwei davon, Gr¤lant in der Samsons saga fagra und der unbenannte Zwerg in der Niti¿a saga, entführen Edeldamen nur im Auftrag von Menschen, die sie durch Bannung aus ihrem Stein dazu gezwungen haben. Nur der wie erwähnt untypische Zwerg Mo˛ ndull versucht aus eigenem Antrieb und für sich selbst eine Edeldame zu rauben. Das Motiv des Zwergs als Frauenräuber findet sich also nur abgewandelt oder bei untypischen Zwergen in der nordischen Literatur wieder. Nordische Zwerge gleichen somit den deutschen Zwergen kaum hinsichtlich ihrer motivischen Einbettung. Es gibt nur sehr generelle Parallelen wie das Motiv
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des Ratgebers oder Gebers magischer Gegenstände. Die altnordische Literatur kennt das Motiv des frauenraubenden Zwergs nur in Einzelfällen bei einem atypischen Zwerg (Mo˛ ndull in der Go˛ ngu-Hrûlfs saga) bzw. mit ungewöhnlicher Einbettung des Zwergs als Handlanger (Gr¤lant in der Samsons saga fagra). Von einer direkten Entlehnung kann demnach nicht gesprochen werden, höchstens von einer Anlehnung. Die Funktion der Saga-Zwerge ist also als innovativ und als wenig vom deutschen Zwerg beeinflusst zu werten, wenn man davon ausgeht, dass das Zwergen-Motiv der mittelhochdeutschen Literatur aufgrund der Übersetzung kontinentaleuropäischer höfischer Literatur im Norden bekannt wurde.
4.
Ein Kulturtransfer?
Von einer direkten Beeinflussung des nordischen durch den deutschen Zwerg kann aufgrund der zahlreichen Unterschiede im Bereich der zentralen, typischen Merkmale nicht gesprochen werden. Nur in Einzelfällen lassen sich klare Parallelen erkennen, die jedoch für nordische Zwerge untypische Aspekte der Figurenkonzeption betreffen wie ältliches Aussehen oder das Entspringen aus Felswänden bei den andererseits typischerweise bei Zwergenwohnungen vorhandenen Bächen. Die abstrakten Parallelen zwischen deutschen und nordischen Zwergen im Bereich der periphereren Merkmale besonders hinsichtlich des Aussehens könnten ein Indikator für eine genetische Verwandtschaft beider Figurentypen sein. In diesem Falle wären die peripheren Ähnlichkeiten auf der Ebene der Tiefenstruktur Resultat einer auseinander driftenden Entwicklung der Figuren. Doch die stark andersartige motivische Einbettung und Lokalisierung der Zwerge der nordischen Mythologie wiederum machen eine gemeinsame Vorgeschichte von Saga-Zwergen und deutschen Zwergen unwahrscheinlich. Die Zwerge der deutschen Dichtung können schwerlich als eine Weiterentwicklung der Zwerge der nordischen Mythologie angesehen werden und das müsste man, ginge man von einer gemeinsamen Vorgeschichte aus, die sich in der nordischen Mythologie zumindest teilweise wiederspiegeln würde. Der fließende Übergang von den nordischen Zwergen der Heldenmythen in den Vorzeitsagas über die Zwerge der Abenteuersagas hin zu den Zwergen der höfisch geprägten Märchensagas legt vielmehr den Schluss nahe, dass die kontinentaleuropäische höfische Literatur einen Innovationsschub für den nordischen Zwerg bedeutet hat. Bezeichnend dafür ist die Eingliederung des nordischen Zwergs im Paradigma der monströsen, marginalisierten Figuren in der altnordischen Literatur. Dies ist ein eigener, neuer Zug des nordischen Zwergs, da deutsche Zwerge höfische Wesen darstellen.
Deutsche und nordische Zwerge: ein Kulturtransfer?
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In diesem Zusammenhang fällt auf, dass gerade die Zwerge der Heldenmythen verarbeitenden oder rezipierenden Sagas an Höfen angesiedelt sind. Bei dieser wohl eher als konservativer anzusehenden Konzeption muss jedoch der Kurzschluss vermieden werden, eine Parallele zu den Ritter-Zwergen der deutschen Dichtung zu sehen. Diese an Höfen angesiedelten Zwerge sind keine Fürsten, Könige oder eben Ritter. Sie sind Schmiede, die an den Höfen menschlicher Könige lokalisiert sind. Es finden sich bei ihnen keine höfischen Attribute, die beim deutschen Ritter-Zwerg so reich belegt sind. Eine Ausnahme stellt jedoch der in einem historiographischen Text erwähnte Zwerg Tfflta dar. Die Beziehung zwischen deutschem und nordischem Zwerg beruht also auf einem indirekten Kulturtransfer : Die höfische Literatur bot mit ihrer Erzählstruktur der aventiure bzw. Abenteuerfahrt ein neues Sujet für den in den Mythen eher randseitigen Figuren-Typus des Zwergs. In diesem neuen Kontext konnte die Figur neue, zum Teil aber an den deutschen Zwerg angelehnte Eigenschaften ausprägen.
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Werner Schäfke
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David Heyde
Die Geburt der Poesie aus dem Geiste der Übersetzung: Frühneuzeitliche Übersetzungstheorien und ihr Einfluss auf die Entwicklung des Deutschen als Literatursprache
In der Einleitung zu seiner Anthologie von theoretischen Texten zum »Problem des Übersetzens« stellt Hans Joachim Störig die These auf, dass es im Lauf der Geistesgeschichte immer dann zu einer großen Übersetzungswelle kommt, wenn zwei Sprachbereiche in Berührung treten, zwischen denen es in sprachlicher wie in kultureller Hinsicht einen Niveauunterschied gibt (Störig 1969: X f.). Danach holt der ›defizitäre‹ Bereich sprachlich und kulturell auf, indem er die wichtigen wissenschaftlichen, philosophischen und literarischen Texte des ›überlegenen‹ Bereichs übersetzt. Als Beispiel führt Störig die Kontakte des christlichen Abendlands mit der arabischen Kultur im 12. Jahrhundert an, die zur lateinischen Übersetzung von arabischen Gelehrten wie Avicenna und alFarabi, aber auch zur Wiederentdeckung von antiken griechischen Texten führte. Als weiteres Beispiel erwähnt er die Bibelübersetzung Martin Luthers, die bekanntlich entscheidend für die Standardisierung und Aufwertung der frühneuhochdeutschen Schriftsprache war und somit den Aufholprozess des Deutschen gegenüber den heiligen Sprachen und den modernen romanischen Volkssprachen einleitete. In der historisch angelegten Auswahl von theoretischen Texten in dieser Anthologie – die übrigens deutschsprachige Texte bevorzugt – findet sich dann auch als erster deutschsprachiger Beitrag Luthers 1530 verfasster Sendbrief vom Dolmetschen. Doch dann klafft unerklärlicherweise eine riesige Lücke: Der nächste Beitrag ist ein 1798 erschienener Text von Novalis, gefolgt von Texten von Goethe, Schleiermacher, Wilhelm von Humboldt und August Wilhelm von Schlegel.1 Als Luther seinen Dolmetscherbrief verfasste, befand sich die deutsche Sprache in einem fortgeschrittenen Stadium des Verfalls gegenüber der mittelhochdeutschen Blütezeit. Zwar gab es eine anspruchsvolle literarische Produktion in Deutschland, aber sie fand mit Aus1 Mit seiner Nichtbeachtung der Übersetzungstheorien des Barock und der Aufklärung steht Störig keineswegs allein. So behandeln Apel & Kopetzki [1983] (2003) diese beiden Epochen in ihrer historisch angelegten Darstellung von Übersetzungsmethoden nur kursorisch, denn für die Theoretiker des 17. und 18. Jahrhunderts habe das Übersetzen »kein Problem« (73) dargestellt.
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nahme von Meistersang und Narrensatire fast ausschließlich auf Latein statt. An der Schwelle zum 19. Jahrhundert hingegen ist Deutsch wieder eine international anerkannte Literatursprache, die über eine breite Palette von literarischen Ausdrucksformen und Gattungen verfügt und schon Werke von weltliterarischem Rang hervorgebracht hat. Was ist in den 250 Jahren zwischen Luther und Novalis geschehen? Im Folgenden möchte ich versuchen, die nicht unwesentliche Rolle von Übersetzungen und Übersetzungstheorien in der Entwicklung des Neuhochdeutschen zu einer international konkurrenzfähigen Literatursprache aufzuzeigen, um diese Lücke zumindest ansatzweise zu schließen. Zu diesem Zweck möchte ich die vorherrschenden theoretischen Positionen zum Sprachtransfer ins Deutsche im 15., 16. und 17. Jahrhundert allgemein erläutern und anhand von ausgewählten Beispielen aus Theorie und Praxis veranschaulichen. Es werden drei Übersetzer vorgestellt, die in besonderem Maße zur Emanzipation des Deutschen als Literatursprache beigetragen haben – Niklas von Wyle, Martin Luther und Martin Opitz. Dabei sollen drei allgemeine Tendenzen ersichtlich werden: 1) Es gab eine deutliche Bewegung von einer Ausgangssprachenorientierung zu einer Zielsprachenorientierung; 2) diese Bewegung ging mit einem wachsenden sprachlichen und kulturellen Selbstbewusstsein einher ; und 3) im Lauf des sprachlichen Aufholprozesses wurden Übersetzungen immer wieder zu verschiedenen sprach- und kulturpolitischen Zwecken instrumentalisiert.
1.
15. Jahrhundert: Wort-für-Wort-Übersetzung und Ausgangssprachenorientierung
Die Antike kannte prinzipiell zwei verschiedene Übersetzungsmethoden: die wortgetreue Methode, bei der man sich möglicht eng an die Syntax und den Wortlaut des Ausgangstextes hält, und die sinngemäße Methode, bei der nur der Inhalt (res) treu wiedergegeben wird, die Worte (verba) aber je nach der charakteristischen Ausdrucksweise der Zielsprache variieren können. Beide Methoden wurden von Hieronymus an das Mittelalter weitergegeben, wobei er das Wort-für-Wort-Verfahren für die Übersetzung der heiligen Schrift, aber das Sinn-für-Sinn-Verfahren für alle anderen Texte empfahl. Doch seit Boethius wurde die wortgetreue Methode auch für die Übersetzung nichtbiblischer Texte bevorzugt, weil nur so eine unverfälschte Wiedergabe der Gedanken des Verfassers gewährleistet werden könne (Schwarz 1985: 42 ff.). Die Methode des wortgetreuen Übersetzens blieb dann auch durch das gesamte Mittelalter hin-
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durch als einzige gültige Übersetzungsmethode praktisch unangefochten.2 An die Stelle der sinngemäßen Methode trat dabei die Praxis des »Wiedererzählens« (Worstbrock 1999) beziehungsweise der inhaltlichen Wiedergabe. Wiedererzählen zielt nicht auf eine Aufwertung der Zielsprache oder eine Erweiterung ihrer Ausdrucksmöglichkeiten durch Sprachtransfer, sondern auf die Anpassung einer fremdsprachigen Vorlage an die eigene kulturelle Situation ohne Rücksicht auf sprachlich-stilistische Äquivalenz.3 In dieser Tradition stehen beispielsweise die freien Übertragungen höfischer Romane aus dem Französischen am Anfang des 13. Jahrhunderts oder die Umschreibungen geistlicher Texte zu erbaulichen Zwecken durch die sogenannte Wiener Schule um die Wende zum 15. Jahrhundert.4 Im Frühhumanismus wurden beide Methoden aufgegriffen. So stehen Autoren wie Heinrich Steinhöwel (1412 – 1478) mit seinem »Übersetzungsprinzip der frei interpretierenden Nachschöpfung« (Koller 1998: 221) fest in der Tradition des Wiedererzählens. Er paraphrasiert klassische und humanistische Texte für ein lateinunkundiges Publikum und erlaubt sich dabei »beträchtliche Lizenzen gegenüber der Einheit und dem Sachgehalt des Originals« (Worstbrock 1970: 49).5 Dagegen waren die ersten Versuche deutscher Humanisten, lateinische Texte originalgetreu in die Volkssprache zu übertragen, von der Wort-fürWort-Methode geprägt. Doch nicht allein aus Ehrfurcht vor den Inhalten der Originaltexte wurde die wortgetreue Methode im 15. Jahrhundert favorisiert, sondern auch aus pädagogischen und sprachpolitischen Gründen. Als Sprache der Kirche und der internationalen Gelehrtenwelt galt das Lateinische als Inbegriff einer eleganten Sprache (Schwarz 1985: 100). Die Volkssprachen, und insbesondere das allgemein als grob angesehene Deutsche, akzeptierten die Humanisten allenfalls als Notbehelf für die Erlernung des Lateins sowie für die Kommunikation mit Ungebildeten. Symptomatisch für diese Haltung ist die Tatsache, dass sogar die volkssprachlichen Werke italienischer Humanisten – wie etwa Boccaccios Decameron – zunächst nicht ins Deutsche übersetzt wurden, sondern auf dem Umweg über lateinische Übersetzungen rezipiert wur2 Vgl. ebd. sowie vertiefend Copeland (1991: 53 ff.). 3 Worstbrock (1999) definiert Übersetzung als die »präzise Wiederholung eines Originals in einem anderen grammatischen und lexikalischen Code« (130 f.) und unterscheidet sie strikt von der mittelalterlichen Praxis des Wiedererzählens. Damit reagiert er auf den diffusen Gebrauch des Terminus »Übersetzung« in der neueren Mediävistik zur Charakterisierung der unterschiedlichsten Arten mittelalterlicher Textproduktion. Vgl. dazu auch Redzich (2005: 259 ff.). 4 Dabei haben einige Vertreter der Wiener Schule auch Wort-für-Wort-Übersetzungen angefertigt, vgl. Hohmann (1977: 258 – 267). 5 Vgl. auch Schneider (2005). In Bezug auf Steinhöwels Übertragung von Boccaccios De claris mulieribus spricht sie von einer »assimilierenden Adaption« (326) mit einer humanistischen Ausrichtung.
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den.6 Diese einseitige Fixierung auf das Lateinische führte zu verschiedenen Versuchen, die als absolut geltenden Regeln der lateinischen Grammatik und Rhetorik auf das Deutsche zu übertragen, um auch aus diesem eine elegante Sprache zu machen. Dieses sprachpolitische Ziel wurde nicht zuletzt auch durch das Mittel des Übersetzens verfolgt. Der bedeutendste Vertreter des wortgetreuen Übersetzens im 15. Jahrhundert war der Esslinger Stadtschreiber und Schulleiter Niklas von Wyle (1410 – 1478). Seine zwischen 1461 und 1478 entstandenen Übersetzungen zeitgenössischer italienischer Humanisten wurden 1478 in einem Sammelband unter dem Titel Translationen zusammengefasst. In der Vorrede erklärt Wyle, warum er sich in seinen tütschungen so eng an den Wortlaut seiner lateinischen Vorlagen gehalten hat, und verteidigt diese Methode gegen den Vorwurf der Unverständlichkeit. Er habe sich nicht darum gekümmert, ob seine Übersetzungen für den schlechten gemainen vnd vnernieten man verständlich seien, sondern sich vor allem um einen zierlichen Stil bemüht (Wyle [1861] 1967: 8). Um dieses Vorhaben zu begründen, weist er auf Äußerungen der italienischen Humanisten Leonardo Bruni und Eneas Silvio Piccolomini hin, wonach sich das Lesen von schlecht geschriebenen Texten auf den eigenen Stil negativ auswirke, das Lesen von stilistisch anspruchsvollen Texten hingegen zu einem eleganteren Stil führe. In der folgenden Erklärung seiner Übersetzungsmethode wird dann immer deutlicher, dass für den Schulmeister Wyle ein zierlicher Stil mit dem lateinischen Stil praktisch gleichbedeutend ist. In Anlehnung an den Nürnberger Humanisten Gregor Heimburg behauptet er, daz ain yetklich tütsch, daz usz gu˚tem zierlichen vnd wol gesatzten latine gezogen vnd recht vnd wol getransferyeret wer, ouch gu˚t zierlich tütsche vnd lobes wirdig, haissen vnd sin müste, vnd nit wol verbessert werden möcht (ebd.: 9)
Ferner betont er, dass er nicht nur die grammatischen Feinheiten seiner lateinischen Vorlagen wiedergegeben habe, sondern auch die rhetorischen Figuren. Denn nur so könne man gewährleisten, dass die subtilitet des lateinischen Stils nicht durch grobe tütschung […] gelöschett (ebd.: 10) werde. Als Beispiel möge die folgende Passage aus Wyles Übersetzung der 1444 verfassten Novelle Historia de duobus amantibus des italienischen Humanisten und späteren Papstes (Pius II.) Eneas Silvio Piccolomini dienen, in welcher die umwerfende Schönheit der weiblichen Protagonistin Lucretia geschildert wird:
6 Beispielhaft dafür ist die deutsche Rezeption von Boccaccios Griseldis-Novelle in der lateinischen Übersetzung von Petrarca. Vgl. dazu Knape (1978: 20 ff.). Nach Kocher (2005) führte die Übersetzung zu einer »moralischen Veredelung« (192) der Novellenkunst Boccaccios und machte sie in den Augen deutscher Humanisten »zu einer rein humanistischen Angelegenheit« (496).
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Jre ögen mit sölichem schyne luchtend / daz sy gelych wie die sunn / die gesichten der anschöwenden menschen taten letzen vnd bekrencken. Mit welichen ougen sy ouch wän sy wolt mocht töten / vnd die selben toten (so sy gelust) wider vmb bringen zü dem leben. Oculi tanto splendore nitentes, vt in solis modum respiciencium intuitus ebitarent. His illa et occidere quos voluit poterat: et mortuos cum libuisset in vitam resumere. (Piccolomini & Wyle 1988: 82, 83)
So folgt Wyle peinlich genau dem Periodenbau seiner lateinischen Vorlage, ahmt die Ellipse des Verbs esse im ersten Satz nach und missachtet die charakteristische Zweitstellung des finiten Verbs im zweiten Satz zugunsten der auf Latein bevorzugten Endstellung. Indem Wyle die Regeln der lateinischen Grammatik und Rhetorik ohne weiteres anwendet, beraubt er die deutsche Sprache einer eigenen Ausdrucksweise und produziert Texte, die ohne Lateinkenntnisse nur schwer verständlich sind. Andererseits deuten mehrere Aussagen Wyles darauf hin, dass er nicht nur auf eine Förderung der deutschen Sprache zielte. Zwar behauptet er, er möchte den Stil der deutschen Sprache verfeinern, doch mit seinen wortgetreuen Übersetzungen will er nicht zuletzt auch ein Hilfsmittel für die Erlernung des Lateins bereitstellen: In der Widmung zur X. Translatze, einem Brief über die Fürstenerziehung, in dem es unter anderem um die Vorteile von Lateinkenntnissen für den Adel geht, erklärt Wyle dem Markgraf von Baden, dass er ihm den Text bede zu˚ tütsch vnd zu˚ latine schickt, so sy durch das tütsche dise lateinische epistel verstanden haben (Wyle [1861] 1967: 198). Im Nachwort zur Gesamtausgabe der Translationen wiederum kündigt er seine Absicht an, auch die lateinischen Originaltexte zu drucken, […] vmb daz wohl geschickt Jüngling vnd schu˚ler vsz disem minem getütschten ding sölich costlich schwer vnd wol geziert latine lernent versteen sich darinne übent vnd darvon wachsent vnd in wolgelert latinisch manne gera˘tent des villicht ouch etlich elterer Ja˘ren bedörffen möchten etc. (Ebd.: 364)
Insofern nützt Wyle das Mittel der wortgetreuen Übersetzung auch zum pädagogischen Zweck der Spracherlernung aus. Die von Wyle propagierte Wort-für-Wort-Methode hat in Humanistenkreisen Schule gemacht, vor allem im einflussreichen Heidelberger Kreis um den Bischof von Worms Johann von Dalberg (vgl. Worstbrock 1970: 57 ff.). Gleichwohl ging die ältere Forschung mit Wyle hart ins Gericht. Strauß (1912) beispielsweise verurteilt ihn als »Fanatiker der Form« (238) und sieht sein Verdienst nicht etwa in einer Verfeinerung des deutschen Stils, sondern allenfalls in seiner Vermittlung des humanistischen Denkens nach Deutschland. Neuere Interpreten hingegen attestieren Wyle eine nicht unbeträchtliche Rolle in der Entwicklung des
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Deutschen als Literatursprache. So demonstriert Eric John Morrall in der Einleitung zu seiner zweisprachigen Edition der I. Translatze (Piccolomini & Wyle 1988: 31 ff.), dass Wyles Übersetzung seiner lateinischen Vorlage stellenweise durchaus rhetorisch ebenbürtig ist. Reiffenstein (1984: 206 f.) und Worstbrock (1993: 48 f.) wiederum betonen den nachhaltigen Einfluss seiner stilistischen und syntaktischen Empfehlungen auf die deutsche Kanzleisprache – und von dort auf die Standardsprache. Nach Kocher (2005: 265 ff.) schließlich lieferte Wyle mit seinen bis in das 16. Jahrhundert hinein überaus populären Novellenübersetzungen entscheidende Impulse für die Einbürgerung der Gattung in Deutschland – über dreihundert Jahre vor Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten.
