Verlustskripte – verstehen und lösen: Ein neuer Schlüssel für die Trauerarbeit [1 ed.] 9783666405259, 9783525405253

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Verlustskripte – verstehen und lösen: Ein neuer Schlüssel für die Trauerarbeit [1 ed.]
 9783666405259, 9783525405253

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Roland Kachler

Verlustskripte – verstehen und lösen Ein neuer Schlüssel für die Trauerarbeit

EDITION

 Leidfaden

Hrsg. von Monika Müller, Petra Rechenberg-Winter, Katharina Kautzsch, Michael Clausing Die Buchreihe Edition Leidfaden – Begleiten bei Krisen, Leid, Trauer ist Teil des Programmschwerpunkts »Trauerbegleitung« bei Vandenhoeck & Ruprecht, in dessen Zentrum seit 2012 die Zeitschrift »Leidfaden – Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer« steht. Die Edition bietet Grundlagen zu wichtigen Einzelthemen und Fragestellungen für Tätige in der Begleitung, Beratung und Therapie von Menschen in Krisen, Leid und Trauer.

Roland Kachler

Verlustskripte – verstehen und lösen Ein neuer Schlüssel für die Trauerarbeit

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Stephan Kelle/photocase.de Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-2856 ISBN 978-3-666-40525-9

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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I Was Verlustskripte sind – und wie wir sie entdecken können .  1 Lebensskripte und Verlustskripte – ähnlich und doch unterschiedlich! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  2 Was ist ein Verlustskript? – Das Besondere von Verlustskripten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  3 Worauf beziehen sich Verlustskripte? – Die Inhalte der Verlustskripte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  4 Weibliche und männliche Verlustskripte . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  5 Wie sich Verlustskripte zeigen – Die Diagnose der Verlustskripte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

8 8 17 25 32 36

II Wie Verlustskripte im Verlust entstehen – und wie wir sie durch Trauerbegleitung verhindern können . . . . . . . . . . . . . . . .  1 Verlustskripte entstehen aus dem Verlusttrauma . . . . . . . . . . . .  2 Verlustskripte entstehen aus der Angst vor Schmerz und Trauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  3 Verlustskripte entstehen aus der Abwehr oder Überbetonung der inneren Beziehung zum Verstorbenen . . . . . . . . . . . . . . . . .  4 Verlustskripte entstehen aus einer ungeklärten Beziehung zum Verstorbenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  5 Verlustskripte entstehen aus einem Lebensverzicht . . . . . . . . . . 

44 46 51 59 68 73

III Wie Verlustskripte aus der Biografie entstehen – und wie wir sie in der Trauerbegleitung berücksichtigen müssen . . . . . . . . .  1 Wie die Biografie auf einen schweren Verlust vorbereitet . . . . .  2 Allgemeine Lebensskripte aus der Biografie – durch den Verlust aktiviert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  3 Verlustskripte aus unbewältigten Verlusten in der Kindheit und Jugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

80 80 84 88

6   Inhalt

4 Familiäre Verlustskripte – Die Familie gibt Verlustskripte ­transgenerational weiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  100 5 Gesellschaftlich geprägte Verlustskripte – Kultur und Gesellschaft schreiben Verlustskripte vor . . . . . . . . . . . . . . . . . .  105 IV Wie Verlustskripte wirken – und welche Störungen daraus entstehen können . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  116 1 Wie Verlustskripte Befindlichkeitsstörungen verursachen . . . .  116 2 Wie Verlustskripte körperliche Störungen verursachen – Die Somatisierung als Folge von Verlustskripten . . . . . . . . . . . .  119 3 Wie Verlustskripte depressive Symptome verursachen – Die Depression als Stillstand der trauernden Seele . . . . . . . . . .  124 4 Wie wir mit psychosomatischen und depressiven VerlustFolgestörungen arbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  129 V Wie wir Verlustskripte lösen und transformieren können . . . .  133 1 Die Transformation der im Verlust entstandenen Verlustskripte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  133 2 Die Transformation der durch den Verlust aktualisierten allgemeinen Lebensskripte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  139 3 Die Transformation der durch einen frühen Verlust entstandenen Verlustskripte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  143 4 Die Transformation der familiären Familienskripte . . . . . . . . .  146 5 Die Distanzierung gegenüber gesellschaftlich geprägten Verlustskripten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  149 Statt eines Schlusswortes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  151 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  152

Vorwort

Sie kennen Verlustskripte noch nicht? Dann sind Sie damit nicht allein. Dieser Begriff und das Konzept sind ganz neu. Und doch sind Verlustskripte für das Verständnis des Trauerprozesses und für die Trauerbegleitung fundamental wichtig und hilfreich. Ich habe das Konzept des Verlustskriptes in Anlehnung an das Konzept des Lebensskriptes aus meiner eigenen Trauererfahrung und aus meinen vielen Trauerbegleitungen und Trauertherapien heraus entwickelt. Wurden Trauernde bisher vorwiegend unter dem Aspekt ihres akuten Verlustes gesehen und verstanden, so ermöglichen nun die Verlustskripte einen Blick auf die Trauernden als individuelle Personen mit ihren eigenen Lebensgeschichten, die in das Erleben und Bewältigen einer Verlustsituation einfließen. Das Konzept der Verlustskripte als neuer Schlüssel für die Trauerarbeit öffnet also eine neue Tür zu den Trauernden und zu deren ganz individuellem Erleben eines schweren Verlustes. Ich möchte Sie einladen, sich diesen neuen Schlüssel mit diesem Buch anzueignen und sich damit einen neuen Zugang zu der Person von Trauernden und so zur Trauerarbeit zu erschließen. Herzlich willkommen! Roland Kachler

I Was Verlustskripte sind – und wie wir sie entdecken können

1 Lebensskripte und Verlustskripte – ähnlich und doch unterschiedlich! Fallbeispiel 1: Immer wieder schwierige Partnerschaften Eine dreißigjährige Frau gerät immer wieder in schwierige Partnerschaften. Sosehr sie bei der Partnerwahl bewusst darauf achtet, dass sie einen für sie passenden Partner findet, sosehr gerät sie immer wieder an den Falschen. Sie denkt sich: »Ich werde nie den Richtigen finden, der mich liebt.« Dabei spürt sie Verzweiflung und Resignation. Fallbeispiel 2: Ich bin ein Versager Ein vierzigjähriger, sehr aktiver, kompetenter Manager gerät in ein massives Burn-out, das zunächst einen Klinikaufenthalt nötig macht. Er kann sich sein Burn-out nicht erklären, wertet es als persönliches Versagen und macht sich selbst Vorwürfe, die ihn noch mehr antreiben. Er hat ein Minderwertigkeitsgefühl und denkt: »Ich bin ein Versager. Das hat mir schon mein Vater gesagt.«

Was sind Lebensskripte?

Um zu verstehen, was ein Verlustskript ist, müssen wir uns zunächst den Begriff des Skriptes oder Lebensskriptes anschauen. Dieser Begriff kommt aus der Transaktionsanalyse und wurde aus der Sphäre des Theaters übernommen (Berne, 2002; Schmale-­ Riedel, 2016; Kachler, 2018b; Kachler, 2021c). Dabei ist das Skript

Lebensskripte und Verlustskripte   9

wie ein Drehbuch oder ein Rollenbuch, das einem Theaterstück oder einer Oper zugrunde liegt. Das Skript, das ein Mensch hat, schreibt ihm unbewusst vor, wie er sich in seinem Leben wie in einem Theaterstück zu verhalten hat, welche Rollen er dabei einnimmt und welche Mitspieler er sich sucht. Dabei gibt es wie bei einer Oper ein Grundthema, zum Beispiel »Ich darf nicht glücklich sein«, das sich dann im Leben eines Menschen zunehmend realisiert und erfüllt. Lebensskripte sind unbewusste Lebenshaltungen, die das Leben eines Menschen mehr oder weniger stark und dabei meist destruktiv prägen.

Bei den beiden Fallbeispielen zeigt erst eine genaue Prüfung der Muster, die hier eine Rolle spielen, welches Lebensskript Regie führt. Wenn wir das zugrunde liegende Thema dieses Musters formulieren, dann haben wir das Lebensskript erfasst, das hinter einem immer wiederkehrenden Lebensproblem steht. Die Frau in Fallbeispiel 1 hat das Grundgefühl, dass sie sich nicht wirklich geliebt fühlt. Sie kann aus diesem Grundgefühl heraus erst durch Nachfragen und Impulse ihr Lebensskript als Skriptsatz formulieren: »Ich wurde nie geliebt und bin nicht liebenswert.« Sie zieht aus diesem Skript nun eine Schlussfolgerung: »Ich nehme auch Partner, die nicht ganz zu mir passen. Hauptsache, dieser Mann zeigt mir auf andere Weise als meine Eltern seine Liebe.« Im Ergebnis achtet sie bei der Partnerwahl nicht auf ihre eigentlichen Wünsche und nicht auf ihre warnende innere Stimme und gerät so an Männer, die keine langfristige Paarbeziehung, sondern ein kurzes Abenteuer mit ihr suchen. Durch jede Enttäuschung wird sie in ihrem Lebensskript »Ich bin nicht liebenswert« bestätigt. Erneut geht sie – zunehmend verzweifelt – wieder auf Partnersuche, die entweder scheitert oder wieder zu einem nicht passenden Partner führt. Sie hat

10    Was Verlustskripte sind

das Gefühl, dass sich bei ihr diese Muster wie magisch vorbestimmt wiederholen und dass sie nicht aus dieser »Falle« herauskann. Beim zweiten Fallbeispiel wird in der Aufarbeitung deutlich, dass das Burn-out durch den unbewussten Leitsatz des Managers, also durch sein Lebensskript bedingt ist. Sein Vater war sehr anspruchsvoll, weil er »das Beste« aus seinem Sohn machen wollte. Der sollte wie er selbst beruflich sehr erfolgreich sein. Dabei hat er seinen Sohn immer wieder kritisiert und abgewertet, mit der Hoffnung, ihn dadurch zu motivieren. Der Sohn dagegen hatte das Gefühl, dass er seinem Vater nicht genügt und ein Versager ist, obwohl er in der Schule und im Sport durchaus Erfolg hatte. Aus dem Skriptgefühl und Skriptsatz »Ich bin ein Versager« zog er den Schluss, dass er es seinem Vater zeigen werde und noch erfolgreicher als dieser werden wollte. So setzte er sich mit dem Antreiber »Streng dich an und sei besser als dein Vater!« massiv unter Druck. Anfangs schien dieses Skript mit diesem Antreiber durchaus Erfolg zu haben, doch er beutete sich und seinen Körper bis zur Erschöpfung aus, was schließlich zum Burn-out führte. Ein Lebensskript ist also eine unbewusste Lebensüberschrift, die dann zu einer Lebensvorschrift wird. Das Lebensskript spiegelt zum einen entsprechende negative Erfahrungen in der Kindheit, zum anderen ist es ein Versuch, mit diesen schwierigen Kindheitserfahrungen zurechtzukommen. Wir werden sehen, dass Verlustskripte aus einer schweren Verlusterfahrung, wie zum Beispiel beim Tod eines Kindes, heraus entstehen. Sie sind also Reaktionen auf einen schweren Verlust und versuchen zugleich, einen Umgang damit zu ermöglichen. Allerdings sind diese Lösungsversuche – ähnlich wie bei den Lebensskripten – nicht immer hilfreich, sondern häufig destruktiv und blockierend.

Lebensskripte und Verlustskripte   11

Woraus bestehen Lebensskripte?

Wenn wir nun die Lebensskripte der beiden vorangegangenen Beispiele genauer analysieren, dann können wir bei ihnen – und den meisten Lebensskripten – verschiedene, wiederkehrende Bestandteile und Strukturen herausarbeiten. Demnach besteht ein Lebensskript aus folgenden Teilen, auch wenn das im Einzelfall immer ein wenig anders aussehen kann: Skriptgefühl als Basis

Das Skriptgefühl ist ein existenzielles Grundgefühl des Kindes oder Jugendlichen, das die Basis des konkret formulierbaren Skriptes bildet. Das Skriptgefühl entsteht in einer bestimmten Familienkonstellation, in einer problematischen Beziehung zu einem Elternteil oder in einer schwierigen Kindheitssituation wie bei der Erkrankung oder Behinderung eines Kindes. Das Kind erlebt sich in solchen Situationen mit seinen Gefühlen selbst, aber es nimmt auch die Reaktionen der Familie, besonders der Eltern auf. Weil Kinder sehr feinfühlig sind, nehmen sie Reaktionen und Botschaften wahr und beziehen diese auf sich selbst. Das Mädchen in Fallbeispiel 1 fühlt sich von seinen Eltern nicht geliebt, weil diese in ihrem eigenen Ladengeschäft sehr beschäftigt sind. Der Junge in Fallbeispiel 2 fühlt sich nicht anerkannt, sondern abgewertet oder kritisiert. In anderen Situationen fühlt sich beispielsweise ein Kind mit Lernproblemen unfähig. Ein anderes Kind erlebt sich in der Familie gegenüber den älteren Geschwistern benachteiligt oder ungerecht behandelt. Diese Grundgefühle brennen sich ein und werden zur Basis eines Lebensskriptes, das wir dann später als konkreten Skriptsatz formulieren können, zum Beispiel »Ich bin nicht geliebt«, »Ich bin nichts wert«, »Ich schaffe das nicht«, »Ich bin ungenügend« oder »Ich gehöre nicht dazu«.

12    Was Verlustskripte sind

Skriptsatz als unbewusster Leitsatz

Das grundlegende Lebensgefühl, also das Skriptgefühl, wird nun von dem betroffenen Kind oder Jugendlichen als so bestimmend erlebt, dass es zu einem inneren Leitsatz wird. Dies geschieht meist nicht bewusst. Man kann deshalb diesen inneren Leitsatz eines Kindes erst im Nachhinein, meist erst als Erwachsener, herausarbeiten und dann formulieren. Der Skriptsatz bezieht sich zunächst auf das Kind selbst, also zum Beispiel »Mein Papa mag mich nicht« oder »Meinen Eltern ist die Arbeit wichtig, nicht ich«. Dann wird der Skriptsatz allmählich verallgemeinert und generalisiert, sodass dieser schließlich als Leitsatz über dem weitergehenden Leben steht: »Ich bin nicht geliebt«, oft noch allgemeiner: »Ich bin nicht liebenswert« oder »Ich bin nicht wichtig«. Daraus werden weitere Skriptsätze über die anderen Menschen, über die Welt oder das Leben abgeleitet: »Kein Mensch liebt mich«, oder noch allgemeiner: »Menschen lieben andere nicht.« Bezogen auf das Leben oder die Welt lautet dann der Skriptsatz: »Das Leben ist lieblos« oder »Die Welt ist hart«. Solche generellen Lebensskripte scheinen nun immer zu passen und sind für Heranwachsende ganz und gar richtige und unumstößliche Überzeugungen, von denen sie sich nicht mehr distanzieren können. Skriptfolgerungen als Handlungsanweisungen

Aus dem Skriptgefühl und dem Skriptsatz ergeben sich dann scheinbar ganz schlüssig konkrete Handlungsanweisungen für die Betroffenen und deren Leben. Der Manager schließt aus den Abwertungen und Antreibern des Vaters, dass er sich sehr anstrengen und in einen Wettbewerb mit seinem Vater treten muss. Die Schlussfolgerungen sind dann vom Kind selbst entwickelte sogenannte Antreiber wie »Streng dich an«, »Sei hart« oder »Sei perfekt«. Diese Antreiber sind zum Teil durchaus posi-

Lebensskripte und Verlustskripte   13

tiv, weil sie die Betroffenen motivieren und oft zu besonderen Leistungen antreiben. Allerdings setzen die Antreiber die Betroffenen auch massiv unter Druck, überfordern sie und führen wie in Fallbeispiel 2 zu übermäßigen Belastungen. Manchmal gibt es weitere, oft konkrete Handlungsanweisungen wie »Werde besser als dein Vater« oder »Suche dir später einen Mann, der dich besser lieben kann als deine Eltern«. Skriptprophezeiung

Bei manchen schweren Lebensskripten gibt es auch eine Vorhersage, was aus diesem Menschen mit seinem Skript werden wird. Bei dem Manager heißt die Prophezeiung zum Beispiel »Du kannst dich noch so sehr anstrengen, du wirst es nie so weit bringen wie dein Vater« oder bei der Frau aus Fallbeispiel 1 »Du wirst nie den richtigen Mann finden, der dich wirklich liebt«. Lebensskripte können unterschiedlich schwerwiegend und de­ struktiv sein. Skripte leichterer Art prägen unser Leben wenig und zeigen sich oft nur in kleinen Marotten oder persönlichen Eigenheiten, die aber nicht weiter stören. Skripte mittlerer Schwere beeinträchtigen Menschen durchaus und bewirken viele psychische Probleme wie Beziehungsprobleme oder Arbeits- und Leistungsprobleme, unter denen die Betroffenen immer wieder leiden und für die sie selbst keine wirklich hilfreichen Lösungen finden. Massive, generalisierte destruktive Skripte führen zu schwerwiegenden psychischen Problemen, oft auch zu psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Ängsten. Hier heißen die Lebensskripte oft »Ich darf nicht leben«, »Ich bin an allem schuld«, »Ich bin nicht geliebt« oder »Ich gehöre nirgends dazu«.

14    Was Verlustskripte sind

Wie entstehen nun solche Lebensskripte?

Die Lebensskripte entstehen in der Kindheit und Jugendzeit und werden vom Kind in einer schwierigen Lebens- und Familien­ situation entwickelt. Zudem hängen sie von den Elternbotschaften ab wie zum Beispiel der Satz des Vaters »Du bist nicht gut genug« oder der Mutter »Du bist nicht hübsch genug«. Dieses Verhalten der Eltern bestimmt das grundlegende Lebensgefühl, in dem die betreffenden Kinder aufwachsen. In diesem Lebensgefühl entwickelt sich nun das Lebensskript, das das Gefühl formuliert, festlegt und generalisiert: »Ich bin nicht liebenswert« oder »Ich bin ein Versager«. Dazu kommen einseitige und überfordernde Verhaltensanweisungen der Eltern wie »Sei perfekt« oder »Streng dich an«, die wir Eltern-Antreiber nennen. Oft machen sich Kinder diese Eltern-Antreiber zu eigen oder entwickeln eigene, kindliche Antreiber, um es den Eltern recht zu machen. Der Junge übernimmt einerseits den Antreiber des Vaters »Streng dich immer noch mehr an, damit du gut bist«. Und andererseits treibt er sich auch selbst an mit dem kindlichen Antreiber »Ich strenge mich so an, damit ich noch besser werde als mein Vater«. Doch nicht nur das Verhalten eines oder beider Elternteile kann zur Grundlage für Lebensskripte werden. Schicksale wie frühe Verluste, Unfälle, chronische Erkrankungen, die Scheidung oder Trennung der Eltern sind ebenfalls oft Hintergründe für Lebensskripte. Kinder und Jugendliche versuchen mit ihren kindlichen Mitteln, ein sie überforderndes Lebensereignis oder eine schwierige Familiensituation nicht nur zu überleben, sondern mit ihnen zu leben. So kann ein Kind mit einer behindernden Erkrankung das Skript entwickeln »Ich bin krank und werde es immer sein. Deshalb habe ich es schwer im Leben« oder aber ein gegenteiliges Skript wie »Ich bin zwar krank, aber ich werde kämpfen und damit zurechtkommen«. Das letztere Skript ist ein bewältigungsorientierter Lebensplan, das erstere ist ein

Lebensskripte und Verlustskripte   15

destruktiveres Skript, das in schwierigen Situationen von Kindern sehr viel häufiger vorkommt. Kinder erleben solche Situationen aus kindlicher Sicht und wenden bei der Bewältigung kindliche Methoden an. Deshalb sind die Überlebenslösungen eines Lebensskriptes meist nur eingeschränkt hilfreich, nicht selten auch destruktiv. Positive und konstruktive Lebenspläne – Ausdruck der Resilienz

Wir haben bisher nur destruktiv wirkende Lebensskripte beschrieben. Von der Entstehung dieses Konzeptes her war und ist der Begriff Lebensskript zunächst auf schädigende, blockierende unbewusste Lebenspläne bezogen und wird in der Transaktionsanalyse und in der Psychotherapie auch weiterhin in diesem Sinne gebraucht. Aber auch konstruktive unbewusste Lebenspläne sind Lebensskripte, also unbewusste Lebenshaltungen, die aber nun förderlich und stärkend wirken. Auch sie stammen aus der Kindheit und Jugendzeit und lauten zum Beispiel »Ich bin toll, und deshalb kriege ich fast alles hin«, »Ich bin geliebt, und deshalb komme ich bei allen gut an« oder »Nicht schlimm, wenn was schiefläuft, dann mach ich etwas anderes«. Solche positiven Lebenspläne stärken Kinder und Jugendliche und öffnen ihnen viele Zugänge ins Leben, so wie umgekehrt destruktive Lebensskripte viele Türen im Leben zuschlagen und verschließen. Positive Lebenserfahrungen und Erfolge stärken Kinder und machen sie resilient. Sie erleben sich als selbstwirksam, kompetent und selbstbewusst. Auch diese Erfahrungen schlagen sich in unbewussten Lebenshaltungen nieder, zum Beispiel: »Jetzt komme ich. Mir steht die Welt offen.«

16    Was Verlustskripte sind

Wie wirken Lebensskripte?

In den beiden Fallbeispielen wird deutlich, dass ein Lebensskript sich wie ein sich selbst erfüllender Lebensplan verwirklicht und die Skriptprophezeiung Realität wird. In aller Regel scheinen sich durch die Lebenserfahrungen das Skriptgefühl und der Skriptsatz zu bestätigen. Zunächst begeben sich die Betroffenen aus ihrem Lebensskript heraus immer wieder in die gleichen schwierigen Lebenssituationen, wie die Frau im Fallbeispiel 1 in ihrer Partnersuche. Genau dabei realisiert sich das Lebensskript in einem erneuten Scheitern. Das Skript verstärkt sich zirkulär: Es führt in schwierige Situationen, und in diesen Situationen führt das Lebensskript zum vorhergesagten Scheitern. Auch Versuche, sich aus dem Scheitern zu befreien, führen oft gerade­wegs wieder zum Scheitern. Manchmal allerdings gibt es glückliche Umstände im Leben eines Menschen, sodass die Heranwachsenden oder später die Erwachsenen nicht in ihr vorgegebenes Lebensskript gehen müssen, sondern sich daraus lösen können. Manchmal treffen sie mit ihren Lebensskripten auf verständnisvolle, freundliche Menschen wie eine zugewandte Lehrerin oder später auf einen Partner mit einer großen Liebesfähigkeit, sodass sich das Lebensskript allmählich abschwächt und sich weitgehend lösen kann. Nun haben wir Lebensskripte kennengelernt und können uns im Folgenden unserem eigentlichen Thema, den Verlustskripten, zuwenden, die aus ganz unterschiedlichen Gründen heraus entstehen können. Dabei haben sie eine ganz ähnliche Struktur und Wirkungsweise wie die besprochenen Lebensskripte.

Das Besondere von Verlustskripten   17

2 Was ist ein Verlustskript? – Das Besondere von Verlustskripten

Verlustskripte drücken keine allgemeine Lebenshaltung aus, sondern unsere unbewusste Haltung und Einstellung gegenüber Verlusterfahrungen, gegenüber dem Tod eines nahen Menschen, gegenüber der eigenen Trauer und der weitergehenden inneren Beziehung zum verstorbenen nahen Menschen (Kachler, 2017a; 2019). Verlustskripte entstehen einerseits aus der Biografie der Trauernden und andererseits aus der konkreten schweren Verlusterfahrung. Sie wirken sich dann hemmend, blockierend oder destruktiv auf den weiteren Verlauf eines Trauerprozesses aus. Verlustskripte drücken die unbewusste Haltung und Einstellung gegenüber Verlusterfahrungen, gegenüber dem Tod eines nahen Menschen und den Verlustgefühlen aus. Dazu gehört auch die Einstellung gegenüber einer inneren Beziehung zum Verstorbenen und zu seiner Person.

Verlustskripte sind ganz ähnlich wie die Lebensskripte unbewusste Überschriften, die in diesem Fall eine blockierende und destruktive Einstellung zum Tod eines nahen Menschen und zu einer inneren Beziehung zu ihm dauerhaft festschreiben. Damit werden diese Überschriften auch zu Vorschriften, wie eine Betroffene mit dem Tod des nahen Menschen umgehen kann und soll. Auch hier ist der Ausgang ein Gefühl, nun aber ein Verlustgefühl, zum Beispiel der Schock über den unerwarteten Suizid eines nahen Menschen oder der große Schmerz über den Tod des langjährigen Ehepartners. Ausgangspunkt eines Verlustskriptes ist aber ebenso das Verbundenheits­gefühl gegenüber dem Verstorbenen, die Sehnsucht nach ihm, die Liebe zu ihm, manchmal auch die Wut auf ihn.

18    Was Verlustskripte sind

Die daraus entstehenden Verlustskripte können wir wieder in Skriptsätze fassen und formulieren, zum Beispiel »Schmerz und Trauer sind so überwältigend. Deshalb vermeide ich sie gleich ganz« oder »Ohne meinen Mann kann ich nicht weiterleben«. Im Blick auf die innere Beziehung zum Verstorbenen kann ein Verlustskript lauten: »Ich lebe ganz mit meinem verstorbenen Mann. Ich ziehe mich ganz mit ihm zurück« oder »Ich bin so wütend auf meinen Sohn, dass er sich umgebracht hat. Deshalb will ich nichts von ihm wissen«. Zunächst sind Verlustskripte in der Trauersituation Versuche, mit einem schweren Verlust umzugehen und ihn zu bewältigen. Sie sind also Lösungsversuche in einer an sich unlösbaren Verlustsituation. Langfristig aber können sie sich hemmend, blockierend oder auch destruktiv auf den Trauerprozess auswirken, zu dem – wie ich zeigen werde – zugleich immer die innere Beziehung zum Verstorbenen gehört. Deshalb ist der Trauerprozess stets auch ein Beziehungsprozess (Kachler, 2017a; 2019). Und schließlich gibt es im Blick auf das weitergehende Leben nach dem Tod eines nahen Menschen ebenfalls Verlustskripte, zum Beispiel: »Das Leben ohne meine Frau ist sinnlos und grau.« Ich gebe nun einen ersten Überblick über das Entstehen, die Struktur und die verschiedenen Formen von Verlustskripten: Verlustskripte – aus einem aktuellen Verlust entstehend Fallbeispiel 3: Ohne meine verstorbene Tochter bin ich nichts Die fünfzehnjährige Tochter einer alleinerziehenden Mutter verunglückt tödlich. Die Mutter hatte ihr ganzes Leben auf ihre Tochter und deren Erziehung ausgerichtet. Jetzt muss sie nicht nur den schrecklichen Tod ihrer Tochter aushalten, sondern mit ihrem Alleinsein und ihrer Leere leben. Diese Erfahrung und Gefühle drängen sich als innerer Satz immer wieder auf: »Ohne sie bin ich nichts. Jetzt ist alles aus. Mein Leben ist vernichtet.«

Das Besondere von Verlustskripten   19

Dieser emotional erlebte Satz der Mutter ist zunächst sehr angemessen und passend, weil er die Gefühle und Empfindungen nach dem Tod ihrer Tochter in Worte fasst. Zu einem Verlustskript wird der Satz dann, wenn die Trauernde in ihm gefangen bleibt und sie ihn – meist unbewusst – zu einer dauerhaften Überschrift über den Tod ihrer Tochter und ihr weitergehendes Leben macht. Bei solch einem schweren Verlust ist wie bei allen schweren Verlusten das Risiko sehr hoch, dass sich die zunächst angemessene Beschreibung der eigenen Trauersituation zu einem bleibenden Verlustskript ausbildet. Diese unmittelbaren, also aus dem Verlust entstehenden Skripte entstehen aus der übermächtigen Verlusterfahrung wie dem Schock, dem Verlustschmerz und der Trauer. Die Erfahrung einer Ehefrau, dass sie den plötzlichen Herztod und die bleibende Abwesenheit ihres Mannes nicht wahrhaben kann, formuliert sie als Skriptsatz: »Der Tod meines Mannes ist nicht wahr.« Dabei verfestigen sich diese Erfahrungen zu Leitsätzen, also zu neuen, meist destruktiven Skripten, eben den Verlustskripten. Aus den akuten und spontanen, ganz normalen Verlustreaktionen werden dann eingefahrene, scheinbar unveränderbare Haltungen gegenüber dem Verlust und den Verlusterfahrungen. Auch Verlustskripte sind oft generalisiert formuliert, sie erscheinen den Betroffenen als endgültig und nicht veränderbar. Verlustskripte werden dann zu einengenden, hemmenden und blockierenden Vorschriften für das weitere Erleben und Bewältigen eines schweren Verlustes. So schreibt das nun feststehende Verlustskript der Mutter im obigen Fallbeispiel fest, dass ihr Leben ohne ihre Tochter dauerhaft vernichtet und sinnlos ist. Das Verlustskript macht es ihr fortan unmöglich, nach dem Tod ihrer Tochter wieder ein glückendes Leben zu finden. Das Verlustskript blockiert also dauerhaft die schwierige, aber durchaus mögliche Bewältigung dieses Verlustes.

20    Was Verlustskripte sind

Verlustskripte – durch den Verlust aktualisierte allgemeine Lebensskripte Fallbeispiel 4: Immer trifft es mich und jetzt auch noch der Tod meines Mannes Eine sechzigjährige Frau hat in der Kindheit viel Schweres wie die Trennung der Eltern und im Laufe ihres Lebens weitere Krisen wie eine Brustkrebserkrankung durchgemacht. Nach dem Tod ihres Mannes sagt sie mit Schmerz, aber auch mit einem Ton von Vorwurf und Resignation: »Immer trifft es mich. Das war schon immer so. Ich darf einfach nicht glücklich sein.«

Aktuelle Verluste treffen Menschen immer als individuelle Person mit eigenen Lebensskripten, die sie aus ihrer Biografie mitbringt und die zunächst gar nichts mit einer Verlusterfahrung zu tun haben müssen. Die Frau in diesem Fallbeispiel hat bisher keinen Verlust durch den Tod eines nahen Menschen erlebt, wohl aber viele schwierige Lebenserfahrungen, die sie in das allgemeine Lebensskript »Immer trifft es mich. Ich darf nicht glücklich sein« fasst. Der Tod ihres Mannes, den sie erst vor sechs Jahren kennengelernt hatte, trifft sie nun einerseits ganz unvorbereitet, andererseits trifft der Verlust auf ihr allgemeines Lebensskript, das ihre bisherigen Lebenserfahrungen zusammenfasst und zur Lebensüberschrift geworden ist. Nun wird das allgemeine Lebensskript wieder abgerufen und auf den Verlust bezogen, das Skript »Es trifft immer mich« also durch den Verlust scheinbar bestätigt. Die Frau kann das auch direkt sagen: »Der Tod passt genau zu dem, was ich immer erlebe. Warum trifft es gerade mich, jetzt auch noch durch den Tod meines Mannes? Das geht jetzt obendrauf und ist das bisher Schlimmste.« Dieses durch den Verlust aktualisierte und wieder bestätigte Lebensskript wird nun zu einem Verlustskript weiterentwickelt und wirkt dementsprechend hemmend und blockierend auf das Erleben des Verlustes und den Umgang mit ihm.

Das Besondere von Verlustskripten   21

Verlustskripte – aus der Kindheit stammend und jetzt aktualisiert Fallbeispiel 5: Den Tod meiner Großmutter kann ich nicht überleben Eine achtundzwanzigjährige Klientin kommt drei Jahre nach dem Tod ihrer Großmutter in die Trauerbegleitung, weil sie diesen Verlust nicht bewältigen und integrieren kann. Ich frage sie, welche Überschrift über dem Tod ihrer Großmutter steht. Sie antwortet: »Ich kann das nicht überleben. Verrückt – wegen einer Großmutter, oder?« Ich frage erneut: »Für welche Situation passt dieser Satz auch?« Die Klientin stutzt und antwortet: »Für den Tod meiner Mutter, als ich zwei Jahre alt war.« Mit dem Tod der Großmutter werden also die ganz frühe Verlustsituation und das dazugehörige und dazu passende Verlustskript aktualisiert. Dies erklärt die zunächst unangemessen erscheinende Trauer dieser jungen Frau beim Tod ihrer Großmutter.

Natürlich gibt es bei dem zweijährigen Mädchen noch keine formulierbaren Verlustskripte, wohl aber über den Körper gefühlte Verlustreaktionen wie das Vermissen der Mutter, eine überwältigende Ohnmacht und schließlich ein resigniertes Abfinden mit dem Fehlen der Mutter. Lassen wir diese frühe Verlusterfahrung und die dazugehörigen Reaktionen des Bindungssystems nun als Überschrift und damit als Verlustskript formulieren, so lautet dieses: »Ich kann das nicht überleben.« Schwere Verluste wie der Tod eines Elternteils oder eines Geschwisters prägen Kinder und Jugendliche sehr nachhaltig in ihrer weitergehenden Entwicklung und für ihr späteres Leben als Erwachsene (Röseberg u. Müller, 2014; Kachler, 2017b; 2021b). Sie entwickeln wie hier im Fallbeispiel meist destruktive Verlustskripte, die wir in Kapitel III, 3 genauer ansehen und verstehen werden.

22    Was Verlustskripte sind

Die frühen Verlustskripte beeinflussen das Leben der Betroffenen später oft in vielen Lebensbereichen. So hatte die junge Frau im Fallbeispiel bisher Beziehungen zu Männern vermieden, weil sie – genauer gesagt: das innere traurige Kind in ihr – fürchtete, von Männern ebenso wie damals von der Mutter verlassen zu werden. Zudem will sie auch auf Kinder verzichten, weil sie Kinder nicht einer solchen Erfahrung aussetzen will, die sie mit dem Tod ihrer Mutter gemacht hat. Massiv aktualisiert werden Verlustskripte dann durch einen erneuten Verlust als Erwachsene, wie hier durch den Tod der Großmutter, die zwar das kleine Mädchen in der damaligen Verlustsituation gut auffing, aber die verstorbene Mutter ebenso wenig wie den damals trauernden und deshalb emotional abwesenden Vater ersetzen konnte. Frühe Verlustskripte aus der Kindheit, die nun durch einen späteren Verlust im Erwachsenenalter aktualisiert werden, beeinflussen und behindern wie in diesem Fallbeispiel die Verarbeitung eines aktuellen Verlustes meist massiv. Verlustskripte – durch die Herkunftsfamilie mitgegeben Fallbeispiel 6: In unserer Familie trauert man nicht Ein dreißigjähriger Mann spürt für seine an Krebs erkrankte, bald sterbende Frau kein Mitgefühl. Er kann sich emotional nicht auf diese traurige Situation einlassen. Auf meine Frage, wie er sich das erkläre, erzählt er vom Tod seiner kleinen Schwester, als er selbst zwölf Jahre alt war. Er hatte sie ertrunken im Gartenteich entdeckt und darauf die Mutter alarmiert. Auf die Frage, wie die Familie auf den Tod des Mädchens reagierte, sagt er spontan: »In unserer Familie zeigt man keine Gefühle, schon gar keine Trauer. Gefühle sind Schwäche, das war in unserer Familie schon immer so.« Der Klient vermutet einen Zusammenhang zwischen seinem fehlenden Mitgefühl für seine Frau und dem Tod seiner jüngeren Schwester. Er befürchtet zudem, dass er davon irgendetwas an seine beiden kleinen Kinder weitergeben könnte.

