Verlässlichkeit des Wortes: Gemeinschaftskonzepte in den Reden des Buches Tobit und ihre Legitimierung 9783737004435, 9783847104438, 9783847004431

135 9 1MB

German Pages [222] Year 2015

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Verlässlichkeit des Wortes: Gemeinschaftskonzepte in den Reden des Buches Tobit und ihre Legitimierung
 9783737004435, 9783847104438, 9783847004431

Citation preview

Bonner Biblische Beiträge

Band 176

herausgegeben von Ulrich Berges und Martin Ebner

Johanna Rautenberg

Verlässlichkeit des Wortes Gemeinschaftskonzepte in den Reden des Buches Tobit und ihre Legitimierung

V&R unipress Bonn University Press

®

MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen

www.fsc.org

FSC® C083411

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 0520-5670 ISBN 978-3-8471-0443-8 ISBN 978-3-8470-0443-1 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0443-5 (V&R eLibary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Veröffentlichungen der Bonn University Press erscheinen im Verlag V&R unipress GmbH. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der AGENDA – Forum katholischer Theologinnen e.V. © 2015, V&R unipress GmbH in Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Meiner Familie

Inhalt

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Reden im Buch Tobit . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gemeinschaftkonzepte in den Reden des Buches Tobit 3. Vorgehen und Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Analyse der Rahmenreden . . . . . . . . . . . . . 3.2 Analyse der Erzählteile . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

13 16 17 20 20 24

II. Analyse der Rahmenreden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Analyse 1,1–2: Buchüberschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Analyse 1,3–2,14: Tobits Monolog . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 1,3: Exposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 1,4–15: Tobit – Herkunftsgemeinschaft: keine Interaktion 2.3 1,16–22: Tobit – Herkunftsgemeinschaft: Interaktion mit vielen Toten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 2,1–10: Tobit – Herkunftsgemeinschaft: Interaktion mit einem Toten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 2,11–14: Tobit – Familie: Konflikt mit Hanna . . . . . . . 2.6 Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Analyse 3,1–6: Tobits Gebet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Analyse 4,3–21: Tobits Lehrrede . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Analyse 5,11–17a: Dialog zwischen Tobit und dem Engel . . . 5.1 Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Analyse 12,6–20: Selbstoffenbarung des Engels . . . . . . . . . 6.1 12,6b–15: Selbstoffenbarung als Engel Raphael . . . . . . . 6.2 12,17b–20: Verkündigungsauftrag . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . .

. . . . .

29 29 30 32 34

. .

41

. . . . . . . . . . . . .

44 54 59 61 63 64 70 73 77 78 79 82 82

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . . . . . . . . .

8

Inhalt

. . . . . . .

84 85 87 90 91 93 94

III. Analyse der Erzählteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Analyse 3,7–15: Saras Schicksal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Analyse 3,16–17: Erhörung des Gebets . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Analyse 5,17b–11,19: Heilung Saras und Tobits . . . . . . . . . . . 3.1 Analyse der einzelnen Erzähleinheiten . . . . . . . . . . . . . 3.2 5,17b–6,1: Aufbruch des Tobias und seines Begleiters . . . . . 3.3 6,2–9: Reise. Beschaffung der Heilmittel für Tobit . . . . . . . 3.4 6,10–18: Gespräch zwischen dem Engel/Asarja und Tobias . . 3.5 7,1–17: Freude Raguels und Feier . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 8,1–9a: Vertreibung des Dämons . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7 8,9b–9,6: Freude Raguels und Feier . . . . . . . . . . . . . . . 3.8 10, 1–7a: Gespräch zwischen Hanna und Tobit . . . . . . . . . 3.9 10,7b–11,15: Heimreise. Anwendung der Heilmittel für Tobit . 3.10 11,16–19: Saras Ankunft in Ninive . . . . . . . . . . . . . . . 3.11 Analyse der Plotstruktur und ihrer erzählerischen Gestaltung . 4. Analyse 14,12–15: Ausblick auf das weitere Leben des Tobias . . . 5. Die Erzählteile als Erzählzusammenhang . . . . . . . . . . . . . .

101 101 104 105 106 107 109 111 114 128 134 145 147 159 162 182 184

IV. Gesamtzusammenhang der Rahmenreden und der Erzählteile . . . 1. Anordnung der Rahmenreden und der Erzählteile . . . . . . . . 2. Verhältnis zwischen 1,3–3,6 und 5,17b–11,19 . . . . . . . . . . . 3. Positionierung von 1,3–3,6 in der Abfolge der Rahmenreden und der Erzähleinheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verschränkungen der Rahmenreden und der Erzählteile . . . . . 4.1 Strukturelle Analogien zwischen den Rahmenreden und der Binnenerzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Verschränkung durch Figurenkonstellation . . . . . . . . . 4.3 Verschränkung durch Motivzusammenhänge und Stichwortverbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Verschränkung durch das Füllen inhaltlicher Leerstellen . .

. . .

187 187 189

. .

191 193

. .

193 193

. .

197 200

7. Analyse 13,1b–18: Tobits Lobgebet . . . . . 7.1 13,1–7 Lob der υἱοὶ Ισραηλ . . . . . . . 7.2 13,9–18: Lob der Stadt Jerusalem . . . 7.3 Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . 8. Analyse 14,3b–11: Tobits Abschiedsrede . . 8.1 Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . 9. Die Rahmenreden als Redezusammenhang

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

9

Inhalt

. . . . . .

203 203 208 211 213 214

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

219

V. Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gemeinschaftskonzepte in den Rahmenreden . . . . . . . . . 2. Charakterisierung der Sprecher: Tobit und der Engel . . . . . 3. Dominanz der Figurenrede in den Erzählteilen . . . . . . . . 4. Die Rahmenreden als Deutungskontext der Binnenerzählung 5. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

Dank

Die vorliegende Arbeit wurde im WS 2014/15 als Dissertation von der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Dresden angenommen. Mein ganz besonderer Dank gilt Frau Prof. Dr. Maria Häusl. Ihre Anregungen, ihr kritisches Mitdenken und ihr beständiges Interesse ermutigten mich sehr, die Thesen dieser Studie zu entfalten und zu einer Dissertation auszuarbeiten. Ihrem Vertrauen und ihrer Ermutigung habe ich viel zu verdanken. Eine sehr unterstützende Begleitung habe ich auch von Frau Prof. Dr. Susanne Gillmayr-Bucher erfahren. Für die anregenden Diskussionen und ihr ausführliches Zweitgutachten möchte ich ihr an dieser Stelle ganz herzlich danken. Besonders bedanke ich mich bei Frau Dr. Elisabeth Birnbaum, die geduldig und gründlich das Korrekturlesen übernommen hatte. Auch danke ich meinen Kolleginnen Frau Dr. Irene Schulmeister und Frau Christine Hoffmann für die gemeinsamen Gespräche, die mir immer wieder wichtige Impulse zum Weiterdenken gaben. Prof. Dr. Ulrich Berges und Prof. Dr. Martin Ebner darf ich für die vertrauensvolle Aufnahme der Arbeit in die Reihe »Bonner Biblische Beiträge« ebenfalls danken. Schließlich möchte ich die AGENDA – Forum katholischer Theologinnen e.V. dankend erwähnen, die mit einem großzügigen Druckkostenzuschuss die Veröffentlichung der Arbeit unterstützte. Dresden im Mai 2015

Johanna Rautenberg

I.

Einleitung

Das Buch Tobit, entstanden im 3./2. Jhr. v. Chr., erzählt vom schweren Schicksal zweier jüdischer Familien, die fern von Jerusalem in Assyrien bzw. Medien leben. Der Vater der einen Familie, Tobit, erblindet, während in der anderen Familie der Dämon Aschmodai siebenmal die Hochzeit der Tochter Sara verhindert. Der Intervention Gottes verdankt sich das Erscheinen des Engels Raphael, der im Verlauf der Ereignisse Tobit und Sara von ihren Leiden befreien wird. Die meisten einschlägigen Arbeiten1 zum Buch Tobit deuten das Buch im Kontext der Diasporasituation der erzählten Welt und konzentrieren ihre Untersuchungen auf die Handlung der Geschichte. Sie lesen den Abschnitt 1,3–3,6 als Figurenrede gestaltete narrative Sequenz, die einen parallelen Handlungsstrang zu 3,7–10 bildet. Nach dieser Leseweise bilden die erzählten Ereignisse des Lebensrückblicks Tobits den Beginn der Handlung, um dann in 3,7 mit den Erlebnissen Saras synchronisiert zu werden. »Der Einsatzpunkt der Erzählung liegt in dem Abschnitt 1,3–14. Er kann als ›Exposition‹ bzw. ›Orientierung‹ gelten, da er die grundlegenden Informationen über die bereits in der Buchüberschrift vorgestellten Hauptpersonen und den Ort der Handlung bietet, und zwar in der Form eines gedrängten, zeitraffenden Überblicks. Dabei gerät die Hauptperson Tobit in ihren wesentlichen Charaktermerkmalen, mit ihrer Familie und ihrem Beruf als den Grundpfeilern ihres Lebens in den Blick.«2

Die Figur Tobits und zentrale Themen der Anfangskapitel, wie zum Beispiel Tobits Torafrömmigkeit und seine Totenbestattungen in der Fremde bestimmen demnach die Deutung des Inhalts des gesamten Buches. Paul Deselaers fasst dessen Botschaft folgendermaßen zusammen: »So will das Buch von einem

1 Vgl. die Forschungsüberblicke in den neueren Arbeiten zum Buch Tobit: F.M Macatangay, Wisdom 1–6; G.D. Miller, Marriage 15–18; M.D. Kiel, Truth 18–24. Immer noch lohnenswert R.A. Spencer, Book 147–180. Eine ausführliche Bibliographie der wichtigsten Arbeiten zum Buch Tobit bieten: C.A. Moore, Tobit 67–96; J.A. Fitzmyer, Tobit 59–88; H. SchüngelStraumann, Tobit 27–33. 2 P. Deselaers, Buch 239.

14

Einleitung

›wahren Israeliten‹ in der bedrohlichen Situation des Exils erzählen.«3 Zu einem ähnlichen Schluss kommt Helen Schüngel-Straumann in ihrem Kommentar: »Das Buch Tobit will somit Antwort geben auf die Frage: Wie kann ein frommer Jude/eine fromme Jüdin sich in der Diasporasituation im Jahweglauben bewähren?«4 Nach Beate Ego kann das Tobitbuch »als weisheitliche Lehrerzählung bezeichnet werden. Haupthandlung ist die Geschichte des frommen und gerechten Tobit, der in der Diaspora lebend unverschuldet erblindet und auf wundersame Art und Weise durch göttliche Hilfe mittels eines Engels geheilt werden kann.«5 In seiner Einleitung zum Buch Tobit umschreibt Helmut Engel das Buch als eine »romanhafte, theologische Lehrerzählung«,6 die die Überzeugung ausdrückt, »dass Gott Gebete erhört, Menschen in Gefahren auf dem Lebensweg geleitet und ihnen auch im Unglück und in der Diaspora nicht ferner ist als in glücklichen Zeiten und im Heiligen Land.«7 Auch für neuere Arbeiten zum Buch Tobit bildet die Exilsituation den entscheidenden Deutungshintergrund für die Auslegung des Textes. Stellvertretend für diese Sichtweise sei Christoph Ühlinger zitiert: »Mehr als für alle anderen Diasporanovellen gilt für diese, dass sie Modelle für ein frommes Leben in der Diaspora zeichnet und zugleich die Familie als die Stammzelle der Identitätserhaltung betrachtet.«8 Gegen eine solche Lesart des Buches Tobit, die die exemplarische Frömmigkeit Tobits in der gefahrvollen Diaspora fokussiert, ist kritisch einzuwenden, dass sie die unterschiedlichen Modi des Erzählens zu wenig berücksichtigt. Während in 3,7–16 die Erzählerstimme zu vernehmen ist und damit dieser Textbereich auf der narrativen Ebene anzusiedeln ist, handelt es sich bei 1,3–3,6 um eine Figurenrede. Sie vermittelt den Lesenden die Sichtweise Tobits als dem ausschließlichen Perspektiventräger dieser Textsequenz, dessen spezifische Darstellungsweise von der auktorialen Stimme des Erzählers ab 3,7 strikt zu unterscheiden ist. Der Wechsel von der aktorialen zur auktorialen Erzählperspektive in 3,79 wird in den verschiedenen Tobit-Auslegungen durchaus wahrgenommen. Die Vertreter einer diachronen Lesart erkennen in 3,7 einen Hinweis auf eine redaktionelle Bearbeitung des Buches Tobit.10 Andere Autoren deuten den Wechsel als 3 4 5 6 7 8 9

Ebd. 61. H. Schüngel-Straumann, Tobit 49. B. Ego, Buch 884. H. Engel, Buch 286. Ebd. 288. Ch. Ühlinger, Koexistenz 104. Die Qumran-Fragmente (4Q196), alle griechischen Textversionen, die Vetus Latina und Peschitta bezeugen die veränderte Erzählperspektive, vgl. Ch. J. Wagner, Tobit-Synopse 28. Die Vulgata hingegen übersetzt die Kapitel 1,3–3,6 vollständig in der dritten Person Singular. 10 J.E. Miller, Redaction 53–61: »Why did the redactor produce a bi-narrative text? The simple solution is that the pseudepigraphic text was considered more valuable, believed to be autographical, but was preserved only in part. Thus the redactor salvaged as much of the

Einleitung

15

eine literarische Konvention wie sie auch in anderen, zeitgenössischen Texten zu finden ist.11 Neuere Arbeiten hingegen beschreiben den Perspektivenwechsel mit der Differenz zwischen Tobit-the-first-person-narrator und Tobit-the-thirdperson-narrator12 bzw. Tobit-the-character und Tobit-the-narrator,13 wobei in diesen Konzepten die Identität des Sprechers von 1,3–3,6 und die des Erzählers von 3,7f vorausgesetzt wird. Gemeinsam ist jedoch allen diesen unterschiedlichen Erklärungsmodellen, dass dem Perspektivenwechsel in 3,7 keine konzeptionelle Relevanz beigemessen wird, sondern der Lebensrückblick Tobits als auktorial präsentierte Erzähleinheit gelesen wird. Abgesehen von der problematischen Verortung des Handlungsbeginns in 1,3 wirft eine Deutung, die die Diasporasituation als den entscheidenden Verstehenshorizont definiert, eine Reihe von Fragen auf. Weshalb sind die Angaben zur fremden Umwelt im Exil so vage, wieso spielt das lokale Setting des assyrischen Reiches in den Kapiteln 4–13 nur eine untergeordnete bzw. keine Rolle? Warum ist die Bedrohlichkeit der fremden Umwelt, die in 1,3–3,6 Tobits Leben so sehr beeinträchtigt, in den folgenden Erzählsequenzen kaum wahrzunehmen? Auch vermag eine solche Lesart nicht zu erklären, warum bestimmte Topoi aus 1,3–3,6 wie zum Beispiel die Totenbestattung und die Gebotsobservanz im Verlauf der Erzählung ihre Dominanz verlieren. Schließlich bleibt die Spannung ungelöst zwischen der Darstellung Jerusalems als einer topographischen Größe am Anfang des Buches (1,6) und dem Entwurf eines zukünftigen Jerusalems (13,2–18), das als Metapher für eine neue Gemeinschaft dient, die nicht an die konkrete Stadt gebunden ist.

›original‹ version as possible, using the abundant third-person texts for the rest of the text. […] if the first-person narrative was complete, there is no explanation for its use in the redacted text«, 56. 11 »Nach dem Buchtitel (1,1–2) setzt die Erzählung in Ich-Form ein (zur Ich-Form als literarischem Gestaltungsmittel vgl. die antiken »biographische« Grabinschriften, den AchikarRoman, Esra 7,27–9,15, das Buch Nehemia, Daniel 7,2–12,) mit einer summa des Lebens (ideals) der Hauptperson (1,3).«, H. Engel, Buch 279. J.R.C. Cousland vermutet: »One possible explanation is that the author is promoting a parallel with the renowned figure of Ahiqar, whose story is akin to that of Tobit.«, Tobit 540. 12 I. Nowell, Book 45; 159–161. Sie begründet den Perspektivenwechsel in 3,7 folgendermaßen: »It has already been noted that the use of a first-person narrator may indicate the fictional character of a work […]. An eye-witness was considered to be less reliable than a third-person histor. Since, however, the first-person narrator is necessarily limited to his own location and perception, the narrative slides into third person when the scene changes, in order to tell the facts essential to the story which are unavailable to the first-person narrator,«, 160. Für sie gilt: »Thus, with regard to the characters’ inner thoughts and feelings, the omniscience of Tobit as first-person narrator appears equivalent to that of the third-person narrator.«, 163. 13 D.D. McCracken erkennt schon innerhalb des Textbereichs 1,3–3,6 zwei unterschiedliche Erzählperspektiven: »The author makes a careful discrimination in the ego-narration between the times of Tobit-as-character and of Tobit-as-narrator.«, Narration 405.

16

Einleitung

Für die Klärung dieser Fragen ist eine veränderte Leseweise notwendig, die die genannten Textsignale angemessen berücksichtigt. Der von mir gewählte Zugang zum Buch Tobit zeichnet sich dadurch aus, dass ich den Wechsel der Erzählperspektive in 3,7 zum Anlass nehme, in der vorliegenden Studie eine konsequente Unterscheidung zwischen den Figurenreden und den narrativen Sequenzen vorzunehmen. Mit der Untersuchung der Reden im Buch Tobit und ihr Verhältnis zu den vom Erzähler berichteten Ereignissen folge ich damit nicht dem Primat der erzählten Handlung, das die gängigen Auslegungen bestimmt (1.) und ich stelle die Relevanz der Diasporasituation kritisch in Frage (2.).

1.

Die Reden im Buch Tobit

In der exegetischen Forschung wurde bisher kaum kritisch reflektiert, dass das gesamte Buch Tobit von ausführlichen Redepassagen einzelner Akteure durchzogen ist. Ein erster Blick auf die Verteilung der Reden im Text verweist auf ihre Bedeutung als zentrales Gestaltungselement. Der Anfang des Buches besteht aus einem Monolog Tobits, der die drei ersten Kapitel vollständig umfasst (1,3–3,6), das Ende Buches bildet eine Abfolge langer Redepassagen: Raphaels Offenbarung (12,6–10), Tobits Lobgebet (13,2–18) und Abschiedsrede (14,3–11). Die zwischen Anfangs- und Schlussreden eingefügten Erzählpassagen sind ebenfalls durchsetzt von vielen Redesequenzen, von denen die Lehrrede Tobits (4,1–21) aufgrund ihres Umfanges in besonderer Weise ins Auge fällt. Damit sind Tobit und der Engel Raphael die beiden Figuren, die mit deutlich mehr und längeren Redeanteile ausgestattet sind als die übrigen Akteure. Ihre Reden, und somit auch das Gespräch zwischen Tobit und dem Engel in 5,11–16, bilden den zentralen Gegenstand der vorliegenden Untersuchung.14 Die Abfolge der Reden besitzt eine konzentrische Anordnung, die sich um den Dialog zwischen Tobit und dem Engel 5,11–16 gruppiert: Tobits Monolog 1,3– 2,14; Tobits Gebet 3,2–6; Tobits Lehrrede 4,3–21; Dialog zwischen Tobit und dem Engel 5,11–16; Offenbarung des Engels 12,6–20; Tobits Lobgebet 13,2–18; Tobits Abschiedsrede 14,3–11. Mein Interesse zielt auf den Inhalt dieser Reden, ihre spezifische Anordnung und auf deren Verhältnis zu den narrativen Passagen des Buches. Außerdem gehe ich der Frage nach, warum die erzählte Handlung in 1,3– 3,6 als Monolog Tobits konzipiert ist. Neben der Analyse der ausgewählten Reden werde ich die Einbettung der erzählenden Sequenzen (3,7–15; 3,16–17; 5,17,b11,19; 14,12–15) in die Abfolge der Redeteile (1,3–2,14; 3,2–6; 4,3–21; 5,11–16; 12,6–20; 13,2–18; 14,3–11) in den Blick zu nehmen. Es ist davon auszugehen, dass 14 Die Arbeit von Barbara Schmitz zum Buch Judith konzentriert sich ebenfalls auf die Redepartien in diesem Buch, vgl. B. Schmitz, Geschichte.

Gemeinschaftkonzepte in den Reden des Buches Tobit

17

dem wiederholten Wechsel von Reden und narrativen Einheiten ein bestimmtes Erzählverfahren zu Grunde liegt, das es in der folgenden Untersuchung aufzudecken gilt. Zu den narrativen Passagen des Buches Tobit zählen die vier Textbereiche 3,7– 15; 3,16–17; 5,17,b-11,19 und 14,12–15. Der Abschnitt 3,7–15 ist als synchroner Handlungsstrang zu den im Monolog 1,3–2,14 berichteten Ereignissen gestaltet und 14,12–15 bildet den Schlussteil Buches. Die beiden Segmente 3,16–17 und 5,17,b-11,19 stehen in einem besonderen Verhältnis zueinander, insofern 3,16–17 die erzählten Ereignisse in 5,17b–11,16 in Sinne einer Prolepse vorwegnimmt. Die Binnenerzählung 5,17d–11,19 bildet auch ohne die oben genannten Redeteile und die Erzählsequenzen 3,7–15; 3,16–17; 14,12–15 eine geschlossene, kohärente Texteinheit, die von der Brautwerbung des Tobias, des Sohnes Tobits, seiner Hochzeit mit Sara und der anschließenden Heilung des erblindeten Tobit berichtet. Die knappe, vorangestellte »Inhaltsangabe« in 3,16–17 könnte eigentlich eine ausschließlich auf die Handlung fokussierte Leserschaft zur Beendigung der Lektüre veranlassen, da keine Spannung mehr zu erwarten ist. Die Platzierung von 3,16–17 vor 5,17d–11,19 lenkt jedoch die Aufmerksamkeit der Lesenden von der Handlung auf die Reden der Figuren in der erzählten Welt. Auch für die Binnenerzählung scheint die Vermutung zu gelten, dass den Lesenden entscheidende Bedeutungsdimensionen entgehen, wenn den Reden nur mangelnde Aufmerksamkeit geschenkt wird.

2.

Gemeinschaftkonzepte in den Reden des Buches Tobit

Außer 1,3–3,6 thematisieren weder die weiteren Reden Tobits noch die des Engels die Problematik eines Lebens in der Fremde. Dennoch ist es die erste Rede des Buches Tobit, die die entscheidenden Hinweise auf die inhaltliche Ausrichtung der weiteren Rede- und Erzähleinheiten gibt. In seiner Ich-Rede erzählt Tobit rückblickend seine bisherige Lebensgeschichte. Als junger Mann wird er zusammen mit seinen Brüdern des Stammes Naphtali von Israel nach Ninive, die Hauptstadt des assyrischen Großreiches, verschleppt. Während Tobit sich in Ninive einerseits aufgrund unterschiedlicher religiöser Praktiken von seinen Glaubensbrüdern distanziert, gelingt ihm andererseits die Integration in die assyrische Gesellschaft zeitweise hervorragend. Als Einkäufer macht er zunächst Karriere am Hofe Salmanassars V., gerät dann allerdings in einen Konflikt mit dessen Nachfolger Sanherib, da er unerlaubterweise Bestattungen verstorbener jüdischer Brüder vornimmt. Er verliert sein Amt und seinen Besitz und wird zur Flucht gezwungen, da ihm die Todesstrafe droht. Dem Einfluss seines Neffen Achikar ist es zu verdanken, dass Tobit nach Ninive und zu seiner Familie zurückkehren kann. Die Wiederherstellung der vertrauten Lebensumstände führt

18

Einleitung

jedoch nicht zu einer positiven Wende seines Schicksals. Nachdem er wieder einen Toten bestattet und den Spott der Nachbarn auf sich gezogen hat, verliert er aufgrund eines Zufalls sein Augenlicht. Der Kot eines auf der Mauer sitzenden Vogel fällt in seine Augen und Tobit erblindet. Das Ende seines Lebensrückblicks präsentiert Tobit als einen vereinsamten, misstrauischen Mann, der mit der letzten ihm verbliebenen Person, seiner Ehefrau Hanna, in einen Konflikt gerät. In seiner Trauer bleibt ihm nur noch die Hinwendung zu Gott. Die Lebenskrisen Tobits (Verlust einer einflussreichen Stellung am herrschenden Hof, Flucht, Erblindung, konflikthafte Ehebeziehung) sind nicht der Exilsituation geschuldet. »It is not clear, however, that the misfortunes that befall either Tobit or Sara are attributable to the situation of Exile in any distinctive way. […] Fortunes can rise and fall in Exile, but this is also true of people who are dependent on the whims of a ruler in their homeland.«15 Tobits Leiden könnten ebenfalls im Mutterland geschehen. In seinem Monolog berichtet er nicht von den Schwierigkeiten und Problemen, die ein erzwungener Aufenthalt in der geographischen Fremde mit sich bringt. Vielmehr beschreibt der Text die Etappen der zunehmenden Entfremdung Tobits von seiner Bezugsgruppe. Er sondert sich ab von seinen Glaubensbrüdern, er agiert außerhalb der Gemeinschaft der Lebenden, indem er sich auf das Bestatten der toten Gemeinschaftsmitglieder konzentriert, und schließlich droht der Streit mit Hanna die Eheleute zu entzweien. Der Verlust seines Augenlichts führt ihn zusätzlich in die Isolation, da ihm die basale Voraussetzung zur Beziehungsaufnahme, nämlich einen Menschen in den »Blick« zu bekommen, genommen ist. Die Deutung von 1,3–3,6 im Sinne eines Prozesses der stetigen Ausgrenzung lässt die geographischen Bezüge in den Hintergrund treten. Eine die soziale Dynamik fokussierende Lesart versteht die erzählte Lebenssituation Tobits nicht als ein geographisches, sondern als ein soziales Exil.16 Eine Antwort auf die Frage, warum die zeitliche und räumliche Verortung der Erzählwelt im assyrischen Großreich dennoch von erheblicher Bedeutung ist, wird die Analyse des Erzählverfahrens im Kapitel IV. 3 der Studie geben. Die erste Rede im Buch Tobit fragt also nicht, wo jüdisches Leben gelebt werden kann, sondern auf welche Weise die Gemeinschaft der jüdischen Glaubensbrüder gelingen kann, unabhängig von ihrer lokalen Verortung. Der Monolog Tobits bietet ein Beispiel misslingender Gruppenprozesse, die in die Isolation und Desintegration führen. Diese Tendenz zur sozialen Vereinzelung findet ihren Ausdruck in den Begriffen αἰχμαλωτίζω (1,2.10; 3,4) und διασκορπίζω (3,4), die Tobit als Umschreibung seiner Erfahrung der Entfremdung dienen. 15 J.J. Collins, Judaism 2f. 16 Vgl. dazu J. Rautenberg, Stadtfrau 51–101.

Gemeinschaftkonzepte in den Reden des Buches Tobit

19

Die weiteren, für diese Studie ausgewählten Reden greifen das Thema Gemeinschaft/Gemeinschaftlichkeit als ihren zentralen Topos auf. Ein expliziter Hinweis auf diesen inhaltlichen Schwerpunkt liegt in der Verwendung der Termini ἀλήθεια, δικαιοσύνη und ἐλεημοσύνη. Sie werden in jeder Rede genannt17 (außer 5,11–6) und rahmen im ersten Satz der ersten Rede (1,3) und in der Schlusssequenz der letzten Rede 14,7 (GI) bzw. 14,8 (GII) die Redeteile in ihrer Gesamtheit. Die Termini ἀλήθεια, δικαιοσύνη und ἐλεημοσύνη18 und ihre hebräischen Äquivalente ‫חסד‬, ‫צדקה‬, ‫ אמת‬stehen für bestimmte Aspekte gemeinschaftlichen Verhaltens. Sie zielen auf konkrete Aspekte von Gemeinschaftlichkeit, die ein Handeln im Sinne der Wahrheit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit einfordern. In ihrer Funktion als Leitworte19 definieren sie das Programm der Reden: Deren Sprecher verhandeln Fragen nach einem sozialen Miteinander, das die Konstitution bzw. den Erhalt einer Gemeinschaft ermöglicht. Auf der semantischen Ebene vernetzen die Termini die einzelnen Reden miteinander und fügen sie zu einer thematisch kohärenten Redefolge. Damit verfügen die Reden im Buch Tobit über ein Aussagepotential hinsichtlich gemeinschaftsbildender Prozesse, das in der exegetischen Tobit-Forschung bisher nicht genügend zur Kenntnis genommen wurde. Die Sprecher Tobit (1,3–3,6) und der Engel (12,6–10) vertreten zwei Gemeinschaftskonzepte, die in jeweils eigener Weise die Frage nach dem Zusammenhalt einer Gemeinschaft beantworten. Die Untersuchung zeigt, dass das zweite Modell das erste Konzept in seiner Geltung ablösen wird. So stellt sich neben der Aufgabe der Beschreibung der Gemeinschaftskonzepte auch die der Klärung der Autorität, mit der dieses Modell legitimiert wird. Unter der Prämisse, dass die Reden Tobits und des Engels den zentralen hermeneutischen Rahmen für die erzählte Handlung des Buches Tobit definieren, verschiebt sich dessen thematische Ausrichtung: Es geht im Buch Tobit nicht um die Darstellung der Bewältigung der Diasporasituation, sondern es behandelt 17 Vgl. 1,3; 2,14; 3,2;4,5.6.7; 12,8.9.; 13,2.5.6.7.10.15; 14,7.9. 18 Vgl. G. Quell/G. Kittel/R. Bultmann, Art. ἀλήθεια, in: ThWNT I (1990) 233–251; G. Quell/G. Schrenk, Art. Δικαιοσύνη, in: ThWNT II (1990) 176–229; R. Bultmann, Art. ἐλεημοσύνη, in: ThWNT II (1990) 474–483; H. Schüngel-Straumann, Tobit 101f.; P. Deselaers, Buch 343–372. 19 »Der Leitwortstil ist eine besondere stilistische Technik, die sich theologisch relevanter Vokabeln bedient, welche jeweils Akzente setzen und an strukturell relevanten Stellen begegnen. Damit ›leiten‹ die Vokabeln jeweils zu einem erkennbaren Hauptanliegen zurück und gestalten den Erzählstoff zu einem geordneten und beziehungsreichen Gesamtzusammenhang. […] Schaffen so die Leitwörter das Programm einer Erzählung, übernehmen sie mitunter zusätzlich noch neben literarisch-stilistischen Funktionen […] auch hermeneutische Funktionen, indem sie z. B. im Verweis auf die Kontenpunkte der Erzählung je nach ihrer Dichte auch zum Deutewort werden können.«, P. Deselaers, Buch 344. Vgl. auch H. Engel, Buch 286f.

20

Einleitung

die Frage nach dem Gelingen jüdischer Gemeinschaft, unabhängig davon, ob die Gemeinschaft im oder außerhalb des Mutterlandes lebt. Die Analyse der Gemeinschaftskonzepte und ihrer Legitimierung bildet damit den zweiten Untersuchungsgegenstand dieser Studie.

3.

Vorgehen und Methode

Die programmatische Unterscheidung zwischen den Redeteilen und den erzählenden Passagen im Buch Tobit bestimmt den Aufbau dieser Arbeit. Um die zu untersuchenden Reden 1,3–3,6; 4,3–21; 5,11–17b; 12,6–10; 13,1b–18 und 14,3b–11 von den übrigen wörtlichen Reden der Akteure terminlogisch abzugrenzen, werde ich sie im Folgenden als Rahmenreden bezeichnen, da sie sich wie ein Rahmen um die ausführliche Erzähleinheit 5,17b–11,19 gruppieren. Diese wird im Folgenden als Binnenerzählung bezeichnet.

3.1

Analyse der Rahmenreden

Die Rahmenreden Tobits und des Engels stehen nicht unverbunden nebeneinander, sondern sie bilden durch ihr gemeinsames Thema und ihre semantische Vernetzung durch die Leitworte einen eigenen Redezusammenhang. Dessen innerer Zusammenhang soll in einem ersten Schritt ohne die narrativen Einheiten untersucht werden. Zunächst analysiere ich die Reden jeweils einzeln in der Reihenfolge, wie sie im Text erscheinen. Neben der Erarbeitung des jeweiligen Argumentationsgangs und der dahinterliegenden Sprecherintention richtet sich mein Interesse auf die Darstellung der Sprechsituation und die Rolle des Sprechers in dem entsprechenden kommunikativen Handlungspiels. Es gilt zu prüfen, inwieweit eine Veränderung der Sprechersituation sich auf den Inhalt der Reden auswirkt. Verbunden mit der Frage nach der Sprecherrolle ist der Aspekt der Sprechrichtung: Wer ist der Adressat der jeweiligen Rahmenrede und wie wird er vom Sprecher wahrgenommen. Die Analyse des Sprecherverhaltens und des Inhalts der Reden ermöglicht die Charakterisierung Tobits und des Engels. Die Untersuchung von Motivbereichen und Wortfeldern dient zum einen dem Nachweis der semantischen Vernetzung der Rahmenreden untereinander, zu anderen vermag sie u. U. Aufschluss zu geben über unterschiedliche Aussageschwerpunkte der einzelnen Redeteile. Jede Rahmenrede ist auch auf ihre Gemeinschaftskonzepte hin zu untersuchen. Die als Rede gestaltete Handlung in 1,3–3,6 legt ein narratologisches Analyseverfahren nahe, aus dessen Methodenrepertoire ich folgende Aspekte aufgreife:

Vorgehen und Methode

21

die Analyse der Erzählperspektive, der Charakterisierung der Akteure und ihrer Interaktionen und der Gestaltung von Zeit und Raum. Für die gruppensoziologisch ausgerichtete Fragestellung nach Gemeinschaftskonzepten wähle ich als Theoriehintergrund die Arbeiten von Bernhard Giesen über die Konstruktion von Gruppenidentitäten.20 Sein Modell bietet idealtypische Strukturierungskategorien für die Beschreibung von sozialer Wirklichkeit, die auch für Konzepte anwendbar sind, wie sie in alttestamentlichen Texten begegnen.21 Bernhard Giesen geht davon aus, dass die Gestaltung einer jeden sozialen Ordnung die fundamentale Differenz zwischen der vertrauten Wir-Gemeinschaft und dem fremden Anderen voraussetzt. »Es handelt sich um die Konstruktion der Grenze zwischen dem Innenraum einer Gemeinschaft und der Außenwelt jenseits der Grenze. Wir gehen davon aus, daß diese Unterscheidung eine elementare Operation der Herstellung sozialer Wirklichkeit bildet. […] Das Grundlegende dieser Unterscheidung zeigt sich darin, daß wir uns keine soziale Wirklichkeit vorstellen können, in denen diese Operationen nicht auf diese oder jene Weise vorgenommen wurden.«22

Die Weise der Konstruktion der Gemeinschaftsgrenzen impliziert ein bestimmtes Selbstverständnis der Gruppe und eine korrespondierende Wahrnehmung der Außenwelt. Bernhard Giesen unterscheidet drei Modelle von Grenzziehungen, indem er von primordialen, traditionalen und universalistischen Codes spricht. Der Terminus Code steht für die zentralen Unterschiede, die eine Vielzahl von Differenzen in sich bündeln.23

20 B. Giesen, Identitäten. Den Hinweis auf die Arbeiten von Bernhard Giesen verdanke ich dem Beitrag von K. Bieberstein, Grenzen. Er schreibt hier: »[…] es ist an der Zeit, diesen Survey unterschiedlicher Strategien historischer Sinnbildung in fruchtbare Auseinandersetzung mit den Modellen kollektiver Identität nach Bernhard Giesen […] auf die gesamte alttestamentliche Literatur auszuweiten.« 72. Denn er stellt fest: »Untersucht man unter der derselben Fragestellung unterschiedlicher identitätsbildender Codierungen die alttestamentliche Literatur, so wird vor allem in achämenischer und frühhellenistischer Zeit ein Ringen zwischen rivalisierenden Codierungen erkennbar, das in vielfältigen Geschichten und Gegengeschichten ausgetragen wurde. […] Während eine Bewegung insbesondere um Esra und Nehemia eine primordiale Codierung durchzusetzen versuchte, wird in prophetischen und andern Texten das Bemühen greifbar, ihrem Trend universalistische Codierungen entgegenzusetzen.« 60. 21 Diese Anwendungsoption gilt m. E. jedoch mit gewissen Einschränkungen. Bernhard Giesen entwickelt seine Theorie unter einer dezidiert eurozentrischen Perspektive und er bedient sich einer aufklärerisch geprägten Begrifflichkeit. Vgl. dazu seine Analysen zur neueren deutschen Geschichte in: Identitäten 133–328. Aus diesem Grund ist kritisch zu prüfen, inwieweit alle von Giesen genannten Aspekte zur Codierung für die Analyse der alttestamentlichen Konzepte von Gemeinschaft herangezogen werden können. 22 B. Giesen, Identitäten 24–25. 23 Vgl. ebd. 26.

22

Einleitung

»Im folgenden werden wir drei Codes der kollektiven Identität nach der Art der Grenzkonstruktion und den Modi der Grenzerhaltung, nach der Struktur des Binnenbereichs und seinen Ritualen, nach der Vorstellung der Außenwelt und der Bewältigung des Fremden unterscheiden. Wir nennen sie primordiale, traditionale und universalistische Codes. Ausgangspunkt ist dabei die Annahme, daß sich aus der Logik der Grenzkonstruktion bestimmte alternative Modi oder Strategien ergeben, mit denen die Grenze einerseits erhalten, andererseits aber auch bewältigt und erträglich gehalten werden kann.«24

Primordial codierte Gemeinschaften beschreiben die Differenz zu Außenstehenden als ursprüngliche, quasi »natürliche« und damit unveränderliche Unterschiede. Die primordiale Gruppenidentität gründet in der Vorstellung einer gemeinsamen, von Natur gegebenen Abstammung, Verwandtschaft oder Herkunft. Die Gruppenkohäsion wird gewährleistet durch die Berufung auf eine natürliche Ordnung, während Aspekte des gemeinschaftlichen Handelns und Engagements von geringer Bedeutung sind. Die vermeintlich »natürliche« Zugehörigkeit zur primordialen Gemeinschaft schließt eine grundlegende Gleichheit aller Mitglieder ein. Im Binnenraum der Gruppe entwickelt sich deshalb, wenn überhaupt, nur eine geringe soziale Schichtung, das Verhältnis der Mitglieder untereinander ist vielmehr von Egalität geprägt. »Diese elementare Gleichartigkeit und Gleichheit der Angehörigen findet ihre Entsprechung in den Prinzipien der Interaktion im Binnenraum der Gemeinschaft: Er wird weitgehend von Symmetrie und Reziprozität bestimmt – da alle einander als gleiche wahrnehmen, gilt auch eine wechselseitige und gleiche Verpflichtung.«25

Der von »Natur« gegebenen Homogenität der primordialen Gemeinschaft steht die »natürliche« Fremdheit der Außenstehenden gegenüber, die durch keine Form der Annährung in Vertrautes umgewandelt werden kann. »Außenseiter sind fundamental von der Kommunikation oder Reflexion zwischen den Mitgliedern primordialer Gemeinschaften ausgeschlossen, sie sind einfach und unveränderlich anders und dieses Anderssein bedeutet Gefahr. Fremde und Außenstehende werden aus primordialer Perspektive häufig als dämonisch angesehen, als mit einer starken feindlichen Identität begabt, welche die Existenz der primordialen Gemeinschaft bedroht.«26

Die Naturalisierung sowohl der Zugehörigkeit als auch der Nichtzugehörigkeit führt zu einer Konstruktion von Gemeinschaftsgrenzen, die sich durch Exklusivität und Undurchlässigkeit auszeichnen, die Vermischungen oder Grenzüberschreitungen in beide Richtungen unmöglich machen.