2.
16. Jahrhundert: Sinn-für-Sinn-Übersetzung und Zielsprachenorientierung
Am Anfang des 16. Jahrhunderts erfuhr die deutsche Sprache eine Aufwertung gegenüber dem 15. Jahrhundert. Dabei haben zum einen kulturpatriotische Faktoren eine Rolle gespielt. Seit dem späten 15. Jahrhundert zeichnet sich eine zunehmende Tendenz zu einer nationalen Gesinnung ab, die vom antirömischen Programm der Reformation noch gestärkt wird: 1487 wird Conrad Celtis als erster Deutscher zum Dichter gekrönt, die meisten deutschen Humanisten der zweiten und dritten Generation studieren nicht mehr in Italien, sondern in Heidelberg, Erfurt oder Freiburg, und 1520 entscheidet sich der Humanist und Reichsritter Ulrich von Hutten aus kulturpatriotischen Gründen, Gedichte in deutscher Sprache zu verfassen. Zum anderen – und vielleicht noch wichtiger für die Neubewertung der deutschen Sprache – gibt es ein wachsendes Interesse für Fremdsprachen. Waren die Gelehrten des 15. Jahrhunderts noch einseitig auf das Lateinische fixiert, wächst im 16. Jahrhundert das Interesse für das Griechische und das Hebräische: Gleich zu Beginn des Jahrhunderts veröffentlichen Konrad Pellikan (1501) und Johannes Reuchlin (1506) hebräische Grammatiken, 1516 gibt Erasmus eine griechische Version des neuen Testaments zusammen mit seiner eigenen lateinischen Übersetzung heraus und schließlich zieht Martin Luther für seine deutsche Bibelübersetzung auch die hebräischen und griechischen Urtexte heran. Die wachsende Kenntnis fremder Sprachen am Anfang des 16. Jahrhunderts hat wohl den Sinn dafür geschärft, dass auch das Deutsche eine eigene Sprache mit eigenen Regeln sei, und dass man die grammatischen Konventionen einer Sprache nicht einfach auf eine andere Sprache übertragen darf (Schwarz 1985: 112). In dieser kulturellen Umgebung veröffentlicht Martin Luther 1522 seine
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Übersetzung des Neuen und 1534 des Alten Testaments. Luthers Bibelübersetzung war keineswegs die erste deutsche Version der Bibel, doch im Kontrast zu den achtzehn früheren gedruckten deutschen Vollbibeln – und im Kontrast zu Niklas von Wyle und seinen Nachfolgern – verfolgt er konsequent die sinngemäße Methode des Übersetzens.7 In seinem 1530 herausgegebenen Sendbrief vom Dolmetschen (Luther 1883 ff.: Bd. 30ii, 627 – 646) erläutert er seine Übersetzungstechnik und verteidigt sich gegen den Vorwurf, er habe mit seiner Bibelübersetzung die vermeintliche Autorität der Vulgata und der exegetischen Tradition unterminiert und die heilige Schrift zu seinem Vorteil ausgelegt. In einer Schlüsselpassage des Dolmetscherbriefs bringt Luther das Prinzip seiner Übersetzungsmethode auf den Punkt: […] den man mus nicht die buchstaben inn der lateinischen sprachen fragen, wie man sol Deutsch reden, wie diese esel thun, sondern, man mus die mutter jhm hause, die kinder auff der gassen, den gemeinen man auff dem marckt drumb fragen, und den selbigen auff das maul sehen, wie sie reden, und darnach dolmetschen, so verstehen sie es den und mercken, das man Deutsch mit jn redet. (Ebd.: 637)
Als konkretes Beispiel erklärt Luther unter anderem seine Übersetzung des Satzes Ex abundantia cordis os loquitur (Matthäus 12,34 und Lukas 6,45): Wenn ich den Eseln sol folgen, die werden mir die buchstaben furlegen, und also dolmetschen: Auß dem uberflus des hertzen redet der mund. Sage mir, Jst das deutsch geredt? Welcher deutscher verstehet solchs? Was ist uberflus des hertzen fur ein ding? Das kan kein deutscher sagen, Er wolt denn sagen, es sey das einer allzu ein gros hertz habe oder zu vil hertzes habe, wie wol das auch noch nicht recht ist: denn uberflus des hertzen ist kein deutsch, so wenig, als das deutsch ist, Uberflus des hauses, uberflus des kacheloffens, uberflus der banck […] (Ebd.)
Im Kontrast zu den »Papsteseln« überlegt sich Luther, wie die mu˚tter ym haus und der gemeine man den Satz ausdrücken würden und übersetzt mit dem deutschen Sprichwort: Wes das hertz vol ist, des gehet der mund uber (ebd.). Wie Steinhöwel orientiert sich Luther also am gesprochenen Wort der Zielsprache und möchte in einem allgemein verständlichen Stil die Inhalte seiner Vorlage wiedergeben. Doch im Gegensatz zu ihm beansprucht er für seine Transferleistung auch sprachliche Äquivalenz mit der Vorlage. Dabei bedeutete eine vom lateinischen Wortlaut abweichende Übersetzung der heiligen Schrift einen aus kirchlicher Sicht ketzerischen Eingriff in die exegetische Tradition. Dass Luther tatsächlich seine Übersetzungsmethode zur Durchsetzung seiner 7 Zu den vorlutherischen deutschen Bibeldrucken vgl. Sonderegger (1998: 257 ff.). Dagegen zeigt Redzich (2005) anhand von handschriftlich überlieferten Übersetzungen einer Passage aus der Johannesapokalypse aus dem 15. Jahrhundert, dass sich einige spätmittelalterliche Bibelübersetzungen weiter als gemeinhin angenommen – wenn auch nicht in programmatischer Absicht – vom Wortlaut der Vulgata entfernen.
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theologischen Überzeugungen instrumentalisierte, zeigt sehr deutlich seine Übersetzung von Römer 3,28: Wir halten, das der mensch gerecht werde on des gesetzs werck, allein durch den glauben (ebd.: 632). Auf den Vorwurf seiner Kritiker, es gäbe kein solum an der entsprechenden Stelle in der Vulgata, antwortet Luther zunächst mit zielsprachlichen Argumenten: Das ist aber die art unser deutschen sprache, wenn sie ein rede begibt, von zweyen dingen, der man eins bekennet, und das ander verneinet, so braucht man des worts ›solum‹ (allein) neben dem wort ›nicht‹ oder ›kein‹, Als wenn man sagt: Der Baur bringt allein korn und kein geldt, Nein, ich hab warlich ytzt nicht geldt, sondern allein korn. Jch hab allein gessen und noch nicht getruncken. Hastu allein geschrieben und nicht uberlesen? Und der gleichen unzeliche weise yn teglichen brauch. (Ebd.: 637)
An dieser Stelle zeigt sich, dass Luthers Wahl einer sinngemäßen Übersetzungsmethode auch theologisch motiviert war, denn die deutsche Sprache (auch des 16. Jahrhunderts) erfordert in diesem Zusammenhang keineswegs die Hinzufügung von »allein« (Gardt 1992: 100). Es handelt sich vielmehr um eine theologische Auslegung, welche das reformatorische Programm von Gnade durch Glauben stützen und die Ablasspraktiken der Kirche unterminieren sollte. Die Auswirkungen der reformatorischen Bewegung auf das bislang von der Kirche mitgetragene Bildungssystem waren so schwerwiegend, dass sich Luther veranlasst fühlte, die alten Sprachen in Schutz zu nehmen, um das humanistische Erbe zu retten. 1524 wandte er sich mit seinem Sendbrief An die Ratherren aller Städte deutsches Lands und empfahl ein Schulprogramm, das auch die profane Literatur der Antike mit einbeziehen sollte (Luther 1899 ff.: Bd. 15, 9 – 53). Mit diesem Appell bewirkte der Reformator, dass das Lateinische in den Schulen und Universitäten Deutschlands noch bis ins 18. Jahrhundert und darüber hinaus einen festen Platz hatte (Ribhegge 1998: 169 ff.). Gleichzeitig aber wurde durch die rasche Verbreitung und langhaltige Popularität der Lutherbibel die Standardisierung der neuhochdeutschen Schriftsprache in Gang gesetzt, und das in einem relativ heterogenen, konfessionell gespaltenen Sprachbereich ohne zentralstaatliche Instanz. Außerdem wirkte die Ausbreitung der lutherischen Lehre als Katalysator für die Entwicklung einer Reihe literarischer Gattungen in Deutschland: vom geistlichen Lied über die Predigt bis hin zu verschiedenen Arten von Erbauungsliteratur und zum Schuldrama.8
8 Zu Luthers Einfluss auf die Entwicklung der deutschen Literatur vgl. auch Berns (1989).
Die Geburt der Poesie aus dem Geiste der Übersetzung
3.
221
17. Jahrhundert: Übersetzung im Zeichen von imitatio und aemulatio
Trotz der Aufwertung und zunehmenden Standardisierung der deutschen Sprache im 16. Jahrhundert blieb das Lateinische bis ins 17. Jahrhundert hinein die bevorzugte Literatursprache deutscher Gelehrter. Das lag sicherlich auch daran, dass die am »Maul« des gemeinen Mannes orientierte Sprache Luthers als Grundlage für eine deutschsprachige Kunstdichtung humanistischer Prägung nicht in Frage kam. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts hatten die bürgerlichen Späthumanisten zahlreiche Hoffunktionen übernommen und so einen privilegierten Platz in der Standesordnung erobert. Sie pflegten eine international ausgerichtete Standeskultur und wollten nicht zuletzt auch durch den Gebrauch von Latein die Abgrenzung nach unten aufrechterhalten (vgl. dazu die klassische Studie von Trunz [1931] 1995). Doch der Niveauunterschied des Deutschen zu den romanischen Volkssprachen, und bald auch zum Englischen und zum Niederländischen, wurde immer deutlicher. Im Gegensatz zu diesen Ländern waren in Deutschland – wie wir am Beispiel Niklas von Wyles gesehen haben – die Versuche von Frühhumanisten, eine volkssprachliche Kunstdichtung auf humanistischer Basis zu etablieren, ohne Erfolg geblieben. Erst am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges wurde ein zweiter Anlauf genommen: 1617 gründete Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen die »Fruchtbringende Gesellschaft« als erste deutsche Sprachgesellschaft. Als Vorbild diente ihm die italienische »Accademia della Crusca«. Im gleichen Jahr rief Martin Opitz (1597 – 1639) in seiner Programmschrift Aristarchus sive de contemptu linguae Teutonicae den deutschen Späthumanisten dazu auf, endlich in der Muttersprache zu dichten. Sieben Jahre später schließlich veröffentlichte Opitz seine epochemachende Poetik, das Buch von der Deutschen Poeterey. Wie Joachim DuBellay in seiner 70 Jahre früher verfassten Deffense et illustration de la langue francoyse (1549) empfiehlt Opitz die Nachahmung anerkannter Muster zur Kompensation des deutschen Rückstands. Doch im Gegensatz zu DuBellay, der das Übersetzen als unkünstlerisch ablehnte und von der imitatio und aemulatio klar abgrenzte (Vgl. Hermans 1992: 110 f.), sind bei Opitz die Grenzen zwischen den verschiedenen Stufen der Nachahmung fließend. In der einzigen ausdrücklichen Stellungnahme seiner Poetik zum Thema Übersetzen beschreibt er es in Anlehnung an Plinius den Jüngeren als eine Art dichterischer Übung, die zur selbständigen poetischen Tätigkeit anregen sollte: Eine guete art der vbung aber ist / das wir vns zueweilein auß den Griechischen vnd Lateinischen Poeten etwas zue vbersetzen vornemen: dadurch denn die eigenschafft vnd glantz der wörter / die menge der figuren / vnd das vermögen auch dergleichen zue erfinden zue wege gebracht wird. Auff diese weise sind die Römer mit den Griechen /
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vnd die newen scribenten mit den alten verfahren: so das sich Virgilius selber nicht geschämet / gantze plätze auß andern zue entlehnen. (Opitz 2002: 71)
In der Praxis aber spielten Übersetzungen eine weitaus größere Rolle in Opitzens Reformprogramm, denn sie sollten nachahmenswerte Gattungsmuster für die neue deutschsprachige Kunstdichtung aufstellen, aber auch den konkreten Beweis für die Konkurrenzfähigkeit des Deutschen als Literatursprache erbringen. Opitzens Instrumentalisierung von Übersetzungen zum Zweck eines rhetorisch-stilistischen Wettstreits mit fremdsprachigen Vorlagen lässt sich am Beispiel einer Schlüsselstelle des Buches von der Deutschen Poeterey sehr deutlich zeigen. In den ersten drei Kapiteln spricht Opitz vom Zweck und Wesen der Dichtung im Allgemeinen. Erst im vierten Kapitel, das den Titel Von der Deutschen Poeterey trägt, wendet er sich seinem eigentlichen Thema zu und argumentiert gegen die allgemein verbreitete Meinung, das vnser Land vnter so einer rawen vnd vngeschlachten Lufft liege / das es nicht eben dergleichen zue der Poesie tüchtige ingenia könne tragen / als jergent ein anderer ort vnter der Sonnen (ebd.: 23). Am Ende des dritten Kapitels, also unmittelbar vor seinem Plädoyer für die grundsätzliche Ebenbürtigkeit des Deutschen als Literatursprache, behandelt er das Thema der Liebe als dichterische Inspirationsquelle, erwähnt als Beispiel ein artiges Sonnet von Pierre de Ronsard, der Frantzösischen Poeten Adler, und kann es nicht vnterlassen (ebd.: 21), das Gedicht zusammen mit seiner eigenen Übersetzung zu drucken: Ah belle libert¤, qui me seruois d’escorte, Quand le pied me portoit o· libre ie voulois! Ah! que ie te regrette! helas, combien de fois Ay-ie rompu le ioug, que maulgr¤ moy ie porte! Puis ie l’ay rattach¤, estant nay de la sorte, Que sans aimer ie suis & du plomb & du bois, Quand ie suis amoureux i’ay l’esprit & la vois, L’inuention meilleure, & la Muse plus forte. Il me faut donc aimer pour auoir bon esprit, Afin de conceuoir des enfans par escrit, Prolongeant ma memoire aux despens de ma vie. Ie ne veux m’enquerir s’on sent apres la mort: Ie le croy : ie perdroy d’escrire toute enuie: Le bon nom qui nous suit est nostre reconfort. Du güldne Freyheit du / mein wünschen vnd begehren / Wie wol doch were mir / im fall ich jederzeit Mein selber möchte sein / vnd were gantz befreyt Der liebe die noch nie sich wollen von mir kehren /
Die Geburt der Poesie aus dem Geiste der Übersetzung
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Wiewol ich offte mich bedacht bin zue erweren. Doch lieb ich gleichwol nicht / so bin ich wie ein scheit / Ein stock vnd rawes bley. die freye dientsbarkeit / Die sichere gefahr / das tröstliche beschweren Ermuntert meinen geist / das er sich höher schwingt Als wo der pöfel kreucht / vnd durch die wolcken dringt / Geflügelt mitt vernunfft / vnd mutigen gedancken / Drumm geh’ es wie es wil / vnd muß ich schon darvon / So vberschreit’ ich doch des lebens enge schrancken: Der name der mir folgt ist meiner sorgen lohn. (Ebd.: 21 f.)
Das Resultat ist eine stilistisch selbständige »Neugestaltung, die sehr vorteilhaft neben ihrem Vorbild bestehen kann« (Gellinek 1973: 157). Um nur ein Beispiel anzuführen, wird bei Ronsard der Kontrast zwischen der geistigen Trägheit des Nicht-Liebenden und der Inspirationsfreude des Liebenden durch einen Parallelismus im 6. und 7. Vers hervorgehoben. Bei Opitz hingegen wird die Situation des Nicht-Liebenden vorneweg beschrieben (V. 1 – 4) und dann die Gefühlslage des Liebenden durch eine pointierte Aneinanderreihung antithetischer Begriffspaare zu einem Paradox gesteigert, das erst mit der erlösenden Angabe des Prädikats nach einem Enjambement zwischen Oktett und Sextett gelöst wird, welches dann die Aufwärtsbewegung des lyrischen Ich in die Gefilde des stoischen Nachruhmes ermöglicht. Im Gegensatz zur Vorlage redet das lyrische Ich der Übersetzung im abschließenden Sextett nicht mehr von der Liebe oder von seinen Gefühlen. Dies verstärkt den Eindruck einer Überwindung von irdischen Affekten und wandelt die tröstende Schlusspointe in einen Akt stoischer Selbstbehauptung um. Mit dieser selbständigen Abwandlung einer fremdsprachigen Vorlage liefert Opitz gleich einen ersten Beweis für die Konkurrenzfähigkeit einer deutschen Kunstdichtung, bevor er mit seiner Argumentation überhaupt begonnen hat. Wie Niklas von Wyle will Opitz also auch, dass man seine Übersetzungen mit den Vorlagen vergleicht, aber nicht um den Zugang des Lesers zum Ausgangstext zu erleichtern, sondern um die Ebenbürtigkeit oder sogar Überlegenheit des Zieltextes zur Schau zu stellen. Im weiteren Verlauf der Poeterey und in seinen anderen Werken veröffentlichte Opitz zahlreiche weitere Übersetzungen von antiken und modernen Texten aus dem Lateinischen, Griechischen, Französischen, Italienischen und Niederländischen. In manchen hält er sich inhaltlich wie stilistisch relativ eng an seine Vorlage, in anderen verwendet er andere Versformen oder Stilmittel und in anderen wiederum wandelt er Inhalt oder Kontext selbständig um. Aus einem weiteren Sonnet Ronsards über die Hugenottenkriege beispielsweise wird ein Sonnet über den Dreißigjährigen Krieg (Opitz 1968 ff.: Bd. 2, 720). Manchmal sind seine Übersetzungen explizit als solche gekennzeichnet, manchmal haben sie nur Überschriften wie »Aus dem Französischen«, »Fast aus dem Griechi-
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schen« oder »Zum theil aus dem Niederländischen« (Opitz 1968 ff.: Bd. 2, 712, 711 bzw. 702) ohne Angabe eines Autors und manchmal fehlt jegliche Auskunft über den Ausgangstext (z. B. Opitz 2002: 44). Die Tendenz einer Gleichsetzung von Übersetzung und Nachahmung und einer plagiatorischen Ausbeutung fremdsprachiger Texte wird bei Opitzens Nachfolgern noch gesteigert: In seinem in der Mitte des Jahrhunderts herausgegebenen Poetischen Trichter (1647 – 1653) behandelt Georg Philipp Harsdörffer das Thema Übersetzen im Rahmen des Kapitels Von der Nachahmung (Harsdörffer 1969: Teil 3, 36 ff.). Er hält die beste Dolmetschung für die, welche man für keine Dolmetschung hält (ebd.: 39), und behauptet, die Angabe von Quellen sei unvonnöhten / weil solche bey den heutigen Poeten gemein [= allgemein bekannt sind] und die Sache leicht zu verstehen (ebd.: 41).9 Damit wird Übersetzen erneut zum Wiedererzählen, mit dem entscheidenden Unterschied, dass die Transferleistung nicht mehr wie bei Steinhöwel im Zeichen einer Popularisierung in stilistischer und inhaltlicher Hinsicht steht (vgl. Koller 1998 : 222). Vielmehr beanspruchen die Übersetzungen von Opitz und seinen Nachfolgern einen vollwertigen Platz im literarischen System des Barockhumanismus und konkurrieren mit den Ausgangstexten auch auf einer sprachlich-stilistischen Ebene. Auf diese Weise konnten die belles infidºles des deutschen Barock nachahmungswerte Muster für zahlreiche lyrische, dramatische und epische Formen aufstellen, die ihrerseits bald von anderen Dichtern nachgeahmt wurden und zum Teil bis heute zum Formenschatz der deutschen Literatur gehören.
4.
Fazit
Die vorliegende Studie befasste sich mit der Rolle von Übersetzungstheorien im Aufholprozess des Deutschen als Literatursprache in der Frühen Neuzeit. Am Beispiel von drei Autoren – Niklas von Wyle, Martin Luther und Martin Opitz – wurden die vorherrschenden Positionen deutscher Übersetzer vom 15. bis zum 17. Jahrhundert dargelegt und kontrastiv verglichen. Die allgemeine Entwicklung von einer Ausgangssprachenorientierung hin zu einer Zielsprachenorientierung wurde von einem zunehmenden sprachlichen Selbstbewusstsein begleitet und von wechselnden kulturpolitischen Strategien motiviert. Am Ende dieser Entwicklung steht das Prinzip des freien Übersetzens, bei welchem Textvorlagen lediglich als »Jagdgründe für die inventorische Forschung« dienen (Hess 1992: 25). In der Aufklärung änderte sich an dieser Situation zunächst 9 Über Harsdörffers Übersetzungstheorie berichtet Hess (1992). Zum Thema »Übersetzung und Plagiat« im 17. Jahrhundert vgl. auch Szyrocki (1979: 48 ff.).