Das Besondere von Verlustskripten   23

Dieser Klient konnte nie richtig um seine kleine Schwester trauern. Das war in seiner Familie nicht erlaubt. Das Trauerverbot bestand mütterlicherseits schon über lange Zeit. Die Familie hatte nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Flucht aus dem Osten Haus und Hof zurückgelassen, eine für die Mutter damals emotional wichtige Großmutter starb bei der Flucht, in der Nachkriegszeit musste die Familie oft umziehen, und später ertrank die Tochter im Gartenteich. Die Mutter reagierte entsprechend dem Familienskript mit kühler Abwehr und emotionsloser Härte und gab so das Skript der Familie an den Sohn weiter. Als Kind spürte er, wie massiv und mächtig das Familienskript war, sodass er keine andere Möglichkeit sah, als sich diesem Skript anzupassen, es zu übernehmen und nun in der dritten Generation weiter zu realisieren. Das Verlustskript der Familie und die nicht gelebte Trauer bewirken, dass er sich nicht auf seine Trauer über den bevorstehenden Tod seiner Frau, aber auch nicht auf die Trauer seiner Frau einlassen kann. Zudem befürchtet er zu Recht, dass er ungewollt die Familiengeschichte einschließlich des Verlustskriptes an seine Kinder weitergeben könnte. Dann würde das Verlustskript der Familie mütterlicherseits bereits über drei Generationen fortbestehen. Wir bezeichnen dieses häufig vorkommende »Vererben« von Skripten und Verlustskripten über die Generationen einer Familie hinweg als transgenerationale Weitergabe (Drexler, 2020). Verlustskripte – durch die Gesellschaft vermittelt Fallbeispiel 7: Man kann doch nicht so lange trauern Eine Mutter kommt anderthalb Jahre nach dem Unfalltod ihres Sohnes in die Trauerbegleitung, weil sie sich in ihrer Trauer von ihrem Umfeld, das schon längere Zeit zum Alltag zurückgekehrt ist, unter Druck gesetzt fühlt. Zugleich hat sie den Eindruck, dass ihre Freunde, Bekannte und Arbeitskolleginnen doch irgendwie

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recht haben. Sie formuliert, die Aussagen ihres Umfeldes mehr oder wenig wörtlich übernehmend, folgende Verlustskriptsätze: »Ich muss doch endlich mit der Trauer klarkommen und endlich von meinem Sohn Abschied nehmen«, »Vielleicht müsste ich doch lernen, meinen Sohn loszulassen« und »Es wird Zeit, wieder normale Sachen zu machen«.

Die trauernde Mutter übernimmt hier die Meinungen und Positionen ihres Umfeldes, dieses wiederum vertritt die gängigen aktuellen gesellschaftlichen Verlustskripte. Hier ist vor allem das immer noch gültige Paradigma des Trauerns als Loslassen des Verstorbenen wirksam. Dieses Trauerverständnis ist nach wie vor häufig anzutreffen, obwohl es die Trauerpsychologie – nicht zuletzt auch durch meine Arbeiten (Kachler, 2017a; 2018a; 2019; 2021a) – inzwischen weitgehend überwunden hat. Ich habe stattdessen, wie im nächsten Abschnitt dargestellt, einen beziehungsorientierten, auch als hypnosystemisch bezeichneten Traueransatz entwickelt, der immer auch die weitergehende innere Beziehung zum Verstorbenen umfasst. Bei der trauernden Mutter wirkt derweil noch eine weitere, sehr alte gesellschaftliche Norm, die verlangt, einen Verlust möglichst rasch, am besten spätestens nach einem Jahr, dem so genannten Trauerjahr, zu überwinden und abzuschließen. Dieses klassische Trauerjahr ist aber gerade bei schweren Verlusten viel zu kurz. In solchen Fällen gibt es auch kein endgültiges Überwinden und Abschließen eines Verlustes. Wir werden in Kapitel III, 4 weitere von der Gesellschaft vermittelte Verlustskripte und deren gesellschaftliche Hintergründe kennenlernen.

Worauf beziehen sich Verlustskripte?   25

3 Worauf beziehen sich Verlustskripte? – Die Inhalte der Verlustskripte

Um die verschiedenen Verlustskripte aufzufinden, müssen wir verstehen, an welchen Stellen eines Trauerprozesses sie andocken und entstehen. Hier bietet sich das von mir als hypnosystemischer Traueransatz entwickelte Modell des Trauerns und des Liebens an, wonach ein Trauerprozess immer auch ein Beziehungsprozess ist (Kachler, 2017a; 2019). Trauernde wollen eben nicht, wie oft immer noch gefordert wird, loslassen und den Verstorbenen auch im Inneren verabschieden, sondern vielmehr die Liebe zu ihm in Form einer inneren Beziehung weiterleben und den Verstorbenen als inneres Gegenüber bewahren. Sie spüren, dass der Tod zwar das Leben des nahen Menschen schmerzlich beendet hat, nicht aber die Liebe. Bei einem schweren Verlust wie dem Tod eines Kindes oder eines langjährigen Partners zeigen sich folgende Prozesse, die eng miteinander verwoben sind: Schock, Nichtrealisierung und Verlustschmerzattacken – der Schutz vor dem Schrecklichen des Verlustes Fallbeispiel 8: Die in der Dissoziation erstarrte Mutter Eine fünfundfünfzigjährige Mutter kommt zur Trauerbegleitung, weil sie ihre verstorbene dreiundzwanzigjährige Tochter »nicht spüren« kann. Sie kommt anderthalb Jahre nach dem Tod ihrer Tochter ganz in Schwarz gekleidet und wirkt in ihrem ganzen Habitus wie eingefroren. Es zeigt sich rasch, dass die Mutter noch weitgehend in der Erstarrung des Schocks nach dem plötzlichen Unfalltod ihrer Tochter steckt und deshalb weder die Trauer um die Tochter noch die Liebe zu ihr spüren kann.

26    Was Verlustskripte sind

Bei einem schweren Verlust wie durch einen Suizid oder durch den entstellenden Unfall eines nahen Menschen wird zunächst eine häufig übersehene Verlusttraumatisierung ausgelöst. Die Betroffenen stehen unter einem Schock, der sie den Verlust nicht als real erleben lässt. Sie stehen neben sich, erleben sich wie eingefroren, sind erstarrt und betäubt. Bei der trauernden Mutter hält dieser Schock auch anderthalb Jahre nach dem Tod ihrer Tochter an. Im Schock funktionieren die Betroffenen in ihren alltäglichen Routinen, können aber wenig fühlen, weder die Trauer noch die Liebe zur Verstorbenen, wie in diesem Fallbeispiel. Hier sind die Betroffenen zuallererst durch den schweren Verlust Traumatisierte (Kachler, 2021a). Die Schockreaktionen dienen dem Schutz vor der ansonsten unaushaltbaren Realität des Todes des nahen Menschen. Allerdings ist dieser Schutz nicht vollständig, sodass die Realität immer wieder durchdringt und intensive Verlustschmerzattacken auslöst, manchmal bis zu einem sogenannten Nervenzusammenbruch. Trauernde bei schweren Verlusten brauchen in den ersten sechs bis neun Monaten und in der Zeit um den ersten Todestag eine stabilisierende Unterstützung, sodass sie die erste Zeit nach solch einem Verlust überstehen und überleben können. Hier besprechen wir mit den Trauernden, inwieweit sie ihren Alltag, ihre beruflichen oder familiären Pflichten erfüllen können und inwieweit sie von einem sozialen und familiären Umfeld unterstützt werden. Erste Aufgaben, die die innere Beziehung zum Verstorbenen herstellen und stärken, sorgen ebenfalls für eine Stabilisierung und für die Fähigkeit weiterzuleben. Trauernde werden angeleitet, Erinnerungen an den Verstorbenen aufzuschreiben, Fotos zu sammeln und zu ordnen, das Grab zu pflegen und ein Trauer- und Beziehungstagebuch anzulegen. Hier können sie alles, was sie in ihrer Trauer bewegt und was sie dem Verstorbenen mitteilen wollen, aufschreiben und festhalten. Über diese Aufgaben für den Verstorbenen erwer-

Worauf beziehen sich Verlustskripte?   27

ben die Trauernden nicht nur eine zunehmende Stabilisierung, sondern auch wieder erste Sinnerfahrungen, die sie in ihrem zunächst als sinnlos erlebten Leben weiterleben lassen. Dies ist anfangs nur ein reines Funktionieren und ein routinehaftes Leben, aber genau das sichert das erste Weiterleben nach einem schweren Verlust. Realisierungsarbeit – Anerkennen der Realität und Abfließenlassen von Schmerz und Trauer Fallbeispiel 9: Im zweiten Trauerjahr spüre ich die Trauer noch stärker Eine Mutter beschreibt nach dem ersten Todestag ihres Sohnes, dass sie ihre Trauer entgegen ihrer eigenen Erwartung noch stärker und intensiver spürt. Jetzt wird ihr erst bewusst, dass ihr Sohn tatsächlich nicht mehr zurückkommen wird und dass das endgültig so bleiben wird. Ich leite sie behutsam an, sich dieser Realität, die sich bei schweren Verlusten meist erst im zweiten Trauerjahr verstärkt zeigt, zu stellen. Ich unterstütze sie, die dabei auftretende Trauer über das Ausatmen abfließen zu lassen.

Schon in der ersten Schockphase, dann mit zunehmender Dauer verstärkt, dringt der Verlust immer deutlicher ins Fühlen und Spüren der Trauernden, sodass nun zuerst der Verlustschmerz und dann die Trauer aufbrechen und einbrechen. Die Trauernden erleben die Abwesenheit und das Fehlen des nahen Menschen. So bleibt sein Platz am Tisch leer oder der Mantel des Verstorbenen hängt unbenutzt in der Garderobe. Diese Abwesenheitserfahrungen lösen nun den Schmerz und die Trauer aus. Die intensive Körpererfahrung zwingt Trauernde, allmählich die Realität des Verlustes zuzulassen. Trauernde erleben diese Realität in vierfacher Weise: Der nahe Mensch ist auf seine Weise, zum Beispiel durch einen Suizid, verstorben. Er ist tot, wie dies zum Beispiel am Sarg sichtbar war, er ist abwesend, wie

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dies zum Beispiel an seinem leer bleibenden Platz am Esstisch deutlich wird, und der nahe Mensch wird nicht mehr zurückkommen, wie dies in der Folgezeit immer wieder schmerzlich erlebbar sein wird. Der bei dieser zunehmenden Realisierung auftauchende Schmerz und die Trauer ermöglichen, aber erzwingen auch allmählich eine weitere Realisierung, die nicht nur im Wissen, sondern nun auch im körperlichen Spüren stattfindet. Das ist eine zentrale Funktion des Verlustschmerzes und der Trauer, die aber immer auch Zeichen einer schmerzenden Liebe sind. Zugleich dürfen Verlustschmerz und Trauer nicht im Körper stecken bleiben, sondern müssen im Weinen und im Ausatmen nach außen gebracht werden und abfließen. Trauernde können dann ihre intensive Anfangstrauer allmählich verabschieden. Dabei wird immer auch das Gefühl des Vermissens bleiben. Zugleich verwandeln sich Verlustschmerz und Trauer in einem parallelen Prozess in bleibende Liebe und bleibende Sehnsucht. Beziehungsarbeit – die Liebe in einer inneren Beziehung anders fortführen Fallbeispiel 10: Ich will dich nicht ein zweites Mal verlieren Eine siebzigjährige Frau verliert ganz plötzlich ihren erwachsenen Sohn. Immer wieder wird ihr geraten, ihren Sohn loszulassen. Im Trauergespräch mit mir lehnt sie dieses Ansinnen empört ab und erklärt: »Ich will doch meinen Sohn nicht ein zweites Mal verlieren.« Sie überlegt und ergänzt dann: »Ich liebe ihn doch weiterhin.«

Wie dieses Fallbeispiel deutlich zeigt, wollen Trauernde nach einem schweren Verlust nicht »loslassen«, den geliebten Menschen vergessen oder ihn aus dem weitergehenden Leben ausschließen. Die Trauernde im Fallbeispiel drückt dies indirekt aus und sagt, der erste, reale Verlust ihres Sohnes sei schlimm

Worauf beziehen sich Verlustskripte?   29

genug, sie wolle ihn nicht ein zweites Mal, nämlich aus ihrem Inneren und ihrem Gedenken verlieren. Deshalb wünscht sie sich – wie praktisch alle Trauernde bei einem schweren Verlust – eine weitergehende innere Beziehung. Diese Beziehung beginnt schon früh nach dem Tod eines nahen Menschen, wenn Trauernde mit dem Verstorbenen reden, seine Nähe spüren oder ihn sich in Erinnerungen vergegenwärtigen. Viele Trauernde riechen an den Kleidern des Verstorbenen, hören seine Stimme, sehen ihn in den Raum kommen oder träumen von ihm (Kachler, 2014). Ebenso entwickeln sie Rituale, in denen die innere Beziehung realisiert wird. So singen die Eltern für ihr verstorbenes Kind weiterhin am Abend das Gute-NachtLied, oder die Partnerin zündet jeden Abend am Foto ihres verstorbenen Mannes eine Kerze an und erinnert sich an ihn. Mit solchen ersten spontanen Nähe- und Präsenzerfahrungen und Kommunikationsformen beginnt die weitergehende innere Beziehung zum verstorbenen nahen Menschen. Deshalb greifen wir in der Trauerbegleitung diese Erfahrungen würdigend als Ausdruck der beginnenden inneren Beziehung auf und machen sie als Basis für die weitergehende innere Beziehung bewusst. Trauernde spüren im Schmerz und in der Trauer auch intensiv die Liebe zum Verstorbenen. Diese Liebe darf bleiben und muss nicht aufgegeben werden. Vielmehr ist sie die Kraft, die als bleibendes Beziehungsgefühl die innere Beziehung leben will. Deshalb lassen wir die Trauernden ihre Beziehungs- und Liebesgefühle im Körper spüren und sie durch das Auflegen der eigenen Hand an dieser Körperstelle verankern. Die Liebe darf also bleiben und ist emotionale Basis der weitergehenden inneren Beziehung. Für diese brauchen die Verstorbenen des Weiteren einen guten, sicheren Ort für den Verstorbenen selbst. Das können konkrete Orte wie das Grab des Verstorbenen sein, aber auch der Raum der Erinnerung, der eigene Körper wie das Herz, Orte

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in der Natur wie ein Regenbogen oder der sichtbare Himmel – und schließlich transzendente, spirituelle Orte wie das ewige Licht oder das Haus Gottes. An solchen sicheren Orten ist der Verstorbenen immer wieder neu zu finden, und es kann darüber die innere Beziehung zu ihm gelebt werden. Diese kann natürlich auch durch Gefühle wie Schuld oder Wut belastet sein. Deshalb müssen ungeklärte Störungen in der Beziehung zum Verstorbenen geklärt und bereinigt werden. Arbeit am weitergehenden Leben Fallbeispiel 11: Der Segen der verstorbenen Tochter für das Tanzen Die dreizehnjährige Tochter starb nach einer längeren Krebs­ erkrankung. Die Eltern, eigentlich begeisterte Tänzer, hatten schon während der Krankheit und in der Zeit nach dem Tod ihrer Tochter mit ihrem Hobby des Tanzsports aufgehört. Sie wollten nicht mehr zum Tanzen gehen, konnte doch ihre Tochter nie das Tanzen lernen. Aus Liebe zu ihr verzichteten die beiden darauf. Als dann der Wunsch, wieder tanzen zu gehen, stärker wurde, sprachen sie unter meiner Anleitung im inneren imaginierten Gespräch mit ihrer Tochter darüber. Ihre Tochter gab ihnen den »Segen« für das Tanzen und ermutigte sie mit einem Lächeln dazu.

Für Trauernde geht das bisherige Leben nicht einfach weiter, denn ein schwerer Verlust verändert alles. Zugleich müssen sie zunächst in ihrem Alltag ihre eigene Versorgung fortführen oder berufliche Pflichten erfüllen. Viele Trauernde wollen bei schweren Verlusten nicht weiterleben, sondern dem Verstorbenen nachfolgen, um bei ihm zu sein und um dem Schmerz und der Leere zu entfliehen. Mit der beschriebenen Stabilisierungsarbeit befähigen wir sie, zunehmend den Alltag zu leben. Sie nehmen dabei den Verstorbenen in das gegenwärtige Leben im

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Rahmen ihrer inneren Beziehung hinein, sodass sie ihm nicht nachfolgen müssen. Schließlich geht es darum, allmählich wieder schöne Erfahrungen, kleine sinnhafte Erlebnisse wahrzunehmen und dann das Leben ohne den Verstorbenen im Äußeren zu leben. Darauf verzichten viele Trauernde, wie die Eltern im obigen Fallbeispiel aus Loyalität zu ihrer verstorbenen Tochter. Dieser Verzicht aus Liebe ist verständlich, kann aber mit dem Segen, also der Zustimmung, des verstorbenen nahen Menschen in der inneren Beziehung gelöst werden. Nun können die Hinterbliebenen sozusagen mit dem Wohlwollen des Verstorbenen nicht nur ihr Leben wieder aufnehmen, sondern auch wieder Glück erleben. Das ist zwar nicht mehr so leicht und heiter wie zuvor, vielmehr schwerer und dunkler, aber eben wieder Glück. Zu diesem weitergehenden, nun bewusst wieder aufgenommenen Leben nach einem schweren Verlust gehört die innere Beziehung zum verstorbenen nahen Menschen dann ebenso wie die bleibende Lücke, die er dauerhaft hinterlässt. Die hier beschriebenen Prozesse können wir auch als Trauer­ aufgaben verstehen, die von den Trauernden zu leisten sind, damit sie einen schweren Verlust in ihr weitergehendes Leben integrieren und mit dem Verlust, aber auch mit der inneren Beziehung zum Verstorbenen weiterleben können. Allerdings kann ein schwerer Verlust durchaus dazu führen, dass diese Prozessschritte der Lösung des Schocks, der Realisierungs- und Beziehungsarbeit und der Arbeit am weitergehenden Leben nicht gelingen. Oft ist es die Schwere des Verlustes, die die Fähigkeit von Menschen überfordert, damit zurechtzukommen. Dann entstehen aus dem Verlust destruktive Verlustskripte, die die hier beschriebenen einzelnen Prozessschritte und Trauerund Beziehungsaufgaben blockieren. Wir werden in Kapitel II genauer betrachten, wie Verlustskripte des Schocks, Verlust-

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skripte einer blockierten Realisierungsarbeit, Verlustskripte bezogen auf den Verlustschmerz und die Trauer, Verlustskripte im Blick auf die innere Beziehung zum Verstorbenen und Verlustskripte bei der Aufgabe, das Leben weiterzuleben, aussehen. Damit der Trauer- und Beziehungsprozess nicht durch diese Verlustskripte blockiert wird, sondern in Richtung eines weitergehenden Lebens fließt, in dem es auch wieder Sinn- und Glückserfahrungen geben darf, brauchen wir – und das sei immer wieder betont – Trauerbegleitung, die Menschen in ihren vorhandenen Fähigkeiten stärkt und ihnen zugleich Fähigkeiten zur Lösung der Traueraufgaben verleiht, damit es nicht zu destruktiven Verlustskripten und Blockaden im Trauer- und Beziehungsprozess kommt.

4 Weibliche und männliche Verlustskripte

Die klarsten Beispiele von Verlustskripten sind die unterschiedlichen Einstellungen von Männern und Frauen zu Verlusten und zu Verlustschmerz und Trauer. Hier zeigt sich auch noch einmal sehr nachdrücklich, wie wichtig die Berücksichtigung von Verlustskripten für die Trauerbegleitung ist, weil weibliche und männliche Verlustskripte die Unterschiedlichkeit des Trauerns von Frauen und Männern bedingen. Die Gründe für das Entstehen dieser unterschiedlichen Verlustskripte gehen zum einen auf die lange Prägung durch eine patriarchale Gesellschaft zurück (vgl. Kapitel III, 4), wonach der Bereich der Bindung und Beziehung und damit der Gefühle in die Zuständigkeit der Frauen, der Bereich des Handelns und der Rationalität in den Raum der Männer gehört. Der tiefere Grund liegt zum anderen in einer Urerfahrung, die Männer im Gegensatz zu Frauen nicht kennen: Viele Frauen erleben in einer der intensivsten Schmerzerfahrungen, nämlich im Geburtsschmerz,

Weibliche und männliche Verlustskripte   33

dass sogar dieser Schmerz auszuhalten ist, dass sie über die Atmung mit diesem Schmerz mit- und umgehen und ihn selbst lindern können. Und schließlich machen sie die Erfahrung, dass gerade in diesem schlimmsten Schmerz etwas Neues zur Welt gebracht werden kann. Diese Erfahrungen bleiben Männern vorenthalten. Deshalb fürchten Männer den Schmerz als Bedrohung und als Risiko des Kontrollverlustes, gegen den sie sich wehren müssen und den sie in einer Gegenbewegung in den Griff bekommen und abwehren wollen. Darüber hinaus ist ein schwerer Verlust für viele Männer auch ein gefühlter Angriff und eine Niederlage, gegen die sich ebenfalls wehren müssen. Diese ganz unterschiedlichen Hintergründe kondensieren sich bei Frauen und Männern in unterschiedlichen Verlustskripten, die ihren Umgang mit einer schweren Verlusterfahrung entscheidend beeinflussen. Das wird vermutlich auch dauerhaft so bleiben, selbst wenn mittlerweile gerade jüngere Männer sich besser auf Bindung, Beziehung und Gefühle einlassen können. Wenn ich im Folgenden die unterschiedlichen Verlustskripte beschreibe, dann geschieht dies typisierend. Es gibt durchaus Männer, die eher »weiblich«, und Frauen, die eher »männlich« trauern. Dies ist zum Beispiel immer wieder in der Trauer­begleitung von Elternpaaren nach dem Tod eines Kindes zu beobachten. Die Trauerbegleitung von Elternpaaren ist ein wichtiges Thema, das in diesem Buch jedoch nicht weiter besprochen wird. Näheres findet sich dazu in »Gemeinsam trauern – gemeinsam weiter lieben« (Kachler u. Majer-Kachler, 2013). Männliche Verlustskripte – Abwehr und Kontrolle

Männliche Verlustskripte versuchen, die Stärke der Trauernden zu betonen und mit den Schmerz- und Verlustgefühlen kontrollierend, oft sogar verdrängend umzugehen (Achenbach, 2019). Dabei wird die Trauer nicht selten abgewertet und die Schwere des Verlustes relativiert und rationalisiert.

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Ich will hier nur einige typische männliche Skriptsätze nennen: • • • • • • • • • • •

Ich muss doch für meine Frau und Familie stark sein. Ich kann doch nicht auch noch ganz in Trauer versinken. Trauern hilft jetzt auch nicht weiter. Trauern bringt unser Kind auch nicht wieder zurück. Hätte mein Sohn besser aufgepasst, dann wäre er nicht abgestürzt. Das Leben muss doch weitergehen. Das ist jetzt meine Aufgabe. Verluste gibt es im Leben. Das ist einfach so und gehört zum Leben. Damit muss man jetzt zurechtkommen. Das muss ich alleine hinkriegen. Da kann einem niemand ­helfen. Mit dem Tod ist doch alles aus. Was soll eine innere Beziehung? Das ist doch nur eine Einbildung.

Die Stärke dieser männlichen Verlustskripte liegt darin, dass ein schwerer Verlust und die dazugehörigen Verlustgefühle nicht überwältigend werden und das Weiterleben möglich wird. Dies ist besonders für die Familie nach dem Tod eines Kindes wichtig. Auch beim Tod der Partnerin hilft es Männern sehr rasch, sich nach vorne zu orientieren und bald, oft allerdings viel zu früh, eine neue Partnerin zu finden. Das Problem besteht darin, dass der Verlustschmerz und die Trauer im Körper stecken bleiben und langfristig zusammen mit der Anstrengung der Kontrolle zu einem Trauer-Burn-out oder zu körperlichen Symptomen wie massiven Rückenproblemen oder Herzbeschwerden führen können. Männer kommen häufig erst dann zur begleiteten Bearbeitung eines schweren Verlustes, wenn es medizinisch dringend angeraten wird.

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Weibliche Verlustskripte – Stärken und Risiken

Weibliche Verlustskripte sind im Vergleich zu ihren ­männlichen Pendants nicht abwehrend und deshalb in aller Regel für den Trauer- und Beziehungsprozess tatsächlich hilfreich. Sie formulieren die Erfahrung von Schmerz und Trauer und die Bereitschaft, diese Verlustgefühle zu- und sich auf sie einzulassen, wie zum Beispiel: »Meine Trauer darf jetzt sein, und ich kann sie zulassen.« Die Gefahr bei weiblichen Verlustskripten besteht darin, dass sie den Schmerz und die Trauer oft bis ins Unermessliche und damit ins Unlösbare steigern oder eine gänzliche Ohnmacht festschreiben: • Ich bin nur noch Trauer und will nichts als trauern. • Es gibt nichts Schlimmeres als diesen Verlust, und ich weiß nicht, ob das zu bewältigen ist. • Niemand trauert in der Familie so intensiv wie ich. • Wenn mein Mann nicht richtig trauert, dann muss ich auch für ihn, also für uns beide trauern. • Ohne meine Trauer geht unser Kind ganz verloren. • Mir bleibt nichts mehr als die Trauer selbst. • Die Trauer wird immer zu mir gehören. • Die Liebe zu meinem verstorbenen Kind ist alles. Daneben gibt es nichts. • Das Leben ohne mein Kind/meinen Mann ist nicht mehr lebenswert.

Weil Frauen aufgrund ihrer allgemein konstruktiveren Einstellung im Hinblick auf Verlusterfahrungen eher bereit sind, an einer konkreten Verlusterfahrung zu arbeiten, kommen sie wesentlich häufiger als Männer zur Trauerbegleitung und in Trauergruppen. Auch deshalb entwickeln sie seltener abwehrende und kontrollierende Verlustskripte. Sie haben allerdings das Risiko, in ihren Verlustskripten den Verlustschmerz und die

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Trauer, aber auch die innere Beziehung zu einem alles dominierenden Lebensthema werden zu lassen.

5 Wie sich Verlustskripte zeigen – Die Diagnose der Verlustskripte

Da allgemeine Lebensskripte, aber eben auch Verlustskripte, weitgehend unbewusst wirken, können wir Trauernde zunächst nicht direkt nach ihren entsprechenden Skripten fragen, vielmehr können wir sie anfangs nur indirekt erschließen. Dazu müssen wir als Trauerbegleiterinnen1 entsprechend sensibilisiert und geschult sein. Verlustskripte in der Sprache

Verlustskripte zeigen sich oft nur bruchstückhaft in der Ausdrucksweise der Trauernden. Sie kommen beispielsweise in generalisierenden und verabsolutierenden Schlagworten wie »immer«, »nur noch«, »ganz und gar« oder »für immer« zum Vorschein. Diese Schlagworte schreiben im Verlustskript eine Haltung oder ein Gefühl als unveränderbar fest, wie: »Ich werde immer traurig sein.« Oft gibt es auch generell verneinende Aussagen wie »nie«, »niemals«, »überhaupt nicht« oder »keineswegs«. Diese Skriptaussagen schließen konstruktive oder öffnende Veränderung auf Dauer aus, wie zum Beispiel: »Das wird niemals besser.« Verabsolutierende Aussagen wie »unendlich schlimm« oder »unermesslich traurig« bauen zudem unüberwindliche Hürden für die Trauerbewältigung auf. 1 Ich werde im weiteren Verlauf dieses Buches vorzugsweise die feminine Form »Trauerbegleiterin« gebrauchen, da die meisten Menschen in der Trauerbegleitung weiblich sind. Selbstverständlich sind hiermit auch die seltenen, aber desto mehr so wichtigen männlichen Trauerbegleiter mit gemeint.

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Das Vermeiden von persönlichen Aussagen mit »ich« und der Gebrauch von »man« oder »es« weist auf Verlustskripte hin, die Trauernde vor persönlichen Gefühlen und der eigenen Verantwortung für den Trauer- und Beziehungsprozess schützen sollen. Hier zeigen sich oft auch gesellschaftlich geprägte Verlustskripte (vgl. Kapitel III, 5) in Form von Vorschriften, die Trauernde glauben einhalten zu müssen. Es finden sich dabei dann typische Aussagen wie »Man muss doch …«, »Man kann doch nicht …« oder »Man darf doch nicht …«. Damit kein Missverständnis aufkommt: Angesichts eines schweren Verlustes sind solche Aussagen, die auf den entsprechenden Verlustgefühlen beruhen, zunächst durchaus angemessen und richtig. Insofern sind die benannten Ausdrucksformen anfangs häufig bei Trauernden anzutreffen und müssen entsprechend anerkannt und gewürdigt werden. Kommen solche Sprachformen aber immer wieder und auch noch zwei bis drei Jahre nach einem schweren Verlust sowie in formelhafter Verwendung vor, sind sie Teil eines schon feststehenden, chronifizierten Verlustskriptes. Das Auftreten der beschriebenen Sprachformen muss uns in der Trauerbegleitung wachsam sein lassen, weil sie uns eben auf mögliche Verlustskripte hinweisen. Oft genügen hier einfache Rückmeldungen wie »Mir fällt auf, dass bei Ihnen immer wieder ein ›Man muss doch …‹ vorkommt« oder Rückfragen wie »Wie meinen Sie diesen Satz: ›Es wird niemals besser‹?«, um dann das Verlustskript probeweise zu formulieren. Verlustskripte in den Gefühlen – typische Verlustskriptgefühle

Intensive Gefühle wie Schmerz, Trauer, Wut und Verzweiflung, aber auch Liebe, Verbundenheit und Mitgefühl mit dem Verstorbenen gehören ganz natürlich zu einem schweren Verlust. Doch zugleich gibt es Gefühlsbereiche, die eindeutig zeigen, dass hier

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ein Verlustskript destruktiv wirkt und den Trauer- und Beziehungsprozess blockiert. Dazu gehören Gefühlszustände wie Resignation, Hoffnungslosigkeit und das Empfinden einer generellen, dauerhaften Ohnmacht. Aber auch Verlustschmerz und Trauergefühle, die über längere Zeit gleichbleiben, die Trauernden immer wieder neu überfluten oder von ihnen immer wieder mit denselben Worten beklagt werden, deuten an, dass hier Verlustskripte einen konstruktiven Umgang mit den Verlustgefühlen verhindern. Bei Männern zeigt sich das oft in Zynismus, indirekter Aggression, Kälte oder Abgestumpftheit. Mit diesen Empfindungen bzw. Ausdrucksformen wehren sie sowohl die Trauer als auch die Liebe zum verstorbenen nahen Menschen ab. Als erfahrene Trauerbegleiterinnen spüren wir sehr schnell, dass die genannten Verlustskriptgefühle nicht authentisch und der Verlusterfahrung nicht angemessen sind. Verlustskripte in wiederkehrenden Trauerund Beziehungsmustern

Wenn wir den Eindruck haben, dass es im Trauer- und Beziehungsprozess keine Entwicklung gibt, dass Trauernde vielmehr in ihrem Prozess kreiseln oder sich an einzelnen Punkten festhalten, dann wirken auch hier oft Verlustskripte. Beispielsweise kreist in solchen Fällen die Trauerbegleitung immer wieder um die Warum-Frage oder um das Gefühl, am Tod des nahen Menschen mitschuldig zu sein. Wenn wiederum Trauernde berichten, dass sie keine Gefühle für den Verstorbenen und keine Nähe zu ihm erleben, dann sind Beziehungs-Verlustskripte wie »Ich darf meinen verlorenen nahen Menschen nicht weiter lieben« oder »Eine weitergehende innere Beziehung ist nur Illusion« am Werke. Nicht zuletzt sind Verlustskripte zu vermuten, wenn Trauernde das weitergehende Leben nach einem Verlust meiden, ihm ausweichen oder das Leben im Allgemeinen abwerten.

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Zeigen sich solche durch Verlustskripte bedingten Stillstände, dann erleben Trauerbegleiterinnen selbst häufig Gefühle von Ungeduld, von Ratlosigkeit und Resignation, oft auch von Frustration und Ärger. Diese Gegenübertragungsgefühle bei den Trauerbegleiterinnen sind meist ein sicherer Hinweis darauf, dass Trauernde aufgrund eines Verlustskriptes in ihrem Prozess blockiert sind und nicht weiterkommen. Verlustskripte in der Sprache von psychosomatischen und psychischen Symptomen

Schließlich zeigen sich Verlustskripte auch noch in einer ganz besonderen Gestalt, nämlich in der Sprache von körperlichen oder psychischen Symptomen, zum Beispiel durch dauerhafte Herzschmerzen oder wiederkehrende depressive Episoden. Hier können Trauernde nicht die Sprache ihrer Gefühle zulassen, sondern drücken sie indirekt über den Körper aus. Hinter diesem Umweg stecken dann ganz spezifische Verlustskripte, die die Sprache des Körpers und der entsprechenden Symptome sprechen. Auch eine Verlustdepression ist die Folge von massiven Verlustskripten, die einen völligen Stillstand des Trauer- und Beziehungsprozesses bewirken. Diese psychischen und psychosomatischen Zusammenhänge werden wir in Kapitel IV genauer beleuchten und verstehen.

Anleitung zur Selbstreflexion für Trauerbegleiterinnen und Trauerbegleiter In diesem Abschnitt am Ende eines jeweiligen Kapitels möchte ich Sie als Trauerbegleiterin oder Trauerbegleiter einladen, die erarbeiteten und dargestellten Inhalte auf sich selbst anzuwenden, Sie also zur Selbstreflexion motivieren, um Ihre eigenen Lebens- und Verlustskripte zu entdecken, zu entschlüsseln, zu verstehen und zu lösen.

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Meine eigenen unbewussten Lebensskripte als Trauerbegleiterin und Trauerbegleiter entdecken Wenn wir als Trauerbegleiterinnen – ehrenamtlich oder professionell – tätig sind, sollten wir verstehen, was uns zu dieser so wichtigen, aber doch auch so schweren Arbeit motiviert. Ist es nicht erstaunlich, dass wir uns gerade eine solch herausfordernde Tätigkeit ausgesucht haben? Dafür gibt es verstehbare Gründe. Um uns hier auf die Spur zu kommen, sollten wir zuerst unsere allgemeinen Lebensskripte und dann in einem zweiten Schritt mögliche Verlustskripte aufspüren und entdecken. Vermutlich haben Sie diese Arbeit im Rahmen Ihrer beraterischen oder psychotherapeutischen Ausbildung oder Ihrer Ausbildung zur ehrenamtlichen Trauerbegleitung schon gemacht. Dann sollten Sie die folgenden Impulse als Anregung verstehen, sich wieder einmal, sozusagen als Fresh-up, mit diesen Fragen zu beschäftigen. Vielleicht entdecken Sie noch einmal neue, andere, aber in jedem Fall wichtige Aspekte Ihrer von unbewussten Lebens- und Verlustskripten getragenen Motivation zur Trauerbegleitung.