24 Ebd. 31. 25 Ebd. 36. 26 Ebd.

Vorgehen und Methode

23

Traditional codierte Gemeinschaften berufen sich nicht auf eine »natürliche« Verbundenheit untereinander, sondern erfahren gemeinsame Routinen, Traditionen und Erinnerungen als gemeinschaftsstiftende Ressourcen. »Dieser Code bindet die grundlegende Differenz zwischen uns und den anderen an die Unterscheidung zwischen der Dauerhaftigkeit von Routinen einerseits und dem Außerordentlichen andererseits.«27 Giesen unterscheidet drei Modi, die die Kontinuität von sozialen Praktiken gewährleisten: Rituale der Erinnerung, Bindung an bestimmte Lokalitäten und Bedeutung von Personalisierung gemeinschaftsstiftender Autoritäten. Diese drei Modi generieren Lebenswelten, die nicht grundsätzlich Fremden gegenüber verschlossen bleiben. Durch die Teilnahme an lokalen Lebensformen und Traditionen ist zumindest einen Annährung Außenstehender an die traditional codierte Gemeinschaft möglich. »Im Unterschied zur scharfen und exklusiven Grenzziehung primordialer Gemeinschaften verläuft die Grenze traditionaler Gemeinschaften allmählich und ähnelt eher einem diffusen Grenzbereich als eine genau gezogene Grenze.«28 Fremde werden nicht per se als bedrohlich wahrgenommen, sondern die Differenz kann im Lauf der Zeit bewältigt und in Dazugehörendes gewandelt werden. Die Option eines allmählichen Integrationsprozesses für Außenstehende führt zu einer Spannung innerhalb der Gemeinschaft zwischen den neuen Mitgliedern und den immer schon Dagewesenen. »Innerhalb von traditionalen Gemeinschaften entwickelt sich in der Regel eine diffuse Schichtung zwischen den Trägern der Tradition und des Erinnerungswissens und den neuen Mitgliedern, die vom Rande her sich allmählich dem Zentrum der traditionalen Gemeinschaft nähern.«29 In der Form der Grenzziehung und damit einhergehend in der Wahrnehmung der Fremden unterscheidet sich die universalistische Codierung signifikant von den beiden andern Modellen. Identitätsstiftend wirkt nicht der Rückgriff auf eine leiblich-natürliche Gleichheit oder die Berufung auf gemeinsame Traditionen und Erinnerung, sondern: »An die Stelle der Unveränderlichkeit der Natur oder der Vergangenheit tritt hier die Unbedingtheit des religiösen Überzeugungserlebnisses, die Gottesschau, die Parusie.«30 Die Homogenität der Gemeinschaft basiert damit auf einem gemeinsamen Bekenntnis: Jeder, der sich diesem anschließt, findet einen Zugang zur Gemeinschaft. Andere, die die gemeinschaftsstiftende Idee nicht mehr teilen, scheiden aus.31 Diesem Gemeinschaftskonzept korrespondiert eine offene und flexible Gestaltung der Gruppengrenzen, da jeder Außenstehende als ein potentielles Mitglied wahrgenommen wird. 27 28 29 30 31

Ebd. 42. Ebd. 46. Ebd. 48. Ebd. 54. Vgl. K. Bieberstein, Grenzen 60.

24

Einleitung

Das hat zur Folge, dass Grenzziehungen weniger die Differenz zwischen dem Innen und dem Außen der Gruppe markieren, sondern dass diese in den Binnenraum der Gemeinschaft verlagert werden, um die Spannung zwischen dem heiligen, identitätssichernden Zentrum und der Peripherie aufrechtzuerhalten. »Mit solchen Bildungsschichten wiederholt sich innerhalb der universalistischen Gemeinschaft die Grenzziehung zwischen den identitätsstarken Wissenden und den identitätsschwachen Außenstehenden und die damit verbundene Aufforderung, die erlösende Ordnung des Zentrums an die Peripherie zu tragen und in der Welt zu verwirklichen.«32

Auf dem Hintergrund dieser Codierungsmodelle sollen die in den Rahmenreden verhandelten Gemeinschaftsmodelle auf ihr identitätsstiftendes Moment, ihre spezifische Weise der Grenzziehung und ihre Wahrnehmung der Außenwelt hin untersucht werden.

3.2

Analyse der Erzählteile

Nach der Untersuchung der Rahmenreden folgt die Analyse der erzählenden Teile 3,7–15; 3,16–17; 5,17b–11,19 und 14,12–15. Für diese Sequenzen gilt zu prüfen, wie die Verkettung zwischen den vier erzählenden Textbereichen gestaltet ist. Die Erzählpassagen werden entsprechend der Leserichtung nacheinander narratologisch untersucht, wobei der Textbereich 5,17b–11,19 eine besondere Aufmerksamkeit erfährt. Er bildet eine eigene, geschlossene Binnenerzählung, die in Blick auf die Plotstruktur und die Gestaltung des Erzählverfahrens eine umfassendere narratologische Analyse erfordert als die anderen, kurzen Erzählepisoden. Auch hier richtet sich der Fokus der Analyse auf die Figurenreden und ihr Verhältnis zur erzählten Handlung. Für die Analyse von 5,17b–11,19 beziehe ich mich auf das narratologische Konzept von Emma Kafalenos.33 Ausgehend von der These, dass »A narrative […] is a sequential representation of a sequence of events«,34 betont sie die Bedeutung des Schlusses einer Erzählung, der die erzählten Ereignisse in einen bestimmten kausalen Zusammenhang fügt. Das auf das Erzählende hinzielende Setting der Events bildet den Kontext, innerhalb dessen die Lesenden die Ereignisse in ein kausales Verhältnis setzen. »The sequence in which the events are reported to have occurred not only positions individual events chronologically in relation to prior and subsequent events. Because narratives reach an end and conclude, the set of events that a given narrative reports is 32 Ebd. 57. 33 E. Kafalenos, Causalities. 34 Ebd. 2.

Vorgehen und Methode

25

finite. This chronologically ordered, finite set provides the context in relation to which we interpret the cause and consequences of individual reported events.«35

Dieser das Erzählende und damit die Kausalität der erzählten Ereignisfolge fokussierende Ansatz ist für diese Untersuchung in zweifacher Hinsicht von Interesse. Da zum einen das Aufdecken der kausalen Logik der Eventabfolge die Identifizierung des Erzählendes ermöglicht, kann durch dieses Verfahren die Definition der Textgrenzen der Binnenerzählung 5,17b–11,19 begründet werden. Zum anderen impliziert die Relevanz des Erzählschlusses für die Interpretation eine wichtige Erkenntnis in Blick auf den Leseprozess. Jede Leseetappe führt nur zu einem vorläufigen Verständnis, da der intendierte Deutungshorizont erst am Ende präsentiert wird. »[…], because narratives are represented sequentially, we receive information increment by increment. In other words, the context a narrative provides – and in relation to which we interpret the causes and effects of revealed events – changes and expands as information about subsequent and sometimes prior events is revealed. […] That is to say, our first interpretations are made in relation to a context that is necessarily more limited than it will be after we read on. Some narratives, […], guide us to retain our first interpretation until information that is revealed only in the concluding words or moments forces us to recognize that that interpretation was incorrect. […] Sometimes, […], our first interpretation of causality becomes so firmly fixed in our minds that we retain that interpretation even after we have received additional information that would lead us, if only we recognized the need to reinterpret, to a new interpretation.«36

Diese Beobachtungen bezieht Emma Kafalenos zwar auf narrative Texte, wie aber die vorliegende Arbeit zeigen wird, entfaltet auch das Buch Tobit, dessen Gestaltung sich durch den Wechsel von Redeteilen und narrativen Passagen auszeichnet, ein Erzählverfahren, das nach der Beendigung der Lektüre des gesamten Textes zu einer Revision des ersten Leseeindrucks führt. Meine Beschreibung des Verhältnisses zwischen Figurenrede und erzählter Handlung in 5,17b–11,19 orientiert sich an der Arbeit von Robert Alter über die Besonderheit biblischer Erzählungen.37 Obwohl er sich mit Texten der Hebräischen Bibel beschäftigt, sind seine Beobachtungen auch für das Buch Tobit aufgrund dessen semitischen Originals von besonderem Interesse. Robert Alter konstatiert für die biblische Literatur eine grundsätzliche Dominanz der gesprochenen Rede der erzählten Handlung gegenüber: »the highly subsidary role of narration in comparison to direct speech by the characters.«38 Narrative

35 36 37 38

Ebd. VIII. A.a.O. R. Alter, Art. Ebd. 81.

26

Einleitung

Passagen dienen häufig lediglich der Überbrückung zwischen längeren Redeeinheiten. Denn »the biblical writers, …, are often less concerned with actions in themselves than with how individual character responds to actions or produces them; and direct speech is made the chief instrument for revealing the varied and at times nuanced relations of the personages to the actions in which they are implicated.«39

In der erzählten Handlung spiegeln sich die Inhalte der Reden, indem sie die gesprochenen Worte realisiert bzw. bestätigt. Robert Alter beschreibt die Relation zwischen Rede und Erzählung als »dialogue-bound narration«. Er stellt fest, dass »the primacy of dialogue is so pronounced that many pieces of third-person narration prove on inspection to be dialogue-bound, verbally mirroring elements of dialogue that precede them or that they introduce. Narration is thus often relegated to the role of confirming assertions made in dialogue […].«40

Die wörtliche Rede hat nicht nur eine handlungsmotivierende Funktion, sie dient darüber hinaus der Charaktersierung der Sprechenden. »It is biblical narrative that provides us the first great anticipation of novelistic dialogue, in which words spoken by the personages register the subtle interplay between them and express the nature of their individual character. Speech is thus conceived as the arena of complex social, psychological, and sometimes political negotiations.«41

Die Darstellung der Unterschiedlichkeit der verschiedenen Charaktere geschieht ebenfalls im Medium der Rede, des Dialogs. Robert Alter bezeichnet diese Weise der Differenzierung als »contrastive dialogue«.42 In der Analyse von 5,17b–11,19 werde ich mich darauf konzentrieren, inwieweit die Beobachtungen Robert Alters in Blick auf die Dominanz der Redeeinheiten, dem Verhältnis der dialoguebound-narration und der Charakterisierung durch den »contrastive dialogue« auch für diesen Text gewinnbringend sind. Nachdem die Rahmenreden und die Binnenerzählung 5,17b–11,19 als zwei getrennte Sinnzusammenhänge analysiert wurden, richtet sich im nächsten Schritt der Untersuchung der Fokus auf den Zusammenhang der Rede- und Erzählteile. Es gilt, die Anordnung der Rede- und Erzähleinheiten zu erläutern, die diese Textbereiche miteinander in Bezug setzt. Auch auf der Ebene des Gesamttextes stellt sich die Frage, wie sich das Verhältnis zwischen den Rahmenreden und den Erzählepisoden gestaltet. Diese Überlegungen zielen auf eine vertiefte Einsicht in das spezifischen Erzählverfahren des Buches Tobit, das sich 39 40 41 42

Ebd. 82. Ebd. 82. Ebd. 90. Vgl. ebd. 91.

Vorgehen und Methode

27

gerade durch das Zusammenspiel von Redeteilen und erzählter Handlung auszeichnet. Die vorliegende Studie geht von der textlichen Integrität des Buches Tobit aus. Als Textgrundlage dient die Polyglotte Tobit-Synopse43 von Christian J. Wagner, die u. a. auf der Göttinger Edition von Robert Hanhart basiert.44 Aus zwei Gründen werde ich mich sowohl mit der Kurzform GI als auch mit der Langform GII beschäftigen. Zum einen sind deshalb beide Textversionen zu berücksichtigen, weil die zeitliche Priorität der beiden überlieferten Textversionen GI und GII nicht abschließend geklärt ist.45 Zum anderen legen die Beobachtungen der vorliegenden Untersuchung die Vermutung nahe, dass GI und GII in einem ergänzenden Verhältnis zueinander stehen. Manche zunächst schwer verständliche Passage in der einen Textversion klärt sich durch das synoptische Lesen der andern Version.

43 Ch. J. Wagner, Tobit-Synopse. 44 R. Hanhart, Septuaginta. 45 »Zwar darf seit der […] Textstudie HANHARTS (1984) und den nun zugänglichen TobitTexten von Qumran die grundsätzliche Priorität von GII gegenüber GI (Textkürzungsthese) als wahrscheinlich gelten, dennoch bleibt nach wie vor die Frage virulent, inwiefern sich die exklusiven Parallelen von 4Q196–200 mit GI (und La) tatsächlich nur als sekundär erklären lassen. Hinsichtlich der Rekonstruktion des ursprünglichen Textes der einzelnen Textformen kann nur die ›Urfassung‹ von GI annähernd erschlossen werden, während diese für GII aufgrund der dürftigen und in sich uneinheitlichen Zeugenlage nicht zu ermitteln ist. Dementsprechend muss man mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, dass man – wie es häufig in der nun stärker GII favorisierenden Tobit-Exegese […] praktiziert wird – nicht vorschnell eine vereinfachende Gleichung im dem Sinne herstellen darf: cod. S = GII = 4Q196–200 = ›Urtext‹.«, Ch. J. Wagner, Tobit-Synopse XV. Zur besonderen Textgeschichte des Buches Tobit, vgl. ebd. XIII–XVI.

II.

Analyse der Rahmenreden

In diesem Kapitel werden die Reden Tobits und des Engels 1,3–2,14; 3,1–6; 4,3–21; 5,11–17b; 12,6–20; 13,1b–18 und 14,3b–11 zunächst einzelnen in ihrer konzentrischen Anordnung untersucht und dann in ihrem Gesamtzusammenhang dargestellt. Bevor ich mit der Analyse beginne, gehe ich auf die Buchüberschrift 1,1–2 ein, da sie im Blick auf die inhaltliche Fragestellung nach Aspekten von Gemeinschaftlichkeit wichtige Weichenstellungen setzt.

1.

Analyse 1,1–2: Buchüberschrift

In konzentrierter und prägnanter Weise beschreiben die Verse 1,1–2 die soziale Einbindung Tobits in seine Gemeinschaft und das zeitliche und lokale Setting der folgenden Geschichte. Die Verse geben Auskunft darüber, auf welche Weise in der erzählten Welt die soziale Wirklichkeit strukturiert wird: Tobit ist über eine viergliedrige, bzw. sechsgliedrige Generationsverkettung mit der σπέρμα des Asiel und der φυλή Naphtali verbunden. Es sind verwandtschaftliche Beziehungen, die die Gemeinschaft organisieren. Sie bestimmen den sozialen Ort Tobits und definieren seine Beziehungen im gesellschaftlichen Gefüge. Im Gegensatz zu anderen sozialen Systemen ist eine solche primordiale Abstammungsgemeinschaft dadurch gekennzeichnet, dass ihre Angehörigen in sie hineingeboren und einem bestimmten sozialen Kontext zugewiesen werden. Eine Mitgliedschaft kann von Außenstehenden nicht erworben werden, für den sozialen Status innerhalb der Gruppe spielt der Nachweis der Deszendenz die entscheidende Rolle, nicht etwa die eigene Leistungskraft oder wirtschaftliche Ressourcen. Diese »natürlichen« Statuskriterien bringen eine gewisse soziale Immobilität mit sich, da Statusveränderungen somit per se ausgeschlossen werden.46 In dem genealogischen Konzept wirkt der Rückgriff auf die vermeintlich natürlichen, ursprünglichen Verwandtschaftsbeziehungen identitäts46 Vgl. A. Berlejung/A. März. Sozialstatus/Gesellschaft 53–60.

30

Analyse der Rahmenreden

bildend. Es ist charakteristisch für die primordiale Codierung einer solchen Gemeinschaft, dass durch die biologische Begründung der eigenen Identität auch der Andere in seinem Fremdsein quasi naturalisiert und damit unveränderbar wird.47 Die Außenwelt wird als fremd und bedrohlich wahrgenommen. Insofern bildet die Buchüberschrift mit ihren genealogischen Angaben und der Information über die Verschleppung in das Assyrerreich ein Musterbeispiel für das primordiale Selbstverständnis der Bezugsgruppe Tobits: Der Protagonist Tobit wird vorgestellt, indem der Erzähler seine Abstammungslinie darlegt und ihn so einer bestimmten, ethnischen Gemeinschaft zuordnet, die von einem äußeren Feind bedroht wird, nämlich Salmanassar V. Die ethnische Zugehörigkeit als Identitätskriterium wird in 1,2 durch Angaben zur zeitlichen Situierung und der geographischen Herkunft präzisiert. Die Angabe in 1,2a spielt auf die Deportationen der Bevölkerung des Nordreichs Israels und damit auch des Stammes Naphtali an, die im Rahmen der assyrischen Eroberungspolitik veranlasst wurden. Eine solche Deportation fand unter Tiglatpilesar III. im Jahre 733 v. Chr. (2 Kön 15,29) statt und eine zweite nach der Eroberung Samarias unter Sargon II. im Jahr 722 v. Chr. (2 Kön 17,3–6; 18,9–11). Für die Herrschaft Salmanassars V. jedoch können keine Verschleppungen der israelitischen Bevölkerung nachgewiesen werden.48 Dieser historischen Ungenauigkeit entspricht die Vagheit der topographischen Angaben bezüglich des Heimatortes Tisbe, eine Lokalisierung dieses Ortes ist bisher noch nicht gelungen.49 In Hinblick auf die Fragestellung dieser Arbeit zu Aspekten von Gemeinschaftlichkeit kann festgehalten werden, dass die Buchüberschrift 1,1–2 die Basiskonstellation der Bezugsgruppe Tobits beschreibt. Der Sprecher der folgenden Reden ist eingebunden in eine Gemeinschaft, die sich genealogisch50 begründet und somit primordial codiert ist.

2.

Analyse 1,3–2,14: Tobits Monolog

Nach der Buchüberschrift in 1,1–2 beginnt unvermittelt eine lange Rede, deren Sprecher sich in 1,3 mit dem Namen Tobit vorstellt. In Blick auf die konkrete Sprechsituation macht der Text keine Angaben, die Lesenden erfahren nichts über den Redeanlass und die Adressaten, an den sich die Rede wendet. Da der Monolog eine erzählte Handlung präsentiert, legt sich eine Textuntersuchung 47 48 49 50

Vgl. B. Giesen, Identitäten 32f. C.A. Moore, Tobit 101. Vgl. J. Zsengellér, Topography 184. Weitere Angaben zu genealogischen Beziehungsverhältnissen: 1,3.4.5.10.16; 2,3; 4,12; 5,9.11– 14; 7,3; 8,6.

Analyse 1,3–2,14: Tobits Monolog

31

aus narratologischer Perspektive nahe, die auch das Verhältnis zwischen erzählter Rede und Handlung berücksichtigt. Auf der Textoberfläche von 1,3–2,14 lassen sich auf Grund der unterschiedlichen Gestaltung der Zeit- und Raumdimensionen folgende Abgrenzungen vornehmen: Der Exposition in 1,3 folgt ein Handlungsabschnitt 1,4–22, der sich über einen Zeitraum von etwa 250 Jahren erstreckt: vom Zerfall des salomonischen Reiches51 bis in die Regierungszeit des assyrischen Herrschers Asarhaddon.52 Dieser weite Zeithorizont findet seine Entsprechung in der geographischen Ausdehnung der Handlungsorte, die von Nordisrael bzw. Jerusalem, dem τῇ γῇ Ισραηλ (1,4) bis in den Osten nach Ninive (1,10) reicht. In 2,1–10 verengt sich der Rahmen der Zeit- und Raumdimension in erheblicher Weise auf einen Tag und eine Nacht und auf den Marktplatz Ninives bzw. das Haus Tobits. Ab 2,11 konzentriert sich die Handlung ausschließlich auf sein Haus und den Dialog zwischen ihm und Hanna. Dieser Tendenz der zunehmenden Fokussierung von Raum und Zeit entspricht die abnehmende Anzahl von Interaktionspartnern, die als Adressaten von Tobits Hilfsbereitschaft genannt werden: in 1,16 ist von der pauschalen Unterstützung der Brüder (ἀδελφός) und des Volkes (ἔθνος) ohne Einschränkung die Rede, ab 1,17b liegt der erzählerische Schwerpunkt auf der Bestattung der toten Stammesbrüder. Die Szene in 2,1ff. beschränkt sich auf die Darstellung der Beerdigung eines Verstorbenen, in deren Folge Tobit erblindet; ab 2,11ff. hat sich Tobits solidarisches Handeln völlig erschöpft und sein Verhalten schlägt um in einen Streit mit Hanna, der ihn schließlich in 3,1ff allein zurücklässt. Es fällt auf, dass im Textbereich 1,4–15 Tobit zwar Aussagen über seine Bezugsgruppe macht, aber keine Interaktion zwischen ihm und seinen Brüder erwähnt wird. Seine Herkunftsgemeinschaft als geschlossene Größe und Tobit als Einzelperson agieren jeweils für sich, ohne dass es zu einem gegenseitigen Kontakt kommt. Unter dem Aspekt der Beziehungsgestaltung zwischen Tobit und seiner Bezugsgruppe ergibt sich folgende Gliederung des Textabschnitts: 1,3: 1,4–15:

Exposition Tobit – Herkunftsgemeinschaft: keine Interaktion 1,4–9: Tobit in Israel 1,10–15: Tobit in Ninive 1,16–22: Tobit – Herkunftsgemeinschaft: Interaktion mit vielen Toten 2,1–10: Tobit – Herkunftsgemeinschaft: Interaktion mit einem Toten 2,11–14: Tobit – Familie: Konflikt mit Ehefrau

51 Vgl. 1,5: Anspielung auf die Kultpraxis unter Jerobeam I (1 Kön 12,19. 25–33). 52 Vgl. 1,21.

32

Analyse der Rahmenreden

2.1

1,3: Exposition

In narratologischer Hinsicht ist der Anfangspassage einer Erzählung eine besondere Aufmerksamkeit zu widmen. »Vor allem aber kommt dem Erzählanfang und dem Erzählschluss bei der Informationsverarbeitung und Rezeptionssteuerung besondere Bedeutung zu. […] Denn zum einen werden in einem Text die an späteren Stellen vergebenen Informationen stets im Licht des schon am Erzählanfang Gesagten gedeutet, zum anderen findet am Erzählschluss eine Rekapitulation des Gelesenen unter Anpassung aller früheren Informationen an das zuletzt Präsentierte statt, so dass sowohl der Erzählanfang als auch der Erzählschluss eine Schlüsselrolle bei der Interpretation eines Textes einnehmen.«53

Im Buch Tobit ist es der Vers 1,3, der den hermeneutischen Rahmen für den weiteren Leseprozess absteckt. Tobits Rede beginnt in markanter Weise mit dem Personalpronomen Ἐγὼ (GI, II: 1,3: Ἐγὼ Τωβιτ). Der folgende Text setzt sich damit von der Buchüberschrift ab und erzählt die nachfolgenden Ereignisse ausschließlich aus der Perspektive der Figur Tobits. In Form eines Rückblicks folgt der Nennung Tobits eine Selbstcharakterisierung seiner Person, indem der Sprecher die maßgebenden Orientierungsgrößen seines Handeln aufzählt: Tobit wandelte immer auf den Wegen der Wahrheit bzw. Gerechtigkeit und sein Verhalten gegenüber seinen Brüdern und seinem Volk ist geprägt von Barmherzigkeit. Mit diesen Verhaltensmaximen formuliert Tobit einerseits das Fazit aus seinem bisherigen Leben, andererseits verweisen die Leitbegriffe ἀλήθεια, δικαιοσύνη (GII: Plural) und ἐλεημοσύνη mit ihrem gemeinschaftsrelevanten Bedeutungsspektrum auf das entscheidende Thema des gesamten Buches.54 Der Erzählanfang im Sinne einer Exposition55 macht also deutlich, dass die folgende Geschichte nicht nur vom Schicksal eines einzelnen Israeliten in der Fremde handelt, sondern Aspekte gemeinschaftlichen Handelns problematisiert. Die betonte Anfangsstellung des Personalpronomens Ἐγὼ mit folgender Namensnennung bestätigt, dass Tobit im Zentrum sowohl der Erzählung als auch seiner Selbstreflexion steht. Er beansprucht für sich, den genannten Idealen vollständig zu entsprechen. Die darin liegende Anmaßung erschließt sich den Lesenden spätestens in 3,2, wo Tobit selbst feststellt, dass diese Attribute eigentlich nur Gott zukommen. Seine durchgängig gelebte Tugendhaftigkeit kommt deutlich in dem iterativen Imperfekt von πορεύομαι und in der hyper53 C. Krings, Analyse 163. Zur Untersuchung des Erzählschlusses vgl. meine Analyse zu 2,14. 54 Vgl. Einleitung dieser Arbeit. 55 »Unter ›Expositionalität‹ ist dabei eine Strategie der schrittweisen, wohlgeordneten, kontinuitätsbewussten Informationsvergabe zu verstehen, die darauf achtet, dass dem Leser zunächst die für das Verständnis der Geschichte erforderlichen Voraussetzungen genannt werden.«, C. Krings, Analyse 168.

Analyse 1,3–2,14: Tobits Monolog

33

bolischen Aussage πάσας τὰς ἡμέρας in 1,3a zum Ausdruck. Die auf diese sprachliche Weise konstruierte Selbsteinschätzung steht in einem eigentümlichen Kontrast zu dem vom ihm behaupteten gemeinschaftlichen Verhalten. Diese Spannung wird im zweiten Versteil 1,3b fortgeführt: Tobit realisiert seine Tugendhaftigkeit, indem er seine Glaubensbrüder in der Fremde mit Almosen unterstützt und Barmherzigkeit übt: καὶ ἐλεημοσύνας πολλὰς ἐποίησα.56 Das Interessante an dieser Textpassage ist weniger die inhaltliche Umsetzung der Verhaltensideale, sondern die auf syntaktischer Ebene gestaltete Fokussierung auf die Person Tobits: Das pointiert platzierte Ἐγὼ und die ausschließliche Verwendung der Verben in der ersten Person Singular. im Hauptsatz des Verses präsentieren Tobit als das einzige Subjekt der Handlung, dem als Objekt die ἀδελφόι bzw. der ἔθνος als eine pauschale Kollektivgröße gegenüber stehen. Schon im Anfangsvers der Lebensrückschau Tobits kann eine Unterscheidung zwischen dem Sprecher und seiner Bezugsgruppe konstatiert werden. Tobit agiert nicht innerhalb seiner Gemeinschaft, sondern in der Rolle des Helfenden unterstützt er die »hilfsbedürftigen Brüder«, die ihm als ein geschlossenes Kollektiv gegenüberstehen. Hinsichtlich der Analyse der Gruppendynamik erbringen diese Textbeobachtungen folgenden Ertrag: Die oben dargestellte Rollenkonstellation bringt eine gravierende Asymmetrie in der Beziehungsstruktur der Gemeinschaft mit sich. Tobit erscheint als der Überlegene, auf dessen Hilfe die gesamte Bezugsgruppe angewiesen ist. Eine solche Veränderung im Beziehungsgefüge führt innerhalb einer primordial codierten Gemeinschaft unweigerlich zu einer Krise. Schließlich gründet das Wir-Gefühl einer solchen Gruppe auf der Annahme einer grundsätzlichen Gleichartigkeit und Gleichwertigkeit der Angehörigen.57 Der Konflikt, der sich in 1,3 andeutet, betrifft also nicht Abgrenzungstendenzen58 nach außen, sondern die Spannung verläuft im Binnenraum der Gemeinschaft selbst. In diesem Konflikt geht es um die Frage nach dem möglichen Erhalt der Gruppenkohäsion einer primordial codierten Gemeinschaft angesichts unterschiedlicher Ansprüche und Verhaltensweisen einzelner, die die vermeintlich »natürliche« Gleichheit der Gruppenmitglieder in Frage stellen. Über den Verlauf der so motivierten Krise, in die Tobit geraten wird, berichten die Verse 1,4ff.

56 Zum Bedeutungsspektrum der Wortverbindung, vgl. P. Deselaers, Buch 353. 57 Vgl. B. Giesen, Identitäten 35. 58 Eine Dämonisierung anderer Gruppen fehlt im Buch Tobit. Der Dämon Aschmodai in Saras Geschichte präsentiert keine kollektive Größe.

34 2.2

Analyse der Rahmenreden

1,4–15: Tobit – Herkunftsgemeinschaft: keine Interaktion

Der Textabschnitt 1,4–15 bildet eine thematisch einheitliche, in sich abgeschlossene Erzähleinheit, die sich wiederum in zwei Unterteile gliedert. 1,4–9: Tobit in Israel Der erste Textabschnitt berichtet von der Jugendzeit Tobits, die er in seiner Heimat Israel verbracht hat. In 1,4 findet ein Wechsel der Raum- und Zeitperspektive statt, indem die Handlung von Ninive nach Israel (ἐν τῇ χώρᾳ μου ἐν τῇ γῇ Ισραηλ) verlagert wird und in einer Zeit spielt, als Tobit noch ein junger Mann war. Interessant ist die Beobachtung, dass Tobit seine geographische Herkunft an dieser Stelle nicht so detailliert beschreibt wie in 1,2. Er sieht seine Heimat im gesamten Land Israel, sie ist damit offenbar nicht auf das Stammesgebiet von Naphtali beschränkt. Auffallend ist die doppelte Bezugnahme auf das Land (χώρα, γῆ) im Gegensatz zur Stadt, von der ausschließlich in 1,4b die Rede ist. Das in 1,3 angelegte Gegenüber zwischen Tobit und seinen Stammesbrüdern erschließt sich dem Leser in der folgenden Abfolge der Aussagen: Wie in 1,3 beginnt der Satz mit einer Selbstaussage des Protagonisten, um dann die Herkunftsgruppe zu thematisieren. Entsprechend dieser Struktur wird von Tobit erwähnt, dass er (in Israel) noch ein junger Mann war: GI: νεωτέρου μου ὄντος, GII: ἤμην νέος. Die Altersangabe erschließt sich aus dem Erzählzusammenhang und ist in inhaltlicher Hinsicht eigentlich nicht erwähnenswert. Der explizite Hinweis auf das Alter Tobits entspricht jedoch dem alternierenden Aussageschema in 1,3. In 1,4 findet ein Subjektwechsel statt, anders als im vorherigen Vers ist der Stamm Naphtali nun der handelnde Akteur. Von diesem Stamm erzählt Tobit, dass er sich in seiner Gesamtheit vom Haus Jerusalems (GI) bzw. Davids (GII) 59 abgewandt habe. Das in seiner Sicht deviante Verhalten seines Stammes übernimmt Tobit nicht, er orientiert sich weiterhin nach Jerusalem. Diese Aussage aber erfolgt erst in 1,6. Anstatt in 1,4b seine eigene Kultpraxis als Antwort auf die seines Stammes zu präsentieren, erläutert er zunächst den außergewöhnlichen Status der Stadt Jerusalem. Sie ist auserwählt, bildet das Zentrum für den Opferkult, in ihr ist der Tempel gebaut. Im Argumentationsgang der Textpassage bildet dieses Bekenntnis zur Kulthoheit Jerusalems die Begründung für Tobits Festhalten am bisherigen Kult und die Rechtmäßigkeit seiner Entscheidung. Indirekt wird so eine Bewertung vorgenommen: das Verhalten des Stammes wird als unangemessen qualifiziert. Die generalisierende Redeweise über die Stammesbrüder (GI und GII: 3x die Verbindung von πᾶσα φυλὴ in 1,4) findet ihre Steigerung darin, dass in 1,5 nicht mehr nur vom Stamm Naphtali die Rede ist, sondern nun alle Stämme in den 59 Vgl. 1 Kön 12,26.

35

Analyse 1,3–2,14: Tobits Monolog

Blick genommen werden, die ebenfalls vom Jerusalemer Kult abfallen: GI: καὶ πᾶσαι αἱ φυλαὶ αἱ συναποστᾶσαι ἔθυον; GII: πάντες οἱ ἀδελφοί μου καὶ ὁ οἶκος Νεφθαλιμ τοῦ πατρός μου. Anders als im vorherigen Vers, der von der Kultabwendung spricht, erfahren die Lesenden in Vers 5, welchem Kult sich die Stämme zuwenden. GI spricht vom Kalb Baal, während nach GII die Menschen dem Jungstier auf den Bergen Galilääs opferten.60 In 1,5 kommt es also somit hinsichtlich der Akteure zu einer Verallgemeinerung und hinsichtlich ihrer Handlung zu einer Präzisierung der Handlung. Der Satzkonstruktion in 1,5 folgt in 1,6a die genaue Gegenüberstellung hinsichtlich des Subjekts, der Handlung und des Ortes: GII: GI: GII: GI: GII: GI:

1,5 Πάντες καὶ πᾶσαι θυσιάζω θύω ἐπὶ πάντων ὀρέων τῆς Γαλιλαίας keine Angabe

1,6a κἀγὼ μονώτατος κἀγὼ μόνος πορεύομαι ἐν ταῖς ἑορταῖς πορεύομαι ἐν ταῖς ἑορταῖς Ιεροσόλυμα Ιεροσόλυμα

Der Vergleich der beiden Verse bezüglich der Abfolge der Satzteile und ihrer Inhalte bestätigt die Beobachtung aus den vorherigen Passagen, dass die vorliegende Textstruktur gezielt die Differenz zwischen der Figur des Tobit und seiner Bezugsgruppe markiert. Das Verspaar 1,5/6 unterteilt die Textpassage wie ein Scharnier in zwei Aussagebereiche: In 1,4–5 treten die abtrünnigen Stämme als Akteure auf, ab 1,6 ist Tobit das einzige handelnde Subjekt in den Hauptsätzen. Die Fokussierung auf die Figur Tobits gestaltet sich weitgehend analog zu 1,3. Der Vers 1,6 setzt ein mit καὶ ἐγώ (GI) bzw. κἀγὼ (GII). Die hyperbolische Redeweise in 1,3 (πάσας τὰς ἡμέρας) findet ihre Entsprechung in den Adjektiven μόνος (GI) bzw. μονώτατος (GII). Nach seiner Darstellung ist Tobit der einzige, der sich anders als die abtrünnigen Stämme verhält.61 In detaillierte Weise zählt Tobit all die Handlungen auf, mit denen er auf die Kultpraxis der anderen antwortet. Als Begründungsinstanz nennt Tobit die γέγραπται παντὶ τῷ Ισραηλ,62 die ihn zu regelmäßigen Wallfahrten zu Festen nach 60 Über die unterschiedlichen Darstellungen des Kults, vgl. R. Hanhart, Text 23. 61 Aber vgl. 5,14. 62 J. Gamberoni, Gesetz 234: »Die Berufung auf ein ewiges schriftliches Gesetz nötigt zwar, an den heutigen Pentateuch zu denken, reicht aber zu genauen textlichen Identifikationen nicht aus.« Vgl. auch GII 1,8: ἐν τῷ νόμῳ Μωσῆ. 6,13; GII: 7,11. So stellt auch S. Weeks fest: » […], it is again difficult to identify any particular law, but the ambiguity itself points to an important characteristic of the material: it is driven more by the requirements of characterization and plot development than by any specific concern to promote legal principles.« (398) Für S. Weeks gilt: »Tobit is aware of the Thora and keen to please God, we are not told directly that his piety derives from any detailed knowledge of the law.«, Heritage 399.

36

Analyse der Rahmenreden

Jerusalem führen. Im Folgenden aber wird nicht das Feiern der Feste im Gegensatz zum Begehen des Opferkults beschrieben, sondern es folgt nun in 1,7–8 eine ausführliche Auflistung der in Titeln aufgezählten Abgaben.63 Mit den Wallfahrten verbindet Tobit offensichtlich nicht das gemeinsame Feiern mit seinen Glaubensbrüdern, sondern vor allem die Überbringung und das Entrichten der Abgaben. Das gemeinschaftsfördernde Potential von Wallfahrten und Festen übersieht Tobit. Hinsichtlich der Analyse von gruppenkonstituierenden Prozessen ist der Vers 1,8 in der Textversion GII ergiebiger als GI.64 GI setzt voraus, dass die Lesenden wissen, wem der dritte Zehnt zukommt. Dagegen benennt GII den Kreis der Personae miserae als Adressaten der Abgaben: es handelt sich um die Waisen, Witwen und die Proselyten.65 Die Verwendung des Terminus προσήλυτος66 lässt darauf schließen, dass die Textversion GII von der Möglichkeit der Überschreitung der Gruppengrenzen ausgeht und eine Öffnung der Glaubensgemeinschaft für Fremde nicht ausschließt. Tobit allerdings misst dieser Option im weiteren Verlauf seiner Rede keine Bedeutung bei. Die Selbstbezogenheit Tobits findet auf der sprachlichen Ebene ihre Fortsetzung in Vers 1,9, der wie 1,3.4.6.7.8 mit einer Selbstaussage beginnt (Verb 1. Person Singular). Nachdem Tobit erwachsen geworden ist, heiratet er eine Frau aus seinem Stamm. Wie die Altersangabe in 1,4 für das Verständnis des Erzählverlaufs nicht notwendig ist, so impliziert die Heirat, dass Tobit inzwischen das Mannesalter erreicht hat. Auf diese Weise aber wird auf der Satzebene die Struktur beibehalten, die den gesamten Monolog prägt: einem Haupt- bzw. Nebensatz mit einem Verb in der 1. Person Singular folgt eine Aussage über andere Personen. Bis auf die Verse 4 und 5 bildet Tobit das Subjekt der Handlung. Objekt in Vers 9 ist die Frau (GII nennt keinen Namen) bzw. Hanna (GI). Tobit betont, seine Ehefrau aus dem Geschlecht ihres gemeinsamen Vaters gewählt zu haben. Der Terminus ἐκ τοῦ σπέρματος τῆς πατριᾶς ἡμῶν (GI, II) entspricht demselben semantischen Wortfeld wie jenes in 1,1. Die Buchüberschrift steht für ein primordiales Gruppenverständnis, genauso korrespondiert die endogame Heiratspraxis der primordialen Grenzkonstruktion. Eheschließungen innerhalb der Bezugsgruppe stärken den Zusammenhalt und unterstützen die Abgrenzungsdynamik nach außen hin.

63 Erläuterungen zur Abgabepraxis in 1,6–8 und ihre unterschiedliche Darstellung in GI und GII vgl. J. Gamberoni, Gesetz 234–237. 64 GI strafft und kürzt den Inhalt von GII in erheblicher Weise. Das kommt durchaus einem besseren Verständnis des Satzes zugute, allerdings um den Preis einiger bemerkenswerter Auslassungen. 65 Dtn 14,29; 26,12. 66 Vgl. zu diesem Terminus, J.A. Fitzmyer, Tobit 111.