Die Geburt der Poesie aus dem Geiste der Übersetzung
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wenig. Johann Christoph Gottsched etwa würdigt die Übersetzungstätigkeit Opitzens als patriotischen Dienst am preußischen Vaterland (Gottsched 1972: 228) und greift bei seinen eigenen Übersetzungen zuweilen auch in den Inhalt seiner Vorlagen ein (vgl. Meier 1993). Erst im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts fand die Tradition der freien Übersetzung mit der »Erfindung des Originals« (Poltermann 1987) sein allmähliches Ende. Fortan zielte Sprachtransfer nicht mehr primär darauf ab, einen Niveauunterschied zwischen Ausgangs- und Zielsprache auszugleichen oder den Formenschatz der deutschen Literatur zu erweitern. Vielmehr sollte er Zugang zu einer fremden Kultur gewähren und so einen Beitrag zum Fremdverstehen leisten. Aber zu diesem Zeitpunkt war der Aufholprozess des Deutschen – nicht zuletzt dank der Leistungen von Wyle, Luther und Opitz – ohnehin schon weit fortgeschritten.
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Clara Fritz
Prophaner les Muses. Zum Problem des adäquaten Übersetzens von Dichtung am Beispiel des Orlando Furioso
1.
Die französischen Übersetzungen aus dem Italienischen im 16. Jahrhundert
Im 16. Jahrhundert, Saeculum der Übersetzung par excellence, sind französische Übersetzungen aus dem Italienischen zahlreicher als zu jedem anderen Zeitpunkt. Seit 1530 werden in Lyon und Paris die Klassiker des Trecento (Petrarca und Boccaccio, Dante erst ab 1596), die großen zeitgenössischen Dichter (Ariost und Tasso), Skandalautoren wie Machiavelli und unzählige, oft namenlose Newcomer in italienischem Original und französischer Übersetzung verbreitet. Mit Blick auf Chronologie und Häufigkeit der Neuübersetzungen, ihrer Inhalte und Gattungen lassen sich im 16. und frühen 17. Jahrhundert verschiedene Phasen der Rezeption erkennen.1 Von 1500 bis 1530 sind die Übersetzungen noch sehr rar, es handelt sich um insgesamt 22 Texte2, darunter v. a. Gelegenheitsdichtung, Reiseberichte, Chronistik und Militaria. Aus dem literarischen Bereich stammen insgesamt 9 Übersetzungen, u. a. Petrarca (Les Triumphes, 1514), Pulci (Morgant le Geant, 1519) und Caviceo (Le Peregrin, 1527). In den 1530er Jahren steigt die Produktion langsam an, es folgen Texte aus dem Bereich der »sentimentalen« Damen- und Hofliteratur (Balsamo 2009: 21): Boccaccio (Treize elegantes demandes d’amours, 1530; La Complaincte de Fiammette, 1532), Alberti (Hecatomphile, 1534; Deifira, 1539) und Castiglione (Le Courtisan, 1537). Die französische Gesamtausgabe des Orlando Furioso in Prosa (Roland furieux, 1543) läutet einen neuen Abschnitt ein, es folgen Übersetzungen von Sannazaro (1544), Bembo (1545), Boccaccio (1545), Machiavelli (1546). Im Zeitraum von 1540 – 1560 ist mit insgesamt 53 literarischen Texten bei 1 Der zeitliche Rahmen der Untersuchung ist auf die Jahre 1530 – 1630 festgelegt. 2 Die hier und im Folgenden genannten Werte dienen der Orientierung und sind als Richtwerte zu verstehen. Sie wurden ermittelt durch thematische Zuordnung und Auszählung aller Titel der Übersetzungsbibliographie »Les traductions de l’italien en franÅais au XVIe siºcle«. Eine Auflistung der literarischen Übersetzungen bis 1600 liefert Hausmann (1994).
230
Clara Fritz
einer Gesamtzahl von 146 Übersetzungen ein erster Höhepunkt in der Übersetzungsproduktion erreicht, der v. a. der königlichen Initiative während und nach der Regierungszeit des pºre des lettres FranÅois Ier (1515 – 1547) zu verdanken ist. Nach dem kriegsbedingten Rückgang während der 1560er Jahre ist ein zweiter Höhepunkt von 1565 – 1585 (68 literarische Texte von insgesamt 235) v. a. auf das Interesse und den Produktionseifer der italianisierenden Drucker zurückzuführen (Balsamo 2009: 22): Es ist die Hauptschaffensphase von Benot Rigaud in Lyon und Abel L’Angelier in Paris. Gegen Ende des Jahrhunderts nimmt die Zahl der Übersetzungen aus dem Italienischen nicht ab, aber der Fokus verschiebt sich deutlich hin zu der religiösen Literatur. Dieser Trend ist auch noch im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts zu beobachten (Pompejano 2001: 45 f.). Im Folgenden soll an Hand einer Gegenüberstellung der französischen Übersetzungen des Orlando Furioso aus dem Zeitraum 1544 – 1615 gezeigt werden, wie die Übersetzer ihre Vers- oder Prosalösungen präsentieren, welche Argumente sie für ihre Wahl vorbringen, wie sie auf ihre Vorgänger und Übersetzerkollegen Bezug nehmen und wie das übersetzte Werk vom französischen Lesepublikum aufgenommen wurde. Der Beitrag behandelt also das Problem des Übersetzens von Dichtung und die dabei auftretende Problematik der Gattungswahl. Eine Prosaübersetzung ist gleich ein zweifacher Transfer : einerseits das Übertragen des Texts in eine andere Sprache, andererseits der Gattungsübergang von Vers zu Prosa. Diese zweifache Transferleistung und die Diskussion um ihre Legitimation sollen nun aus der Perspektive des anonymen Ariost-Übersetzers sowie aus der Sicht von Jean Fornier de Montalban und Jean de Boyssiºres betrachtet werden. Folgende Texte wurden in die Untersuchung einbezogen: 1544, Anon.: Roland Furieux […]. Lyon, Sulpice Sabon für Jean Thellusson. 1555, Jean Fornier : Le premier volume de Roland Furieux […]. Antwerpen, Christoph Plantin. 1580, Jean De Boyssiºres: L’Arioste francoes […]. Lyon, Thibaud Ancelin. 1615, FranÅois de Rosset: Le divin Arioste ou Roland le Furieux […]. Paris, Robert Foüet.
2.
Vers oder Prosa?
Mit der explodierenden Zahl der Übersetzungen wird auch die Reflexion über das Übersetzen selbst immer mehr zum Gegenstand von Traktaten und v. a. Übersetzervorreden. Hier werden die verschiedensten Probleme diskutiert – von der Gratwanderung zwischen Stil und Texttreue über die Legitimität von
Zum Problem des adäquaten Übersetzens von Dichtung
231
Wortneuschöpfungen bis hin zur Frage, ob ein Verstext in Prosa oder wieder in Versen wiedergegeben werden soll (cf. Hausmann 1997: 123 f.). Zwischen 1530 und 1630 wurden insgesamt 202 italienische literarische Werke ins Französische übersetzt. 69 Vorlagen sind in Versform geschrieben, 30 dieser Versdichtungen wurden in Prosa und 39 in Verse übertragen. Die Auswertung der chronologischen Verteilung hat ergeben, dass die Hälfte der Prosaübersetzungen nach 1590 entstanden ist, was darauf schließen lässt, dass das Übersetzen in Verse gegen Ende des Jahrhunderts langsam aus der Mode kommt. Eine Studie von Jean Balsamo (1992: 100) zeigt, dass Versübersetzungen in der Regel von Amateuren verfasst werden, die diese Art der Schriftstellerei als Fingerübung betreiben. Berufsübersetzer hingegen hielten sich an Prosavorlagen, und wenn diese doch einmal Verse enthalten, werden sie weggelassen oder der Übersetzer erfindet einfach etwas anderes.3 Damit umgehen die professionellen Übersetzer das große Problem jeder Versübertragung: die Wahl zu treffen zwischen der Wiedergabe der inventio auf Kosten der Form, oder dem Verfassen französischer Verse ohne Berücksichtigung aller inhaltlicher Details der Vorlage. Kaum mehr Übersetzung, sondern eher freie Imitation zu nennen ist diese zweite Variante, die v. a. im letzten Drittel des Jahrhunderts große Konjunktur hat, angestoßen von Desportes’ Imitation de quelques chans de l’Arioste (1572, cf. Cioranescu 1939: 47 ff.). In einigen Vorreden äußern sich Herausgeber und Übersetzer zum Verhältnis von Vers und Prosa, so z. B. Charles Estienne, der sich nicht nur für die neue Gattung der Komödie, sondern auch für Prosa stark macht, in seiner Widmungsvorrede zur Übersetzung der Commedia del sacrificio (Les Abusez, 1540). Estienne, dessen Vorlage in Prosa verfasst ist, befindet sich nicht in der Situation, einen durch die Übersetzung bedingten Gattungstransfer rechtfertigen zu müssen. Seine Befürwortung der Prosa bezieht sich vielmehr auf die bis dato erst in den Anfängen der Verbreitung befindliche Prosakömodie, die durch den Wegfall der sprachlichen Einschränkungen mehr Gestaltungsspielraum auf inhaltlicher Ebene hat. Bien est vray, que la plus part des Italiens que i’ay nommez, & semblablement tous noz FranÅoys, se sont contraints aux rithmes de leur langue: comme aussi les anciens, ont tousiours fait leurs metres: mais les bons personnages compositeurs de ceste Comedie, voyants que les vers ostent la libert¤ du langage, & propriet¤ d’aucunes phrases: ont beaucoup mieux aym¤ faire reciter leur Comedie en belle prose (pour mieux monstrer l’efait & sens d’icelle) que de s’assubietir la rithme. (fol. Avi r – Avi v)
3 Ersteres Verfahren verwendet z. B. Chappuys bei seiner Übersetzung der Hecatommithi von Giraldi Cinzio (Premier volume des Cent Excellentes Nouvelles, 1583), die kreative Variante finden wir in Lariveys französischer Fassung von Straparolas Piacevoli notti (Le second et dernier livre des facecieuses nuicts du Seigneur Iehan FranÅois Straparole, 1576).
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(»Es ist wohl wahr, dass sich die Mehrzahl der Italiener, auf die ich verwiesen habe, und gleichermaßen alle unsere französischen Dichter den Rhythmus ihrer Sprache auferlegt haben: so wie die antiken Dichter, die sich immer an das Metrum gehalten haben: aber die Herren Verfasser dieser Komödie, die gesehen haben, dass der Vers die Sprache ihrer Freiheit beraubt und einige Wendungen ihres Charakters, wollten viel lieber ihre Komödie in schöner Prosa rezitieren lassen (um ihre Wirkung und Bedeutung besser sichtbar zu machen) als sich dem Rhythmus zu unterwerfen.«4)
Ein weiteres Plädoyer für diese neue Gattung lesen wir fast vierzig Jahre später in der Widmung zu den Six premieres comedies (1579) von Pierre de Larivey. Auch er übersetzt ausschließlich Prosa und argumentiert ähnlich wie Estienne, Prosa erlaube den Schauspielern eine emotionalere Darstellung ihrer Figuren. Or si ie n’ay voulu en ce peu, contre l’opinion de beaucoup, obliger la franchise de ma libert¤ de parler, a la seuerit¤ de la loy de ces Critiques qui veullent, que la Comedie soit vn po×me subiect au nombre, & mesure des vers, (ce que sans me vanter i’eusse peu faire) ie l’ay faict, parce qu’il m’a sembl¤, que le commun peuple, qui est le principal personnage de la Scene, ne s’estudie tant agencer ses paroles, qu’ publier son affection qu’il a plustost dicte que pensee. (fol. Aiij r) (»Wenn ich nun, entgegen der Meinung von vielen, das Recht auf meine sprachliche Freiheit nicht dem strengen Gesetz dieser Kritiker verpflichten wollte, die fordern, dass die Komödie ein dem Versmaß unterworfenes Gedicht sei, (was ich, ohne mich rühmen zu wollen, hätte tun können) so habe ich es getan, weil mir schien, dass das gemeine Volk, welches die meisten Charaktere der Szene ausmacht, sich nicht sosehr bemüht, seine Worte zu ordnen, als vielmehr seine Leidenschaft zu zeigen, die es vielmehr gesagt, denn gedacht hat.«)
Direkt zum Problem der Versübersetzung äußert sich der Übersetzer von Tassos Gerusalemme Liberata, Blaise de Vigenºre. Er gibt in seinem Widmungsbrief zu La Hierusalem du Sr. Torquato Tasso (1594) an, er habe das Epos »von Versen zu Prosa degradiert« (degradd¤ de ryme en prose, fol. ¼iij v) und damit ein Sakrileg begangen, »indem er die Reime und das Metrum dieser schönen elaborierten Verse zerhackte und sie zu einer niederen bäuerlichen Prosa herabwürdigte« (en broüillant les rymes & nombres de ces beaux elabourez vers, & les rauallant vne basse prose champestre, Aux lecteurs, fol. ˜ıiij r). Er bezichtigt sich selbst, »die Musen profaniert zu haben, die so große Mühe und Freude hatten, ihre schönen geflochtenen Zöpfe zusammenzudrehen, und sie zu allerhand Flechtwerk um ihr heiliges Haupt herum anzuordnen« (d’y auoir prophan¤ les Muses, qui auoient tant pris de peine & plaisir cordonner leurs belles tresses, & les agenser en diuers entrelaz & compartimens a l’entour de leur sacr¤ chef, fol. ˜ıiij r). Nach dieser ungewollten und doch verfassten Prosafassung ist die traduction po¤tique der 4 Es handelt sich bei den hier abgedruckten deutschen Übersetzungen um Hilfsübersetzungen für den ungeübten Leser des Mittelfranzösischen.
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Divine Comedie (1596) von Balthazar Grangier wieder anachronistisch (Balsamo 1992: 99). Der Dante-Übersetzer äußert sich in seiner Leseranrede auch nur kurz über die doch bemerkenswerte Tatsache, dass er das umfangreiche Werk in Versen wiedergibt: Car ayant translat¤ la presente comedie vers pour vers, & en noz stances qui ne respondent du tout a celles de nostre Poete, ie me suis veu contrainct de me rendre en plusieurs passages difficile & embrouill¤, tout autant qu’est l’autheur mesme, pource que l ou i’ay peu honnestement ne me departir des faÅons de parler anciennes, non communes, & qui toutes n’ont est¤ choisies qu’auec vn grand iugement, si l’on y regarde de prez, ie l’ay faict volontairement. (fol. Æ v) (»Denn als ich diese Komödie Vers für Vers übersetzte und in unsere Stanzen brachte, die den Strophen des Dichters gar nicht entsprechen, war ich gezwungen, mich an einigen Stellen schwierig und unverständlich auszudrücken, so wie es der Autor selbst tut, denn dort, wo ich mich nicht korrekterweise von den altertümlichen und ungebräuchlichen Redeweisen entfernen konnte, die, wenn man genau hinsieht, allesamt mit großem Bedacht gewählt wurden, habe ich es absichtlich getan.«)
In der 1618 gedruckten Übersetzung von Tassos Aminta wird der Prosa des Verfassers Catherin Le Doux eine der Vorlage ebenbürtige sprachliche Qualität bescheinigt, Rechtfertigungen oder Argumente für diese Wahl sucht man allerdings vergeblich: Le grand Tasse iadis composa ceste histoire, Dont il s’acquit grand los par tout cet univers. Mais le Doux en changeant en prose ses beaux vers, S’acquiert par son bien dire une pareille gloire. (fol. (:) 11 v) (»Der große Tasso hat einst diese Geschichte verfasst, wodurch ihm im ganzen Universum großer Ruhm zuteil wurde. Aber Le Doux erlangt, indem er seine schönen Verse in Prosa umwandelt, durch seine schöne Rede eine ebenso große Ehre.«)
Auch der Übersetzer von Tassos Rinaldo, Sieur de La Ronce (Le Renaud amoureux, 1620), erwähnt in der Leseranrede lediglich, dass seine Version in Prosa verfasst ist, und verzichtet auf weitere Erklärungen: Zu diesem Zeitpunkt der Übersetzungsgeschichte bedarf die Motivation eines Prosaübersetzers offenbar keiner besonderen Rechtfertigung mehr. Diese sich über 80 Jahre erstreckenden Stellungnahmen und die im Folgenden analysierten Vorreden der Ariost-Übersetzungen in Vers und Prosa zeigen, dass beide Möglichkeiten des Übersetzens von Versen angewendet und reflektiert wurden. Wie schon durch das rein zahlenmäßige Verhältnis von Übersetzungen in Vers und Prosa angenommen wurde, hat sich in der Tat gegen Ende des Jahrhunderts die Prosaübersetzung weitgehend durchgesetzt. Auch aus der Sicht der Literaturtheoretiker wird von der Versübersetzung abgeraten. So er-
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klärt z. B. Pierre Deimier in seiner Acad¤mie de l’Art po¤tique (1610): Je ne conseilleray jamais un Po×te de traduire en vers: mais bien en prose, comme on voit que Roland Furieux et la Delivrance de Hi¤rusalem y ont est¤ mis.5 (»Ich werde niemals einem Dichter empfehlen, in Verse zu übersetzen: sondern vielmehr in Prosa, wie es mit dem Roland Furieux und der Delivrance de Hi¤rusalem gemacht wurde«, zitiert nach Balsamo 1992: 108). Damit wäre der selbstkritische Tasso-Übersetzer und jeder Verfechter der Prosaumwandlung legitimiert – durch die Bezeichnung »Po×te« in gewisser Weise sogar nobilitiert – und auch die viel kritisierte frühe anonyme Prosaübersetzung, die im Folgenden kurz vorgestellt werden soll, findet Deimiers Zustimmung.
3.
Roland Furieux: Anon. 1543
Die erste und bis 1614 einzige vollständige Übersetzung des Orlando Furioso wurde 1543 ohne Angabe des Übersetzers in Lyon gedruckt. Die Diskussion um die Identität des Verfassers dauert seit der Veröffentlichung des Texts an und soll hier in aller Kürze umrissen werden. Jean Martin, Parlamentsadvokat und Botschafter in Rom, galt schon seinen Zeitgenossen als möglicher Verfasser des anonymen Roland Furieux, nachdem ihn der Pariser Bibliograph La Croix Du Maine in seinem Premier volume de la Bibliotheque du sieur de La Croix Du Maine neben dem Herausgeber Jean Des Gouttes – der die Widmung signiert und deswegen für den Übersetzer gehalten wurde – und Jacques Vincent als möglichen Verfasser nennt (Cioranescu 1939: 80 f.). 1741 verneint Jean-Pierre Nic¤ron die Verfasserschaft Des Gouttes’ und bekräftigt die Zuschreibung an Jean Martin; 1744 stellt Claude-Pierre Goujet die Hypothese auf, dass Des Gouttes nur deshalb in der dritten Person über den anonymen Übersetzer spricht, um von sich selbst abzulenken, und bringt den Lyoneser Herausgeber damit wieder ins Spiel (Uetani 2008: 1108). Cioranescu wirft 1939 die Frage wieder auf und bezweifelt die Zuschreibung an Martin mit dem Hinweis auf die qualitativen Unterschiede zwischen der frühen Ariost-Übersetzung und den bezeugten Übersetzungen aus Martins Feder : Er spricht der Übersetzung jeden künstlerischen Wert ab, der Text sei audessous du mediocre, au-dessous de toute critique, einziges Verdienst des Verfassers sei gewesen, das Epos einer breiten Leserschaft zugänglich gemacht zu 5 Deimier bezieht sich hier auf die anonyme Prosaübersetzung des Orlando Furioso von 1543 (die zweite Prosaübersetzung von Rosset ist erst 1614 erschienen) und auf die Prosafassung von Tassos Gerusalemme Liberata des Übersetzers Blaise de Vigenºre. Offenbar ist ihm bei der Angabe des Übersetzungstitels ein Fehler unterlaufen: La Deslivrance de Hierusalem (1595) verweist auf die Versübersetzung von Jean Du Vigneau (1594), der Titel von Vigenºres Werk lautet aber La Hierusalem du Sieur Torquato Tasso.