Für die Trauerbegleitung relevante Lebensskripte entdecken Für folgende Schreibübung möchte ich Sie bitten, sich ein DINA4-Blatt querzulegen, dann jeweils einen der folgenden Halbsätze als Ritualsatz immer wieder neu zu schreiben und dabei anstelle der hier aufgeführten Punkte eine in Ihnen aufsteigende Weiterführung zu formulieren. Schreiben Sie den ersten unten aufgeführten Halbsatz flott und rasch und lassen Sie die Weiterführung ganz spontan, sozusagen unbewusst, in Ihren Stift fließen. Schreiben Sie ganz automatisch, was dabei auftauchen will:

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• Ich mache Trauerbegleitung, weil … • Trauerbegleitung fällt mir leicht, weil … • Trauerbegleitung ist für mich schwer, wenn … Sie können dies mit einer zweiten Übung ergänzen, indem Sie zum folgenden Impulssatz Bilder, Symbole und Metaphern aufsteigen lassen und dann wieder als Satzergänzung festhalten: • Trauerbegleitung ist für mich ganz persönlich wie ein/eine … Wenn Sie nun die Ergebnisse für beide Übungen anschauen, werden Sie erste Hinweise auf Ihre persönlichen Lebens- und Verlustskripte entdecken. Wir wenden uns zunächst den allgemeinen Lebensskripten zu – Ihre Verlustskripte werden wir in den entsprechenden Übungen am Ende der nächsten Kapitel genauer prüfen. Es gibt Lebensskripte, die als Motivation für die Trauerbegleitung problematisch sind und entsprechend bearbeitet werden müssen, damit sie uns nicht einseitig und auf Kosten der Trauernden motivieren. Zunächst sind Lebensskripte zu nennen, die ganz aus der eigenen Bedürftigkeit, den Verletzungen und Defiziten unserer Kindheit entstanden sind. Es sind Skriptgefühle oder -sätze wie zum Beispiel »Ich muss Trauerbegleitung machen, sonst fühle ich mich … (zum Beispiel: unwichtig)« oder »Ich mache Trauerbegleitung, obwohl es mir schwerfällt, aber ich brauche das Schwere«. Das Problem dieser Skripte liegt darin, dass wir durch sie als Trauerbegleiterinnen mit unseren Trauerbegleitungen auch eigene tiefe Bedürfnisse unseres inneren Kindes erfüllen oder Verletzungen und Kränkungen unseres inneren Kindes heilen wollen. Natürlich läuft dies bei uns unbewusst ab, dennoch ist es weder hilfreich noch ethisch in Ordnung. Aber auch scheinbar ganz altruistische allgemeine Lebens­ skripte, die uns für die Trauerbegleitung motivieren, können pro-

42    Was Verlustskripte sind

blematisch sein, wenn hinter unserem Helfenwollen ebenfalls die genannten Bedürfnisse des inneren Kinds stehen. Wir sollten uns also von Skripten wie »Das mache ich nur für die Trauernden« oder »Ich gebe alles für die Trauernden« nicht täuschen lassen, sondern auch diese Lebensskripte auf die dahinterliegenden kindlichen Bedürfnisse befragen. Wenn wir solche bedürftigen oder nur scheinbar altruistischen Lebensskripte bei uns entdecken, sollten wir uns nicht dafür schämen. Wir können dies vielmehr als Chance nehmen, noch einmal etwas für uns und unser bedürftiges oder verletztes inneres Kind zu tun (Kachler, 2018b; 2021c). Hier bietet sich folgende Übung an: Das innere bedürftige oder verletzte Kind versorgen Sie schließen Ihre Augen, formulieren noch einmal ganz langsam und bewusst Ihr zu veränderndes Lebensskript und spüren nach, welche Bedürfnisse oder Verwundungen sich hierbei zeigen. Dann lassen Sie sich von diesen Bedürfnissen bzw. Verletzungen zu dem inneren Kind führen, das diese in sich trägt. Sie lassen dann das Bild des bedürftigen oder verletzten Kindes auftauchen, zum Beispiel das zehnjährige im Elternstreit verlassene Mädchen. Und nun spüren Sie als erwachsene Frau mit Ihren Fähigkeiten der Empathie und Fürsorge, was dieses Mädchen braucht. Sie gehen dann in der Vorstellung zu diesem Mädchen, nehmen es in die Arme und zeigen ihm, wie wichtig und liebenswert es ist. Sie achten gut darauf, wie es dem Mädchen dabei geht, und spüren nach, ob noch etwas fehlt, um dem Mädchen gegebenenfalls dann auch dieses zu geben. Schließlich führen Sie das Mädchen an einen heilsamen Ort, an dem es gesehen, anerkannt, gemocht und so in seinen Verletzungen geheilt wird. Dieser heilsame Ort kann zum Beispiel eine in der Sonne liegende Wiese oder ein Spielplatz mit vielen freundlichen Kindern sein. Dann schauen Sie, wie sich das Kind an diesem Ort weiter in seiner Lebendigkeit entwickelt.

Wie sich Verlustskripte zeigen   43

Veränderte bewusste Motivation für die Trauerbegleitung Wenn Sie Ihre Motivation auf die beschriebene Weise verstehen und klären, machen Sie die Trauerbegleitung nicht mehr aus Ihrem verletzten oder bedürftigen Kind heraus, das die Arbeit der Trauerbegleitung für sich selbst braucht. Bildlich gesprochen ist Ihr inneres Kind dann nicht mehr bei Ihren Trauerbegleitungen dabei, sondern befindet sich an seinem heilsamen Ort und erfreut sich dort an seinem Spiel. Ihre Tätigkeit als Trauerbegleiterin verliert somit an Dringlichkeit, weil Sie diese nun als erwachsene Frau mit Freude und Gelassenheit tun. Sie können dann sagen: »Ich mache gerne Trauerbegleitung, aber es gibt noch etwas anderes, was ich genauso gerne mache.« So wird die Trauerbegleitung zu einer wichtigen, jedoch nicht mehr lebenswichtigen Aufgabe, die jetzt gerade »stimmt«, aber später gerne von anderen wichtigen Tätigkeiten und Engagements abgelöst werden kann.

II Wie Verlustskripte im Verlust entstehen – und wie wir sie durch Trauerbegleitung verhindern können

Verlustskripte können sich als Reaktion auf schwere Verluste entwickeln, die ein hohes Risiko in sich tragen, dass aus ihnen dauerhafte Verlustskripte entstehen. Natürlich geschieht das auch vor dem jeweils individuellen Hintergrund der Person der Trauernden, deren Kindheit und Familiengeschichte. Das werden wir in Kapitel III genauer anschauen, jetzt konzentrieren wir uns auf die generellen Mechanismen, wie aus einem schweren Verlust heraus dauerhafte, lebensblockierende Verlustskripte entstehen können. Dies ist häufig dann der Fall, wenn der Verlust traumatisierend ist und alle Bewältigungsmöglichkeiten der Betroffenen übersteigt, wie zum Beispiel beim Tod eines Kindes, bei einem Verlust, der viel zu früh eintritt, oder beim plötzlichen und unerwarteten Tod eines Partners beispielsweise durch einen Herzinfarkt. Dazu kommen Verluste, bei denen der nahe Mensch durch Einwirkung von Gewalt stirbt, wie zum Beispiel bei einem entstellenden Unfall, einem Suizid durch Schienentod oder einem Großschadensereignis. In solchen gewaltförmigen Verlusten wird der Tod als Vernichtungsmacht erlebt, die – aus Sicht der Trauernden – auch den nahen Menschen selbst traumatisiert. Zugleich werden die Trauernden durch solche gewaltförmigen Verluste und durch plötzliche, unerwartete und zu früh eintretende Verluste traumatisiert (Näheres dazu in Kachler, 2021a). Dies zeigt sich auch in den schon beschriebenen Schockreaktionen.

Wie Verlustskripte im Verlust entstehen    45

Schwere Verluste, die plötzlich, unerwartet oder viel zu früh eintreten, wirken ebenso wie gewaltförmige Verluste traumatisierend. In solchen und anderen als schwer erlebten Verlustsituationen gibt es ein erhöhtes Risiko für das Entstehen von blockierenden Verlustskripten.

Sollten dann die Trauernden keine Trauerbegleitung erhalten, kann ihre Psyche einen solch schweren Verlust kaum bewältigen und greift in der Folge zu Verlustskripten. Sie sind wie andere Lebensskripte ein Versuch, mit einer völlig überfordernden Lebenssituation umzugehen und diese – mehr schlecht als recht – zu überleben. Deshalb ist es so wichtig, dass Trauernde bei schweren Verlusten Trauerbegleitung in ganz unterschiedlichen Settings erhalten, angefangen von Trauercafés über ehrenamtliche Trauerbegleitung und Trauergruppen bis hin zu einer professionellen Trauerberatung zum Beispiel an einer psychologischen Beratungsstelle oder einer spezialisierten Trauerberatungsstelle und nicht zuletzt im Rahmen einer Psychotherapie. Dabei ist es eine wesentliche Aufgabe der Trauerbegleitung, das Entstehen von Verlustskripten zu verhindern. Trauerbegleitung dient also auch der Prophylaxe und soll einen fließenden Trauer- und Beziehungsprozess ermöglichen. Gelingt dies, führt ein solcher Prozess zu einem Leben nach dem Verlust, in dem es auch wieder Sinn und Glück geben darf. Stillstände und damit die Gefahr von sich verfestigenden Blockaden, die wir als Verlustskripte formulieren können, sind bei schweren Verlusten zunächst normal, müssen aber in der Trauerbegleitung so gelöst werden, dass der Realisierungs- und Beziehungsprozess wieder in Fluss kommt.

46    Wie Verlustskripte im Verlust entstehen 

1 Verlustskripte entstehen aus dem Verlusttrauma Fallbeispiel 12: Es darf nicht wahr sein, was ich gesehen habe Eine Mutter fährt mit dem Auto hinter dem Wagen ihrer achtundzwanzigjährigen Tochter und sieht, wie diese die Kurve verfehlt und gegen einen Baum fährt. Die Tochter verunglückt also vor den Augen der Mutter tödlich. Immer wieder sagt die Mutter kopfschüttelnd in der Trauerbegleitung: »Das kann nicht wahr sein. Das darf nicht wahr sein. Ich werde und will das nie begreifen. Nein, das ist nicht wahr.« Sie sagt diese Sätze zwar mit Nachdruck, aber fast ohne Emotionen, weil sie noch zu sehr im Schock ist.

Zunächst sind diese Schockreaktionen und die Abwehr der Realität aufseiten der Mutter völlig normal. Ihre tonlos gesagten Sätze drücken sehr angemessen aus, dass sie die Realität nicht verstehen kann und dass die Liebe zu ihrer Tochter sie diese Realität auch nicht verstehen lassen will. Solch spontane Schock­ reaktionen stehen oft am Beginn eines Trauer- und Beziehungsprozesses und sichern das unmittelbare psychische Überleben nach einer schweren Verlustsituation. Sie sind unwillkürliche Reaktionen des Organismus und der Psyche und helfen den Betroffenen, die schreckliche und schmerzliche Realität des Todes eines geliebten nahen Menschen vorerst abzuwehren. Die Schockreaktion drückt sich in angesichts des Unbegreiflichen zunächst durchaus passenden und stimmigen Aussagen aus wie »Das ist nicht wahr«, »Das kann nicht wahr sein« oder »Das ist doch nicht passiert«. Aus diesen ersten Schockreaktionen können sich dann jedoch Verlustskripte entwickeln, die wie andere Lebensskripte ein Versuch sind, mit einer existenziell schwierigen, an sich unlösbaren Situation umzugehen und diese zu überleben. Die Situation ist für Trauernde insofern unlösbar, als der brennende Wunsch,

Verlusttrauma   47

dass der Verstorbene wiederkommen soll, nicht erfüllbar ist. Weil dagegen die schmerzliche Realität unbarmherzig im Raum steht und diese zunächst kaum auszuhalten ist, entstehen dann aus der Angst vor dieser schmerzlichen Realität und vor den schmerzlichen Gefühlen des Verlustes schützende Reaktionen, die sich schon als Skriptsätze formulieren lassen. Zu Verlustskripten werden diese ersten Aussagen nach einem schweren Verlust, wenn sie verallgemeinert, also generalisiert werden, sodass sie das ganze Erleben zwar momentan durchaus treffend beschreiben, aber zugleich auch als scheinbar unveränderlich festschreiben. Verlustskripte, die aus der Schockreaktion entstehen, sind dann festgeschriebene und chronifizierte Sätze wie »Das ist nicht wahr« oder »Das kann ich nie und nimmer begreifen«. Aus der Schockreaktion bei schweren Verlusten entstehen häufig Verlustskripte, die das Nicht-wahrhaben-Können und Nicht-wahrhaben-Wollen festschreiben. Diese Verlustskripte sind ohne eine Trauerbegleitung kaum oder nur schwer zu verändern.

Solche Sätze führen letztlich dauerhaft zu einer meist unbewussten Abwehr, die Realität des Todes des nahen Menschen und den Verlust wahrzunehmen, also als wahr anzunehmen. Wir arbeiten mit dieser ersten Reaktion von Schock und Dissoziation nun so, dass daraus keine Verlustskripte entstehen, indem wir den Trauernden folgende Schritte anbieten: Behutsames Nachfragen und einfühlsame Benennung der Schockreaktionen

Wir fragen nach typischen ersten Schockreaktionen, zum Beispiel nach Empfindungen wie Betäubung oder Eingefrorensein, dem sogenannten Freezing. Auch die Erfahrung, dass die Trau-

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ernden sich als »neben sich stehend«, »unter einer Glasglocke« oder »hinter einer Glaswand« erleben, sowie die Empfindung, dass »alles irreal« ist, bringen wir von uns aus als eine mögliche Reaktion ein. Wir benennen diese Erfahrungen einfühlsam und zugleich sachlich, sodass die Trauernden prüfen können, ob sie diese Reaktionen bei sich erlebt haben oder noch erleben. Normalisierung und Validierung der Schockreaktionen

Wir bringen zum Ausdruck, dass die festgestellten Schockreaktio­ nen angesichts des Schlimmen, was mit dem nahen Menschen bei seinem Sterben und Tod und mit den Hinterbliebenen geschehen ist, ganz normal sind und dass andere Menschen in solch einer Situation mit ähnlichen Gefühlen und Empfindungen reagieren würden. Damit werden diese Reaktionen auch als angemessen validiert. »Erlaubnis« der Schockreaktionen

Wir stimmen den Reaktionen zu, erklären, dass sie völlig in Ordnung sind, und »erlauben« sie den Trauernden, sodass diese sie nicht verbergen und tabuisieren müssen, sondern zu ihnen stehen und sie annehmen können. Erläuterung der Schockreaktionen als Reaktion des Organismus

Wir erklären die Reaktionen als uralte Reaktionsform des Organismus angesichts einer an sich nicht zu bewältigenden, gänzlich überfordernden und unentrinnbaren Situation. Wie bei vielen Säugetieren schaltet unser Körper in solchen Fällen auf eine Art Totstellreflex um, in der Hoffnung, so dem Angriff eines Verfolgers zu entgehen. Auch ein schwerer Verlust stellt in gewisser Weise einen überwältigenden Angriff dar, zum einen auf den nahen Menschen, zum anderen auf die Hinterbliebenen. Unser Körper reagiert dann mit diesem alten Schutzmechanismus aus der gemeinsamen Evolutionsgeschichte der Säugetiere.

Verlusttrauma   49

Erläuterung der Schockreaktion als nötige Schutzreaktion

Wir erläutern, dass die Schockreaktion eine psychische Schutzfunktion darstellt, weil sie die grausame Wirklichkeit über die Empfindung, alles sei unwirklich und irreal, abpuffert. Auch das Gefühl der Betäubung und des Eingefrorenseins mildert die bedrohenden Emotionen des Verlustschmerzes und der Trauer. Unsere Psyche lässt dann die Realität Stück für Stück jeweils nur so weit zu, wie sie den Verlust des nahen Menschen gerade noch aushalten und bewältigen kann. Dieser kluge Mechanismus ermöglicht eine schrittweise Annäherung an die Realität und deren allmähliches Anerkennen. Würdigen des Weiterfunktionierens als Überlebensreaktion

Die Schockreaktionen führen bei den Trauernden zu einem Modus des Funktionierens, sodass sie weitermachen und die ersten wichtigen Aufgaben, wie beispielsweise die Organisation der Bestattung, durchführen können. Zwar fühlt sich dieses Funktionieren für die Trauernden häufig roboter- oder zombiehaft an, aber es lässt sie die Routinen des Alltags und damit das erste Überund Weiterleben bewältigen. Deshalb unterstützen wir die Trauernden, den Modus des Funktionierens zunächst aufrechtzuerhalten, und würdigen diesen als eine wichtige Überlebensreaktion. Öffnung der Schockreaktionen für eine Veränderung

Wir deuten behutsam an, dass die schützenden Schockreaktionen nach etwa sechs bis neun Monaten und dann noch einmal verstärkt um und mit dem ersten Todestag nachlassen werden, während gleichzeitig das allmähliche Vordringen der Realität des Verlustes durch den nachlassenden Schutz des Schocks zunehmend Verlustschmerz und Trauer auslösen wird. Wir sichern den Trauernden zu, dass ihre Psyche dies schrittweise bewerkstelligt und wir sie auch in ihrer dann intensiver werdenden Trauer haltend und lindernd begleiten werden.

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Konstruktive Leitsätze für die Bearbeitung der Schockreaktionen

Wir arbeiten mit konstruktiven und förderlichen Einstellungen zu einem Verlust und bringen diese als hilfreiche Überschriften immer wieder indirekt – oder manchmal auch direkt – ein. Solche konstruktiven Verlustskripte, die ich im Folgenden als Leitsätze bezeichne, können beispielsweise lauten: • Ein schwerer Verlust ist schrecklich und unfassbar und doch auszuhalten. • Jetzt kann nichts und niemand Sie trösten, und dennoch werden wir so arbeiten, dass es tröstlich ist. • Der Schock ist jetzt ein nötiger Schutz und darf da sein. • Die Reaktion des Schocks ist eine hilfreiche Einrichtung der Natur. • Das Nicht-wahrhaben-Wollen und das Nicht-wahrhaben-Können sind jetzt völlig in Ordnung. • Die Psyche wird die Realität Stück für Stück so zulassen, dass sie zu bewältigen ist. • Verlustschmerz und Trauer sind zwar sehr intensiv, doch ich begleite Sie so, dass Sie von ihnen nicht überflutet werden.

Wir normalisieren, validieren, erlauben und erklären also die Schockreaktionen und die dissoziativen Reaktionen so, dass sie von den Trauernden angenommen werden können. Dadurch können sich diese Reaktionen allmählich lösen und gerinnen nicht zu feststehenden Verlustskripten. Zugleich bringen wir die genannten konstruktiven Leitsätze immer wieder als Angebote und als Möglichkeiten ein, sodass die Trauernden diese aufnehmen und für sich einsetzen können.

Angst vor Schmerz und Trauer   51

2 Verlustskripte entstehen aus der Angst vor Schmerz und Trauer Fallbeispiel 13: Ich muss meine Trauer in den Griff bekommen Der zwanzigjährige Sohn stirbt an einer Krebserkrankung nach mehreren dramatischen und den Vater traumatisierenden Notfallsituationen. Der Vater kann und will den Tod seines Sohnes nicht akzeptieren. Auch fürchtet er den intensiven Schmerz und die immer wieder flutartig aufbrechende Trauer. Er hat die Sorge, dass die Trauer ihn ohnmächtig und handlungsunfähig machen könnte: »Die Trauer ist furchtbar und zieht mich ganz runter.« Diese zunächst verständliche Sorge führt bei ihm zur Skriptschlussfolgerung: »Und deshalb tue ich alles dafür, dass ich die Trauer abwehre und in den Griff bekomme.« Er arbeitet sehr viel, verstärkt seine Hobbys und ist ständig unterwegs, so als wäre er vor seiner Trauer auf der Flucht. Doch der Verlustschmerz und die Trauer holen ihn in Form von schweren Herzattacken wieder ein. Weil medizinisch kein Befund vorliegt, weiß er, dass seine Herzbeschwerden nichts anderes als der Ausdruck seines vermiedenen Verlustschmerzes und seiner Trauer sind.

Wenn sich der erste Schutzschild des Schocks, des Freezings und der Betäubung allmählich löst, dringt die Realität des Verlustes immer stärker ins Erleben der Trauernden. Dabei entstehen oft sehr massive Verlustschmerzattacken, die geradezu überflutend oder sogartig wirken können. So entsteht häufig eine Angst vor der Überflutung bzw. dem Verschlungenwerden durch diese intensiven Gefühle. Deshalb versuchen Trauernde, diese Gefühle abzuwehren oder – meist die Männer – unter Kontrolle zu halten, und lassen sich nicht auf die Realisierungsarbeit ein, die unweigerlich mit Schmerz und Trauer verbunden ist. Hinter der

52    Wie Verlustskripte im Verlust entstehen 

Angst vor Schmerz und Trauer steht dabei auch die Angst vor der Realität des Verlustes, die über die körperliche Erfahrung von Schmerz und Trauer zu einer erlebten und damit konkreten Realität wird. Ebenso schmerzhaft ist dann das Wahrnehmen der Endgültigkeit des Verlustes, das meist mit dem ersten Todestag bzw. im zweiten Trauerjahr eintritt. Aus dem Erleben von Schmerz und Trauer entstehen häufig Verlustskripte, die die Abwehr, das Vermeiden und die Kontrolle dieser Verlustgefühle festschreiben.

Zunächst sind eine Abwehr bzw. das Vermeiden der intensiven Verlustschmerz- und Trauergefühle sehr verständlich, sind diese doch stark belastend und oft auch überfordernd. Wird aber eine abwehrende, kontrollierende Haltung gegenüber Schmerz und Trauer aufrechterhalten, führt dies zu folgenden Verlustskripten, die wiederum die Abwehr von Schmerz und Trauer festschreiben: • Ich verbiete mir meine Trauer und will sie nicht spüren. • Schmerz und Trauer sind bedrohlich, deshalb werde ich sie kontrollieren und abwehren. • Schmerz und Trauer zeigen die Realität, die ich nicht wahrhaben kann. • Trauer ist nicht auszuhalten, deshalb vermeide ich sie. • Ich bin wütend auf Schmerz und Trauer. Sie sollen verschwinden. • Schmerz und Trauer dürfen nicht sein und sind ein Zeichen von Schwäche. • Schmerz und Trauer sind überflüssig, und es muss ja auch weitergehen. • Ich kann anderen meine Trauer nicht zumuten. • Ich muss möglichst schnell abschließen und die Trauer schnell bewältigen.

Angst vor Schmerz und Trauer   53

• Mir geht es nur noch schlecht. Ich will diese schlimme Trauer so schnell wie möglich loshaben.

Neben diesen kontrollierenden Verlustskripten aufgrund von Schmerz- und Trauergefühlen gibt es weitere, seltener vorkommende Skripte, wie das folgende Fallbeispiel zeigt: Fallbeispiel 14: Meine unendliche Trauer ist eine nie mehr endende Flutkatastrophe Die Mutter liebt ihren zwanzigjährigen Sohn, der ein unerwarteter Nachzügler ist, über alles. Sie ist so glücklich, dass sie ihn noch bekommen hat, und teilt mit ihm alles. Dann stirbt der junge Mann, weil er beim Bergwandern ins Stolpern gerät und eine Steilwand hinabstürzt. Für die Mutter ist der Tod ihres Sohnes nicht nur total sinnlos, sondern eine Katastrophe für ihr ganzes Leben, das nun selbst sinnlos geworden ist. Sie erlebt eine rasende Sehnsucht und einen Verlustschmerz, der sie beinahe verrückt werden lässt. Zwei Jahre nach dem Tod ihres Sohnes liegt sie tageweise im Bett und weint, schluchzt und schreit. Sie kann ihre Trauer trotz hoher Medikation kaum kontrollieren. Sie sagt: »Das wird nie aufhören, weil mein Sohn nie mehr wiederkommen wird.«

So verständlich der Verlustschmerz und die Trauer über diesen grausamen und tatsächlich sinnlosen Tod ihres Sohnes sind, sosehr verbleibt die Mutter ganz in ihrem Schmerz. Sie erlebt diesen nicht nur als übermächtig, sondern liefert sich ihm aus und lässt sich ganz in ihn hineinfallen. Es scheint so, als tröste sie das Trauergefühl selbst. Sie entwickelt verschiedene Verlustskriptsätze wie »Die Trauer wird nie enden« und »Ich bin meiner Trauer ganz ausgeliefert«. Weitere solcher Skriptsätze, in denen der Verlustschmerz und die Trauer übermächtig und deshalb nicht veränderbar erscheinen, lauten:

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• Schmerz und Trauer sind zu stark – es kann niemals besser werden. • Schmerz und Trauer sind nicht auszuhalten, ich werde verrückt. • Ich kann nur noch trauern und nichts anderes. • Ich bin Schmerz und Trauer ganz ausgeliefert. • Schmerzen und Trauer werden sich nie verändern – sie werden immer bleiben. • Ich lasse mich ganz in die Trauer versinken, und die Trauer hält mich fest. • Ich brauche meine Trauer. Wenigstens sie habe ich noch. • Wenn ich meine Trauer loslasse, verliere ich auch meinen verstorbenen nahen Menschen. Aus dem Erleben von Verlustschmerz und Trauer können Verlustskripte entstehen, die die Übermacht dieser Verlustgefühle und die eigene Ohnmacht ihnen gegenüber festschreiben.

Manche Trauernde ergeben sich ihren Trauergefühlen und geraten dadurch in eine Opferposition. Dabei können wir die Trauer­ gefühle durchaus so gestalten, dass sie uns nicht überfluten und festhalten. Es geht also nicht darum, Schmerz- und Trauergefühle abzuwehren, zu bremsen, abzuwürgen oder gar abzuwerten, vielmehr ist es das Ziel, dass Trauernde gestaltend und konstruktiv mit ihren Schmerz- und Trauergefühlen umzugehen lernen. Damit keine Verlustskripte entstehen, die sich auf Verlustschmerz und Trauer beziehen, arbeiten wir in der Trauerbegleitung nun wie folgt (weiterführend bei Kachler, 2018a; 2019; 2021a):

Angst vor Schmerz und Trauer   55

Erlauben, Normalisieren und Erklären der Verlustschmerzund Trauerreaktion

Ähnlich wie bei der Schockreaktion erlauben und normalisieren wir Schmerz- und Trauergefühle. Diese Gefühle dürfen jetzt so sein, wie sie sind, und sie sind angesichts des schweren Verlustes ganz normal. So können Trauernde ihre Gefühle einordnen und müssen sie nicht als unnormal infrage stellen. Wir erklären die Trauerreaktion als Reaktion des Bindungssystems und als Antwort der Liebe auf den Verlust dieses so wichtigen Menschen. Zusicherung von Containing und Halten der Schmerzund Trauergefühle

Wir sichern den Trauernden zu, dass wir zusammen mit ihnen ihren Schmerz und ihre intensive Anfangstrauer aushalten. Wir gewähren dafür den haltenden Rahmen während der Gespräche und bieten ein sogenanntes Containing an, in dem wir den Schmerz der Betroffenen aushalten, diesen formulieren und ihm eine Gestalt geben, sodass die Trauer für die Betroffenen nicht mehr bedrohlich wirkt. Würdigen von Schmerz und Trauer als Ausdruck der Größe des Verlustes

Der Schmerz und die Trauer zeigen den Hinterbliebenen, wie wichtig dieser verstorbene nahe Menschen für sie ist und war. Je größer der Schmerz, desto größer die Bedeutung dieses Menschen und desto größer die Verlusterfahrung. Verlustschmerz und Trauer spiegeln die Bedeutung des verstorbenen nahen Menschen wider. Würdigen der Trauer als Ausdruck der schmerzenden Liebe

Wir verstehen den Verlustschmerz und die Trauer als eine Form der Liebe, in der die Trauernden die Abwesenheit des nahen Menschen nun schmerzlich erleben. Die Trauer ist nichts ande-

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res als die schmerzende Seite der Liebe. Deshalb braucht es die Trauer, bis sie sich über längere Zeit ganz in die Liebe transformiert. Anleitung zur Selbsttröstung über Selbstberührung

Wir üben mit den Trauernden ein, sich in ihrem Schmerz und in ihrer Trauer heilsam zu berühren. Dazu bitten wir sie, ihre Hand auf schmerzende Körperstellen, beispielsweise auf die Herzregion, zu legen und dort hinein Wärme fließen zu lassen. Den Atem nutzen wir als Trost- und Heilmittel, indem wir die Trauernden bitten, ihn wärmend und tröstend in die Körperstellen des Verlustschmerzes strömen zu lassen. Einladen zum Zulassen von Schmerz und Trauer

Wir laden die Trauernden ein, ihren Verlustschmerz und ihre Trauer zuzulassen. Wir achten darauf, dass sie sich dabei in einem haltenden Rahmen befinden, wie im Gespräch mit uns, zu Hause in einem Sessel oder im öffentlichen Rahmen des Friedhofes. Zudem bitten wir die Trauernden, ihren Verlustschmerz im haltenden Raum des eigenen Autos an einer abgelegenen Stelle nach außen zu schreien. Nur gehaltene und damit immer schon begrenzte Trauer ist hilfreich und kann sich in Liebe verwandeln. Einladen zum Abfließenlassen oder Hinausarbeiten von Schmerz und Trauer

Wir laden Trauernde ein, ihren Schmerz und ihre Trauer nach außen zu bringen. Dies geschieht zunächst im Weinen, bei dem die Tränen die Trauer ins Fließen und ins Abfließen bringen. Männer dagegen arbeiten häufig ihren Schmerz und ihre Trauer nach außen. So bitten wir sie, zum Beispiel beim Joggen oder Walking ihre Trauer ins Laufen und so zum Ablaufen zu bringen.

Angst vor Schmerz und Trauer   57

Einladen zum Aus- und Abatmen von Schmerz und Trauer

Wir bitten die Trauernden, ihren Schmerz und ihre Trauer ins Ausatmen mitzugeben und so im Ausatmen nach außen zu bringen. Der Atem wird so zu einem »Abflussmittel« für die Trauer. Deren Abfließen ist in sich tröstlich und verschafft immer wieder auch Erleichterung. Zudem wird damit verhindert, dass sich Verlustschmerz und Trauer im Körper festsetzen und langfristig körperliche Symptome verursachen. Anleiten zum Symbolisieren und Gestalten der Trauer

Ein weiterer Weg, den Verlustschmerz und die Trauer aus der Psyche und dem Körper zu externalisieren, liegt darin, die Trauernden zu bitten, für ihren Schmerz und ihre Trauer ein Symbol zu finden. Wir laden sie ein, ihr Verlustgefühl im Körper zu spüren und von dort, aus dem eigenen Inneren, eine Metapher, ein Bild oder ein Symbol auftauchen zu lassen. Dann lassen wir sie in der Vorstellung um dieses Bild oder Symbol der Trauer einen Rahmen legen, um anschließend das gerahmte Bild zu malen oder im Internet ein ähnliches Foto zu finden. Wir bitten die Trauernden, dieses Bild außerhalb ihres Körpers zu bewahren, solange die Trauer noch gebraucht wird und deshalb dableiben will. Auch hier arbeiten Männer häufig ganz konkret an dem Bild ihrer Trauer, indem sie diese beispielsweise in Stein oder Holz gestalten. Trauer transformieren lassen in bleibende Wehmut

Mit der hier vorgestellten Arbeit erleben Trauernde im Verlauf einer Trauerbegleitung, wie ihr Schmerz und ihre Trauer weniger intensiv und weicher werden. Hier zeigt sich, dass sich diese Verlustgefühle im Zeitraum von zwei bis drei, manchmal auch erst in vier bis fünf Jahren in eine bleibende Wehmut transformieren. Insofern kann der Trauerprozess bei schweren Verlusten nie ganz abgeschlossen werden, zumal die Lücke, die der verstorbene nahe Mensch hinterlässt, immer bleiben wird. Diese

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fortdauernde Abwesenheit wird dann aber nicht mehr so intensiv empfunden wie der Anfangsschmerz und die Anfangstrauer, auch wenn sie in einer bleibenden sehnenden Wehmut immer wieder präsent werden. Trauer verabschieden und manchmal als wohlbekannte »Gästin« wieder zulassen

Trauende erleben bei schweren Verlusten oft nach zwei bis drei Jahren, dass ihre Trauer in den Hintergrund tritt. Manchmal bemerken sie mit Schrecken, dass sie die Trauer im Alltag »vergessen«. Das ist ein Anzeichen dafür, dass der intensive anfängliche Verlustschmerz und die Anfangstrauer sich nun allmählich verabschieden. Allerdings wird die Trauer manchmal noch als wohlbekannte »Gästin« in besonderen Situationen – wie an Weihnachten, am Geburtstag des Verstorbenen oder an seinem Todestag – wieder auftauchen. Diese Gästin ist dann allerdings nicht mehr so intensiv wie anfangs, vielmehr ist sie eine deutlich spürbare, aber nicht mehr überflutende Erinnerung an den Verstorbenen. Konstruktive Leitsätze für die Bearbeitung von Verlustschmerz und Trauer

Wir erarbeiten oder bringen von uns aus als Angebot folgende hilfreiche und förderliche Leitsätze für die Arbeit am Verlustschmerz und an der Trauer ein. Sie haben meist die Form einer grundlegenden Erlaubnis und einer Ermutigung: • Die Trauer zeigt den Hinterbliebenen die besondere Bedeutung des nahen Menschen. • Verlustschmerz und Trauer sind die schmerzende Seite der Liebe zum nahen verstorbenen Menschen. • Verlustschmerz und Trauer sind anfangs bedrohlich, aber wir sind diesen intensiven Gefühlen nicht hilflos ausgeliefert. Wir können aktiv mit ihnen umgehen.

Abwehr oder Überbetonung der inneren Beziehung   59

• Trauer darf und muss da sein. Sie hilft zu realisieren, was Realität ist. • Die Realität des Verlustes ist schlimm, und doch kann unsere Psyche sie aushalten. • Verlustschmerz und Trauer müssen ins Fließen und damit ins Abfließen kommen. • Verlustschmerz und Trauer werden milder und weicher werden. Sie wandeln sich in eine bleibende Wehmut. • Verlustschmerz und Trauer treten allmählich in den Hintergrund. Sie können verabschiedet werden, auch wenn sie manchmal – nicht mehr so heftig wie zu Beginn – wieder auftauchen. • Die Realität des Verlustes gehört zu unserem Leben und wird ein integrierter Teil davon.