Analyse 1,3–2,14: Tobits Monolog

37

Die Analyse von 1,3–9 führt aus gruppensoziologischer Perspektive zu folgendem Ergebnis: Die Exposition 1,3 benennt das Thema des Buches, es geht um die Frage nach angemessenem gemeinschaftsförderndem Verhalten. Aus 1,1 geht hervor, dass es sich bei der Gemeinschaft um eine primordial codierte Gruppe handelt. Diese Codierung definiert den Gruppenzusammenhalt jenseits der Handlungsebene und formuliert somit keine Verhaltensnormen, die für alle bindend sind. Der folgende Monolog veranschaulicht die Problematik, dass die primordiale Verfasstheit nicht per se eine andauernde »Gruppenharmonie« garantiert und damit gruppeninterne Konflikte verhindert. In seiner Rede macht Tobit seine Stammesbrüder für das Auseinanderbrechen der Gemeinschaft verantwortlich. Den Lesenden wird jedoch deutlich, dass Tobits Einschätzung nicht unbedingt der beschriebenen Situation entspricht. Schließlich wird seine Beschränkung auf die Abgabepraxis weder dem ethischen Anspruch in 1,3 gerecht noch ist diese eine angemessene Antwort auf die von ihm kritisierte Kultpraxis. Weiterhin trägt die auf der sprachlichen Ebene ausgestaltete Fokussierung auf den Sprecher zu der Erkenntnis bei, dass nicht der Stamm Naphtali den Gruppenkonflikt verursacht, sondern dass Tobit selbst aufgrund seiner Selbstbezogenheit und Selbstüberschätzung die Distanzierung bewirkt. 1,10–15: Tobit in Ninive In Hinblick auf die Aussagestruktur, Motivwahl und Aussageintention entspricht der Abschnitt 1,10–15 der Gestaltung der vorherigen Texteinheit 1,4–9. Der Szenenwechsel wird wie in 1,4 markiert durch die Einführung eines neuen Ortsnamens, Ninive. Die Handlung spielt von nun an in der assyrischen Metropole, und nicht mehr im ländlichen Israel. Wie in 1,4 erfährt auch in 1,10 der Aufenthalt in eine Qualifizierung hinsichtlich der Erfahrungswelt Tobits: in Israel lebte er als junger Mann, in Ninive als ein Gefangener.67 Das handelnde Subjekt bildet wie in 1,4.5 die Herkunftsgruppe Tobits, die hier allerdings anders bezeichnet wird: statt der einheitlichen Formulierung ἡ φυλὴ Νεφθαλιμ bzw. οἶκος Νεφθαλιμ bieten beide Textversionen die Unterscheidung zwischen ἀδελφοί und γένος. »The distinction here is between Tobit’s closer relatives, albeit not his immediate family, and the broader term for his nation, or ›race‹.«68 Die Differenzierung erinnert an 1,3, wo aber statt γένος die Bezeichnung ἔθνος gewählt ist (GII: τῷ ἔθνει μου). Der Terminus ἔθνος ohne Personalpronomen steht in 1,10 für die Heiden, also Menschen, die außerhalb von Tobits Bezugsgruppe stehen.69 Das Subjekt des Satzes verhält sich wie in 1,4.5 in einer Art und Weise, von der sich Tobit strikt im 67 Das Verb αἰχμαλωτίζω verweist auf 1,2. Weitere Stellen 3,4. 7,3 (als Selbstbeschreibung), 14,5. 68 C.A. Moore, Tobit 116. 69 Vgl. weitere Textstellen: 3,4; 13,11; 14,6.7 (GI).

38

Analyse der Rahmenreden

Folgenden (1,11; vgl. 1,6) distanzieren wird. Seine Gemeinschaft hält sich nicht an die ihn selbstverständlichen religiösen Praktiken: Sie ignoriert die geltenden Speisegebote, indem sie von dem Brot (ἄρτος) der Heiden isst. Das den Subjekten vorangestellte Adjektiv πάντες macht auch hier die Pauschalisierung deutlich, mit der Tobit seine Brüder beurteilt. Mit dem Thema Speisegebote klingt der Motivbereich Nahrung an, zu dem auch die in 1,6–8 aufgezählten Abgaben (Früchte, Getreide, Wein, Öl, usw.) gehören. Der korrekte Umgang mit Nahrungsmittel lässt auf die Rechtschaffenheit des Protagonisten schließen, seine Erwähnung dient der Selbstdarstellung Tobit. »Food is also a means of communicating broader themes, especially righteousness and property. Tobit’s narration in the first chapter is full of such examples as he uses his actions with food to illustrate his righteousness as a part of his general discourse in chapter 1 where he justifies himself as a worthy person. […], Tobit, as a narrator, wishes to make clear what a good person he is.«70

Dieses Anliegen spiegelt sich in der aus 1,6 bekannten Satzstruktur wider, die 1,11 mit der markanten Anfangspositionierung des Personalpronomens ἐγὼ beginnen lässt. Es folgt eine knappe Darstellung seines der Gruppe entgegengesetzten, individuellen Verhaltens, das in 1,6 mit dem Hinweis auf die Satzungen, in GI aber mit dem Gedenken an Gott71 begründet wird. In 1,12 entwickelt GII einen anderen Begründungszusammenhang: Hier bewirkt das Gedenken an Gott Tobits Karriere, während in GI es das Befolgen des Reinheitsgebote motiviert. In den folgenden Versen 1,13–15 kommt es zu einem Themenwechsel: Tobit beschreibt eine weitere Episode aus seinem Leben, die von seinem Aufstieg zum Einkäufer am Hof Salmanassars V. berichtet. Diese Aussage hat nichts mit dem Einhalten von Speisegeboten zu tun, genauso wenig wie die penibel betriebene Abgabenpraxis in 1,6–8 dem kultischen Anliegen von Wallfahrten entspricht. D.h. in beiden Passagen wird die Aufmerksamkeit der Lesenden auf ein Verhalten Tobits gelenkt, das nur in einem lockeren, bzw. keinem Zusammenhang mit dem von ihm vorher kritisierten Verhalten seiner Herkunftsgruppe besteht.72 Das damit verbundene Motiv der Bewegung wird in beiden Abschnitten mit demselben Verb πορεύομαι (1,6.7.10.14.15) zum Ausdruck gebracht. Die parallel gestalteten Erzählverläufe führen von der Kritik des Protagonisten am Verhalten seiner Gemeinschaft zur Präsentation eines geschäftigen Tobits, der sich fast ausschließlich um seine eigenen Angelegenheiten kümmert und seine Herkunftsgemeinschaft nicht im Blick hat. Stattdessen verlagern sich seine Akti70 N.S. Jacobs, Dinner 129. 71 Gedenken als religiöser Akt vgl. 2,2.6; 4,4.5.19; 6,16; 14,7.9, aber auch profan 4,1. 72 Die beiden genannten Tätigkeiten (Entrichten von Abgaben, Einkaufen) ist gemeinsam, dass sie im weitesten Sinn der Sphäre des Handelns und Wirtschaftens zugeordnet werden können.

39

Analyse 1,3–2,14: Tobits Monolog

vitäten in die kultische (1,6) und soziale (1,13) Welt außerhalb seiner Bezugsgruppe. Trotz der pauschalen Abwertung und damit der Abkehr von seinen Stammesbrüdern nennt der Text die Namen von Einzelpersonen aus Tobits näherem Umfeld, mit denen er Kontakt pflegt (Debora 1,8; Hanna, Tobias 1,9) und die sein Vertrauen genießen (Gabael 1,14). In 1,15 kommt es nun zu einer entscheidenden Veränderung: Tobit kann nicht mehr reisen. Das Unterwegssein (Wallfahrten, Einkaufsreisen), das sein bisheriges Leben prägte, ist nun aufgrund veränderter äußerer Umstände nicht mehr möglich. Sein Bewegungsradius wird stark eingeschränkt und reduziert sich ab 1,16 auf die Stadt Ninive. Die Termini ὁδός und πορεύομαι, die sich in 1,3 im übertragenen Sinn für den Lebenswandel, Lebensführung stehen, werden in 1,15 auf die konkrete physische Fortbewegung bezogen. D.h. die Erzählung, die mit dem Motiv des Unterwegseins beginnt, den Protagonisten in seiner Selbstdarstellung in zwei Versen mit drei Verben der Bewegung beschreibt (1,6: πορεύομαι, ἀποτρέχω in GII; 1,7: πορεύομαι) führt in 1,15 zur Feststellung eines Bewegungsstillstand: οὐκέτι ἠδυνάσθην πορευθῆναι. Damit wird eine Zäsur im Erzählablauf markiert, der ab 1,16 etwas Neues beginnen lässt. Die obigen Ausführungen haben deutlich gemacht, dass Abschnitte 1,4–9 und 1,10–15 in analoger Weise gestaltet und als eine Texteinheit zu lesen sind. Das folgende Schema soll die Übereinstimmung hinsichtlich der Aussagenfolge, der Textstruktur und der Motivwahl von 1,4–9 und 1,10–15 verdeutlichen. Aussagefolge

Ort, Qualifizierung des Aufenthalts 1,4 Israel: Jerusalem, Jugend Subjekt der Handlung 1,4.5 ἡ φυλὴ Νεφθαλιμ bzw. οἶκος Νεφθαλιμ deviantes Verhalten 1,4.5 Kultabfall Subjektwechsel 1,6 Tobit Abgrenzung 1,6 Wallfahrt Begründung 1,6 Satzungen Tobits Handeln 1,6–8 Abgabenpraxis Krise 1,8b Isolation Integrationsstrategie 1,9 Endogame Heirat

1,10 Assyrerreich: Ninive, Gefangenschaft 1,10 ἀδελφοί und γένος 1,10 Übertreten der Speisegebote 1,11 Tobit 1,11 kein Essen fremder Speisen 1,12 Gedenken Gottes (GI) 1,13.14 Einkäufer, Reisen 1,15 Bewegungsstillstand 1,16 Totenbestattung

Als bedeutende Motivbereiche sind die Wortfelder Bewegung (ὁδός: 1,3; 1,15; πορεύομαι: 1,3.6.7.10 = GII.14.15), Nahrung (πρωτογένημα: 1,6; σῖτος, οἶνος, ἔλαιον, ῥόα, σῦκον: 1,7 GII; ἀκρόδρυα: 1,7; ἄρτος: 1,10) und Geld (ἀργύριον 1,7

40

Analyse der Rahmenreden

GII; ἀποπρατίζομαι: 1,7 GI; ἀγοράζω: 1,12.14 GII; ἀγοραστής: 1,13 GI; ἀργυρίου τάλαντα δέκα: 1,14) zu nennen. In den beiden Abschnitten 1,4–9 und 1,10–11 bewirkt das Personalpronomen ἐγὼ in seiner Platzierung direkt am Satzanfang von 1,6 und 1,11 eine Strukturierung der Textbereiche. Auf analoge Weise wird das Gegenüber zwischen Tobit und seiner Bezugsgruppe sprachlich konstruiert. In narratologischer Hinsicht werden in 1,10–15 wichtige Themen genannt, die für den Fortgang der erzählten Ereignisse von großer Bedeutung sind. Der soziale Aufstieg Tobits zum Einkäufer am Hof Salmanassars V. macht plausibel, warum Tobit über die materiellen Voraussetzungen verfügt, die ihm die Unterstützung (1,16) seiner Glaubensbrüder ermöglichen. Außerdem erklärt sich auf diese Weise der Umstand, dass Tobit eine so große Menge Geld besitzt, dass er sich leisten kann, einen Teil davon bei einer anderen Person zu deponieren. Darüber hinaus bescheinigt Tobits Karriere am assyrischen Hof ihm eine Sozialkompetenz, die es ihm erlaubt, sich ein einem fremden Milieu erfolgreich zu integrieren. Angesichts der in 1,10.11 angedeuteten Ausübung religiöser Praktiken, dem sozialen und materiellen Erfolg Tobits, dem freien Umgang mit seinem Besitz und seiner Reisemöglichkeiten ist an dieser Stelle die Frage naheliegend, welche Art von Gefangenschaft mit dem Terminus αἰχμαλωτίζω in 1,10 gemeint ist. Die gängige Vorstellung von Ein- bzw. Beschränkungen in bestimmten Lebensbereichen bildet sich in der sozialen Erfolgsgeschichte Tobits in keinster Weise ab. Eine ähnliche Spannung zwischen der Wahrnehmung Tobits und den tatsächlichen Geschehnissen deutet sich schon in den Versen vorher an (1,4.5). Die betonte Ich-Rede und die pauschalisierende Abwertung seiner Herkunftsgruppe suggerieren den Eindruck eines Einzelgängers, der sich bewusst für ein nicht konformes Verhalten der Gemeinschaft gegenüber entscheidet. Faktisch jedoch nennt der Text Namen von konkreten Personen, die in unterschiedlicher Weise mit Tobit in einem Beziehungsverhältnis stehen. Diese Diskrepanz zwischen dem eigenen Erleben und Handeln betrifft auch die Selbstwahrnehmung Tobits. Wie oben schon ausgeführt wurde, reagiert Tobit auf das von ihm kritisierte Verhalten nicht, indem er explizit Handlungen benennt, die der entsprechenden Situation angemessen (Kult, Speisegebote) sind. Stattdessen beschreibt der Sprecher ausgiebig Tätigkeiten, die mit der Ausgangskritik wenig bzw. nichts zu tun haben. Auch kommt es zu keiner Auseinandersetzung mit den Stammesbrüdern hinsichtlich der strittigen Themen. Der Text präsentiert sie als eine anonyme, »stumme« Gruppe, deren »Gegenstimmen« nicht zu hören sind. Tobit konstatiert lediglich ihr unrechtmäßiges Verhalten und geht seinen eigenen Beschäftigungen nach. Indem der Text zwischen den Ebenen der Wahrnehmung Tobits und der erzählten Handlung unterscheidet, ermöglicht er den Lesenden eine kritische Einschätzung der Selbstdarstellung Tobits. Als der ausschließliche Perspekti-

Analyse 1,3–2,14: Tobits Monolog

41

venträger bestimmt dieser den Aussageschwerpunkt des Textabschnitts: Es geht um die Selbstdarstellung seiner Person und das Erleben der Umwelt von seinem Standpunkt aus. Die Lesenden erfahren über das Selbstverständnis der anderen und von ihrer Meinung über Tobit nichts. Die parallele Textgestaltung der beiden Abschnitte 1,4–9 und 1,10–22, die einmal im Land Israel und dann in Ninive spielen, bringt deutlich zum Ausdruck, dass die Selbstbezogenheit Tobits und seine subjektiv eingefärbte Einschätzung der Stammesbrüder unabhängig von lokalen Bezügen konstant bleiben. Örtliche Veränderungen haben keinen Einfluss auf sein Selbstverständnis. Diese Erzählweise gibt den Lesenden zunehmend Anlass, den Darstellungen Tobits mit Skepsis zu begegnen. Der Zusammenhalt der Gruppe ist weniger durch das Verhalten der Stammesbrüder gefährdet als vielmehr durch Tobits Selbstbezogenheit.

2.3

1,16–22: Tobit – Herkunftsgemeinschaft: Interaktion mit vielen Toten

Auch der Textabschnitt 1,16–22 bildet eine strukturelle Kohärenz, deren formale Gestaltung sich an den vorherigen Abschnitten orientiert. Der Neueinsatz im Erzählverlauf wird durch den Rückblick und Themenwechsel in 1,16 markiert. Tobit berichtet, dass er während der Regierungszeit Salmanassars V. seine Brüder unterstützt habe. Nach der Aussage in 1,15 ist Salmanassar V. jedoch schon gestorben, d. h. die in 1,16 erzählten Handlungen liegen auf einer andern Zeitebene. Mit seinem Engagement für seiner Brüder in dieser Zeitphase spricht Tobt von einem Verhalten, das in 1,10–15 nicht erwähnt wird. In diesem Rückblick thematisiert Tobit sein Verhältnis zu seiner Bezugsgruppe; er ist derjenige, der den bedürftigen Brüdern solidarisch zur Seite steht: ἐλεημοσύνας πολλὰς ἐποίουν τοῖς ἀδελφοῖς μου (GI) bzw. ἐλεημοσύνας πολλὰς ἐποίησα τοῖς ἀδελφοῖς μου τοῖς ἐκ τοῦ γένους μου (GII). Mit dieser Formulierung wird ein Bezug zu 1,3 hergestellt, wobei in 1,16 der Anspruch auf die Erfüllung der ethischen Ideale erheblich bescheidener vorgetragen wird. Die betonte Selbstbezeichnung Ἐγὼ Τωβιτ fehlt und die Leitbegriffe ἀλήθεια und δικαιοσύνη werden nicht genannt. Stattdessen konzentriert sich der Vers auf die Taten der Barmherzigkeit, deren Adressaten pauschal mit ἀδελφός bezeichnet werden. Wie in 1,3b das solidarische Handeln als Realisierung der in 1,3a genannten Ideale erscheinen, erfolgt in 1,17 eine Aufzählung von Umsetzungsvarianten der Barmherzigkeit: Tobit gibt den Hungernden Nahrung, den Nackten Kleidung und den Verstorbenen ein Grab. Neben den genannten Unterschieden zwischen 1,3 und 1,16.17 lassen Gemeinsamkeiten in inhaltlicher und struktureller Hinsicht die Schlussfolgerung zu, dass auch den Versen 1,16.17 die Funktion einer Exposition zukommen: sie

42

Analyse der Rahmenreden

bilden den Deutungsrahmen für die folgenden Ereignisse: Es geht weiterhin um das Thema gemeinschaftlichen Verhaltens, das nun spezifiziert wird. Der Fokus liegt auf den Taten der Barmherzigkeit, die in Nahrungs- und Kleiderspenden sowie der Totenbestattung ihren Ausdruck findet. Auch die Rollenkonstellation aus 1,3 spiegelt sich in 1,16.17: Tobit als Helfer unterstützt sein kollektives Gegenüber, das weiterhin in der Rolle des Bedürftigen verbleibt. In 1,3 wird ein Anspruch formuliert, der sich in den ab 1,4f. erzählten Handlungen nicht wiederfindet. Auch 1,18 schränkt die in 1,17 formulierten Aussagen über Tobits solidarisches Verhalten insofern ein, als dass von nun an ausschließlich das Bestatten der Toten thematisiert wird. Das Spenden von Kleidung und Nahrung findet erst wieder in 2,2; 4,16 eine Erwähnung. Hinsichtlich der Bestattungen der Toten richtet sich Tobits Augenmerk gezielt auf diejenigen Brüder, die auf eine bestimmte Art zu Tode kommen, nämlich durch die Hinrichtung von Seiten Sanheribs. Der Text vermittelt den Eindruck, als sei Tobit der Einzige, der das gefährliche Risiko auf sich nimmt, den ermordeten Brüdern ein Grab zu geben. In der Perspektive Tobits beteiligen sich die lebenden Brüder nicht an den Bestattungen. D.h. auch hier agiert Tobits in seinem Selbstverständnis isoliert von seiner Bezugsgruppe. Die Verbindung zu ihr kann er nur über die Bestattung der verstorbenen Gemeinschaftsmitglieder wahren. Während es im bisherigen Erzählverlauf zu keiner konkreten Interaktion zwischen Tobit und seiner Herkunftsgemeinschaft gekommen ist, werden hier nun die toten Brüder zu tatsächlichen Adressaten seines solidarischen Handelns. Nachdem in 1,18 die Lebensumstände des jüdischen Volkes in Ninive und Tobits Reaktion darauf beschrieben worden ist, kommt in 1,19 die Handlung in Gang. Ein Einwohner Ninives zeigt Tobit aufgrund seiner illegalen Bestattungen beim König an. Der Vers beginnt mit dem Verb πορεύομαι, das in 1,3.6.7.14.15 eine grundsätzliche Aussage über Tobit (Lebenswandel, Wallfahrten, Reisen). In 1,19 dient dasselbe Verb zur Beschreibung der Tätigkeit eines Bewohners Ninives, die für Tobit gravierende Folgen hat. Die Übertragung dieser zentralen Beschreibungskategorie für die Aktivitäten Tobits auf einen anderen Akteur steht für einen Wechsel der Handlungssouveränität: Tobit ist nicht mehr Subjekt, sondern das Objekt der Handlung. Der Text macht keine Aussagen über die Identität dieses Akteurs, er nennt ihn beiläufig εἷς τῶν ἐν Νινευη (GI) bzw. εἷς τις τῶν ἐκ τῆς Νινευη (GII). Das Desinteresse an gerade der Person, deren Verhalten für das jähe Ende der Erfolgsgeschichte Tobits sorgen wird, ist auffallend. Es spiegelt die Geringschätzung, mit der die Umgebung den Bestattungseifer Tobits zu Kenntnis nimmt. Tobits Reaktion auf den Verrat wird mit Verben der Bewegung beschrieben: er versteckt sich (κρύπτω) und flüchtet (ἀναχωρέω, ἀποδιδράσκω). Der Zielort der Flucht wird nicht genannt, aber da er später nach Ninive zurückkehren wird (1,22), kann davon ausgegangen werden, dass Tobit die Stadt verlässt. Mit dem Verb φοβέω

Analyse 1,3–2,14: Tobits Monolog

43

erhalten die Lesenden zum ersten Mal einen Einblick in das Innenleben des Sprechers. Tobit muss nicht nur fliehen, ihm wird außerdem sein ganzer Besitz genommen. Ihm bleibt nur seine Familie. Zwischen 1,19.20 und 1,5.6 lassen sich strukturelle Entsprechungen feststellen. In 1,5 bildet der Stamm Naphtali, der der Gottheit Baal opfert und damit einen Verrat begeht am wahren Kult in Jerusalem, das Subjekt des Satzes. Tobit reagiert, indem er in 1,6 nach Jerusalem reist. Das Subjekt in 1,19, »einer aus Ninive«, verrät Tobit und dessen Reaktion erfolgt ebenfalls in räumlichen Bewegungen. Die Aussage über seine Verarmung in 1,20 spielt insofern auf 1,6–8 an, als dass er nun nicht mehr imstande wäre, solche großzügigen Spenden zu gewähren. So wie in 1,9 die Erwähnung Hannas und des Tobias den Abschluss der Texteinheit und damit einen Szenenwechsel markiert, werden sie in 1,20 im Zusammenhang mit dem Tiefpunkt des sozialen Abstiegs genannt. Die folgende Handlung spielt im assyrischen Hofmilieu. König Sanherib erleidet das Schicksal, das Tobit für sich befürchtet (1,19), er wird von seinen Söhnen ermordet, die daraufhin fliehen müssen. Sanheribs dritter Sohn Asarhaddon wird König und macht Achikar, den Neffen Tobits, zum Verantwortlichen für das gesamte Finanz- und Verwaltungswesen. In diesem einflussreichen Amt gelingt es Achikar, Tobit die Rückkehr nach Ninive zu ermöglichen und als freier Mann dort zu leben. Trotz der Verbesserung seiner Lebensumstände, findet nun ein bemerkenswerter Rollenwechsel statt. Nicht Tobit ist derjenige, der hilft, sondern ihm ist hier die Rolle des Bedürftigen zugewiesen. Das Subjekt des solidarischen Handelns ist nun Achikar. Auch die Erzählsequenz 1,21–22 enthält Hinweise, die eine Bezugnahme auf den vorausgehenden Text erkennen lassen. Die Situierung der Szene im assyrischen Hof findet sich auch in 1,12f. Ebenfalls wird von einer Karriere berichtet, die ein Mitglied der jüdischen Gemeinschaft in eine verantwortungsvolle Position führt. Der markante Unterschied besteht darin, dass die Besetzung der Rolle des Erfolgreichen wechselt: Nicht mehr Tobit, sondern Achikar genießt das Vertrauen des assyrischen Herrschers. In semantischer Hinsicht bewegen sich beide Abschnitt einem Wortfeld aus dem Geldwesen: ἐκλογιστία 1,21.22. Die Parallelgestaltung der Aussagefolgen dient der Leserlenkung, indem sie pointiert auf gemeinsame und unterschiedliche Eigenschaften der Akteure verweist. Die drei Textsegmente 1,4–9; 1,10–15; 1,16–22 beginnen jeweils mit der Angabe der lokalen bzw. zeitlichen Einordnung der Ereignisse. Dann folgt eine Aussage über ein deviantes Verhalten des handelnden Subjekts. Der Stamm Naphtali wendet sich vom rechtmäßigen Kult in Jerusalem ab und missachtet die Speisegebote. Auf diese Devianzen antwortet der Text mit einem Subjektwechsel, indem er Tobit mit einem Verhalten reagieren lässt, das sich auf die Konformität mit den Satzungen (1,6) bzw. auf das Gedenken Gottes (1,12) beruft. Der Rekurs auf gesetzliche Bestimmungen erfolgt indirekt auch in 1,19, die der ungenannte

44

Analyse der Rahmenreden

Einwohner Ninives für seine Anzeige voraussetzt. Die beiden ersten Erzählpassagen 1,4–9; 1,10–15 präsentieren Tobit als ein aktives, souveränes Subjekt, das in der dritten Erzähleinheit 1,16–22 in die Rolle des verfolgten Opfers wechselt. Jede der drei Aussagefolgen endet in einer Krisensituation hinsichtlich der Zugehörigkeit Tobits zu seiner Gemeinschaft. In 1,8b erfahren die Lesenden, dass Tobit keinen Vater mehr hat und als Waise außerhalb des familiären Beziehungsgefüges steht. Die endogame Heirat mit Hanna ermöglicht ihm, dieses Defizit zu überwinden und wieder einen Zugang zu seiner Bezugsgruppe zu finden. In 1,15 besteht die Krise darin, dass Tobit aufgrund der Unmöglichkeit zu reisen Ninive nicht mehr verlassen kann und nun mit dem Problem des Zusammenlebens mit seiner Gemeinschaft konfrontiert ist, wobei er deren satzungsmäßiges Verhalten in Frage stellt und sich deshalb von ihr distanziert. Da er sich jedoch als der überlegene Helfer versteht, bleiben ihm als Interaktionspartner nur die verstorbenen Brüder. Im dritten Erzählsegment 1,16–22 führen Verfolgung und Flucht Tobit aus der Stadt hinaus an einen versteckten Ort. Er kann sich selbst nicht helfen und ist auf die Unterstützung Achikars angewiesen, der ihn wieder zurück in die Gemeinschaft bringt. Achikar ist damit der erste Akteur, von dessen solidarischen Handeln an einem lebenden Gemeinschaftsmitglied im bisherigen Erzählverlauf berichtet wird. Der explizite Bezug auf religiöse Begründungsinstanzen (Satzungen, Gedenken Gottes) vollzieht sich nur im Zusammenhang mit der Erfolgsgeschichte Tobits. Die Verweise haben hier die Funktion, Tobits Opposition und Abgrenzung zu legitimieren. Auffallender Weise werden im Kontext der Totenbestattungen solche Begründungszusammenhänge nicht hergestellt. In ihrer Bedeutung als Distanzierungsmedien sind diese Verweise nicht mehr notwendig, da die Abgrenzung nun vollzogen ist.

2.4

2,1–10: Tobit – Herkunftsgemeinschaft: Interaktion mit einem Toten

Die Episode in 2,1–10 beginnt nicht in der Weise, dass Tobit etwas berichtet, das sich von den vorhergehenden Ausführungen völlig unterscheidet und die Lesenden mit neuen Aspekten konfrontiert. Vielmehr überträgt er die Themen, die ab 1,16 auf einer allgemeinen, abstrakten Ebene verhandelt werden (pauschale Unterstützung einer nicht genannten Anzahl von Brüdern, Einbindung in großpolitische Zusammenhänge) in eine konkrete Situation in seinem Leben. Die Zäsur im Erzählverlauf markiert die Nennung von Hanna und Tobias, die auch in den vorherigen Textpassagen als Gliederungselement fungiert (1,9). GII verstärkt mit der Erwähnung des Königs Asarhaddon den erzählerischen Neueinsatz. Der folgende Text präsentiert nicht nur eine Fortsetzung des monologisierenden Rückblicks Tobits, sondern durch die Einbeziehung von Redeele-

Analyse 1,3–2,14: Tobits Monolog

45

menten und Dialogen entfaltet er nun eine eigene Handlungsdynamik. Sie wird unterstützt durch die Weiterentwicklung der Figuren Hanna und Tobias, die bis hierher lediglich erwähnt wurden und eher eine Statistenfunktion erfüllten. Nun aber werden sie zu Akteuren, deren Handlungen die erzählte Situation mit beeinflussen. Diese Situation ist in räumlicher und zeitlicher Hinsicht klar umrissen: sie spielt im Haus des Tobit εἰς τὸν οἶκόν μου an einem bestimmten Festtag ἁγία ἑπτὰ ἑβδομάδων. Die Beschränkung auf diesen sehr engen Aktionsradius folgt damit der ab 1,3f angelegten Engführung der geographischen und zeitlichen Dimensionen. Hinsichtlich des Kreises der Akteure findet eine Verlagerung vom gesellschaftlichen Makrokosmos (Volk, Herrscherfamilie) in den Mikrokosmos der Kleinfamilie statt. Diese Überleitung bildet 1,22, wo in der Figur des Achikars qua seines Amtes und seiner Einbindung in die Familie Tobits eine Verbindung zwischen den beiden gesellschaftlichen Milieus hergestellt wird. Der neue Textabschnitt setzt ein mit einer Strategie der Irritation: Tobit beschreibt einen Sachverhalt, der einer vorher erfolgten Aussage widerspricht. Aus 1,20 ist zu schließen, dass Tobit verarmt ist, aber noch mit seiner Familie zusammenlebt. In 2,1 aber kehrt er in sein Haus zurück, das also offensichtlich in seinem Besitz geblieben ist. Hanna und Tobias werden ihm wiedergegeben (ἀποδίδωμι), woraus zu folgern ist, dass die Familie vorher getrennt war. Trotz der angeblichen Verarmung sind seine Ehefrau und sein Sohn imstande, Tobit ein üppiges Mahl zuzubereiten. Diese am Beginn des Textabschnitts formulierte Differenz zu vorausgehenden Aussagen erinnert die Lesenden daran, dass die nun folgenden Ausführungen Tobits ebenfalls von einer Diskrepanz seiner Wahrnehmung der Ereignisse und den Geschehnissen an sich geprägt sein können. Seine Selbsteinschätzung ist dieselbe geblieben: der erklärende Zusatz zum Fünfzigtagefest (ἥ ἐστιν ἁγία ἑπτὰ ἑβδομάδων GI bzw. ἥ ἐστιν ἁγία ἑπτὰ ἑβδομάδων) dient weniger der Erläuterung für einen unkundigen Adressatenkreis als vielmehr der Selbstdarstellung Tobits als eines mit kultischen Angelegenheit bestens vertrauten Israeliten (vgl. 1,6ff). Auf ein Wiedererstarken seines Selbstvertrauens verweist die syntaktische Gestaltung von 2,1: der einleitende Nebensatz und der Hauptsatz enthalten jeweils zwei Verben. Im Nebensatz folgt der aktiven Form von κατέρχομαι die Passivkonstruktion von ἀποδίδωμι. Das im Hauptsatz folgende Verb ist ebenfalls passivisch ἐγενήθη, gefolgt vom aktiven ἀνέπεσα. Die beiden Verben in der passiven Form im Satzinneren werden gerahmt von zwei aktiven Verben am Satzanfang und Satzende. Dieser Satzaufbau weist auf den Übergang von Tobits Rolle als verfolgtes Opfer (1,20) in die Rolle des wieder souverän Handelnden hin. Der Anblick der vielen Speisen (GI θεάομαι), bzw. des servierten Essens bildet den Impuls für die nun einsetzende Handlung, in die zwei Redeanteile eingeblendet werden. Die direkte Rede Tobits (2,2) und die des Tobias (GII: 2,3)

46

Analyse der Rahmenreden

motivieren die jeweils Angesprochenen aufzuspringen und zum Marktplatz zu laufen. Anstatt das Mahl zum Anlass zu nehmen, seiner Familie für die Mühe der Zubereitung zu danken und die Wiedervereinigung mit ihr zu feiern, sorgt sich Tobit um das Wohl von Bedürftigen. Diese Haltung korrespondiert mit seiner Aussage aus 1,17, dass er seine Speisen den Hungernden gibt.73 Es wird deutlich, dass sich Tobits Selbstverständnis trotz der vorausgegangen Anfechtungen und Verfolgung nicht geändert hat: er sieht sich weiterhin in der Rolle des Helfenden, der barmherzige Taten vollbringt. Er ist dermaßen fixiert auf seine Mission, dass er das ihm zubereitete Essen nicht anrührt, sondern seinen Sohn einen Bedürftigen regelrecht suchen lässt. In der wörtlichen Rede fordert er seinen Sohn auf, einen Hilfsbedürftigen unter den Brüdern zu finden und ihn in das Haus zu bringen. Um den Kreis der Brüder näher zu bestimmen, wählt Tobit hier das Personalpronomen im Plural statt wie bisher im Singular: τῶν ἀδελφῶν ἡμῶν. Das heißt, Tobit versteht sich nicht mehr als ein isoliert Handelnder, sondern er bezieht seine Familie in sein Unterstützungsengagement mit ein. Die Aufforderung, einen hungrigen Gast in das Haus zu bringen, ist als Einladung zu einem gemeinsamen Mahl zu verstehen: ἄγαγε αὐτὸν καὶ φάγεται κοινῶς μετ’ ἐμοῦ (GII). Von einer solchen Mahlgemeinschaft hat sich Tobit in 1,10 strikt distanziert, da sich angeblich alle Brüder πάντες οἱ ἀδελφοί μου nicht an die Speisegebote halten. Hier geht er jedoch davon aus, dass es unter den Brüdern jemanden gibt, der Gott gedenkt, sich also an die Speisegebote hält. Das Bemerkenswerte an dieser Stelle besteht aber weniger darin, dass Tobit selbst wieder seine eigene Aussage relativiert, sondern dass er hier zum ersten Mal in der Erzählung ein tatsächliches Gemeinschaftsangebot macht: Er lädt einen Bruder zu einem gemeinsamen Mahl ein. Die Einladung bezieht sich nur auf den Kreis von Brüdern, die sich in einer bestimmten Weise qualifizieren: Sie gedenken Gott und verhalten sich satzungskonform. Tobits so deutlich formulierte Intention, in eine Beziehung zu seinen Brüder zu treten, läuft aber ins Leere. Tobias trifft keinen hungrigen Bruder, sondern er entdeckt einen Toten. Von diesem Toten berichtet Tobias, dass er erdrosselt und auf den Markplatz geworfen worden sei. Wie die Toten in 1,17 wird er nicht bestattet, sondern der abfällige Umgang mit ihm wird mit demselben Verb ῥίπτω beschrieben. Über die Frage, warum er nicht wie die anderen Verstorbenen hinter die Stadtmauer, sondern mitten auf den Marktplatz geworfen wird, gibt der Text keine Auskunft. Auch ist der Grund für die Ermordung nicht klar: setzt Asarhaddon die willkürliche Tötungspraxis Sanheribs fort, dann ist schwer nachvollziehbar, dass Tobit seinen Sohn allein in die gefährliche Umwelt außerhalb des Hauses schickt. Oder ist der Tote ein Hinrich-

73 Vgl. 1,10.17: ἄρτος; 2,1: ἄριστον; 2,2: ὄψον.

Analyse 1,3–2,14: Tobits Monolog

47

tungsopfer? 74 Der Text hat kein Interesse an diesem erzählerischen Detailaspekt, ihm geht es um die Beschreibung der Reaktion Tobits auf die Nachricht seines Sohnes. Tobit zeigt weder Erschrecken noch Entsetzen,75 sondern reflexartig springt er auf (ἀναπηδάω), um den Toten zu verstecken und nach Sonnenuntergang zu bestatten. Der Beginn von 2,4 in GI mit dem Pronomen κἀγὼ erinnert wieder an die Ich-Bezogenheit des Protagonisten aus 1,3–22. Auch seine Intention, den Toten heimlich zu bestatten, ist dem Leser bekannt (1,17) und braucht aus der Perspektive Tobits hier nicht mehr erläutert zu werden. In dieser fast routinehaften Abfolge von Handlungsschritten (aufspringen, Toten wegbringen, verstecken, zurückkehren, waschen, bestatten) fällt Tobit gar nicht auf, dass der Tote nicht wie gewohnt jenseits der Stadtmauer zu finden ist, sondern für alle sichtbar auf dem Marktplatz im Zentrum der Stadt liegt und deshalb kaum unbemerkt weggebracht werden kann. Sein Vorhaben, den Toten heimlich zu bestatten, ist in dieser Situation nicht durchführbar. In seinem Eifer ist Tobit jedoch »blind« für die Unangemessenheit seines Verhaltens, und er erntet den Spott der Nachbarn. Als Zeugen des Geschehens formulieren sie in 2,8 ein auch für die Lesenden sehr plausibles Unverständnis. Auf der Erzählebene folgt dem Verstecken des Toten, dem der Dialog zwischen Tobit und seinem Sohn vorausgeht, ein weiterer wörtlicher Redeteil. Im Modus der Erinnerung spielt Tobit auf einen Vers in Amos 8,10 an, mit der er seine Trauer kommentiert bzw. sie bestätigt sieht: καὶ ἐμνήσθην τῆς προφητείας Αμως, καθὼς εἶπεν Στραφήσονται αἱ ἑορταὶ ὑμῶν εἰς πένθος καὶ πᾶσαι αἱ εὐφροσύναι ὑμῶν εἰς θρῆνον (GI) bzw. καὶ ἐμνήσθην τοῦ ῥήματος τοῦ προφήτου, ὅσα ἐλάλησεν Αμως ἐπὶ Βαιθηλ λέγων Στραφήσονται ὑμῶν αἱ ἑορταὶ εἰς πένθος καὶ πᾶσαι αἱ ᾠδαὶ ὑμῶν εἰς θρῆνος (GII).

Das Amos-Zitat dient als Legitimationsinstanz für sein Verhalten, so wie Tobit vorher schon andere Gewährsgrößen nennt: Satzungen 1,6, Debora 1,8 und das Gedenken Gottes 1,2 (GI). Das Zitat bestätigt ihn in seiner Trauer, nicht in seinen Totenbestattungen. Mit dem Terminus μιμνῄσκομαι verwendet Tobit dasselbe Verb wie in 2,2, mit dem er den einzuladenden Bruder qualifiziert: er soll des Herrn gedenken. Die unterschiedliche Wahl der Objekte des Erinnerns (Bruder: Gott – Tobit: Amos) markiert auf subtile Weise die Differenz zwischen dem Sprecher und seiner Bezugsgruppe. Die Auswahl des Schriftzitates verweist auf 74 »In this case, nothing indicates that the Jew was slain by the Assyrian king, as in 1:18. Strangulation, however, may imply some kind of execution, because in the later rabbinic tradition it was one of the official modes of execution. Tobiah thus manifests the same concern for the dead as his father Tobit.«, J.A. Fitzmyer, Tobit 128. 75 An anderen Stellen thematisiert Tobit durchaus seine Emotionalität: Angst 1,19; Trauer 2,5.7; 3,1; Weinen aus Freude 11,14.

48

Analyse der Rahmenreden

die Ironie, mit der Tobit beschrieben wird. Der Erzähler lässt Tobit einen Satz aus einer Passage des Amos-Buches zitieren, die sich gegen das ungerechte Geschäftsgebaren von Händlern richtet (Amos 8,4–6). Damit wird ein Personenkreis angesprochen, zu dem Tobit selbst gehörte, als er noch als Einkäufer am Hofe Salmanassars V. tätig war. Auffallend ist die »freie« Bezugnahme auf die Textstelle. Im MT und in der LXX ist das Verb μεταστρέφω in der ersten Person aktiv formuliert, d. h. Gott ist der Handelnde, der die Trauer den Feiernden bringt. Die Verwendung der Passiv-Konstruktion des Verbes στρέφω in 2,6 überlässt es den Lesenden zu entscheiden, wer für die negative Entwicklung der kommenden Ereignisse verantwortlich ist. GII übernimmt die ᾠδαὶ aus der LXX, während GI das Substantiv mit εὐφροσύναι ersetzt. Damit betont GI stärker den Bezug zur Pfingstfeier in 2,1. Es folgt eine knappe Darstellung der Bestattung, die den Anlass für eine Äußerung der Nachbarn über Tobit gibt: οἱ πλησίον ἐπεγέλων λέγοντες Οὐκέτι φοβεῖται φονευθῆναι περὶ τοῦ πράγματος τούτου· καὶ ἀπέδρα, καὶ ἰδοὺ πάλιν θάπτει τοὺς νεκρούς (GI) bzw. οἱ πλησίον μου κατεγέλων λέγοντες Οὐ φοβεῖται οὐκέτι·ἤδη γὰρ ἐπεζητήθη τοῦ φονευθῆναι περὶ τοῦ πράγματος τούτου καὶ ἀπέδρα, καὶ πάλιν ἰδοὺ θάπτει τοὺς νεκρούς (GII).