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haben (82 ff.). Weiterhin führt er gegen Martin ins Feld, dass dieser seine übrigen Übersetzungen alle signiert habe – Sannazaros Arcadia (1544), Bembos Asolani (1545) und Colonnas Hypnerotomachia Poliphili (1546), außerdem lateinische Traktate zur Architektur von Serlio, Alberti und Vitruv und zur Theologie (Raimundus Sabundus, cf. auch van Hoof 1993: 250 f.) – und dass keine freundschaftliche Verbindung zwischen dem Lyoneser Herausgeber Des Gouttes und dem Pariser Übersetzer Martin bekannt sei (Cioranescu 1939: 77 ff.). Eine solche Freundschaft zwischen Herausgeber und Übersetzer wird aber im Widmungsbrief erwähnt. Zuletzt führt er an, dass Martin nie ein Originalwerk verfasst, sondern sich als Übersetzer einen Namen gemacht habe; in der Vorrede zum Roland Furieux lesen wir aber, dass der anonyme Verfasser lieber selbst schreiben als übersetzen würde. Als letztes Argument nennt Cioranescu den Umstand, dass in den zahlreichen Gedichten über Jean Martin, die in den Werken der Pl¤iade-Dichter, der Dichtergruppe um Ronsard und Du Bellay, zu finden sind, keine einzige Anspielung auf Ariost gemacht worden sei, was im Hinblick auf die Prominenz des Texts nahelegt, dass Martin eben nicht der Verfasser der anonymen Übersetzung gewesen ist. Dennoch wurde in jüngerer Zeit Martin immer wieder als Übersetzer angeführt, z. B. von Jean Claude Arnould (1997: 335) und Marie-Madeleine Fontaine (1988: 111). Toshinori Uetani (2008: 1108) dagegen vergleicht textimmanente Details der anonymen Übersetzung mit den Übersetzungen von Sannazaro (1544) und Vitruv (1547) und kommt zu dem Ergebnis, dass aus linguistischer Sicht die Verfasserschaft Martins widerlegt sei, weswegen er für eine Neuuntersuchung der Rolle Des Gouttes’ plädiert. Es ist jedoch nicht nur die ungeklärte Frage nach dem Verfasser, die diese frühe Übersetzung interessant macht. Der Roland Furieux verfügt über ein recht informatives Titelblatt, auf dem in besonderer Weise das Übersetzen reflektiert wird. Denn schon im Untertitel erfahren wir etwas über die Art und Weise, wie das Werk übersetzt wurde: Roland Furieux, Compos¤ premierement en ryme Thuscane par messire Loys Arioste, noble Ferraroys, & maintenant traduict en prose FranÅoyse: partie suyuant la phrase de l’Autheur, partie außi le stile de ceste nostre langue. (»Roland Furieux, ursprünglich verfasst in toskanischen Versen durch Ludovico Ariosto, Edelmann aus Ferrara, und jetzt in französische Prosa übersetzt: zum Teil gemäß den Formulierungen des Autors, und zum Teil dem Stil unserer Sprache entsprechend.«) Es handelt sich also um eine Prosaübersetzung, die sich an der Vorlage orientiert, und doch die Besonderheiten des Französischen zu berücksichtigen versucht; damit wird gleich zu Beginn das Hauptproblem der frühen Übersetzer angesprochen, nämlich der Spagat zwischen dem Wunsch, nahe am Original zu bleiben, und der durch den Mangel an entsprechendem heimischem Vokabular
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geschuldeten Unmöglichkeit, gleichzeitig der französischen Idiomatik gerecht zu werden. Aufschlussreich ist auch der ebenfalls auf dem Titelblatt abgedruckte Achtzeiler an den Leser, der sowohl durch seine Position – Leseransprachen oder Autorlob in Gedichtform folgen i. d. R. erst auf den späteren Seiten – als auch durch seine Aussage überrascht: AV LECTEVR. Si d’Amadis la tresplaisante histoire Vers les Francoys eu nouuellement Tant de faueur, de credit, & de gloire Parce qu’elle est traduicte doctement. Le Furieux, qui dit si proprement D’Armes, d’Amours, & de ses paßions Surpassera, en ce totallement Auilissant toutes traductions. (fol. *r) (»Wenn die wohlgefällige Geschichte von Amadis bei den Franzosen neuerdings auf so viel Wohlgefallen, Gunst und Ruhm gestoßen ist, weil sie klug und richtig übersetzt wurde, wird der Furioso, der so treffend von Waffentaten, von der Liebe und den Leidenschaften spricht, sie [die Amadis-Ü.] darin weit übertreffen und alle anderen Übersetzungen weit hinter sich zurücklassen.«)
Das Sich-Messen des anonymen Übersetzers mit Herberay des Essarts, der mit großem Erfolg den spanischen Heldenroman Amadis de Gaula ins Französische übertragen hat (Paris 1540), weist auf die Rivalität der beiden Romane, aber auch der beiden Druckerstädte Paris und Lyon hin (Balsamo 2003: 18). Mit der Prophezeiung eines ähnlichen Erfolges für den Roland Furieux enthalten die Zeilen auch einen Überbietungstopos – der Roland Furieux sei besser als jede Amadis-Übersetzung und beansprucht den Status eines Originalwerks – und den Hinweis auf das »richtige« Übersetzen: Nur weil der Amadis-Übersetzer seine Sache gut gemacht hat (doctement), konnte sein Werk so berühmt werden. Man merkt gleich, dass das Dilemma des guten und schlechten oder des richtigen und falschen Übersetzens, das auf diesem Titelblatt gleich zwei Mal thematisiert wird, eine große Rolle spielt. Der Widmungsbrief des Herausgebers Jean Des Gouttes richtet sich an Ippolito d’Este II, den Neffen von Ippolito I., dem das Original von Ariost gewidmet wurde. Des Gouttes berichtet dem Widmungsempfänger über die Schwierigkeiten, die ihm begegnet seien, als er bei einem Freund, dem namenslosen Verfasser, die Übersetzung in Auftrag gab. Der Text beginnt mit dessen Zweifeln, was die Realisierbarkeit einer Übersetzung des Orlando Furioso angeht – Prosa sei der Vorlage nicht angemessen, aber eine gute und stilvolle
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Versübersetzung würde angesichts der Länge des Werks 12 oder 15 Jahre dauern: Telle fut l’opinion du Translateur du Furieux, Reuerendissime Seigneur, quand premierement ma requeste il meit la main la plume: assauoir qu’il ne doubtoit point que l’Arioste tourn¤ en prose franÅoise ne perdist beaucoup de sa naifuet¤: & pareillement qu’il ne conuint quiconque le voudroit representer en vers franÅois, qui fussent d’aussi bonne grace & resonance, qu’il est en son original, employer ce faire le labeur de douze ou quinze ans […]. (fol. *2 r) (»Dies war die Meinung des Übersetzers des Furioso, Hochwürdigster Herr, als er das erste Mal auf mein Verlangen hin die Feder zur Hand nahm: dass er nämlich keinesfalls daran zweifele, dass der Ariost, in französische Prosa übertragen, viel von seiner Natürlichkeit verlöre: Und dass es sich gleichermaßen für jeden schicke, der ihn in französische Verse übertragen wolle, die genau so elegant und wohlklingend seien wie im Original, darauf die Arbeit von zwölf oder fünfzehn Jahren zu verwenden.«)
Aber noch etwas habe den anonymen Übersetzer von der Aufgabe abgeschreckt – der zweifelhafte Ruf, den diese Art der Schriftstellerei zu dieser Zeit noch genießt, denn »normalerweise werden die Übersetzer mit Fassadenmalern oder Restaurateuren verglichen, die sich einen Namen machen wollen, indem sie die Arbeit anderer illustrieren« (communement tous Traducteurs sont comparez aux blanchisseurs de murailles, ou laueurs de tableaux: qui se veulent acquerir nom pour illustrer labeur d’aultruy […], fol. *2 r). Diese Verunglimpfung des Übersetzens greift einen Topos auf, dessen sich auch Du Bellay in seiner Deffence bedienen wird, um gegen oberflächliche Imitationen antiker Dichter in lateinischer Sprache – also eine Art innersprachliche Übersetzung – zu polemisieren: »Was denken sich diese Fassadenmaler, die sich Tag und Nacht den Kopf mit Nachahmen zerbrechen, was sage ich, Nachahmen? Vielmehr einen Vergil und einen Cicero abschreiben?« (Que pensent doncq’ faire ces Reblanchisseurs de murailles, qui iour, & nuyt se rompent la Teste immiter, que dy ie immiter? Mais transcrire vn Virgile, & vn Ciceron? Deffence, zit. n. Monferran 2008: 110, cf. auch dort Anm. 130). Des Gouttes liefert weiterhin Hinweise dafür, dass der anonyme Verfasser eigentlich kein Übersetzer ist und auch keiner sein möchte, sondern vielmehr vorzieht, seine natürliche Begabung für eigene Werke zu verwenden und sich dabei ausschließlich der eigenen Inspiration zu bedienen: il vouldroit reseruer a sa louenge, ce peu de felicit¤ de nature qu’il en soy, a traicter & deduyre subiect: auquel s’il n’estoit si heureux que le diuin Arioste est¤ au sien, aumoins il le feroit estre tel, qu’il ne seroit veu emprunt¤ d’ailleurs, que de son naturel & acquis. (fol. *2 r) (»Er wolle, um Lob zu erhalten, das Wenige an Glück aufwenden, das er von Natur aus in sich habe, um einen Gegenstand zu behandeln; auch wenn er damit nicht so
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glücklich beschenkt worden sei wie der göttliche Ariost, wolle er es doch wenigstens so anstellen, dass man ihn nicht von anderswo Anleihen machen sehe als bei sich selbst.«)
Es folgt eine Passage, in der Des Gouttes erklärt, dass er diese ganzen Ausreden des Übersetzers nicht akzeptieren wollte, und wie er schließlich seinen Wunsch hatte durchsetzen können: Doncques nostre present Translateur totallement press¤ de mes prieres, & affectueux desirs, pour le plus expedient, & pour aussi satisfaire plus promptement a l’affection de maintz gros personnaiges mes amys: qui quasi impatiemment attendoient si bel Oeuure, il l’ estendue en prose, laissant l les rymes & mesures, meu des raisons dessusdictes: & par ce qu’il congnoissoit aussi que telles histoires (mesmes en nostre langage) ont ie ne sÅay quoy plus de gracieux. (fol. *2 r) (»So hat also unser gegenwärtiger Übersetzer, ganz unter dem Druck meiner dringenden Bitten und innigster Wünsche, und auch um möglichst bald dem Wunsch einiger hoher Herren, meiner Freunde, nachzukommen, die ganz ungeduldig ein so schönes Werk erwarteten, ihn [i.e. den Text] in Prosa umgeschrieben, die Verse und das Metrum bei Seite lassend, und zwar aus den oben genannten Gründen, und auch weil er nämlich erkannte, dass solche Geschichten (sogar in unserer Sprache) auf eine gewisse Weise noch eleganter sind.«)
Hier wird beiläufig noch einmal gesagt, warum es eine Übersetzung in Prosa sein sollte: Zu dem recht pragmatischen Hinweis auf die Ungeduld der Gönner und Freunde, die den Text bereits erwarten, kommt ein ästhetisches Argument – der besondere Reiz, den ein Prosatext mit romaneskem Charakter haben würde. Es ist zu vermuten, dass mit telles histoires auf den spanischen Heldenroman Amadis de Gaula angespielt wird, der damit als eine Art Mustervorlage in Prosa gedient haben könnte. Im Anschluss wird noch ein weiteres Argument gegen Verse genannt, nämlich das warnende Beispiel der angeblich schlecht geratenen mittelalterlichen Lyrik, die wegen ihrer Plumpheit im 16. Jahrhundert nicht mehr rezipiert wurde: Et que ainsi soit, tesmoingns en sont maintz Poetes Prouensaulx, & Picquardz, qui cause de leur peu de grace, & rudesse de vers n’ont peu durer iusques ce present Siecle plus heureux, ayant toutes langues, soient grammaticales ou vulgaires, tousiours est¤ corrompues par la necessiteuse contraincte, ou trop grande libert¤ de Poesie. (fol. *2 r) (»Und dass dem so ist, bezeugen manche provenzalische und pikardische Dichter, die wegen ihrer geringen Eleganz und der Rohheit ihrer Verse nicht bis in das jetzige, glücklichere Jahrhundert überdauern konnten, denn alle Sprachen, seien sie grammatikalisch [i.e. Griechisch oder Latein] oder Volkssprachen, sind immer schon durch den notwendigen Zwang oder die zu große Freiheit der Dichtung zerstört worden.«)
Danach wird das wörtliche Übersetzen reflektiert, das hier zur Anwendung gekommen ist, die Notwendigkeit von Neologismen und die Stilfrage, wobei
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zugunsten der vraisemblance ein unpathetischer Stil bevorzugt wird. Die Argumente des Herausgebers für Prosa sind also einerseits die zeitliche und sprachlich-stilistische Machbarkeit, andererseits der ästhetische Vorteil und die angeblich schlechte historische Erfahrung mit Versliteratur. Des Gouttes macht in dieser Rechtfertigungsrede der Prosaübersetzung immer wieder von der Blitzableiterfunktion einer Vorrede Gebrauch (Genette 2001: 201), vor allem im letzten Drittel seines Briefes, in dem er sich als hingebungsvoller Polemiker gegen potentielle Kritiker ausweist und sie als »dumme und blinde Lästerer« (sotz & aueugles Calumniateurs, fol. *2 v) bezeichnet. Meines Erachtens spricht für die Hypothese der Verfasserschaft des Herausgebers eben dieser emotionale Duktus voller persönlicher Anteilnahme, der den Leser zwischendurch immer wieder vergessen lässt, dass hier das Werk eines Dritten besprochen wird.
4.
Le premier volume de Roland Furieux: Fornier 1555
Zwölf Jahre nach der Prosafassung erscheint die erste Versübersetzung. Sie stammt aus der Feder von Jean Fornier de Montauban und wurde unter dem Titel Le premier volume de Roland Furieux in Paris und Antwerpen gedruckt. Zum Verfasser sind nur wenige Informationen vorhanden: Um 1530 geboren, ist seine Schaffenszeit um die Jahrhundertmitte anzusiedeln, er verfasst kleine Gedichte und einzelne Übersetzungen aus dem Griechischen (Barbier 1970: 343; Van Hoof 1991: 40). 1555 erscheint die 15 Canti umfassende Ariost-Übersetzung unter Berücksichtigung von Reim- und Strophenschema, das Privileg ist auf 1553 datiert. Die Widmung dieser Übersetzung bewegt sich ebenfalls im Rahmen der Familie d’Este, ein kurzer Exkurs soll diesen Hintergrund erläutern. In einem 144-zeiligen Widmungsgedicht an FranÅois de Lorraine nennt Fornier den Grund für diese Zuschreibung: Das heroisch-komische Epos von Ariost dient als Genealogie des Hauses d’Este mit den Figuren Ruggiero und Bradamante als ihrem Gründerpaar. FranÅois de Lorraine, Schwiegersohn von Ercole II d’Este, wird im Widmungsgedicht in Analogie zu Ruggiero gestellt: »Ihr unterscheidet euch nur durch den Namen« (Ie ne vous voy que du nom differer, fol. iij v). Die Frau des Herzogs, Anna d’Este, wird als zweite Bradamante gehandelt. Fornier schreibt sich damit in eine wichtige Tradition ein: Die Dedikation des Orlando Furioso hat seinen Ursprung in der Widmung des Originals von Ludovico Ariosto an Ippolito I. Und auch die anonyme Prosafassung ist einem d’Este gewidmet – Ippolito II, dem Bruder von Ercole II. Fornier schafft mit der Betonung der italienisch-französischen Liaison durch die Eheschließung von Mitgliedern der Häuser de Lorraine und d’Este eine Parallele zwischen der von
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Ariost bedichteten alten Genealogie des Hauses d’Este und der neuen italienisch-französischen Genealogie mit einem neuen Gründerpaar und verweist hiermit auf die engen Beziehungen der beiden Länder, sowohl auf dynastischer als auch auf literarischer Ebene. Im Vorwort Au Lecteur bedient sich der Übersetzer nicht der üblichen captatio benevolentiae oder bemüht komplizierte excusatio-Formeln zu seiner Rechtfertigung. Seine Strategie ist ähnlich wie die Des Gouttes’, nämlich durch vorauseilende Zurechtweisung des Lesers dessen potentielle Kritik auszuschalten. So missbilligt er z. B. den Vergleich von Original und Übersetzung, der dazu dienen soll, die Leistung des Übersetzers zu überprüfen: Ie ne doute aucunement, benin lecteur, que plusieurs esmeuz d’enuie contre nostre entreprise, ou picquez d’vne curieuse arrogance, ne s’essayent par tous les moiens qu’ilz pourront de reprendre ceste nostre traduction, & ces fins ne viennent conferer le texte d’Arioste la tralation (sic), plus pour la contreroller, & y trouuer redire, que cuydans y voir dequoy se contenter. Toutesfois si ceulx l se despouillent de ceste inclination, qui est d’estre tousiours prompts mal iuger, et voir plustost les faultes des autres, que les leurs, auront occasion, non seulement de m’absouldre de faulte, si aucune leur en semble, ains de me louer de la peine que i’ay prise en tel œuure. (fol. v r) (»Ich zweifle keineswegs daran, wohlwollender Leser, dass einige, aus Neid auf unser Unterfangen, oder von neugieriger Arroganz angetrieben, mit allen Mitteln versuchen werden, unsere Übersetzung zu kritisieren, und zu diesem Zweck den Text des Ariost mit der Übersetzung vergleichen werden, mehr um sie zu kontrollieren und etwas zu korrigieren zu finden, als aus dem Glauben heraus, dort etwas zufrieden stellendes zu lesen. Wenn sie auf das Verlangen, immer gleich ein schlechtes Urteil zu fällen, verzichten, und darauf, eher die Fehler der anderen zu sehen, als die eigenen, dann werden sie nicht nur die Gelegenheit haben, mich von Fehlern freizusprechen, wenn sie welche vermuten, sondern auch mich für die Mühe zu loben, die ich mit diesem Werk auf mich genommen habe.«)
Dann dreht er den Spieß um und entfaltet ausgehend von genau diesem scheinbar unerwünschten Vergleich seine Argumentation zugunsten der Versversion. Er bezieht sich auf den Verfasser der anonymen Prosafassung von 1543 und weist auf die Vorrede hin, in der der Prosaübersetzer seinen recht freizügigen Gebrauch von Neuschöpfungen entschuldigt: Car si le traducteur d’Arioste en prose, demande excuse des vocables, desquelz il a vs¤ ayant la bride large, & libert¤ entiere, de combien plus en doy-ie obtenir, qui me suis essay¤ de traduire, d’vne mesme faÅon de vers, les parolles & le sens de l’auteur? (fol. v v) (»Denn, wenn der Prosaübersetzer des Ariost für sein Vokabular um Entschuldigung bittet, das er zügellos und völlig frei verwendet, wie sehr muss man mich entschuldigen, wo ich doch versucht habe, in gleichen Versen die Worte und den Sinn des Autors zu übersetzen?«)
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Fornier verweist hier darauf, dass er durch die Berücksichtigung von Metrum und Reimschema weitaus mehr Zwängen unterlag als der Prosaübersetzer, und nutzt dessen Rechtfertigungen als Steilvorlage, um seine eigene Version herauszustellen. In der Folge beschreibt er sein technisches Vorgehen und nennt zwei Gesetze, denen er sich unterworfen habe: eine geregelte Strophenform einzuhalten und die wechselnde Abfolge von weiblicher und männlicher Kadenz für die ersten sechs Verse jeder Strophe. Die Ariost’sche Oktave dagegen kennt wegen der besonderen Silbenstruktur des Italienischen v. a. weibliche Kadenzen. Et oultre que ie me suys trauaill¤ de faire entrer aux vers tout ce qu’estoit dict par le Po×te sans corruption, ou variation de son subiect, me suys außi asseruy deux choses. L’vne est de rendre les vers d’Arioste en stanzes FranÅoyses, comme il est en stances Tuscanes: & l’autre, que ie me suis baill¤ vne loy laquelle par tout le liure i’obserue, c’est que le premier et les derniers vers de toutes les stanzes sont feminins, et comme vient leur reng mariez dans la stanze. (fol. v v) (»Und außer den Bemühungen, alles in die Verse hineinzubringen, was der Dichter sagt, ohne Fälschung oder Abwandlung seines Inhalts, habe ich mich zwei Dingen unterworfen. Das eine ist das Übersetzen der Verse des Ariost in französische Stanzen, so wie im Italienischen: und das andere, dass ich mir zum Gesetz gemacht habe, das ich das ganze Buch über einhalte, nämlich dass der erste und letzte Vers jeder Stanze weiblich sei, und sie der Reihe nach innerhalb der Strophe Paare bilden.«)
Fornier zufolge begünstigt dieser Strophenaufbau die liedhafte Struktur und erlaubt eine musikalische Begleitung des Epos: »Das habe ich gemacht, damit man die französischen Stanzen singen und mit Instrumenten begleiten kann.« (Ce que i’ay faict, fin que les stanzes FranÅoises se puissent chanter & iouer sus les instrumens musicaux, fol. v v). Mit dem Hinweis auf die enorme Herausforderung, die diese selbst auferlegten Regeln für das Übersetzen der Verse bedeutet haben müssen, erhöht Fornier nochmals den Wert seiner Anstrengung: Mais si ieusse voulu traduire de toutes les rimes que i’eusse peu rendre des mesmes d’Arioste sans obseruer la loy prescripte, ie n’eusse eu la troysieme partie de la peine: mais außi la rime n’eut eu la moyti¤ de la grace, & resonance l’oreille des lecteurs, & moins de correspondance la mesure de ceulx qui l’eussent chant¤e. (fol. v v – vi r) (»Aber wenn ich dieses Gesetz nicht befolgt hätte, und alle Reime so gebaut hätte wie Ariost, dann hätte ich nicht ein Drittel der Mühe gehabt: aber dann hätte der Reim nicht die Hälfte seiner Anmut und seines Wohlklanges im Ohr des Lesers, und würde weniger passen, wenn man ihn singen wollte.«)
Nach weiteren Ausführungen zu verstechnisch bedingten stilistischen Mitteln und zum Einsatz von Dialekt- und Fremdwortschatz nimmt Fornier nochmals Bezug auf den Prosaübersetzer und wiederholt seinen Anspruch auf Nachsicht von seiten des Lesers:
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Pourtant si celluy qui a faict le prototype, n’estant contraint de suyure inuention autre que la sienne, a vs¤ de telles licences, il ne deuroit estre trouu¤ estrange, si en grand’ subiection on pourra quelque fois lire chose, que pour la loy de la rime doiue estre excusee. (fol. vi v) (»Und dennoch, wenn der, der den Prototyp gemacht hat, und nicht gezwungen war, einer anderen Eingebung zu folgen als der eigenen, sich solche Freiheiten erlaubt hat, sollte es nicht verwundern, wenn man Dinge lesen sollte, die wegen der Reimgesetze entschuldbar sind.«)
Es fällt auf, dass dem Leserurteil, mit dem Fornier seinen Brief auch begonnen hat, ein besonderes Gewicht zuteil wird. Auch die Schlusspassage spiegelt diese Haltung wider, deutlich wird dies am Gebrauch von Vokabular aus dem Wortfeld des Bewertens und Beurteilens. Mais de tout ce dont i’aurois icy vs¤, i’en laisseray la posterit¤ la reception, & vsaige, & toy lecteur le sain & raisonnable iugement: qui pourras auec quelcuns toy semblables, introduire la reception & continuer l’vsaige, ou du tout reprouuer ce qu’en nostre trauail t’est present¤. Et pour mieulx cognoistre quelle sera ton opinion, i’ay voulu mettre en lumiere ceste premiere partie, fin qu’ayant eu l’aduis de plusieurs doctes, ie me puisse par leurs obseruations garder de recheute aux derniers volumes, lesquels i’espere auant peu de temps te presenter. A Dieu. (fol. vi v) (»Aber ich werde der Nachwelt all das zur Lektüre und zum Gebrauch überlassen, was ich hier verwendet habe, und Dir, Leser, überlasse ich das vernünftige und gesunde Urteil: Du wirst mit einigen Gleichgesinnten die Lektüre und den Gebrauch fortführen, oder völlig zurückweisen, was Dir mit unserer Arbeit hier präsentiert wurde. Und um besser zu wissen, welche Deine Meinung sein wird, wollte ich diesen ersten Teil herausbringen, damit ich mich mit den Hinweisen von einigen Gelehrten durch ihre Bemerkungen in den letzten Teilen, die ich hoffe, Dir bald vorlegen zu können, vor Wiederholung meiner Fehler bewahre. A Dieu.«)
Fornier betont die Zwänge und Mühen, denen er unterliegt, und verweist mehrfach auf die Freiheiten des Prosaübersetzers. Dieser Gegensatz zwischen »peine« und »loy« einerseits und der »libert¤« andererseits drückt Forniers Überbietungsanspruch gegenüber seinem Vorgänger aus: Er sagt zwar an keiner Stelle direkt, dass Verse besser seien als Prosa, aber seine Gegenüberstellung der beiden Arbeitsweisen dient offensichtlich diesem Zweck. Weiterhin fällt auf, dass Fornier außer dieser Freiheit und Zwanglosigkeit im Umgang mit den Versen kaum technische Details anführt, um die Prosaübersetzung zu diskreditieren, die ja, wie Rosset 1614 zeigen wird, erhebliche Mängel aufweist.