Wir bringen diese und andere, ähnlich konstruktive Leitsätze immer wieder in die Trauerbegleitung ein. Sie sind für die Trauernden hilfreiche Angebote, die auch für uns als Trauerbegleiterinnen strukturierende und zielgebende Leitplanken unserer Arbeit darstellen.

3 Verlustskripte entstehen aus der Abwehr oder Überbetonung der inneren Beziehung zum Verstorbenen

Wir haben gesehen, dass die meisten Trauernden nicht im üblichen Sinne loslassen, sondern eine innere Beziehung zum Verstorbenen weiterleben wollen. Sie wollen sich die Liebe als weitergehendes Gefühl und die Erinnerungen an den Verstorbenen bewahren. Das Bindungssystem behält ihn als inneres Gegenüber und organisiert sich nach dem realen Verlust im Äußeren neu, indem es eine innere symbolische und imaginative Bezie-

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hung einrichtet. Aber auch hier gibt es mögliche Blockaden, die sich wieder als Verlustskripte im Blick auf die innere Beziehung zum Verstorbenen beschreiben lassen. Fallbeispiel 15: An eine weitergehende innere Beziehung glaube ich nicht Eine dreißigjährige Lehrerin, deren Mann an einer Krebserkrankung verstorben ist, erklärt, dass sie an solche Dinge wie eine weitergehende Beziehung oder einen guten Ort für den Verstorbenen nicht glauben könne. Sie leidet aber daran, dass sie für ihren komatösen Mann an dessen Lebensende entscheiden musste, die Beatmung abzuschalten.

Das Verlustskript dieser Trauernden heißt im Blick auf die innere Beziehung: »Es gibt keine innere Beziehung. Das will und brauche ich nicht.« Paradoxerweise ist sie aber gerade über ihre Schuldgefühle sehr wohl in einer inneren Beziehung zu ihrem verstorbenen Mann. Die Schuldgefühle als einziges Bindungsgefühl binden sie jedoch so destruktiv an ihn, dass sie keine freie Beziehung zu ihm erleben kann. Könnte sie das verstehen und zulassen, so wäre dies die Chance, ihr Skript »Es gibt keine innere Beziehung« zu überwinden und eine für ihre gesamte Trauerbewältigung hilfreiche Erfahrung zu machen. Es gibt Verlustskripte, die eine weitergehende Liebe zum verstorbenen nahen Menschen und eine innere Beziehung zu ihm abwerten, blockieren, abwehren oder leugnen.

Wie in diesem Fallbeispiel gibt es immer wieder Trauernde, die die innere Beziehung nicht zulassen können oder wollen, diese abwehren oder abwerten. Oft entsteht die Abwertung einer inneren Beziehung aus weltanschaulichen Gründen oder aus Rücksicht auf das Umfeld, das von solchen Überlegungen nichts hält.

Abwehr oder Überbetonung der inneren Beziehung   61

Manche Trauernde wollen sich aber auch nicht auf eine innere Beziehung einlassen, weil diese anfangs meist mit Schmerz und Trauer verbunden ist. Die Abwehr und Ablehnung, oft auch Abwertung einer weitergehenden inneren Beziehung äußert sich in den folgenden Verlustskriptsätzen: • Eine innere Beziehung bringt mir meinen lieben Menschen auch nicht zurück. • Eine innere Beziehung ist nur eine Einbildung. • Ich spüre meinen lieben Menschen nicht, deshalb ist eine innere Beziehung nicht möglich. • Die Liebe zu spüren tut so weh. Deshalb vermeide ich die Liebe und eine innere Beziehung. • Was soll ein guter Ort für den Verstorbenen? Er ist einfach weg. Da gibt es nichts. • Ich bin nicht religiös. Deshalb gibt es für mich keinen guten Ort für meinen nahen Menschen. • Die Vorstellung eines guten Ortes für meinen nahen Menschen ist doch nur eine Illusion.

Die Ablehnung einer inneren Beziehung beraubt die Trauernden einer wichtigen Bewältigungsmöglichkeit bei einem schweren Verlust. Eine innere Beziehung kann helfen, mit dem Ende der äußeren Beziehung besser leben zu lernen. Zudem arbeitet die Ablehnung einer inneren Beziehung gegen die natürlichen Bedürfnisse des Bindungssystems in einer Verlustsituation, was viel Energie kostet. Neben der Abwertung der inneren Beziehung kann es aber auch ihre Überbewertung geben, sodass manche Trauernde ganz in der inneren Beziehung gebunden sind und weitgehend oder ausschließlich diese leben. Auch das ist zunächst ganz natürlich, weil in der ersten Zeit nach einem schweren Verlust die innere

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Beziehung oft verzweifelt haltend, manchmal klammernd, aber auch suchend und über den Schmerz vermittelt ist. Es gibt Verlustskripte, die die Trauernden symbiotisch eng und alles andere ausschließend an den verstorbenen nahen Menschen binden. Die innere Beziehung dominiert dann das weitergehende Leben der Trauernden destruktiv.

Aus der Angst, dass die innere Beziehung gefährdet werden oder verloren gehen könnte, werden der Verstorbene und die Beziehung zu ihm über die Maßen festgehalten. Eine solch klammernde innere Beziehung blockiert langfristig die Rückkehr in das Leben. Dies zeigt sich im folgenden Fallbeispiel: Fallbeispiel 16: Ich lebe ganz und gar in der inneren Beziehung zu meinem Mann Der Mann einer fünfundfünfzigjährigen Frau stirbt überraschend an einem Herzinfarkt. Die beiden Partner hatten eine intensive Ehe ohne Kinder gelebt. Nach dem völlig unerwarteten und viel zu frühen Tod des Ehemanns kann und will die Witwe lange Zeit die Realität des Verlustes nicht wahrhaben. Sie unterzeichnet zum Beispiel die Danksagungen nach der Bestattung nicht, weil sie damit den Tod ihres Mannes mit ihrer Unterschrift gewisser­ maßen als endgültig bestätigt hätte. Sie lebt nun in einer intensiven inneren Beziehung zu ihrem Mann und vermeidet Schmerz und Trauer. Allerdings klagt sie, dass sie immer wieder depressive Episoden hat.

Offensichtlich führt diese trauernde Witwe ihre Partnerschaft intensiv als innere Beziehung weiter und wehrt zugleich Schmerz und Trauer ab. Diese zeigen sich dann als depressive Stimmungen, zumal die Abwehr von Schmerz und Trauer auch sehr anstrengend ist. Die Witwe klammert sich also an die innere

Abwehr oder Überbetonung der inneren Beziehung   63

Beziehung und weigert sich, ins Leben zurückzukehren. Zudem besteht die Gefahr, dass diese ausschließlich innere Beziehung auf Dauer durch das Klammern der Trauernden erdrückt wird und vertrocknet. Erst als ich ihr das bewusst mache, lässt sie sich darauf ein, auch den Tod ihres Mannes als Teil seiner und ihrer Biografie zu akzeptieren und zu integrieren. Die Verlustskriptsätze, die wie in diesem Beispiel die innere Beziehung überbetonen, lauten meist wie folgt: • Mir bleibt nur die innere Beziehung. Etwas anderes gibt es in meinem Leben nicht mehr. • Ich lebe ganz in der inneren Beziehung zu meinem nahen Menschen und blende seinen Tod aus. • Ich lebe nur die Liebe zu meinem nahen Menschen und vermeide Schmerz und Trauer. • Ich habe Angst, dass mir mein geliebter Mensch entgleitet, deshalb halte ich ihn ganz fest. • Ich liebe meinen verstorbenen Menschen über alles und idealisiere ihn über die Maßen. • In der inneren Beziehung zu meinem verstorbenen nahen Menschen fühle ich mich selbst ganz geborgen und sicher.

Wenn wir in der Trauerbegleitung, die wir immer auch als Beziehungsbegleitung verstehen, wie folgt arbeiten, dann entstehen keine ablehnenden oder überbetonenden Verlustskripte im Blick auf die innere Beziehung zum verstorbenen nahen Menschen: Erlauben und Ermutigen von Bindungswünschen und -sehnsüchten

Trauernde berichten von einer intensiven Sehnsucht nach dem Verstorbenen. Wir greifen diese einfühlsam auf und erklären sie als ganz normale Reaktion. Wir bieten den Trauernden an, anstelle einer äußeren Beziehung sie beim Finden und Gestal-

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ten einer inneren Beziehung zum verstorbenen nahen Menschen zu unterstützen. Aufgreifen und Unterstützen von spontanen Näheund Präsenzerfahrungen

Wir fragen die Trauernden, wie sie die Nähe ihres verstorbenen nahen Menschen spüren, ob sie ihn immer wieder sehen oder hören und ob sie an seinen Kleidern riechen. Wir verstehen dies als Zeichen der beginnenden inneren Beziehung und erläutern das auch so. Wir ermutigen Trauernde, über diese spontan vorkommenden Erfahrungen den Verstorbenen und die Liebe zu ihm zu spüren. Aufgreifen und Unterstützen von spontaner Kommunikation und Beziehungsritualen

Wir fragen nach, ob und wie die Trauernden mit dem verstorbenen nahen Menschen reden. Diese Gespräche, oft leise, manchmal laut, meist am Grab oder vor dem Foto des Verstorbenen, sind eine wichtige Form der spontanen Kommunikation, die wir unterstützen und weiterführen lassen. So bitten wir Trauernde, beispielsweise Briefe an ihren Verstorbenen zu schreiben. Wir fragen nach Beziehungsritualen wie dem Entzünden von Kerzen für den Verstorbenen oder dem Anziehen einiger seiner Kleidungsstücke. Dies erläutern wir ebenfalls als wichtige spontane Formen der Beziehungsgestaltung. Spüren und Verankern der Verbundenheit und Liebe im Körper

Wenn Trauernde den verstorbenen nahen Menschen über die genannten Nähe- und Präsenzerfahrungen oder über Erinnerungen an ihn spüren, fragen wir sie, wo im Körper sie die Verbundenheit und Liebe zu ihm wahrnehmen. Wir lassen die Trauernden die Liebe an dieser Körperstelle intensiv spüren und lassen sie die Hand dorthin legen, um die Beziehungs­gefühle

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sicher im Körper zu verankern. Hier lautet unsere Leitlinie, dass die Liebe stark werden und bleiben darf, während die Trauer gehen darf. Wenn wir die Nähe- und Präsenzerfahrungen und die Gefühle der Verbundenheit spüren lassen, dann wird meist auch Trauer auftauchen. Dann bitten wir die Trauernden, diese Trauer jetzt in den Tränen abfließen zu lassen und im Ausatmen nach außen zu bringen, und kehren anschließend wieder zurück zu den Körperempfindungen der Verbundenheit und Liebe. Erinnerungen als Beziehungserfahrungen nutzen

Wir bitten die Trauernden, uns ganz verschiedene Erinnerungen an den verstorbenen nahen Menschen zu erzählen. So können wir uns Erinnerungen an die Kindheit des verstorbenen Kindes, an Urlaube, gemeinsame Unternehmungen, an Feste, aber auch an ganz alltägliche Situationen schildern lassen. Dann bitten wir die Trauernden, in der Vorstellung in diese Erinnerungsszene hineinzugehen und jetzt und dort dem verstorbenen nahen Menschen zu begegnen. Auch hier wird wieder Trauer auftauchen, die wir über die Tränen oder das Ausatmen nach außen bringen lassen. Innere Begegnung anleiten und ermöglichen

Wir fragen Trauernde, an welchem konkreten oder symbolischen Ort sie ihrem verstorbenen nahen Menschen begegnen wollen. Wir geben dann den Impuls, sich vorzustellen, dass der verstorbene nahe Mensch an diesem Begegnungsort auftaucht und sie ihm dort jetzt begegnen. Viele Trauernde überlegen sich das auch bereits von sich aus und stellen sich vor, dass sie an solch einem Begegnungsort dem Verstorbenen nahe sind und ihn zum Beispiel um Rat fragen. Auch in Träumen finden diese meist tröstlichen Begegnungen statt, die wir mit unserer Einladung, sich eine solche Begegnung vorzustellen, nur aufgreifen und systematisch nutzen.

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Sichere Orte für den verstorbenen nahen Menschen finden

Das für einen beziehungsorientierten Traueransatz zentrale Konzept ist das der guten, sicheren Orte für die Verstorbenen. Damit sind bergende, schützende, haltende, umfassende und heilsame Orte für den Verstorbenen gemeint. Der Verstorbene wird dort verortet, damit er nicht – wie beim Loslassen – verloren geht, sondern bewahrt und für die innere Beziehung zugänglich bleibt. Wir fragen zunächst nach, ob die Trauernden schon spontan einen Ort, an dem der Verstorbene sich für sie befindet, gefunden haben. Ist dies – wie nicht selten – der Fall, lassen wir uns diesen Ort näher beschreiben, manchmal auch malen oder zeichnen. Manche Trauernde bringen auch aus ihrem religiösen Hintergrund Orte mit. Im christlichen Bereich sind es häufig die Hände Gottes, der Tisch Gottes, das Haus Gottes oder die Liebe Gottes. Andere Trauernde bitten wir, in einer leichten Entspannung bei geschlossenen Augen einen sicheren Ort für den Verstorbenen aus ihrer Intuition und Psyche auftauchen zu lassen. Hier werden häufig weite Landschaften, Lichträume oder das Licht selbst genannt. Wir bieten Trauernden auch an, den Raum der Erinnerung oder Orte in der Natur wie den Regenbogen, den Himmel oder das Meer als sicheren Ort für den Verstorbenen zu wählen. Und wenn wir Trauernde fragen, wo sie im Körper ihren Verstorbenen spüren, dann legen sie meist spontan ihre Hand auf ihr Herz oder den Brustraum. Der Körper ist für viele Trauernde somit ebenfalls ein leicht zugänglicher sicherer Ort für den verstorbenen nahen Menschen. Der Verstorbene wird zu einem nahen oder fernen Begleiter

Wir unterstützen die Trauernden darin, ihren verstorbenen nahen Menschen als einen mitgehenden, oft Rat gebenden inneren Begleiter zu verstehen. Er kann dabei im Herzen, im Geden-

Abwehr oder Überbetonung der inneren Beziehung   67

ken oder in Gedanken mitgehen. Dies hilft besonders dann, wenn Trauernde in das weitergehende Leben, in dem es auch wieder Glück geben darf, aufbrechen möchten. Andere sehen ihren verstorbenen nahen Menschen, wie er ihnen aus der Ferne, zum Beispiel von einem Stern oder vom Himmel, freundlich, wohlwollend und ermutigend zulächelt. Wenn wir in der Trauerbegleitung so arbeiten, finden die Trauernden eine hilfreiche, sichere innere Beziehung zum Verstorbenen. Bei Trauernden, die den Verstorbenen anfänglich verzweifelt halten, sich an ihn klammern und die innere Beziehung überbetonen, kann sich aus dieser zunächst haltenden Gebundenheit eine freie Verbundenheit entwickeln. Diese ermöglicht dann die Rückkehr in ein Leben nach dem Verlust, ohne dass ein schlechtes Gewissen oder ein Schuldgefühl entsteht. Konstruktive Leitsätze für die innere Beziehungsarbeit

Wir erarbeiten oder bieten wieder konstruktive Leitsätze für die weitergehende Liebe und die innere Beziehung zum verstorbenen nahen Menschen an: • Der Tod beendete zwar das Leben des nahen Menschen, aber nicht die Liebe zu ihm. • Die Liebe zum nahen Menschen darf weitergehen, braucht aber nun angesichts seiner äußeren Abwesenheit eine neue Form. • Die innere Beziehung kann als eine körperlich zu erfahrende, gleichwohl imaginative und symbolische Beziehung erlebt werden. • Die innere Beziehung kann aus den spontanen Nähe- und Präsenzerfahrungen, aus dem inneren Gespräch mit dem verstorbenen nahen Menschen und aus Beziehungsritualen entstehen.

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• Anfangs darf die innere Beziehung intensiv haltend, sehnsuchtsvoll, oft auch über den Schmerz vermittelt sein. • Für die innere Beziehung gibt es einen sicheren, haltenden, bewahrenden und heilsamen Ort für den Verstorbenen. • Die innere Beziehung wird zunehmend sicherer und kann deshalb auch freier werden. • Aus der intensiven anfänglichen Gebundenheit wird eine freie und leichte Verbundenheit mit dem verstorbenen nahen Menschen.

Damit sich diese freie Verbundenheit mit dem verstorbenen nahen Menschen einstellen kann, müssen wir allerdings unbedingt noch ungeklärte Themen wie Schuldgefühle oder Wut gegenüber dem Verstorbenen bearbeiten.

4 Verlustskripte entstehen aus einer ungeklärten Beziehung zum Verstorbenen

Massive blockierende Verlustskripte entstehen dann, wenn es in der inneren Beziehung zum verstorbenen nahen Menschen ungeklärte Gefühle und Themen gibt. An erster Stelle stehen hier Wut und Zorn und die Schuldthematik (Kachler, 2021d). Letztere zeigt sich überdeutlich im folgenden Fallbeispiel: Fallbeispiel 17: Die Schuld am Tod des Sohnes Ein vierzigjähriger Landwirt hatte auf seinem Bauernhof selbst eine Häckselmaschine gebaut. Er hatte diese Konstruktion nicht – wie es gesetzlich vorgeschrieben wäre – vom TÜV prüfen und genehmigen lassen. Als er dann mit seinem vierzehnjährigen Sohn an der Maschine arbeitete, stolperte dieser und stürzte in die ungesicherte Maschine. Der Sohn verstarb bei diesem Arbeitsunfall. Der Vater hat am Tod seines Sohnes eine konkrete

Ungeklärte Beziehung zum Verstorbenen   69

Realschuld, die ihn massiv belastet. Er berichtet zwei Jahre später, dass er gar nicht mehr an ihn denken will, weil er mit seiner Schuld nicht wagt, »meinen Sohn anzuschauen«.

Der Vater trägt ganz offensichtlich eine reale Schuld, die dann auch in einem Gerichtsprozess bestätigt wurde. Er ist über die Schuld an seinen Sohn gebunden, zugleich unterbindet die Schuld eine freie, geklärte Beziehung zu ihm. Das Verlustskript heißt hier: »Mein Sohn wird mir nie verzeihen. Es wird immer böse auf mich sein.« Der Vater hat das Gefühl, dass er aus lauter Schuld seinem Sohn nicht in die Augen schauen kann. Deshalb vermeidet er, an seinen Sohn zu denken und eine innere Beziehung zu ihm einzugehen. Das hat als Nebenwirkung auch zur Folge, dass er durch die Beschäftigung mit der Schuld keine Kraft hat, sich auf seinen großen Verlustschmerz und seine Trauer einzulassen. Damit die innere Beziehung möglich wird, aber auch der gesamte Trauer- und Beziehungsprozess in Fluss kommen kann, muss die Schuld also auch in der Beziehung zu seinem Sohn geklärt werden. Nicht immer ist die konkrete Schuld so eindeutig wie in diesem Fallbeispiel, häufig kann sie nicht zweifelsfrei geklärt werden, oder bei den Trauernden gibt es ein Schuldgefühl ohne nachvollziehbaren Grund. Besonders nach dem Suizid eines nahen Menschen entstehen häufig Verlustskripte, die aus dem Gefühl der Mitverantwortung für dessen Suizid stammen. Neben Verlustskripten, die aus konkreter Schuld oder Schuldgefühlen stammen, gibt es solche, die auf andere Beziehungsstörungen oder auf Zorn und Wut zurückzuführen sind und die häufig wie folgt lauten: • Etwas ist zwischen uns unausgesprochen, deshalb vermeide ich die innere Beziehung.

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• Irgendetwas blockiert meine Liebe, und deshalb finde ich keine innere Beziehung. • Mein Mann starb, als wir einen schlimmen Streit hatten, den wir nicht mehr besprochen haben. Das steht immer zwischen uns und blockiert meine Liebe zu ihm. • Ich bin schuldig. Deshalb kann ich keine Liebe zu meinem Sohn leben. • Ich habe nichts Schlimmes getan, dennoch fühle ich mich meinem verstorbenen Mann gegenüber schuldig. Deshalb kann ich seine Nähe nicht spüren. • Hätte ich damals als Alleinerziehende mehr Zeit für meinen Sohn gehabt, wäre er nicht an Drogen geraten und an ihnen gestorben. Es ist meine Schuld. • Ich bin so wütend auf meinen Sohn, dass er sich umgebracht hat. Deshalb ist meine Beziehung zu ihm gestört. • Ich bin zornig, dass wir jetzt ohne meinen Mann auskommen müssen. Er lässt mich mit den Kindern hier alleine zurück. Ich kann gar nicht mehr freundlich an ihn denken.

Auch hier gibt es je nach konkreter Verlustsituation weitere ganz unterschiedliche Verlustskripte, die eine Beziehungsstörung festschreiben und damit die innere Beziehung bremsen, blockieren oder ganz verhindern. Die innere Beziehung blockierende Verlustskripte entstehen häufig aus ungeklärten Beziehungsthemen und massiven Beziehungsgefühlen wie Schuld oder Wut.

Um diese von einer Beziehungsstörung ausgehenden Verlustskripte zu lösen, müssen die Trauernden ihre Beziehungsthemen und -gefühle in die innere Beziehung zum verstorbenen nahen Menschen einbringen, damit sie diese in der Beziehung zu ihm klären können. Wir unterstützen sie dabei mit folgenden Schritten:

Ungeklärte Beziehung zum Verstorbenen   71

Klärendes Gespräch über die Beziehungsstörung

Wir besprechen mit den Trauernden zunächst, welche Hintergründe es für eine blockierte innere Beziehung gibt und wie die dazugehörigen Verlustskripte lauten. Wir klären dies zunächst im Gespräch, allerdings kann sich eine Lösung nur in der inneren Beziehung zum verstorbenen nahen Menschen selbst entwickeln. In diese Beziehung wird dann alles Unausgesprochene und jedes Gefühl, sei es Wut oder Schuld, eingebracht. Brief an den verstorbenen nahen Menschen mit zentralem Beziehungsthema

Aus der Formulierung des Verlustskriptes wird deutlich, was eigentlich geklärt werden muss, also zum Beispiel unausgesprochene Konflikte und der damit verbundene Ärger. Wir unterstützen die Trauernden, dies auf eine einfache, elementare Weise zu formulieren. Dann bitten wir sie, es in einem kurz gehaltenen und mit rituell formulierten emotionalen Sätzen verfassten Brief an den verstorbenen nahen Menschen aufzuschreiben. So lautet der Brief des Vaters an seinen Sohn in Fallbeispiel 17 nur: »Lukas, ich bin verantwortlich für deinen Tod. Das wollte ich nicht, und doch habe nur ich die Maschine gebaut, an der du gestorben bist. Das tut mir unendlich leid.« Wahrnehmung einer Lösung der Beziehungsstörung und des Verlustskriptes

Wir bitten die Trauernden, den Brief vor dem Grab oder einem Foto des Verstorbenen vorzulesen und dann darauf zu achten, über welche Einfälle, innere Stimmen oder innere Bilder sich eine Lösung anbahnt. Sehr oft kommen die Trauernden darüber in ein klärendes inneres Gespräch mit dem verstorbenen nahen Menschen und spüren, dass er ihnen verzeiht.

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Klärung in einer inneren Begegnung mit dem Verstorbenen

Wer die Methoden der Stuhlarbeit aus der Gestalttherapie oder der inneren imaginativen Bühne kennt (Kachler, 2018a), kann den Trauernden bitten, in dieser imaginierten Begegnung auf der inneren Bühne die Sätze aus dem Brief direkt in die Beziehung einzubringen. Es ist oft sehr berührend, wie der imaginierte verstorbene nahe Mensch darauf mit einer elementaren Geste oder Antwort reagiert und zum Beispiel zur Schuld des Hinterbliebenen sagt »Lass es gut sein« oder »Es ist gut so«. Hier gibt es keine langen Versöhnungsreden vonseiten des Verstorbenen, sondern einfache Antworten oder verzeihende Gesten. So nimmt der an der Maschine verunglückte Sohn seinen Vater in die Arme und sagt nur: »Ach, Papa!« Der Vater spürt eine große Erleichterung und beginnt zu weinen. Konstruktive Leitsätze für die Klärung der inneren Beziehung zum Verstorbenen

Beim Vorliegen von ungeklärten Themen und Gefühlen in der inneren Beziehung zum verstorbenen nahen Menschen arbeiten wir in der Trauerbegleitung mit folgenden konstruktiven Leitsätzen: • Es ist ganz normal, dass es in der inneren Beziehung zum Verstorbenen Unausgesprochenes und Ungeklärtes oder intensive Gefühle wie Wut geben kann. • Wir können Ungeklärtes in der Beziehung zum Verstorbenen klären und auflösen. • Wut und Zorn gegenüber dem Verstorbenen sind ganz normal, besonders nach dem Suizid eines nahen Menschen. • Wut gegen den Verstorbenen darf sein und darf ihm gegenüber geäußert werden. Die Liebe zum Verstorbenen hält die Wut aus, und geklärte Wut führt zu einer nahen inneren Beziehung.

Lebensverzicht   73

• Reale und gefühlte Schuld gegenüber dem verstorbenen nahen Menschen können im Dialog mit ihm bereinigt werden, eine Versöhnung ist möglich.

Mit der Aufarbeitung von ungeklärten Themen, insbesondere von Schuld und Schuldgefühlen sowie von Wut und Zorn, kann die über diese Themen gebundene innere Beziehung zum verstorbenen nahen Menschen zu einer freien und gelassenen Beziehung werden. Der Verstorbene gehört nun wie selbstverständlich zum weitergehenden Leben, manchmal näher und intensiver, manchmal eher im Hintergrund. Er bleibt ein wichtiges inneres Gegenüber, mit dem die Hinterbliebenen reden, weinen und auch lachen können

5 Verlustskripte entstehen aus einem Lebensverzicht

Auch im Blick auf das weitergehende Leben nach einem schweren Verlust gibt es Verlustskripte, die dieses Leben bremsen und blockieren können. Unmittelbar nach dem Verlust steht das Weiterleben im Zeichen der Schockreaktion und ist häufig ein reduziertes, betäubtes Leben. Hier geht es um ein reines Funktionieren, damit der Alltag ohne den verstorbenen nahen Menschen gelebt werden kann. Mit der aufbrechenden Trauer ziehen sich viele Trauernde dann zurück und meiden Vergnügungen, Unternehmungen, Einladungen von Freunden oder Feste. In ihrem Verlustschmerz haben sie hierfür wenig Energie, zudem passen ihre traurigen Empfindungen nicht zu den fröhlichen Stimmungen zum Beispiel bei einer Betriebsfeier. Trauernde verzichten hier oft ganz bewusst, aus der eigenen Stimmung der Trauer heraus, auf das bisherige Leben.

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Wenn sich diese Reaktionen verfestigen, können folgende Verlustskripte entstehen: • In meinem Leben ist alles ganz anders, ja zerstört. Was soll da noch kommen? • Das Leben macht keine Freude mehr, und das wird so bleiben. • Ich habe Angst vor der Fröhlichkeit der anderen. Da wird mein Schmerz nur noch größer. Ich kann wohl nie mehr fröhlich sein. • Alles erscheint banal. Das brauche ich nicht mehr. • Die anderen führen ihr Leben weiter, und ich bleibe zurück.

Auch hier würdigen wir zunächst diese Erfahrungen als für den schweren Verlust angemessen. Wenn der Schock sich in der Trauerbegleitung dann allmählich lösen kann und Schmerz und Trauer abfließen, können sich Trauernde langsam wieder für kleinste Momente des Wohlbefindens öffnen. Wir machen ihnen diese Momente bewusst und ermutigen sie, solche Erfahrungen anzunehmen. Die für den verstorbenen nahen Menschen übernommenen Aufgaben, wie zum Beispiel das Sammeln und Ordnen von Erinnerungen, lassen die Trauernden auch wieder kleinste Erfahrungen von Sinn machen. So können Trauernde zumeist nach etwa anderthalb bis zwei Jahren allmählich wieder Lebendigkeit in sich und im Leben spüren. Spätestens dann kommt allerdings noch einmal eine hohe Hürde, die die Rückkehr in das eigene Leben schwer macht, wie das folgende Beispiel zeigt: Fallbeispiel 18: Der Vater, der sich keine Freude erlaubt Ein Vater, dessen fünfzehnjähriger Sohn ein Jahr zuvor verstorben war, fährt an einem sonnigen Tag mit dem Auto an einem See entlang. Er hört Musik im Autoradio und erlebt zum ersten Mal wieder richtige Freude. Doch dann durchzuckt ihn brennend der Gedanke »Wie kannst du dich jetzt so freuen. Dein Sohn kann das nie mehr

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erleben.« Er stellt das Autoradio ab und spürt seine Trauer. Beim weiteren Nachdenken wird ihm aber klar, dass sein Sohn ihm diese Freude nicht nur erlaubt, sondern ausdrücklich gewünscht hätte.

Der Vater verbietet sich in diesem Beispiel zunächst seine Freude aus Rücksicht auf seinen verstorbenen Sohn. So verzichten viele Trauernde aus Loyalität gegenüber dem Verstorbenen auf eigenes Wohlbefinden, auf Glückserfahrungen und Freude und verbleiben damit in einer fortbestehenden Traurigkeit, die eine eigene Lebendigkeit bremst oder blockiert. Verlustskripte können einen Verzicht auf ein weitergehendes Leben, in dem es wieder Glück geben darf, festschreiben. Dabei wird dieser Lebensverzicht als dauerhaftes Liebesopfer für den verstorbenen nahen Menschen verstanden.

Auch ein solches Liebesopfer ist bei schweren Verlusten zunächst ganz normal. Allerdings kann dieser Verzicht aus Liebe – zusammen mit dem allgemeinen Lebensverzicht aus den Stimmungen von Schmerz und Trauer heraus – wieder zu einem dauerhaften Verlustskript werden, das ein allmähliches Eintreten in ein Leben, in dem es auch wieder Sinn und Glück geben darf, verhindert: • Wie kann ich leben, wenn mein Mann nicht mehr leben darf? Deshalb lebe auch ich nicht mehr (ganz). • Wie kann ich etwas Schönes erleben, wenn mein Sohn nie mehr etwas Schönes erleben darf? • Wie kann ich fröhlich sein, wenn meine Tochter bei ihrer Krankheit und ihrem Tod so leiden musste? • Ich verzichte für meinen verstorbenen Sohn auf ein schönes Leben. • Aus Liebe opfere ich mein Leben für meine Tochter und bleibe in der Trauer.

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Wir machen den Trauernden diesen Verzicht aus Liebe bewusst und bringen ihn wie andere ungeklärte Themen über einen Brief oder eine innere Begegnung in die innere Beziehung zum verstorbenen nahen Menschen ein. In aller Regel kommt vom vorgestellten verstorbenen nahen Menschen dann nicht nur die Erlaubnis, sondern sogar die ausdrückliche Ermutigung, also im Grunde der Segen dafür, wieder in das Leben zu gehen, wieder lebendig zu werden und Schönes wieder zuzulassen. Konstruktive Leitsätze für die Arbeit am ­weitergehenden Leben

Auch im Blick auf das weitergehende Leben setzen wir den beschriebenen Verlustskripten konstruktive Leitsätze entgegen, die wir in die Trauerbegleitung einbringen: • Das anfängliche reine Funktionieren nach einem schweren Verlust ist in Ordnung. Es wird sich allmählich auflösen. • Jede auch noch so kleine Erfahrung von Sinn und von Wohlbefinden ist wichtig und wird wertgeschätzt. • Der verstorbene nahe Mensch wird seinen Segen und seine Mitfreude für das weitergehende Leben geben. • Auch nach einem schweren Verlust darf es wieder Glück geben. Zwar wird es nicht mehr so leicht und heiter wie vor dem Verlust, sondern schwerer und dunkler sein, aber es ist wieder Glück. • Auch wenn der Tod des nahen Menschen und die erste Zeit nach seinem Tod sinnlos erscheinen, werden sich allmählich wieder Sinnerfahrungen ergeben.

Damit sind wir am Ende einer gelingenden Trauer- und Beziehungsbegleitung angelangt, in der Verlustskripte im Entstehen aufgegriffen und so gelöst werden können, dass der gesamte Prozess im Fließen bleibt und sich damit hin zu einem weiter-

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gehenden gelingenden und erfüllten Leben nach einem schweren Verlust bewegen kann.

Anleitung zur Selbstreflexion für Trauerbegleiterinnen und Trauerbegleiter Meine eigenen Verlustskripte als Trauerbegleiterin und Trauerbegleiter – Meine Haltung gegenüber Schmerz und Trauer Am Ende des ersten Kapitels haben wir den Zugang zu unseren eigenen Lebens- und Verlustskripten über eine Schreib­ übung und über das Bild für unsere Arbeit als Trauer­begleiterin gefunden und uns dann unseren allgemeinen Lebensskripten zugewandt. Nun geht es genauer um unsere eigenen Verlustskripte, die sehr wahrscheinlich uns als Trauer­begleiterin motivieren und in unseren Trauerbegleitungen unbewusst dabei sind. Manchmal führt das zu einer Übermotivation oder auch zu unbewussten begrenzenden Einstellungen zu Sterben und Tod, zu Verlustschmerz und Trauer. Wir wollen nun unseren verschiedenen Verlustskripten auf die Spur kommen und uns ihrer bewusst werden. Wichtig ist hier, dass wir nicht nur Verluste durch den Tod eines wichtigen Menschen in unserer Biografie, sondern auch alle anderen Verlusterfahrungen in den Blick nehmen und prüfen, welche Verlustskripte hier entstanden sind.