In ihrem Spott bringen sie ihr Unverständnis über Tobits Erfahrungsresistenz hinsichtlich der möglichen negativen Sanktionierung der Totenbestattungen zum Ausdruck. D.h. diese Passage spielt auf die Verfolgungspraxis Sanheribs in 1,18 an und bringt den Lesenden noch einmal das gefährliche Risiko in Erinnerung, das die Bestattungen begleitet. Tobit selbst thematisiert die Implikationen seines Verhaltens nicht, er konzentriert sich stattdessen auf seine Trauer. Hier zeigt sich deutlich die Diskrepanz in der Wahrnehmung der Akteure: die Nachbarn verorten das Handeln Tobits in den konkreten politischen Kontext, den Tobit wiederum ausblendet und stattdessen seine persönliche Reaktion auf die ermordeten Brüder beschreibt. Tobits »Privatisierung« der Bestattungen geht erzählerisch einher mit der Verlagerung der Handlung in den häuslichen Bereich. Die in diesem Erzählabschnitt zitierten Redeelemente haben eine handlungsmotivierende (2,2.3) Funktion und lassen sich in dem Konzept von R. Alter der »dialogue-bound narration«76 zuordnen. Mit ihren Worten in 2,6.8 kommentieren Tobit und die Nachbarn dessen Handlungen bzw. indem die Nachbarn offen über die Bestattung sprechen, entziehen sie ihr den Charakter der Heimlichkeit. Nach der Bestattung des Toten kehrt Tobit nachts zu seinem Haus zurück. Über die weiteren Ereignisse machen die Textversionen GI und GII in 2,9 unterschiedliche Angaben. GI berichtet, dass Tobit die Nacht außerhalb des Hofes 76 Vgl. R. Alter, Art 82.

Analyse 1,3–2,14: Tobits Monolog

49

verbringt, weil er sich verunreinigt hat (μιαίνω) 77. GII verwendet den Terminus nicht und berichtet stattdessen von einem wiederholten Waschen. Die Ausführungen über das Waschen bzw. den Zustand der Unreinheit bringen in beiden Textversionen wenig Klarheit hinsichtlich der Frage, wie Tobit mit einer möglichen Verunreinigung durch die Berührung mit einem Toten umgeht.78 Das Problem der Verunreinigung durch den Kontakt mit Toten wird in 1,17.18 überhaupt nicht thematisiert und in 2,5.9 lediglich beiläufig angedeutet, obwohl das Bestatten der Toten in Tobits Selbstkonzept eine zentrale Rolle spielt.79 Im Kontext der Totenbestattungen und der daraus resultierenden Unreinheit verzichtet Tobit auf einen Hinweis auf die Satzungskonformität. Trotz der Verwendung des Verbes μιαίνω in 2,9 (GI) reflektiert er seinen offenkundigen Zustand der Unreinheit nicht. In beiden Textvarianten geht es also in diese Abschnitt nicht um eine Diskussion der Reinheit/Unreinheit Tobits, sondern sie zeigen exemplarisch an diesem konkreten Fall der Totenbestattung, wie Tobit in seiner Selbstwahrnehmung bestimmte Sachverhalte ausblendet, die für eine Integration in seine Bezugsgruppe jedoch entscheidend sind.80 Für den weiteren Erzählverlauf ist es entscheidend, den Lesenden plausibel zu machen, warum sich Tobit außerhalb des Hauses zur Ruhe begibt (2,9). In GI begründet Tobit diese Entscheidung mit seiner Unreinheit. Angesichts der Tatsache jedoch, dass sein Haus durch die Lagerung der Leiche in einer Kammer οἴκημα (2,4) ohnehin verunreinigt ist, überzeugt dieses Argument nicht. GII thematisiert an dieser Stelle weder den Topos Reinheit noch bietet die Textversion explizit eine andere Begründung, jedoch mit der Erwähnung der Hitze in 2,9b wird hier auf einen möglichen Anlass hingewiesen. Die Ereignisse während des Aufenthalts draußen auf dem Hof haben zur Folge, dass Tobit erblindet. Diese Erblindung geschieht auf eine solche absurde Weise, dass sie fast schon komisch81 anmutet: Kurz vor dem Einschlafen, als seine Augen noch geöffnet 77 Vgl. μιαίνω im Sinne von Unreinheit vgl. Ex 20,25; Lev 13,3. 14; 20,3. 78 Nach Num 19,11–22 ist er unrein geworden und es bedarf ganz bestimmter Verrichtungen, um wieder in den Zustand der Reinheit zu gelangen. Der vorgeschriebene Reinigungsprozess (7-Tagesfrist, Entsündigung durch Reinigungswasser am dritten Tag usw.) bleibt völlig unerwähnt, trotz der drastischen Konsequenz bei der Nichtbeachtung der Vorschriften: jeder, der sich nicht entsündigt, wird aus der Gemeinschaft ausgeschlossen (Num 19,13). 79 »Die Unreinheit infolge von Berührungen mit Leichen wird trotz der zentralen Bedeutung der Tätigkeit des Begrabens auch nicht versuchsweise auf einen bestimmten Text bezogen. Sie bleibt so blaß, daß nicht sicher ist, ob sie nicht überhaupt nur physisch-hygienisch verstanden werden kann.« J. Gamberoni, Gesetz 237. 80 Ein Überblick zur Diskussion der möglichen rituellen Unreinheit Tobits vgl. I. Nowell, Book 293–297. 81 »There are also grounds for saying that the comic effect is almost inevitable in the particular nature of Tobit’s blindness. Granted that blindness itself – like the deaths of husbands – is far from comic, there is something undeniably bizarre about this particular blindness, begun by two ›fresh‹ […] sparrow droppings. […] This, taken together with the immediate assurance

50

Analyse der Rahmenreden

sind, lassen Sperlinge ihren Kot in die Augen Tobits fallen. Aufgrund seiner Erblindung unternimmt Tobit Reisen, um Ärzte zu konsultieren καὶ ἐπορευόμην πρὸς τοὺς ἰατροὺς. Offensichtlich gibt es keine Reisebeschränkungen mehr (vgl. 1,15). In dem Verb πορεύομαι greift der Erzähler die Beschreibungskategorie auf, aus der Tobit sein bisheriges Selbstverständnis bezogen hat (vgl. 1,3.6.7.14.15). Er ist wieder der souverän Handlende, der die Initiative für die weitere Entwicklung übernimmt. Sie führt aber nicht zum gewünschten Erfolg: Die Ärzte können Tobit nicht helfen und er erblindet völlig. Die Erzählsequenz endet mit einer Aussage über die Sorge der Brüder (GII) und der Unterstützung Achikars. In narratologischer Perspektive bestätigt sich oben formulierte These, dass in 2,1–10 die Ereignisse szenisch entfaltet werden, die in 1,16–22 in allgemeiner Weise beschrieben werden.82 Durch die starke Reduzierung der Raum- und Zeitdimensionen und die zunehmende Plastizität anderer Akteure wird der Blick des Lesers teleskopartig auf eine bestimmte Szene gelenkt. Sowohl in semantischer als auch strukturelle Hinsicht lassen sich deutliche Bezüge zwischen den beiden Textsegmenten beschreiben. Den erzählerischen Zusammenhang zwischen den Abschnitten 1,16–22 und 2,1–10 gewährleisten eine Vielzahl von semantischen Feldern und Motivbereichen. Der Topos Speisen, der in 1,17 ein Aspekt der drei Solidaritätsbekundungen Tobits bildet (1,17: ἄρτος), wird in 2,1–5 weit aufgefächert und dominiert den ersten Abschnitt 2,1–4 (2,1: ἄριστον, φαγεῖν GI, ἀριστάω GII; 2,2: ὄψον GI, ὀψάριον GII; 2,4: γεύω). Im Abschnitt 2,7–8 fehlt dieses Motiv, stattdessen wird hier das Bestatten als der dritte Barmherzigkeitsakt aus 1,17 thematisiert (1,17.19: θάπτω; 2,7: θάπτω, ὀρύσσω; 2,8: θάπτω). Dieser Wechsel der semantischen Bereiche (Essen, Bestatten) wird in dem Schriftzitat Am 8,10 in GI vorweggenommen, wo von der Verwandlung der εὐφροσύναι 8,10a (Freudenmähler) in θρῆνος 8,10b die Rede ist. Eine weitere Vernetzung der Motivbereiche zeigt sich in dem Wiederaufgreifen zentraler Termini: die Verben des Sehens (1,17: θεωρέω; 2,2: θεάομαι GI), des Wegwerfens (1,17; 2,3: ῥίπτω), des Sterbens bzw. des Tötens (1,17: θνῄσκω; 1,18: ἀποκτείνω; 2,3: στραγγαλάομαι), des Versteckens (1,19: κρύπτω; 2,4: ἀναιρέω). Die Erwähnung der Mauer τεῖχος (1,17) bzw. τοῖχος (2,9) und

that the blindness is only temporary (2:10) and the fact that it is ultimately harmless, might well lead the reader to a comic response.« P. McCracken, Narration 402. 82 »Der neue Abschnitt schließt sich sachlich und literarisch an den bisherigen Duktus an, lässt aber zugleich eine konkretisierende Zuspitzung erwarten.«, P. Deselaers, Buch 69. P. Deseslaers’ Gliederung des Textabschnitts in drei Szenen richtet sich nach den Zeitangaben in 2,1.4.9, vgl. 69f. Die semantische Analyse bestätigt die Dreiteiligkeit, erkennt aber andere Abschnittsgrenzen: 2,1–4: Speise; 2,7–8: Totenbestattung; 2,9–10: Augen, Blindheit. Die Verse 6–7 bilden das Scharnier, das den Wechsel der Wortfelder markiert.

Analyse 1,3–2,14: Tobits Monolog

51

der Augen ὀφθαλμός (1,10) bezieht den dritten Abschnitt 2,9–10 in das semantische Feld ein. Die Termini φοβέω 1,19, πένθους 1,5 GII (λύπη GI) und κλαίω 2,7 vermitteln einen Einblick in das Innenleben des Protagonisten und zeigen, dass er durchaus zu gefühlsmäßigen Reaktionen fähig ist. Umso mehr fällt auf, dass Tobit von keinen Emotionen (Erschrecken usw.) erzählt, als Tobias ihm die Nachricht von dem erdrosselten Bruder überbringt. Die Worte des Tobias wirken mehr wie Stichwortgeber, die Tobit in seine gewohnte Routine verfallen lassen. Die parataktische Abfolge der Bewegungsverben in 2,4 verweist auf eine reflexhafte (πρὶν ἢ γεύσασθαί) Reaktion. Die auffallende Häufung der Bewegungsverben (κατέρχομαι 2,1; βαδίζω 2,2; ἔρχομαι 2,3 GI; πορεύομαι 2,3 GII; ἀναπηδάω 2,4; ἐπιστρέφω 2,5; οἴχομαι 2,7; ἀποδιδράσκω 2,8; εἰσέρχομαι 2,9 GII; ἀναλύω 2,9 GI; πορεύομαι 2,10) in diesem Textsegment erzeugt eine Atmosphäre der Unruhe und Spannung. Die Erzählstruktur von 2,1–10 erinnert an den inhaltlichen Aufbau von 1,16– 22. Der Abschnitt 2,1–7 übernimmt die Motivreihung von Speisespende, Entdecken eines Toten und die folgende Bestattung aus 1,17 und entfaltet sie zu einer eigenen Geschichte. Das Pendant zu dem Bewohner Ninives 1,18 bilden die Nachbarn in 1,8, die ebenfalls Zeugen der Bestattungen sind und in einer für Tobit negativen Weise reagieren. Der Text gibt weder in 1,18 noch in 2,8 einen Hinweis darauf, ob es sich bei diesen Beobachtern um Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft oder Assyrer handelt. Den Anschuldigungen (Anzeige, Spott) folgt in beiden Erzählteilen eine Krise in Form von Verfolgung bzw. Erblindung. Tobit kann sich selbst nicht helfen, seine Flucht (ἀναχωρέω 1,19 GI; ἀποδιδράσκω 1,19 GII) und seine Reisen (πορεύομαι 2,10) tragen nicht zur Verbesserung seiner Situation bei. In beiden Fällen ist es Achikar, der helfend bzw. unterstützend interveniert. Die Verteilung der Erzählanteile in 2,1–10 macht sehr deutlich, wo der Aussageschwerpunkt in diesem Textabschnitt liegt. Der Tote, den Tobias findet, bleibt anonym und seine Bestattung wird in einem einzigen Satz abgehandelt. Den weitaus größeren Raum nehmen die Beschreibungen der Umstände ein, die zu dem Auffinden des Toten führen und die Konsequenzen, die die Bestattung für Tobit nach sich zieht. Das Bestatten von Toten ist nicht das Thema des Textes, es dient als eine Veranschaulichung für Tobits spezifisches Verhalten. Die formale und inhaltliche Nähe des Abschnittes 1,16–22 zu 2,1–10 hat zur Folge, dass die Lesenden ihre vorhergehende Lektüreerfahrung bestätigt sehen. Sie überrascht die bekannte Abfolge der erzählten Ereignisse nicht: Im Zusammenhang mit den Speisen wird ein Toter entdeckt, dessen Bestattung Tobit in eine schwierige Situation bringt, zu deren Entschärfung nur Achikar beitragen kann. Es entspricht dem vorher entwickelten Erwartungsmuster, dass es nun in 2,10 zur Krise kommen muss. Die Art der Krise bzw. deren Verursachung hat auf

52

Analyse der Rahmenreden

den ersten Blick zwar durchaus etwas Überraschendes, bei einem näheren Hinsehen ist jedoch eine gewisse Logik in der Wahl des Krisencharakters erkennbar. Die bisherige Lektüre hat den Lesenden deutlich gemacht, dass Tobit in seiner Selbstdarstellung bestimmte Ausblendungsstrategien anwendet, die zu einer verzerrten Wahrnehmung seiner Person und seiner Umwelt führen. Seine »Blindheit« hinsichtlich sozialer Zusammenhänge schlägt um in eine physische Blindheit. Sie ist eine Manifestation seiner »sozialen« Blindheit.83 So wie die Totenbestattungen einen Ausdruck für die selbst verantwortete Ausgrenzung Tobits bilden, ist die Blindheit als eine Chiffre zu verstehen für die Unfähigkeit Tobits, diesen Prozess zu durchschauen. Schließlich büßt Tobit neben seinem ohnehin schon eingeschränkten »sozialen« Wahrnehmungsvermögen nun auch mit dem Verlust seiner konkreten Sehkraft eine basale Voraussetzung zur Kontakt- bzw. Beziehungsaufnahme ein. Die vordergründige Ursache der Erblindung spiegelt die Ironie wider, mit der Erzähler das Schicksal seines Protagonisten gestaltet: Ausgerechnet den auf Sauberkeit bedachten Tobit (zumindest lässt die Erwähnung des Waschens in 2,5.9 (GII) darauf schließen) trifft der Kot eines Tieres, der die Augen verunreinigt und damit zur Erblindung führt. Die szenische Ausgestaltung des vorgehenden Textsegments 1,16–22, die sich in der starken Fokussierung der Raum- und Zeitdimensionen, der Einbeziehung von weitern Akteuren und Dialogen bzw. Redeanteilen, der detaillierten Beschreibung von Handlungssequenzen und damit im Verzicht auf summarische Angaben realisiert, zoomt den Blick der Lesenden an das Geschehen heran und lässt sie quasi daran teilhaben. Sie werden Zeugen der sich steigernden Spannung, die in der »doppelten« Erblindung Tobits einen vorläufigen Höhepunkt findet. Dieses an sich tragische Ereignis entbehrt jedoch der zu erwartenden Dramatik, da die Lesenden schon in 2,10 (GII) erfahren, dass die Erblindung nur temporär ist und nach vier Jahren geheilt sein wird.84 In Hinblick auf das Gruppenverhalten Tobits können im Textbereich 2,1–10 einerseits dieselben Beobachtungen wie in den vorhergehenden Abschnitten gemacht werden, andererseits weist er aber auch markante Veränderungen auf. 83 Diese Deutung macht die Erblindung Tobits plausibel, dagegen bleibt in der Leseweise P. Deselaers’ der Zusammenhang von Erblindung als Folge von solidarischem Handeln unverständlich: »Gerade aufgrund seiner praktizierten und bestätigten ἐλεημοσύνη gerät Tobit in das Unglück der Erblindung, die in der Fluchtlinie des Todes steht.«, ders., Buch 76. 84 McCracken erkennt in diesem Verfahren des nachträglichen »Entdramatisierens« einen typischen Aspekt des Komödiantischen: » The narrator’s repeated undermining of supense is a comic device that provides assurance of a happy outcome. By 2:10 we know that Tobit will be healed, and by 3.17, having just learned of Sarah’s distress, we know that her problem will be solved and furthermore that Tobias will marry her. By 6:8 we know the ›medicine‹ (6:5) for the cures.«, ders., Narration 402. Zur unterschiedlichen Zeitangabe der Erblindungsdauer vgl. 14,2. GI wendet diese Erzählstrategie nicht an; in 2,10 macht der Text keine Angabe darüber, wie lange Tobit an der Blindheit leiden wird.

Analyse 1,3–2,14: Tobits Monolog

53

Zunächst ist festzustellen, dass es bei dem Oppositionsverhalten Tobits seiner Umwelt gegenüber bleibt. Das erinnerte Selbstgespräch Tobits und das Reden der Nachbarn über ihn, anstatt mit ihm, spiegeln den nicht vorhandenen Austausch bzw. das Fehlen einer Kommunikation zwischen ihm und den Nachbarn. Tobit kommentiert ihre Reaktion auf seine erneute Bestattung nicht, sondern setzt seine Tätigkeit unbeeindruckt fort. Anstatt sich in eine Auseinandersetzung mit der Gemeinschaft zu begeben, konzentriert er sich auf das Versorgen eines Verstorbenen und agiert damit wieder außerhalb seiner Bezugsgruppe. Die Einladung in 2,2, einen Bruder zum gemeinsamen Mahl zu bitten, bricht dieses Verhaltensmuster zunächst auf, ist aber letztlich nur der Ausdruck des Bemühens um Gemeinschaft. Der Eindruck der Lesenden von Tobit als einem isolierten Einzelgänger erfährt in 2,2f jedoch eine wichtige Veränderung. Im Gespräch mit seinem Sohn zeigt sich Tobit als durchaus dialog- und kontaktfähig85 Sein Sohn gehorcht ihm, die gemeinsame Sorge um einen πτωχὸν τῶν ἀδελφῶν ἡμῶν scheint er nicht in Frage zu stellen. Dieser Umstand und die Aussage in 2,1, dass Hanna und Tobias die Rückkehr Tobits zum Anlass nehmen, ihm ein Festessen zu bereiten, machen deutlich, dass die Beziehungen innerhalb der Familie von Zuwendung und Unterstützung geprägt sind. Die Familie erscheint als eine Solidaritätsgemeinschaft, in der gelingt, was außerhalb der Familie misslingt: der Aufbau von tragfähigen, verlässlichen Beziehungen. In 2,10 wird berichtet, dass nicht Hanna und/oder Tobias den blinden Tobit versorgen, sondern Achikar diese Aufgabe übernimmt. Die Erwähnung Achikars an dieser Stelle ist der Beibehaltung der Erzählstruktur (vgl. 1,22) geschuldet, die ihn als Kontrastfigur zu dem auf sich selbst bezogenen Tobit einsetzt. GII erwähnt außer dem sorgenden Achikar noch die Betrübnis der Brüder über das Schicksal Tobits, d. h. seine Bezugsgruppe nimmt empathisch Anteil an seinem Ergehen. Tobit nimmt dieses Interesse zwar zur Kenntnis, äußert sich aber nicht dazu. Der Textabschnitt 2,1–10 rückt die Familie Tobits in den Vordergrund und erwähnt die assyrische Gesellschaft und ihre Herrscher nicht mehr (GI) bzw. nur einmal in 2,1 (GII). Der Auftritt der Nachbarn in 2,8 spielt nur indirekt auf die assyrischen Verhältnisse an. Tobits Eingebundensein in die Kleinfamilie wird ausführlich entfaltet und sein abgrenzendes Verhalten den nächsten Mitmenschen gegenüber weiter konkretisiert. In diesem Zusammenhang ist das Wiederaufgreifen des Mauermotivs beachtenswert. In 1,17 steht dieses Motiv für das Agieren Tobits außerhalb der Stadt, in 2,9 trennt ihn die Mauer seines Hofes von

85 GII entwickelt einen umfassenderen Wortwechsel als GI. Die persönliche Anrede παιδίον findet sich nur in GII 2,2.3.

54

Analyse der Rahmenreden

der Welt seiner Nachbarn.86 In beiden Fällen steht die Mauer für einen Rückzug von der Gemeinschaft und gerade in dieser Mauer lässt der Erzähler die unheilbringenden Vögel nisten. Diese Erzählkonstruktion legt nahe, dass es die Abgrenzungstendenzen Tobits sind, die in die Krise führen.

2.5

2,11–14: Tobit – Familie: Konflikt mit Hanna

In 2,11 findet ein Szenenwechsel statt, auf den GII mit der Zeitangabe καὶ ἐν τῷ χρόνῳ deutlich hinweist. Ähnlich wie Vers 1,22b dient 2,10b als ein Übergang, der mit dem Versorgungsmotiv einen inhaltlichen Zusammenhang mit dem folgenden Abschnitt herstellt. In der Szene 2,11–14 findet eine weitere Fokussierung der Raum- und Zeitdimensionen statt. Die Handlung besteht fast ausschließlich aus einem Dialog, der sich an nur einem Ort (wahrscheinlich im Haus Tobits) während einer in Minuten messbaren Zeitspanne abspielt. Der Kreis der Akteure reduziert sich auf zwei Figuren: Tobit und Hanna. Hanna betritt nun zum ersten Mal die erzählerische Bühne und lässt damit Tobit in der Rolle des Ehemanns agieren. Von seiner Frau berichtet Tobit in 2,11, dass sie mit Frauenarbeiten Geld verdiene. Damit übernimmt sie die Aufgabe, für die Achikar bis zu seiner Abreise nach Elymais zuständig war: die Versorgung Tobits. Aufgrund seiner Erblindung ist er außerstande, den Lebensunterhalt für sich und seine Familie zu bestreiten. An das Vermögen, das er bei Gabael deponiert hat (1,14) und das in dieser Situation sicher Erleichterung schaffen würde, scheint niemand zu denken. In 2,12 geht Tobit eingehender auf den Aspekt des Lohns für Hannas Arbeit ein, indem er die Abfolge vom Abliefern des Arbeitsprodukts und der folgenden Entlohnung beschreibt. Der Lohn an sich wird nicht weiter thematisiert, dafür aber erwähnt Tobit die zusätzliche Gabe in der Gestalt eines Ziegenbocks: αὐτοὶ τὸν προσδόντες καὶ ἔριφον (GI). Während in GI nicht deutlich ist, ob diese zusätzliche Zahlung öfters geleitstet wird, hebt GII die Einmaligkeit dieses Vorgangs hervor. An einem ganz bestimmten Tag (der siebte Tag des Monats Dystros) liefert Hanna ihre Webarbeit bei ihren Auftraggebern ab und erhält neben ihrem gesamten Lohn noch einen Ziegenbock dazu: καὶ ἔδωκαν αὐτῇ τὸν μισθὸν πάντα καὶ ἔδωκαν αὐτῇ ἐφ’ ἑστίᾳ ἔριφον ἐξ αἰγῶν. D.h. in dem erinnernden Rückblick auf die Ereignisse ist es gemäß beider Textversionen für Tobit völlig einsichtig, wie Hanna in den Besitz des Tieres kommt. In der erinnerten Situation (2,13f.) aber verfügt er offensichtlich nicht über dieses Wissen. 86 Der Erzählduktus in GII lässt vermuten, dass Tobit innerhalb des Hofes neben der Mauer schläft. Nach GI könnte er sich auch außerhalb des Hofes befinden.

Analyse 1,3–2,14: Tobits Monolog

55

Bevor Hanna ihrem Ehemann von dem Ziegenbock berichten kann, verrät das Tier durch sein Blöken dem blinden Tobit seine Anwesenheit (2,13). Prompt fragt er seine Frau, woher sie den Ziegenbock habe. Ohne eine Antwort abzuwarten unterstellt er ihr einen Diebstahl und fordert sie auf das Tier zurückzubringen. Er begründet seine Haltung mit seiner Gesetzeskonformität: Es ist nicht erlaubt, Gestohlenes zu essen. In ihrer Antwort klärt Hanna ihren Ehemann darüber auf, dass es sich bei dem Tier um ein Geschenk handle. Tobit aber glaubt ihr nicht, er wiederholt seine Aufforderung und gerät dermaßen in Erregung, dass er vor Scham ihretwegen errötet. Anstatt zur weiteren Eskalation des Streits beizutragen, indem sie ihrerseits ihre Erklärung wiederholt, bringt Hanna ihr Unverständnis über Tobits misstrauisches und ungerechtes Verhalten ihr gegenüber zum Ausdruck. Sie fragt nach seinen Werken der Barmherzigkeit und Gerechtigkeit und stellt fest: ἰδὲ ταῦτα μετὰ σοῦ γνωστά ἐστιν (GII) bzw. ἰδοὺ γνωστὰ πάντα μετὰ σοῦ (GI). Wie die Termini ταῦτα und πάντα inhaltlich zu füllen sind, lässt der Text offen. Für Hanna zumindest offenbart sich nicht der barmherzige, gerechte Tobit, sondern ein misstrauischer und ungerechter Ehemann. Mit den Worten Hannas endet die Szene. Die beiden Positionen von Tobit und Hanna stehen ungeklärt nebeneinander. Die Lesenden erfahren nicht, ob und wie der Streit enden wird. Die in dieser Erzählpassage eingefügten Redeelemente dienen nicht der Motivation einer Handlung (2,3.4) oder ihrer Kommentierung (2,6.8), sondern in ihrer Form als Streitgespräch entsprechen sie in der Terminologie R. Alters einem »contrastive dialogue«,87 der die Sprechenden charakterisiert. In narratologischer Hinsicht bietet 2,11–14 eine Besonderheit, die im gesamten Text vorher nicht zu finden ist. Bis jetzt bestätigt die rückblickende Stimme des Sprechers die Wahrnehmungen und Erfahrungen des Protagonisten in der erzählten Welt. In 2,11–14 aber kommt es zu einer Spaltung zwischen dem erzählenden und dem erlebenden Ich. Rückblickend weiß Tobit, dass die Ziege als zusätzlicher Lohn gegeben wurde und dass Hanna also Recht hatte. Im Konflikt aber beharrt Tobit auf seiner Einschätzung der Situation, selbst um den Preis, seiner Ehefrau einen Diebstahl zu unterstellen. Es ist ein Perspektivenwechsel zwischen dem erzählenden und dem erlebenden Ich festzustellen. Indem sich die Erzählerstimme des rückblickenden Tobits von den Äußerungen Tobits in der konkreten Streitsituation distanziert, gibt sie zu, dass dieser sich tatsächlich ungerecht verhalten hat. Das Wissen um den rechtmäßigen Erwerb der Ziege lässt Tobits Verhalten befremdlich erscheinen, denn anstatt die Leistung Hannas zu würdigen, reagiert er mit Misstrauen und Vorwurf. Dieses Unverständnis artikuliert sich in der Frage Hannas nach Tobits ethischen Idealen, deren Verwirklichung er für sich beansprucht. Er präsentiert sich als gesetzes87 Vgl. R. Alter, Art 91.

56

Analyse der Rahmenreden

treuer Mann, indem er seine Forderung, das Tier zurückzubringen, damit begründet, dass man Gestohlenes nicht essen darf (2,13). Das Problem scheint für ihn mehr im Konsumieren von Diebesgut zu liegen als im Diebstahl an sich. Der Begründungszusammenhang (γὰρ) wirkt unangemessen angesichts Tobits Verhaltensideal der Gerechtigkeit, das das Aneignen von fremden Eigentum von vorneherein ausschließt. GI spricht davon, dass alles offenbar ist an ihm, d. h. hier wird die Diskrepanz zwischen Anspruch und Realisation auf weitere Situationen bezogen. Die Konstruktion der Divergenz zwischen zwei Erzählerstimmen dient also der Entlarvung der Verblendung Tobits: Seine ethischen Maßstäbe verkehren sich in ein ungerechtes Verhalten seiner Frau gegenüber. Hannas Frage am Ende der Erzähleinheit bestätigen die Zweifel der Lesenden an der Zuverlässigkeit des Sprechers Tobit: Er scheint nicht der zu sein, für den er sich ausgibt. Der Vorwurf Hannas vermittelt eine Deutungsperspektive, die retrospektiv die bisherige Lektüre in einem andern Licht erscheinen lassen. Mit der Wiederaufnahme des Geldmotivs und damit des Themas der materiellen Versorgung fügt sich 2,11–14 in die aus den vorhergehenden Textpassagen bekannte Struktur der Motivabfolge ein. Im letzten Teil einer jeden größeren Erzähleinheit kommt Tobit auf das Thema Geld zu sprechen: in 1,7 verkauft er den zweiten Zehnten und gibt das Geld in Jerusalem aus; in 1,14 hinterlegt er sein Silber bei Gabael; in 1,21 erfahren die Lesenden, dass Achikar das Geldwesen des assyrischen Königs verwaltet und in 2,11, dass Hanna Geld verdient. In den Abschnitten 1,4–9 und 1,10–15 ist Tobit derjenige, der über materiellen Wohlstand und Geld verfügt. Im Gegensatz dazu verfügen im Verlauf der Passagen 1,16–22 und 2,1–14 Achikar und Hanna über die finanziellen Ressourcen, von denen Tobit zunehmend abhängig wird. Die Kontrastierung zwischen dem ökonomisch unabhängigen Tobit und seinem hilflosen Gegenbild spiegelt sich auch in dem spielerischen, ironischen Umgang des Textes mit dem Wortfeld Nahrung. In 1,17 behauptet Tobit, dass er seine Speisen ἄρτος den Hungernden gibt, in 2,10 dreht sich das Versorgungsverhältnis um, denn nun »füttert« bzw. »mästet« (τρέφω) Achikar seinen Onkel. Die Fragen Hannas in 2,14 greifen die zentralen Termini in 1,3 auf: Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Damit bilden sie eine semantische Rahmung des ersten Teils der Erzählung. Erwähnenswert sind auch die Tiere, die in 2,10 und 2,12 eine entscheidende Rolle spielen. Aufgrund von natürlichen Vorgängen88 liefern sie den äußeren Anlass für die folgenden Krisen. Während in 1,18 das Bestatten der Toten als eine souveräne Handlung Tobits zu verstehen ist, die dann in die Krise führt, haftet den tierischen Verursachern etwas Zufälliges und Lächerliches an. Die Lebens88 Sperlinge lassen ihren Kot fallen und verursachen so die Erblindung Tobits. Das Blöken der Ziege führt zu dem Konflikt zwischen Hanna und Tobit.

Analyse 1,3–2,14: Tobits Monolog

57

äußerungen harmloser Kleintiere reichen aus, um Tobit in ausgesprochen heikle Situationen zu manövrieren, die ihm keine Gelegenheit zu einem heldenhaften Auftritt geben. In Hinblick auf die schon im gesamten vorherigen Text beobachteten Ausgrenzungstendenzen wird in dieser Passage der Tiefpunkt erreicht. In 2,1–10 distanzieren sich die Nachbarn aus dem nächsten Umfeld und Tobit voneinander. Es kommt zu keiner erzählten Interaktion mit ihnen, Tobit handelt nur an dem Toten und an seinem Sohn Tobias, indem er mit ihm spricht. Unterstützung erfährt er von Hanna und Achikar. Das ändert sich ab 2,10: Achikar zieht weg, und Tobit streitet sich aufgrund seiner Engstirnigkeit mit seiner Frau. Diese Basisbeziehung, die ihm seine Zugehörigkeit zu seiner Bezugsgemeinschaft garantiert, ist gestört und Tobit bleibt isoliert und ohne Unterstützung zurück. Die bisherige Analyse des Textbereiches 1,3–2,14 legt die Kohärenz und Geschlossenheit dieses Abschnitts sowohl in struktureller als auch semantischer Hinsicht nahe. Er gliedert sich in fünf Unterabschnitte, die auf unterschiedliche Weise miteinander verbunden sind. Die Textsegmente 1,4–9; 1,10–15 und 1,16–22 weisen eine analoge Aussagenfolge und Handlungsstruktur auf. Während die ersten beiden Abschnitte einen selbstbewussten Tobit präsentieren, der in seiner Wahrnehmung im Sinne der ethischen Verhaltensideale handelt, übernimmt er in demselben Strukturgefüge von 1,16–22 die Rolle des Schwachen und Hilfsbedürftigen. Die Wortfelder der Bewegung, des Geldes und der Speisen vernetzen die drei Textteile zusätzlich miteinander. In 2,1–10 erfolgt die szenische Ausgestaltung von 1,16–22, indem die bisher eher allgemein geschilderten Ereignisse in eine konkrete Situation übertragen werden. Sie findet ihre Fortsetzung in 2,11– 14, wo die Motive des Geldes und des Essens wiederaufgriffen werden. Die in 1,3– 15 markante Verwendung des Personalpronomen Ἐγὼ bzw. κἀγὼ und das syntaktisch konstruierte Gegenüber zwischen Tobit und seiner Gemeinschaft findet sich nur in den ersten beiden Abschnitten. Der gesamte Textbereich erfährt eine semantische Rahmung durch die Termini δικαιοσύνη und ἐλεημοσύνη, die in 1,3 als Anspruch formuliert und in 2,14 als Frage wiederholt werden. Die vermittelnde Erzählerinstanz in der Rede ist Tobit selbst. In einem Rückblick berichtet er davon, wie er sich in bestimmten Situationen entsprechend seiner ethischen Ideale verhalten hat. Als autodiegetischer Erzähler ist er nicht nur eine Figur der Geschichte, sondern ihre Hauptperson. In seinen Aussagen ist er auf seinen eigenen Erlebnishorizont beschränkt, er spricht als erzählendes Ich über Erfahrungen, die er in einer früheren Lebensphase als erlebendes Ich macht. Eine Introspektion in die Gedanken bzw. Gefühlslage anderer Figuren ist ihm nicht möglich. Die Aufspaltung in das erzählende und das erlebende Ich ist in 2,11 deutlich wahrnehmbar. Das Ich in der fiktionalen »Jetzt-

58

Analyse der Rahmenreden

zeit« distanziert sich vom »Ich« im fiktionalen »Damals«.89 Tobit als der autodiegetische Erzähler reflektiert in der Retroperspektive sein Handeln als ein abgeschlossenes Geschehen. Sein Rückblick erfolgt chronologisch, die zeitliche Distanz zwischen dem erlebenden Ich ( junger Mann in Israel → verheirateter Mann in Ninive) und dem erzählende Ich verkürzt sich kontinuierlich. Diese Verringerungsdynamik korrespondiert mit einer zunehmenden Verdichtungstendenz von Raum und Zeit. In 1,4–9 bildet das Land Israel, in 1,10–22 die Stadt Ninive und Umgebung und in 2,1–10 der Marktplatz von Ninive und Haus/Hof Tobits den lokalen Rahmen. In 2,11–14 wird kein Ort genannt, aber es ist zu vermuten, dass die Szene im Haus Tobits spielt. Der räumliche Radius des Protagonisten wird immer enger gezogen. Eine ähnliche reduzierende Gestaltung erfahren auch die Zeiträume, in denen Entscheidendes geschieht. Die beiden Lebensphasen in Israel und Ninive ereignen sich von der Zeit des Zerfalls des salomonischen Reiches bis zur Herrschaft Asarhaddons, also rund 100 Jahre. Die Zeit der Gefangenschaft Tobits in Ninive beträgt 50 (bzw. 40) Tage, die Episode der Bestattung und Erblindung Tobits geschieht während eines Tages und einer Nacht und der Dialog zwischen Tobit und Hanna umfasst wenige Minuten. Die sich steigernde Zeitraffung gipfelt in 2,11–14, wo es zur Deckung von erzählter Zeit und Erzählzeit kommt. Diese Verlangsamung der Zeit verläuft parallel zur zunehmenden Einschränkung des Raums. Damit einher geht eine konstante Reduzierung der potentiellen Interaktionspartner: Zunächst nennt der Text den Stamm Israel, dann die Brüder in Ninive, die Nachbarn und schließlich bleibt nur Hanna übrig. Hinsichtlich der Charakterisierung Tobits ist oben schon festgestellt worden, dass diese Figur eine Entwicklung erfährt. Der selbstsichere, souveräne Tobit am Anfang der Geschichte verwandelt sich am Ende in einen blinden, misstrauischen Mann, der auf die Hilfe andere angewiesen ist. Diesen für die Lesenden deutlichen Prozess des Scheiterns reflektiert Tobit nicht. Im Gegenteil beharrt er auf seinem Anspruch, im Sinne seiner ethischen Maximen zu handeln. Dieser Anspruch wird zwar immer verhaltener vorgetragen (1,3: Wahrheit, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit; 1,16: Barmherzigkeit; 2,13c: Verweis auf Rechtskonformität), aber Tobit realisiert an keiner Stelle, wie wenig die von ihm beschriebenen Handlungen seinen Idealen entsprechen (außer 2,12). Den aufmerksamen Lesern entgehen diese Unstimmigkeiten nicht; weiterhin irritiert die Erzählweise, die Aussagen auf Äußerungen folgen lässt, die letzeren entweder widersprechen oder sie relativieren. Diese Lesererfahrungen tragen nicht zu Glaubwürdigkeit 89 »This distinction is important in part because it allows the older Tobit-as-narrator to relate the error of Tobit-as-character in the goat episode. […] Tobit-as-narrator clearly informs the reader that the goat was given, but Tobit-as-character thinks Anna has stolen it.«, D.D. McCracken, Narration 406.

Analyse 1,3–2,14: Tobits Monolog

59

des Sprechers bei, d. h. es handelt sich bei dem Lebensrückblick Tobits um ein Beispiel des unzuverlässigen Erzählens. »Unzuverlässigkeit ist ein Phänomen, das vor allem in homodiegetischen Erzählungen auftritt, denn ein Erzähler, der als Figur gestaltet ist, verfolgt meist mit seinem Erzählen persönliche Interessen – so will er zum Beispiel seine früheren Handlungen rechtfertigen oder negative Erfahrungen beschönigen.«90 Im Erzähltext selbst finden sich Hinweise darauf, dass der Glaubwürdigkeit Tobits mit einer gewissen Skepsis zu begegnen ist. In 2,12 gibt Tobit indirekt zu, in der erinnerten Situation die Ereignisse falsch eingeschätzt zu haben. Hannas Fragen am Ende des Textabschnitts verdeutlichen die Diskrepanz zwischen dem Anspruch Tobits und seinem tatsächlichen Verhalten. Indem die Rede des Protagonisten so gestaltet ist, dass dessen Unzuverlässigkeit unübersehbar wird, ihn also eine Deutung der Dinge formulieren lässt, die in der erzählten Welt kaum nachvollziehbar scheint, geschieht so etwas wie eine doppelte Kommunikation. Sowohl der Erzähler als textinterne Sprecherinstanz als auch der textexterne Erzähler (als ästhetische Instanz, nicht als reale Person) als Produzent des Erzähltextes kommen zu Wort. »[…] der Erzähler kann – quasi am Erzähler vorbei – eine Botschaft vermitteln, die den Behauptungen des Erzählers widerspricht. Erzählerische Unzuverlässigkeit ist somit als eine Strategie bzw. als ein ästhetisches Mittel des Erzählers anzusehen, das – etwa zum Zweck der literarischen Ironie – bewusst eingesetzt wird.«91

2.6

Auswertung

Die Analyse von 1,3–2,14 hinsichtlich der Aussagen zu Gruppenprozessen legt einen Zusammenhang zwischen dem inhaltlichen Anliegen und der formalen Gestaltung des Textes nahe. Wie deutlich wurde, geht es dem Erzähler darum, den fortschreitenden Isolationsprozess Tobits von seiner Bezugsgruppe nachzuzeichnen. Abgrenzungstendenzen sind schon zu Beginn seines Lebensrückblicks festzustellen. Tobit sieht sich in einem eindeutigen Gegenüber zu seiner Gemeinschaft, das ihn dazu veranlasst, seine eigenen Angelegenheiten zu verfolgen und auf eine Auseinandersetzung mit seinen Brüdern zu verzichten. Die pauschalisierende Redeweise in diesen Passagen suggeriert ein völliges Fehlen einer Interaktion zwischen ihm und seiner Herkunftsgemeinschaft. Die strukturelle Gestaltung der ersten beiden Abschnitte, die die Oppositionshaltung 90 S. Lahn/J. Ch. Meister, Einführung 184. D.D. McCracken spricht von Tobit als einem »unreliable narrator«, in: ders., Narration 407. Dagegen I. Nowell, »He [Tobit] is reliable. […] The message intended by the biblical author is never contradicted by the voice of the narrator which he employs.«, dies., Book 178. 91 Vgl. S. Lahn/J. Ch. Meister, Einführung 183.