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L’Arioste Francoes: De Boyssières 1580
Kurz nach Erscheinen der überarbeiteten Prosafassung6 versucht sich Jean De Boyssiºres an einer französischen Fassung des Orlando Furioso in Versen. Nach der Imitation du premier chant de l’Arioste (1578) und Le second chant des chants de Loys Arioste (1579) erscheint 1580 L’Arioste Francoes. Die Versfassung von De Boyssiºres enthält die ersten 12 Canti; Episoden, die schon übersetzt oder imitiert wurden, fügt er ein und kompiliert so ein Stückwerk aus verschiedenen Federn. Als Grund für diese Technik wird angeführt, der Übersetzer wolle bereits gemachte Arbeit nicht überbieten. Zwischen zahlreichen Lob- und Freundschaftsgedichten ist als eine Art Widmungsrede der Discours A Monsieur Pigeon (fol. *3 v – *5 r) in der eigenwilligen Orthographie des Verfassers abgedruckt. In dieser 85-zeiligen Ansprache bedauert De Boyssiºres das ständige Kopieren und Plagiieren in der Literatur, vor allem bei den neueren französischen Autoren: Curieux du sÅauoir, lizant, je trauerso¤s Des poetes nouueaux, les po¤mes franÅo¤s, An pansant d’y trouuer quelque choze nouuelle, Mes j’y vzo¤s an vein le tams, & la chandelle: Car ce que i’y voyo¤s alieurs je l’auo¤s vu: Et ce que j’y lizo¤s, alieurs je l’auo¤s lu, J’an rogisso¤s de honte, he! n’¤t-ce pas ¤trange De depoulier pour so¤ les autres de louange? (fol. *3 v f., V. 19 – 26) (»Wissbegierig durchforstete ich bei meiner Lektüre die neuen Dichter, die französischen Gedichte, und dachte, hierbei etwas Neues zu finden, aber ich vergeudete vergeblich meine Zeit und mein Kerzenlicht: Denn was ich dort sah, hatte ich anderswo schon gesehen, und was ich dort las, hatte ich anderswo schon gelesen. Deswegen errötete ich vor Scham, he! Ist das nicht merkwürdig, für den eigenen Vorteil den anderen ihren Ruhm zu rauben?«)
Noch während er sich so über den mangelnden Sinn seiner Zeitgenossen für geistiges Eigentum beklagt, hört er die Stimme Ariosts, der in diese Klage über das Ausschlachten seiner Werke und der anderer italienischer Autoren einstimmt: […] an dizant de la sorte, Il me sambla d’antandre vne grosse vo¤s forte, Qui pleine de regr¤s, & de gemissemant, T¤monyoet qu’elle ¤toet bless¤e grandemant: […]
6 Basierend auf der anonymen Prosafassung von 1543, bearbeitet von Gabriel Chappuys.
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Las (dit-il) lon me fet vn grand tord, an la France, L’on m’y depoulye tout d’honeur, & de sÅiance, Et m’útent le grand bien, qu’au traual de l’esprit I’auo¤s doctemant v, par meint, & meint, ¤crit. (V. 29 – 32, 41 – 45) (»[…] als ich das sagte, war mir, als hörte ich eine kräftige laute Stimme, die voller Bedauern und Stöhnen bekundete, sie sei in hohem Maße verletzt worden: […] Ach (sagte er) mir wird in Frankreich großes Unrecht getan, man spricht mir dort alle Ehre und jede Gelehrsamkeit ab, und durch zahlreiche Schriften nehmen sie mir das große Verdienst, das ich mit der Kraft meines Geistes auf gelehrsame Weise erreicht hatte.«)
Als Reaktion auf diese Anklage macht sich De Boyssiºres dann selbst an eine Neuübersetzung des Orlando Furioso: Apres voulant doner quelque secours propice Au noble ferraroes (vzant de mon office) Ie me mis an deuoer de le fere parler Nútre langue francoeze, an le guidant par l’ar : ÷ fin de d¤couurir les larecins notoeres Comis secrettemant par des cornelies noeres. (V. 68 – 74) (»Danach wollte ich dem Edlen Ferraresen einen guten Dienst erweisen, waltete meines Übersetzeramtes, und machte es mir zur Aufgabe, ihn unsere französische Sprache sprechen zu lassen, und geleitete ihn mit Kunstfertigkeit: Mit dem Ziel, die notorischen Diebstähle aufzudecken, die von den schwarzen Krähen heimlich verübt wurden.«)
Weder aus der Ariost in den Mund gelegten Kritik an den bisherigen Übersetzungen noch an De Boyssiºres Ausführungen lässt sich herauslesen, worin genau der Frevel der Übersetzer bestanden haben soll. Er spricht wiederholt von Krähen, Raub und Diebstahl – depoulier, depoulye, voleries, corneliens, cornelies, larrons und larecins notoeres, was immer wieder auf den Ideenklau, nicht aber auf die technische Ausführung dieser Ariostadaptationen hinweist. Über sein eigenes Vorgehen wird in der Leseranrede, die von I. Bouchet unterzeichnet ist, berichtet, dass der Übersetzer die Ariost’sche Metrik nicht beibehalten habe, um den Sinn besser übertragen zu können: […] l’auteur (quand aus vers) na point obseru¤ l’¤galit¤ du masculin, & du feminin. C’¤t assauoir deux vers feminins, aprºs deux masculins. Et aprºs deux masculins, deux vers feminins: & la cause pourquo¤ il n’a suiui par tout vn tel ordre, c’¤t afin qu’il pt mieux randre le sans, l’intancion, & la grace de l’inuanteur : & qu’il n’amployt plus de vers a la version, quil y an l’inuancion. (fol. xiv v) (»[…] der Verfasser hat, was die Verse betrifft, die männlichen und weiblichen Kadenzen nicht berücksichtigt. Das heißt, zwei weibliche Verse nach zwei männlichen. Und nach zwei männlichen zwei weibliche: und er hat aus dem Grund eine solche Ordnung nicht überall befolgt, weil er so den Sinn, die Intention und die Eleganz des
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Verfassers besser wiedergeben konnte: und damit er nicht mehr Verse verwenden musste, als es im Original gibt.«)
Die große Textnähe, die sich De Boyssiºres vornimmt, hält er nicht immer ein. An einigen Stellen greift er deutlich in den Text ein: Einige Passagen, v. a. Liebesepisoden, sind in seiner Version verlängert, z. B. Sacripantes Selbstgespräch zählt im Original 8 Verse, daraus werden 24 Verse bei De Boyssiºres (Cioranescu 1939: 101). Mit der Erweiterung der Vorlage nimmt sich die Versübersetzung überraschende Freiheiten, die die Versfassung in die Nähe einer freien Imitation rückt. Zieht man die Zahl der Folgeauflagen und Nachdrucke als Messlatte für den Erfolg der Übersetzungen heran, so lässt sich für die beiden Prosafassungen ein deutlicher Unterschied im Vergleich zu den Versübersetzungen erkennen. Die anonyme Prosaversion von 1543 wurde trotz ihrer Mängel – Cioranescu (1939: 89 ff.) weist auf logische Brüche, sinnlose, weil wörtlich übersetzte Passagen und unverständliche Wortneuschöpfungen hin – bis 1572 vier Mal, in der Neubearbeitung von 1576 noch sieben Mal nachgedruckt (Vignes 2003: 80) und erst 1614 durch Le divin Arioste, eine Neuübersetzung von FranÅois de Rosset, ersetzt. In dieser zweiten vollständigen Prosaübersetzung des Ariost’schen Epos bemüht sich de Rosset um eine sprachlich und stilistisch ausgefeilte Version, ohne die Vorzüge der Prosa eigens zu benennen, und bezieht sich in seiner Vorrede an den Leser auf die vielen Fehler der ersten Prosafassung. Er erklärt es zu seinem Ziel, diese Fehler zu korrigieren – purger la France de ceste ordure (fol. þ v) – Frankreich von diesem Müll zu reinigen – und liefert einen recht ansehnlichen Text von einiger Eleganz. Das Werk im großzügigen Quartformat mit zahlreichen Illustrationen wurde zwei Mal nachgedruckt und diente als Basis für Weiterübersetzung ins Niederländische (Cioranescu 1939: 95). Die Versübersetzungen hingegen, die immer fragmentarisch blieben, verschwanden nach ihrem Erscheinen wieder von der Bildfläche. Zwar wurde von der Versübersetzung De Boyssiºres’ ein zweiter Teil angekündigt – der Herausgeber spricht sogar von einer Fortsetzung bis zum 36. Canto – aber nie gedruckt. 28 Jahre später ist die erste Auflage noch nicht einmal ausverkauft (Cioranescu 1939: 101). Ein besonderer Erfolg war auch Forniers Versübersetzung nicht beschieden; Hugues Vaganey (1909: 281) stellt fest, der Stil sei malheureusement pas la hauteur de l’original, Forniers Bemühungen une tche au-dessus de ses forces, invita Minerva. Der von Fornier versprochene zweite Band ist ebenfalls nie erschienen, neben dem Pariser Druck des ersten Teils ist nur die Antwerpener Ausgabe aus der Offizine von Christoph Plantin bekannt, ebenfalls aus dem Jahr 1555 (Balsamo/Dotoli/Minischetti 2009: 91). Beide Versübersetzungen hatten nicht den gewünschten Erfolg, ungeachtet ihrer sprachlichen und stilistischen Qualitäten. Weitere Versübersetzungen (cf. die
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komparatistische Studie von Jean Vignes, der weitere Versfassungen von Claude de Taillemont, Mellin de Saint Gelais und Jean-Antoine de Baf gegenüberstellt) sind meist Spielereien und Fingerübungen, die nur einzelne Auszüge aus dem Orlando Furioso betreffen. Der Misserfolg der Versübersetzer schreckte offenbar potentielle Nachfolger ab; wer sich dennoch an französischen Versionen des Orlando Furioso versucht, tut dies i. d. R. in freier Imitation. Für den Zeitraum 1530 – 1630 hat sich also gezeigt, dass die aus übersetzungstechnischer Sicht weniger anspruchsvolle und pragmatischere Lösung der Prosaübersetzung die stärker rezipierte und damit erfolgreichere Variante gewesen ist. Die Warnungen vor dem Übersetzen von Dichtung, die der Pl¤iade-Dichter Joachim Du Bellay in seiner Programmschrift ausspricht, beziehen sich zwar nicht auf italienische, sondern auf Dichter der Antike, und er differenziert mit keinem Wort zwischen Vers und Prosa, aber dennoch hätte sein Aufschrei allen Versübersetzern gleichermaßen als Warnung gelten können: Er proklamiert die unantastbare »Göttlichkeit ihrer Erfindungskraft, die Großartigkeit ihres Stils, die Pracht ihrer Worte, das Gewicht ihrer Gedanken, die Kühnheit und die Vielfalt ihrer Figuren und tausend andere poetische Erleuchtungen; kurz, die lebendige Kraft und jenen geistigen Atem, der in ihren Schriften spürbar ist und den die Römer Genius nannten. […] O Apollo! O Musen! Welche Profanierung der heiligen Güter, die uns das Altertum überlassen hat!« (ceste Divinit¤ d’Invention, ceste grandeur de style, magnificence de motz, gravit¤ de sentences, audace, et variet¤ de figures, et mil’ autres lumieres de Po×sie: bref ceste Energie, et ne scay quel Esprit, qui est en leurs Ecriz, que les Latins appelleroient Genius […]. O Apolon! O Muses! prophaner ainsi les sacr¤es Reliques de l’Antiquit¤? Deffence, zit. n. Monferran 2008: 90, dt. Übersetzung nach Elisabeth Gräfin Mandelsloh) Es klingt fast wie ein Echo, wenn der Tasso-Übersetzer und Versverfechter Vigenºre in seinen Selbstbezichtigungen von Degradierung der Dichtung und Entweihung der Musen spricht. Und doch scheint mir Vigenºres Aussage eine Verkehrung in das Gegenteil der von Du Bellay gemachten Forderung: Hat er nicht durch die Wahl der Prosa die Musen gerade nicht »geschändet«? Oder, anders gesagt: Wäre unter Berücksichtigung der Heiligkeit der Inventio, wie sie Du Bellay fordert, eine Übersetzung in Verse nicht sogar eine doppelte Profanierung der Musen?
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Begegnen
Achim Rabus
Wie lateinisch ist das europäische Mittelalter? Ein Beitrag aus der Perspektive der Slavistik
1.
Einführung und Problemstellung
Latein in seinen unterschiedlichen Ausprägungen hat in den Augen der europäischen akademischen Tradition eine solch dominante Rolle für die Kultur von der Spätantike bis zur Neuzeit inne, dass das europäische Mittelalter pauschal als »lateinisches« bezeichnet wird. Beredtes und programmatisches Zeugnis hiervon gibt der Titel der klassischen Monographie von Ernst Robert Curtius (1948). Auch im populärwissenschaftlichen Diskurs ist dieser Blickwinkel verbreitet und wird kaum hinterfragt, wie der Beitrag von Vossen (1978) nahelegt. Als weiteres Beispiel mag hier der Wikipedia-Artikel »Mittelalter«1 dienen, in dem es heißt: »Grundzüge des europäischen Mittelalters waren eine nach Ständen geordnete Gesellschaft, eine gläubig christliche Geisteshaltung in Literatur, Kunst und Wissenschaft und Latein als gemeinsame Kultur- und Bildungssprache« (meine Hervorhebung). Darüber hinaus weist die universitäre Mediävistik in ihrer disziplinären Ausdifferenzierung sowie die hiervon in gewisser Weise bedingte und abhängige Ausgestaltung interdisziplinärer Forschungsverbünde und Nachwuchskollegs – nicht zuletzt auch desjenigen, das die Keimzelle des vorliegenden Sammelbandes bildet – darauf hin, dass das europäische Mittelalter im akademischen Diskurs disziplinübergreifend fast exklusiv als lateinisches Mittelalter verstanden wird. Auch wenn es unbestritten ist, dass das Latein die europäische Kulturlandschaft über Jahrhunderte hinweg entscheidend geprägt hat und als eine der zentralen Grundfesten europäischer Kultur gelten kann, so läuft man durch die – häufig automatische und unhinterfragte – Reduzierung des europäischen Mittelalters auf das lateinische in der Nachfolge von Curtius Gefahr, wesentliche Bestandteile des europäischen Mittelalters außer Acht zu lassen. Ähnliches gilt im Hinblick auf sprachliche Fragen für die ausschließliche Definition einer Opposition zwischen Latein als universell gültiger Sakral- und Kultursprache 1 http://de.wikipedia.org/wiki/Mittelalter (2010-03-17).