Eine Zugreise zurück zu unseren Verlusterfahrungen und Verlustskripten Ich bitte Sie, sich Zeit zu nehmen und einen ruhigen Platz zu suchen, sich einige tiefe Atemzüge zu erlauben und – falls Sie möchten – die Augen zufallen zu lassen. Wenn Sie dann ganz

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bei sich und damit bei Ihrer Person und Ihrer Biografie angekommen sind, bitte ich Sie, sich vorzustellen, dass Sie in einem imaginierten Eisenbahnzug zurück in Ihre biografische Vergangenheit fahren. Sie nehmen in der Vorstellung ein großes leeres Buch und einen Stift mit, um sich während der Fahrt Notizen zu machen. Nun sitzen Sie sicher und bequem im Eisenbahnwaggon und schauen von dort aus durch das Fenster auf die vorbeiziehende Landschaft, die Ihr eigenes Leben darstellt. Immer dann, wenn draußen in Ihrer Lebenslandschaft eine Verlustsituation auftaucht, fährt Ihr Lebenszug ein wenig langsamer. Sie schauen nun von Ihrem Sitz und durch die Glasscheibe auf die damalige Verlustsituation. Dies kann der Tod eines nahen Menschen, eines Freundes oder Bekannten sein; es kann aber auch der Verlust eines Wohnortes, der Verlust der Gesundheit oder der Verlust eines wichtigen Lebenswunsches wie zum Beispiel des Kinderwunsches sein. Sie schauen dann, ob über der Verlustsituation eine Überschrift erscheint, die Sie als Verlustskript verstehen können. Diese Skriptgefühle, Skriptsätze oder auch ganze Verlustskripte für jede der ganz unterschiedlichen Verlustsituationen schreiben Sie in Gedanken in das mitgeführte leere Buch. Wenn Sie bei Ihrer Geburt angekommen sind, dreht Ihr Lebenszug wieder um. Nun schauen Sie auf die andere Seite Ihres Lebens und halten Ausschau nach schönen Erfahrungen, nach Ressourcen und Fähigkeiten, auch nach solchen, die Sie für die verschiedenen Verlustsituationen entwickelt haben. Alle diese positiven Erfahrungen sammeln Sie in einem großen Korb, der aussieht wie ein Obst- und Blumenkorb voller Früchte und Blüten. Wenn Sie nun von dieser Zugreise zurückgekommen sind, möchte ich Sie zuerst bitten, Ihre Verlustskripte aufzuschreiben,

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sie sich laut vorzulesen und sich dann mit folgenden Fragen zu den Skriptsätzen zu beschäftigen: • Was spüren Sie beim Lesen Ihrer Verlustskripte? • Wie kommen die Verlustskripte in Ihren Trauerbegleitungen vor? • Wie motivieren diese Verlustskripte Sie für Ihre Arbeit in der Trauerbegleitung? • Welche Verlustskripte sind hilfreich für Ihre Trauerbegleitungen? • Welche Verlustskripte sind manchmal blockierend für Ihre Trauerbegleitungen? Ich möchte Sie bitten, in Ihren nächsten Trauerbegleitungen gut darauf zu achten, welches Ihrer Verlustskripte durch die konkrete Verlustsituation der Betroffenen getriggert wird. Dann stellen Sie sich vor, dass Sie dieses Verlustskript in einen großen Briefumschlag stecken und den Umschlag bei den nächsten Trauer­ gesprächen ganz bewusst zum Beispiel auf Ihren Schreibtisch weglegen. Nun können Sie sich auf die trauernde Person einlassen, während Ihr Verlustskript gut weggepackt ist. Wir werden in den Kapiteln III und IV die Bearbeitung des Verlustskriptes und der jeweils dazugehörigen Verlustsituation angehen. Die positiven Erfahrungen, die Sie auf der Fahrt durch Ihr Leben gesammelt haben, nehmen Sie unterdessen als Ressourcen und Fähigkeiten in Ihre nächste Trauerbegleitung mit, um sie dort vielleicht auch für die Betroffenen hilfreich werden zu lassen.

III Wie Verlustskripte aus der Biografie entstehen – und wie wir sie in der Trauerbegleitung berücksichtigen müssen

1 Wie die Biografie auf einen schweren Verlust vorbereitet

Wenn Menschen von einem schweren Verlust getroffen werden, dann trifft es Menschen mit einer individuellen Biografie, die sie jeweils ganz unterschiedlich geprägt und für das weitere Leben ausgestattet hat. Wir arbeiten also in der Trauerbegleitung nicht nur mit dem schweren Verlust und den darauf folgenden ganz natürlichen Verlustreaktionen des Bindungssystems, sondern immer auch mit individuellen Menschen und deren biografischen Prägungen. Dies wurde in den bisherigen Ansätzen für die Trauerarbeit zu wenig berücksichtigt, sodass manche Trauer­ begleitung zwar an sich für die Verlustreaktion angemessen, aber nicht für diesen individuellen Menschen passend und stimmig war. Deshalb müssen sich Trauerbegleiterinnen auf folgende Konstellationen und Persönlichkeiten einstellen und vorbereiten: Trauernde mit einer gelungenen Kindheit ohne Verlusterfahrung

Immer wieder werden Menschen als Erwachsene von einem schweren Verlust getroffen, die in ihrer bisherigen Biografie keinen Verlust und auch sonst eine unbeschwerte Kindheit und Jugendzeit ohne größere Belastungen und Einschränkungen erlebt haben. Sie konnten von daher sehr positiv und optimistisch gestimmt ins Leben gehen und haben oft sehr konstruktive Lebensskripte entwickelt, wie zum Beispiel »Mich kann nichts

Wie die Biografie auf einen schweren Verlust vorbereitet   81

umwerfen«, »Bei mir ist alles einfach und easy«, »Ich kriege schon alles hin« oder »Es ist immer gut gegangen, dann wird es auch in Zukunft gut gehen«. Solche Lebensskripte drücken viel Zuversicht, Stärke und Resilienz aus, aber zugleich sind derart positive Lebenspläne in gewisser Weise einseitig und nicht ganz realistisch, weil sie nicht auf die Möglichkeit eines schweren Verlustes eingestellt sind. Solche an sich starken Menschen werden dann von einem schweren Verlust oft völlig überrascht und überfordert. Sie sind trotz vielfältiger Stärken nur schlecht auf einen Verlust und auf dessen ganz besondere Herausforderungen vorbereitet. In der Trauerbegleitung von solchen Menschen müssen wir deshalb zwei Aspekte besonders berücksichtigen: Erstens erleben diese bisher von schweren Schicksalsschlägen verschonten Trauernden einen Verlust häufig als Beleidigung und als narzisstische Kränkung. Sie betrachten den Tod eines nahen Menschen als persönlich gegen sie gerichtet und können nicht sehen, dass dies ein Schicksalsschlag ist, der jeden treffen kann. Wir erkennen dann an, dass die Verlusterfahrung für solche Trauernde auch persönlich kränkend ist, führen sie aber langsam zur Einsicht, dass der Tod eines wichtigen Menschen keine Rücksicht auf die persönliche Situation des Hinterbliebenen nimmt. Zweitens müssen wir diese Menschen in der Trauerbegleitung unterstützen, bisher nicht entwickelte Fähigkeiten wie den Umgang mit Ohnmachts- oder Schmerzgefühlen und Trauer erst zu lernen und zu üben. Trauernde mit konstruktiven Lebensskripten aus einer schwierigen Kindheit

Andere Trauernde wiederum haben eine schwierige Kindheit erlebt, zum Beispiel mit Schul- und Entwicklungsproblemen, der Trennung oder Scheidung der Eltern oder auch einer her-

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ausfordernden Familienkonstellation wie einer Patchworkfamilie. Diese Kinder hatten es unter den jeweiligen Bedingungen zwar nicht leicht, dennoch haben sie die belastenden Situationen recht gut bewältigt. Oft haben solche Menschen in der Kindheit trotz allem Schweren auch Unterstützung und Begleitung erlebt, nicht selten suchen sich solche Kinder auch selbst Unterstützung im sozialen Umfeld, bei Lehrern oder bei Peers. Auf dieser Basis haben sie weitgehend konstruktive Lebensskripte entwickelt, wie zum Beispiel »Ich beiße mich da durch«, »Wenn ich es nicht schaffe, hole ich mir Hilfe«, »Auch wenn ich nicht so gemocht werde, ich mag mich selbst« oder »Es ist schwer, aber ich bin auch stark«. Für Menschen, die in ihrer Biografie gelernt haben, mit Schwierigkeiten und Widrigkeiten umzugehen und die dabei Unterstützung erhalten haben, sind die Chancen größer, auch mit einem schweren Verlust zurechtzukommen. Selbst wenn sie in dieser Hinsicht vielleicht keine direkten Umgangsweisen entwickelt haben, so wissen sie doch, wie man Schwierigkeiten und Krisen bewältigen kann. In der Trauerbegleitung können wir somit auf diese Resilienz- und Bewältigungsressourcen zurückgreifen, auch wenn ein schwerer Verlust das Entwickeln weiterer, neuer Fähigkeiten erfordert. Trauernde mit destruktiven Lebensskripten aus einer sehr schwierigen Kindheit

Manche Trauernde haben eine schwierige oder sogar massiv destruktive Kindheit erlebt. Sie waren beispielsweise als Kinder nicht erwünscht oder haben Traumatisierungen durch emotionale, sexuelle oder körperliche Gewalt erfahren. Hier haben wir es meist mit sehr destruktiven Lebensskripten zu tun, wie »Ich bin wohl nicht erwünscht. Ich mache mich vom Acker«, »Alle sind gegen mich, also mache ich mich selbst klein und fertig«, »Ich bin ungeliebt. Wer kann mich schon lieben? Am wenigs-

Wie die Biografie auf einen schweren Verlust vorbereitet   83

ten ich mich selbst« oder »Ich kann mich noch so anstrengen, ich kriege nichts hin. Ich bin unfähig«. Solche destruktiven Skripte schränken die Selbstwirksamkeit und das Selbstwertgefühl massiv ein. Häufig entwickeln sich starke Ohnmachts- und Resignationsgefühle, die es schwer machen, neue Herausforderungen aktiv und selbstbewusst anzugehen. Für solche Menschen ist nun ein schwerer Verlust als Erwachsene eine kaum zu bewältigende Erfahrung. Diesen Trauernden fehlen nicht nur die Basis von Resilienz und Grundvertrauen ins eigene Ich und in das Leben, sondern auch konkrete Fähigkeiten für den Umgang mit einer weiteren Lebenskrise durch einen Verlust. Häufig können sie sich keine Hilfe suchen, oft lehnen sie eine Trauerbegleitung ab oder brechen sie nach kurzer Zeit ab. Für solche Menschen ist deshalb eine übliche Trauerberatung in aller Regel nicht ausreichend. Sie brauchen vielmehr Unterstützung im Rahmen der psychotherapeutischen Versorgung. Trauernde mit Verlustskripten aus der Biografie – prägende Verluste in der Kindheit und Jugend

Und schließlich gibt es immer wieder Trauernde, die in der Kindheit oder Jugend bereits einen schweren Verlust wie den Tod eines Elternteils oder Geschwisters erlebt und daraus Verlustskripte entwickelt haben, welche nun durch einen neuen Verlust getriggert und aktualisiert werden. Das wollen wir uns in Kapitel III, 3 genauer anschauen, weil wir dabei auch die Dynamik von Verlustskripten noch einmal besser verstehen werden. Die beschriebenen unterschiedlichen biografischen Prägungen können sich natürlich auch vermischen oder überlagern, sodass wir oft durchaus verschiedene biografische Einflüsse nebeneinander antreffen. So kann eine Trauernde eine schwierige Familiensituation konstruktiv für sich gelöst, aber den Tod einer

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Freundin in der Pubertät nur schlecht und mit destruktiven Verlustskripten bewältigt haben. In der Trauerbegleitung fragen wir über die konkrete Verlustsituation hinaus meist im zweiten oder dritten Gespräch nach Prägungen in der Biografie, insbesondere nach frühen Verlusterfahrungen in Kindheit und Jugend, die die Bewältigung der aktuellen Trauersituation beeinflussen können. Wird hier deutlich, dass die biografische Prägung eine wichtige Rolle in der akuten Verlustsituation spielt, können wir vereinbaren, dass wir uns in einem der nächsten Gespräche damit näher beschäftigen werden. Dabei betonen wir, dass dennoch der aktuelle Verlust und der Tod des nahen Menschen im Zentrum der Trauer­ begleitung stehen werden.

2 Allgemeine Lebensskripte aus der Biografie – durch den Verlust aktiviert

Aktuelle Verluste treffen Menschen nicht nur in ihrer jetzigen Lebenssituation, sondern auch im Hinblick auf ihre Biografie und die dort entstandenen allgemeinen Lebensskripte, die durch einen Verlust nun aktiviert und aktualisiert werden können. Hier eine Auswahl typischer Lebensskripte, die bereits zu Verlustskripten geworden sind: • Ich verdiene es einfach nicht, glücklich zu sein. Und der Tod meines nahen Menschen ist das größte Unglück. • Es muss an mir liegen, dass mir immer wieder etwas zustößt, so wie jetzt der Tod meines nahen Menschen. • Ich bin ein Versager, und jetzt habe ich beim Tod meines Kindes wieder versagt. • Ich war schon immer schuldig und bin es jetzt auch am Suizid meines Sohnes.

Allgemeine Lebensskripte aus der Biografie   85

• Ich bin nicht in Ordnung und verdiene Strafe. Der Tod meines nahen Menschen ist die schlimmste Strafe. • Mir wird immer alles genommen und jetzt auch noch mein naher Mensch. • Das Leben ist ungerecht und unfair, und es gibt nichts Ungerechteres als den Tod meines nahen Menschen. • Beziehungen sind unsicher und gefährdet, und jetzt ist mit dem Tod meines nahen Menschen meine wichtigste Beziehung zu Ende.

Der Tod eines nahen Menschen wird entsprechend dieser Lebensskripte oft als Strafe, als Ausgleich für Schuld, als erneute Erfahrung von Ungerechtigkeit, als Bestätigung des immer schon erlebten eigenen Unglücks oder als Bestätigung der grundlegenden Unsicherheit von Beziehungen verstanden. Was nun in der akuten Verlustsituation konkret geschieht, können wir uns noch einmal anhand von Fallbeispiel 4 »Immer trifft es mich und jetzt auch noch der Tod meines Mannes« verdeutlichen. Der plötzliche Tod des Mannes der Trauernden trifft diese in dem allgemeinen Lebensskript »Immer trifft es mich. Ich darf nicht glücklich sein«. Der jetzige Verlust reaktiviert dieses Lebensskript, scheint es zu bestätigen und verfestigt es damit erneut. Daraus entsteht nun das aktuell wirksame Verlustskript: »Wie immer trifft es mich. Ich werde nie mehr glücklich. Ich werde für immer trauern.« Die Betroffene schreibt mit diesem Verlustskript ihre Trauer und damit ihre schon häufig erlebten Unglückserfahrungen weiter fest. Die Trauer kann so nicht ins Fließen und Abfließen kommen, bleibt in der Betroffenen stecken und zeigt sich langfristig als Depression. Genauso tragisch ist es, dass mit diesem Verlustskript und der festgeschriebenen, nun zur Depression geronnenen Trauer auch ihre innere Beziehung zu ihrem Mann und ihr weitergehendes Leben blockiert sind.

86    Wie Verlustskripte aus der Biografie entstehen

Ein häufiges Lebensskript, das durch einen aktuellen Verlust getriggert wird, bezieht sich auf Themen des Versagens, in diesem Fall beim Tod eines nahen Menschen und der gefühlten Schuld daran. Fallbeispiel 19: Ich muss schuld sein am Tod meines Sohnes Eine Mutter, deren zwanzigjähriger Sohn unter tragischen Umständen tödlich verunglückte, fragt sich immer wieder, wie der Unfall passieren konnte. Sie zermartert sich dabei das Gehirn und sagt dann: »Was habe ich nur verbrochen, dass man mir meinen Sohn genommen hat?« Ich frage sie, wie sie auf diesen Gedanken kommt. Sie antwortet: »Ich habe mich schon immer schuldig gefühlt. Ich glaube, weil ich als Kind nicht mehr erwünscht war und ich mich für das Unglück meiner Eltern schuldig fühlte.«

Bei diesem Fallbeispiel gibt es ein altes allgemeines Lebensskript »Ich bin schuldig, weil meine Eltern wegen meiner Geburt und mir unglücklich waren«. Das Kind bezieht das Unglück der Eltern auf sich und fühlt sich – wie viele Kinder in solchen Situationen – dafür verantwortlich. Die Eltern haben umgekehrt ihre Tochter auch spüren lassen, dass sie sie doch zumindest teilweise für ihr Unglücklichsein verantwortlich machen. So entsteht das allgemeine Schuld-Lebensskript, das die Frau prädestiniert, sich in unterschiedlichsten Lebenssituationen schnell verantwortlich und schuldig zu fühlen. Genau dazu passt dann der Tod ihres Sohnes, der die Mutter in ihrem Lebensskript trifft, sodass sie sich auch für ihn verantwortlich und tief schuldig fühlt. So wird das biografisch begründete Schuldgefühl nicht nur aktiviert, sondern durch den Tod des Sohnes noch massiv gesteigert. Die Mutter ist nun über ihr Schuldgefühl destruktiv an ihren Sohn gebunden, zugleich blockiert das Schuldgefühl eine positive, freie innere Beziehung zu ihm. Und da sich ihr ganzes Denken um ihre Schuld dreht,

Allgemeine Lebensskripte aus der Biografie   87

vermeidet sie auch das Zulassen von Schmerz und Trauer. Das aktivierte Lebensskript ist nun zu einem den gesamten Trauerund Beziehungsprozess blockierenden Verlustskript geworden. Dieser Stillstand wird sich langfristig in einer depressiven Symptomatik zeigen, wenn es der Mutter nicht gelingt, ihr Lebensskript vom akuten Verlust zu unterscheiden und das Lebensskript wenigstens ein Stück weit zu lösen. Erst dann kann sie auch das Verlustskript und damit den Stillstand des Trauerund Beziehungsprozesses lösen. Wenn wir die Prozesse in diesen beiden Fallbeispielen noch einmal zusammenstellen, dann zeigt sich folgender Ablauf: • Allgemeine Lebensskripte können durch einen aktuellen Verlust getriggert und aktualisiert werden. • Der aktuelle Verlust scheint die allgemeinen Lebensskripte zu bestätigen. • Das Lebensskript wird auf die aktuelle Verlustsituation bezogen und entwickelt sich so zu einem Verlustskript. • Das aus einem Lebensskript entstehende Verlustskript blockiert das Zulassen von Verlustschmerz und Trauer ebenso wie die innere Beziehung zum verstorbenen nahen Menschen, sodass der gesamte Trauer- und Beziehungsprozess zum Stillstand kommt. • Das aus einem Lebensskript entstehende Verlustskript verhindert schließlich auch ein wieder glückliches Leben nach einem schweren Verlust, was sich dann häufig als Verlust­ depression zeigt (Kapitel IV, 3). In der Trauerbegleitung befragen wir deshalb Verlustskripte, ob sie nicht auf einem allgemeinen Lebensskript beruhen, zum Beispiel: »Woher kennen Sie das Schuldthema sonst noch aus Ihrem Leben?« oder »Welches alte Lebensgefühl wird jetzt durch den Tod Ihres nahen Menschen wieder geweckt?«

88    Wie Verlustskripte aus der Biografie entstehen

Wie wir Trauernde bei der anschließenden Transformation des Lebens- und Verlustskriptes begleiten, werden wir in Kapitel V sehen.

3 Verlustskripte aus unbewältigten Verlusten in der Kindheit und Jugend

Für die Trauerbegleitung ist es eine besondere Herausforderung, wenn Menschen bereits in ihrer Kindheit oder Jugendzeit einen schweren Verlust erlebt haben und nun der aktuelle diesen frühen Verlust erneut aktiviert. Dann sind die Trauerbegleiterinnen mit einem doppelten Verlust konfrontiert, dem aktuellen und dem frühen. Das Erleben des aktuellen Verlustes ist dabei funda­mental vom Erleben des frühen Verlustes geprägt (Röseberg u. Müller, 2014; Kachler, 2021b). Wir müssen deshalb als Trauer­begleiterinnen diesen frühen Verlust berücksichtigen, sonst können wir die aktuellen Reaktionen nicht verstehen, schon gar nicht hilfreich begleiten. Schwere und deshalb immer auch prägende Verluste sind der Tod eines Elternteils, eines Geschwisters oder auch eines emotional wichtigen Großelternteils, eines geliebten Onkels, einer idealisierten Tante, manchmal auch der Tod einer Freundin in der Peer-Gruppe in der Pubertät. Daraus entwickeln sich bei Kindern und Jugendlichen sehr häufig Verlustskripte, die spätestens bei einem weiteren Verlust ihre destruktive Wirkung zeigen. Dabei ist zu beachten, dass frühe Verluste in Ausnahmefällen durchaus auch gut bewältigt werden können und sich hier produktive Verlustskripte entwickeln, die die späteren Erwachsenen gegenüber einem schweren Verlust resilienter als andere Trauernde machen.

Verlustskripte aus unbewältigten Verlusten   89

Das Besondere der Verlustskripte bei Kindern und Jugendlichen

Auch Kinder und Jugendliche erleben bei einem schweren Verlust die in Kapitel II beschriebenen Prozesse wie die Schock­reaktion, das Erleben der schmerzlichen Realität zusammen mit Verlustschmerz und Trauer, den Wunsch nach einer weitergehenden Verbundenheit mit dem verstorbenen nahen Menschen sowie eine durch den Verlust gebremste Entwicklung und Lebendigkeit. Die Verlustskripte von Kindern und Jugendlichen entwickeln sich wie bei Erwachsenen an ebendiesen Stellen des Trauerund Beziehungsprozesses (Kachler, 2021b). Allerdings besitzen die Verlustskripte von Kindern und Jugendlichen eine andere Qualität als die von Erwachsenen, weil ihre Bewältigungsmechanismen noch weniger stark ausgeprägt und sie deshalb einem schweren Verlust häufig ungeschützt ausgeliefert sind (Kachler, 2021b). Zudem sind ihre Bewältigungsstrategien oft kindlich und einfach strukturiert, wie zum Beispiel der Abwehrmechanismus des Abspaltens. Ein Kind denkt: »Wenn ich die Augen verschließe und nichts wissen will, dann ist mein kleiner Bruder nicht gestorben.« Die abgespaltene Realität eines Verlustes ist dann im Erleben des Kindes zeitweise ausgeschlossen oder gänzlich verdrängt. Und schließlich beziehen Kinder und Jugendliche in ihrem ganz normalen sogenannten egozentrischen Welt- und Selbsterleben viele Ereignisse und Verhaltensweisen der Eltern direkt auf sich. So kann ein Kind zum Beispiel denken, dass die Mama gestorben ist, weil es nicht lieb genug zu ihr war. Zunächst schützen solche einfachen, egozentrischen Abwehrmechanismen die Kinder und Jugendlichen vor der schlimmen Realität des Verlustes oder ermöglichen ihnen zunächst hilfreiche Erklärungen. Daraus aber können Verlustskripte entstehen, die für die Entwicklung des Kindes ebenso wie für das spätere Leben nicht hilfreich, sondern begrenzend, nicht selten destruk­ tiv sind.

90    Wie Verlustskripte aus der Biografie entstehen

Kindliche Verlustskripte des Schocks und der Abspaltung der Realität

In Verlustsituationen und der nachfolgenden Trauerzeit entwickeln Kinder und Jugendliche spontane Haltungen zum Tod des nahen Menschen und zu den Verlustgefühlen. Dies sind keine bewussten Entscheidungen oder kognitiven Überzeugungen, vielmehr sind es emotionale Überlebensstrategien, die erst später als Verlustskripte in Worte gefasst und formuliert werden können. Die Verlustskripte von Kindern und Jugendlichen beruhen noch mehr als bei Erwachsenen auf den neurobiologischen Reaktionen des Bindungssystems und des Körpers, die schnell, unwillkürlich und weitgehend unbewusst aktiviert werden. Dies geschieht insbesondere dann, wenn Kinder und Jugendliche den Tod eines nahen Menschen direkt miterleben, wenn sie den Verstorbenen – zum Beispiel nach einem Suizid – auffinden oder wenn sie bei der Überbringung der Todesnachricht dabei sind. In solchen Situationen setzen der Schock, das Freezing und die Betäubung ein. Diese körperlichen Reaktionen sind dann die Basis für die Verlustskripte, die aus dem Schock heraus entstehen und die letztlich das Nicht-wahrhaben-Können und Nicht-wahrhaben-Wollen dauerhaft festschreiben. Dies wird aus dem folgenden Fallbeispiel sehr deutlich. Fallbeispiel 20: Der Tod meiner Frau darf nicht sein Die sehr geliebte Partnerin eines Fünfzigjährigen stirbt an einem Pankreastumor. Er hat sie intensiv in ihrer Krebserkrankung bis zu ihrem Tod begleitet. Zwei Jahre nach ihrem Tod kann er immer noch nicht begreifen, dass seine Partnerin tatsächlich gestorben und tot sein soll. Denkt er daran, erfasst ihn eine Kälte und Lähmung. Immer wieder gibt es intensive Verlustschmerzattacken, die er verzweifelt weinend im Bett verbringt. Auf die Frage, ob er in der Kindheit einen schweren Verlust erlebt hat, erzählt er vom Krebstod seiner Mutter:

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In seinem neunten Lebensjahr ist die schwerkranke Mutter wieder wie so oft im Krankenhaus. Der Junge sitzt in der Badewanne und hört, wie das Telefon klingelt. Sein Vater geht ran. Dann hört der Junge ihn schreien, das Telefon fällt zu Boden. Dem Jungen ist es plötzlich ganz kalt, er friert und zittert. Dann kommt sein Vater ins Bad und sagt mit tonloser Stimme: »Mama ist tot.« Der erwachsene Klient weiß noch ganz genau, wie ihm als Junge der Gedanke durch den Kopf schießt: »Das ist doch gar nicht wahr!«

Der Junge erfährt in einer sehr schwierigen Situation vom Tod seiner Mutter. Obwohl er wusste, dass sie schwer krank war, hatte er sich nicht vorstellen können und wollen, dass sie sterben könnte. Das kann und will er auch in dieser konkreten Situation und ebenso später nicht zulassen. Die Schockreaktion, die der Junge in der warmen Badewanne spürt, wird durch das Erleben der Kälte zusammen mit dem Gedanken »Das ist doch gar nicht wahr!« eingefroren. Wie hier werden kindliches Schockerleben und die dazugehörigen Reaktionen oft zu einem Verlustskript des Schocks und der Dissoziation, die sich später beispielsweise in folgenden Skriptsätzen formulieren lassen: • Ich bin kalt und betäubt und spüre nicht, was passiert ist, und ich will es auch nicht spüren. • Wenn ich das Schlimme nicht spüre und nicht sehe, dann ist es auch nicht wahr. • Es darf einfach nicht wahr sein. Ich verschließe die Augen. • Die Mama kann doch nicht einfach tot sein. Deshalb darf es nicht wahr sein! • In mir und in meinem Kopf ist alles leer. Da ist gar nichts, und deshalb ist da auch nichts Schlimmes. • Da ist nur Nebel – in meinem Kopf und um mich herum. Im Nebel kann und muss ich nichts sehen.

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Aber auch Erwachsene kennen bei einem schweren Verlust diese kindlichen Reaktionen, weil sie in einem solchen Fall oft in die Ohnmacht eines Kindes zurückgeworfen werden. Allerdings funktionieren bei Erwachsenen neben diesen Schockreaktionen meist auch noch eingeübte Verhaltensmuster, die ihnen helfen, jetzt weiter zu funktionieren und zu überleben. Die aus dem kindlichen Körpererleben des Schocks entstehenden Verlustskripte verstärken – wie in dem Fallbeispiel – dann später bei einem erneuten schweren Verlust oft die aktuellen Schockreaktionen, was wiederum zu einem fast kindlich anmutenden Ausblenden und Verweigern der schmerzlichen Realität führt, in diesem Fall des Todes der Partnerin. Kindliche Verlustskripte für Verlustschmerz und Trauer Fallbeispiel 21: Man trauert nicht um den kleinen Bruder und darf ihn nicht mehr liebhaben Die fünfzigjährige Mutter berichtet, dass sie um ihre an einer langen Krebserkrankung verstorbene Tochter kaum trauern und auch keine innere Beziehung zu ihr aufbauen kann. Auf Nachfrage nach einem möglichen biografischen Hintergrund erzählt sie, dass ihr siebenjähriger Bruder vor dem Wohnhaus der Familie von einem Auto überfahren wurde, als sie selbst elf Jahre alt war. Zunächst war sie so im Schock, dass sie keine Trauer spürte, zum Beispiel bei der Bestattung. Ihre Eltern verbaten sich Trauer und Schmerz sogar und zeigten zumindest »offiziell« selbst keine Trauer. So übernahm sie die Haltung: »Meine Eltern trauern nicht, also darf ich auch nicht trauern.« Als dann doch immer wieder ihre Trauer durchbrach, sagte sie sich: »Trauer ist schlimm und gefährlich, deshalb schiebe ich sie schnell weg.«

Dieses Mädchen übernimmt also einerseits die Trauerabwehr der Eltern, andererseits wehrt sie aus Angst vor dem Verlust-

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schmerz und der Trauer diese auch selbst ab. Wie sie entwickeln die meisten Kinder und Jugendlichen bei schweren Verlusten solche Verlustskripte, die entweder die Trauer abwehren oder sie in ihrer Übermacht – und damit die eigene Ohnmacht – festschreiben. Sie lauten zum Beispiel: • Der Schmerz und die Trauer sind so schlimm. Ich bin ganz klein und kann nichts machen. • Der Schmerz um meinen verstorbenen Menschen tut so weh, deshalb schiebe ich ihn ganz weit weg. • Die Trauer ist gefährlich, und ich habe Angst vor ihr, deshalb lenke ich mich immer ab. • Ich schäme mich für meine Trauer, deshalb zeige ich sie nicht und drücke sie weg. • Wenn ich an das denke, was mit meinem Bruder passiert ist, habe ich Bauchschmerzen. • Ich bin ganz allein mit meiner Trauer. Ich werde das nie hinkriegen. • Der Tod meines Bruders ist so schlimm, deshalb werde ich immer traurig bleiben.

Die Verlustskripte dienen hier meist der Abwehr und der Abspaltung von Schmerz und Trauer und damit der Verdrängung der Realität des Verlustes. Werden Verlustschmerz und Trauer über das Verlustskript abgewehrt, dann zeigen sich bei Kindern und Jugendlichen diese Gefühle oft als körperliche Symptome wie Bauch- oder Kopfschmerzen. Andere Kinder erleben die Trauer so massiv, dass sie sich ihr gänzlich ausgeliefert fühlen. Das Verlustskript schreibt dann die Macht und die Unveränderbarkeit der Trauer fest. Kinder und Jugendliche fühlen intensiv mit dem Verstorbenen, sodass sie auch mit ihm und seinem Sterben leiden. Sie sind nicht nur traurig, dass er ihnen fehlt, sondern auch, weil er

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nicht mehr leben darf. Ich bezeichne das als empathische oder identifikatorische Trauer (Kachler, 2021b). Die Verlustskripte für diese bei Kindern und Jugendlichen besonders wichtige Form der Trauer lauten beispielsweise: • Mein Papa wurde bei seinem Tod so schlimm verletzt, und das tut auch mir so weh. • Mein kleiner Bruder musste sterben, deshalb würde auch ich am liebsten sterben. • Ich bin traurig für meine kleine Schwester, und ich werde immer für sie traurig sein. • Es ist so traurig, dass meine Mama nicht mehr leben darf, deshalb bin ich für sie traurig.

Kinder und Jugendliche trauern des Weiteren nicht nur ihre eigene Trauer, sondern sie übernehmen aus dem Familiensystem die Trauer zum Beispiel der Eltern oder eines Elternteils. Auch in unserem Fallbeispiel spürt das Mädchen die Trauer des Vaters um seinen Sohn und sieht die Mutter manchmal heimlich weinen. Weil Kinder sich für die anderen Familienmitglieder verantwortlich fühlen, übernehmen sie deren Trauer in der Absicht, sie zu entlasten und zu trösten. Das führt häufig dazu, dass sich Kinder durch die übernommene Trauer überfordert fühlen und dass sie ihre eigene Trauer zurückstellen. Die Übernahme der Trauer von anderen schützt Kinder also indirekt vor der eigenen, oft gefürchteten Trauer. Die Verlustskripte für diese übernommene, auch als systemisch (Kachler, 2021b) bezeichnete Trauer lauten zum Beispiel: • Mama geht es so schlecht, also nehme ich ihre Trauer zu mir. Das hilft ihr sicher. • Ich sehe, wie Mama trauert, also bin ich auch traurig. Das ist ganz wichtig für sie, und ich bin dann auch ganz wichtig.

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• Wenn ich die Trauer von Mama übernehme, dann bin ich wenigstens für etwas gut. • Papa trauert ja doch heimlich. Das muss ganz schlimm sein. Ich nehme ihm seine Trauer ab. • Wenn Papa nicht trauert, dann muss ich für ihn trauern.

Diese Verlustskripte rechtfertigen die Übernahme der Trauer von den anderen trauernden Familienmitgliedern und schreiben sie zugleich fest. Die meisten Kinder und Jugendlichen nehmen also über die Verlustskripte ihre eigene Trauer des Vermissens, die empathische Trauer für den Verstorbenen und die übernommene Trauer der anderen in ihr Leben und in ihre Entwicklung mit. Kindliche Verlustskripte für die innere Beziehung zum Verstorbenen

Kinder und Jugendliche entwickeln häufig auch Verlustskripte im Blick auf die innere Beziehung zum Verstorbenen. Für viele Kinder und Jugendliche ist diese Beziehung – zum Beispiel in Form des Erinnerns an den verstorbenen nahen Menschen – zu schmerzlich, sodass sie eine innere Beziehung vermeiden. Andere Kinder fürchten eine innere Begegnung mit dem Verstorbenen, besonders dann, wenn sie sich ihm gegenüber schuldig fühlen. Oft erlauben sich auch gerade ältere Kinder und Jugendliche keine innere Beziehung, weil sie glauben, dass das nicht normal sei. Sie schämen sich für diesen Wunsch, verdrängen ihn und reden nicht über ihn. Und schließlich übernehmen besonders kleine Kinder vielfach die Haltung des Umfeldes zu einer inneren Beziehung zum Verstorbenen: Wenn sie von dort keine Erlaubnis, keine Erklärungen und keine Anregungen für eine solche Beziehung bekommen, stellen sie aus einer Verunsicherung heraus ihre eigenen Beziehungswünsche zurück. Sehr häufig deuten Kinder dabei wie in

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unserem Fallbeispiel 21 das Schweigen über den Verstorbenen in der Familie als Hinweis, dass nicht mehr an ihn gedacht werden und dass man keine innere Beziehung zu ihm eingehen darf. Fallbeispiel 21 (Fortsetzung): Man trauert nicht um den kleinen Bruder und darf ihn nicht mehr liebhaben Aus Angst vor dem Verlustschmerz reden die Eltern nicht mehr über ihren verstorbenen Sohn. Das Mädchen hat dadurch den Eindruck, dass der kleine verstorbene Bruder nicht mehr da sein und nicht mehr geliebt werden darf. Nun entwickelt sie Verlustskripte im Blick auf die innere Beziehung zu ihrem Bruder: »Über Moritz darf ich nicht reden. Also ist er gar nicht mehr da« und »Ich darf meinen Bruder nicht mehr gernhaben«. Diese Verlustskripte wirken sich schließlich bei der erwachsenen Frau auch im Blick auf die innere Beziehung zu ihrer an Krebs verstorbenen Tochter aus, zu der sie keine solche aufbauen kann.