60

Analyse der Rahmenreden

Tobits unterstreicht (1,6.11), findet sich in den folgenden Abschnitten nicht mehr. Die Abgrenzung scheint vollzogen zu sein, sodass im Fokus der Aufmerksamkeit Tobits nicht mehr die lebenden, sondern die verstorbenen Brüder liegen. Ihnen widmet er seine ganze Aktivität, von anderen Tätigkeiten (Tobits Aufgabe als Einkäufer am assyrischen Hof) ist keine Rede mehr. Die einzelnen Verstorbenen, ihr Schicksal und/oder die Bestattungsweise interessieren den Sprecher nicht, umso mehr erfahren die Lesenden von Tobits Motivation und den Konsequenzen, die die Bestattungen für ihn haben. Schließlich bedeuten sie eine doppelte Grenzüberschreitung: Tobit verstößt gegen das geltende assyrische Recht und er überschreitet die Grenze von der Sphäre der Reinheit in die der Unreinheit, die in der religiösen Vorstellungswelt seiner Bezugsgruppe von grundsätzlicher Bedeutung ist. Diese Grenzüberschreitungen haben den Rollenwechsel zur Folge, der aus dem selbstgewissen, reichen Tobit einen verarmten, hilflosen Mann macht. Sanherib bestraft Tobit, indem er ihn verfolgen und berauben lässt. Der Bestattung in 2,7 folgt die Erblindung Tobits. Die Totenbestattungen führen Tobit in die Isolation, die sogar physisch greifbar wird. Damit ist aber der Tiefpunkt der Krise nicht erreicht. Der Streit mit Hanna gefährdet das Beziehungsgefüge der Familie, auf das er sich bis jetzt verlassen konnte, und er belastet indirekt die Frage nach Tobits Gemeinschaftszugehörigkeit mit zusätzlichem Konfliktpotential. Es wird deutlich, dass das Thema Ausgrenzung sich wie ein roter Faden durch Tobits Rede zieht. Die Distanzierung beginnt direkt am Anfang zwischen Tobit und seinem Stamm und endet im Konflikt mit seiner Ehefrau. Die Dynamik der Entwicklung in Richtung Isolation bildet sich ab in der erzählerischen Engführung von Raum und Zeit, die in der Streitszene kumuliert. Der Text verhandelt damit keine Fragen über das Leben der jüdischen Gemeinde im assyrischen Exil, die moralische Bewertung der Totenbestattungen oder die Problematik der Reinheitsfragen. Diese Themenbereiche bilden vielmehr die Etappen in dem Prozess der Ausgrenzung ab. Der Grund für Distanzierungstendenz liegt in der Diskrepanz zwischen den in 1,3.16; 2,13 formulierten ethischen Ansprüchen und dem erzählten Handeln. Tobit nimmt für sich hohe Ideale in Anspruch, die auf gemeinsinniges Verhalten abzielen, tatsächlich aber handelt er sehr eigensinnig. In seiner Verblendung nimmt er nicht wahr, dass nicht er das Subjekt solidarischen Handelns ist, sondern dass er selbst im Verlauf seines Lebens zum hilflosen Empfänger von Unterstützungsangeboten wird. Seine Ich-Fixierung und Selbstüberschätzung machen ihn im wahrsten Sinn des Wortes »blind« gegenüber seinem eigenem asozialen und dem sozialen Verhalten anderer. Für die Darstellung der Ich-Fixierung des Protagonisten bietet sich die Wahl eines autodiegetischen Erzählers an, ihm ist aus rein erzähltechnischen Gründen nicht möglich, sich in das Innenleben anderer Akteure hineinzudenken. Die Unzuverlässigkeit des Erzählens

Analyse 3,1–6: Tobits Gebet

61

unterstreicht die Überheblichkeit Tobits. Das gestörte Beziehungsverhältnis zu seiner Herkunftsgemeinschaft erfährt seine literarische Gestaltung in der Präsentation des erinnernden Rückblicks in der Form eines Monologs, der keinen Zuhörer hat. Der Text gibt deutliche Hinweise auf geringe Glaubwürdigkeit seines Protagonisten und die Lesenden können sich bei fortschreitender Lektüre auf diese Weise der Dominanz seiner Darstellungsperspektive entziehen. Sie erfahren die Bestätigung ihrer zunehmenden Skepsis in der Frage Hannas nach den Idealen Tobits. In seinem Verhalten kann sie sie nicht finden und mit ihrer Reaktion entlarvt sie seine Lebensdeutung als eine Selbsttäuschung. In Blick auf die Gruppendynamik der Gemeinschaft kann abschließend formuliert werden, dass in 1,3–3,6 ein Prozess der Desintegration beschrieben wird, der durch die Selbstbezogenheit und Überheblichkeit und der damit einhergehende Fehleinschätzung der Lebenswirklichkeit eines einzelnen Mitgliedes verursacht wird. Es sind also weniger konkrete Verstöße gegen geltende Normen, sondern vielmehr eine bestimmte Haltung, die die Gemeinschaftskohäsion von innen her bedroht.

3.

Analyse 3,1–6: Tobits Gebet

Im Gegensatz zu dem Beginn der Rede 1,3–2,14 kennen die Lesenden nun den Sprecher von 3,1–6, dessen folgenden Reden sie aufgrund der Leseerfahrung aus 1,3–2,14 u. U. mit einer gewissen Voreingenommenheit begegnen. Auch ist ihnen der Anlass für die Rede 3,1–6 bekannt: Die Trauer über den Streit mit Hanna motiviert Tobit zu einem Gebet. Formal unterscheidet sich diese Rede von der vorherigen darin, dass sie einen explizit genannten Adressaten hat. Nachdem Tobit nun am Tiefpunkt des Isolationsprozess angelangt ist, wendet er sich zum ersten Mal in der erzählten Lebensrückschau an Gott und betet. Seine Rede92 lässt sich als ein Bittgebet mit Schuldeingeständnis charakterisieren, das folgenden Aufbau aufweist: 3,1 3,2 3,3 3,4–5 3,6

Gebetseinleitung Anrede Gottes Bittappell an Gott Schuldeingeständnis Bitte um Erlösung durch den Tod

Der Streit mit Hanna lässt Tobit in einem Zustand der Betrübnis und des Schmerzes zurück. Der folgenden Rede geht zunächst ein Weinen voraus (3,1). Das Verb κλαίω, das hier zum zweiten Mal verwendet wird, findet sich schon in 92 Vgl. P.J. Griffin, Theology 72–124.

62

Analyse der Rahmenreden

2,7, wo es als Ausdruck der Trauer über den ermordeten Glaubensbruder zu deuten ist. Das Motiv für das Weinen in 3,1 kann noch nicht eindeutig benannt werden: Weint Tobit wegen des Unverständnisses, das Hanna ihm entgegenbringt oder kann es als Eingeständnis verstanden werden, dass Hannas Kritik zutrifft? Das folgende Gebet vermag diese Frage nicht eindeutig zu beantworten, da es beide Erklärungsmomente bereithält. In der Gottesanrede in 3,2 spricht Tobit dem κύριος die drei Eigenschaften zu, die er in 1,3 für sich selbst beansprucht: ἀλήθεια, δικαιοσύνη und ἐλεημοσύνη. Außerdem stellt er fest, dass es der κύριος ist, dem die Richterhoheit zukommt. Die genannten Eigenschaften, die sein bisheriges Selbstverständnis ausmachten, und das von Tobit damit verbundene Recht, über andere zu urteilen, spricht er nun Gott zu. Ihn bittet er in 3,3, seiner zu gedenken und ihn nicht zu strafen wegen seiner Sünden und der seiner Väter: μή με ἐκδικήσῃς ταῖς ἁμαρτίαις μου καὶ ἐν τοῖς ἀγνοήμασίν μου καὶ τῶν πατέρων μου.93 Hier zeigen sich zum ersten Mal Ansätze eines Schuld- bzw. Sündenbewusstseins, wobei Tobit nicht benennt, worin seine Sünden bestehen. Stattdessen spricht er von seinen unwissenden (ἀγνοήμασίν) Vergehen. In seine Bitte um Nachsicht schließt er auch die Vergehen seiner Väter mit ein. Mit der Kopula καὶ werden die Aussagen über die Sünden Tobits und die seiner Vorfahren nebeneinander gestellt, d. h. in dem Umstand, dass beide auf ihre Art gesündigt haben, liegt das sie Verbindende. In 3,4 spezifiziert Tobit die Sündhaftigkeit, indem er sie als Übertreten der Gebote beschreibt, es erfolgt jedoch keine weitere inhaltliche Erläuterung. Die Vergehen führen zu Plünderung, Gefangenschaft, Tod und Gespött und erinnern an die in 1,2.9ff angedeuteten Ereignisse. Tobit begreift das Schicksal der Stammesbrüder (Exilierung, Tod) und besonders sein eigenes Leiden (in der erzählten Welt wird nur Tobit verspottet) als unterschiedliche Folgen derselben Vergehen. Er sieht sich damit in einem gemeinsamen Schuldzusammenhang mit seiner Gemeinschaft. Das wird deutlich in der Formulierung in 3,5: ὅτι οὐκ ἐποιήσαμεν τὰς ἐντολάς σου· οὐ γὰρ ἐπορεύθημεν ἐν ἀληθείᾳ ἐνώπιόν σου. In Bezug auf seine Herkunftsgruppe finden sich hier zum ersten Mal Verbformen in der 1. Person Plural. Im Gegensatz zu 1,3ff distanziert sich Tobit auf der sprachlichen Ebene nicht von seinen Brüdern, sondern er versteht sich als ein Mitglied dieser (Schuld-)Gemeinschaft. Überraschenderweise begründet Tobit seinen Todeswunsch in 3,6 nicht mit seinem Schuldeingeständnis, sondern mit dem Umstand, dass er die »falschen Schmähungen« nicht mehr hören kann (ὅτι ὀνειδισμοὺς ψευδεῖς ἤκουσα), ohne davon in Betrübnis versetzt zu werden. Hier bahnt sich das aus 1,3–2,14 bekannte Deutungsmuster seinen Weg, nach dem Tobits Handeln von seiner Umwelt nicht verstanden wird und sie deshalb mit Spott reagiert. Das Gebet bleibt also ambivalent hinsichtlich der Motivation für Tobits Trauer: Sowohl das Eingeständnis 93 Der Terminus ἁμαρτία erscheint hier zum ersten Mal.

Analyse 3,1–6: Tobits Gebet

63

von Schuld als auch das Beharren auf die Rolle des Unverstandenen spiegeln sich in seinem Weinen. Das Gebet endet mit der eindringlichen Bitte, dass Gott ihn erlösen möge, indem er ihn sterben lasse. Seinen Todeswunsch fasst er zusammen in der Wendung: μὴ ἀποστρέψῃς τὸ πρόσωπόν σου ἀπ’ ἐμοῦ. Mit diesem direkten Appell an Gott, sich nicht von Tobit abzuwenden, sondern die Beziehung zu ihm aufrecht zu erhalten, schließt Tobits Lebensrückblick. In dem Gebet reflektiert Tobit seine bisherige Lebenspraxis, indem er sein Handeln als Sünde und Vergehen qualifiziert. Dem Anspruch, den er in 1,3 formuliert, ist er im Verlauf seines Lebens nicht gerecht geworden: Die fast wörtliche Wiederaufnahme der zentralen Termini aus 1,3: Ἐγὼ Τωβιθ ὁδοῖς ἀληθείας ἐπορευόμην in 3,5: οὐ γὰρ ἐπορεύθημεν ἐν ἀληθείᾳ ἐνώπιόν σου ist ein deutlicher Ausdruck dieser Erkenntnis. Die veränderte Verbform verweist auf eine weitere Entwicklung: Tobit spricht nicht mehr ausschließlich über sich selbst, sondern in der Erkenntnis, dass sowohl er als auch seine Brüder (Väter) schuldig geworden sind. Die gemeinsame Schuld bindet Tobit in die Gemeinschaft ein. Tobit ist sich dieser Entwicklungsmöglichkeiten nicht bewusst. Er spricht von »unwissentlichen« Vergehen, er versteht offensichtlich nicht, worin seine Schuld besteht. Auch erkennt er nicht, dass es gerade dieses Schuldbewusstsein ist, das ihn in die Gemeinschaft zurückführt. Stattdessen wendet er seine vertrauten Interpretationsmuster an und wünscht sich den Tod. In seiner »Blindheit« bleiben ihm die positiven Entwicklungsperspektiven noch verschlossen, die in seinen eigenen Äußerungen schon wahrnehmbar werden.

3.1

Auswertung

Die Rede 3,1–6 nimmt in mehrfacher Hinsicht Bezug auf 1,3–2,14. Die Wiederaufnahme der zentralen Leitbegriffe aus 1,3 lenkt den Blick der Lesenden wieder auf den Anfang des Buches. Inhaltlich spielen beide Reden auf die Verschleppung der Brüder nach Ninive an. Mit der Verwendung des Terminus ἁμαρτία und der Einführung einer neuen Figur (Gott), an die die Rede gerichtet ist, setzt sich das Gebet jedoch von dem Monolog ab und eröffnet neue Deutungs- und Handlungshorizonte. In diesem Gebet deutet sich ein Wendepunkt in der Entwicklung des Sprechers an. Tobit, der sich bis jetzt immer weiter in die Isolation zurückzog, versteht sich hier zum ersten Mal als ein Mitglied seiner Gemeinschaft und sein Appell an Gott, sich nicht von ihm abzuwenden, artikuliert einen offenkundigen Beziehungswunsch. Ein positiver Impuls in Richtung Integration deutet sich an, auch wenn er von Tobit noch nicht wahrgenommen wird.

64

4.

Analyse der Rahmenreden

Analyse 4,3–21: Tobits Lehrrede

Die Veränderungsdynamik im sozialen Miteinander findet ihren formalen Niederschlag in der Gestaltung der Rede Tobits 4,3–21. Sie ist nicht als Monolog konzipiert, sondern bildet den Teil eines Dialoges, den Tobit mit seinem Sohn Tobias führt. Diese Rede hat damit ein konkretes, identifizierbares Gegenüber, das in 5,1 eine Antwort geben wird. Die Erinnerung an das in Rages deponierte Vermögen motiviert Tobits Ansprache an Tobias (4,1). Der in 3,6 formulierte Todeswunsch veranlasst Tobit, sein Testament zu verfassen. Es bildet den Inhalt seiner Rede in 4,3–21.94 Bevor er aber seinen Sohn über den tatsächlichen Reichtum der Familie informiert (4,20), teilt er ihm im Sinne eines immateriellen Vermächtnisses seine Lebenslehren mit, deren Beachtung Tobias ein gelingendes Leben im Sinne der ἀλήθεια, δικαιοσύνη und ἐλεημοσύνη ermöglichen soll (4,5.6). Ratschläge in Bezug auf Glück und Erfolg, die von einem gescheiterten und vereinsamten Mann gegeben werden, können jedoch nur dann überzeugen, wenn sie sich von der (nicht erfolgreichen) Lebenspraxis des Ratgebers unterscheiden und diese eben nicht zur Nachahmung empfehlen.95 Insofern entwickelt das Testament Tobits mit seinen Handlungsanweisungen zwar ein Lebenskonzept für die Zukunft seines Sohnes, aber es ermöglicht gleichzeitig einen kritischen Blick in die Vergangenheit Tobits. Die Lebenslehren können nur dadurch an Plausibilität gewinnen, indem sie sich als Gegenentwurf zu der Lebenspraxis präsentieren, die in 1,3–3,6 zum Scheitern Tobits führt. Analog zu den Analysen von 1,3–2,14 und 3,1–6 konzentrieren sich die folgenden Ausführungen auf die Auswertung gruppenrelevanter Aussagen in 4,1– 21. Von Interesse sind Fragen nach gemeinschaftlichem Verhalten, den Adressaten dieser Handlungen und der Konstruktion von Gruppengrenzen. Vor diesem Hintergrund schlage ich folgendes Strukturmodell für 4,1–21 vor:96 4,1–2: 4,3–4: 4,5a: 4,5b–11

Erinnerung an das Geld Bestattung der Eltern/Ehre der Mutter Gedenken an Gott ἀλήθεια, δικαιοσύνη und ἐλεημοσύνη: ethisches Handeln konstituiert Gemeinschaft 4,12–13: Endogamie markiert Gemeinschaftsgrenzen ἀγαπή und die Abkehr von ὑπερηφανίᾳ konstituieren Gemeinschaft 4,14–18 Reziprokes Verhalten: Lohn, Goldene Regel, Almosengeben, Anstand, Ratgeben 4,19 Preisen Gottes 4,20–21 Information über das Geld 94 In GII fehlen die Verse 4,7a–19 g. Die Auslassungen sind wahrscheinlich als abschreibbedingt erklärbar, vgl. Ch. J. Wagner, Tobit-Synopse XIV. 95 Vgl. C.A. Moore, Tobit 175. 96 Vgl. alternative Strukturmodelle in: F.M. Macatangay, Wisdom 67–74.

Analyse 4,3–21: Tobits Lehrrede

65

Die Abfolge der Belehrungen weist eine konzentrische Struktur auf, deren Mitte das Endogamie-Gebot bildet. Es ist eingebettet in eine Reihe von allgemeinen Weisungen, die in 4,5b–11 das Handeln im Sinne der drei Leitbegriffe thematisieren, die dann in 4,14–18 als lebenspraktische Ratschläge konkretisiert werden. Die Lehren erfahren eine theologische Kontextualisierung in 4,5a und 4,19, die sie als einen Ausdruck des Gedenkens und Preisens Gottes deuten lässt. Der äußere Kreis der Redestruktur besteht aus Appellen, die sich konkret an Tobias wenden. Sie betreffen das Bestatten seiner Eltern und die Sorge um das zurückgelegte Vermögen. Der Topos ἀργύριον rahmt die Lebenslehren des Tobit in 4,1 und 4,20 und greift damit ein Thema auf, das sich wie ein roter Faden durch die erste Rede 1,3–2,14 zieht.97 Der Topos Geld dient nicht nur als Stichwortverbindung zwischen den Reden 1,3–2,14 und 4,3–21, an dem beschriebenen Umgang mit Vermögen lassen sich auch die Entwicklungsprozesse ablesen, die Tobit zunächst in die Krise und dann aber auch wieder hinausführen. Während seiner Jugend in Israel verfügt Tobit offensichtlich über die finanziellen Ressourcen, um sich die Wallfahrten mit den dazugehörigen Opfergaben und Almosen leisten zu können. Auch in Ninive kann er aufgrund seiner Tätigkeit als Einkäufer am Hofe Salmanassars V. so viel Geld verdienen, dass er imstande ist, einen großen Geldbetrag bei Gabael zurückzulegen (1,13). Sowohl sein Amt als auch das Deponieren des Geldes lassen auf einen kompetenten und umsichtigen Umgang mit seinem Vermögen schließen. Umso eindringlicher verweist das Ausblenden des Geldbesitzes von 2,19 bis 4,1 auf die zunehmende Realitätsblindheit, die Tobit im Verlauf seines Lebens entwickelt. Die Erinnerung das ἀργύριον in 4,1 steht für die neu einsetzende Wahrnehmung der ihn umgebenden (materiellen) Realitäten. Die Lehrrede Tobits beginnt mit der Aufforderung, dass Tobias ihn und seine Mutter nach dem Tod bestatten möge. Damit betrifft die erste Weisung, die er formuliert, das zentrale Thema, das sein ganzes bisheriges Leben bestimmt hat: die Bestattung der Toten. Diese Aufforderung Tobits gilt jedoch nur in Bezug auf ihn und Hanna. Von der Bestattung anderer verstorbener Brüder, wie sie von dem jungen Tobit ausgiebig betrieben wurde (1,17.18; 2,4), ist hier keine Rede. Nachdem die Verse 4,1–4 auf Tobits veränderte Haltung in Hinblick auf die Totenbestattungen hingewiesen haben, folgt in 4,5a eine Handlungsanweisung, die in 1,3–3,6 von Tobit nicht thematisiert wird und sich deshalb von seiner bisherigen Lebenspraxis abhebt. Sie bildet eine Zäsur innerhalb der Rede, denn dieser Appell wie auch die folgenden Weisungen werden unabhängig von einer konkreten Situation formuliert (πάσας τὰς ἡμέρας). Tobias soll Gott gedenken. In 3,1 fordert der Sprecher mit dem Verb μνημονεύω Gott auf, sich ihm zuzuwenden, in 4,5 wird mit demselben Verb der Appell an Tobias, Gott zu gedenken, 97 1,8.13.14.22; 2,11.

66

Analyse der Rahmenreden

formuliert. Die Explikation dieser Weisung erfolgt mit den Termini ἀλήθεια (4,6), δικαιοσύνη (4,5b) und ἐλεημοσύνη (4,7) in den folgenden Versen. Damit werden die drei Leitbegriffe aus 1,3 wieder aufgegriffen und in eine konzeptionelle Verbindung zum Gedenken Gottes gebracht. Das »Erinnern Gottes« konkretisiert sich in Handlungen, die sich an den Leitbegriffen orientieren. Sie bilden keinen Selbstzweck (wie in 1,3), sondern erhalten im Gedenken Gottes eine Sinnrichtung. Analog zur Aufforderung, Gott zu gedenken, formuliert Tobit in 4,19 den Appell, Gott zu preisen. Diese beiden Imperative zur Aufnahme einer positiven Gottesbeziehung rahmen die lebenspraktischen Ratschläge (4,5b–4,18) Tobits an seinen Sohn. Die Leitbegriffe ἀλήθεια, δικαιοσύνη und ἐλεημοσύνη in 4,5b.6.7 bilden den Auftakt zu den folgenden Weisungen. Tobit empfiehlt seinem Sohn im Sinne dieser ethischen Maximen zu handeln, damit auf diese Weise seine Werke gelingen mögen (4,5b.6). Während sich die Aussagen in Hinblick auf ἀλήθεια und δικαιοσύνη auf pauschale Imperative beschränken, wird der Aspekt der ἐλεημοσύνη ausführlich behandelt.98 Im Gegensatz zu 1,4f, wo der Aussage Tobits über sein barmherziges Handeln eine ausführliche Beschreibung seines kultisch korrekten Verhaltens folgt, liegt in 4,6 der Fokus auf dem Geben von Almosen. Das Motiv des Spendens erinnert an 1,8: Hier spricht Tobit im Zusammenhang den Geboten Deboras und dem Gesetz des Moses vom dem Zehnten, der bestimmten Menschen (GI) bzw. den Witwen, Waisen und Proselyten zusteht. Von Taten der Barmherzigkeit ist explizit die Rede in 1,16, wo sie zwar auch als Nahrungs- und Kleiderspenden gedeutet werden, sich jedoch hauptsächlich im Bestatten der Toten realisieren. Die Taten der Barmherzigkeit beschränken sich auf die Brüder des Stammes (1,16). In 4,7f wird ἐλεημοσύνη nicht in Verbindung mit Totenbestattungen gebracht, diese werden überhaupt nicht erwähnt. Im Sinne eines gemeinschaftsstiftendes Handelns fordert Tobit seinen Sohn auf seinen Besitz zu teilen. Während im Monolog 1,3–2,14 solche Taten der Barmherzigkeit kaum eine Rolle spielen, wird ihnen hier sogar eine soteriologische Bedeutung beigemessen: Sie retten vor dem Tod und lassen nicht in Finsternis gehen (4,10 GI). Die Anspielung auf seine Blindheit lässt auf eine Selbsteinschätzung Tobits schließen, dass er nicht genügend Almosen gegeben habe. In Blick auf das Verständnis von ἐλεημοσύνη hat also eine Entwicklung stattgefunden: Nicht das Bestatten der Toten, sondern das Teilen des materiellen Besitzes stabilisiert die Gemeinschaft. Dennoch ist die aus dem Monolog (besonders 2,11–14) vertraute Starrheit bzw. Rigidität auch hier wahrnehmbar. Der Adressatenkreis seines solidarischen Handelns hat Grenzen, er beschränkt sich auf Gerechte (4,6b) und Bedürftige (4,7). Menschen, die nicht 98 Zum gemeinschaftsstiftenden Potential der Barmherzigkeit, vgl. P. Deselaers, Buch 354.

Analyse 4,3–21: Tobits Lehrrede

67

gerecht handeln und nicht arm sind, gehören nicht zur Zielgruppe (vgl. auch 4,17). Allerdings sind es keine genealogischen Kriterien, die diese Gruppengrenzen definieren, sondern ethische bzw. soziale Maßstäbe. In den Ausführungen in 4,12–13 geht es um die Frage nach der geeigneten Ehefrau für Tobias. Diesem Topos kommt eine besondere Bedeutung zu, da er im Zentrum der Lehrrede platziert ist und das Gebot, eine Frau aus der eigenen Herkunftsgruppe zu wählen, der einzige Appell in der gesamten Lehre ist, der zweimal wiederholt wird. In 1,9 berichtet Tobit, dass er seine Ehefrau aus dem gemeinsamen Geschlecht ihres Vaters gewählt habe. Mit der fast identischen Formulierung aus 1,9 empfiehlt er in 4,12 seinem Sohn dieselbe endogame Praxis und markiert damit genealogische Gruppengrenzen. Die Termini σπέρμα (1.1.9) und φυλὴ (1,1.4.5) erinnern an den Beginn des Monologs und implizieren ein primordiales Gruppenverständnis. Der Vers 4,12a setzt jedoch ein mit der Warnung vor πορνεία, der Tobias am besten entgehen kann, indem er eine Frau aus dem Samen seiner Väter heiratet. Die negative Formulierung dieser Aufforderung in 4,12b findet eine weitere Verschärfung in der Beschränkung auf den Stamm Naphtali. D.h. jede Frau, die nicht zum Stamm Naphtali gehört, wird als fremd bezeichnet und scheidet damit als potentielle Ehefrau aus. Dieses sehr enge Verständnis von Endogamie und die indirekte Qualifizierung von exogamen Verbindungen als πορνεία99 liefern ein weiteres Beispiel dafür, dass Tobit seine Starrheit noch nicht abgelegt hat, mit der er in der Vergangenheit u. a. die Totenbestattungen betrieben hat.100 Tobit begründet diese Praxis mit der Aussage, dass er und Tobias in der Tradition der Propheten und der Erzväter stehen. Auf einen Hinweis auf die Tora wird verzichtet. Der Vers 4,13a wiederholt die Aufforderung, eine Ehefrau aus dem Kreis der eigenen Brüder zu wählen. Die Imperative, die Brüder zu lieben und sich nicht über sie zu erheben, bilden einen anderen Verständnishorizont als der Traditionshinweis in 4,12. Hier wird eine endogame Ehe verstanden als Ausdruck der Liebe der Gruppenmitglieder untereinander und des »Sich-nicht-Überhebens« über sie.101 In 4,13a äußert sich Tobit damit zum ersten Mal in seinen Reden über die Gestaltung der sozialen Beziehungen innerhalb seiner Bezugsgruppe.

99 Solche Aussagen finden sich außer im Buch Tobit nirgends im Alten Testament, vgl. G.D. Miller, Marriage 72. 100 »He is obsessed with tribe and family, as evidenced by the numerous references to ancestors […]«, D.D. McCracken, Narration 413. 101 Das Verb ἀγαπάω wird hier zum ersten Mal verwendet und in 13,15 wiederaufgegriffen. Die Personen, gegen die sich die abzulehnende ὑπερηφανίᾳ richtet, bezeichnet Tobit als Brüder und die Söhne/Töchter aus dem λαός. Diese Bezeichnung für die Gemeinschaft findet sich in der ersten Rede Tobits nicht, er verwendet sie wieder in 14,7 (GI).

68

Analyse der Rahmenreden

In 4,13b artikuliert Tobit die Einsicht, dass Überheblichkeit (ὑπερηφανία) die Ursache für Streit sei und er bringt sie in einen Zusammenhang mit Verderben (ἀπώλεια) und Streit (ἀκαταστασία). Die ὑπερηφανία steht für ihn auf derselben Ebene wie die Schlechtigkeit (ἀχρειότης), die wiederum zur Verarmung und Hunger führt. Tobit bezieht diese Eigenschaft nicht explizit auf seine eigene Person, jedoch für die Lesenden ist diese Zuschreibung aufgrund des Zusammenhangs mit 1,3–3,6 evident, schließlich führte sein eigenes überhebliches Verhalten Tobit in die Armut, zum Konflikt mit Hanna und in die Isolation. In Blick auf die Frage nach dem Zusammenhalt einer Gemeinschaft markiert Vers 4,13 einen Erkenntnisfortschritt: Die Berufung auf eine gemeinsame Herkunft (primordial) vermag die Gruppenstabilität nicht zu garantieren, es bedarf zusätzlich der Qualifizierung der Beziehungen der Gruppenmitglieder untereinander. Die positive Beziehungsgestaltung realisiert sich in der Liebe zueinander und negativ im Vermeiden von Überheblichkeit. In GII gilt der ethische Appell den Brüdern, mit denen ausgehend von 4,12b die Mitglieder des eigenen Stammes gemeint sind, während sich in GI mit der Unterscheidung zwischen den Brüdern und den Söhnen/Töchtern des λαός eine Ausweitung des Personenkreises andeutet. Wie in 4,5b–11 beschränken sich die Objekte der Imperative der Solidarität in dem Abschnitt 4,14–18 nicht auf die Mitglieder einer Gemeinschaft mit primordial konstruierten Gruppengrenzen. Es sind unterschiedliche Interaktionspartner, denen gegenüber Tobit ein bestimmtes Verhalten empfiehlt: Lohnarbeiter (4,14a), Andere (4,15a), Bedürftige (4,15b), Gerechte (4,17), Verständige (4,18). Die Objekte der Handlungsanweisungen sind nicht definiert über genealogische Zugehörigkeitskriterien, entscheidend ist vielmehr ihr sozialer Status bzw. ihr ethisches Verhalten. Die Themenabfolge in diesem Abschnitt erfolgt nicht beliebig, vielmehr stellt sie eine kohärente Fortführung von 4,13 dar und lässt eine Orientierung an der thematischen Gestaltung von 1,3–3,6 erkennen. Der Topos »Lohnzahlung« bildet einen positiven Gegenbegriff zu den in 4,13 genannten Termini »Mangel« und »Hunger« und bildet damit einen sinnvollen Anschluss: Über den Begriff μισθὸς wird eine konkrete Stichwortverbindung zu der Streitszene in 2,11–14 hergestellt. Die Termini γυνή, ὑπερηφανία und ἀκαταστασία rufen den Lesenden die Ziegenepisode in Erinnerung, in der Tobit seiner Ehefrau eben nicht den berechtigen Lohn ihrer Arbeit zugesteht und ihr stattdessen einen Diebstahl unterstellt. Der Konflikt zwischen Hanna und Tobit zeigt seine Überheblichkeit (ὑπερηφανία), vor der er in 4,13 eindringlich warnt, in sehr deutlicher Weise. In der Lehrrede stellt Tobit diesen Zusammenhang nicht explizit her, vielmehr überlässt er es Tobias und den Lesenden, in seiner Betonung der gerechten Lohnzahlung eine verdeckte Selbstkritik herauszuhören. In der sofortigen Entlohnung eines Arbeiters erkennt Tobit eine gute Erziehung (4,14c). Er sieht seinen Sohn der Rolle eines Arbeitgebers, für den gearbeitet wird und der

Analyse 4,3–21: Tobits Lehrrede

69

einen Lohn bezahlen kann, und nicht in der eines Arbeiters, der auf die Zahlung angewiesen ist. Die Forderung nach der angemessenen Lohnzahlung entspricht der sogenannten »Goldenen Regel«, die in 4,15 erstmals in der Bibel formuliert wird. Der auf der Beziehungsebene auf Reziprozität bedachte zwischenmenschliche Umgang kontrastiert stark mit dem aus 1,3–3,6 bekanntem Konfrontationsverhalten Tobits. In 1,10 ist es das Nichtbefolgen der Speisegebote, das Tobit dazu veranlasst, sich von seinen Brüdern zu distanzieren. Der Topos Nahrung wird nun auch hier aufgriffen, allerdings nicht um Tobias das Einhalten der Speisegebote einzuschärfen, auf die Tobit in 1,11 so großen Wert legt. Stattdessen warnt er ihn vor übermäßigem Konsum von Wein, der von den Speisegeboten nicht betroffen ist. Indem die folgende Aufforderung zu Brot- und Kleiderspende in 4,16a fast identisch formuliert ist wie die Aussagen in 1,17a, wird ein Bezug zur Episode in Ninive hergestellt. Diese Phase ist geprägt von der Abgrenzung Tobits von seiner Bezugsgruppe, die wesentlich den Vorwurf des Nichtbefolgens der Speisegebote durch die Brüder umfasst. Umso markanter fällt auf, dass im Kontext von 4,16a die Speisegebote gar nicht erwähnt, sondern durch das Weinthema ersetzt werden. Indem die Speisegebote, die in 1,11 den Anlass für Distanzierungstendenzen geben, hier nicht genannt werden, wird das abgrenzende Aussagepotential aus 1,10ff entschärft. Während sich in 1,16.17 aber der Kreis derer, denen die Brotund Kleiderspenden zukommen, auf die Brüder des Stammes reduziert, ist aus 4,16a keine Beschränkung auf bestimmte Bedürftige zu entnehmen. Im Gegenteil, mit dem Verb περισσεύω appelliert Tobit an die Großzügigkeit seines Sohnes, seinen Besitz zu teilen. Diese Großzügigkeit erfährt allerdings eine Einschränkung in 4,17, indem Tobit auf die Brotspenden anlässlich eines Begräbnisses zu sprechen kommt.102 Er übernimmt die Motivabfolge Nahrung-, Kleiderspende, Totenbestattung aus 1,16–18, die als Ausdruck barmherzigen Handelns gesehen werden, thematisiert aber statt des Beerdigungsakts das Verteilen von Brot, das im Anschluss an die Bestattung stattfindet. Wie in 4,16 spielt er über Stichwortverbindungen an die Rede von 1,3–3,6 an, setzt sich jedoch, indem er die Motive in einen anderen inhaltlichen Kontext präsentiert,103 wiederum von 1,3– 3,6 ab. Es findet sich allerdings auch hier eine ausgrenzende Aussagerichtung: So, wie sich Tobit nur zur Bestattung der verstorbenen Stammesbrüder verpflichtet 102 Inwieweit es sich bei diesen Brotspenden um eine Leichenmahlzeit (H. SchüngelStraumann, Tobit 103) oder eine Totenspeisung (M. Rabenau, Studien 61) handelt, wird kontrovers diskutiert. In der Logik des Perspektivenwechsels von der Fixierung Tobits auf die Toten zur Hinwendung zu den Lebenden verstehe ich diese Handlung im Sinne einer Leichenmahlzeit. 103 Im Motivbereich Nahrung werden die Speisegebote durch die Warnung vor Weinkonsum ersetzt. Das Motivfeld Totenbestattung wird nicht durch den Topos Beerdigung, sondern durch den der Leichenspeise aufgerufen.

70

Analyse der Rahmenreden

fühlt (1,17), soll sich Tobias nur um die Gräber der Gerechten kümmern (4,17). Entscheidend ist für das barmherzige Handeln das ethische Verhalten der Adressaten, Sünder sind von der Brotspende ausgeschlossen. Analog zu 4,7 spielen genealogische Verhältnisse keine Rolle. Der Höhepunkt der Veränderungsdynamik, die sich in der Rede Tobits an seinen Sohn entfaltet, findet sich in 4,18, wo es zu einem Wandel in der Einschätzung des Tobias kommt. Bis jetzt wurde Tobias immer als derjenige angesprochen, der über die Möglichkeiten verfügt, anderen zu helfen. Nun wird die Situation antizipiert, in der Tobias als ein Bedürftiger erscheint, der einen guten Rat braucht. Anders als der »alte« Tobit, der in seiner Überheblichkeit vor jeder »Ratlosigkeit« gefeit scheint, geht der Sprecher hier von der Begrenztheit des Einzelnen und seiner Verwiesenheit auf die Hilfe anderer Menschen aus. Der Einsicht in die eigene Begrenztheit folgt der Appell, Gott zu preisen. Schließlich ist er der einzige, der alle Pläne kennt (4,19). Während in 4,7–18 die Handlungsanweisungen für das Verhalten anderen Menschen gegenüber formuliert werden, geht es in 4,19 wie in 4,5 um die Beziehungsaufnahme zu Gott. Die zwischenmenschlichen Beziehungen, die sich durch solidarisches Verhalten auszeichnen, sind eingebettet in eine umfassendere Beziehung zu Gott. Die Gottesbeziehung realisiert sich im ethischen Handeln; überraschenderweise finden Wallfahrten und Kultpraxis im Gegensatz zu 1,6f in diesem Zusammenhang keine Erwähnung. In 4,20 löst Tobit nun abschließend sein Versprechen aus 4,2 ein, seinem Sohn vom Reichtum der Familie zu berichten. Sein wiedererlangtes Erinnerungsvermögen erlaubt es ihm, Tobias detailliert über die Größe des Vermögens zu informieren und die Person und den Ort zu benennen, wo er das Geld aufbewahrt hat. Tobits großes Interesse am Wiedererwerb seines Geldes kontrastiert mit seiner Forderung, den Armen Almosen zu spenden (4,7–10). Die eigenen Lehren an seinen Sohn scheinen für ihn selbst nicht vollständig zu gelten.