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und den Volkssprachen (beispielsweise Mittelhochdeutsch) ohne Berücksichtigung anderer (hoch-)sprachlicher Erscheinungsformen. Verschiedene neue inter- und transdisziplinäre Entwicklungen versuchen, europäische Kulturphänomene jenseits der Latinität, oftmals auch unter vergleichenden Aspekten und solchen des Kulturtransfers, in den Blick zu nehmen. Besonders hervorzuheben sind hierbei die Beiträge aus der Reihe »Europa im Mittelalter : Abhandlungen und Beiträge zu einer historischen Komparatistik«, die großteils aus dem DFG-Schwerpunktprogramm 1173 »Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter« hervorgegangen sind.2 In diesem Schwerpunktprogramm wird die Fixierung auf das lateinische Mittelalter kritisch hinterfragt3 und eine interdisziplinäre Erweiterung des Blicks gefordert.4 Diese neuen Entwicklungen sollen im vorliegenden Beitrag aufgegriffen werden: Der auf das lateinische Mittelalter fokussierte Blick soll aus der Perspektive der Heimatdisziplin des Autors, der Slavistik5, erweitert und differenziert werden. Denn obgleich relevante Gebiete der Slavia – wie Polen, Tschechien, mit Abstrichen auch Kroatien – durchaus unter dem Dach der mittelalterlichen Latinität subsumiert werden können, wird der Großteil der Slavia, nämlich ganz grob derjenige, der heute das kyrillische Alphabet verwendet, also Russland, die Ukraine, Weißrussland, Bulgarien, Mazedonien und Serbien, durch die Fixierung auf die Latinität aus dem Kulturkonzert des europäischen Mittelalters ausgegrenzt, auch wenn relevante Kulturfaktoren, beispielsweise die Rolle der christlichen Religion als Katalysator für die in monastischen Kreisen gepflegte Schriftkultur, identisch sind.6 2 Zu nennen sind hier beispielsweise Borgolte/Schneidmüller (2010) oder Mersch/Ritzerfeld (2009). 3 »Mediävistik darf nicht in Ideologieverdacht geraten, indem sie einer einzigen [der lateinischen, A.R.], wenn auch bedeutenden europäischen Kultur zu einer historischen Rechtfertigung verhilft.« http://www.spp1173.uni-hd.de/wasistspp.html (2010-03-17). 4 Es scheint »dringend geboten, vor allem eine engere Kooperation zwischen den Fächern zu schaffen, die sich einerseits mit der Welt des lateinischen Christentums befassen, und jenen, die andererseits weitere religiös geprägte ›Großkulturen‹ zum Gegenstand haben: Byzantinistik (bzw. Slawistik oder Osteuropahistorie), Islamwissenschaften und Judaistik.« http:// www.spp1173.uni-hd.de/wasistspp.html (2010-03-17). 5 Selbstredend wären auch weitere europäische Kulturkreise wie der islamische, jüdische oder byzantinische zu berücksichtigen. Dies kann jedoch hier nicht geleistet werden. Zu den unterschiedlichen Schreibweisen der Disziplin Slavistik bzw. Slawistik lässt sich als grobe Richtlinie sagen, dass gemäß dem Duden und im deutschsprachigen Wissenschaftsdiskurs der ehemaligen DDR und Österreichs die Schreibung mit »w« vorgesehen bzw. verbreitet ist, wohingegen im wissenschaftlichen Diskurs der ehemaligen BRD die Schreibung mit »v« bevorzugt wird, weshalb der Autor des vorliegenden Beitrags, der an einem Slavischen Seminar der ehemaligen BRD tätig ist, diese Schreibweise verwendet. 6 Damit greift der apriorische Ausschluss der (ost-)slavischen Kulturen, der im »Lexikon des Mittelalters« unter dem Lemma »Mittelalter« vorgenommen wird, zu kurz: Dieser basiert
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Die Ausgrenzung der orthodoxen slavischen Gebiete, für die der italienische Slavist Riccardo Picchio (1962, 1991) den Terminus Slavia orthodoxa geprägt hat, im Gegensatz zur das lateinische Alphabet benutzenden und römisch zelebrierenden Slavia romana oder Slavia latina, ist auch in der Neuzeit noch wirksam. So stellt Samuel Huntington in seinem »Kampf der Kulturen« (1996) dem modernen westlichen Kulturkreis u. a. den slavisch-orthodoxen gegenüber und konstruiert hiermit in Europa ein Modell dichotomischer Alterität, das aus historischer, philologischer und theologischer Perspektive nicht in dieser undifferenzierten Form gerechtfertigt ist und dessen Entstehung zweifelsohne noch den Nachwirkungen des Kalten Krieges geschuldet ist.7 Auch wenn die Realität Huntington spätestens seit dem EU-Beitritt Bulgariens eingeholt hat, bleibt für den akademischen Diskurs noch das Desiderat der angemessenen Berücksichtigung der Slavia orthodoxa bei der Untersuchung des europäischen Mittelalters.8 Insbesondere aus typologisch-vergleichender, aber auch aus historischer Perspektive lassen sich bei der Untersuchung des lateinischen und des slavisch-orthodoxen Europas Erkenntnis bringende Ergebnisse erzielen und idealerweise allgemeine Tendenzen und Formen, in welchen sich europäische »Mediævalität« manifestiert, destillieren – ohne freilich die in verschiedener Hinsicht konstatierbare slavisch-orthodoxe Alterität grundsätzlich infrage stellen zu wollen. Hierdurch können idealiter sowohl die Wissenschaften, die sich mit der europäischen Latinität auseinandersetzen, als auch die, die kulturelle Phänomene jenseits der Latinität analysieren, profitieren. Und so sollen in diesem Beitrag folgende Fragen angegangen werden: Wie manifestiert sich mittelalterliche Kultur – vor allem sprachlich – in der Slavia orthodoxa? Wo liegen die Unterschiede, wo die Gemeinsamkeiten zur lateinischen Kultur? Handelt es sich um hermetisch abgeschlossene Räume oder finnämlich ohne angemessene Berücksichtigung weiterer Faktoren in einem zirkelschlussähnlichen Verfahren auf der Idee, dass nur diejenigen Kulturen, die »renaissancefähig« seien, mit dem Terminus »Mittelalter« bedacht werden können. Renaissancefähig seien nur Kulturen, in denen der Gebrauch des Lateinischen nie erloschen sei, LexMA, 6, Sp. 685 f. 7 Marti (2009: 151) bringt die in vielen Diskursen virulente Ausgrenzung der Slavia aus dem europäischen Kulturkonzert auf den Punkt. Er leitet zum einen aus dem Titel des Sammelbandes, in welchem sein Beitrag erschien, nämlich »Die Europäizität der Slawia und die Slawizität Europas«, einen Rechtfertigungsdruck der slavischen Kulturen, ihre »Europäizität« nachweisen zu müssen, ab; zum anderen weist er im Umkehrschluss darauf hin, dass analoge Titel wie »Die Europäizität der Romania« kaum denkbar, da tautologisch und damit überflüssig wären. 8 Ähnliches gilt im Übrigen auch für den aktuellen sprachwissenschaftlichen eurolinguistischen Diskurs: Der als Einführung in die Eurolinguistik gedachte »EuroLinguistische Parcours« (Grzega 2006) orientiert sich explizit an Huntington und wendet die sogenannte »kulturanthropologische« Europa-Definition an. Dadurch werden harte sprachliche Grenzen suggeriert – beispielsweise zwischen den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens –, die der Überprüfung durch die Realität nicht standhalten.
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den Kulturkontakt und -transfer statt? Inwieweit können die lateinisch orientierten Disziplinen und die Slavistik voneinander profitieren, voneinander lernen?
2.
Kirchenslavisch – zentrales Medium der Slavia orthodoxa
Der aus philologischer Perspektive zentrale Unterschied zwischen der orthodoxen Slavia und dem lateinischen Rest von Europa im Mittelalter ist die jeweils verwendete Literatur- und Kultursprache. Die Slavia orthodoxa war bis in die frühe Neuzeit vom Kirchenslavischen9 geprägt, wobei die Dominanz des Kirchenslavischen als noch gravierender und umfassender bezeichnet werden muss, als die des Latein im europäischen Westen.10 Denn während sich dort im Verlauf des Mittelalters, der Renaissance, spätestens zur Zeit der Reformation volkssprachliche Idiome neben dem Lateinischen etablieren konnten und somit polyvalente und hoch elaborierte vernakuläre Schriftsprachen entstanden – als Symbole hierfür mögen Dantes Divina Commedia oder die Lutherbibel herhalten –, behielt das Kirchenslavische in der Slavia orthodoxa seine Stellung als alleiniges Medium der sprachlichen und textuellen Kultur bis ins 18. Jahrhundert, dem Jahrhundert, in welchem das Russische als erste slavisch-orthodoxe Sprache, wohlgemerkt unter signifikantem Einfluss des Kirchenslavischen (Sˇachmatov/Shevelov 1960), kodifiziert wurde, seine Vormachtstellung. Diese wurde lediglich regional beschränkt im 16. und 17. Jahrhundert durch die auf 9 Immer wieder, insbesondere außerhalb spezifisch slavistischer Kontexte, tauchen terminologische Verwirrungen auf, was die Bezeichnung der slavisch-orthodoxen Sakralsprache betrifft. Zur terminologischen Klärung sei Folgendes gesagt: Altkirchenslavisch ist die Sprache derjenigen Texte, »die der Sprache Kyrills und Methods am nächsten kommen« (Trunte 2005: 28, zu Konstantin-Kyrill und Method s.u.). Insgesamt existieren etwa 30 Handschriften und ein Dutzend Inschriften, die den Kanon des klassischen Altkirchenslavischen konstituieren. Da die meisten der altkirchenslavischen Denkmäler aus dem bulgarisch-mazedonischen Raum stammen und auch entsprechende sprachliche Charakteristika aufweisen, wird das Altkirchenslavische in älterer Literatur (z. B. Leskien 1969) auch als Altbulgarisch bezeichnet. Als Kirchenslavisch bezeichnet man hingegen die Sprache der etwa 800.000 (Feder 2008: 385) Textzeugen, die in den unterschiedlichen Gebieten der Slavia orthodoxa bis heute erstellt wurden und die die kanonkonstituierenden sprachlichen Merkmale (zu diesen s. Trunte 2005: 28) nicht erfüllen. Es ist also zu differenzieren »zwischen der Korpussprache Altkirchenslavisch und der sakralen Lingua franca Kirchenslavisch« (Stern 2005: 235). 10 Vgl. dazu auch Keipert (1987: 88), der die Geschichte des Vergleichs zwischen Latein und Kirchenslavisch vorwiegend bei slavischen Gelehrten aufarbeitet und feststellt, dass verschiedene Wissenschaftler der Ansicht sind, dass »die Bedeutung des Kirchenslavischen für die slavischen Völker Osteuropas die des Lateinischen im Westen beträchtlich übertreffe, weil das Kirchenslavische den Slaven weit mehr, länger und mit bedeutsameren Folgen gedient habe«.
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Kulturkontakt11 zurückzuführende Entstehung und den Ausbau der vernakulären ruthenischen Schriftsprache12 temporär eingeschränkt. Dabei war das Kirchenslavische ursprünglich nicht als lingua sacra, sondern als, volkssprachliches Idiom, als lingua apostolica13, konzipiert: Auf Bitten des großmährischen Fürsten Rastislav sandte der byzantinische Kaiser Michael III. zwei slavische Gelehrte aus dem Raum von Thessaloniki, Kyrill, weltlich Konstantin, und seinen Bruder Method, im Jahre 863 nach Zentraleuropa, um die dortigen Slaven in ihrer Muttersprache zu missionieren (Tornow 2005: 36 f.). Hierzu schuf Konstantin ein neues Alphabet – wohlgemerkt nicht die Kyrillica, sondern die auf den christlichen Symbolen Kreuz, Kreis und Dreieck aufbauende Glagolica14 – und übersetzte mit Hilfe seines Bruders große Teile der Bibel15 und weitere zentrale religiöse Texte in seinen slavischen Mutterdialekt, der hierdurch schlagartig schriftfähig wurde. Die Mission war von hoher kirchenpolitischer Brisanz, denn mit der Mission durch Slaven – und nicht durch die bairischen Bischöfe – sollte der Einfluss von Byzanz in Zentraleuropa gesichert werden. Doch auch Rom erkannte die Be11 Vgl. dazu die Einführung in Rohdewald/Frick/Wiederkehr (2007) sowie die einzelnen darin enthaltenen Beiträge. 12 Die ruthenische Schriftsprache oder prosta(ja) mova lässt sich folgendermaßen charakterisieren: Sie »ist diejenige hauptsächlich schriftlich verwendete überdialektale Varietät, die in den ostslavischen Gebieten des Großfürstentums Polen-Litauen im 16./17. Jh. von orthodoxer Seite – oder zumindest von Seiten der Kirchen des byzantinischen Ritus – als Reaktion auf die konfessionelle Polemik der Katholiken für die konfessionellen Diskurse entwickelt und ausgebaut wurde« (Rabus 2010: 105 f.). Diese grundsätzlich ostslavische (also in diesem Fall weißrussisch-ukrainische) Varietät wurde durch Entlehnungen aus dem Kirchenslavischen und vor allem aus dem Polnischen ausgebaut. Damit stand den ostkirchlichen Klerikern ein Idiom zur Verfügung, das leichter verständlich als das Kirchenslavische, aber – insbesondere durch die Verwendung der kyrillischen Schrift – weniger katholisch als das Polnische war. Zu soziolinguistischen und strukturellen Aspekten der ruthenischen Schriftsprache vgl. Rabus (2008, insbesondere Kap. 2). 13 Linguae apostolicae sind Sprachen, die der in 1. Korinther 14, 6 – 19 getroffenen Forderung des Apostels Paulus entsprechen, für die Verkündigung eine verständliche Sprache einzusetzen. Im Gegensatz zu den linguae sacrae mit langer literarischer und kultischer Tradition verfügen sie über ein geringeres Maß an Dignität, was bei ihrer Verwendung zu einem gewissen Rechtfertigungsdruck führen kann. Vgl. auch Rabus (2008: 22 ff.). Galabov (1973: 12) sieht ebenso den apostolischen, also verständlichen Aspekt als mitverantwortlich für den Erfolg des Kirchenslavischen: »Die altbulgarische Schriftsprache konnte deswegen bei den Völkern Südost- und Osteuropas eine weite Verbreitung finden, weil sie zur Trägerin einer verständlichen und allgemein zugänglichen Variante der byzantinischen Kultur geworden ist.« 14 Tornow (2005: 106 f.). Während die Glagolica kaum Anlehnungen an bereits vorhandene Schriftsysteme macht, orientiert sich die Kyrillica, durch die die Glagolica weitgehend verdrängt wurde, eindeutig an der griechischen Majuskelschrift. 15 Es ist verbreiteter Konsens, dass die für die Liturgie benötigten biblischen Bücher, beispielsweise die Evangelien, von Konstantin übersetzt wurden. Die Zahl der biblischen Bücher, die Method übersetzt hat, ist jedoch umstritten, vgl. z. B. Weiher (1999).
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mühungen von Konstantin und Method an und gestattete, möglicherweise aufgrund dessen, dass Konstantin die Gebeine des Heiligen Clemens nach Rom brachte (vgl. z. B. Trunte 2004), die Verwendung der slavischen Liturgie. Dass dies nicht selbstverständlich war, geht aus der von Konstantin verfassten Rede gegen die Dreisprachler hervor, die sich gegen die exklusive Verwendung der drei traditionellen linguae sacrae Hebräisch, Griechisch und Latein, derjenigen Sprachen, in denen nach Johannes 20, 19 die Aufschrift am Kreuz Christi verfasst war, richtete.16 Auch die Gefangennahme Methods und seine Verbannung ins Kloster Reichenau nach dem Tode Konstantins (Trunte 2003: 219) zeugen davon, dass das Konzept einer slavischen – zu dieser Zeit wie erwähnt noch volkssprachlich aufgefassten – Liturgiesprache alles andere als unumstritten war. Insofern nimmt es nicht wunder, dass die großmährische Mission schlussendlich scheiterte und die Schüler der Brüder ins bulgarische Reich fliehen mussten. Dort allerdings entwickelte sich im 10. Jahrhundert eine – vorwiegend durch Übersetzungen aus dem Griechischen geprägte – Schriftkultur, die neben hagiographischer Literatur u. a. auch patristische enthielt und die Literaturfähigkeit des Kirchenslavischen bis in die elaboriertesten Genres bewies (Trunte 2003: 230 ff.). Aus Bulgarien wurde nach der Christianisierung der Kiever Rus’ 988 zusammen mit Gelehrten und Büchern auch das Kirchenslavische als Literatursprache importiert (Tornow 2005: 39) und erlebte dort, auf ostslavischem Boden, in homiletischen, historiographischen, später auch lyrischen und epischen Gattungen eine neue Blüte. Die beiden genannten Zentren – das balkanslavische, hierin eingeschlossen auch der Athos mit seinen slavischen Klöstern, und das ostslavische – zeichneten sich durch einen regen kulturellen Transfer aus und wechselten sich bis in die Neuzeit mit der kulturellen Vorreiterrolle innerhalb der Slavia orthodoxa ab, die sich durch die Qualität und Intensität der Textproduktion im seit dem Hochmittelalter als lingua sacra fungierenden Kirchenslavischen manifestiert.17
16 Vgl. zur sogenannten Dreisprachendoktrin im slavistischen Kontext auch Buncˇic´ (2006: 138) und die dort zitierte Literatur. 17 Zur Geschichte des Kirchenslavischen bis in die Jetztzeit vgl. Trunte (2001) und Mathiesen (1984).
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3.
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Latinität und Slavia orthodoxa: Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Zwischen dem lateinischen und dem kirchenslavischen Raum bestehen vielfältige typologische Gemeinsamkeiten, deren Kenntnis es ermöglichen kann, universelle kulturelle Konstanten zu erkennen und von der Fixierung auf bestimmte konkrete Träger dieser kulturellen Entwicklungen zu abstrahieren. So ist beispielsweise das ursprünglich am Latein entwickelte Konzept der dignitas einer lingua sacra18, die durch Bücherrevision und Normierung wiederhergestellt respektive bestätigt werden muss, sowohl im lateinischen als auch im slavisch-orthodoxen Kulturdiskurs eine mehrmals wiederkehrende Konstante. Für die Restauration, Kodifikation und Reformierung des Lateins bzw. lateinischer Texte sind die Bemühungen im Zuge der karolingischen Renaissance (z. B. Langosch 1990: 48 ff.) sowie die Reformbemühungen der Humanisten (Tunberg 1996) zu nennen. Ähnliche Prozesse in Bezug auf das Kirchenslavische waren die Bücherrevision im Umfeld der Schule von Ta˘rnovo im Bulgarien des 14. Jahrhunderts (Trunte 2001: 213 ff.), deren Übernahme im sogenannten Zweiten Südslavischen Einfluss in der Moskauer Rus’ gegen Ende des 14. Jahrhunderts (z. B. Uspenskij 2002: 269 ff.) oder aber der Dritte Südslavische Einfluss, der eine Normierung und Kodifizierung des Kirchenslavischen nach quasi-humanistischem Muster darstellte (Trunte 2001, Kap. 29, Rabus 2008: 13 f.). Weiterhin ähneln sich das Mittellateinische und das Kirchenslavische darin, dass sie als überregionale Schrift- und Kultursprachen die unterschiedlichsten Regionen und die darin verbreiteten volkssprachlichen Varietäten überdachten. Dies führte entweder zu Hybridisierungserscheinungen durch volkssprachliche Interferenzen in der Hochsprache (Stotz 2002: 125 ff.) – orthographische Fehler, hyperkorrekte Formen, volkssprachliche Lexeme etc. – oder aber – bei exoglossischer Diglossie (vgl. Auer 2005), also der Situation, dass die High Variety im Sinne von Ferguson (1959) keine nahe genetische Verwandtschaft mit der Low Variety aufweist – durch künstliche Konservierung der Hochsprache, wie im lateinischen Fall in Irland (Stotz 2002: 109). Die volkssprachlichen Interferenzen führen dazu, dass man – in mittellateinischer Terminologie – von unterschiedlichen Varietäten des Lateins in verschiedenen »Sprachlandschaften« (Schmitt 2000: 1063, Stotz 2002: 76) oder – in slavistischer Terminologie – von 18 Der Begriff der dignitas im sprachlichen Kontext geht auf die Questione della lingua der italienischen Renaissance zurück. Im Zentrum der Debatte stand die Opposition der Volkssprache zum Latein. »Dignitas referred to the cultural acceptability of a linguistic medium, its ability to serve as a language for church, society, or literature« (Frick 1985: 25). Für weitergehende Informationen über die Questione della lingua s. die dort zitierte Literatur.
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kirchenslavischen »Redaktionen«19 sprechen kann. Die systematisch erfolgten Schreibungen, die aus etymologischer Perspektive als Fehler zu klassifizieren sind, führen dazu, dass man hier wie dort Texte zeitlich und lokal bestimmen sowie bestimmte Schreib- und Überlieferungstraditionen ausmachen kann.20 Auch verschlossen sich die Gelehrten der slavischen Orthodoxie – obschon das Primat des Griechischen nicht zu leugnen ist – keinesfalls vor der lateinischen Kultur und Sprache. Hiervon geben rege Übersetzungstätigkeiten aus dem Lateinischen ins Kirchenslavische, beispielsweise um den Kreis des Novgoroder Erzbischofs Gennadij im 15. Jahrhundert, beredtes Zeugnis. Es lässt sich also hier Kontakt und textueller Transfer zwischen dem lateinischen und dem slavisch-orthodoxen Kulturkreis konstatieren – wenn auch vorwiegend in der Richtung von West nach Ost.21 Eine ganz neue Vorstellung von Latinität, die von der Verwendung des lateinischen Alphabets abgekoppelt ist, lässt sich anhand einer in Novgorod angefertigten kyrillischen Transliteration des lateinischen Psalters erlangen. Der Beginn des 1. Psalms lautet hier folgendermaßen (bzw. sieht folgendermaßen aus): … (»Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen…« [Luther], vgl. Tomelleri 2005: 30). Es wird also der bekannte Vulgata-Text – unter Beibehaltung kirchenslavischer orthographischer Spezifika wie der Setzung der Grapheme für die ehemals reduzierten Vokale und am Wortende – mit kyrillischen Buchstaben wiedergegeben, der lateinische Text wird also gleichsam orthographisch ›ostkirchlifiziert‹.22 Eine Kooperation von Vertretern der Mediolatinistik und Slavistik auf diesem Gebiet – und nicht nur auf diesem, sondern auch beispielsweise bei der Analyse der kirchenslavischen Übersetzung der Ars minor von Donatus (Tomelleri 2002) – wäre außerordentlich wünschenswert. Bedauerlich ist in diesem Zusammen19 Zu den Kirchenslavisch-Redaktionen s. Mathiesen (1984) und Trunte (2001). Die genaue Anzahl und Abgrenzung der Redaktionen ist, wie man aus der Diskrepanz der Klassifikationen in den beiden genannten Beiträgen erkennen kann, umstritten. 20 Die Überdachung unterschiedlicher Gebiete und die damit einhergehende kulturelle Dominanz des Kirchenslavischen beziehungsweise Lateinischen hatte zur Auswirkung, dass die jeweiligen überdachten Volkssprachen bis heute insbesondere im Bereich der Fachterminologie stark vom Kirchenslavischen bzw. Lateinischen geprägt sind. 21 Zu ansatzweisem Transfer von Ost nach West in bestimmten Gattungen und Domänen s. Rabus (2009a). 22 Die Transliteration ursprünglich in der Latinica verfasster Texte in die Kyrillica ist kein exzeptionelles Phänomen, das sich ausschließlich auf lateinischsprachige Ausgangstexte beschränkt. Auch volkssprachliche Ausgangstexte wurden ›kyrillifiziert‹, teilweise wohl deshalb, weil die Adressaten das lateinische Alphabet nicht lesen konnten. So findet sich auf einer Moskauer Handschrift aus dem Jahre 1676, die polnische paraliturgische Lieder in kyrillischer Transliteration enthält, der Vermerk […] tak psano grubo dla tego / coby rozumieł kozˇdy rusk człowek (»es ist deshalb so grob geschrieben, dass es jeder ruthenische Mensch verstehe«), zitiert nach Rothe (2007: 84).