Die Schwester des verstorbenen kleinen Bruders schließt aus dem Verhalten ihrer Eltern, dass sie ihren Bruder ausblenden und ihre ganz natürlich vorhandenen Beziehungsgefühle unterdrücken muss. Dies geht so weit, dass auch die erwachsene Frau diesem »gefühlten Liebesverbot« unbewusst folgt und ihre verstorbene eigene Tochter nicht spüren kann. Typische Verlustskripte von Kindern und Jugendlichen, die eine innere Beziehung abwehren, abwerten oder ganz vermeiden, lauten beispielsweise: • Meine Eltern wollen nicht, dass ich meinen gestorbenen kleinen Bruder gernhabe. Das darf also nicht sein. • Ich will nicht mehr an meinen toten Papa denken. Das tut so weh. • Wenn ich an meine gestorbene Mama denke, habe ich Schuldgefühle. Deshalb denke ich gar nicht mehr an sie.

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• Einen verstorbenen nahen Menschen zu lieben geht doch nicht. Also mache ich das auch nicht. • Mein kleiner Bruder ist einfach weggegangen. Er ist einfach nicht mehr da.

Solche Verlustskripte machen es dann den erwachsenen Trauernden bei ihrem aktuellen Verlust schwer, eine innere Beziehung zum Verstorbenen zu spüren und zuzulassen. Häufig wird dies mit sehr rational klingenden Argumenten abgewehrt. Wenn wir genauer hinhören, zeigen sich dabei aber kindliche Verlustskriptsätze, die auf eine frühe Abwehr einer inneren Beziehung hinweisen. Als Gegenstück zu den eine innere Beziehung abwehrenden Verlustskripten gibt es wiederum auch Verlustskripte, in denen die Beziehung zum Verstorbenen symbiotisch eng ist und überbewertet wird: • Ich liebe meinen kleinen Bruder ganz arg. Es gibt nichts anderes im Leben. • Ich vermisse meine gestorbene Mama so arg, dass ich nur noch an sie denke. • Ich liebe meinen verstorbenen Papa über alles. Es wird nie einen anderen wichtigen Menschen geben. • Meine gestorbene kleine Schwester ist so wichtig, ich selbst bin ganz unwichtig.

Oft haben es solche in der inneren Beziehung symbiotisch gebundene Kinder und Jugendliche schwer, sich auf andere nahe Beziehungen, zum Beispiel auf Freundschaften mit anderen Kindern, einzulassen. Das zieht sich häufig bis ins Erwachsenen­ alter als roter Skriptfaden durch. Solche Menschen können in Partnerschaften oft nur schwer bindende Nähe zulassen. Häufig hat ein Partner gegenüber dem so wichtigen, meist auch noch

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stark idealisierten verstorbenen nahen Menschen langfristig keine Chance. Darüber hinaus nehmen sich Kinder und Jugendliche oft aus Loyalität gegenüber dem verstorbenen nahen Menschen in ihrer eigenen Lebendigkeit zurück. Damit sind wir auch schon bei dem wichtigsten Hintergrund für Verlustskripte, die die weitergehende Entwicklung und die Rückkehr in eine lebendige Fröhlichkeit von Kindern und Jugendlichen erschweren. Kindliche Verlustskripte für das Leben nach dem schweren Verlust

Von einem schweren Verlust betroffene Kinder und Jugendliche können zwar immer wieder scheinbar ganz normal und unbeschwert spielen oder lernen. Doch im Hintergrund wirken sich der Verlustschmerz und die Trauer auf ihr Lebensgefühl aus. Daraus kann sich eine vom Verlust geprägte, oft hemmende, manchmal auch blockierende Einstellung zum weitergehenden Leben und zur eigenen Lebendigkeit entwickeln. Sind diese lebensblockierenden Verlustskripte sehr massiv, können sie sich beim Kind oder Jugendlichen und später dann beim Erwachsenen als depressive Symptome zeigen (Kapitel IV, 3). Fallbeispiel 21 (Fortsetzung): Man trauert nicht um den kleinen Bruder und darf ihn nicht mehr liebhaben Die Schwester des verstorbenen kleinen Bruders wird von den Lehrerinnen und dem sozialen Umfeld schon als sehr erwachsen und vernünftig erlebt. Das wird einerseits bewundert, andererseits sehen die Eltern ihre Tochter nie wirklich fröhlich und lebhaft. Sie zieht sich ganz in ihre Bücher zurück und hat kaum Freundinnen. Als Klientin in der Trauerbegleitung bestätigt sie, dass sie bis heute so vernünftig und ernst geblieben ist. Sie sagt: »Schließlich gibt es genug Grund, ernst zu sein. Auch jetzt, mit dem Krebstod meiner Tochter.« Sie konnte bereits vor der Erkrankung und dem

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Tod ihrer Tochter nie richtig unbeschwert, leicht oder »unvernünftig« sein, sich also nie so richtig auf das Leben einlassen.

Verlustskripte von Kindern und Jugendlichen, die das Leben abwehren, manchmal sogar abwerten, lauten beispielsweise: • Das Leben ohne meinen gestorbenen kleinen Bruder ist nicht mehr schön. Und es wird auch nicht mehr schön werden. • Ich bin nicht mehr fröhlich, aber das Leben ist ja auch nicht zum Fröhlichsein. • Ich und das Leben fühlen sich so schwer an, und das Leben ist so anstrengend. • Was soll das Getue bei meinen Freundinnen? Das ist doch nicht erwachsen.

In solchen Verlustskripten bremst also die Erfahrung von Verlustschmerz und Trauer die eigene Lebendigkeit. Ebenso bremst die Loyalität besonders gegenüber dem Verstorbenen und gegenüber den mittrauernden Familienmitgliedern die Lebendigkeit und die vorbehaltlose Rückkehr ins Leben. Kinder und Jugendliche verzichten aus Mitgefühl und aus Liebe gegenüber dem Verstorbenen und den Angehörigen auf das eigene Leben und die eigene Lebendigkeit. Dieser Verzicht stellt damit ein Liebesopfer für die anderen, insbesondere für den Verstorbenen dar: • Mein kleiner Bruder darf nicht mehr leben, also will ich auch nicht mehr leben. • Mein gestorbener Papa wäre bestimmt traurig, wenn ich fröhlich bin, obwohl er doch tot ist. Deshalb bin ich nicht mehr so richtig fröhlich. • Ich will keine schönen Sachen mehr machen. Darauf verzichte ich für meine kleine Schwester.

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• Mama ist seit dem Tod meines Bruders nicht mehr fröhlich, wie könnte ich da fröhlich sein?

Solche das Leben bremsenden Verlustskripte verstärken später beim Erwachsenen im Fall eines neuen Verlustes das Loyalitätsempfinden gegenüber dem aktuell verstorbenen nahen Menschen und damit die Neigung zum Lebensverzicht. Wir haben nun die wichtigsten Verlustskripte, die sich bei einem schweren Verlust in der Kindheit und Jugend typischerweise entwickeln können, in ihrem Entstehen und in ihrer Wirkung für einen aktuellen Verlust analysiert. Wir werden in Kapitel V sehen, wie wir diese durch frühe Verluste entstandenen Verlustskripte lösen und transformieren können.

4 Familiäre Verlustskripte – Die Familie gibt Verlustskripte transgenerational weiter

Um genauer zu verstehen, wie der familiäre Hintergrund von Trauernden diese prägt und Verlustskripte entstehen lässt, greifen wir hier noch einmal das Fallbeispiel 6 aus dem ersten Kapitel auf: Fallbeispiel 6 (Fortsetzung): In unserer Familie trauert man nicht Der Junge, dessen Schwester im Gartenteich ertrank, hat das Diktat des Familienskriptes »In unserer Familie zeigt man keine Gefühle, schon gar keine Trauer. Gefühle sind Schwäche« sehr deutlich erlebt. Er unterdrückte seinen Wunsch, um die Schwester zu weinen und traurig zu sein, da er befürchtete, dass besonders seine Mutter ihn dafür tadeln würde. Er hatte auch die Angst, dass er mit seiner Trauer aus dem Rahmen der Familie fallen und nicht mehr ganz zu ihr gehören würde.

Familiäre Verlustskripte   101

Der Junge spürt die Macht des über mehrere Generationen weitergegebenen Familienskriptes sehr deutlich. Solche Skripte sind nur ein Aspekt, die eine Familie kennzeichnen und zusammenhalten. Daneben hat die Familie als System ihre jeweils ganz eigenen Regeln, ihre Struktur, ihre Werte und Normen, ihre Geschichten, ihre Erzählungen, ihre Mythen und ihre Geheimnisse (Levold u. Wirsching, 2021). Vieles davon wird den Kindern direkt und offen vermittelt. Wichtige Regeln, Normen und Werte werden ebenso wie Familienskripte aber meist implizit, indirekt und oft unbewusst weitergereicht und wirken dann unterschwellig auf die in der betreffenden Familie aufwachsenden Kinder. Auch hat jede Familie ihre ganz eigenen Schicksalsschläge und äußeren Einflüsse erlebt, zum Beispiel die Flucht der Großeltern, die Behinderung eines Kindes, den Konkurs in einer Kaufmanns- oder das Abbrennen des Hofguts in einer Bauernfamilie. Solche Ereignisse und der Umgang damit prägen eine Familie über lange Zeit, weil diese Erfahrungen meist über drei bis vier Generationen an die Kinder weitergegeben werden (Drexler, 2020). Familienskripte zu Tod, Verlust und Trauer

Ebenso erleben nicht wenige Familien den Tod von Familienmitgliedern und müssen dann entsprechend den schon vorhandenen Familienregeln und -skripten darauf reagieren. Die Familie als System muss mit der Erfahrung des Schocks und des Verlustschmerzes, mit der Trauer um den Verstorbenen und der Frage nach einer inneren Beziehung zu ihm umgehen. Das Familiensystem insgesamt hat also wie eine einzelne Person bei einem schweren Verlust die beschriebenen Trauer- und Beziehungsaufgaben (Kapitel I) zu lösen. Da es die unterschiedlichsten familiären Geschichten, Strukturen und Konstellationen gibt, nenne ich nur einige mögliche Verlustskripte von Familien:

102    Wie Verlustskripte aus der Biografie entstehen

• Verluste sind in unserer Geschichte so häufig, dass das immer so weitergehen wird. • Verluste, besonders der Suizid eines Familienmitglieds, werden bei uns verschwiegen und verdrängt. Sie sind für unsere Familie eine Schande. • Schmerz und Trauer sind ein Zeichen der Schwäche. Die darf es in unserer Familie nicht geben. Wir sind eine starke Familie und machen ganz normal weiter. • Verlustgefühle gefährden unsere Familie, deshalb dürfen sie nicht sein. • Die Trauer beherrscht unsere ganze Familie, und sie wird immer da sein. Wir sind eine trauernde und traurige Familie. • Die einen von uns trauern intensiv, die anderen gar nicht. Darüber sind wir als Familie gespalten. Dagegen kann man nichts machen. • Wir denken nicht mehr an den Verstorbenen, und wir reden auch nicht mehr von ihm. • Der Verstorbene wird aus unserer Familie verdrängt oder ausgestoßen. Er hat keinen Platz in unserer Familie. • Der Verstorbene steht ganz im Mittelpunkt unserer Familie. Die Familie und die anderen stehen in seinem Schatten.

Wie einzelne Trauernde kann auch das Familiensystem als Ganzes die Verlustgefühle ausklammern und verdrängen oder aber zum bleibenden beherrschenden Grundgefühl der Familie machen. Hier wird die Trauer sozusagen zu einem eigenständigen und die Familie beherrschenden Familienmitglied. Beides wird dann über mehrere Generationen weitergegeben, manchmal auch durch neue Verluste verstärkt. Viele Familien geben dem Verstorbenen einen guten Platz in der Familie, gedenken seiner und erzählen von ihm, sodass er in der inneren Beziehung zu einem integrierten Teil der Familie und der weiteren Familiengeschichte wird. Allerdings gibt es

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auch Familien, die zum Beispiel den suizidierten Sohn aus der Familie und dem Gedenken der Familie ausschließen und ihm einen gewürdigten Platz verweigern. Als Gegenstück zu dieser familiären Strategie kann der Verstorbene ganz und dauerhaft in das Zentrum der Familie gestellt und damit in dieser Präsenz zum dominierenden, die ganze Familie überschattenden Familienmitglied werden. Die Wirkung der Familienskripte auf die Kinder in der Familie

Kinder haben nun im Wesentlichen zwei Möglichkeiten, mit den Verlustskripten ihrer Familie umzugehen. Sie können diese zum einen mehr oder weniger übernehmen, auch weil sie nichts anderes kennen und weil die Macht der Familiengeschichte, der Familientradition und der Familienskripte sehr groß ist. Um sich die Liebe der Familie bzw. besonders wichtiger Familienmitglieder zu erhalten, ist es für Kinder oft zunächst sogar sinnvoll, die Verlustskripte zu übernehmen, für das eigene Leben gelten zu lassen und in ihrer Entwicklung und Biografie umzusetzen. Genau das tut der Junge im Fallbeispiel 6, weil er befürchtet, sonst nicht mehr ganz zur Familie zu gehören. Die andere Möglichkeit besteht darin, dass Kinder, insbesondere in der Pubertät, einen Widerstand gegenüber den familiären Skripten spüren. Sie gehen dann häufig in eine trotzige oder rebellische Ablehnung von Familienskripten und im Besonderen von Verlustskripten. Wird zum Beispiel ein suchtkranker Onkel in der Familie tabuisiert, kann ein Jugendlicher ganz gezielt an diesen Onkel immer wieder erinnern, ihn idealisieren und sich mit ihm identifizieren. Von außen sieht das zunächst so aus, als wäre damit das Verlustskript der Familie überwunden. Doch das ist meist eine Illusion, weil das Skript nur ins Gegenteil verkehrt, aber auch darin weiterhin wirkmächtig ist. So kann es passieren, dass der Jugendliche letztlich das Schick-

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sal des Onkels übernimmt und in der Identifikation mit ihm ähnliche Probleme wie dieser entwickelt, zum Beispiel indem er ebenfalls süchtig wird. Es gibt allerdings noch eine weitere und gar nicht seltene Familienkonstellation, die für die heranwachsenden Kinder ebenfalls schwierig ist: dass nämlich in der Familie verschiedene Mitglieder unterschiedliche, oft auch gegensätzliche Verlustskripte vertreten. So kommt es zu Konflikten, im schlimmsten Fall sogar zu offen oder verdeckt gelebten Spaltungen in der Familie. Beispielsweise trauert die Mutter offensiv und intensiv, so wie sie es von ihrer Familie kennt, während der Vater entsprechend seiner Familientradition zum Verlust eisern schweigt. Dann sind die Kinder im Familiensystem zwischen diesen Verlustskripten hin- und hergerissen und erleben sich als unsicher und gespalten in ihrer persönlichen Haltung gegenüber einem aktuellen Verlust. Ihre eigenen Verlustskripte sind dann oft ambivalent und widersprüchlich, was wiederum einen eigenen konstruktiven Umgang mit dem Verlust blockiert. Verlustskripte von Trauernden im akuten Verlust können also auf mächtige und hochwirksame Verlustskripte aus deren Familien zurückgehen. Wir befragen deshalb die in der Trauer­begleitung auftauchenden Verlustskripte immer nach deren familiären Hintergründen und prüfen mit den Trauernden, welche familiären Verlustskripte sie in ihrem jetzigen Verlust blockieren oder behindern. In Kapitel V, 4 werden wir sehen, wie wir die familiär-­ transgenerational weitergegebenen Verlustskripte lösen können.

Gesellschaftlich geprägte Verlustskripte   105

5 Gesellschaftlich geprägte Verlustskripte – Kultur und Gesellschaft schreiben Verlustskripte vor

Wir wachsen nicht nur in einem spezifischen Familiensystem mit seinen besonderen Verlusterfahrungen und Verlustskripten auf, sondern auch in dem größeren System der Gesellschaft, die ihrerseits besondere Verlustskripte hat, also Einstellungen gegenüber dem Tod von nahen Menschen und gegenüber den Verlustgefühlen. Auch diese ebenfalls meist unbewussten oder vorbewussten Verlustskripte beeinflussen die Trauernden in der Reaktion auf schwere Verluste und deren Bewältigung. Konkret sichtbar wird dies zum Beispiel im Umgang mit dem Suizid und den Suizidanten. So war über lange Zeit in einer kirchlich geprägten Gesellschaft der Suizid eine verurteilungswürdige Sünde, sodass der verstorbene Suizidant nicht auf dem öffentlichen Friedhof bestattet werden durfte. Hier wurde also ein Verlustskript in der Gesellschaft durch die Institution der Kirche bis in die kleinste Gemeinde vor Ort an die Menschen und damit auch an die Angehörigen eines Suizidanten weitergegeben. Heute wird der Umgang mit dem Tod nicht mehr so sehr von Theologie und kirchlichen Instanzen geprägt, sondern von Psychologie und Medizin. Diese Verlustskripte werden dann über die Medien von Ratgeberbüchern bis zu den sozialen Medien wie YouTube weitergegeben. Wir nehmen als Mitglieder der modernen Gesellschaft diese neuen Verlustskripte bewusst und unbewusst auf, die dann in der Verlustsituation wirksam werden. In einem Trauerfall begegnen die Trauernden ganz unterschied­lichen psychosozialen Helfern, die auf der Grundlage ihrer gesellschaftlich geprägten Einstellungen mit den Trauernden umgehen und als Vermittler diese Verlustskripte weitergeben. Hier sind zunächst die Notärzte, dann die Kriseninterventionsdienste, die Bestatter, Pfarrer und Pfarrerinnen sowie andere Bestattungs­redner und schließlich das konkrete soziale Umfeld der Trauernden, nicht

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selten auch Hausärzte, manchmal auch Nervenärzte zu nennen, die ganz konkret die aktuellen Verlustskripte der Gesellschaft weitergeben und vermitteln. Eine ganz neue Rolle übernehmen heute Selbsthilfeorganisationen wie AGUS für Suizid­trauernde oder VEID, der Bundesverband für verwaisten Eltern und trauernde Geschwister in Deutschland, aber auch von Verbänden und Kirchen angebotene Trauerbegleitungen wie Trauercafés und Trauer­ gruppen. Diese Instanzen vermitteln nicht nur aktuelle Verlustskripte, sondern begleiten Trauernde nach den derzeit gültigen Standards und Erkenntnissen der Trauerpsychologie. Im Rahmen dieses Buches kann ich nicht die gesamte historische Entwicklung der gesellschaftlich vermittelten Verlustskripte nachzeichnen (hierfür sei verwiesen auf Ariès, 2005). Ich will im Folgenden nur einige wesentliche Linien der gesellschaftlichen Einstellungen zu Tod und Trauer sowie aktuell noch wirkende bewusste und unbewusste Verlustskripte nennen, die aus meiner Erfahrung heraus heute Trauernde unterstützen, aber auch blockieren und hemmen können. Verlustskripte einer noch immer patriarchal geprägten Gesellschaft

Die Geschichte unserer jahrtausendealten patriarchalen Gesellschaft ist gerade bei Verlustskripten tief im kollektiven Unbewussten verankert und prägt immer noch, insbesondere in ländlichen Bereichen, unseren Umgang mit Tod, Verlust und Trauer. Dies zeigt sich nicht zuletzt in der deutlichen Differenz zwischen männlichen und weiblichen Verlustskripten (Kapitel I, 4). In der patriarchal geprägten Gesellschaft wurde und wird bis heute der Bereich von Bindung, Beziehung und Gefühlen weitgehend den Frauen zugewiesen, während Männer als rational, tatkräftig handelnd und für den öffentlichen Bereich zuständig gesehen werden. Diese Zweiteilung ist dann auf dem Gebiet von Verlust und Trauer noch verstärkt worden, indem Frauen sich

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auf Verlustschmerz und Trauer einlassen sollten und konnten, während Männer für das rasche Weiterfunktionieren und das rationalisierende Bewältigen eines Verlustes zuständig waren und bis heute noch sind. Das Verlustskript einer patriarchal geprägten Gesellschaft heißt also: »Verlust und Trauer sind Sache und Aufgabe von Frauen. Männer haben damit nichts zu tun. Männer sollen funktionieren, die trauernde Familie am Laufen halten und rational mit dem Verlust umgehen.«

Hieraus entwickeln sich bis heute die unterschiedlichen Verlustskripte von Männer und Frauen, obwohl es gerade bei jüngeren Männern mittlerweile eine deutliche Veränderung in Richtung der in diesem Buch beschriebenen konstruktiven, hilfreichen, sich am weiblichen Trauer- und Beziehungsprozess orientierenden Leitsätze gibt. Verlustskripte einer individualistischen Gesellschaft

In unserer Gesellschaft haben sich die traditionellen Bindungen, sprich: die Einbindung von Menschen in unterstützende größere Gemeinschaften, weitgehend aufgelöst. Soziale Gruppen und Verbände wie die Großfamilie, die Verwandtschaft, die Nachbarschaft, örtliche Vereine und die dörfliche oder kirchliche Gemeinde spielen im modernen Leben, insbesondere in der Begleitung von Menschen in einer Krisensituation, vielfach nur noch eine untergeordnete Rolle. Bei einem schweren Verlust sind Trauernde zwar nicht gänzlich allein, aber das soziale Netz, das sie auffangen könnte, ist brüchig bzw. weitmaschiger und vor allem flüchtig geworden. So beginnen sich viele Bekannte, Freunde und Verwandte bei einem schweren Verlust oft sehr bald von den Trauernden zurückzuziehen und lassen diese erfahrungsgemäß nach etwa sechs Monaten, spätestens nach einem Jahr mit ihrem

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schweren Verlust allein. Stattdessen verweisen sie schon früh auf professionelle Hilfe, sodass inzwischen fast ein gesellschaftlicher Druck auf Trauernde besteht, sich diese möglichst rasch zu suchen. Das Verlustskript einer individualisierten Gesellschaft heißt deshalb: »Der Tod deines nahen Menschen ist ganz allein deine Sache. Du musst damit selbst zurechtkommen. Wenn du Hilfe brauchst, suche dir ein professionelles Angebot.«

Die bisher vom kirchlichen, familiären und nachbarschaftlichen Umfeld gewährte Begleitung in einer Trauersituation wird nun an professionelle Organisationen delegiert, nicht zuletzt deshalb, weil das Umfeld kaum noch kommunikative Kompetenzen im Umgang mit schweren Verlustsituationen und mit den Trauernden selbst hat. Verlustskripte einer säkularisierten Gesellschaft

In einer kirchlich und religiös geprägten Gesellschaft wurden Trauernde bis etwa in die 1970er Jahre oft auch von der Kirchengemeinde aufgefangen und begleitet. Kirchliche Rituale und eine theologische Deutung des Sterbens setzten den Tod eines nahen Menschen in einen Rahmen einer Sinndeutung aus dem christlichen Glauben heraus. Das war in vielen Fällen hilfreich, auch wenn der Rahmen wenig Raum für eigenes Verstehen und Deuten des Verlustes durch die Trauernden ließ. Manche Trauernde fühlten sich auch durch bestimmte kirchliche Deutungen zum Beispiel des Suizids nicht verstanden oder aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Die Kehrseite des Verschwindens von religiösen Deutungsund Sinnangeboten bei einem schweren Verlust ist, dass es keine allgemeingültigen Verstehenshilfen, keine allgemeinen Sinndeutungsinstanzen und damit keinen allgemeinen Sinn­horizont mehr gibt, in den die Trauernden den Tod ihres nahen Men-

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schen einbetten können. Vielmehr schwirren viele Deutungen von der Esoterik bis zu einer atheistischen Verweigerung jeden Sinnes in einem für Trauernde diffusen und kaum zu durchdringenden halböffentlichen Raum umher. Das Verlustskript einer säkularisierten und pluralistischen Gesellschaft heißt also: »Es gibt keinen allgemeingültigen Sinn deines Verlustes. Den musst du selbst für dich herausfinden. Vielleicht gibt es aber auch gar keinen Sinn.«

So befreiend dieses Verlustskript sein kann, sosehr lässt es die Trauernden mit der möglichen Sinnlosigkeit eines Verlustes allein. Verlustskripte einer Gesellschaft ohne Transzendenzbezug

Die beschriebene Säkularisierung hat auch zur Folge, dass Menschen heutzutage vielfach sehr diesseitig, pragmatisch und häufig zudem narzisstisch leben. So geht auch die Fähigkeit zur Transzendenzerfahrung, aber ebenso der Wunsch nach Transzendenz weitgehend verloren. In einer Verlustsituation wird dann die Möglichkeit, den Verstorbenen in einer jenseitigen, transzendenten Welt und an einem religiös verstandenen sicheren Ort zu bewahren, nicht mehr gesehen und verstanden. Vielmehr lehnen Trauernde den Gedanken eines sicheren Ortes für den Verstorbenen häufig sogar ab, weil sie ihn als rein religiösen Ort verstehen und eben diesen wiederum ablehnen. Das Verlustskript einer Gesellschaft ohne Transzendenzbezug heißt also: »Es braucht keinen transzendenten, spirituellen oder religiös verstandenen sicheren Ort für den Verstorbenen. Dafür gibt es auch keine nachvollziehbaren Gründe.«

Es gibt allerdings auch gesellschaftliche Bereiche, wie im Alternativmilieu oder in esoterischen Gruppierungen, in denen der

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spirituelle Transzendenzbezug in einer Verlustsituation als möglich und hilfreich verstanden wird, wobei es hier für Trauernde durchaus problematische spiritistische Tendenzen wie zum Beispiel das Aufsuchen eines sogenannten Mediums geben mag. Verlustskripte einer kapitalistischen Gesellschaft

In einer von der kapitalistischen Ökonomie durchdrungenen Gesellschaft sind das Funktionierenmüssen und die Knappheit der Zeit maßgebliche Größen, die auch das individuelle Erleben, besonders in einer Verlustsituation, dominieren. Trauernde sollen rasch wieder funktionieren, die Trauer soll in kurzer Zeit überwunden werden und die berufliche Leistungsfähigkeit nicht mindern. Dies zeigt sich konkret darin, wie Trauernde bei der Arbeit und im Betrieb behandelt werden, was von ihnen erwartet wird, aber auch, was sie dabei von sich selbst erwarten. Das – meist implizite, aber nicht selten auch offen geäußerte – Verlustskript heißt dann: »Dein Verlust ist hier unwichtig und darf die Arbeit nicht stören. Wichtig ist, dass du rasch wieder deine volle Leistung bringst.«

Fairerweise muss man allerdings sagen, dass in vielen Betrieben die Vorgesetzten und Kolleginnen zunehmend durchaus Verständnis für Trauernde bei einem schweren Verlust zeigen. Auch die Ärzteschaft geht mit ihnen in weiten Teilen empathisch und hilfreich um und unterstützt sie zum Beispiel durch eine nötige Krankschreibung. Verlustskripte einer wissenschaftlich geprägten Gesellschaft

Die gesellschaftlich verbreiteten bzw. sozial akzeptierten Einstellungen zu Verlusten und zu Schmerz und Trauer sind ganz wesentlich von den aktuellen Einsichten der Psychologie, insbe-

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sondere der Trauerpsychologie geprägt. Dies ist zunächst durchaus sinnvoll, aber auch die Wissenschaft hat ihre Grenzen und ist in ihrem jeweiligen historisch bedingten Stand den Zeitströmungen verhaftet. Man denke zum Beispiel an das Verdikt Sigmund Freuds, dass Trauernde bei einem schweren Verlust den Verstorbenen verabschieden und loslassen müssten. Ebenso ist heute die lange Zeit propagierte Vorstellung von Trauerphasen, die zu durchleben sind, um einen Verlust zu bewältigen und abzuschließen, in dieser Form nicht mehr zu halten (Kachler, 2019). Trauernde kommen hier nun unter den Druck, sozusagen »wissenschaftlich richtig« zu trauern. Dies kann sie darüber hinaus auch verunsichern, beispielsweise ob sie bei der Vielzahl der scheinbar wissenschaftlich formulierten Ratgeber die richtige Wahl treffen oder bei ihrer Trauerbegleiterin oder Psychotherapeutin wirklich gut aufgehoben sind und wissenschaftlich fundiert begleitet werden. Die durch Trauerpsychologie und Ratgeberliteratur implizit vorgegebenen Verlustskripte lauten hier etwa so: »Du musst dich in deinem Verlust bestmöglich und wissenschaftlich fundiert beraten lassen. Informiere dich und prüfe für dich kritisch und skeptisch, ob diese Trauerbegleitung auch wirklich gut ist.«

Es ist gerade für Trauernde, die in ihrer Energie eingeschränkt sind, manchmal unmöglich, sich im Dschungel von wissenschaftlich begründeten und pseudowissenschaftlichen Angeboten zurechtzufinden. Auch hier übernehmen die bekannten Selbsthilfeorganisationen für Trauernde eine wichtige Informations-, Lotsen- und Vermittlungsfunktion. In der Trauerbegleitung dürfen wir die gesellschaftlich vermittelten Verlustskripte nicht unterschätzen und müssen sie deshalb bei den Trauernden erfragen oder erschließen. Typische

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Formulierungen weisen auf diese Verlustskripte hin, wie: »Man kann doch nicht …«, »Man muss doch …«, »Man sagt doch …«, »Herr oder Frau Müller meint …« oder »Meine Kollegen/Vorgesetzten wollen …« Wir fragen dann die Trauernden, wer konkret in ihrem Umfeld diese Verlustskripte vertritt und von wem sie diese übernommen haben. Wir würdigen die Übernahme von gesellschaftlichen Verlustskripten als ersten Lösungsversuch, um sie dann – wie in Kapitel V, 5 aufgezeigt wird – zu lösen und ihnen tatsächlich hilfreiche Leitsätze entgegenzusetzen.

Anleitung zur Selbstreflexion für Trauerbegleiterinnen und Trauerbegleiter Meine eigenen Verlustsituationen und die Entstehung meiner Verlustskripte verstehen In Kapitel II haben Sie bei der imaginierten Zugfahrt zurück in Ihre Vergangenheit geschaut, welche Verlustsituationen in Ihrer Biografie und welche dabei entstandenen Verlustskripte es gibt. Sie haben diese in einem zunächst imaginierten Buch und dann schriftlich festgehalten. Ich möchte Sie nun einladen, sich die zwei bis drei prägendsten Verlustsituationen in Ihrer Kindheit oder Jugendzeit vor Augen zu führen, sie näher kennenzulernen und zu verstehen. Ich erinnere daran, dass dies nicht nur Verluste durch den Tod eines wichtigen Menschen sein können, sondern auch andere, wie der Verlust eines Haustieres oder eines geliebten Spielzeugs. Auch in solchen Verlustsituationen entstandene Verlustskripte können uns in unserer Arbeit in der Trauerbegleitung beeinflussen. Geht es wiederum um den Tod eines nahen Menschen, können das verschiedene prägende Situationen wie das Auffinden des Verstorbenen, die Überbringung der Todesnach-

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richt oder der Besuch am offenen Sarg sein, die Sie als Kind oder Jugendliche miterlebt haben. Lassen Sie nun noch einmal die Verlustszenen aus Ihrer Zugfahrt zurück in Ihre Vergangenheit vor Ihr inneres Auge treten und wählen Sie zunächst die Szene aus, die Sie immer noch am stärksten berührt. Bitte beachten Sie dabei aber unbedingt: Sollte die Verlustszene eine Sie als Kind damals massiv traumatisierende Situation wie das Auffinden eines suizidierten nahen Menschen zeigen, sollten Sie die im Folgenden beschriebene Übung nicht selbst, sondern nur in Begleitung einer Psychologischen Beraterin oder Psychotherapeutin machen!

Verlustszene in der Distanz anschauen und beschreiben Nun möchte ich Sie bitten, die erste ausgewählte Verlustszene aus der Distanz anzuschauen. Sie können sich beispielsweise vorstellen, diese Szene auf einen Computerbildschirm zu projizieren und dort zu betrachten. Diese aus der Traumapsychologie übernommene sogenannte Bildschirmtechnik (Reddemann, 2020) schützt Sie davor, zu schnell in diese Szene und in die Identifikation mit dem Kind von damals zu gehen und dann von den auftauchen Verlustschmerzgefühlen überflutet zu werden. Sie schauen also als Erwachsene von heute diese Szene und Ihr damaliges Kind in seinem Verlustschmerz von außen an und sehen zum Beispiel sich als Kind von zehn Jahren, wie es zusammen mit den Eltern am offenen Sarg des Großvaters steht. Sie sehen, in welcher Haltung es dasteht, welche Mimik es zeigt, ob es weint oder erstarrt ist. Sie fühlen sich als Erwachsene in das Kind ein, aber bleiben dabei die Erwachsene. In der Resonanz mit dem Kind spüren Sie vielleicht Leere, Schock, aber auch schon beginnende Trauer und die Liebe zum verstorbenen nahen Menschen. Sie ahnen nun auch, was in dem Kopf des

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Kindes von damals los ist und welche Gedanken es sich macht. Vielleicht erkennen Sie jetzt sogar bereits erste Verlustskriptsätze, die bei dem Kind aus seinen Gefühlen in dieser Situation entstehen können. Dann schauen Sie auf die anderen Beteiligten, zum Beispiel auf die Eltern, weitere Verwandte oder sonstige Anwesende in dieser Trauerszene. Sie sehen, ob sie das Kind in seinem Erleben jetzt alleinlassen, unterstützen oder durch ungeschicktes Reden womöglich irritieren. Vielleicht erkennen Sie auch schon, welche Verlustskripte dem trauernden Kind hier von den einzelnen Beteiligten und der Familie nahegelegt werden. Dann lassen Sie diese Szene so stehen und sichern dem Kind zu, dass Sie sich später, in einem nächsten Arbeitsschritt, um es kümmern werden. Auswertung der Verlustszene aus der Kindheit Sie stellen die Szene gedanklich weg, halten das Erleben und die Gefühle des Kindes, die entstehenden Verlustskripte und die Reaktionen und Botschaften der anderen Beteiligten in dieser Situation schriftlich fest und erschließen sich die Verlustszene dabei mit folgenden Fragen, deren Antworten Sie wieder aufschreiben: • Welche Trauer- und Beziehungsgefühle erlebt das Kind in dieser Verlustsituation? • Was sind die emotionalen Reaktionen des Kindes, die als Bewältigungsreaktion und als Basis für Verlustskripte zu sehen sind? • Welche Verlustskripte sind hier schon am Entstehen oder zeichnen sich für später ab? • Was sind meine heutigen Gefühle und Reaktionen in Bezug auf die Verlustsituation des Kindes von damals? • Wie erlebt das Kind die Reaktionen und Botschaften der anderen Beteiligten und der Familie damals?

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• Werden hier schon erste familiäre oder gesellschaftlich geprägte Verlustskripte vermittelt? • Wie reagiere ich heute auf Verlustsituationen von Trauernden, die denen aus meiner Kindheit ähneln? Wenn es weitere prägende Verlustszenen in Ihrer Kindheit gibt – auch solche, die nicht durch den Tod eines nahen Menschen verursacht wurden –, dann bearbeiten Sie diese mit der beschriebenen Bildschirmtechnik auf dieselbe Weise. Wir werden im nächsten Kapitel die Arbeit an und mit diesen auf dem imaginären Bildschirm angeschauten Verlust­szenen fortführen.