4.1

Auswertung

Wie die obigen Ausführungen deutlich zeigen, bildet 4,3–21 eine Entwicklung in Hinblick auf Tobits Gemeinschaftverständnis ab: Auf der einen Seite zeigt Tobit zwar die starre abgrenzende Haltung bestimmten Personen gegenüber, wie sie aus 1,3–3,6 bekannt ist; auf der anderen Seite jedoch sind Veränderungen erkennbar, die sich von seiner bisherigen Lebenspraxis deutlich abheben. Das Nebeneinander der ausgrenzenden Rigidität und der zunehmenden Öffnung kann in den einzelnen Geboten nachgewiesen werden. In 4,5b–11 kommt es einer Umdeutung des Terminus ἐλεημοσύνη: Sie realisiert sich nicht mehr im Bestatten von Toten, sondern in der Spende von Almosen. Die Auswahl

Analyse 4,3–21: Tobits Lehrrede

71

der Adressaten des solidarischen Handelns richtet sich nach ethischen, nicht nach genealogischen Kriterien. Damit werden primordiale Gruppengrenzen überschritten. Die aus 1,3–3–6 bekannte Starrheit Tobits begegnet hier jedoch wieder in der Reduktion des Adressatenkreises auf Gerechte und Bedürftige. Im Mittelteil seiner Rede 4,12–13 spricht Tobit wieder dezidiert der genealogischen Konstruktion von Gruppengrenzen das Wort. Er vertritt das Gebot der Endogamie mit einem extremen Exklusivitätsanspruch, da er Heiratspartner nur aus dem eigenen Stamm Naphtali akzeptiert. Bemerkenswerterweise beschränkt er aber seine Äußerungen nicht nur auf den formalen Aspekt der Gruppenbildung (Endogamie), sondern er thematisiert auch die Gestaltung der Beziehungsqualität im Binnenraum dieser primordialen Gemeinschaft. Das positive Miteinander, das seinen Ausdruck in gegenseitiger Liebe und in dem Vermeiden von Hochmut findet, stabilisiert die Gemeinschaft. Mit dieser Erkenntnis weist 4,13 einen Ausweg aus der Krise, wie sie in 1,3–3,6 ihren Verlauf nimmt. In den Versen 4,12.13 benennt Tobit also zwei Bedingungen, die für die Konstitution einer Gemeinschaft unerlässlich sind: Die Gruppe definiert sich über genealogische Beziehungsverhältnisse und setzt gleichzeitig bestimmte ethische Standards, die den Umgang der Gruppenmitglieder untereinander regeln. Die gemeinsame Abstammung garantiert in diesem primordialen Konzept zwar eine elementare »natürliche« Zugehörigkeit. Aber die den Binnenraum solcher Gemeinschaften auszeichnende Reziprozität wird aufgrund einer »natürlichen« Gleichheit der Mitglieder nicht einfach vorausgesetzt, sondern sie wird auf der Handlungsebene durch ethische Verhaltensappelle erst hergestellt. Für den Erhalt der Gruppenkohäsion bedarf es also neben der primordialen Codierung eines weiteren Konzepts von Gemeinschaftbildung. Die Thematisierung der ethischen Dimension zwischenmenschlichen Handelns sowohl innerhalb als auch außerhalb der Gemeinschaft stärkt die innere Gruppenkohäsion und führt zu einer Durchlässigkeit der Gruppengrenzen. Ein solches Konzept lässt sich innerhalb des Theoriemodells Giesens der universalistischen Codierung zuordnen. Das Kennzeichen einer solchermaßen codierten Gemeinschaft besteht gerade in der Offenheit für Außenstehende. Die Gemeinschaft konstituiert sich aufgrund einer gemeinsamen Überzeugung.104 Wie oben gezeigt wurde, setzt die Rahmung der einzelnen Lehren durch die beiden Imperative des Gedenken und Preisens Gottes diese in einen religiösen Deutungsrahmen. Die Beziehung zu Gott bildet den Horizont, innerhalb dessen sich solidarisches und gemeinschaftliches Verhalten entfalten. Von den drei Handlungsmaximen ἀλήθεια, δικαιοσύνη und ἐλεημοσύνη, wird ausschließlich der Aspekt der ἐλεημοσύνη ausführlich entfaltet. Solidarisches Handeln im Sinne der ἐλεημοσύνη bildet die Basis für das gelingende Miteinander einer Gemeinschaft. 104 B. Giesen, Identitäten 55.

72

Analyse der Rahmenreden

In den Versen 4,12.13 ist somit eine Überschneidung zweier unterschiedlicher Gruppenmodelle festzustellen, die jeweils verschiedene Modi der Grenzkonstruktion implizieren. Primordiale Codierungen ziehen exklusive Grenzen zwischen dem Innen- und Außenbereich der Gemeinschaft, die nicht überschritten werden können und damit undurchlässig sind. In universalistisch codierten Gemeinschaften hingegen wird gerade die Durchlässigkeit der Gruppengrenzen angestrebt, da die die Gemeinschaft konstituierende Grundüberzeugung Außenstehenden mitgeteilt und diese damit in die Gemeinschaft hingenommen werden können.105 Das widersprüchliche Nebeneinander von exkludierenden und inkludierenden Tendenzen wird in der Rede Tobits nicht aufgelöst. Diese Spannung bildet vielmehr das Zentrum (4,12.13) der Rede, das flankiert wird von den Aufforderungen zu solidarischem Handeln. Damit präsentiert 4,5b–21 zwei unterschiedliche Gemeinschaftsmodelle, deren jeweiligen Gruppengrenzen nicht kongruent sind. Diese Ambivalenz zwischen der Fixierung auf herkömmliche Denkmuster und dem Eröffnen von Veränderungsperspektiven spiegelt sich in der sprachlichen Gestaltung der Rede. Indem Motive aus 1,3–2,4 und 3,1–6 in 4,3–21 übernommen und dabei gleichzeitig verändert werden, stellt diese Art von Vernetzung zum einen die Kontinuität zum Bisherigen her und zum anderen deutet sie Entwicklungsprozesse an. Die allgemeinen Weisungen 4,5–19 folgen in der Motivabfolge dem Rededuktus aus 1,3–3–6. Beide Abschnitte verweisen zu Beginn mit dem Terminus πάσας τὰς ἡμέρας auf den verallgemeinernden Charakter ihrer Inhalte (1,3–4,5). Die Reihenfolge der jeweils folgenden Themen verläuft in paralleler Anordnung: 1,3 1,9 2,12 3,1–6

= = = =

4,5–11: 4,12.13: 4,14: 4,19:

ἀλήθεια, δικαιοσύνη und ἐλεημοσύνη Endogamie Lohn Hinwendung zu Gott

Das Einspielen von bekannten Motiven aus der ersten Rede geschieht nicht in völliger Übereinstimmung, sondern die einzelnen Topoi erfahren entscheidende Modifikationen: 1,17: 1,16: 1,9: 1,10:

Begräbnis der Stammesbrüder Bestattungen als ἐλεημοσύνη Endogame Heirat Verstoß gegen Speisegebote

⇒ ⇒ ⇒ ⇒

4,3–4: 4,5–11: 4,13: 4,15:

Begräbnis der Eltern Almosen als ἐλεημοσύνη Endogamie, Liebesgebot Warnung vor Weingenuss

In Hinblick auf die vernetzenden Funktionen verfügen die Verse 4,12.13 über eine semantische Scharnierstellung. In 4,12 verweist die Verwendung der beiden 105 Ebd. 56.

Analyse 5,11–17a: Dialog zwischen Tobit und dem Engel

73

Gemeinschaftsbezeichnungen σπέρμα und φυλὴ auf den Beginn von 1,3–2,14: σπέρμα der Väter 1,9, φυλὴ 1,1.4. Die Termini ἀγαπή, λαός werden in 4,13 zum ersten Mal genannt und in den folgenden Reden wieder aufgegriffen ἀγαπή 13,12 (GI), 13,14; λαός 14,7 (GI). Die für die Lesenden deutlich wahrnehmbaren Bezugnahmen der Reden 1,3– 2,14 und 4,3–21 aufeinander werden von Tobit weder reflektiert noch kommentiert. Er thematisiert die Unterschiede zwischen seiner Lebenslehre und seiner bisherigen Lebenspraxis nicht. Scheinbar ist er weiterhin »blind« gegenüber den Entwicklungen, die er selbst durchlaufen hat. Diese Entwicklung ist geprägt einerseits von dem Beharren auf alten Positionen und dem Eröffnen von neuen Perspektiven. Den Lesenden, die aufgrund ihrer bisherigen Leseerfahrung nur ein eingeschränktes Vertrauen in die Äußerungen Tobits haben dürften, sind nun mit der Frage konfrontiert, wie das Nebeneinander von Stagnation und Dynamik zu verstehen ist. So wie Tobias auf seiner Reise nach Rages auf einen Gefährten angewiesen ist, brauchen die Lesenden eine verlässliche Deutungsinstanz, die sie in diesem Prozess des Verstehens begleitet.

5.

Analyse 5,11–17a: Dialog zwischen Tobit und dem Engel

In der Redesequenz 5,11–17a tritt der Engel als die verlässliche Deutungsinstanz auf, die einen Hinweis zur Klärung der offenen Frage aus 4,3–21 gibt. Die Begegnung zwischen dem Engel und Tobit gestaltet sich als ein Dialog, der sich zwar nicht so einseitig entwickelt wie das Gespräch zwischen Tobit und Tobias, in dem aber dennoch die Redeanteile Tobits dominieren. Diesem Dialog kommt eine zentrale Bedeutung zu, denn er bildet das Mittelstück der konzentrischen Abfolge der zu untersuchenden Redeteile.106 Der Terminus μισθός stellt eine Stichwortverbindung zu den vorherigen Rahmenreden (2,14; 4,14) her. In den Redeeinleitungen des Dialogs wird nur der Name Tobits genannt, der Name des zweiten Sprechers bleibt unerwähnt. Dessen Identität offenbart der Erzähler (5,4) in der Sequenz (5,4–10), die dem Gespräch chronologisch vorausgeht. Sie ist in der Analyse von 5,11–16 mit zu berücksichtigen, da sonst nicht zu ermitteln ist, mit welcher Person Tobit in dem Dialog spricht. Zur Begegnung zwischen Tobit und dem Engel kommt es, weil Tobias die Person und den Ort nicht kennt, wo das hinterlegte Geld aufbewahrt ist, und deshalb ein kundiger Reisebegleiter gefunden werden muss (5,3). Nicht Tobit, sondern Tobias macht sich auf die Suche107 und trifft den Engel (5,4–10). In 5,4 wird ausdrücklich die Diskrepanz zwischen dem Leser- und dem Figurenwissen 106 Vgl. Einleitung dieser Arbeit. 107 Vgl. 2,2: Tobit schickt Tobias hinaus, um einen treuen Glaubensbruder zu suchen.

74

Analyse der Rahmenreden

hergestellt: Tobias sucht einen Menschen als Reisebegleiter und findet den Engel Raphael, den er als solchen aber nicht erkennt. In der Textversion GII befragt Tobias sein Gegenüber nach dessen Herkunft (πόθεν εἶ, νεανίσκε). Der Engel gibt in seiner Antwort keine lokale Auskunft, sondern er verweist auf seine Zugehörigkeit zu den Söhnen Israels, den Brüdern des Tobias (Ἐκ τῶν υἱῶν Ισραηλ τῶν ἀδελφῶν σου). Seine Anwesenheit begründet er mit seinem Vorhaben, arbeiten (ἐργατεύομαι) zu wollen. In seiner Rolle als junger Mann präsentiert er sich als einen geeigneten Reisebegleiter, der die Wege nach Medien kennt und bei Gabael schon übernachtet hat (5,6). Ein Zweifel an seiner Zuverlässigkeit klingt in 5,6 (GII) an. Weder die Angaben zur Reisedauer noch zu den geographischen Verhältnissen sind zutreffend.108 Anstatt den neuen Begleiter seinem Vater sofort vorzustellen, lässt Tobias ihn zunächst draußen warten (GI: ὑπομένω; GII: μένω), bis er Tobit über dessen Angebot informiert hat. Dieses Detail im Erzählverlauf dient der Charakterisierung des Engels in seiner menschlichen Rolle: Er reagiert mit Ungeduld auf das umständliche Verhalten des Tobias (5,8). Nach der Lektüre von 5,4–10 wissen die Lesenden, um wen es sich bei dem Gesprächspartner Tobits in 5,11–16 handelt. Der Sprecher ist ein Engel, der in der Rolle eines jungen Mannes auftritt, der nach Ninive gekommen ist um zu arbeiten. Mit den Angaben zu seiner sozialen Herkunft deutet er vage eine Verbindung zur Bezugsgruppe des Tobias/Tobits an. Allerdings übernimmt er nicht die Ausdrucksweise Tobits und verwendet statt der Rede von φυλή Νεφθαλιμ den Terminus Ἐκ τῶν υἱῶν Ισραηλ.109 Die Großspurigkeit, mit er über Sachverhalte spricht, die er eigentlich nicht kennt, und seine Ungeduld zeichnen ein realistisches Bild seiner Rolle als menschlicher Begleiter. Dieses Wissen über den Engel und seine Strategie im Umgang mit den Menschen steht den Lesenden zur Verfügung, nicht jedoch dem blinden Tobit. Ihm wird der Engel als ein möglicher Reisebegleiter vorgestellt, an dessen Person ihn ausschließlich die Stammeszugehörigkeit und die Zuverlässigkeit interessieren (5,10: ποίας φυλῆς ἐστιν καὶ εἰ πιστός ἐστιν). Tobits eingeschränkter Wissenshorizont spiegelt sich der literarischen Gestaltung der Redeeinleitungen des folgenden Dialogs, indem die Person des zweiten Sprechers nicht benannt wird. Diese Begegnung zwischen den beiden Sprechern wird in den beiden Textversionen GI und GII unterschiedlich dargestellt. GI berichtet knapp, dass Tobias den Begleiter ruft, dieser hineingeht und Tobit und er sich einander begrüßen (5,10).

108 Tatsächlich liegt Ekbatanta im Gebirge, ungefähr 2500 m höher als Rages. Die Entfernung zwischen den beiden Städten beträgt über 200 km. Vgl. A.-J. Levine, Diaspora 105–117. 109 Vgl. 13,3.

Analyse 5,11–17a: Dialog zwischen Tobit und dem Engel

75

GII hingegen entfaltet die Begegnung in einem eigenen Dialog, in dem entscheidende Eigenschaften der Sprechenden zum Ausdruck kommen. Der Engel/ Begleiter eröffnet den Dialog mit der Zusage von großer Freude (5,10a). Tobit nimmt diesen positiven Gesprächsimpuls nicht auf, sondern verweist darauf, dass er als Blinder keine Freude erleben könne. Die Bemerkung, dass er als ein Lebender unter den Toten die Stimme der Menschen zwar hören, die Menschen aber nicht sehen kann, verdeutlicht die Ahnungslosigkeit Tobits in Hinblick auf die Identität seines Gegenübers. Der Engel/Begleiter unternimmt einen weiteren Versuch, Tobit positiv zu stimmen, indem er ihm Gottes Beschluss mitteilt, dass er geheilt werden werde (5,10b). Eine solche Nachricht kann eigentlich nur ein Engel oder ein Bote Gottes überbringen, d. h. mit dieser Aussage offenbart der Engel/Begleiter indirekt seinen besonderen Status. Tobit überhört die gute Nachricht und erkundigt sich nach der Breitschaft seines Gesprächspartners, seinen Sohn auf seiner Reise zu begleiten. Dieser bietet sich wie schon in 5,4 als eine geeignete Person an. Die sprachliche Gestaltung seiner Zusage erinnert stark an Tobits eigene Rede in 1,3f. Die zweifache Nennung des Personalpronomens ἐγώ und die viermalige Verwendung von Formen von πᾶς im letzten Redeteil 5,10 wirken wie eine Imitation der Redeweise Tobits.110 Mit diesem Dialog, in dem Redeanteile Tobits dominieren und der Rede des Engels/Begleiters nur wenig Raum geben, bringt GII noch einmal den selbstbezogenen und starren Tobit in Erinnerung, wie ihn die Lesenden aus 1,3f. kennen. Die mehrfach erklärte Bereitschaft, dem Begleiter einen angemessenen Lohn zu zahlen, verweist zurück auf die Lebenslehre (4,14). In den folgenden Versen 5,11–13 präsentieren beide Textversionen eine ausgewogene Verteilung der Redeanteile Tobits und des Engels/Begleiters. Die knappen Redeanteile werden in GII jedes Mal mit καὶ εἶπεν αὐτῷ eingeleitet, während GI den Namen Tobits nennt.111 Jede Äußerung provoziert eine direkte Reaktion, wodurch sich das Gesprächstempo in dieser Sequenz steigert. Ab 5,14 verliert der Dialog wieder an Dynamik, da in GI nur noch Tobit spricht und in GII sein Redefluss nur einmal in 5,17 von dem Engel/Begleiter unterbrochen wird, wenn dieser verspricht, Tobias sicher zu begleiten und mit ihm wieder wohlbehalten zurückzukehren. Markanter als GI gestaltet GII die Verse 5,11–13 als den Höhepunkt des Gesprächs, der sich hinsichtlich der Kürze von den restlichen Dialogteilen abhebt. Tobit eröffnet die Redeeinheit (5,11) mit der Frage nach den Abstammungsverhältnissen seines Gegenübers. Dieses Interesse an genealogischen Zusammenhängen (πατριᾶς, φυλή) überrascht in Blick auf die Lebenslehre 4,12 nicht. Beindruckend ist das Selbstbewusstsein Tobits, mit dem er die gewünschte In110 Vgl. D.D. McCracken, Narration 410. 111 Außer GI 13,1: ὁ δὲ εἶπεν ….

76

Analyse der Rahmenreden

formation einfordert (ὑπόδειξόν μοι). Die Textversionen GI und GII präsentieren zwei unterschiedliche Formulierungen der Reaktion des Engels/Begleiters, die jedoch beide in dieselbe Richtung weisen. In GI fragt der Engel/Begleiter, ob Tobit einen Mann aus seinem Stamm bzw. ein Vaterhaus suche oder einen Lohnarbeiter, der seinen Sohn begleiten wird. Die disjunktive Konjunktion ἢ macht deutlich, dass es sich bei den genannten Anliegen um zwei verschiedene, alternative Optionen handelt, die nicht ohne Weiteres miteinander kompatibel sein müssen. Für den Engel/Begleiter bedeutet das Kriterium der angemessenen Abstammung keine Garantie für die Befähigung, ein guter Begleiter für Tobias zu sein. Aus der primordialen Zuordnung einer Person kann nicht auf das gewünschte soziale Verhalten geschlossen werden. Dieses kann eher durch Beauftragung und angemessene Bezahlung eingefordert werden (μίσθιος). In GII verläuft die Argumentation des Engels/Begleiters anders: Nachdem er in 5,10 Tobit zugesichert hat, die Begleitung seines Sohnes zu übernehmen, wirkt Tobits Aufforderung in 5,11 wie ein Affront. Er hat offenbar kein Vertrauen in die Zusage seines Gegenübers und verlangt stattdessen die Auskunft über dessen Abstammungsverhältnisse. Die Unangemessenheit dieser Forderung bringt der Engel/Begleiter mit der knappen Gegenfrage zum Ausdruck: Τί χρείαν ἔχεις φυλῆς? Tobit überhört die kritische Anfrage und besteht in seiner knappen Antwort auf seiner Forderung, die Abstammung und den Namen des Engels/Begleiters zu erfahren. Dieser schnelle Sprecherwechsel ist singulär im gesamten Dialogkontext von 5,1–17 und steigert die Spannung. In GI überrascht die Antwort der Engels/Begleiters (5,13): Er behauptet von sich, Asarja, der Sohn des Ananjas zu sein. Die Spontanität, mit der Engel eine neue Identität annimmt, kommt nicht ganz unerwartet, Seine Ungeduld (5,8) und Verärgerung (5,14) lassen auf eine angespannte Gesprächsatmosphäre schließen. Der Engel/Begleiter scheint von Tobits Starrheit genug zu haben und fügt sich nun in dessen Interessenhorizont. Diese Deutung wird gestützt von GII, wo ausführlich die vergeblichen Versuche geschildert werden, Tobit im Gespräch von seinem bevorstehenden Heilungsprozess zu überzeugen. Das Medium des Gespräches erweist als ungeeignet, um Tobits »Augen zu öffnen«. Diese Erkenntnis veranlasst den Engel/Begleiter zu dem Entschluss, sich als der Sohn eines Bruders Tobits auszugeben, um endlich von Tobit als Begleiter akzeptiert zu werden. Er nimmt Abstand von seinem ursprünglichen Vorhaben, als Arbeiter in den Dienst Tobits zu treten (5,5). Tobit ist sehr zufrieden mit der Antwort des Engels/Asarjas. Er glaubt, den Sohn eines Verwandten vor sich zu haben, der mit ihm Wallfahrten nach Jerusalem unternommen hatte. Diese Aussage widerspricht den Behauptungen Tobits in 1,4.6, wonach der gesamte Stamm Naphtali abgefallen sei und er als einziger die Reise unternommen hätte. Tobit nimmt diesen Widerspruch nicht zu Kenntnis, stattdessen versichert er Asarja seiner würdigen Herkunft. Zu dieser

Analyse 5,11–17a: Dialog zwischen Tobit und dem Engel

77

Hochschätzung der Familie Asarjas passen die Zahlungsmodalitäten nicht, die Tobit im Folgenden vorschlägt: Den vollständigen Lohn wird Asarja erst nach der erfolgreichen Rückkehr erhalten. Obwohl diese Regelung ironischer Weise ein eher geringes Vertrauen Tobits in die Zuverlässigkeit des Begleiters vermuten lässt, einigen sich der Engel/Asarja und Tobit auf die Vereinbarung und die Reise kann beginnen. Der Dialog 5,11–16 bietet eine Gesprächssituation, die nach Robert Alter als ein »contrastive dialogue« bezeichnet werden kann. Das Vertreten zweier unterschiedlicher Positionen ermöglicht eine pointierte Charakterisierung der Sprecher. »The contrastive form of the dialogue, which has a certain element of grim comedy, dramatizes the profound difference in character between the two speakers.«112 In der Redesituation treffen zwei unterschiedliche Akteure aufeinander: Der alte, blinde Tobit begegnet einem tatkräftigen jungen Mann. Mit seinen langen Redeanteilen dominiert jedoch Tobit das Gespräch nicht nur quantitativ, auch inhaltlich übernimmt er die Gesprächsführung. Er setzt sein Interesse durch, einen Begleiter mit einer angemessenen Abstammung zu finden. GI zeichnet die Ambivalenz seiner Persönlichkeit deutlicher als GII. Vor die Alternative gestellt, einen den Angehörigen eines bestimmten Stammes oder einen Lohnarbeit zu suchen (5,12), entscheidet sich Tobit wortreich für die erste Option, um dann dennoch Lohnverhandlungen zu führen (5,15). Im Gegensatz dazu gestaltet sich der Auftritt des Engels/Begleiters auffallend zurückhaltend. In GI bekommt er zwei und in GII vier Gelegenheiten für einen kurzen Redeanteil. Sein ursprüngliches Ziel, die Rolle eines Arbeiter zu spielen (GII: 5,5), muss er aufgeben und fügt sich stattdessen der Vorstellung Tobits, dass nur ein Stammesbruder die gewünschte Zuverlässigkeit gewährleisten könne. Die Authentizität, mit der der Engel seine menschliche Rolle angenommen hat, erschließt sich indirekt aus der Bemerkung Tobits über den Ärger seines Gegenübers, den Tobit mit seinem Beharren auf das Vaterhaus bei diesem ausgelöst hat (5,14). Die Charakterisierungen der beiden Sprecher widerlaufen gängigen Vorstellungen von der Interaktion zwischen einem alten, hilflosen Mann und einem Engel, selbst wenn dieser als Mensch auftritt: Tobits Starrsinn erweist sich als so stark, dass er sogar die Pläne eines Engels zu durchkreuzen vermag.

5.1

Auswertung

Der Dialog zwischen dem Engel/Begleiter und Tobit zeigt deutlich, dass Tobit weiterhin auf genealogische Zugehörigkeitskriterien fixiert ist. In Blick auf ein verantwortungsvolles Handeln gehören für ihn Aspekte der angemessenen 112 R. Alter, Art 92.

78

Analyse der Rahmenreden

Stammeszugehörigkeit und der Zuverlässigkeit untrennbar zusammen (5,9). Die Frage des Engels/Begleiters in 5,12 weckt jedoch Zweifel, inwieweit der Nachweis einer Abstammungslinie mit einem bestimmten Verhalten in Zusammenhang gebracht werden kann. Sie relativiert die Bedeutung primordialer Kategorien für die Gestaltung sozialer Prozesse. Damit fasst der Engel/Begleiter in seiner Anfrage in prägnanter Weise die Problematik aus 1,3–2,14 zusammen: Der Rückgriff auf primordiale Gemeinschaftsmuster vermag nicht das Gelingen zuverlässiger Beziehungen zu garantieren.

6.

Analyse 12,6–20: Selbstoffenbarung des Engels

Die fünfte Sequenz besteht aus der Rede des Engels 12,6–20, die in der spiegelbildlichen Anordnung der Redeanteile das Pendant zu Tobits Lehrrede in 4,3–21 bildet. Im Folgenden soll zunächst die Rede in Hinblick auf Aussagen zu Gemeinschaftskonzepten analysiert werden. Anschließend wird das Verhältnis der beiden Lehrreden zueinander untersucht, indem Übereinstimmungen und Divergenzen herausgearbeitet werden. Die Personenkonstellation der Sprechsituation 12,6–20 ähnelt der Präsentation der Sprecher in 4,1–3a: Tobit ruft seinen Sohn, um mit ihm finanzielle Angelegenheiten zu besprechen (4,1.2: Mitteilung über das hinterlegte Silber ἀργύριον; 12,1: Verhandlung über den Lohn μισθός). In Blick auf die dominante Rolle Tobits in 4,3–21 ist aber nun ein entscheidender Unterschied festzustellen: In dem kurzen Dialog zwischen Vater und Sohn überwiegen die Redeanteile des Tobias. Er ist derjenige, der die Entscheidung fällt, dem Reisebegleiter mehr als den versprochenen Lohn zu zahlen. Tobit stimmt seinem Sohn ohne Einwände zu und er ruft den Begleiter. Weder Tobias noch Tobit, der den Engel/Asarja seit ihrer einzigen Begegnung zum ersten Mal wiedertrifft, ahnen etwas über die wahre Identität des Reisebegleiters. Tobit spricht in Bezug auf ihn einfach nur von ἄνθρωπος. Aber nicht nur Tobias, auch der Engel/Asarja hat an Souveränität gewonnen und lässt sich nicht mehr wie in 5,10 einfach rufen. In 12,6 agiert er als das handelnde Subjekt, das das Treffen veranlasst und auch die Rahmenbedingungen bestimmt. Das Gespräch soll heimlich (κρυπτῶς) unter Ausschluss anderer möglicher Zuhörer stattfinden. Bezeichnenderweise gilt die Aufforderung des Engels/Asarjas sowohl dem Vater als auch dem Sohn, d. h. seine folgende Ansprache richtet sich nicht ausschließlich an Tobit. Die Rede der Engels 12,6b–20 wird in 12,16 durch einen narrativen Einschub unterbrochen. Der erste Abschnitt 12,6b–15 fordert die Adressaten auf, Gott zu preisen und Gutes zu tun. Diesen Imperativen folgt die Selbstoffenbarung des Begleiters als der Engel Raphael. Der Wechsel auf die Handlungsebene in 12,16 berichtet von der Reaktion des Tobit und des Tobias auf das Gehörte. Diese

Analyse 12,6–20: Selbstoffenbarung des Engels

79

wiederum veranlasst den Engel/Raphael im zweiten Teil 12,17–20 seine Botschaft zu wiederholen und um die Aufforderung zu ergänzen, dass Tobit und Tobias ihre Erlebnisse aufschreiben sollen. 12,6b–15: Selbstoffenbarung als Engel Raphael 12,6b–7a: Aufforderung, Gott zu preisen und zu danken 12,7b–10: Aufforderung, Gutes zu tun 12,11–15: Selbstoffenbarung als Engel Raphael 12,16: narrativer Einschub: Reaktion des Tobit und des Tobias auf die Selbstoffenbarung 12,17b–20: Verkündigungsauftrag 12,17–18: Aufforderung, Gott zu preisen 12,19: Selbstoffenbarung als ὅρασις 12,20: Aufforderung, Gott zu danken und Geschehnisse aufzuschreiben

6.1

12,6b–15: Selbstoffenbarung als Engel Raphael

Der Beginn der Rede des Engels/Asarja 12,6b kann als Ausdruck der ihm zustehenden Souveränität gedeutet werden, da er auf das Lohnangebot Tobits nicht antwortet, sondern unvermittelt einen Themenwechsel vollzieht und seine Zuhörer auffordert, Gott zu preisen und zu danken. Der Vorgang des Lobens und Dankes soll öffentlich geschehen und zwar ἐνώπιον πάντων τῶν ζώντων. Nicht nur Tobits bzw. Tobias’ direkte Umgebung soll Zeuge für das Preisen sein, sondern alles Lebendige. Die Aufforderung des Preisens überschreitet das konkrete soziale Umfeld Tobits. Als Begründung für das Danken führt der Sprecher nicht die glückliche Fügung des persönlichen Schicksals seiner beiden Adressaten an, sondern er spricht in GII pauschal von dem Guten ἀγαθά, das Gott ihnen getan hat. Das Ziel des Dankens besteht im Preisen und Rühmen des Namen Gottes (vgl. 13,11). GI bezieht den Terminus ἀγαθὸν auf das Danken Gottes und Erhöhung seines Namens. In beiden Versionen realisiert sich das Preisen im Verkünden der τοὺς λόγους τοῦ θεοῦ (GII) bzw. der τοὺς λόγους τῶν ἔργων τοῦ θεοῦ (GI). Dem Imperativ, Gott zu preisen, folgt in 12,7b die zweite Aufforderung des Engels/Asarjas an seine Zuhörer, nämlich Gutes zu tun: τὸ ἀγαθὸν ποιεῖτε (GII), bzw. ἀγαθὸν ποιήσατε (GI). Es geht nun nicht mehr um das Verkünden der Werke Gottes, sondern um eine bestimmte ethische Praxis. Im Sinne einer Begründung führt der Engel/Asarja ein weisheitliches Argument an: Denjenigen, der das Gute tut, wird das Böse nicht finden. In 12,8 präzisiert der Engel/Asarja den Inhalt seiner abstrakten Forderung: Das Gute bedeutet ein Gebet mit Wahrheit und Almosen mit Gerechtigkeit: ἀγαθὸν προσευχὴ μετὰ ἀληθείας καὶ ἐλεημοσύνη μετὰ δικαιοσύνης (GII) bzw. ein Gebet mit Fasten, Almosen und Gerechtigkeit ἀγαθὸν

80

Analyse der Rahmenreden

προσευχὴ μετὰ νηστείας καὶ ἐλεημοσύνης καὶ δικαιοσύνης (GI). In beiden Textversionen wird in Bezug auf die Deutung des Terminus ἀγαθὸν zuerst das Gebet genannt, das dann allerdings unterschiedlich gefüllt wird. In GII folgt der aus 1,3; 4,6.7 bekannte Dreiklang ἀλήθεια, δικαιοσύνη und ἐλεημοσύνη. Diese Termini stehen nicht gleichberechtigt nebeneinander, sondern sie erfahren eine bestimmte Zu- bzw. Unterordnung: Die Vokabel ἀλήθεια dient der Erläuterung des »guten« Gebets und δικαιοσύνης beschreibt ein angemessenes Spenden von Almosen. Das Gute in GII konzentriert sich damit auf zwei Handlungsweisen, einmal das Gebet (mit Wahrheit) und das Almosenspenden (mit Gerechtigkeit). GI hingegen fokussiert ausschließlich das Gebet, dessen Charakter durch die Reihung der Termini νηστεία, ἐλεημοσύνη und δικαιοσύνη beschrieben wird. Es ist auffallend, dass GI die ἀλήθεια durch die Praxis der νηστεία ersetzt. Der Ausdruck wird im gesamten Buch nur ein einziges Mal, und zwar an dieser Stelle, verwendet. Hier zeigt sich wieder die aus 4,15 bekannte Strategie, die Lesererwartung mit unerwarteten Inhalten zu konfrontieren.113 Gemeinsam ist beiden Textversionen die Deutung des ἀγαθὸν als ein Beziehungsgeschehen, das sich im Gebet in der Beziehung zu Gott und in den zwischenmenschlichen Beziehungen realisiert, die sich durch Barmherzigkeit und Gerechtigkeit auszeichnen. Noch deutlicher als GII betont GI den Vorrang des Gebets vor dem gemeinschaftlichen Verhalten; das Handeln an den anderen Menschen ist eingebettet in das Verhältnis zu Gott. Damit bildet das ἀγαθὸν die Grundlage für ein gemeinschaftliches Handeln, das sich in der Gottesbeziehung gründet und geprägt ist Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. 12,8b (GI) wiederholt den Terminus ἀγαθὸν und betont in seiner Erläuterung den Aspekt der δικαιοσύνη, der in der materiellen Quantität von Spenden, die aus einer ungerechten Gesinnung gegeben werden, keine Alternative zu gerechtem Handeln sieht. GII verwendet stattdessen den Komparativ μᾶλλον, um den Vorzug des barmherzigen Handelns gegenüber dem Reichtum aus Ungerechtigkeit zu formulieren. Das Fazit, das beide Textversionen aus ihrer Argumentation ziehen, nämlich dass es besser sei, Almosen zu geben als Gold anzuhäufen, steht in ironischer Spannung zu dem Umstand, dass es gerade der geplante Rückerwerb eines großen Geldvermögens ist, der auf der Handlungsebene die Geschichte in Gang setzt. Die Hochschätzung der ἐλεημοσύνη begründet der Engel/Asarja in 12,9a mit ihrer soteriologischen Bedeutung: Sie errettet vor dem Tod und reinigt von jeder Sünde. Er beendet diesen Redeabschnitt mit einer knappen Zusammenfassung seiner bisherigen Lehre, indem er zwei Aussagen gegenüberstellt: Diejenigen, die barmherzig handeln werden, mit Leben gesättigt (GII: χορτάζω) bzw. erfüllt werden (GI: πολέμιοί εἰσιν). Die Sünder und Ungerechten hingegen sind Feinde ihrer eigenen Seele und ihres Lebens. 113 Vgl. Anmerkung 103 dieser Arbeit.

Analyse 12,6–20: Selbstoffenbarung des Engels

81

Der dritte Redeabschnitt beginnt in 12,11 mit einem Themenwechsel, den der Engel/Asarja mit der Aussage ankündigt, nun nicht mehr die ganze Botschaft zu verbergen (GI: οὐ μὴ κρύψω ἀφ’ ὑμῶν πᾶν ῥῆμα) bzw. die ganze Wahrheit mitzuteilen (GII: πᾶσαν τὴν ἀλήθειαν ὑμῖν ὑποδείξω καὶ οὐ μὴ κρύψω ἀφ’ ὑμῶν πᾶν ῥῆμα). Das bedeutet, auch die vorherigen Äußerungen in 12,6b–10 sind ein Bestandteil seiner Botschaft, die jedoch nun vollständig geoffenbart werden soll. Zunächst rechtfertigt er seine bisherige Zurückhaltung in Bezug auf die gesamte Wahrheit, indem er den Vergleich im Umgang mit den Geheimissen des Königs und den Werken Gottes aus 12,7 wiederholt. Dann erklärt er in 12,12, dass er es war, der die Gebete Tobits und Saras (τὸ μνημόσυνον τῆς προσευχῆς ὑμῶν) vor Gott brachte. In beiden Textversionen findet sich das Personalpronomen ἐγὼ, das die aktive Beteiligung des Engels an den Geschehnissen betont. Die Erwähnung Saras an dieser Stelle macht deutlich, dass nicht Tobit allein im Fokus der Aufmerksamkeit des Engels steht, sondern dass sich seine Unterstützung auch an andere richtet. In 12,12b (GII) berichtet der Engel, dass er nicht nur das Gedächtnis des Gebets Gott übermittelte, sondern auch während der Totenbestattungen Tobits anwesend war. Der Vers 12,14 spielt konkret auf die Bestattungsszene in 2,4f an, die GII als eine Erprobung Tobits (πειράζω) deutet. GI präzisiert die Ausführungen von GII, indem in 12,12 von der Nähe des Engels bei den Totenbestattungen allgemein und konkret während der Bestattung am Pfingstfest (12,13) gesprochen wird. Diese Erkenntnis über die ständige Anwesenheit des Engels ist auch für die Lesenden überraschend. Deutlicher als GII qualifiziert GI in 12,13 die Bestattung aus 2,4f als eine gute Tat: οὐκ ἔλαθές με ἀγαθοποιῶν. Nachdem der Engel nun seine Rolle als Übermittler und seine schon länger andauernde Präsenz geoffenbart hat, enthüllt er in 12,14 seinen eigentlichen Sendungsauftrag, der in der Heilung Tobits und Saras besteht. Den Höhepunkt der Selbstoffenbarungsrede bildet in beiden Textvarianten die Aussage in 12,15, in der sich der Engel als einer der sieben Engel vorstellt, die vor die Herrlichkeit des Heiligen (GI) bzw. Herrn (GII) treten: ἐγώ εἰμι Ραφαηλ. Die Dramatik dieser Enthüllung spiegelt sich in dem Wechsel von der Sprechauf die Handlungsebene. Raphaels Rede erfährt eine Zäsur in 12,16–17a, wo von der spontanen Reaktion Tobits und Tobias’ (οἱ δύο) erzählt wird. Sie erschrecken, fallen auf ihr Angesicht und fürchten sich. Von einer verbalen Äußerung berichtet der Erzähler nichts.

82 6.2

Analyse der Rahmenreden

12,17b–20: Verkündigungsauftrag

Nach der Zusicherung, dass die Zuhörer sich nicht zu fürchten brauchen, und der Friedenverheißung, wiederholt Raphael in 12,17b seine Aufforderung, Gott zu preisen. Anders als in 12,6, wo das Preisen und Danken durch die Wohltaten Gottes motiviert wird, verweist 12,18 auf den Willen Gottes, der Raphaels Handeln rechtfertigt. Es war Gottes Entscheidung, ihn mit dem Auftrag der Heilung zu schicken. Nach dem Appell zu preisen folgt in 12,19 die Selbstoffenbarung Raphaels. Alle Tage (GI: πάσας τὰς ἡμέρας) war er als Vision (ὅρασις) zu sehen, deren Besonderheit darin bestand, dass sie weder aß noch trank.114 Zum Abschluss seiner Rede in 12,20 fordert er wieder zum Danken auf, er verabschiedet sich und beauftragt die beiden Zuhörer, die Geschehnisse, die ihnen widerfahren sind, aufzuschreiben. Es ist nicht seine Aufgabe, die Werke Gottes zu verkünden (12,6), sondern diejenigen, denen Gott Gutes getan hat, sollen öffentlich dafür danken. Das Verkünden soll in schriftlicher Form geschehen: GI: γράψατε πάντα τὰ συντελεσθέντα εἰς βιβλίον. GII: γράψατε πάντα ταῦτα τὰ συμβάντα ὑμῖν. Die Verschriftlichung des Lobpreisens verleiht ihm eine Dauer, die ihn einem weiteren Adressatenkreis sowohl in der Gegenwart als auch in der Zukunft zugänglich macht. Damit erfüllen Tobit und Tobias zumindest im Ansatz das Gebot, Gott vor allen Lebewesen zu danken.

6.3

Auswertung

Raphaels Offenbarung kreist um die Beziehung zwischen Gott und den Menschen und den Menschen untereinander. Das von ihm entworfene Beziehungsgefüge ist theozentrisch ausgerichtet, da es die erste Aufgabe der Menschen ist, Gott zu preisen und zu danken. Die angemessen Praxis des Preisens geschieht im Gebet, das von einem Handeln im Sinne der Wahrheit/Fastens, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit begleitet wird. Die positive Beziehung zu Gott spiegelt sich im solidarischen Miteinander der Menschen. Der Adressatenkreis des Verkündigungsauftrags beschränkt sich nicht auf das Umfeld der aktuellen Zuhörer seiner Rede, sondern alle Menschen und Lebewesen sollen von Gottes Werken erfahren und ihm danken. Damit beschreibt Raphael eine Gemeinschaft, die sich in der Beziehung zu Gott gründet und deren zwischenmenschliches Verhältnis von Solidarität und Gerechtigkeit geprägt ist. Der Sprecher macht in Blick auf die Personen, die als Objekte für das solidarische Handeln in Betracht kommen, keine Einschränkungen. Er öffnet die Gemeinschaft in einen universellen Kon114 In 6,5 verspeist der Engel mit Tobias gemeinsam den Fisch.