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hang, dass offensichtlich die partielle, sich aus den genannten Transfererscheinungen speisende Latinität der Slavia orthodoxa unter vorwiegend lateinisch orientierten Mediävisten kaum bekannt ist. Wie sonst könnte Bertau (2005: 563) selbstverständlich und expressis verbis annehmen, dass die Gennadij-Bibel von 1499, die erste kirchenslavische Vollbibel, aus dem Griechischen ins Kirchenslavische – nicht ins Altkirchenslavische, wie ebenda behauptet (vgl. zur Differenzierung von Altkirchenslavisch und Kirchenslavisch FN 9) – übersetzt sei? Die Vorlage der Novgoroder Gelehrten um Gennadij war jedoch für die apokryphen oder deuterokanonischen Bücher, die noch nicht in der slavischen Tradition vorhanden waren23, die Vulgata (vgl. z. B. Rabus 2009b: 253). Die Parallelsetzung des mittelalterlichen Lateinischen mit dem Kirchenslavischen hat jedoch ihre Grenzen.24 So kann das Kirchenslavische nicht wie das Lateinische auf eine lange und fruchtbare vor-mittelalterliche literarische Tradition zurückblicken. Auch haben nicht alle Gattungen, Textsorten und Register, in denen das mittelalterliche Lateinische in elaborierter Weise Verwendung fand, ihr kirchenslavisches Pendant. Dies gilt beispielsweise für die weltliche Liebeslyrik oder das Kanzleiwesen (vgl. Issatschenko 1980: 80), mit Abstrichen auch für die Epistolarliteratur. Weiterhin ist eine gewisse Ungleichzeitigkeit zu konstatieren: Typologisch ähnliche oder identische Vorgänge spielten sich im lateinisch dominierten Raum häufig mehrere Jahrhunderte früher ab als im kirchenslavischen, so dass das slavische Mittelalter und damit die Dominanz des Kirchenslavischen sich bis zu den Reformen Peters des Großen um 1700 erstreckt. Dennoch lassen sich, ausgehend von den oben angeführten Beispielen, die folgenden Thesen aufstellen: Slavia orthodoxa und lateinisches Mittelalter ergänzen sich, es wirkten ähnliche Mechanismen und es bestand Kontakt zwischen diesen beiden mittelalterlichen Kulturregionen. Daraus folgt, dass für das Verständnis europäischer mittelalterlicher Phänomene Expertise in beiden Bereichen hilfreich ist.
23 Ein Großteil der biblischen Bücher wurde, wie erwähnt, bereits von Kyrill und Method im 9. Jahrhundert aus dem Griechischen ins Altkirchenslavische übersetzt. Dieser Textbestand wurde in einem komplexen Prozess in den verschiedenen kirchenslavischen Redaktionen tradiert und redigiert. Vgl. hierzu z. B. Alekseev (1999). 24 Vgl. differenziert Keipert (1987), der mit Wandruszka zu dem Ergebnis kommt, dass Kirchenslavisch und Latein »vergleichbar und unvergleichlich« (108) seien.
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Akademische Begegnungen
Nachdem festgestellt wurde, dass neben verschiedenen Unterschieden auch offensichtliche Gemeinsamkeiten zwischen der Slavia orthodoxa und dem lateinischen Mittelalter bestehen, ist danach zu fragen, inwieweit die akademischen Disziplinen, die sich mit den jeweiligen Kulturräumen auseinandersetzen, voneinander profitieren können. Aus slavistischer Perspektive lässt sich sagen, dass diejenigen mediävistischen Disziplinen, die sich mit dem lateinischen Mittelalter auseinandersetzen, häufig methodisch avancierter und auch vielfältiger arbeiten. So sind Diskurse wie die der »New Philology« (z. B. programmatisch Cerquiglini 1989 sowie das »Speculum«-Sonderheft 1990, vgl. neuerdings auch Nemes 2010, insbesondere S. 67 – 89) und die von ihnen initiierten Weiter- und Gegenentwicklungen mit all ihren Konsequenzen für Werk-, Text- oder Autorenverständnis ebenso wie für die Editionsphilologie in der slavistischen Mediävistik nur ansatzweise und nicht flächendeckend reflektiert worden. Hier könnte der akademische Wissenstransfer von den Disziplinen, die diese Entwicklungen vorangetrieben haben, auf die Slavistik von Nutzen sein, nicht zuletzt auch bei ganz konkreten editionsphilologischen Fragen. Auch im Bereich der Infrastruktur besteht für die Slavistik im Vergleich zu anderen Disziplinen gewisser Nachholbedarf, wobei die unterschiedliche lexikographische Aufarbeitung und die ungleich bessere Erschließung des lateinischen Mittelalters durch Hand- und Lehrbücher wohl auch auf unterschiedlich verteilte Ressourcen zurückzuführen ist. Was die digitale Erschließung der jeweiligen Sachgebiete angeht, ist ebenfalls ein deutlicher Vorteil der ›westlichen‹ Philologien zu konstatieren. Portale wie www.manuscripta-mediaevalia.de sucht man in der Slavistik vergeblich, lediglich spezialisierte Ansätze zur digitalen Erschließung slavisch-orthodoxer Ressourcen sind zu erkennen (z. B. www.manuscripts.ru). Für akademischen Transfer in umgekehrter Richtung gibt es ebenfalls gewisse Ansatzpunkte. Zuvorderst bietet sich die generelle Tatsache an, dass das slavisch-orthodoxe Mittelalter wie erläutert in verschiedener Hinsicht mit dem lateinischen vergleichbar ist. Die Erkenntnis dieser Tatsache könnte dazu führen, verschiedene aus westlicher Perspektive als gegeben betrachtete Phänomene differenzierter und vor dem Hintergrund ihrer Nicht-Exzeptionalität zu betrachten.
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Fazit
Die oben gemachten Ausführungen zeigen, dass das europäische Mittelalter nicht ausschließlich lateinisch zu definieren ist. Zwar muss man sich bei der Beschäftigung mit dem europäischen Mittelalter, gleichgültig mit welchen disziplinären Prämissen, permanent des Spannungsfeldes zwischen Hoch- und Volkssprache bewusst sein, allerdings ist das Lateinische eben nicht die exklusive Hochsprache des mittelalterlichen Europas, auch wenn so manche universitäre mediävistische Disziplin ausschließlich mit diesem konfrontiert ist. Mit dem Kirchenslavischen gibt es in großen Gebieten Europas, die schicksalshaft seit dem frühen Mittelalter bis in die Neuzeit mit dem lateinischen Kulturkreis in Kontakt sind, eine weitere Hochsprache, die in vielerlei Hinsicht mit dem Lateinischen vergleichbar ist. Das Sich-Vergegenwärtigen, dass das Latein nicht als einzige europäische Hochsprache des Mittelalters zu werten ist, kann als hilfreiches Korrektiv, beispielsweise beim Hinterfragen scheinbar singulärer Erscheinungen, dienen. Es bleibt somit zu hoffen, dass im Zuge der aktuellen Entwicklungen in der deutschen Forschungs- und Lehrlandschaft hin zu mehr Inter- und Transdisziplinarität die Chance der Überwindung des immer noch häufig zu beklagenden gegenseitigen Ignorierens ergriffen wird, so dass in Zukunft ein für alle Seiten fruchtbares und Erkenntnis bringendes Miteinander möglich wird.
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Andreas Bihrer
Konstellationen – Funktionalisierungen – Wirkungen. Ein Plädoyer für eine kommunikationsgeschichtliche Ausweitung des Kulturtransferkonzepts
Die Beschäftigung mit Kulturkontakten ist in der Geschichtswissenschaft momentan in Mode, dies gilt ebenso für die interdisziplinäre Mediävistik. Für die Mittelalterforschung kann das Aufkommen dieses Themas um das Jahr 2000 datiert werden, auch wenn in den um die Jahrtausendwende entstandenen programmatischen Aufsätzen zu zukünftigen Forschungsfeldern die Kulturkontaktforschung nicht oder nur am Rande erwähnt und nie als Desiderat vermerkt wurde.1 Bei einem für die Mediävistik so jungen Thema kann es nicht verwundern, dass die bisherigen Ergebnisse der auf Einzelfälle bezogenen Untersuchungen noch nicht systematisiert wurden. In neueren Sammelbänden zu diesem Thema, in aktuellen Fallstudien, auch in einem Erlanger Graduiertenkolleg mit dem Namen »Kulturtransfer im europäischen Mittelalter« oder dem DFG-Schwerpunktprogramm 1173 »Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter« standen und stehen zwei Perspektiven im Mittelpunkt des Interesses: zum einen die regionale Ausweitung des Untersuchungsgegenstands, so um die mittelalterliche Geschichte und Kultur an den Rändern Europas, Afrikas, vor allem aber Asiens, und zum anderen eine kulturvergleichende Herangehensweise, mit der Wechselwirkungen zwischen Christentum, Judentum und Islam analysiert werden. Eine methodische Diskussion hingegen, wie die bearbeiteten Beziehungen kategorisiert werden 1 Keine Erwähnung finden die Kulturkontaktforschung oder verwandte Ansätze und Themen bei Borgolte (1995), Goetz (1999) oder Heinzle (1994); in anderen Forschungsübersichten werden lediglich benachbarte Felder erwähnt, so in Goetz (2000) die Themen Fernreisen (vgl. Reichert 2000), in Goetz & Jarnut (2003) der historische Vergleich (vgl. Borgolte 2003) oder in einem Sammelband zur deutsch-französischen Mittelalterforschung Raumtheorien (vgl. Bourin 2002 und Schmidt 2002). In Forschungsrückblicken des »Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte« werden an den um das Jahr 2000 virulenten Themen neben der Raumforschung der »Europaaspekt«, vgl. Weinfurter (2008: 33), bzw. »neue Modelle einer europäischen Geschichte«, vgl. Johanek (2005: 173), genannt; vgl. auch ebd.: »Hier findet in der Tat ein Aufbruch zu neuen Ufern statt.« Die angelsächsische Mediävistik nahm sich dieses Themas vor allem aus postkolonialer Perspektive an, vgl. Holsinger (2002), Ingham/Warren (2003) und Kabir/Williams (2005).
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könnten und mit welchem Instrumentarium die Begegnungen und Austauschprozesse untersucht werden sollten, steht für die Mediävistik noch weitgehend aus.2 Die Mittelalterforschung hat bislang vor allem zwei Theorieangebote adaptiert, die Akkulturations- und die Kulturtransferforschung. Insbesondere in Studien zur Spätantike und zum Frühmittelalter wurde auf das ursprünglich ethnologische Konzept der Akkulturation zurückgegriffen, ohne es allerdings methodisch weiterzuentwickeln.3 Die ältere, vor allem politikwissenschaftlich geprägte Beschäftigung mit Beziehungen erhielt so gleichwohl eine wichtige Ergänzung. Zudem darf die vor allem in der Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelte Akkulturationstheorie als Ausgangspunkt der modernen Kulturkontaktforschung verstanden werden, denn bei dieser Herangehensweise stehen die Begegnungen im Mittelpunkt.4 Der Kulturtransferansatz wurde ab den 1980er Jahren vor allem für die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich seit dem 18. Jahrhundert entwickelt und ist inzwischen zu einem der Leitkonzepte der Geschichtswissenschaft aufgestiegen.5 Allerdings existieren bislang noch wenige Anwendungsbeispiele aus dem Bereich der Mediävistik.6 Die bisherige Mittelalterforschung hat zwar den Begriff und Anregungen des Konzepts übernommen, aber es wurde nur von wenigen Mediävisten konzeptionell weiterentwickelt.7
2 Für das Zeitalter des Humanismus liegen bislang zwei wichtigste methodische Fortentwicklungen des Kulturtransferkonzepts vor, vgl. Helmrath (2002) und Schlelein (2010). 3 Vgl. z. B. den Sammelband zu Germanen und Romanen in Spätantike und frühem Mittelalter, der unter dem programmatischen Titel »Akkulturation« steht, ohne dass im Vorwort deutlich gemacht wird, in welcher Form das Theorieangebot angewendet oder modifiziert wird, vgl. Hägermann/Haubrichs/Jarnut (2004). 4 Einflussreich war vor allem die 1936 erstmals gedruckte programmatische Studie des Ethnologen Melville J. Herskovits, zu diesen Grundpositionen vgl. Herskovits (1958: 131 – 136); zu Weiterentwicklungen vgl. Rudolph (1964) oder Teske/Nelson (1974) und zur wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung vgl. Gotter (2000: 385 – 386), der zu Recht auf die Fortschreibungen der 1950er Jahre verweist, die der späteren Kulturtransferforschung durchaus ähnlich sind. 5 Überblicke zur Forschungsgeschichte des Kulturtransferansatzes bei Eisenberg (2003: 402 – 406), Middell (2000a: 7 – 18), Middell (2000b: 17 – 29), Middell (2001: 16 – 35), Patel (2003: 631 – 638), Paulmann (1998: 673 – 681) und Schriewer (2003: 39 – 42), die Grundpositionen wurden erstmals vorgestellt in Espagne/Werner (1985). 6 Zu den wenigen Beispielen für eine mediävistische Kulturtransferforschung vgl. Marchal (2006: 570 – 572) und Schmale (2003: 47). Bislang liegen vor allem Sammelbände mit Spezialstudien vor, vgl. Mostert (2001) und Paravicini (1998). Oftmals erscheint das Wort »Kulturtransfer« zwar im Titel, aber der Ansatz wird nicht benutzt, vgl. z. B. bei Gassert (2001). Zu Anwendungsmöglichkeiten in der Geschichte der Frühen Neuzeit vgl. Eßer (2003), Externbrink (2003), Fuchs/Trakulhun (2003) oder Schmale (2003). 7 Die Versuche, ältere Epochen mit dem Kulturtransferkonzept zu untersuchen, »weisen ein gewisses Theoriedefizit auf«, so Schmale (2003: 47), vgl. auch ebd.: »Die Ausdehnung der
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Im folgenden Beitrag soll ein Vorschlag gemacht werden, wie das Kulturtransferkonzept um eine kommunikationsgeschichtliche Dimension erweitert werden kann. Dabei werden drei Blickrichtungen miteinander verbunden: In einem ersten Schritt wird diskutiert, wie Kontakt- und Austauschkonstellationen um eine neue Kategorie ergänzt werden können. Anschließend wird nach der argumentativen Nutzung der Begegnungen und Transfers gefragt und damit nach dem kommunikativen Handlungsraum der Akteure. Schließlich wird ein kurzer Blick auf die Wirkungsebenen von Kontakten und Transfers gerichtet. Mit dieser multiperspektivischen Versuchsanordnung soll eine kulturwissenschaftlich orientierte Herangehensweise an das Thema der Kulturkontakte im Mittelalter vorgeschlagen werden, die über die historisch ausgerichtete Mediävistik hinaus anwendbar ist.8
1.
Konstellationen
Eine zeitgenössische Reflexion über die Distanz von Beziehungen im Mittelalter findet sich im Prolog der Schrift Phrenesis, die Rather von Verona zwischen April 955 und Mai 956 in Mainz verfasste. Bei seiner Auseinandersetzung mit dem Thema Neid unterscheidet er zwischen freundschaftlichen und nachbarschaftlichen Beziehungen auf der einen Seite und Fernbeziehungen auf der anderen Seite, die er anhand von Verbindungen von Völkern im Westen und Osten veranschaulicht: Quia enim testante scriptura invidia hominis ad amicum et proximum sibi, vere non etiam Indus Britanno aut Francus invidet Partho […] (»Weil nämlich nach dem Zeugnis der Bibel der Neid des Menschen auf den Freund und dem ihm nächsten gerichtet ist, in Wirklichkeit aber nicht der Inder den Britannier oder der Franke den Parther beneidet […]«, Briefe Rathers von Verona 1949: Nr. 11). Auch bei der modernen Beschreibung der Außenbeziehungen von Gruppen, Nationen oder Gesellschaften hat sich die Geschichtswissenschaft bislang vor allem mit deren Verhältnis zu ihren Nachbarn oder mit Fernbeziehungen zu anderen Kulturen bzw. zum gänzlich Anderen beschäftigt, in der Mediävistik zu heidnischen und zu nicht-europäischen Kulturen. Es soll im Folgenden aber bewusst eine Versuchsanordnung diskutiert werden, die zum einen gerade nicht einen permanenten intensiven Kontakt beschreibt und die sich zum anderen nicht mit den im Moment häufig untersuchten KonfliktsiKulturtransferforschung auf das Mittelalter ist zwar eingeleitet, aber konzeptionell offenbar noch nicht ausgereift.« 8 Das im Folgenden vorgestellte Theorieangebot wurde am Beispiel der Beziehungen zwischen England und dem Reich im Frühmittelalter entwickelt, vgl. Bihrer (2007), Bihrer (2010a) und Bihrer (2010b); dort finden sich auch umfassende Literaturangaben zu älteren und neueren Methoden der Beziehungs- und Transferforschung sowie eine Diskussion weiterer Ansätze.
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tuationen beschäftigt9, sondern die eine lange Dauer mit wechselnden Konstellationen und variierenden Graden der Annäherung und Entfremdung in den Blick nimmt. Dabei verzerren weder eine unüberschaubare Quellenflut (wie bei einer engen, insbesondere nachbarschaftlichen Beziehung) noch eine lediglich punktuelle und auf wenige Trägerschichten oder gar Personen reduzierte Überlieferung die Untersuchungsperspektive. Deshalb wird hier vorgeschlagen, die Kategorie einer Beziehung ›mittlerer Entfernung‹ einzuführen, die sich von den Konstellationen eines nachbarschaftlichen Verhältnisses oder einer Fernbeziehung bzw. einer Verbindung zum gänzlich Anderen unterscheidet.10 Die hier zur Diskussion gestellte Definition einer Beziehung ›mittlerer Distanz‹ kann sich auf die Häufigkeit der Kontakte beziehen oder den Umfang des gegenseitigen Einflusses meinen, sie kann auch auf eine geographische Entfernung Bezug nehmen. Allerdings ist mit der räumlichen Distanz keine notwendige Bedingung gegeben, entscheidend ist vielmehr die Frequenz der Kontakte und die Entfernung auf gedanklicher Ebene, also die Wahrnehmung und Einordnung des Anderen. Zu diesem Gegenüber kann man, muss man aber nicht in Kontakt treten; dieser Andere kann in den Diskurs eingeführt werden, er muss aber nicht bedacht werden. Dabei ist zu bedenken, dass sich Beziehungen, die nicht ausschließlich geographisch, sondern über die Kontaktfrequenz und die Wahrnehmung historischer Akteure definiert werden, auch ändern konnten, also nicht immer zum Beispiel Beziehungen mittlerer Distanz blieben. Beziehungen mittlerer Entfernung sind von solchen zu direkten Nachbarn zu unterscheiden, da bei letzteren festere Bilder vom Nachbarn existieren, sei es wegen einer Fokussierung auf diesen, aufgrund guter Kenntnis des Anderen oder zur Reduzierung von Komplexität beim regelmäßigen Umgang. Desgleichen bestehen solche festen Bilder vom Anderen bei Beziehungen großer Entfernung und zum gänzlich Anderen, hier jedoch, weil nur wenige oder keine Kontakte stattfinden und der Grad der gegenseitigen Beeinflussung relativ gering ist. Zudem existiert bei solchen Verhältnissen meist eine klare Trennung, die in stabilen Feindbildern, seltener in festen Vorstellungen vom exotischen Fremden fixiert werden. Entscheidend dabei ist, dass mit der Kategorie der mittleren Distanz kein abgeschlossener dritter Bereich, kein fester dritter Pol und keine statische Mitte
9 Vgl. hierzu Borgolte (2008). 10 In der modernen Forschung finden sich selten Reflexionen über die Distanz einer Konstellation, am ehesten wird noch zwischen Nachbar und dem gänzlich Anderen differenziert; ein Plädoyer für eine Unterscheidung zwischen Nah- und Ferntransfer, da diese eine unterschiedliche Struktur aufweisen, findet sich bei Osterhammel (2003: 450).