IV Wie Verlustskripte wirken – und welche Störungen daraus entstehen können

Wir haben bisher erarbeitet, an welchen Stellen eines Trauer- und Beziehungsprozesses Verlustskripte entstehen können und wie sie dort wirken. Ich will das in diesem Kapitel noch einmal konkretisieren und dabei zunächst die Entstehung von Befindlichkeitsstörungen darstellen, um dann zu den für die Trauernden schwerwiegenden Folgen von Verlustskripten weiterzugehen.

1 Wie Verlustskripte Befindlichkeitsstörungen verursachen

Wir können abgekürzt sagen, dass sich Verlustskripte praktisch immer destruktiv auf den Trauer- und Beziehungsprozess auswirken, indem sie zu dessen Stillstand führen. Dieser Stillstand beginnt zwar an einer bestimmten Stelle, zum Beispiel beim Verlustskript des Schocks wie in Fallbeispiel 12 (»Es darf nicht wahr sein, was ich gesehen habe«), wirkt sich aber auf den ganzen Trauer- und Beziehungsprozess aus. Dann können weder Verlustschmerz und Trauer zugelassen noch die Liebe gespürt werden. Auch ein wieder glückendes Leben wird hierbei blockiert. Der Schock wird durch das Verlustskript festgeschrieben und legt sich dann auf das gesamte Erleben der Trauernden. Verlustskripte verursachen einen Stillstand, weil sie einen Gefühlsbereich wie die Trauer oder die Liebe zum Verstorbenen und damit eine wichtige Trauer- und Beziehungsaufgabe abwehren oder vermeiden und so aus dem Fluss des Prozesses ausschlie-

Wie Verlustskripte Befindlichkeitsstörungen verursachen   117

ßen. So werden in Fallbeispiel 13 (»Ich muss meine Trauer in den Griff bekommen«) der Verlustschmerz und die Trauer abgewehrt und nicht zugelassen. Auch der Wunsch nach einer inneren Beziehung oder sogar der Verstorbene selbst können, wie in Fallbeispiel 15 (»An eine weitergehende innere Beziehung glaube ich nicht«), abgewehrt oder abgewertet werden. Verlustskripte verursachen aber auch dann einen Stillstand im Trauer- und Beziehungsprozess, wenn ein Gefühl oder ein Thema überbetont und verabsolutiert wird. So kann, wie in Fallbeispiel 16 (»Ich lebe ganz und gar in der inneren Beziehung zu meinem Mann«), die innere Beziehung zum einzigen Lebens­inhalt gemacht und dabei die Trauer ebenso wie andere Lebensaufgaben vermieden werden. Auch Beziehungsgefühle wie Wut oder Schuldgefühle können die innere Beziehung, wie in Fallbeispiel 17 (»Die Schuld am Tod des Sohnes«), dominieren und damit den gesamten Trauer- und Beziehungsprozess zum Stillstand bringen. Die destruktive Wirkung solcher Stillstände in der Phase des Schocks, der Realisierungs- und Beziehungsarbeit sowie der Arbeit am weitergehenden Leben zeigt sich bei den Trauernden zunächst im emotionalen Erleben. Sie spüren, dass sich ihre Gefühle – wie der Schock oder die Trauer – nicht verändern oder dass die Liebe zum Verstorbenen nicht gelebt werden kann. Dies kommt dann in Verlustskriptgefühlen (Kapitel I, 5) von Resignation, Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit oder chronischer Traurigkeit zum Ausdruck. Gleichzeitig treten die durch Verlustskripte verursachten Stillstände immer auch auf der Körperebene in Erscheinung, weil sich unser Bindungssystem im und über den Körper realisiert. Trauernde erleben dies als körperliche Schwere bzw. Lähmung und meist auch durch verschiedene Formen von Körperschmerzen, zum Beispiel einem wiederholten Herzstechen, oder durch diffuse Beschwerden, wie wandernde Muskelschmerzen oder Magenprobleme.

118    Wie Verlustskripte wirken

Und schließlich wirken sich die Verlustskripte auch auf das Verhältnis zum weitergehenden Leben aus. Trauernde spüren ein fehlendes Interesse daran sowie an anderen Menschen und haben wenig Motivation, das Leben wieder aufzunehmen oder gar Neues zu entdecken. Wenn Trauernde an diesen Stillständen als destruktive Auswirkung von Verlustskripten immer wieder leiden und selbst keine Veränderung einleiten können, sprechen wir von Befindlichkeitsstörungen, auf der organischen Ebene oft auch als funktionelle Störungen bezeichnet (Henningsen u. Martin, 2016). Häufig wird dies als depressive Verstimmung erlebt und geht einher mit Symptomen wie rascher Ermüdbarkeit oder ständiger Müdigkeit, Konzentrationsschwäche, Gedächtnisstörungen, Gereiztheit, innerer Unruhe oder der Neigung zum scheinbar unmotivierten Weinen. Auf der Körperebene stellen sich derweil funktionelle Störungen ein, wie Atembeschwerden, Appetitmangel, Übelkeit, Verdauungsprobleme, Kopfschmerzen und andere diffuse, wandernde Schmerzsymptome, Schwindel oder Kreislaufprobleme (Egle, Heim, Strauß u. von Känel, 2020). Solche Beschwerden schränken das Leben der Betroffenen ein, machen es oft schwer und mühsam, aber sie führen an sich noch nicht zu gesundheitlich ernsthaft gefährlichen oder medizinisch zu behandelnden Symptomen. Viele Trauernde nehmen die belastenden Befindlichkeitsstörungen dennoch zum Anlass, nun eine Trauerbegleitung aufzusuchen, um dies »wegzukriegen«. Dieser verständliche Wunsch kann jedoch nicht direkt eingelöst werden. Stattdessen laden wir die Trauernden – wie in Kapitel V näher beschrieben wird – ein, die Störungen des Wohlbefindens auf ihren Verlust zu beziehen und ihre entsprechenden Verlustskripte und damit die Stillstände zu lösen. Manche Trauernde, meist Männer, kommen allerdings auch erst dann zur Trauerbegleitung, wenn sich massive Folgesymp­

Wie Verlustskripte körperliche Störungen verursachen   119

tome als destruktive Wirkung von Verlustskripten entwickelt haben. Den beiden wichtigsten Störungen, die wir als Verlust-­ Folgestörung bezeichnen können, werden wir in den nächsten Abschnitten auf die Spur kommen.

2 Wie Verlustskripte körperliche Störungen verursachen – Die Somatisierung als Folge von Verlustskripten

Aus den beschriebenen funktionellen Störungen bei Trauernden können sich krankheitsrelevante Symptome entwickeln, die in jedem Fall auch eine ärztliche Diagnostik und gegebenenfalls eine medizinische Behandlung erfordern (Egle et al., 2020). Wir wollen nun die Somatisierung des Verlustes, also die destruktive chronische Verkörperung von Schmerz und Trauer, an einem ersten Beispiel genauer verstehen lernen: Fallbeispiel 22: Mein Trauerschmerz steckt in den Schmerzen meines Rheumas Eine fünfundfünfzigjährige Mutter kommt sechs Jahre nach dem Unfalltod ihres zwanzigjährigen Sohnes zu mir in die Trauer­ begleitung, weil sich eine massive, auch ärztlich diagnostizierte und bestätigte Polyarthritis etwa drei Jahre nach dem Tod ihres Sohnes eingestellt hat. Sie hat seitdem Schmerzen in den Gelenken, die sich weiter verstärken, kann sich nur noch mit Mühe frei bewegen und ist in ihrer Garten- und Hausarbeit zunehmend eingeschränkt. Sie wusste laut eigener Aussage schon bei Beginn der rheumatischen Schmerzen, dass sich hier ihr vermiedener Trauerschmerz ausdrücken will, fand aber immer wieder Gründe, sich nicht ihrer Trauer um den Sohn zu widmen. Dahinter stand die Angst vor der Intensität der Verlustschmerzen und vor der Realisierung des Todes ihres Sohnes. So entwickelten sich ganz

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verschiedene Verlustskripte, die sich gegenseitig verstärkten und sich dann im Körper niederschlugen.

In den ersten Gesprächen über den Tod ihres Sohnes, über die Zeit danach und über ihren bisherigen Umgang mit Schmerz und Trauer, aber auch über die innere Beziehung zu ihrem Sohn, zeigten sich zusammenhängende Verlustskripte, die zunächst unbewusst auf der Körperebene wirkten und dann wie folgt erarbeitet und formuliert werden konnten: • Ich kann nicht trauern. Ich muss mich um meine beiden anderen Kinder und meinen Mann kümmern. • Ich darf nicht trauern, sonst geht hier alles den Bach runter. • Arbeiten ist doch das beste Heilmittel gegen die Trauer. • Ich mache mich und meinen Körper hart gegen die Trauer. • Wenn ich Trauer spüre, drücke ich sie weg und suche mir Arbeit. • In meiner eigenen Familie hat man sich auch keine Zeit fürs Trauern genommen. • Meine Mutter war nach einer Fehlgeburt auch sehr hart mit sich und hat einfach auf dem Feld weitergearbeitet. • Ich habe schon viel durchgemacht, dann werde ich auch das durchstehen. • Ich habe gar keine Zeit, viel an meinen Sohn zu denken. Das kann ich noch später machen. • Wenn ich mich doch an meinen Sohn erinnere, schiebe ich das weg. Ich merke, dass mir das Erinnern zu sehr wehtut. • Man sagt doch, dass man loslassen soll. • Ja, ich habe meinen Sohn geliebt, aber das geht jetzt nicht mehr. • Wenn ich Schmerzen spüre, ist das eine körperliche Sache, die nicht so wichtig ist. Man soll sich selbst nicht so wichtig nehmen.

Wie Verlustskripte körperliche Störungen verursachen   121

Wir können hier schon von einem Verlustskriptsyndrom sprechen, so sehr sind die einzelnen Skripte in einem massiven, sich selbst verstärkenden Komplex miteinander verstrickt. In den ersten drei Gesprächen eruieren wir zunächst die körperliche Symptomatik der Polyarthritis und dann den bisherigen Trauer- und Beziehungsprozess mit den Verlustskripten. Dann fragen wir die Trauernde, ob sie sich auf die Arbeit an ihrer Polyarthritis einlassen und damit an ihrem Verlust arbeiten will. Wir »warnen« sie ausdrücklich, dass dies auch bedeuten wird, ihren Schmerz und ihre Trauer zuzulassen und fließen zu lassen. Damit wird zugleich schmerzlich bewusst werden, dass ihr Sohn tatsächlich gestorben ist. Dies allerdings ist nötig, damit sich ihre Körpersymptomatik lösen kann. Während in diesem Fallbeispiel vor allem der im Körper festgehaltene Schmerz und damit die Verlustskripte zu Schmerz und Trauer im Zentrum stehen, verhält es sich im folgenden Fallbeispiel deutlich anders. Fallbeispiel 23: In meinen Herzbeschwerden steckt meine schmerzende Liebe Eine fünfzigjährige Frau liebte ihren zwanzigjährigen Neffen über alles. Sie konnte selbst keine Kinder bekommen und hatte den Neffen zum Mittelpunkt ihres Lebens gemacht. Doch dann starb der junge Mann, als er nach einer Party in einen Fluss stürzte und ertrank. Man fand seinen Leichnam nicht, und mehrere Wochen war unklar, ob er tatsächlich verstorben war. Später fand man Leichenteile in einem Wehr, die über eine Genanalyse eindeutig ihm zugeordnet werden konnten. Jetzt brachen bei seiner Tante alle Dämme. Sie weinte tagelang, schrie ihren Schmerz nach außen und tat alles, um ihre Trauer zuzulassen. Sie wusste als psychologisch Interessierte, dass das wichtig und nötig ist. Nach etwa einem Jahr spürte sie allerdings immer häufiger ein Stechen und einen Druck auf ihrem Herzen. Diese Herzbeschwerden wurden

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immer stärker und entwickelten sich schließlich zu infarktähn­ lichen Symptomen. Nun begann ein Untersuchungsmarathon, bei dem auch eine Herzkatheteruntersuchung keinen organischen Befund erbrachte.

Bei den ersten Gesprächen wurde schnell deutlich, dass die Frau sich intensiv auf ihren Verlustschmerz und ihre Trauer einließ und hier sozusagen »vorbildlich« trauerte. Allerdings wurde dann allmählich auch erkennbar, dass sie sich ganz ihrer Trauer auslieferte, die so zu einem Ersatz für ihren über alles geliebten Neffen wurde. Sie versuchte nicht, den Verlustschmerz und die Trauer zu begrenzen, zumal sie sich in ihrem Schmerz ihrem Neffen sehr nahe fühlte. Die Verlustskripte lauten hier: • Meine Trauer um meinen Neffen ist unendlich groß, und ich bin ihr ganz ausgeliefert. • Diese intensive Trauer wird und soll gar nicht aufhören. • Ich brauche die intensive Trauer, um meinem Neffen schmerzlich nahe zu sein. • Wenn ich meine Trauer aufgeben würde, wäre das ein Verrat an meinem Neffen.

Die Herzschmerzen sind also zunächst Ausdruck einer intensiven Trauer, die für die Betroffene so wichtig ist, dass sie diese nicht nur festhält, sondern auch über ihren Körper ausdrückt. Zugleich erlebt sie sich in der Trauer ihrem Neffen auch über die Körpersymptome sehr verbunden. Auch bei der Liebe und der inneren Beziehung zu ihrem verstorbenen Neffen schien sie eigentlich auf dem richtigen Weg zu sein. So war sie ihm immer wieder nahe, hatte zusammen mit seinen Eltern viele Erinnerungen gesammelt, ein Erinnerungsbuch gestaltet und verschiedene Beziehungsrituale entwickelt. Sie hatte eine Gedenkecke eingerichtet, zündete dort jeden

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Tag eine Kerze für ihren Neffen an und war in langen inneren Gesprächen mit ihm. Insofern schien das körperliche Symptom der massiven Herzprobleme zunächst keine Funktion für die innere Beziehung zu dem Verstorbenen zu haben. Doch dann wurde diese Funktion ganz plötzlich deutlich, als ich die Betroffene mehr zufällig fragte, welche Körperteile der Leiche ihres Neffen im Wehr des Flusses gefunden wurden. Es waren der Oberarm und das Schulterblatt, und genau in diesen Körperregionen erlebte die Trauernde ihre infarktähnlichen Herzsymptome. Damit wurde klar, dass die Körperregion und die Schmerzen über die mitleidende Identifikation eine nahe Beziehung zu dem Neffen herstellten. Wir können dies als folgende Verlustskripte formulieren: • In meinen Herzsymptomen – also über den Oberarm und das Schulterblatt – bin ich meinem Neffen nahe. • In meinen Herzschmerzen identifiziere ich mich aus Liebe mit meinem Neffen, und ich leide über meine Symptome mit ihm. • Meine Liebe drückt sich in Schmerzen aus. Und meine Herzschmerzen sind ein Zeichen meiner Liebe.

Mit der Erarbeitung dieser Verlustskripte konnte die Trauernde nun verstehen, dass sie ihre Liebe nicht über die Herzschmerzen zu zeigen brauchte. Ihr verstorbener Neffe hätte dieses von ihr selbst erbrachte Liebesopfer nicht von ihr verlangt. Allerdings – und das war schwer für sie – musste sie nun auch akzeptieren, dass sich diese Liebe nicht mehr konkret in einer realen Beziehung zeigen konnte.

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3 Wie Verlustskripte depressive Symptome verursachen – Die Depression als Stillstand der trauernden Seele

Verlustskripte, die eine Verlustdepression verursachen, betreffen den ganzen Menschen, seine ganze Psyche und seinen ganzen Organismus als Basis der Lebendigkeit, und zeigen sich in Form einer blockierten, eingefrorenen und stillstehenden Trauer und Liebe zum Verstorbenen. Besonders gefährdet sind hier ältere Menschen, deren Partner nach langer und enger Partnerschaft stirbt, und Eltern, wenn sie – wie im folgenden Fallbeispiel – das einzige Kind verlieren: Fallbeispiel 24: Ohne meinen Sohn ist mein Leben sinnlos Ein fünfundvierzigjähriger Vater hatte vieles mit seinem Sohn – einem Einzelkind – unternommen, in zahllosen Gesprächen hatten sie sich ausgetauscht. Der Vater fühlte sich durch seinen Sohn ständig herausgefordert und in seiner Lebendigkeit stimuliert, der Sohn sah sich von seinem Vater unterstützt und gefördert. Als der Sohn bei einem Motorradunfall tödlich verunglückte, brach für den Vater eine Welt zusammen, und sein Leben war plötzlich »ganz leer« für ihn. Zunächst schien er – von außen gesehen – den Tod seines Sohnes gut zu verkraften, weil er sehr viel arbeitete und sich durch das Anschauen von Sportsendungen ablenkte. Doch allmählich begann er eine zunehmende Müdigkeit, dann eine stärker werdende Erschöpfung und schließlich eine Lähmung zu spüren. Es stellten sich massive Schlafstörungen ein, Antidepressiva linderten diese depressiven Symptome nur vorübergehend. Er ließ sich lange Zeit krankschreiben und kam dann widerwillig in die Psychotherapie, weil seine Frau unter seinen Depressionen litt und ihm mit einer Trennung drohte, falls er nichts für sich mache.

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Im ersten Gespräch frage ich zunächst die Symptome der augenscheinlichen Depression ab. Dabei erzählt er, dass seine Frau einen Zusammenhang mit dem nun drei Jahre zurückliegenden Tod des Sohnes vermute. Er stimmt dem nur halbherzig zu, lässt sich aber auf ein Gespräch über den Verlust seines Sohnes ein. Dabei zeigen sich sehr rasch folgende Skriptformulierungen, die um das Thema der Sinnlosigkeit kreisen: • Was soll ich trauern? Das macht keinen Sinn und bringt meinen Sohn nicht zurück. • Was soll eine innere Beziehung? Ich spüre ihn auch gar nicht. Ich will nur eines: meinen Sohn wiederhaben. • Wie könnte ich leben, wenn mein Sohn nicht mehr leben kann? Also lebe ich auch nicht mehr richtig. • Mein jetziges Leben ist ohne meinen Sohn sinnlos. Deshalb will ich gar nicht mehr leben. • Ich will diese Sinnlosigkeit nicht spüren und lenke mich durch Arbeiten und Sport-Schauen ab.

Das Thema der Sinnlosigkeit nach einem schweren Verlust ist ein typisches Kennzeichen einer Verlustdepression. Das eigene Leben nach dem Tod eines nahen Menschen erscheint leer, weil dieser Mensch als der bisherige Mittelpunkt und wesentliche Sinnfokus nun fehlt. Eine Verlustdepression ist also nicht wie andere Depressionen (Meiss, 2020) zum Beispiel auf ein Minderwertigkeitsgefühl zurückzuführen, vielmehr bezieht sie sich auf den konkreten verstorbenen Menschen. Von diesem Verlust und den damit verbundenen Verlustskripten geht die Depression aus, auch wenn sie sich dann verselbstständigt und die Betroffenen oft nicht mehr die Verbindung zum Verlust erkennen und verstehen. Die Verlustdepression verhindert, dass die Trauernden ihre Trauer und Verbundenheit zum Verstorbenen spüren können.

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Eine Verlustdepression entwickelt sich in folgenden Schritten und mit den damit verbundenen Verlustskripten: Erstarrung und Eingefrorensein aus dem Schock heraus

Der Beginn einer Verlustdepression ist häufig schon in der Schockphase (Kapitel I, 3) zu suchen. Hier bleibt der Schock als Eingefrorensein der ganzen Person und des ganzen Erlebens bestehen. Die Verlustskriptsätze lauten dann oft: »Ich bin ganz erstarrt und betäubt. Es darf alles nicht wahr sein.« Erstarrung der Trauer und der Verbundenheitsgefühle

Die Schockreaktionen dehnen sich dann auf den Verlustschmerz und die Trauer aus. Hier ist das depressive Nichtfühlen ebenfalls ein Schutz gegenüber den intensiven Schmerz- und Trauergefühlen, aber auch gegenüber der schmerzlichen Realität des Verlustes selbst. Die Depression wird so zu einem die ganze Psyche umfassenden dauerhaften Schutz gegenüber den gefürchteten intensiven Verlustgefühlen und der als nicht aushaltbar erlebten Realität des Todes des nahen Menschen. Die Verlustskriptsätze lauten hier: »Ich will keinen Schmerz und keine Trauer spüren« und »Ich will nicht wahrhaben, dass mein lieber Mensch gestorben und tot sein soll«. Allerdings hat dieser umfassende Schutz einen hohen Preis, weil nun auch die Nähe des verstorbenen nahen Menschen und die Verbundenheit mit ihm nicht mehr erlebt werden können, wie beim Vater im Fallbeispiel 24, der seinen Sohn nicht spüren kann und diese Möglichkeit sogar abwertet. Damit aber vergibt er sich die Chance, über eine innere Beziehung zum Verstorbenen wieder Sinnerfahrungen zu machen und dabei auch sich selbst zu spüren. So führen die Erstarrung der Trauer und das Nicht-Fühlen der inneren Beziehung zu einem umfassenden, depressiven Nicht-Fühlen.

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Verzicht auf die eigene Lebendigkeit und das eigene Leben aus Loyalität zum Verstorbenen

Zunächst verzichten alle Trauernde nach einem schweren Verlust auf das eigene Leben, weil sie nicht leben wollen, wenn zugleich ihr naher Mensch nicht mehr leben darf. Wenn das Sterben und der Tod des nahen Menschen leidvoll waren, wird dieser Verzicht noch verstärkt: »Wie kann es mir gut gehen, wenn doch mein lieber Mensch so sehr leiden musste?« Ein normales Weiterleben wäre also ein Verrat am Verstorbenen. Wenn Trauernde den Lebensverzicht nun aus Liebe festhalten, wird dieser in Form einer Depression gelebt. »Wie könnte ich leben, wenn mein Sohn nicht mehr leben kann? Das zeige ich durch meinen depressiven Lebensverzicht.« Trauernde verzichten in der Verlustdepression also aus Loyalität und Liebe auf das eigene Leben und geben dabei ihre eigene Lebendigkeit auf, was auch als ein psychisches Mit- und Nachsterben in der Depression zu verstehen ist. Lebensverzicht als Bestrafung für eigene gefühlte Schuld, reale Schuld oder Überlebensschuld

Der Lebensverzicht kann aber auch aus Schuldgefühlen und realer Schuld am Tod des nahen Menschen entstehen. Manche Trauernde haben auch ein Schuldgefühl in Form der Über­ lebensschuld, weil sie und nicht – zum Beispiel – das eigene Kind weiterleben dürfen. Trauernde versuchen dann, ihr Schuld­gefühl, manchmal auch ihre reale Mitverantwortung für den Tod des nahen Menschen, auszugleichen: »Ich bin schuld an deinem Tod. Dafür muss ich büßen, sühnen oder mich bestrafen.« Nicht selten gehen solche Verlustskripte auf frühe Erfahrungen in der Kindheit zurück, in denen sich das Kind für die Probleme der Familie oder der Eltern schuldig fühlte. Bei einem schweren Verlust, bei dem es die Möglichkeit einer eigenen Schuldbeteiligung gibt, werden diese frühen Schuldzuweisun-

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gen an sich selbst nun wiederholt. Manchmal gibt es auch Verluste, bei denen es eine Realschuld gibt, sodass das Verlustskript »Ich bin schuld an deinem Tod« zutrifft. So hat ein betrunkener zwanzigjähriger Autofahrer tatsächlich eine Schuld an dem von ihm verursachten Unfall, bei dem sein bester, ebenfalls zwanzig Jahre alter Freund ums Leben kommt. Hier dient dann der Lebensverzicht in Form von depressiven Symptomen der Selbstbestrafung. Die Sinnlosigkeit des Todes des nahen Menschen wird zur Sinnlosigkeit des Lebens

Bei schweren Verlusten wird der Tod des nahen Menschen, wie zum Beispiel der Tod des eigenen Kindes, praktisch immer als sinnlos erlebt. Deshalb erscheint den Trauernden auch das eigene Leben in den ersten sechs bis neun Monaten und dann erneut um den ersten Todestag herum sinnlos. Wird nun an diesem Erleben der Sinnlosigkeit aus Loyalität zum Verstorbenen dauerhaft festgehalten, so erscheint das Leben insgesamt und somit auch zukünftig sinnlos. In der Folge stellen sich Gefühle der Leere, Leblosigkeit und Energielosigkeit ein, die sich dann zu depressiven Symptomen verdichten. Die Depression als Folge von massiven Verlustskripten, die insbesondere die Sinnlosigkeit des Lebens ohne den verstorbenen nahen Menschen festschreiben, ist die schwerste Verlust-Folge­ störung. Eine Lösung der Verlustdepression ist nur über die Transformation der Verlustskripte möglich. Dabei ermöglichen wir den Trauernden Zugänge zu einer inneren Beziehung zum Verstorbenen und damit zu ersten kleinen neuen Sinnerfahrungen. Das Fließen der Trauer kann die Erstarrung der Depression lösen und erlaubt den Trauernden, sich wieder selbst zu spüren.

Mit Verlust-Folgestörungen arbeiten   129

4 Wie wir mit psychosomatischen und depressiven Verlust-Folgestörungen arbeiten

Trauernde mit einer psychosomatischen oder depressiven Verlust-­ Folgestörung suchen meist erst zwei bis drei Jahre nach dem Tod des nahen Menschen professionelle Hilfe auf. Dann wird eine Trauertherapie nötig, die über die übliche Trauerbegleitung hinausgeht, weil nun auch ein bestehendes psychosomatisches Symp­ tom oder eine Depression behandelt werden muss. Dabei sind folgende Schritte nötig: Abklärung der Symptomatik einer Verlust-Folgestörung

Wir besprechen mit den Betroffenen die Schwere und Erscheinungsform der Symptome, deren Entstehungszeitpunkt, ihre Dauer und den bisherigen Verlauf der Symptomatik. Klärung des Zusammenhangs mit dem Verlustereignis

Meist wird schon in der Abklärung der Symptomatik der Zusammenhang mit dem zurückliegenden schweren Verlust deutlich. Diesen versuchen wir zunächst ansatzweise zu verstehen oder machen ihn zum Gegenstand weiterer Gespräche. Wir sollten dabei beachten, dass es auch mögliche andere Hintergründe wie eine andere frühe Traumatisierung oder eine Kombination von verschiedenen Ursachen für die beschriebene Symptomatik geben kann. Würdigung der Symptomatik

Wir würdigen die Symptomatik, wie zum Beispiel eine Verlust­ depression, als Ausdruck der Schwere des Verlustes und als einen ersten sinnvollen, aber langfristig problematischen Versuch, mit dem Tod des nahen Menschen zurechtzukommen.

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Verstehen der Funktion des Symptoms

Wir erarbeiten mit den Trauernden die zugrundeliegende Funktion des Stillstandes im Trauer- und Beziehungsprozess, der sich nun in der vorliegenden Symptomatik zeigt. Diese Funktion wird in voller Gänze meist erst mit dem Erarbeiten der Verlustskripte verständlich. Formulierung eines Auftrages

Wir bieten den Trauernden an, die vorliegende Symptomatik über die Bearbeitung des Verlustes anzugehen, und bitten um einen Auftrag hierfür. Nach der Abklärung der Frage, wie stabil die Trauernden sind, beginnen wir, die Verlustsituation mit dem bisherigen Erleben von Schmerz und Trauer und der inneren Beziehung zum Verstorbenen herauszuarbeiten (siehe Kapitel II). Ziel ist es hierbei, die wesentlichen Verlustskripte zu formulieren, um sie dann – wie im nächsten Kapitel aufgezeigt wird – zu transformieren und zu lösen.

Anleitung zur Selbstreflexion für Trauerbegleiterinnen und Trauerbegleiter Meine eigenen frühen Verlustsituationen und ­Verlustskripte lösen In der Abschlussübung von Kapitel III haben wir verschiedene frühe Verlustsituationen in Ihrer Kindheit und Jugend von außen auf einem Bildschirm angeschaut und herausgearbeitet, wie es Ihnen dabei als Kind oder Jugendliche ging und welche Verlustskripte dabei entstanden sind. Wir werden nun diese Verlustszenen wieder aufgreifen, das Kind bzw. die Jugendliche von damals tröstend versorgen und die Verlustskripte lösen.

Mit Verlust-Folgestörungen arbeiten   131

Das trauernde Kind von damals trösten Ich möchte Sie also bitten, eine erste Verlustsituation aus der Vergangenheit wieder vor Ihrem inneren Auge entstehen zu lassen und das Kind oder die Jugendliche von damals in dieser Szene zu sehen, um dann wie folgt vorzugehen: Wenn Sie das Kind dort sehen, dann fragen Sie sich, wie Sie das Kind emotional berührt und was Sie spontan für dieses Kind in dieser Verlustszene – zum Beispiel beim Auffinden des verstorbenen kleinen Bruders – tun möchten. Nun möchte ich Sie bitten, dass Sie in der Vorstellung in dieser Szene zu dem schockierten oder trauernden Kind gehen, es in die Arme nehmen und es trösten. Sie können dem Kind auch erklären, was mit dem verstorbenen nahen Menschen geschah und was jetzt ihm selbst geschieht, was es jetzt erlebt und wie es reagiert. Sie erlauben ihm alle Gefühle und Empfindungen, sowohl der Trauer als auch der Liebe zum Verstorbenen, und ermutigen das Kind, diese Gefühle jetzt in Ihren haltenden Armen zuzulassen. Sie unterstützen das Kind auch dabei, dem verstorbenen nahen Menschen einen sicheren, guten Platz – zum Beispiel auf einem Stern – zu geben oder ihn im Gedenken oder im Herzen nach innen zu nehmen. Das trauernde Kind an einen heilsamen Trauerund Beziehungsort bringen Nachdem der verstorbene nahe Mensch gut an seinem sicheren Ort bewahrt ist, können Sie das Kind nun in der Vorstellung aus der Verlustsituation bergen und an einen heilsamen Trauer- und Beziehungsort bringen. Dort kann das Kind oder die Jugend­ liche den Schmerz und die Trauer weiter zeigen und abfließen lassen und zugleich mit dem verstorbenen nahen Menschen in eine innere Beziehung gehen, zum Beispiel im inneren Gespräch. Sie unterstützen und begleiten als Erwachsene diese Prozesse, sodass das Kind seine Trauer gehen lassen kann, eine sichere

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und freie innere Beziehung zum Verstorbenen finden und damit in seine nun nachzuholende Entwicklung als Kind oder Jugendliche eintreten kann. Die frühen Verlustskripte lösen An dem heilsamen Trauer- und Beziehungsort werden auch die Verlustskripte des Kindes bzw. der Jugendlichen ausgesprochen. Dabei wird erklärt, warum und wie diese inneren Sätze entstanden sind, wie sie zunächst hilfreich waren, dann aber auch blockierend wurden. Anschließend werden dem Kind positive Leitsätze zur Transformation der Verlustskripte angeboten. Wenn Sie auf diese Weise Ihre frühen Verlustskripte lösen, werden Sie das zuerst als innere Leichtigkeit und Lebendigkeit spüren. Sie werden dann in der Trauerbegleitung anderer Menschen merken, dass Sie zwar einfühlsam präsent sind, aber den Schmerz und die Trauer bei den Trauernden lassen und diese mit gelassener Zuversicht begleiten können.

V Wie wir Verlustskripte lösen und transformieren können

Nun kommen wir zu der wohl wichtigsten und spannendsten Aufgabe, nämlich zusammen mit den Trauernden die verschiedensten Verlustskripte zu transformieren. Transformation heißt, dass wir ein Verlustskript lösen und in einen für den aktuellen Trauer- und Beziehungsprozess konstruktiven Leitsatz überführen. Viele Voraussetzungen und Vorarbeiten hierfür haben wir schon in den zurückliegenden Kapiteln erarbeitet, sodass sich die folgenden Methoden und Schritte für eine Transformation der Verlustskripte als natürliche Schlussfolgerungen des bisher Dargestellten ergeben.

1 Die Transformation der im Verlust entstandenen Verlustskripte

Wir beginnen mit der transformierenden Arbeit bei den Verlustskripten, die durch und im akuten Verlust entstanden sind. Wie wir gesehen haben, entwickeln sich diese Verlustskripte häufig in den ersten zwei Jahren nach einem schweren Verlust. Sie können durch eine Trauerbegleitung schon im Entstehen rechtzeitig gelöst und ihre Verfestigung und Chronifizierung bereits im Ansatz verhindert werden (Kapitel II). Ich werde bei den im Verlust entstandenen Verlustskripten die einzelnen Methoden und Prozessschritte eingehend darstellen. Sie sind dann auch die Grundlage der Arbeit mit den anderen Verlustskripten, auf die vieles davon übertragen werden kann.