Analyse 12,6–20: Selbstoffenbarung des Engels

83

text hinein, in dem die Werke Gottes erfahrbar werden. Diese Vorstellung von Gemeinschaft kann in der Theorie Bernhard Giesens über kollektive Identitäten der universalistischen Codierung zugeordnet werden.115 Das gemeinschaftskonstituierende Bekenntnis zum Heiligen impliziert, dass es keine unüberwindbaren Gruppengrenzen gibt.116 Die universalistische Ausrichtung der Rede Raphaels, die die Gemeinschaft für alle Menschen öffnet, kontrastiert mit der Undurchlässigkeit der primordialen Grenzkonstruktionen, wie sie in Tobits Monolog 1,3–2,4 wahrnehmbar sind. Die Heimlichkeit, mit der Raphael sich Tobit und Tobias offenbart, entspricht im universalistischen Modell der Exklusivität, die bestimmte Gemeinschaftsmitglieder zu identitätsstarken Offenbarungsträgern macht, die das geoffenbarte Wissen den dem Zentrum Fernstehenden mitteilen.117 Der Vergleich zwischen der Rede Raphaels 12,6–20 und der Lehrrede Tobits 4,3–21 ergibt neben Unterschieden jedoch auch Gemeinsamkeiten: Es finden sich Übereinstimmungen in der Verwendung der Leitbegriffe ἀλήθεια, δικαιοσύνη und ἐλεημοσύνη, und ihrer theologischen Kontextualisierung. Beide Sprecher begegnen der Barmherzigkeit, der sie eine soteriologische Bedeutung zuerkennen, mit besonderer Hochschätzung. Auch Tobit fordert ein bestimmtes ethisches Verhalten gegenüber seinen Brüdern (4,13) und erwartet von Tobias einen gerechten und großzügigen Umgang mit anderen (4,14f). Die Zielgruppe des solidarischen Handelns besteht aber aus einem bestimmten Personenkreis, der andere Menschen ausgrenzt. Außerdem beharrt Tobit auf exklusive Zugehörigkeitskriterien, da er nur endogame Ehen akzeptiert (4,12). Da Raphael jedoch in der Gottesbeziehung, und nicht in genealogischen Zusammenhängen, die entscheidende gemeinschaftsstiftende Größe erkennt, thematisiert er den Topos Endogamie nicht. Die tragende Gottesbeziehung wird durch Medium des Gebets aufrechterhalten, das wiederum in der Lehre Tobits keine herausragende Bedeutung hat. In Blick auf das in 4,3b–19 beschriebene Nebeneinander eines »exkludierenden« und »inkludierenden« Gemeinschaftsmodells bezieht Raphael eine eindeutige Position zugunsten des letzteren.

115 B. Giesen, Identitäten 54f. 116 Die grundsätzliche Offenheit einer universalistisch codierten Gemeinschaft befördert nach B. Giesen eine expansive Inklusionsdynamik, die den Außenstehenden nicht das Recht zugesteht, außerhalb der Gemeinschaft zu bleiben. Schließlich werden alle Außenseiter als potentielle Mitglieder wahrgenommen, die es zu bekehren gilt, vgl. ders., Identitäten, 56f. Die Rede des Engels 12,6–20 enthält jedoch keinen Hinweis auf eine solche »intolerante« Haltung Fremden gegenüber. 117 Vgl. ebd. 57.

84

7.

Analyse der Rahmenreden

Analyse 13,1b–18: Tobits Lobgebet

In 13,1b–18118 antwortet Tobit auf die Ansprache Raphaels (12,6–20). Die explizite Benennung dieser Rede als Gebet (προσευχή) und ihre Positionierung in der Redeabfolge setzt sie in ein Gegenüber zu Tobits Gebet in 3,1–6. Nachdem Raphael seinen Status als Engel geoffenbart und seine Botschaft verkündet hat, reagieren Tobit und Tobias zunächst mit Erschrecken und Sprachlosigkeit. Erst nach der Aufforderung, das Geschehene aufzuschreiben, äußert sich Tobit zu dem Gehörten. Der Schreibauftrag ist in der 2. Person Plural (γράψατε) formuliert und richtet sich damit sowohl an Tobit als auch an Tobias. Die offene Formulierung in 12,20, das »Geschehene« (GI: τὰ συντελεσθέντα; GII: πάντα ταῦτα τὰ συμβάντα ὑμῖν) aufzuschreiben, überlässt es Tobit, diesen Terminus zu deuten und ihn inhaltlich zu füllen. 12,14 GI formuliert das Objekt des Schreibauftrags mit einer Partizipform des Verbes συντελέω, in dem der Aspekt der Vollendung bzw. des Abschlusses anklingt. Worin nun für Tobit die Vollendung besteht, zeigt sich in der Wahl des Themas seines Gebetes: Anstatt für die Heilung seiner blinden Augen zu danken, entwirft er das Bild einer Gemeinschaft, die Gott lobt und preist. In 13,1a (GI) ist ausdrücklich von einem Jubelgebet (προσευχή εἰς ἀγαλλίασιν) die Rede, das Tobit zunächst aufschreibt und dann spricht, während die Textversion GII nur von dem Vorgang des Sprechens berichtet. Die Hauptintention des Gebetes besteht in der Aufforderung der Zuhörenden, Gott zu loben. Ein Adressatenwechsel in 13,8.9 gliedert es in zwei Abschnitte: Der erste Teil appelliert an die Söhne Israels υἱοὶ Ισραηλ (13,1–7), im zweiten Teil gilt die Aufforderung der Stadt Jerusalem (13,8.9–18). Es scheint sinnvoll, für GI die Zäsur zwischen 13,7 und 13,8 vorzunehmen, da in 13,8 mit der Erwähnung Jerusalems ein neues Thema eingeführt wird. Für GII ist es angemessener, den zweiten Gebetsteil in 13,9 beginnen zu lassen, da ein Übergangsvers wie in 13,8 GI fehlt.119 Strophenaufbau 13,1–7:

Lob der υἱοὶ Ισραηλ 13,1b–4: Macht und Größe Gottes, Lobappell 13,5–6d: Zuwendung Gottes: μαστιγοῖ καὶ ἐλεᾷ, Sammelbewegung, Lobappell 13,6e–7: Tobits Selbstaufforderung zu loben 13,9–18: Lob der Stadt Jerusalem 13,9–10: Zuwendung Gottes: μαστιγοῖ καὶ ἐλεᾷ, Lobappell 13,11: Sammelbewegung 13,12–14: Ab- und Zuwenden der Menschen, Lobappell 13,15–18: Tobits Selbstaufforderung zu loben

118 Die Verse 13,6i–10b fehlen in der Textversion GII. Nach Ch.J. Wagner kann diese Auslassung plausibel auf eine aberratio oculi von 13,6 h auf 13,10c zurückgeführt werden. Vgl. Ch. J. Wagner, Tobit-Synopse XIV. 119 Zur Diskussion der Zweiteiligkeit von 13,1b–18 vgl. A. Strotmann, Vater 24–58.

Analyse 13,1b–18: Tobits Lobgebet

7.1

85

13,1–7 Lob der υἱοὶ Ισραηλ

Der Aussageschwerpunkt der ersten Strophe 13,1b–4 liegt auf der Macht und Größe Gottes. Er ist derjenige, in dessen Hand das Schicksal der Menschen liegt und dem keiner entfliehen kann. Diese Allmacht und Unverfügbarkeit Gottes, die hier über die konkrete Situation hinausgeht, betont die Transzendenz Gottes,120 wie sie auch in 3,16f und 12,15 angedeutet wird. Gott hört die Gebete Tobits und Saras, er weiß um die Totenbestattungen Tobits und es geschieht nach seinem Willen, dass den beiden geholfen wird. Jedoch für die Kommunikation zwischen Gott und den Menschen bedarf es eines Mittlers, des Engels Raphael. Die angemessene Reaktion auf die Größe Gottes ist das Preisen εὐλογέω (13,1b). Der Grund für die Freude über ihn liegt in seiner Zuwendung den Menschen gegenüber, die der Sprecher mit der polaren Formulierung μαστιγοῖ καὶ ἐλεᾷ umschreibt (13,2). Die Reihenfolge dieser Verben und der folgenden Aussagen über das Hinabführen in die Unterwelt und das Herausführen aus ihr heraus bringen zum Ausdruck, dass jedes Handeln Gottes an den Menschen letztlich in sein Erbarmen münden wird. In diesen Anfangsversen geht es um die Demonstration der absoluten Macht Gottes, es wird keine Verbindung hergestellt zwischen dem Verhalten der Menschen und der strafenden bzw. erbarmenden Reaktion Gottes. Angesichts dieser unbegreiflichen Machtfülle sollen die Adressaten des Gebets Gott danken. Tobit bezeichnet sie als υἱοὶ Ισραηλ. Dieser Terminus, der in seiner Perspektive auf alle Stämme Israels die Gruppengrenzen des Stammes Naphtali überschreitet, wird her zum ersten Mal zur Benennung der Gemeinschaft gebraucht. Das geforderte Danken soll aber nicht nur innerhalb dieser Gemeinschaft geschehen, sondern vor den Völkern ἐνώπιον τῶν ἐθνῶν, in deren Mitte die Angesprochenen leben. GI wiederholt in 13,4, dass dieses soziale Umfeld der Ort ist, um Gottes Größe zu verkünden (ὑποδείκνυμι), während nach GII umgekehrt Gott sich dort den Adressaten offenbart hat. Der Vers 13,4b steigert den Dankappell, indem Gott nicht nur vor den Völkern, sondern vor allen Lebenden (ἐνώπιον παντὸς ζῶντος) erhoben werden soll. Die erste Strophe endet in 13,4c mit einer Reihung von drei Gottestiteln: κύριος, θεός, πατὴρ. Diese Gottesprädikationen sind alle mit dem Beziehungsattribut ἡμῶν versehen (außer θεός in GI), das auf das enge Verhältnis zwischen Gott und den υἱοὶ Ισραηλ hinweist, mit denen sich Tobit an dieser Stelle identifiziert. Das Nomen πατὴρ als Metapher für Gott ist zwar singulär im gesamten Buch Tobit, aber die wiederholte Verwendung der Bezeichnung der Adressaten mit υἱοὶ Ισραηλ zeigt, dass Tobit die Beziehung zwischen Gott und den Menschen als ein Vater-Sohn-Verhältnis begreift. Mit der Prädikation πατὴρ wird damit Gottes Hinwendung zu den Menschen, seine Immanenz zum Ausdruck gebracht. 120 Zur Verwendung des Terminus Transzendenz vgl. a. a. O. 32f.

86

Analyse der Rahmenreden

Vor diesem Hintergrund erschließt sich der Bedeutungsgehalt der Formel μαστιγοῖ καὶ ἐλεᾷ. Die beiden Verben beschreiben ein erzieherisches Handeln, mit dem ein Vater seinem Sohn begegnet. Dieses Verhältnis zwischen Vater und Sohn ist geprägt vom Primat der Zuwendung und des Erbarmens. Nachdem in 13,1b–4 die unverfügbare Macht Gottes thematisiert worden ist, konzentriert sich die zweite Strophe 13,5–6d auf die Beziehung zwischen Gott und den Adressaten des Gebets. Der Vers 13,5 wiederholt die Formel μαστιγοῖ καὶ ἐλεᾷ, die aber nun um zwei Erläuterungen ergänzt wird. Den Grund für Gottes züchtigendes Eingreifen nennt Vers 13,5a: Die Ungerechtigkeiten (ἀδικία) der Menschen veranlassen ihn zu dieser Reaktion. Die in 13,1b beschriebene Machtfülle Gottes bedeutet keine Willkürherrschaft. Sein Handeln beruht auf Gründen, auf die die Menschen Einfluss nehmen können. Der Terminus ἐλεᾷ erfährt ebenfalls eine Präzisierung: Das Erbarmen zeigt sich darin, dass die Angesprochenen aus den Völkern gesammelt werden und sich eine neue Gemeinschaft konstituiert: συνάξει ἡμᾶς ἐκ πάντων τῶν ἐθνῶν (GI). Die Verwendung des Personalpronomens ἡμᾶς an dieser Stelle zeigt deutlich, dass Tobit sich zu dem Kreis derer zählt, die die neue Gemeinschaft bilden werden. In 13,6a-d sichert Tobit seinen Zuhörern zu, dass Gott sein Angesicht vor ihnen nicht verbergen wird, wenn sie sich ihm zuwenden und die Wahrheit tun werden (ποιῆσαι ἐνώπιον αὐτοῦ ἀλήθειαν). Die Konditionalkonjunktionen Ἐὰν (GI) bzw. ὅταν (GII) betonen den aus 13,5 bekannten Sachverhalt, dass Gottes Zuwendung nicht ohne Bedingungen geschieht. Die Strophe endet mit einer Reihung von vier Imperativen θεάομαι, ἐξομολογέω, εὐλογέω und ὑψόω. Die in der vorhergehenden Strophe geforderte Antwort der υἱοὶ Ισραηλ auf die Zuwendung Gottes bezieht Tobit in der vierten Strophe 13,6e–7 explizit auf seine Person: ἐγὼ ἐν τῇ γῇ τῆς αἰχμαλωσίας μου ἐξομολογοῦμαι αὐτῷ. Das betonte Personalpronomen ἐγὼ, das in dem Sinnzusammenhang von 1,3.6 als Ausdruck seiner Selbstbezogenheit zu verstehen ist, markiert hier seine Identifizierung mit den Adressaten aus 13,6a-d. Er bezeichnet sie in 13,6k als ἁμαρτωλοί und fordert sie auf, gerecht zu handeln: ποιήσατε δικαιοσύνην. Ob Gott mit Barmherzigkeit reagieren wird, lässt er als Frage offen und spricht sich damit gegen einen vermeintlichen Heilsautomatismus aus: Gott bleibt der souveräne Herrscher, wie er in 13,1 vorgestellt wird. Diese unbegreifliche Unverfügbarkeit Gottes jedoch verunsichert Tobit nicht, sondern in der festen Zuversicht auf die Zuwendung Gottes preist (ὑψόω) er ihn und jubelt über seine Größe (ἀγαλλιάομαι). Die Termini δικαιοσύνη und ἐλεημοσύνη dienen als Attribute, um Gottes Handeln an den Menschen zu beschreiben, in 12,8 GII sind sie Ausdruck für das geforderte Verhältnis der Menschen untereinander. Im zwischenmenschlichen Verhalten spiegelt sich das Handeln Gottes.

Analyse 13,1b–18: Tobits Lobgebet

7.2

87

13,9–18: Lob der Stadt Jerusalem

Im zweiten Teil des Gebets wechseln die Adressaten, es richtet sich nicht mehr an die υἱοὶ Ισραηλ an, sondern an die Stadt Jerusalem. Sie wird aufgefordert Gott zu loben. Ansonsten lassen sich Übereinstimmungen in Blick auf den Inhalt und den Aussageduktus feststellen. Die beiden Kollektivgrößen υἱοὶ Ισραηλ und die Stadt Jerusalem bilden die Objekte für das erzieherische Handeln Gottes. Beide sollen Gott aufgrund seines Erbarmens loben und preisen. Der Sammelbewegung der υἱοὶ Ισραηλ aus den Völkern entspricht in 13,11 das Strömen der Völker nach Jerusalem, die Gott ebenfalls loben werden. Während 13,6a das Verhalten der Menschen Gott gegenüber thematisiert, das die Reaktion Gottes ihnen gegenüber bestimmt, beschreiben 13,12–14 zwei gegensätzliche Haltungen, die die Menschen der Stadt gegenüber einnehmen können: Entweder wenden sie sich ihr gegenüber ab (μισέω) oder sie wenden sich ihr zu (ἀγαπάω). Jede Option hat weitreichende Konsequenzen für die Bewohner: Die Hassenden werden verflucht, die Liebenden gesegnet werden. Die Sammlung der υἱοὶ τῶν δικαίων wird Jerusalem zum Loben veranlassen. Der Abschnitt endet mit der Selbstaufforderung Tobits, Gott wegen des zukünftigen Wiederaufbau Jerusalems zu preisen, deren Zerstörung er ohne weitere Erklärung an dieser Stelle voraussetzt. Die analoge formale Gestaltung der beiden Gebetsteile legt nahe, dass inhaltliche Übereinstimmungen intendiert sind. Die beiden Kollektivgrößen υἱοὶ Ισραηλ und Stadt Jerusalem sind Objekte des erzieherischen Handeln Gottes und Adressaten der Imperative. Als Interaktionspartner Gottes stehen sie nebeneinander. Dabei kommt Jerusalem sowohl als topographische (13,11), als bauliche (13,16) und als personifizierte, weibliche Größe (13,9.10.12–14) in den Blick. Im Folgenden sollen diese verschiedenen Bedeutungsfacetten Jerusalems analysiert und dann in einen Zusammenhang mit dem gesamten Gebet gebracht werden. Die erste Strophe 13,9–10 handelt vom Verhältnis zwischen Gott und Jerusalem. Die Stadt wird als eine Person angesprochen, an der Gott erzieherisch handeln wird. Die Apposition πόλις ἁγία versetzt Jerusalem in die Sphäre des Göttlichen und damit in den Bereich des Kultischen, von dem im gesamten Gebet ansonsten keine Rede ist. Die Nähe zu Gott kann nicht verhindern, dass auch Jerusalem gezüchtigt werden wird wie die υἱοὶ Ισραηλ. Es sind jedoch nicht ihrer eigenen Vergehen, deren sie schuldig wird, sondern sie übernimmt die Verantwortung für die Werke ihrer Söhne.121 Das Pronomen σου zu τὰ ἔργα τῶν υἱῶν in 9b spezifiziert das Personsein Jerusalems, indem der Sprecher die Stadt in einer mütterlichen Rolle wahrnimmt. Jerusalem erscheint nur an dieser Stelle als 121 Im rekonstruierten Text von GII: in 13,9 bestraft Gott Jerusalem für die Taten ihrer Hände, vgl. J.A. Fitzmyer, Tobit 301f.

88

Analyse der Rahmenreden

Mutter, deren Schicksal vom Handeln ihrer Söhne abhängig ist. Wie die υἱοὶ Ισραηλ in 13,6 wird auch Jerusalem aufgefordert Gott zu preisen. Die Folge des Lobens wird die Wiedererrichtung des Zelts Gottes sein. Das καὶ in GII lässt den Zusammenhang zwischen den beiden Handlungen offen, während GI mit der Konjunktion ἵνα das Loben der Stadt zur Bedingung des Aufbaus des Zelt, bzw. der Anwesenheit Gottes macht. Die Wahl des Zelts als Ort der Begegnung mit Gott macht deutlich, dass die Gemeinschaft mit Gott möglich ist unabhängig von festen lokalen Bezügen. In der ersten Strophe tritt Jerusalem als eine Person auf, die als Mutter eine entscheidende Rolle im Beziehungsgefüge Gott-Vater und υἱοὶ Ισραηλ spielt. Sie ist nicht nur Adressatin göttlichen Handelns, sondern bewirkt durch ihr Loben die Anwesenheit Gottes. Somit kommt ihrem Handeln eine heilsrelevante Bedeutung zu, die eine Entsprechung auf der räumlichen Ebene findet: Jerusalem ist der Ort, an dem das Zelt Gottes stehen wird und der den Raum für Gottes Handeln an den Menschen bereithält. Dieses Handeln erweist sich im Erfreuen der Gefangenen und der liebvollen Zuwendung zu den Elenden. Mit demselben Verb ἀγαπάω beschreibt 4,13 das zu erstrebende Verhalten der Menschen untereinander. Der zweite Abschnitt 13,11 lenkt den Blick von Gott auf die vielen Völker und thematisiert ihr Verhältnis zu Jerusalem. Es kommen nicht nur υἱοὶ Ισραηλ, sondern auch viele Völker (ἔθνη πολλὰ) machen sich auf den Weg. Bemerkenswerterweise ist es nicht die topographische Größe Jerusalem, zu der die Völker kommen, das Pilgerziel liegt vielmehr in τὸ ὄνομα τὸ ἅγιόν σου (GII). Nicht nur die Stadt ist heilig (13,9a), sie trägt auch einen heiligen Namen. GI geht in dieser theologischen Einschätzung nicht ganz so weit, da es von τὸ ὄνομα κυρίου τοῦ θεοῦ spricht. Dafür erhält hier nicht nur Gott Geschenke, sondern auch Jerusalem erscheint in der Rolle der Bejubelten. GII betont an dieser Stelle die räumliche Dimension der Stadt: Die Menschen werden in ihr jubeln. Die Ewigkeitsformel 13,11c, die in GI fehlt, greift den Namenstopos wieder auf: ὄνομα τῆς ἐκλεκτῆς εἰς τὰς γενεὰς τοῦ αἰῶνος. Der Name der Erwählten wird in Ewigkeit andauern. Für die ersten beiden Strophen lässt sich in Bezug auf Jerusalem sagen, dass die Stadt als eine Größe angesprochen wird, die eine Gottesbegegnung möglich macht. Als Person hat ihr Loben die Wiedererrichtung des Zelts zur Folge, das als Ort der Anwesenheit Gottes den Raum für sein Handeln eröffnet. Dieser Raum wird definiert durch positive, soziale Interaktionen (erfreuen, lieben, jubeln, schenken), sowohl von göttlicher als auch menschlicher Seite her. Es gib keine bauliche Beschreibung Stadt, da ihr Raum als ein »sozialer« Raum konzipiert ist. Die dritte und die vierte Strophe setzen hinsichtlich der formalen Gestaltung und der Bildwelt vom vorhergehenden Strophenpaar ab. Es ist offen, wer in 13,12–14 die handelnden Subjekte sind, weder Gott noch die Völker werden als solche genannt. Jedoch auch in diesen Versen bleibt Jerusalem die Adressatin von

Analyse 13,1b–18: Tobits Lobgebet

89

Lobappellen. Weiterhin tritt die bauliche Dimension der Stadt in den Vordergrund (13,12 GII, nicht in GI). Die Strophe 13,12–14 thematisiert zwei gegensätzliche Haltungen, die Menschen gegenüber der Stadt einnehmen: Sie begegnen ihr mit Hass oder liebender Zuwendung. Ihre feindliche bzw. liebende Gesinnung ist schicksalsbestimmend für diese Menschen: je nach Gesinnung werden sie entweder verflucht oder gesegnet werden. In GII realisieren sich die beiden gegensätzlichen Haltungen auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Die negativen Impulse konkretisieren sich in psychischer (οἳ ἐροῦσιν λόγον σκληρόν) und physischer Gewalt, die sich gegen einzelne Bauten der Stadt richtet. Erst im Kontext von Zerstörung wird Jerusalem als bauliche Größe beschrieben. Die Stadt erscheint in 13,12 als eine gefährdete, weil angreifbare Größe, die nicht immun ist gegen Gewalt von außen. Um das Verhalten derer zu beschreiben, die ein positives Verhältnis zur Stadt haben, verlässt der Text den urbanen Bildbereich und erläutert deren Haltung auf der Beziehungsebene: Sie lieben sie, leiden mit ihr und freuen sich mit ihr (13,14). Die Hinwendung der Menschen zielt nicht auf den Schutz bzw. Wiederaufbau der Stadt, sondern realisiert sich in einer empathischen Beziehung zu ihr. Die räumliche Dimension wird erst wieder in 13,14d aufgegriffen, die Menschen sollen sich freuen ἐν σοὶ χαρήσονται. Der Grund für die Freude Jerusalems in 13,13 liegt ebenfalls in einem Beziehungsgeschehen: Nicht weil die Stadt wiederaufgebaut wird, soll sie sich freuen, sondern weil die υἱοὶ τῶν δικαίων gesammelt werden. Das Sammeln von Menschen steht für einen sozialen Prozess, der Anlass gibt zum Jubel. Die Rolle als Segensvermittlerin übernimmt Jerusalem auch in 13,12 GI. Auch hier entscheidet die Haltung der Menschen ihr gegenüber über Fluch oder Segen. GI kürzt die Strophe, indem hier die baulichen Elemente nicht genannt werden, sondern die destruktiven Gewalthandlungen in dem Verb μισέω zusammengefasst werden. Hier ist ausschließlich die personale Wahrnehmung der Stadt bestimmend, es werden keine Aussagen über einzelne Bauten gemacht. In 13,15–18 bezieht Tobit die Lobesaufforderung aus 13,6i auf sich selbst, und bekennt sich zum Preisen Gottes. Indem er das Handeln realisiert, zu dem Jerusalem in 13,9.10.13 aufgefordert wird, identifiziert er sich mit ihr als einer kollektiven Größe. Der Anlass für die Preisung liegt im Wiederaufbau der Stadt aus wertvollen Baumaterialien. Es folgt eine Aufzählung einzelner Baugrößen, die zur zukünftigen Stadt gehören werden. Tobit beschreibt nicht das Aussehen dieser urbanen Details, sondern er konzentriert sich auf Aussagen über deren kostbares Material. Abgesehen von der Pracht, die von einer Stadt aus Edelsteinen ausgehen wird, stehen diese Baumaterialien für Festigkeit und Dauerhaftigkeit: Eine solche Stadt kann nicht mehr zerstört werden. Das Lobgelübde in 13,18 wird statt von Menschen von einzelnen Bauelementen als belebte Größen gesprochen. Die feminine Form αὐτῆς verweist auf die weibliche Figurierung Jerusalems. Nicht die Stadt in ihrer Gesamtheit bzw. als abstrakte Größe wird

90

Analyse der Rahmenreden

Gott loben, sondern ihre einzelnen Glieder folgen der Aufforderung. Die prächtige, aus wertvollen Edelsteinen gebaute Stadt der Zukunft entspricht keinen realistischen Maßstäben. Die außergewöhnliche Ausstattung verweist vielmehr auf die metaphorische Bedeutung dieses Stadtkonzepts. In Blick auf das gesamte Gebet bildet 13,18 eine Inklusion zu 13,1b. Das Gebet beginnt und endet mit dem Rühmen und Preisen Gottes.

7.3

Auswertung

Das Gebet Tobits in 13,1b–18 spiegelt in seiner Gesamtheit die Struktur und den Inhalt der Kernaussage aus Raphaels Rede in 12,6–10. Es übernimmt Raphaels theozentrisches Modell (12,6), indem der erste Gebetsteil 13,1–7 zunächst die Allmacht und Größe Gottes fokussiert, den es zu preisen gilt. Dieser Gott ist in seiner Transzendenz jedoch nicht unerreichbar, sondern wendet sich in seinem erzieherischen Handeln den Menschen zu. Auch nach 12,6 GII tritt Gott in eine Interaktion mit den Adressaten, indem er Gutes für sie tut. In Abhebung von 12,6b–10 entwickelt Tobit eine eigene Beschreibung der Relation zwischen Gott und den Menschen: Die Verwendung der Termini υἱοὶ Ισραηλ und πατὴρ ἡμῶν lässt diese Beziehung als ein Vater-Sohn-Verhältnis begreifen, das zwar durchaus von Strenge geprägt ist, in dem aber letztlich Erbarmen und Zuwendung dominieren. Nachdem der erste Teil die Beziehung Gott – Mensch thematisiert hat, wendet sich der zweite Abschnitt 13,9–18 der Gemeinschaft zu, der die Aufforderung gilt, Gott zu preisen (vgl. 12,8). Für Tobit ist diese Gemeinschaft gleichbedeutend mit der Stadt Jerusalem, die er als personifizierte Größe direkt anspricht.122 In dem Beziehungsgefüge Gott/Vater – υἱοὶ Ισραηλ nimmt sie die Rolle der Mutter ein, die in einem wechselseitigen Verhältnis zu ihren Kindern steht: Zum einen übernimmt Jerusalem die Verantwortung für das Handeln der υἱοὶ Ισραηλ, zum andern bestimmt das Verhalten der Menschen der Stadt gegenüber den Gang ihres eigenen zukünftigen Schicksals. Jerusalem steht aber nicht nur für ein personale, relationale Größe, sondern auch für einen bestimmten Raum. Dieser »Lebensraum«, der mit städtischen Bauelementen ausgestattet ist, wird umschrieben mit positiven Beziehungsverben. Er konstituiert sich in der liebenden Zuwendung Gottes zu den Menschen und der Menschen zu Jerusalem. In dem Bild des »sozialen« Lebensraums Jerusalems ist ablesbar, auf welche Weise sich das Zusammenleben der Menschen gestalten wird. Jerusalem wird zur Chiffre für die zukünftige, gelingende Gemeinschaft der Gläubigen, die offen ist für andere Völker. Indem Tobit in der Beschreibung dieser Vision urbane und weibliche 122 Vgl. dazu ausführlicher J. Rautenberg, Stadtfrau 51–101.

Analyse 14,3b–11: Tobits Abschiedsrede

91

Metaphern ineinander oszillieren lässt, entsteht das Bild der Stadtfrau, die keinen territorial definierten Raum repräsentiert, sondern für eine soziale, universalistisch ausgerichtete Gemeinschaft steht. Als Abbild des zukünftigen Jerusalems erhält diese Gemeinschaft einen fast Gott konformen Status: Sie ist heilig, trägt einen heiligen Namen und ist eine Erwählte. Ihr Loben entscheidet darüber, ob Gott in der Stadt anwesend sein wird oder nicht. Damit gewinnt Jerusalem eine konkrete Heilsbedeutung, da sie als Mittlerin in der Begegnung zwischen Gott und den Menschen fungiert. Die Konzeption von Jerusalem als einem sozialen Lebensraum erlaubt eine »soziale« Deutung der Termini διασπείρω (13,3.5) und ἐν τῇ γῇ τῆς αἰχμαλωσίας (13,6). Sie implizieren durchaus topographische Bezüge, können aber auch als Ausdruck für bestimmte soziale Prozesse verstanden werden: Zerstreuung steht im Kontext der Reden Tobits dann für das Auseinanderbrechen der Gemeinschaft, während sich die Gefangenschaft auf die erlebte Selbstbezogenheit, Isolation und Ausgrenzung bezieht. Der Umstand, dass Tobit nach Raphaels Aufforderung die Geschehnisse aufzuschreiben, dieses Gebet betet und nicht seine Leidensgeschichte erzählt, spricht für den Entwicklungsprozess, den er durchlaufen hat. Im Mittelpunkt seines Lebens steht nicht mehr die Sorge um die eigene Person und Selbstbezogenheit, sondern das Preisen Gottes. Das gemeinsame Loben Gottes ermöglicht ihm den Zugang zur Gemeinschaft der υἱοὶ Ισραηλ und Jerusalems, mit der er sich ausdrücklich identifiziert (13,6.15). Eine Gemeinschaft, die sich in ihrer Beziehung zu Gott gründet, ist offen für alle, die ebenfalls in diese Beziehung treten. Dieses universalistische Konzept aus 12,6 übernimmt auch Tobit, wenn er in 13,10 viele Völker nach Jerusalem kommen lässt: Die Offenheit dieser Gemeinschaft endet nicht mehr an den Grenzen von Abstammungskriterien.

8.

Analyse 14,3b–11: Tobits Abschiedsrede

Tobits Rede in 14,3b–11 bildet in der konzentrischen Anordnung der Redefolge das Gegenstück zu Tobits Monolog in 1,3–2,14. Sie ist die letzte Rede im Buch Tobit und bildet damit den Abschluss des Redezusammenhangs. Nach der Aussage, dass Tobit den Lobpreis beendet hat, erinnert 14,1.2 an seine Heilung von der Erblindung und an seine barmherzigen Taten bzw. sein dankendes Bekenntnis zu Gott (14,1.2). Es wird damit der doppelte Entwicklungsprozess bestätigt: Tobit hat sein Augenlicht wiedererlangt und er handelt im Sinne der Aufforderung Raphaels, Gott zu preisen und solidarisch zu handeln. Tobit spricht also als ein geheilter, reicher Mann, der kurz vor seinem Tod seinem Sohn sein Vermächtnis auf den Weg gibt. Der ausdrückliche Hinweis auf das hohe Alter Tobits versichert den Lesenden, dass der antizipierte Tod tatsächlich zu

92

Analyse der Rahmenreden

erwarten ist und nicht nur Ausdruck seines Todeswunsches ist wie in 4,2. Der Adressat dieser Rede ist Tobias. Die letzte Rede Tobits gliedert sich in drei Abschnitte: Der Mittelteil in 14,4b–7 berichtet vom zukünftigen Ergehen Ninives, der Brüder in Israel (ἀδελφοὶ ἡμῶν οἱ κατοικοῦντες ἐν τῇ γῇ Ισραηλ GII: 14,4) und Jerusalems. Der Zerstörung und Zerstreuung wird das Erbarmen Gottes folgen. Diese Aussagen werden von zwei Imperativen gerahmt, die sich an Tobias richten und ihn zum Verlassen der Stadt Ninive auffordern 14,4a.8–11. 14,4a: 14,4b:

Aufforderung an Tobias, Ninive zu verlassen Ankündigung der Zerstörung Ninives, der Zerstreuung der Brüder, der Zerstörung Jerusalems und des Hauses Gottes ὁ οἶκος τοῦ θεοῦ 14,5–7: Erbarmen Gottes: Rückkehr der Zerstreuten, Wiederaufbau des Hauses Gottes und Jerusalems 14,8–10b: Aufforderungen an Tobias, Ninive zu verlassen Appell: Gesetz und Gebote zu halten (GI), wohltätig und gerecht zu handeln (GII), Bestattungsgebot der Mutter 14,10c–11: Beispiel für die rettende Wirkung der ἐλεημοσύνη, δικαιοσύνη

In 14,4 wendet sich Tobit ohne Umschweife an Tobias mit der Aufforderung, Ninive mit seiner Familie zu verlassen. Die Bedrohlichkeit der assyrischen Umwelt ist den Lesenden aus 1,3–2,14 bekannt, jetzt jedoch gilt Tobits Sorge dem Wohlergehen seines Sohnes und seiner Enkel und nicht mehr der Bestattung der verstorbenen Stammesbrüder. Den Anlass für den plötzlichen Aufbruch erläutert Tobit im zweiten Abschnitt seiner Rede: Er prophezeit die Zerstörung der Städte Ninive und Jerusalem, also jener Orte, an denen Tobit sein Leben verbrachte. Ebenfalls sieht er die Zerstreuung der Brüder voraus, die noch im Land Israel leben und das Niederbrennen des Hauses Gottes. Jerusalem und das Haus Gottes werden sein wie eine ἔρημος, das Bild erinnert an das verwüstete Jerusalem in 13,12 (GII). Doch die Phase des völligen Niedergangs ist begrenzt, sie dauert nur eine gewisse Zeit. In 14,7 wendet sich das Schicksal und Gottes Erbarmen bringt die Zerstreuten wieder zurück, die das Haus Gottes und die Stadt wiederaufbauen werden. Auch werden alle Völker (πάντα τὰ ἔθνη) umkehren und sich zu Gott bekennen. Schließlich werden sich alle freuen, die Gott lieben und barmherzig handeln. Diese Vorhersage Tobits entspricht in ihrer Struktur den Aussagen über das Verhältnis Gottes zu den Menschen in 13,1–7, das in der polaren Formulierung μαστιγοῖ καὶ ἐλεᾷ seinen Ausdruck findet. In 14,4 wird Gott zwar nur indirekt über die Vermittlung des Propheten Jona/Nahum als Subjekt der Züchtigung genannt, dafür führt 14,5 die positive Wendung explizit auf das Erbarmen Gottes zurück. Neben dem Motiv der Zerstörung und Wiederaufbaus Jerusalem, das auf 13,12,16f anspielt, erinnert auch 14,6 an die Völkerwallfahrt nach Jerusalem in 13,11. Während in 13,11 von vielen Völkern die Rede ist, werden in 14,6 alle

Analyse 14,3b–11: Tobits Abschiedsrede

93

Völker umkehren und sich zu Gott bekennen, indem sie sich von ihren eigenen Göttern abwenden. Diese Steigerung findet ihre Fortsetzung in 14,7b darin, dass sich alle freuen werden, die Gott lieben und den Brüdern Barmherzigkeit erweisen. Im bisherigen Verlauf der Reden ging es darum, dass Gott gedacht werden soll, er gepriesen bzw. ihm gedankt werden soll. Hier wird zum ersten Mal von der liebenden Zuwendung der Menschen Gott gegenüber gesprochen. Das Verb ἀγαπάω findet vorher Erwähnung in Beschreibung des Verhältnisses der Menschen untereinander (4,13), der Liebe Gottes zu den Elenden und der Beziehung der Menschen zur Stadt Jerusalem (13,14). Die Strukturanalogie zu 12,6–8 und 13,1–18 findet ihre Fortsetzung im dritten Abschnitt, der den Aussagen über Gott in 14,4b–7 eine Reihe von Imperativen folgen lässt, die das zwischenmenschliche Zusammenleben betreffen. Der Vers 14,8 wiederholt die Aufforderung an Tobias, die Stadt zu verlassen. Für sein zukünftiges Leben schärft ihm Tobit ein, die Gebote und das Gesetz zu bewahren und wohltätig und gerecht zu handeln (GI vgl. 4,5) bzw. Gott in Wahrheit zu dienen, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zu tun, seiner zu gedenken und ihn zu preisen (GII). Diese Quintessenz seiner eignen Lebenserfahrung bildet das Vermächtnis, das er seinem Sohn hinterlässt. Die Aufforderungen, einerseits fort zu gehen und andererseits die Mutter in Ninive zu bestatten, stehen in einem gewissen Widerspruch zueinander. Schließlich ist Hanna noch nicht gestorben und es gibt nirgendwo einen Hinweis auf ihren baldigen Tod. Am Ende seiner Rede erläutert Tobit am Schicksal Achikars die positive Wirkung solidarischen Handelns. Achikar wurde gerettet aufgrund seiner barmherzigen Taten (vgl. 1,21), während sein Neffe Nadab für seine Vergehen bestraft wurde. Mit dieser Zusicherung der rettenden Folgen von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit beendet Tobit seine letzte Rede.

8.1

Auswertung

Inhaltlich knüpft diese Rede das Setting in 1,3–2,14 an. Das Schicksal der Familie des Tobit/Tobias wird eingebettet in den großpolitischen Zusammenhang des assyrischen Reiches, das hier allerdings kurz vor seinem Untergang steht. Die Städte Jerusalem und Ninive werden wie in 1,3–2,14 als topographische Größen genannt, Jerusalem als Metapher für die Gemeinschaft der Gläubigen aus 13,9–18 kommt nicht in den Blick. Dafür werden durch die Erwähnung Achikars und das Bestattungsthema Bezüge zu 1,3–2,14 hergestellt. Gleichzeitig bündelt Tobit zentrale Inhalte aus den bisherigen Reden, mit denen er Aussagen über die Entwicklung der Gemeinschaft der Gläubigen in der Zukunft macht. Die Beschreibungskategorien von Gottes Handeln an den Menschen dienen als Deutungshintergrund für die prophezeiten Ereignisse: Gott züchtigt die Menschen

94

Analyse der Rahmenreden

sowohl in Ninive als auch in Jerusalem; seine Bestrafung unterscheidet nicht zwischen ungläubigen Bewohnern Ninives und den Gläubigen in Jerusalem, sie ist universal. Genauso grenzüberschreitend ist sein Erbarmen, das der Katastrophe folgen wird. Er wird die Brüder wieder sammeln und zurückbringen, damit die Stadt und der Tempel wiederaufgebaut werden können. Aber nicht nur die Brüder werden von der Sammelbewegung Gottes umfasst, sondern alle Völker werden sich ihm zuwenden. Mit dieser Perspektive übernimmt und steigert Tobit die Offenheit der Gemeinschaft aus dem Jerusalem-Hymnus 13,11: Es werden alle Völker kommen. Auch sie können Anteil nehmen an der Liebe zu Gott, die sich durch Wahrheit und Gerechtigkeit auszeichnet, und auch ihnen gilt die Aufforderung, barmherzig zu handeln. Mit dieser Aussage erfährt die Trägergruppe der Attribute Wahrheit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit eine Erweiterung: Sie gelten sowohl für Gott, die υἱοὶ Ισραηλ, die Stadt Jerusalem und für alle Völker. Die Universalisierung der ethischen Handlungsmaximen, die sich in der Öffnung zu allen Völkern hin niederschlägt, steht am Ende der Entwicklung, die in 1,3–2,14 ihren Anfang genommen hat. Die im Monolog beschriebenen Prozesse der Abgrenzung und Isolierung gehören der Vergangenheit an, für die Zukunft zeichnet Tobit den Entwurf einer Gemeinschaft, die sich in der Zuwendung aller Menschen, unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit, zu Gott gründet und deren Miteinander geprägt ist von Wahrheit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit.

9.