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zwischen Nähe und Ferne eingeführt werden soll.11 Vielmehr ist die mittlere Entfernung als ein Kontinuum zwischen den beiden Polen Nähe und Ferne zu denken, auf dem durch neue Begegnungen, den Umgang mit diesen Beziehungen und das Vergessen eine dauernde Verschiebung auf einer Skala möglich ist.12 Allerdings, und das ist auschlaggebend, kann diese Verschiebung nie bis zu einem der Endpunkte der Skala reichen, also nie bis zur Nachbarschaft oder zur gänzlichen Fremdheit. Die mittlere Distanz ist ein Zwischenbereich, der von großer Dynamik und beachtlicher Beweglichkeit gekennzeichnet ist, da die Bilder vom Anderen weniger stark fixiert sind. Somit ist die mittlere Entfernung eine dazwischenliegende Position, die dynamisch veränderbar ist und sich durch ein beständiges Oszillieren zwischen dem Status eines Nachbarn und dem eines gänzlich Anderen auszeichnet.
2.
Funktionalisierungen
Welche Möglichkeiten und Potentiale, aber auch Grenzen besaß der Umgang mit dem Anderen in einer Beziehung ›mittlerer Distanz‹? Es geht im Folgenden also um den Gebrauch von Beziehungen und um deren Funktionalisierung und Instrumentalisierung durch historische Akteure wie Individuen, Gruppen oder Institutionen. Damit richtet sich der Blick auf die Logik der Akteure bei Kulturkontakten, deren Habitus und die zeittypische kulturelle Praxis bei Begegnungen. Hierbei sind vielfache Variationen möglich: Die Beweggründe von Akteuren waren immer punktuell auf bestimmte Bereiche gerichtet, konnten desgleichen aber einer großen Variation unterliegen. Bei Begegnungen verfolgten die Kontaktpersonen oftmals unterschiedliche Ziele, sodass von Asymmetrien der Absichten auszugehen ist. Zudem existierten kurzfristig angelegte Interessen neben längerfristigen Konzeptionen. Daneben standen den intendiert verfolgten Zielen absichtslose Transfers und ungeplante Ergebnisse von Kontakten gegenüber, außerdem ist an Verweigerung und Desinteresse zu denken. Eine entscheidende Grundannahme ist schließlich, dass es keine objektive Wahrnehmung des Anderen gibt, die am Beginn einer Begegnung steht, sondern dass die Interessen der Akteure die gegenseitige Perzeption steuern. So hängt es immer von den jeweiligen Absichten ab, wie man den Anderen einschätzt, die Begegnung bewertet und die Folgen des Kontakts deutet.13 11 Dieses dynamische Verständnis unterscheidet sich von älteren Bestimmungen des Dritten, vgl. z. B. Fischer (2000). 12 Bereits Osterhammel (2003: 442) forderte, dass bei Transferanalysen Nähe und Ferne als »gleitende Skala räumlicher und struktureller Distanz« verwendet werden sollten. 13 Bei seiner Untersuchung zu Fremdbildern und Fremdwahrnehmung der Nachbarn Deutschland und Frankreich ab der Mitte des 12. Jahrhunderts und vor allem im 13. Jahr-
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Bei einem solchen Vorgehen wird somit eine kommunikationsgeschichtliche Fragestellung verfolgt, denn im Zentrum der Analyse stehen die Sichtweisen, Reflexionen und vor allem die Argumente der Akteure, also der performative Umgang mit der Beziehung mittlerer Distanz. Den Ausgangspunkt bildet die Beschreibung des Arsenals an Beweisführungen. Es wird nach dem Einsatz von Argumenten, nach Strategien und Dramaturgien beim Aufbau von Begründungszusammenhängen, beim Aufstellen von Systemen, Hierarchien und Merkmalsketten und beim Ordnen von Vielfalt gefragt. Wichtig ist es zu erfassen, an welchen Deutungsvorgaben sich die Akteure orientierten und welche sinnstiftenden Praktiken sie benutzten, um die eigene Deutungshoheit herauszustreichen, mit der sie ihre Ziele verfolgen wollten. Es sollte hierbei weiterhin herausgearbeitet werden, in welchen Gebrauchszusammenhängen die Argumente verwendet, aus welchen Kontexten sie gelöst und in welche neuen Umgebungen sie eingebracht wurden. Entscheidend ist dabei, dass ihre Auswahl sowie die Art ihrer Aneignung und Nutzung immer als interessensabhängig verstanden wird, weshalb sie in ihren jeweiligen Zusammenhang eingeordnet werden müssen. Was sind die Besonderheiten bei der argumentativen Nutzung einer Beziehung mittlerer Distanz? Verhältnisse mittlerer Entfernung können nie zentral bei Argumentationen oder Identitätskonstruktionen sein, da sie im Gegensatz zu nachbarschaftlichen Beziehungen nur wenige Akteure betreffen und weil keine permanenten Kontakte stattfinden, weswegen der Andere nicht dauernd präsent ist. Anders als bei einem nachbarschaftlichen Verhältnis oder bei Fernbeziehungen bzw. bei Verbindungen zum gänzlich Anderen sind Vorstellungen vom Gegenüber mittlerer Distanz nicht als weitgehend feste Muster fixiert und damit klar abgegrenzt, sei es als Feindbild oder als das attraktive Fremde. Beziehungen mittlerer Entfernung – so die These – zeichnen sich demgegenüber zum einen durch eine größere Instabilität, zum anderen durch eine größere Variabilität aus; sie sind offener, freier nutzbar, leichter formbar und unterliegen so einer größeren Dynamik. Der Grund für die beiden Eigenschaften Variabilität und Instabilität ist die Möglichkeit, sich variabel zwischen den beiden stabilen Polen Nachbar und gänzlich Fremder zu bewegen; zugleich sind Argumente und Bilder nicht an einen der beiden Pole andockbar und bleiben damit instabil. Durch eine Bezugnahme auf eine Beziehung mittlerer Distanz kann man die eigenen Interessen argumentativ veranschaulichen, unterstreichen, präzisieren hundert arbeitete Jostkleigrewe (2008: 391) als ein zentrales Ergebnis seiner Arbeit heraus, »wie gering der Spielraum für eine bewußte und gezielte Formung der betreffenden Vorstellungen vielfach ist«; vgl. auch ebd.: »Sie [die Fremdbilder] können nicht ohne weiteres umgeformt und nach Gutdünken bestimmten Interessen dienstbar gemacht werden.« Zu Skandinavien vgl. zuletzt mit ähnlichen Ergebnissen Foerster (2009), Fraesdorff (2005) oder Scior (2002).
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oder differenzieren sowie Standpunkte und Deutungsschemata unterlaufen, verschieben und verändern. Wenn auch nicht als maßgebliche Argumentationslinie verwendbar, so kann die diskursive Inanspruchnahme von Beziehungen mittlerer Distanz in manchen Fällen dennoch den wichtigsten Aspekt ansprechen, zum entscheidenden Argument werden, das für die Überzeugung des Gegenübers ausschlaggebend ist und so besonders wirkungsmächtig sein kann. Die Nutzung von Beziehungen mittlerer Entfernung ist also aufgrund ihrer Variabilität einerseits sehr attraktiv, aufgrund ihrer Instabilität, ihrer schwierigen Festschreibung und mühevollen Aufrechterhaltung andererseits aber problematisch. Somit stehen bei diesem Ansatz die Intentionen und Interessen der historischen Akteure, ihre argumentative Nutzung der Kontakte, die Dramaturgie und narrative Struktur ihrer Kommunikationsstrategien, ihre medialen Repräsentationen und Inszenierungen sowie die diskursiv geschaffenen Produkte im Mittelpunkt. Das Kulturtransferkonzept rückt Vermittlerpersönlichkeiten, die Empfängerkultur und den Umgang mit den Transfergütern in den Fokus. Man sollte aber von einem erweiterten Transferbegriff ausgehen, der um eine kommunikationshistorische Perspektive ergänzt werden muss. Mit der Untersuchung von Strategien und Praktiken der Entkoppelung und Implementierung argumentativer Strukturen in neue Diskursordnungen, mit denen Erfahrungen von Begegnungen sowie tatsächliches oder vermeintlichen Wissen über den Anderen argumentativ genutzt werden, können dann die Konstruktionen von umfassenderen Vergemeinschaftungsformen angemessener erklärt werden.
3.
Wirkungen
Der Glaube an die Homogenität der eigenen Kultur oder der eigenen Gruppe bildet meist den Ausgangspunkt von Begegnungen. Bei Kontakten mit Anderen wird verglichen und auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten geachtet. Besonders prägend ist dabei die Fremdheitserfahrung, die eine Herausforderung für das eigene Homogenitätsgefühl und die eigene Identität darstellt und damit oftmals eine Reflexion über das Selbst und das Fremde auslöst. Begegnungen haben folglich ›Verfremdungseffekte‹, sie erlauben oder erfordern neue Sichtweisen auf sich und den Anderen; durch Begegnungen und Transfers verändern sich immer beide Seiten. Bei einem kommunikationshistorisch ausgerichteten Kulturtransferkonzept wird der diskursiven Reflexion über die Begegnungen eine wichtige Rolle zugemessen. Es geht dabei um Deutungen und Zuschreibungen, die nach dem Kontakt über die Begegnung entstanden sind: zum einen um die Selbstwahrnehmung und Selbsteinordnung, zum anderen um den Vergleich mit dem
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Fremden, die Differenzwahrnehmung und die Konstruktion des Anderen. In den Blick kommen also diskursive Grenzziehungen, die neue Grenzen erschufen oder bestehende Grenzen zwischen Identität und Alterität veränderten, schärfer oder unschärfer machten. Die Typen der sozial konstituierten Grenzen und Grenzräume sowie die Formen ihrer Markierung bilden zentrale Analysegegenstände.14 Eine besondere Aufmerksamkeit gilt dabei den zeitweise verfestigten Wahrnehmungsmustern, semantischen Konstruktionen und Bildern, die sich zu Stereotypen oder Klischees verdichten konnten. Anhand der Untersuchung von Beziehungen mittlerer Reichweite mit ihren Besonderheiten der Variabilität und Instabilität kann deutlich werden, wie in Begegnungen durch aktives Handeln der Akteure, die den Prozess mit ihren Interessen, Strategien und ihrer argumentativen Nutzung steuerten, Wirkungsebenen entworfen, stabilisiert und transformiert wurden. Es kann gezeigt werden, wie diese Effekte von Begegnungen umfassendere und komplexere soziale Gemeinschaften erschufen, stabilisierten oder transformierten. Diese umfangreicheren Gruppenbildungen nahmen zwar vielfach Bezug auf die vier zentralen sozialen Bindungsformen der Vormoderne; sie reichten jedoch über ein Netz aus Verwandtschaft, Freundschaft, Patronage und direkte Nachbarschaft hinaus, verbanden diese Beziehungsebenen in komplexer Form und bedurften weiterer Stabilisierungsfaktoren. In der Selbstsicht der Akteure waren diese Großgruppen Entitäten, hier sollen sie aber als Ergebnisse auch von Begegnungen verstanden werden, als historische Produkte performativer Akte, als Folgen der gegenseitigen Wahrnehmung, des gegenseitigen Vergleichens und der Reflexion über Eigenes und Fremdes. Diese sozial konstruierten größeren Gemeinschaften bildeten dann wieder Ordnungssysteme und Bezugshorizonte für die Akteure späterer Begegnungen. Das Ziel der Kontaktpersonen bildete dann meist die Aufrechterhaltung, Stabilisierung und Konservierung ihrer Gemeinschaft, seltener die Veränderung. Durch narrative Festschreibung, mediale Fixierungsmechanismen oder materielle Erinnerungsträger sollten die Bezugssysteme verstetigt und verdinglicht werden, doch der Veränderungsdruck neuer Kontakte führte zu einer dauernden Anpassung: Die diskursiven Konstruktionen waren wandelbar, und ihre Gestalt musste immer wieder neu ausgehandelt werden. Die sozialen Großgruppen unterlagen damit einem unaufhörlichen Prozess des Wandels, in dem es Phasen des Austauschs und der Verfestigung, der dynamischen Bewegung und der festen Ordnung, der Öffnung und Abschließung, der Integration und Desintegration gab. Um diese Formierungsprozesse zu beeinflussen, konnte die argumentative Verwendung von Beziehungen mittlerer Distanz wegen der Variabi14 Die aktuellste und zugleich umfassendste Forschungsübersicht zu Grenzen und Grenzräumen im Mittelalter findet sich bei Jaspert (2007).
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lität besonders attraktiv sein. Daneben konnte sie aufgrund der Instabilität diese Dynamik auch aus sich heraus beschleunigen oder bremsen.
4.
Fazit
Eine Diskussion über die Fortentwicklung des Kulturtransferkonzepts und seine Adaption für das Mittelalter hat in der Mediävistik noch nicht begonnen, meist werden für andere Epochen oder andere Disziplinen entwickelte Ansätze für die Untersuchung von Fallbeispielen übernommen. Zwar geben die Kulturkontaktforschung und ihre Vorläufer wie das Akkulturationskonzept, daneben aber auch ihre modernen Fortentwicklungen, also der Ansatz des interkulturellen Transfers, Hybriditätstheorien, die Verflechtungsgeschichte, die Histoire crois¤e oder die moderne Komparatistik, wichtige Anregungen, hier wird jedoch eine Erweiterung dieser Theorieangebote um eine kommunikationshistorische Dimension vorgeschlagen. Für die drei vorgestellten Fragekomplexe, also die Konstellationen von Beziehungen, der Gebrauch der Verbindungen und die Wirkungen der Kontakte, werden neue Zugangsweisen zur Diskussion gestellt: So wird das Konzept der Beziehung ›mittlerer Distanz‹ vorgeschlagen und auf die zentrale Bedeutung der kommunikativen Dimension bei Kulturkontakten verwiesen; außerdem wird gefordert, als konsequenten Ausgangspunkt der Untersuchung von Kontakten die Akteure, Begegnungen, Transfers und Erinnerungsakte zu wählen und nicht von scheinbaren Entitäten wie vormodernen Nationen, Herrschaftsräumen oder der Christenheit auszugehen, die vielmehr erst als Produkte der Kulturkontakte zu verstehen sind. In den bisherigen Arbeiten zu Kulturkontakten wurde vielfach die Konstellation einer untersuchten Verbindung nicht bedacht. Außerdem wird deutlich, dass eine differenzierte Unterscheidung der jeweiligen Kontakte notwendig ist; eine Unterscheidung allein zwischen Nah- und Fernbeziehungen greift zu kurz. Für eine weitere Festigung des Konzepts der mittleren Distanz sind vergleichende Studien erforderlich, und zudem müssten Beziehungen über einen längeren Zeitraum hinweg in den Blick genommen werden. Schließlich sind die Ergebnisse aktueller Arbeiten zum Beispiel zu den Verbindungen des Reichs zu Frankreich oder zum Norden Europas zu überprüfen, ob die dort postulierte Festigkeit der Bilder vom Anderen und die klare Trennung zwischen Identität und Alterität tatsächlich so stabil wie angenommen war oder ob auch Nah- und Fernbeziehungen einer größeren Dynamik unterlagen.15 In jedem Fall sind Konzepte notwendig, welche die alleinige Konzentration auf den Gegensatz 15 Siehe dazu die Literaturangaben in Fußnote 13.
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zwischen Identität und Alterität bzw. die Beschränkung auf Nah- und Fernbeziehungen bzw. zum gänzlich Anderen in Frage stellen. Im Mittelpunkt dieser kommunikationsgeschichtlichen Perspektive stehen die Intentionen und Interessen der historischen Akteure, deren argumentative Nutzung der Kontakte, die Dramaturgie und narrative Struktur ihrer Kommunikationsstrategien, die medialen Repräsentationen und Inszenierungen sowie die diskursiv geschaffenen Produkte. Der Gebrauch von Beziehungen sowie deren Funktionalisierung und Instrumentalisierung durch historische Akteure wie Individuen, Gruppen oder Institutionen betont die Kennzeichen einer Beziehung mittlerer Entfernung, nämlich die attraktive Variabilität und die problematische Instabilität. Es könnte zukünftig kritisch hinterfragt werden, ob die zentralen Merkmale der Nutzung solcher Verbindungen, also die Variabilität beim Gebrauch von Beziehungen und die Formierungskraft von Funktionalisierungen nicht nur Kennzeichen einer Beziehung mittlerer Distanz sind, sondern des Mittelalters insgesamt, das damit von einer größeren Offenheit und Dynamik gekennzeichnet wäre als die Moderne. In jedem Fall soll dafür plädiert werden, zukünftig diese kommunikationshistorische Perspektive in die modernen Theorieangebote zu Kulturkontakten zu integrieren. Die Forschung sollte schließlich nicht mehr von scheinbaren Entitäten und größeren sozialen Gemeinschaften ausgehen, sondern gerade den umgekehrten Weg wählen und damit die Perspektive umdrehen, indem sie den Konstruktcharakter von Wirkungsebenen anerkennt und dabei insbesondere die argumentative Nutzung von Begegnungen in unterschiedlichen Konstellationen in den Blick nimmt. In der Gesamtsicht wird deutlich, dass binäre Konzepte, die zum Beispiel von Dichotomien wie Identität und Alterität ausgehen, viel zu statisch sind, um die Dynamik mittelalterlicher Begegnungen, die Variabilität der argumentativen Nutzungen, die Instabilität von Beziehungen und die Heterogenität der vormodernen Vergemeinschaftungsformen beschreiben zu können.
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Sangspruch und Meistergesang
Volker Zapf
Stolle und die Alment Einführung – Edition – Kommentar Nova Mediaevalia, Band 7. 2010. 371 Seiten, gebunden ISBN 978-3-89971-754-9
Der Ton: Kriterium für die Edition von Sangsprüchen und Meisterliedern. Dieser Band thematisiert einen populären Sangspruchton und seine Überlieferung vom 14. bis zum 16. Jahrhundert. Die Alment, ein dem Dichter Stolle zugeschriebener Sangspruchton, gibt einen Überblick über die thematische Bandbreite der Sangspruchdichtung und des Meistergesangs. Die Edition bietet kein Autorenœuvre, sondern ist dezidiert als Tonedition konzipiert. Enthalten sind Texte ungeklärter Verfasserschaft neben solchen, die eventuell von Stolle selbst stammen, und Werke anderer Dichter. Das am Tonautor orientierte Organisationsverfahren ermöglicht, Sangsprüche und Meisterlieder gemeinsam zu edieren. Es wird fassbar, wie die Meisterlieddichter tradierte Vorgaben auffassen, verändern oder variieren.
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Hermetismus
Peter-André Alt / Volkhard Wels (Hg.) Konzepte des Hermetismus in der Literatur der Frühen Neuzeit Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung, Band 8. 440 Seiten mit 22 Abbildungen, gebunden ISBN 978-3-89971-635-1
Neue Perspektiven zu Hermetik und Dichtung in der Frühen Neuzeit Im Sinne einer Weisheitslehre mit konfessionell übergreifender Tendenz fand das hermetische Denken im frühneuzeitlichen Europa wachsende Resonanz in Dichtung und Philosophie. Der Hermetismus steht dabei in engen Bezügen zum Paracelsismus, zur Alchemie, zum Rosenkreuzertum, zum Neuplatonismus, zur christlichen Kabbala und zur Mystik. Er äußert sich in einer neuen Hinwendung zur Natur als Schöpfung Gottes, indem er in den chemischen und biologischen Prozessen, die diese Natur konstituieren, immer den Geist Gottes am Werk sieht. Er äußert sich aber auch in einem neuen Begriff der Liebe als allumfassendes Prinzip. Besonders interessant macht den Hermetismus der Frühen Neuzeit die Vielfalt literarischer und künstlerischer Formen, derer er sich bedient. Vom Roman bis zum Gedicht, vom philosophischen Traktat bis zu Gebet und Andachtsliteratur sind die verschiedensten Gattungen vertreten.
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