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Greifen wir hierzu nun das Fallbeispiel 13 (»Ich muss meine Trauer in den Griff bekommen«) auf, bei dem der Vater nach dem Krebstod seines Sohnes seinen Verlustschmerz und seine Trauer mit dem Verlustskript »Die Trauer zieht mich herunter. Deshalb tue ich alles, um sie in den Griff zu bekommen« abwehrt und vermeidet, indem er viel arbeitet, seine Hobbys verstärkt und viel unterwegs ist. Doch dann entwickeln sich schwere Herzattacken, sodass er etwa anderthalb Jahre nach dem Tod seines Sohnes auf Druck seiner Ärzte und seiner Ehefrau zur Trauerberatung kommt. Verlustskripte erfragen, formulieren und benennen

Wir haben in Kapitel I schon typische Formulierungen von Verlustskripten sowie bestimmte Muster beschrieben, die uns helfen, auf deren Spur zu kommen. In den weiteren Kapiteln haben wir gesehen, dass wir dann einfühlsam nach den Verlustskripten fragen, zum Beispiel: »Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen: ›Ich darf doch meine Trauer nicht zulassen, es muss doch weitergehen‹?« Wir laden die Trauernden ein, ihre Überlegungen in einem Satz zu formulieren, oder bieten ihnen eine mögliche Formulierung an. Wir lassen sie prüfen, ob dieser Satz für ihr Erleben stimmt, zum Beispiel: »Passt die Aussage ›Ich will nicht trauern. Ich habe Angst vor meiner Trauer‹?« Gegebenenfalls verändern wir den Skriptsatz zusammen mit den Trauernden, bis sie ihm zustimmen können. Bei festgefahrenen Trauer- und Beziehungsmustern, die auf ein Verlustskript verweisen, bieten wir unsere Wahrnehmung als Rückmeldung an: »Darf ich Ihnen zu Ihren Herzbeschwerden eine Rückmeldung geben? Ich vermute, dass sich hier Ihr Schmerz über den Tod Ihres Sohnes zeigen will. Wie geht es Ihnen mit dieser Rückmeldung?«

Im Verlust entstandene Verlustskripte   135

Erläutern, was Verlustskripte sind und wie sie wirken

Haben wir die Verlustskripte erarbeitet und formuliert, dann erläutern wir den Trauernden die Skripte und wie sie wirken. Unsere Erklärung lautet zum Beispiel: »Ein Verlustskript ist ein unbewusster Leitsatz, dem wir in unserem Trauern folgen. Ich habe den Eindruck, dass Sie dem Satz folgen: ›Ich darf nicht trauern. Das wäre viel zu gefährlich.‹ Dieser Satz bewirkt dann eine Abwehr Ihrer Trauer.« Verlustskripte anerkennen und würdigen

Jedes Verlustskript wird anerkannt und gewürdigt, auch wenn es für uns selbst unverständlich oder sehr destruktiv klingt. Verlustskripte sind immer eine zunächst angemessene Folge eines schweren Verlustes und Ausdruck der ganz normalen Reaktionen des Organismus und der Psyche von Trauernden: »Ja, es war eine erste, unbewusste Reaktion, Ihre Trauer und damit auch die schlimme Realität, dass Ihr Sohn gestorben ist, auf Distanz zu halten. Das ist zunächst ganz natürlich und völlig in Ordnung.« Die Würdigung der Verlustreaktionen und der entstehenden Verlustskripte erlaubt es Trauernden, sich auf die anstrengende, immer auch schmerzende Arbeit mit ihnen einzulassen. Zustimmung zum Verstehen der Verlustskripte

Wir holen von den Trauernden die Zustimmung ein, dem Verlustskript auf den Grund zu gehen, um sie dann entscheiden zu lassen, dieses aktiv zu verändern: »Ich möchte Ihnen anbieten, Ihr Verlustskript und damit auch Ihre Herzbeschwerden besser zu verstehen, damit Sie, wenn Sie möchten, das Verlustskript verändern können. Wäre das in Ihrem Sinn?« Herkunft der Verlustskripte im Verlust entdecken

Wir besprechen mit den Trauernden, in welchen konkreten Situationen beim Tod des nahen Menschen – zum Beispiel beim Mit-

136    Wie wir Verlustskripte lösen und transformieren können

erleben, beim Erfahren der Todesnachricht oder bei der Bestattung – erste Teile eines späteren Skriptes auftauchten. Wir fragen dann genauer nach, wie sich die Verlustskripte weiterentwickelt und schließlich verfestigt haben. Der Vater in unserem Fallbeispiel etwa will von Anfang an seine Trauer abwehren und hat diese noch gar nicht zulassen können. Sinn und Funktion der Verlustskripte bewusst machen

Jedes Verlustskript hat in seinem Entstehen einen eigenen Sinn und eine besondere Funktion, auch wenn diese den Trauernden selbst – und manchmal auch uns als Trauerbegleiterinnen – nicht klar ist oder auch nicht sinnvoll erscheint. Wir fragen also nach der ursprünglichen guten Absicht der entstandenen Verlustskripte, damit Trauernde deren Funktion verstehen können: »Was könnte denn der dahintersteckende gute Sinn sein, wenn Sie eine innere Beziehung zu Ihrem verstorbenen Sohn nicht zulassen können?« Für unser Fallbeispiel liegt der Sinn der Trauerabwehr auf der Hand, den wir dann auch direkt benennen können: »Ich habe den Eindruck, Ihr Verlustskript ›Ich muss die Trauer abwehren‹ hilft Ihnen, die Kontrolle zu behalten und nicht abzustürzen. Und: Es hilft Ihnen, den so schmerzlichen Tod Ihres Sohnes abzuwehren.« Wir betonen immer wieder, dass das Verlustskript eine wichtige Aufgabe in der so schwierigen Verlustsituation hat und deshalb dessen Entstehen notwendig und sinnvoll war. Preis der Verlustskripte bewusst machen

Häufig wissen Trauernde selbst, dass die Verlustskripte ihren Nachteil, einen Preis oder negative Folgen haben. Manchmal ist dieser Preis aber noch gänzlich unbewusst, allenfalls wird über psychische und körperliche Beschwerden wie depressive Verstimmungen oder einen Druck in der Herzgegend geklagt,

Im Verlust entstandene Verlustskripte   137

diese werden aber nicht auf das deutlich gewordene Verlustskript bezogen. Hier stellen wir sehr einfache Fragen: »Welchen Nachteil kann der Glaubenssatz ›Ich muss die Trauer abwehren‹ haben?« oder »So wichtig Ihr Verlustskript ist, was verhindert es auf der anderen Seite?« Nicht selten müssen wir als Trauerbegleiterinnen auch behutsam, aber doch klar und eindeutig konfrontieren: »Ich sehe eine Verbindung zwischen dem Satz ›Ich will das nicht wahrhaben‹ und Ihren Herzbeschwerden« oder »Vermutlich liegt der Nachteil Ihres Verlustskriptes darin, dass sich nun die von ihm abgewehrte Trauer als Herzschmerzen zeigen will.« Ein Verlustskript, das die Trauer abwehrt, hat aber noch einen weiteren, oft übersehenen Preis: Wird die Trauer abgewehrt, wird auch die Liebe zum verstorbenen nahen Menschen gebremst oder blockiert. Das thematisieren wir ebenfalls: »Ich sehe noch einen ganz anderen Nachteil Ihres Verlustskriptes: Da die Trauer nicht gespürt werden darf, kann auch die Liebe zu Ihrem Sohn nur eingeschränkt gespürt werden. Ihr Verlustskript bremst also indirekt Ihre Liebe zu Ihrem Sohn.« Wird die Liebe zum verstorbenen nahen Menschen überbetont gelebt, so wird meistens auch die Trauer vermieden, die dann im Körper stecken bleibt. Wird eine innere Beziehung zum verstorbenen nahen Menschen abgelehnt oder vermieden, so wird auch die eigene Lebendigkeit gebremst oder blockiert. Einladung zur Veränderung und Transformation der Verlustskripte

Die Veränderung von Verlustskripten hat für das Erleben der Trauernden zwar ebenfalls einen Preis bzw. einen Nachteil, der aber für das Lösen des Verlustskriptes und für einen nachhaltig gelingenden Trauer- und Beziehungsprozess in Kauf genommen werden muss. Wir bieten also die Veränderung des Verlustskriptes an und benennen zugleich den Preis dafür: »Wenn Sie Ihre

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Verlustskripte lösen wollen, müssten Sie auch Ihren Schmerz und Ihre Trauer zulassen. Das ist nötig, um die Herzschmerzen zu lösen und die Liebe zu Ihrem Sohn intensiver zu spüren. Wären Sie dazu bereit?« Transformation des Verlustskriptes durch Erlaubnis und Ermutigung

Wir unterstützen nun die Veränderung des Verlustskriptes, indem wir die Trauernden ermutigen, das Abgewehrte, Vermiedene oder Ausgeblendete zuzulassen: »Sie können Ihre Trauer zulassen. Ich begleite Sie dabei, damit Sie keine Angst haben müssen, von ihr schachmatt gesetzt zu werden.« Bei der Überbetonung von Trauer- oder Beziehungsmustern hingegen laden wir dazu ein, diese bewusst zurückzunehmen: »Ich glaube, es wäre sinnvoll, wenn Sie Ihre vielen Aktivitäten ein wenig reduzierten. Dann könnten Ihre Trauer und – genauso wichtig – Ihre Liebe zu Ihrem Sohn Raum bekommen.« Wir wenden dabei nun die Vorgehensweisen und Methoden an, die wir für jede Trauerbegleitung wie in Kapitel II dargestellt nutzen. Formulierung von konstruktiven Leitsätzen für den Trauerund Beziehungsprozess

Wir erarbeiten gemeinsam oder bieten von uns aus hilfreiche Leitsätze an, die wir schon kennengelernt haben, damit Trauernde eine konstruktive Alternative für ihre bisherigen destruktiven Verlustskripte entwickeln und diese letztlich aufgeben können. Jedes Verlustskript braucht immer einen weiterführenden, konstruktiven Leitsatz, der nun auch eine öffnende Perspektive für den Trauer- und Beziehungsprozess bereithält.

Durch den Verlust aktualisierte allgemeine Lebensskripte   139

Erproben, Einüben und Umsetzen der neuen Wege des Trauerns, Liebens und Lebens

In jedem Gespräch geben wir den Trauernden eine Hausaufgabe oder eine Erprobungsaufgabe mit, durch die das Verlustskript ein Stück verändert und etwas Neues eingeübt werden kann: »Ich möchte Sie bitten, bis zu unserem nächsten Gespräch ganz bewusst drei Fotos von Ihrem Sohn anzuschauen. Lassen Sie die dabei auftauchenden Tränen abfließen und spüren Sie in der Trauer auch die Liebe zu Ihrem Sohn, die nun wieder zugänglich wird. Bringen Sie bitte diese Fotos zu unserem nächsten Gespräch mit.« Die hier beschriebenen Prozessschritte lassen sich auch für die im Folgenden beschriebene Veränderung der anderen Verlustskripte anwenden.

2 Die Transformation der durch den Verlust aktualisierten allgemeinen Lebensskripte

Wir haben gesehen, dass durch schwere Verluste auch allgemeine Lebensskripte, die nicht unmittelbar einen Verlust zum Thema haben, aktualisiert werden und dann als Verlustskripte den Trauer- und Beziehungsprozess destruktiv beeinflussen können (Kapitel I, 2 und III, 2). Greifen wir noch einmal das Fallbeispiel 19 (»Ich muss schuld sein am Tod meines Sohnes«) auf. Hier fühlt sich die Mutter für den Unfall ihres zwanzigjährigen Sohnes verantwortlich und fragt sich, was sie getan habe, dass das geschehen konnte. Sie bleibt im Kreisen um diese Frage stecken, dabei gibt es gar keine ursächliche Mitverantwortung für den Unfall ihres Sohnes, sondern »nur« die Aktivierung ihres allgemeinen Lebensskriptes »Ich bin schuldig am Unglück der anderen«.

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Da solche allgemeinen Lebensskripte lange vor dem aktuellen Verlust meist in der Kindheit und Jugend der Trauernden entstanden sind, gehört ihre Bearbeitung eigentlich nicht in eine Trauerbegleitung, vielmehr in eine Psychotherapie. Dennoch müssen wir als Trauerbegleiterinnen auch sie zumindest so weit bearbeiten, dass sie den weiteren Trauer- und Beziehungsprozess nicht behindern, und zwar wie folgt: Erfragen, Benennen und Erläutern der allgemeinen Lebensskripte

Wenn allgemeine Lebensskripte durch einen aktuellen Verlust aktiviert werden, finden sich meist typische Skriptformulierungen und die Verbindung zur Biografie der Trauernden, wie zum Beispiel: »Das kenne ich schon bei mir …«, »Das war schon immer so …« … oder »Schon als Kind …« Wir greifen solche Formulierungen auf oder fragen auch direkt danach, ob die Trauernden entsprechende sich wiederholende Gefühle oder Erfahrungen aus ihrer Biografie kennen, zum Beispiel: »Sie scheinen sich schon immer schuldig gefühlt zu haben?« oder »Kennen Sie ein ähnliches Schuldgefühl aus Ihrer Lebensgeschichte?« Bei einer Bestätigung durch die Trauernden erfragen oder benennen wir den Skriptsatz: »Das hört sich wie ein Leitsatz oder Lebensmotto an: ›Ich bin schon immer schuldig‹.« Wir erläutern dann den Begriff des Lebensskriptes und formulieren das Skript noch genauer: »Sie haben sich wohl schon als Kind schuldig gefühlt, sodass der Leitsatz ›Ich bin schon immer schuldig‹ stets aufs Neue passte, bis heute.« Aufzeigen des Zusammenhangs zur Verlustsituation

Wir stellen nun das formulierte allgemeine Lebensskript in den Zusammenhang mit dem aktuellen Verlust und zeigen auf, wie dieser es aktualisiert und zu bestätigen scheint: »Der tragische

Durch den Verlust aktualisierte allgemeine Lebensskripte   141

Tod Ihres Sohnes ruft nun diesen alten Leitsatz ›Ich bin an allem schuld‹ wieder wach und wirkt wie dessen scheinbare Bestätigung.« Reflexion der Entstehung von Lebensskripten

Wir lassen uns schildern, in welcher Situation oder Familienkonstellation das Lebensskript seine Wurzeln hat, und überlegen, wie damals das Lebensskript als Überschrift bzw. Lösungsversuch für das Kind oder die Jugendliche entstanden ist. Im Rahmen der Trauerbegleitung genügen an dieser Stelle erste gemeinsam entwickelte Hypothesen, die wir auch als Erklärungsmöglichkeiten anbieten können: »Sie haben erzählt, dass Ihre Eltern unglücklich waren. Das damalige Mädchen hat wohl gedacht, dass es dafür die Ursache ist, und hat formuliert: ›Ich bin am Unglück meiner Eltern schuld.‹ Mit weiteren Erfahrungen dieser Art hat das Mädchen schließlich gedacht: ›Ich bin an allem schuld.‹ Macht diese Erklärung Sinn?« Würdigen und Anerkennen der allgemeinen Lebensskripte

Wir erkennen an, dass das Kind damals keine andere Möglichkeit hatte, als das formulierte Lebensskript zu entwickeln, und dass dieses einen Lösungsversuch für eine schwierige Lebensoder Familiensituation darstellte: »Mit dem Satz ›Ich bin an allem schuld‹ hat das Mädchen seinen Erfahrungen Ausdruck gegeben und eine Erklärung für die Familiensituation gefunden. Vielleicht glaubte es sogar, damit die Eltern zu entlasten.« Begrenzte Transformation des Lebensskriptes und Angebot eines alternativen konstruktiven Leitsatzes

Im Rahmen der Trauerbegleitung können wir das allgemeine Lebensskript nur im Ansatz verändern, indem wir den Trauernden eine Schlüsselfrage stellen: »Was hätte das Kind damals gebraucht, dass es diesen schwierigen Skriptsatz nicht hätte ent-

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wickeln müssen?« Aus der Reflexion über diese Frage wird deutlich, dass es auch andere Möglichkeiten und damit konstruktivere Leitsätze gegeben hätte. Wir schlagen dann der Trauernden von heute und dem Kind von damals einen solchen alternativen konstruktiven Leitsatz vor und bitten sie zu prüfen, wie sich dieser für beide anfühlt: »Welche Empfindungen löst der Satz ›Die Verantwortung gehört zu meinen Eltern, und ich darf als Kind frei von Schuld aufwachsen‹ aus?« Der Leitsatz ergibt sich meist aus einer gegenüber dem Skript gegenteiligen und zugleich erlaubenden und wohlwollenden Formulierung. Differenzieren zwischen allgemeinem Lebensskript und aktueller Verlusterfahrung

Nun können Trauernde sich auf eine Differenzierung zwischen dem Lebensskript und der aktuellen Verlustsituation einlassen, weil sie verstanden haben, dass das Lebensskript in der Vergangenheit entstanden und mittlerweile eine Alternative zu ihm möglich ist. Das Lebensskript hat eine eigene Geschichte, der aktuelle Verlust und der Tod des nahen Menschen haben ebenfalls eine ganz eigene, davon unabhängige Bedeutung. Für unser Fallbeispiel heißt das Angebot dann: »Wir haben gesehen, dass der Satz ›Ich bin an allem schuld‹ damals in der Kindheit entstanden ist. Der schreckliche Unfalltod Ihres Sohnes ist nun etwas ganz anderes und hat nichts mit Schuld zu tun, sondern mit viel Schmerz und Trauer.« Diese in der Trauerbegleitung zwar nur begrenzt mögliche Bearbeitung der durch den Verlust aktualisierten Lebensskripte hilft den Trauernden dennoch, die jetzige Verlustsituation nicht mehr mit der »Brille« des Lebensskriptes zu erleben und wahrzunehmen. Vielmehr können sie die Lebensskripte nun beiseitestellen und sich auf ihre Trauer und ihre Liebe zum Verstorbenen einlassen.

Durch einen frühen Verlust entstandene Verlustskripte   143

3 Die Transformation der durch einen frühen Verlust entstandenen Verlustskripte

Auch die Bearbeitung von Verlustskripten, deren Entstehung in frühen Verlusten in der Kindheit und Jugend zu verorten ist, gehört in eine Psychotherapie (Kachler, 2018a). Dennoch müssen wir in einer Trauerbegleitung solche frühen Verlustskripte ebenfalls so weit bearbeiten, dass sie den aktuellen Trauer- und Beziehungsprozess nicht weiter blockieren können. Ich greife hier zum einen das Fallbeispiel 20 (»Der Tod meiner Frau darf nicht sein«) als Exempel für ein Verlustskript in Bezug auf Schock, Verlustschmerz und Trauer auf. Der trauernde Ehemann kann hier den Tod seiner Frau nicht realisieren, weil er als neunjähriges Kind nach dem Tod seiner Mutter ein Verlustskript entwickelt hatte. Für ein kindliches Verlustskript im Blick auf die innere Beziehung wiederum greife ich das Fallbeispiel 21 (»Man trauert nicht um den kleinen Bruder und darf ihn nicht mehr liebhaben«) auf, bei dem in der Familie über den tödlich verunglückten Bruder nicht geredet wurde und die Schwester dies als Verbot einer inneren Beziehung verstand. Erfragen und Eruieren von Verlustsituationen in der Kindheit

Wir fragen in Trauerbegleitungen die Trauernden routinemäßig danach, ob sie frühe Verlusterfahrungen hatten. Ist dies der Fall, bitten wir sie, aus dem Abstand heraus die Verlustsituation zu beschreiben: »Ihre Mutter ist damals, als Sie Kind waren, ebenfalls an Krebs gestorben. Was ist damals geschehen? Erzählen Sie mir das, wenn möglich mit Abstand von außen.« Wenn wiederum ein Verlustskript im Blick auf die innere Beziehung besteht, fragen wir zum Beispiel: »Wie hat das Mädchen damals die Liebe zu dem verstorbenen kleinen Bruder gefühlt und gelebt?« Erzählt die Trauernde dann, dass über den

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Bruder nicht geredet wurde, fragen wir weiter, wie das Mädchen dies damals verarbeitet hat. Erfragen und Eruieren der Gefühle und Reaktionen des Kindes von damals

Wir lassen uns die Schock-, Verlustschmerz- und Trauergefühle des Kindes oder Jugendlichen einerseits, die damaligen Beziehungsgefühle zum verstorbenen nahen Menschen andererseits beschreiben: »Was hat der Junge dort in der Badewanne und später nach dem Tod seiner Mutter erlebt und gefühlt?« Hier wird in aller Regel schon die Basis für die kindlichen Verlustskripte deutlich, wenn zum Beispiel die Antwort kommt: »Ich habe gar nichts gefühlt. Und das ist lange Zeit so geblieben.« Die Antwort der Schwester in Fallbeispiel 21 – »Ich habe gar keine Gefühle für meinen Bruder gehabt« – weist darauf hin, dass es keine innere Beziehung zum verstorbenen Bruder gab. Verstehen und Würdigen der Entstehung des Verlustskriptes

Wir erklären den Trauernden, dass frühe Verluste ein Kind massiv prägen und dabei Verlustskripte entstehen. Wir fragen, wie die Erfahrungen des Kindes von damals in einen überschriftartigen, die seinerzeitige Situation treffenden Satz gefasst werden können: »Welche Überschrift passt für die Erfahrungen des Jungen mit dem Tod seiner Mutter?« Daraus lässt sich das Verlustskript des Kindes formulieren, wenn der Betroffene zum Beispiel antwortet: »Die Überschrift könnte sein: ›Das ist alles gar nicht wahr‹.« Wir würdigen dann das Verlustskript als zunächst normalen und bestmöglichen Lösungsversuch des Kindes in seiner Verlustsituation, zum Beispiel: »Ja, der Junge damals konnte gar nicht anders, als dieses Skript zu entwickeln, das ihn vor der schrecklichen Realität schützte.« Für das Beispiel der Schwester wiederum benennen wir unsere Vermutung wie folgt: »Das Mädchen konnte sich gar

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keine innere Beziehung zu seinem verstorbenen Bruder erlauben, weil es dachte, dass die Eltern das nicht wollen. Das ist sehr schade, weil sich praktisch alle Kinder solch eine innere Beziehung wünschen.« Benennen der Wirkung des kindlichen Verlustskriptes auf die aktuelle Verlustsituation

Wir benennen, dass das damalige Verlustskript des Kindes oder Jugendlichen auch in der aktuellen Verlustsituation aktiviert wird und nun die Verarbeitung der heutigen Verlustsituation beeinflusst: »Ich vermute, dass das kindliche ›Das ist nicht wahr‹ auch heute wieder wirkt und Sie dabei bremst, die schmerzliche Realität des Todes Ihrer Frau zuzulassen und wahrzunehmen.« Differenzieren zwischen dem Verlustskript des Kindes und der aktuellen Verlustsituation

Wir erläutern, dass das Kind damals auf seine Weise, mit dem damals richtigen Verlustskript auf den Tod des nahen Menschen reagiert hat. In der aktuellen Verlustsituation jedoch kann die Trauernde nun als Erwachsene anders, nämlich mit konstruktiven Leitsätzen in der Trauerbegleitung mit dem jetzigen Verlust umgehen. Begrenzte Transformation des kindlichen Verlustskriptes von damals

Wir stellen wieder die zentrale Schlüsselfrage: »Was hätte das Kind damals an Begleitung gebraucht, damit es nicht dieses Verlustskript hätte entwickeln müssen?« oder »Was wünschen Sie sich für das trauernde Kind von damals?«. Kinder und Jugendliche benötigen in Verlustsituationen Halt, Nähe, Verständnis und kindgemäße Erklärungen, sodass sich hier nun zum Beispiel formulieren lässt: »Für den Jungen wäre es damals hilfreich gewesen, wenn der Vater ihm alles zum Tod

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der Mutter behutsam erklärt, ihn dabei in den Armen gehalten und ihm erlaubt hätte, auch zu weinen.« Die Erlaubnis und die Ermutigung, die Trauer und die Liebe zuzulassen, stärken Kinder und Jugendliche, auch mit einem schweren Verlust umzugehen. Meist taucht in diesem Prozess die Trauer des Kindes von damals auf, die eine andere ist als die Trauer im aktuellen Verlust. Das Abfließen der Trauer von damals und das Zulassen der Liebe zum damals verstorbenen Menschen ermöglichen es den Trauernden nun, sich auf die andere, aktuelle Trauer und die anders geartete Beziehung zum aktuell verstorbenen Menschen einzulassen.

4 Die Transformation der familiären Familienskripte

Wir haben gesehen, dass die von Familien transgenerational weitergegebenen Verlustskripte ebenfalls das Erleben einer aktuellen Verlustsituation massiv beeinflussen (Kapitel I, 2 und III, 4). Zur Transformation dieser ganz unterschiedlichen familiären Verlustskripte sind folgende Prozessschritte nötig: Benennen und Formulieren der familiären Verlustskripte

Wir fragen Trauernde wieder routinemäßig, wie in der Geschichte ihrer Herkunftsfamilie getrauert, wie mit Verstorbenen umgegangen wurde und wie die Familie bei Verlusten weitergelebt hat. Daraus erarbeiten wir die Formulierungen der familiären Verlustskripte. Greifen wir hierfür noch einmal Fallbeispiel 6 auf (»In unserer Familie trauert man nicht«), in dem der Junge beim Tod seiner kleinen Schwester das familiäre Verlustskript übernimmt, nicht trauern zu dürfen. Dies lässt sich als Skriptsatz so formulieren: »In unserer Familie zeigt man keine Gefühle, Trauer schon gar nicht. Das wäre eine Schwäche.«

Transformation der familiären Familienskripte   147

Verstehen der familiären Verlustskripte und deren Entstehung

Wir klären im Gespräch mit den Trauernden, in welchen Verlustsituationen der Familiengeschichte die familiären Verlustskripte entstanden sind und welchen Einfluss dabei die besondere Struktur der Familie ausgeübt hat. Hierfür können wir die verschiedenen Methoden der Familientherapie nutzen, beispielsweise das Familienbrett (Levold u. Wirsching, 2021). Wir fassen für die Trauernden die Reflexion der Entstehungsgründe des familiären Verlustskriptes zusammen: »Ihre Familie hat mütterlicherseits schon viele Verluste erlebt, bei denen es sinnvoll schien, zunächst die Trauer zu unterdrücken, um als ganze Familie mit dem Leben weitermachen zu können.« Anerkennen und Würdigen der familiären Verlustskripte und Benennen der Folgen

Wir erkennen an, dass es für die Familie in den jeweiligen Verlustsituationen notwendig erschien, die entsprechenden Verlustskripte zu entwickeln. Dabei benennen wir die guten Gründe dafür, aber auch den Preis und die Folgen, die sie für die folgenden Generationen gehabt haben. Wir würdigen damit zugleich die Familie als ein besonderes System mit einer besonderen Geschichte, gerade auch im Umgang mit Verlusten. Dadurch können die Trauernden zu ihrer Familie stehen, aber auch kritisch die problematischen Folgen des Verlustskriptes sehen: »Für Ihre Familie war das Verlustskript ›Bei uns trauert man nicht‹ angesichts der zahlreichen Verluste wohl die richtige Einstellung, auch wenn das jetzt für Sie schwierig ist.« Die Würdigung der Familie und deren Verlustskripte ist sehr wichtig, damit in einem späteren Schritt das betreffende Skript ohne Schuldgefühle an die Familie zurückgegeben werden kann.

148    Wie wir Verlustskripte lösen und transformieren können

Anerkennen und Würdigen der Übernahme der familiären Verlustskripte

Wir würdigen nun ausdrücklich, dass die Trauernden als Kinder oder Jugendliche die von der Familie vorgegebenen Verlustskripte auf ihre Weise übernommen haben. Es war für das Kind damals die beste Umgangsweise mit einem überwältigenden Verlust, signalisierte zudem die Loyalität gegenüber der Familie und sicherte die Zugehörigkeit zu dieser: »Als die kleine Schwester ertrank, musste der Junge das Trauerskript der Familie übernehmen. Zum einen war das für den Jungen eine erste Hilfe, zum anderen wollte er weiterhin zur Familie gehören.« Rückgabe der familiären Verlustskripte an die Familie

Die familiären Verlustskripte gehören zur Geschichte der Familie und damit zur Familie selbst und können nun in der Vorstellung an diese zurückgegeben werden. Wir bitten die Trauernden, einen entsprechenden Rückgabebrief zu schreiben und ihn in der Imagination an die Familie zurückzuschicken oder ihn der Familie vorzulesen. Für unser Fallbeispiel lautet die Rückgabeaufforderung: »Sagen Sie Ihrer Familie jetzt in der Vorstellung, dass Sie als Kind das Verlustskript übernommen haben und es nun heute als Erwachsener zurückgeben wollen mit den Worten: ›Ich übergebe euch dieses Verlustskript. Es gehört zu euch und soll auch dort bleiben. Ich wähle für meine Trauer einen anderen Weg.‹« Wir lassen die Trauernden die Erleichterung über die Rückgabe spüren. Formulieren eines konstruktiven alternativen Leitsatzes für die aktuelle Verlustsituation

Wie immer erarbeiten wir auch für familiäre Verlustskripte einen alternativen konstruktiven Leitsatz, den die Trauernden nun für die aktuelle Verlustsituation gelten lassen und anwenden kön-

Gesellschaftlich geprägte Verlustskripte   149

nen. Für unser Fallbeispiel lautet er: »Liebe Familie, ab heute lasse ich meine Trauer und meine Liebe zu, weil ich weiß, dass das mir guttut.« Bei einem familiären Verlustskript wiederum, bei dem die Verstorbenen aus der kollektiven Erinnerung ausgeblendet werden, könnte ein konstruktiver Leitsatz lauten: »Für mich gehört der verstorbene Onkel zur Familie. Ich gebe ihm einen guten Platz in meinem Herzen und werde ihn in guter Erinnerung behalten.« Sollten sich bei dem hier vorgestellten Prozess der Transformation eines familiären Verlustskriptes massive Schwierigkeiten oder Widerstände zeigen, raten wir den Trauernden, eine familientherapeutisch fundierte Psychotherapie aufzusuchen.

5 Die Distanzierung gegenüber gesellschaftlich geprägten Verlustskripten

Natürlich können wir gesellschaftlich geprägte Verlustskripte nicht verändern, aber wir können Trauernde unterstützen, sich ihnen gegenüber abzugrenzen, eine kritische Haltung und auch eine Distanzierung herzustellen. Wir erarbeiten mit den Trauernden zunächst die Formulierungen der von ihnen übernommenen gesellschaftlich geprägten Verlustskripte (Kapitel III, 5). Dann erklären und erläutern wir die gesellschaftlichen Hintergründe für das Entstehen dieser Verlustskripte und stellen sie behutsam infrage. Wir stärken und unterstützen Trauernde, sich auf ihre eigenen Empfindungen und Gefühle einzulassen, zu ihnen zu stehen und sie bewusst zu leben. Dabei sind Selbsthilfegruppen für Trauernde wichtig, weil sich Trauernde dort auch gegenseitig in ihrer Abgrenzung und

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Besinnung auf die eigenen Gefühle unterstützen können. In Trauer-Selbsthilfegruppen können zudem länger und intensiver die Trauer- und Beziehungsgefühle ausgesprochen, ausgedrückt und gelebt werden als im sozialen Nahfeld von Familie, Nachbarschaft und Arbeit. Konstruktive Leitsätze zur Distanzierung gegenüber gesellschaftlich geprägten Verlustskripten

Wir stellen den gesellschaftlich geprägten Verlustskripten erlaubende, ermutigende und stärkende konstruktive Leitsätze gegenüber: • Sie leben Ihre Trauer und Ihre Liebe zu Ihrem verstorbenen nahen Menschen ganz so, wie es für Sie stimmt, ganz unabhängig von anderen. • Sie lassen die anderen draußen und bleiben bei sich und ihrem Trauer- und Beziehungsprozess. • Sie lassen sich nicht drängen und nehmen sich die Zeit, die Sie und Ihre Trauer brauchen. • Sie leben Ihre innere Beziehung zu Ihrem verstorbenen nahen Menschen so weiter, wie es für Sie und ihn stimmt. • Sie entscheiden für sich, wann und wie Sie in Ihr ganz eigenes Leben nach dem Tod Ihres nahen Menschen zurückkehren wollen.

Auch hier unterstützen wir die Trauernden, die hilfreichen Leitsätze umzusetzen und einzuüben. So fragen wir immer wieder nach, wie sich die hilfreichen Leitsätze als Alternative zu den gesellschaftlich geprägten Verlustskripten im konkreten Trauerund Beziehungsprozess auswirken.

Statt eines Schlusswortes

Mit der Bearbeitung der gesellschaftlich geprägten Verlustskripte ist die Transformation der Verlustskripte abgeschlossen, so dass der Trauer- und Beziehungsprozess von Betroffenen seinen eigenen Weg in ein wieder glückendes Leben nach einem schweren Verlust finden kann. Damit sind wir am Ziel dieses Buches angekommen, nämlich Verlustskripte zu verstehen und Methoden für deren Lösung zu finden. Ich hoffe zugleich, dass Sie damit als Trauerbegleiterinnen einen neuen Zugang zu trauernden Menschen als individuelle Personen mit ihren jeweils ganz eigenen Biografien finden können und dass Sie so die Trauernden in ihren biografisch geprägten Trauer- und Beziehungs­reaktionen individueller und damit noch ein Stück empathischer begleiten können. Darüber hinaus hoffe ich, dass Sie auch Ihre eigenen Lebensund Verlustskripte mit diesem Buch besser verstehen und vielleicht sogar lösen und transformieren konnten. So wünsche ich Ihnen in Ihrer so wichtigen und bedeutsamen Arbeit als Trauer­begleiterin und Trauerbegleiter auch für Sie selbst tiefe, sinnhafte Erfahrungen.

Literatur

Achenbach, T. (2019). Männer trauern anders. Was ihnen hilft und guttut. Ostfildern: Patmos. Ariès, P. (2005). Geschichte des Todes (11. Aufl.) München: dtv. Berne, E. (2002). Spiele der Erwachsenen. Psychologie der menschlichen Beziehungen (20. Aufl.). Reinbek: Rowohlt. Drexler, K. (2020). Ererbte Wunden erkennen. Wie Traumata der Eltern und Großeltern unser Leben prägen. Stuttgart: Klett-Cotta. Egle, U. T., Heim, C., Strauß, B., von Känel, R. (Hrsg.) (2020). Psychosomatik. Neurobiologisch fundiert und evidenzbasiert. Ein Lehr- und Handbuch. Stuttgart: Kohlhammer. Henningsen, P., Martin, A. (2016). Somatoforme Störungen, somatische Belastungsstörung. In S. Herpertz, F. Caspar, K. Lieb (Hrsg.), Psychotherapie. Funktions- und störungsorientiertes Vorgehen (S. 473–492). München: Elsevier. Kachler, R. (2014). In meinen Träumen finde ich dich. Wie Träume in der Trauer helfen. Stuttgart: Kreuz. Kachler, R. (2017a). Meine Trauer wird dich finden. Ein neuer Ansatz in der Trauerarbeit. Freiburg i. Br.: Herder. Kachler, R. (2017b). Wie ist das mit … der Trauer? (2. Aufl.). Stuttgart: Gabriel. Kachler, R. (2018a). Nachholende Trauerarbeit. Hypnosystemische Beratung und Psychotherapie bei frühen Verlusten. Heidelberg: Carl-Auer. Kachler, R. (2018b). Sei dein eigenes Wunschkind. Lerne dein Inneres Kind zu lieben. Freiburg i. Br.: Herder. Kachler, R. (2019). Hypnosystemische Trauerbegleitung. Ein Leitfaden für die Praxis (5. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer. Kachler, R. (2021a). Traumatische Verluste. Hypnosystemische Beratung und Therapie von traumatisierten Trauernden. Ein Leitfaden für die Praxis. Heidelberg: Carl-Auer. Kachler, R. (2021b). Kinder im Verlustschmerz begleiten. Hypnosystemische, traumafundierte Trauerarbeit mit Kindern und Jugendlichen. Stuttgart: Klett-Cotta. Kachler, R. (2021c). Die Therapie des Inneren Kindes. Konzepte und Methoden für Beratung und Psychotherapie (2. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Kachler, R. (2021d). Damit aus meiner Trauer Liebe wird. Neue Wege in der Trauerarbeit. Freiburg i. Br.: Herder.

Literatur   153

Kachler, R., Majer-Kachler, C. (2013). Gemeinsam trauern – gemeinsam weiter lieben. Das Paarbuch für trauernde Eltern. Stuttgart: Kreuz. Levold, T., Wirsching, M. (Hrsg.) (2021). Systemische Therapie und Beratung – das große Lehrbuch. Heidelberg: Carl-Auer. Meiss, O. (2020). Hypnosystemische Therapie bei Depression und Burnout (4. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer. Reddemann, L. (2020). Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie. PITT – Das Manual. Ein resilienzorientierter Ansatz in der Psychotraumatologie (10. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Röseberg, F., Müller, M. (Hrsg.) (2014). Handbuch Kindertrauer. Die Begleitung von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Schmale-Riedel, A. (2016). Der unbewusste Lebensplan. Das Skript in der Transaktionsanalyse. Typische Muster und therapeutische Strategien (3. Aufl.). München: Kösel.