Die Rahmenreden als Redezusammenhang

Die Einzelanalysen der Reden bestätigen die eingangs formulierte These, dass in den Rahmenreden unterschiedliche Gruppenkonzepte verhandelt werden. Die Reden Tobits und des Engels artikulieren zwei verschiedene Entwürfe von Gemeinschaft, die in den konträren Konstruktionen der Gruppengrenzen deutlich werden. Aufgrund der inhaltlichen Fragestellung nach den Gemeinschaftsvorstellungen ergibt sich eine Zäsur zwischen dem ersten Teil der Abfolge der Rahmenreden, der die Reden 1,3–2,14; 3,1–6; 4,3–21 umfasst und dem zweiten Teil, zu dem die Reden 12,6–20; 13,1b–18 und 14,3b–11 zählen. Der Dialog zwischen Tobit und dem Engel in 5,11–17a bildet eine Scharnierstelle zwischen den beiden Textbereichen. Den ersten Teil der Rahmenreden dominiert der Sprecher Tobit. In 1,3–2,14 spricht er sich ausdrücklich für eine genealogische Verfasstheit seiner Bezugsgruppe aus. Ein solches primordiales Gemeinschaftskonzept vertritt die Undurchlässigkeit starrer Gruppengrenzen, die einen Übertritt weder von innen nach außen noch von außen nach innen erlauben. In Tobits folgenden Reden ist eine Entwicklung in seiner Auffassung erkennbar, die jedoch ambivalent bleibt.

Die Rahmenreden als Redezusammenhang

95

Sein Gebet 3,1–6 thematisiert Tobits Zugehörigkeit zu seiner Gemeinschaft, die gemeinsame Schuld Tobits und seiner Brüder (3,5) verbindet ihn mit ihnen. In seiner Rede 4,3–21 formuliert er die Bedeutung der Qualität des zwischenmenschlichen Agierens für die Gruppenkohäsion auf positive Weise, indem er seinen Sohn zu solidarischem Handeln besonders im Sinne der ἐλεημοσύνη auffordert. Die Auswahl der Adressaten der ethischen Maximen richtet sich nicht nach genelogischen Kriterien, sondern nach deren eigenem Verhalten und sozialem Status. Die Aufforderung zum solidarischen Handeln gilt damit nicht nur im Binnenraum der Gemeinschaft. Sie entwickelt vielmehr eine Dynamik, die die genealogisch definierten Gruppengrenzen überschreitet (4,5–11.14–18). Neben dieser Öffnung zu anderen, nicht verwandtschaftlich verbundenen Personen hin, steht aber Tobits Forderung nach einer endogamen Eheschließung (4,12), die in ihrer Rigidität im gesamten Alten Testament beispiellos ist. Dieses Beharren auf angemessene Abstammungsverhältnisse setzt sich in dem Dialog 5,11–17a fort, in dessen Verlauf deutlich wird, dass für Tobit nur der Nachweis der angemessenen Abstammung die Zuverlässigkeit des Begleiters für seinen Sohn gewährleisten kann. Im zweiten Teil der Abfolge der Rahmenreden verfügt zwar Tobit über die meisten Redeanteile, inhaltlich aber bestimmt der Engel in seiner Selbstoffenbarung (12,6–20) das Konzept von Gemeinschaftlichkeit, das den folgenden Reden zu Grunde liegt. In seiner einzigen längeren Rede nimmt der Engel zwar ausdrücklich Bezug auf die vorhergehenden Reden Tobits, indem er dessen Gebet (3,3–6) und die Totenbestattungen (1,18 und 2,4–9) anspricht (12,12), er lässt aber jeden Hinweis auf ein primordiales Gruppenverständnis vermissen. Stattdessen entwirft der Engel in 12,6–20 das Bild einer Gemeinschaft, die sich durch das Bekenntnis zu einem Gott konstituiert, dessen Verhältnis zu den Menschen von Barmherzigkeit geprägt ist. Die Menschen antworten auf die Zuwendung Gottes mit Lobpreisungen und gestalten den zwischenmenschlichen Umgang ebenfalls im Sinne der Barmherzigkeit. Identitätsrelevant für die Gemeinschaft ist nicht die genealogisch definierte Zugehörigkeit, sondern der gemeinsame Glaube an eine Gottheit, der die ethische Praxis der Gemeinschaft bestimmt. Indem der Engel weder den Kreis derer beschränkt, denen Gottes Werken verkündet werden sollen, noch die Adressaten des solidarischen Handelns auf einen bestimmten Personengruppe festlegt, definiert er keine fixen Gemeinschaftsgrenzen. Sein Konzept entspricht der universalistischen Codierung, die mit ihren inkludierenden Tendenzen ein Gegenmodell zur Exklusivität einer primordial geprägten Gemeinschaft darstellt. In seiner Antwort (13,2–18) auf die Rede des Engels übernimmt Tobit nicht nur ohne Einschränkung dessen Gemeinschaftsentwurf, sondern er gestaltet ihn weiter aus. Er kleidet ihn in das Bild der Stadtfrau Jerusalem, die zur Chiffre wird für eine zukünftige Gemeinschaft, die sich vielen Völkern öffnet. Tobits Abschiedsrede 14,3–11 betont die Universalität

96

Analyse der Rahmenreden

des Handeln Gottes. In seiner strafenden und erbarmenden Zuwendung unterscheidet dieser nicht zwischen den ungläubigen Bewohnern Ninives und den Gläubigen in Jerusalem. Die Frage nach gelingenden Gemeinschaftskonzepten durchzieht die Abfolge der analysierten Rahmenreden wie ein roter Faden und verbindet sie zu einem Gesamtzusammenhang. Die unterschiedliche Beantwortung dieser Frage führt zu einer Zweiteilung der Redeabfolge: Die Reden 1,3–2,14; 3,1–6; 4,3–21 stehen für ein primordiales Konzept, während die Reden 12,6–20; 13,1b–18 und 14,3b– 11 eine universalistische Ausrichtung vertreten. In der im Zentrum der Anordnung platzierten Redeeinheit 5,11–16 entwickelt sich ein Dialog zwischen den Sprechern, in dessen Verlauf das Modell der ersten Reden kritisch angefragt wird (5,12). Die Gestaltung des Redezusammenhangs zeichnet sich also dadurch aus, dass ein übergreifendes Thema unter zwei Aspekten beleuchtet wird. Diese Konstellation spiegelt sich auf der sprachlichen Ebene: In der gesamten Abfolge der Rahmenreden sind einerseits Motivfelder wahrnehmbar, die durchgängig in allen Reden verwendet werden und andererseits Themenbereiche, die entweder nur im ersten oder nur zweiten Abschnitt der Redefolge vorkommen. Hinzu kommen vereinzelte Termini, die einen intratextuellen Bezug zwischen den einzelnen Reden herstellen. Durchgängige Motivfelder Das Motivfeld Bewegung begegnet in allen Rahmenreden.123 Die Häufigkeit der verwendeten Bewegungstermini konzentriert sich auf den ersten Redeteil 1,3– 2,14 (27x), während in den übrigen Redeteilen dieses Motiv erheblich seltener genannt wird. Hinsichtlich der Wahl der Bewegungsverben übernimmt der Engel in seinem Rückblick auf die zurückliegenden Ereignisse (12,13) dieselbe Formulierung Tobits, mit der dieser von der Bestattung des Toten in Ninive berichtet (2,4.7). Neben dem Topos Bewegung durchzieht das Thema Tod/Bestattung alle Redeteile.124 Die Dominanz des Motivfeldes Tod/Bestattung (12x) in 1,3–2,14 im Zusammenspiel mit der Häufung der Bewegungsverben ergibt eine eigentümli123 ὁδός: 1,3.15; 3,3; 4,19; 5,17a; τρίβος: 4,19; πορεύομαι: 1,3.6.7.14.15.19; 2,10; 5,10.14.16 (GII). συμπορεύομαι: 1,3; ἔρχομαι: 1,18.22; 2,2.3.13; 12,17 (GI); ἀναχωρέω: 1,19; φεύγω: 1,21; ἐκφεύγω: 13,2; κατέρχομαι: 2,1; βαδίζω: 2,2; ἀναπηδάω: 2,4;12,13; οἴχομαι: 2,7; 12,13; ἀποδιδράσκω: 2,8; ἀναλύω: 2,9; σκορπίζω: 3,4; 13,5; 14,4; διασπείρω: 13,3; ἐπιστρέφω: 5,16; (GI), 13,6; 14,6; εἰσπορεύομαι: 12,15; προσάγω: 12,20; κατάγω: 13,2; ἀνάγω: 13,2; συνάγω: 13,5; ἥκω 13,11, ἀπέρχομαι: 14,4.8.12. 124 θνῄσκω: 1,17; θάπτω: 1,17.18.19; 2,7; 4,3; 14,10.11.12.13; ἀποκτείνω: 1,18.21; 14,11 (GII); ἀποθνῄσκω: 1,19; 3,6; 4,3.4; (GI), 14,3 (GII), 14,12.14.15; στραγγαλάομαι: 2,3; πένθος: 2,6; θρῆνος: 2,6; ὀρύσσω: 2,7; ὀδύνη: 3,1; τάφος: 4,3.17; θάνατος: 3,4; 4,10 (GI); 12,9; 14,10; λυπέω: 3,1; κλαίω: 2,7; 3,1; νεκρός: 5,10 (GII); 12,12; ᾅδης 13,2.

Die Rahmenreden als Redezusammenhang

97

che Spannung zwischen einer dynamischen Lebendigkeit und einer durch das Themenfeld Tod insinuierten lähmenden Leblosigkeit. Unterbrochene Abfolge von Motivfeldern Außer in 5,11–17a sind die Leitbegriffe ἀλήθεια, δικαιοσύνη und ἐλεημοσύνη entweder in einer Dreier- bzw. Zweierfolge in allen Textabschnitten zu finden.125 Im Dialog zwischen Tobit und dem Engel in 5,11–17a kommen die drei Umschreibungen ethischen Handelns nicht vor, stattdessen steht inhaltlich die Zuverlässigkeit eines Begleiters im Fokus des Gespräches Tobits mit seinem Sohn, das er im Vorfeld der Begegnung mit dem Engel führt (5,9; GII:5,3). Nur in GII 5,11.14 wird der Terminus Wahrheit (κατ’ ἀλήθειαν) im Zusammenhang mit der korrekten Angabe zu den Abstammungsverhältnissen gebraucht. Neben der gleichzeitigen Verwendung von zwei oder drei Leitbegriffen in jeweils einem Satzzusammenhang ist die singuläre Nennung nur einer Handlungsmaxime, die der ἐλεημοσύνη, zu beobachten.126 Mit dem Herauslösen dieses Terminus aus dem dreifachen Begriffsgefüge ἀλήθεια, δικαιοσύνη und ἐλεημοσύνη nimmt das Handeln im Sinne der Barmherzigkeit eine Vorrangstellung vor den beiden andern Leitbegriffen ein. Schließlich vermag nur die Barmherzigkeit vor dem Tod zu schützen und von Sünden zu befreien (4,10; 12,9). Motivabfolgen, die die Reden Tobits verbinden Neben Motivbereichen, die in allen Reden zu finden sind, gibt es Themen, die ausschließlich in den Reden Tobits vorkommen. So wird der Themenkomplex Gebote in 1,3–2,14; 3,1–6; 4,3–21 und 14,3,b-11 angesprochen.127 Im Dialog mit dem Engel (5,11–17a) in dessen Offenbarung (12,6–22) und im Gebet Tobits (13,1–18) bilden die Gebote keinen Redegegenstand. Das Stichwort Gefangenschaft verbindet die Reden des blinden Tobit mit den Reden des geheilten Tobit: αἰχμαλωσία: 1,3 (GII), 3,4; 13,6 (GI); 14,5; αἰχμαλωτίζω: 1,9; αἰχμάλωτος: 13,10. In der Textversion GII wird über die Termini Scham und Spott der Bogen von den Anfangsreden zur Schlussrede Tobits gespannt: ἐπιγελάω: 2,8; ἐρυθριάω: 2,14; ὀνειδισμός: 3,6; ἀτιμία: 14,6 (GII). Die Erwähnung der Mauer (τεῖχος) in 1,17; 2,10 und 13,16, das Verb ἀγαπάω in 4,13; 13,10.12 (GI).4; 14.7 und die Bezeichnung λαὸς 4,13; 14,7 (GI) vernetzen die Redeteile ebenfalls. Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen den Anfangsreden und den Schlussreden bildet das direkte (2,6) bzw. indirekte Zitieren (14,4) prophetischer Rede 125 1,3; 2,14: Terminus ἀλήθεια fehlt; 3,2; 4,6.7; 12,8: Terminus ἀλήθεια fehlt in GI; 13,6: Terminus ἐλεημοσύνη fehlt in GII; 14,7.8.11. 126 1,16; 4,8.10.11.16; 12,9; 13,2.5.8; 14,10. 127 γέγραπται: 1,6; νόμος Μωσῆ: 1,8 (GII); ἐντολή: 1,8 (GII), 3,4.5; 4,5; 5,20 (GI); ἐντέλλομαι: 1,8; νόμος: 14,9 (GI); πρόσταγμα: 14,9 (GI); ἐνυποτάσσομαι: 14,9 (GII).

98

Analyse der Rahmenreden

bzw. der Verweis auf sie (4,12) und die Erwähnung der Stadt Jerusalem (1,4; 13,9; 14,4). Motivfelder, die die Anfangsreden dominieren Folgende Topoi werden nur in 1,3–5,17a genannt: der Motivkomplex Geld,128 Nahrung,129 Tiere130 und Endogamie.131 Zwei Ausnahmen bilden die Erwähnung des Fastens (Nichtessen) des Engels in 12,19 (GI) und die des Goldes in 12,8, wobei in den Reden Tobits in Blick auf Edelmetalle immer nur von Silber die Rede ist. Motivfelder, die die Schlussreden dominieren Die Reden des geheilten Tobit und Engels zeichnen sich in Bezug auf den ersten Teil der Rahmenreden durch einen veränderten Inhalt aus, der sich deutlich auf der semantischen Ebene niederschlägt. Die oben genannten Motive werden fast gar nicht aufgegriffen, stattdessen häufen sich Gottesbezeichnungen und Verben, mit denen das Verhältnis der Menschen zur Gottheit umschrieben werden: Gott132 und Verben des Preisens, Bekennens und Erhebens.133 Diese Verben, die in 13,6 und 14,7 als eine Abfolge von drei Akten in der Beziehungsgestaltung zwischen Gott und den Menschen erscheinen, finden sich im Monolog 1,3–2,11 nicht. In seiner Rede an Tobias 4,19 (GI), in der er seinen Sohn auffordert, Gott zu preisen, verwendet er das Verb εὐλογέω einmal. Die Reden, die der Binnenerzählung voraus gehen, umschreiben das Gottesverhältnis an zwei Stellen mit dem Verb μιμνῄσκομαι (3,3; 4,4). In seinen Schlussreden verwendet Tobit die Termini υἱοὶ Ισραηλ: 13,3; 14,7 (GII); υἱοὶ τῶν δικαίων: 13,6.13; λαὸς: 14,7 (GI); αἰχμαλώτους, ταλαιπώρους für die Bewohner Jerusalems 13,10 zur Bezeichnung der Gemeinschaft, der er sich zugehörig fühlt. Der Engel spricht allgemein über ἐνώπιον πάντν τῶν ζώντων ohne sich auf eine bestimmte, definierte Gruppe beziehen. Es fällt auf, dass die Kol128 ἀγοραστής: 1,13 (GI); ἀγοράζω 1,13 (GII); ἀργυρίου τάλαντα δέκα: 1,13; 4,20; ἐκλογιστία: 1,13.22; ἐριθεύομαι: 2,11; μισθός: 2,12.13; 4,14; 5,15.16; ὑπαρχόντων:4,7; μίσθιος: 5,12 (GI). 129 ἀπαρχή: 1,6; σῖτος, οἶνος, ἔλαιον, ῥόα, σῦκον, ἀκρόδρυα, 1,7 (GII); ἀργύριον: 1,7 (GII); ἐσθίω: 1,10.11; 2,1.2 (GII); 2,5; ἄρτος: 1,10.17; 2,5; 4,16; ἄριστον: 2,1.4 (GII); ἀριστάω: 2,1 (GII); ὄψον: 2,2; γεύω: 2,4; οἶνος: 4,15. 130 κτῆνος; 1,6 (GII); πρόβατον: 1,6 (GII); στρουθίον: 2,10; ἔριφος: 2,11. 131 λαβον γυναῖκα ἐκ τοῦ σπέρματος τῆς πατριᾶς ἡμῶν: 1,9; γυναῖκα πρῶτον λαβὲ ἀπὸ τοῦ σπέρματος τῶν πατέρων σου: 4,12. 132 θεός 12,6 (GI 2x).14.17.18.20; 13,1.4.7.15 (GI). 18 (GI), 14,2.4.5.6.7.8 (GII).10 (GII); τὸ ὄνομα αὐτοῦ·: 12,6; 13,11 (GI); ἔργον τοῦ θεοῦ: 12,6 (GII 2x), 12,11; δόξα τοῦ ἁγίου: 12,15 (GI); δόξα κυρίου: 12,15 (GII); κύριος: 12,20 (GII), 13,15 (GII), 14,2 (GI).7 (GI); 13,4.10; ὁ ζῶν: 13,1; πατὴρ: 13,4; κύριος τῆς δικαιοσύνης: 13,6.13 (GI); βασιλεύς τῶν αἰώνων: 13,6.9.13 (GII). 14,7; βασιλεύς: τοῦ οὐρανοῦ: 13,7.11; βασιλεύς ὁ μέγας: 13,15; θεὸς τοῦ Ισραηλ: 13,18 (GII). 133 εὐλογέω: 12,6.17.18; 13,1.6.10 (GI).15.18.; 14,7; ἐξομολογέω: 12,6.20; 13,3.6.10 (GI); 14,7; μεγαλωσύνην δίδωμι: 12,6; ὑψόω: 12,6; 13,4.6.7 (GI); 14,7.

Die Rahmenreden als Redezusammenhang

99

lektivbezeichnungen für die eigene Gemeinschaft aus 1,3–5,17a nicht übernommen werden.134 Umgekehrt erscheinen außer der Vokabel λαὸς die obengenannten Termini aus 13,1–18; 14,3–11 nicht in den ersten Reden. Die obigen Analysen verweisen auf zwei unterschiedliche Funktionen der Verwendung der genannten Motivfelder. Zunächst dienen sie der klaren Unterscheidung der Reden und damit derer Sprecher voneinander. Die beiden Topoi Endogamie/Tiere und die Verwendung primordialer Beschreibungskategorien erscheinen hauptsächlich in den Anfangsreden Tobits und werden damit mit dem blinden Tobit in Verbindung gebracht. Das Thema Gott, Äußerungen des Preisens und die Gemeinschaftsterminologie, die die Reden des sehenden Tobit auszeichnen, bleiben im Monolog wiederum unerwähnt. Der Wechsel auf der semantischen Ebene markiert damit einen Wandel in der Sichtweise der Figur Tobits. Diese Veränderung präsentiert sich jedoch nicht als scharfe Trennung zwischen dem blinden Tobit der Anfangsreden und dem sehenden Tobit in den Schlussreden, sondern als Entwicklung, die durch die Fortführung bestimmter Motive über alle Redeteile hinweg und durch die Integration von Aspekten aus den Anfangsreden in die Schlussreden sichtbar wird. Die dominanten Themen des ersten Teils (Bestattung, Gebote) erfahren im zweiten Teil hinsichtlich ihrer Ausführlichkeit eine Relativierung, aber sie werden wieder aufgegriffen. Auf die Themenfelder Geld und Nahrung beziehen sich die Reden des Engels und des geheilten Tobit stichwortartig. Umgekehrt klingt der Topos Preisen aus der zweiten Sequenz schon in Tobits Lehrrede an, die auch in der Verwendung der Termini ἀγαπάω und λαὸς auf die Schlussreden verweist. Diese wechselseitigen Bezugnahmen gewährleisen neben einem Netz von übergreifenden Stichwortverbindungen (Gefangenschaft, Scham, Mauer, Propheten, Stadt Jerusalem), der (fast) durchgängigen Verwendung der Leitbegriffe und des Wortfeldes Bewegung eine semantische Kohärenz der gesamten Reden, deren Aussageschwerpunkte allerdings verschieden gelagert sind. In der ersten Redesequenz thematisiert der Sprecher fast ausschließlich seine eigene Person und Interessen, während in der zweiten Sequenz der Engel und der geheilte Tobit Gott und dessen Handeln zum Gegenstand ihrer Reden machen. Die inhaltliche Differenz korrespondiert mit der unterschiedlichen Charakterisierung der beiden Sprecher in den jeweiligen Redeteilen. Der erste Redeteil 1,3–2,14; 3,1–6; 4,3–21 wird ausschließlich vom blinden Tobit bestritten. In seinem Monolog, seinem Gebet und in seiner Lehrrede an Tobias kommt nur er zu Wort, sodass die Sichtweise der Lesenden auf den Horizont seiner Perspektive beschränkt bleibt. Die in seinem Lebensrückblick nicht zu übersehenden Widersprüchlichkeiten lassen jedoch Zweifel an der Zuverlässigkeit des erzählenden 134 φυλὴ τοῦ Νεφθαλιμ : 1,4; φυλῶν Ισραηλ: 1,4; φυλαὶ: 1,5; οἶκος Νεφθαλιμ: 1,5; ἐκ τοῦ σπέρματος τῆς πατριᾶς: 1,9; 4,12; γένος μου: 1,9.17 (GI); 2,3 (GI) und τῶν πατέρων μου: 3,2.5 (GI).

100

Analyse der Rahmenreden

Tobits aufkommen, die seine Ambivalenz hinsichtlich des Umgangs mit Gemeinschaftsgrenzen bestärkt. Im Gespräch mit dem Engel/Begleiter 5,11–17a verfügt er fast vollständig über alle Redeanteile und gibt seinem Gegenüber kaum Gelegenheit, das Wort zu ergreifen. Sowohl quantitativ als auch inhaltlich besitzt er die Gesprächshoheit. Der Engel/Begleiter hingegen ist in seinem Gesprächsverhalten auffallend zurückhaltend135 und profiliert sich in seinen Äußerungen, sieht man von seiner kritischen Anfrage 5,12 ab, zu keiner eigenständigen Persönlichkeit. Im Gegenteil, er fügt sich dem Anliegen Tobits und übernimmt die geforderte Rolle eines Stammesbruders. Von dieser einseitigen Kommunikationsstruktur hebt sich der zweite Teil der Redefolge 12,6–20; 13,1b–18 und 14,3–11 klar ab. Dieser setzt ein mit einer Rede des Engels, die er aus eigener Initiative an ein definiertes Gegenüber richtet und mit einem konkreten Handlungsauftrag verbindet. Sein souveränes Auftreten kontrastiert gänzlich mit seinem Verhalten während seines Gespräches mit Tobit in 5,11–17a. Ebenso wechselt der nun geheilte Tobit in die Rolle des Zuhörers. Er lässt den Engel sprechen ohne ihn zu unterbrechen und seine Antwort in 13,2–18 bringt seine Zustimmung zum Ausdruck. So wie in 5,11,17a Tobit den Engel dazu bringt, in seinem Sinne zu handeln, gelingt es dem Engel hier, Tobit von seinem Anliegen zu überzeugen. Die letzte Rede Tobits 14,3–11 thematisiert indirekt den Aspekt der zuverlässigen Rede. Indem Tobit ein Ereignis in der Zukunft der erzählten Welt voraussagt (Zerstörung, Wiederaufbau Jerusalems und des Tempels), das in der Welt der Lesenden136 jedoch schon Vergangenheit ist, stellt seine Rede die Verlässlichkeit seiner Worte unter Beweis. Wie aber kann der Wandel der Sprecherpersönlichkeiten, ihres Gesprächsverhaltens und des Inhalts ihrer Reden erklärt werden? Die Abfolge der Rahmenreden gibt keinen Hinweis, der die Veränderung plausibel machen könnte. Daher soll im Folgenden untersucht werden, inwieweit die eingeschobenen Erzählteile 3,7–15; 3,16–17; 5,17b–11,19 und 14,12–14 den Prozess nachvollziehbar machen, der einerseits aus dem dominanten, monologisierenden Tobit einen Zuhörer werden lässt, der die Autorität des Engels akzeptiert, und andererseits den zunächst zurückhaltenden Engel in einen souverän auftretenden Redner wandelt.

135 Vgl. seine ausführlichen Antworten im Gespräch mit Tobias 5,5–8 (GII). 136 Die Bezeichnung Ἰουδαῖος (GII: 11,18) verweist auf den späteren nachexilischen, hellenistischen Kontext der Entstehung des Buches Tobit. Vgl. S.J.D. Cohen, Beginnings 175–197.

III.

Analyse der Erzählteile

Im folgenden Arbeitsschritt werde ich die erzählenden Passagen 3,7–15; 3,16–17; 5,17b–11,19 und 14,12–15 zunächst als einzelne Texteinheiten unter narratologischer Perspektive analysieren. Dabei soll dem Verhältnis zwischen der Figurenrede und den Erzählsequenzen innerhalb der narrativen Abschnitte besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Anschließend erfolgt eine Darstellung der vier Einzelpassagen als kohärenter Erzählzuammenhang.

1.

Analyse 3,7–15: Saras Schicksal

Der Abschnitt 3,7–15 gliedert sich zwei Teile: 3,7–9 berichtet von einem Konflikt zwischen Sara und den Mägden (GII: Singular) und 3,10–11 gibt das Gebet wieder, mit dem sich Sara an Gott wendet. In beiden Abschnitten dominieren die Redeanteile über die erzählte Handlung. Die erste Information, die die Lesenden in 3,7–9 erhalten, lautet, dass sich Sara Schmähungen (ὀνειδισμός) von den Mägden ihres Vaters anhören muss. Weiterhin erfahren sie, dass Sara die Tochter Raguels ist und Ekbatana in Medien lebt. Nach dieser knappen Vorstellung der Protagonistin und deren Problem erläutert der Erzähler den Anlass für den Konflikt. Er berichtet von den sieben Ehemännern, die in der Hochzeitsnacht vom bösen Dämon Aschmodai (Ἄσμοδαυς τὸ πονηρὸν δαιμόνιον) getötet wurden, bevor die Ehe vollzogen werden konnte. Die folgende Rede der Mägde zeigt deutlich, dass ihnen die Todesfälle zwar bekannt sind, sie aber nichts über den Dämon wissen. Sie deuten die tödlichen Vorgänge als Morde, die von Sara begangen wurden (3,8). Neben dem Vorwurf, die Männer erwürgt (GI: ἀποπνίγω) bzw. getötet zu haben (GII: ἀποκτείνω) beklagen sie die Züchtigungen, die sie durch Sara ertragen müssen. Die sehr emotional gehaltene Rede endet mit dem Wunsch, dass Sara kinderlos sterben möge. Der allwissende Erzähler berichtet knapp über die Handlung und stellt das für die Lesenden notwendige Wissen zur Verfügung. Der Schwerpunkt der narrati-

102

Analyse der Erzählteile

ven Präsentation liegt auf den Reden der Akteurinnen. Die Kenntnis über das Handeln des Dämons innerhalb der erzählten Welt ist ausgesprochen vage. Die Mägde wissen definitiv nichts über den Dämon als den Verursacher der Todesfälle und über Saras Kenntnisstand macht der Text keine Aussage. Der Bericht über das destruktive Verhalten des Dämons in 3,7–10 bietet lediglich die Erklärung für den eigentlichen Konflikt, der hier thematisiert wird: Es geht um die Schmach (ὄνειδος), die Sara von den Mägden erfährt. Die Identifizierung des Topos Schmach als dem eigentlichen Thema von 3,7–10 erklärt die angesichts der Heiratsproblematik zunächst irritierende Figurenkonstellation in diesem Abschnitt: Aufgrund der Dramatik der vorangegangenen Hochzeitsnächte und der daraus folgenden brisanten Frage, ob Sara überhaupt einmal heiraten wird, wäre an dieser Stelle eher ein Gespräch zwischen Sara und ihren Eltern zu erwarten, als der wörtlich wiedergegebene Konflikt zwischen ihr und den Mägden. Der Erzähler lenkt jedoch die Aufmerksamkeit auf die Reaktion von Unbeteiligten und den daraus resultierenden Konflikt mit der Protagonistin, anstatt das akute Problem (die Verhinderung der Eheschließung) von den Betroffenen verhandeln zu lassen. Die Reden der Mägde und Saras dienen der Charakterisierung Saras. Die Mägde trauen ihrer Herrin aufgrund der erfahrenen Züchtigungen zu, sieben Männer erwürgt bzw. getötet zu haben. Ihre Rede lässt Sara als eine herrische, grobe junge Frau erscheinen, die vor körperlicher Gewalt nicht zurückschreckt. Diese deutet den Vorwurf der Mägde als Schmähung, auf die sie mit Rückzug reagiert. Statt sich gegen die Anschuldigungen der Mägde zu wehren, wendet sie sich an Gott mit der Bitte um einen Ausweg. Im Abschnitt 3,10–15 gibt der Erzähler Saras Gedanken und ihre Gebetsrede wörtlich wieder. Gegen den verbalen Angriff der Mägde reagiert Sara nicht mit einer Verteidigung, sondern sie entzieht sich der Auseinandersetzung, indem sie in Betrübnis beschließt, sich zu erhängen (ἀπάγχω). Beide Textversionen betonen mit den Formulierungen (3,10: GI: ταῦτα ἀκούσασα; GII: ἐν τῇ ἡμέρᾳ), dass dieses resignative Verhalten als eine Antwort auf die Beschimpfung der Mägde zu verstehen ist und nicht in einem direkten Zusammenhang mit den missglückten Heiratsversuchen steht. Sara setzt ihr Vorhaben nicht in die Tat um, da sie ihrem Vater die Schande (GI: ὄνειδος) ersparen möchte, denen er ausgesetzt wäre, wenn sie als sein einziges Kind sich das Leben nehmen würde. Das mögliche Ergrauen der Haare Raguels wird hier als Folge der Schande betrachtet, nicht der Heiratsmisere seiner Tochter. Dass Sara mehr unter den Beschimpfungen leidet als unter dem Verhalten des Dämons verdeutlicht GII am Ende ihres Gedankenganges mit der Aussage, dass sie nach ihrem Tod keine Schmähungen mehr hören werde (3,10). Der Erzähler leitet Saras Gebet ein mit einer Ortsangabe: Sie betet am Fenster (πρὸς τῇ θυρίδι). Offensichtlich befindet sie sich innerhalb eines Hauses. GII

Analyse 3,7–15: Saras Schicksal

103

macht mit der Erwähnung des Obergemachs ihres Vaters (3,10: τὸ ὑπερῷον τοῦ πατρὸς αὐτῆς) deutlich, dass es sich dabei um das Haus Raguels handeln muss. Das Gebet zeigt folgenden Aufbau: Zunächst preist Sara Gott (3,11: GI: κύριε ὁ θεός μου, GII: θεὲ ἐλεήμων) und seinen Namen, als Subjekte des Preisens nennt sie alle seine Werke. Mit der Erwähnung der Hinwendung ihres Angesichts und ihrer Augen zu Gott lenkt sie die Aufmerksamkeit auf ihre Person und ihr Anliegen (3,12). Sie bittet um Erlösung von der Erde mit dem Ziel, nicht mehr weitere Schmähungen hören zu müssen. Sara appelliert an das Wissen Gottes (GII: δέσποτα) um ihre sexuelle Unschuld und der Reinhaltung sowohl ihres als auch des Namens ihres Vaters. Worauf sich der Terminus ἐν τῇ γῇ τῆς αἰχμαλωσίας μου beziehen mag, erschließt sich in diesem Kontext nicht. Trotz ihres untadeligen Verhaltens wird es ihr jedoch nicht möglich sein, ihren Vater zu beerben. Nachdem schon sieben potentielle Ehemänner verstorben sind, gibt es ihrer Einschätzung nach keinen weiteren Verwandten, den sie heiraten könnte. Die Aussichtslosigkeit ihrer Situation kumuliert in der Frage: καὶ ἵνα τί μοί ἐστιν ἔτι ζῆν? Am Ende ihres Gebets äußert sie die einzige für sie mögliche Alternative: Entweder lässt Gott sie sterben oder er erbarmt sich ihrer. Offensichtlich weiß Sara nichts von ihrem Verwandten Tobias. Ohne es explizit zu benennen, setzt der Erzähler eine endogame Heiratspraxis voraus, die für Sara bindend ist. Sie scheint nicht in Betracht zu ziehen, dass Gott ihr auf eine andere Weise helfen könnte. Sie betet nicht um die Bannung der Bedrohung durch den Dämon oder um das mögliche Auffinden eines weiteren Bräutigams. Der Abschnitt 3,7–11 ist chronologisch und ereignislogisch den narrativen Einheiten 3,16–17 und 5,17b–11,9 vorgeordnet. Der Erzähler präsentiert eine Vorgeschichte aus der Perspektive Saras und lässt die Lesenden am Innenleben dieser Figur teilnehmen. Sie erfahren, dass es nicht die Erlebnisse der Hochzeitsnächte sind, die Sara unglücklich machen, sondern die Schmähungen durch die Mägde. Die erzählerische Hervorhebung der Figur Saras in diesem Erzählabschnitt kontrastiert gänzlich mit ihrem zurückhaltenden Auftreten in der Binnenerzählung 5,17b–11,9. Der in 3,7–15 geweckten Lesererwartung, dass nämlich Sara im Mittelpunkt des Geschehens stehe, steuert der Erzähler bewusst entgegen, indem er in 5,17b–11,9 Sara zu einer Nebenfigur macht. Der Topos Scham bringt Sara in eine Verbindung mit Tobit. In seinem Monolog berichtet Tobit, dass er wegen Hannas Verhalten vor Scham errötet (2,14: ἐρυθριάω). Als Begründung für seinen Todeswunsch nennt er in seinem Gebet die Schmähungen (3,6: ὀνειδισμός), die er sich anhören musste. So wie Sara von ihrer Unschuld überzeugt ist (trotz ihrer Übergriffe gegenüber den Mägden), behauptet Tobit, fälschlicherweise geschmäht zu werden (ὀνειδισμοὺς ψευδεῖς ἤκουσα 3,6). Neben dem gemeinsamen Motiv des Wunsches nach Schamvermeidung stellt der Hinweis auf die Gleichzeitigkeit zwischen dem Gebet Tobits und dem verbalen Angriff der Magd mit dem anschließenden Gebet Saras eine

104

Analyse der Erzählteile

Nähe zwischen den beiden Figuren her. Auf der semantischen Ebene lässt der Erzähler Sara Termini aus den Reden Tobits verwenden: ᾅδης (13,2); ὄνειδος (3,4.6); πρόσωπον (3,6); ἀπολύω ἀπὸ τῆς γῆς (3,6); αἰχμαλωσία (3,4). In erzähltechnischer Hinsicht erfüllt der Abschnitt 3,7–10 eine mehrfache Funktion. Zunächst informiert er die Lesenden über die familiäre Situation Saras in Ekbatana und die Bedrohung durch den Dämonen Aschmodai. Mit den Angaben über den Dämon sorgt der Erzähler dafür, dass die Lesenden über ein größeres Wissen verfügen als einige Figuren (Mägde) in der erzählten Welt. Weiterhin weckt die erzählerische Fokussierung auf die Figur Saras die Leseerwartung, dass im weiteren Verlauf der Geschichte Sara weiterhin die Rolle der Hauptakteurin spielen werde. Schließlich motiviert das Gebet das folgende Eingreifen Gottes in das Geschehen.

2.

Analyse 3,16–17: Erhörung des Gebets

Die Erzählsequenz 3,16–17 bildet neben 14,12–15 den einzigen Abschnitt im gesamten Buch Tobit, in denen ausschließlich von einer Handlung ohne wörtliche Rede berichtet wird. Der Erzähler benennt den Hauptakteur dieses Textabschnitts indirekt mit der Bezeichnung δόξα τοῦ μεγάλου Ραφαηλ (GI) bzw. δόξα τοῦ θεοῦ (GII) und beschreibt die ihn betreffenden Handlungen in passiven Verbformen. Trotz der auf diese Weise konstruierten Entzogenheit der Gottheit gibt es eine Möglichkeit, die Ferne zu überwinden. Es sind die Gebete Tobits und Saras, die erhört werden und den Engel Raphael zu einer Intervention veranlassen. Bemerkenswerterweise fasst der Erzähler die beiden Gebete in der Singularform ἡ προσευχὴ zu einem Gebet zusammen. Der Engel als Mittlergestalt zwischen Gott und den Menschen wird ausgesandt, um Tobit und Sara zu heilen (ἰάομαι). Der Text führt explizit aus, welche Prozesse unter dem Terminus Heilung zu verstehen sind: Tobit soll von seiner Blindheit befreit werden, indem Raphael die weißen Flecken von dessen Augen löst. Durch die Heirat mit Tobias und der damit einhergehenden Erlösung von dem Dämon wird Sara Heilung erfahren. Der Erzähler betont ohne eine Angabe von Gründen, dass Tobias das Recht habe, sie zu beerben. Das helfende Eingreifen des Engels vollzieht sich damit auf der physischen und der sozialen Ebene. Auf welche Weise jedoch Raphael seinen Auftrag realisieren soll, lässt der Erzähler offen. Die Handlungsanweisung an den Engel rahmt der Erzähler mit dem Hinweis der Simultanität der Ereignisse, die der Beauftragung vorangehen und ihr folgen. GII betont sogar denselben Augenblick (Ἐν αὐτῷ τῷ καιρῷ), indem das Gebet Saras und Tobits (ἡ προσευχὴ ἀμφοτέρων) erhört wird. Beide Textversionen erwähnen die Gleichzeitigkeit (GI: ἐν αὐτῷ τῷ καιρῷ, GII: ἐν ἐκείνῳ τῷ καιρῷ) der

Analyse 5,17b–11,19: Heilung Saras und Tobits

105

Aussendung Raphaels und der Ortswechsel, die Tobit in sein Haus zurückführen und Sara aus dem Obergemach herabsteigen lassen. Die Parallelisierung der Handlungsabläufe (Gebete, Ortsveränderung) und deren Zusammenführung in der Entscheidung Gottes, den jeweiligen Akteuren zu helfen, nimmt auf der strukturellen Ebene die inhaltliche Entwicklung der Binnenerzählung vorweg, nämlich die Zusammenführung der beiden Familien. Gott reagiert auf die Gebete Saras und Tobits nicht mit der Erfüllung ihrer Wünsche, sondern er sich entscheidet sich für Heilungsoptionen, die deren Vorstellungswelt übersteigen. Er durchbricht ihre Erwartungshorizonte, ohne sie davon in Kenntnis zu setzen. Über dieses Wissen verfügen nun die Lesenden: Sie kennen Gottes Plan der Heilung und wissen um die Rolle Raphaels in dem Geschehen. Der Abschnitt 3,16–17 bietet damit eine knappe Handlungsskizze, die in groben Zügen dem Plotschema von 5,17b–11,19 entspricht: Der Engel sorgt für die Heilung Tobits und die Heirat von Sara und Tobias. Die Präsentation des nüchternen Handlungsgerüst vor dem Erzählbeginn in 5,17b ermöglicht eine Distanz zu den folgenden erzählten Ereignissen, die es erlaubt, das Gestaltungspotenzial des Erzählers wahrzunehmen, mit dem er aus den wenigen inhaltlichen Vorgaben eine eigene Erzählwelt entwirft. Der Abschnitt 3,16–17 stellt jedoch nicht nur die grundlegenden Handlungselemente zu Verfügung. Vielmehr wird hier ebenfalls die grundsätzliche Deutungsperspektive der folgenden Erzählung formuliert: Gott ist der Initiator der Handlung und die Ereignisse verlaufen im Sinne seiner Beauftragung. Seine Intention ist die Heilung Saras und Tobits, d. h. nicht nur das Abschälen der weißen Flecken von Tobits Augen, sondern auch die Zusammenführung der beiden Familien durch die Heirat von Sara und Tobias sind als Heilungsprozesse zu verstehen. In 3,16–17 wird die Strategie, die Lesenden mit mehr Wissen auszustatten als die Erzählfiguren, besonders greifbar. Mit Blick auf die Frage nach den Hauptakteuern der Erzählung erfahren die Lesenden jedoch eine ähnliche Zurückweisung ihrer Erwartungen wie die beiden Betenden Sara und Tobit. Der Abschnitt gibt mit seiner neutralen Präsentation der Figuren keinen Hinweis darauf, wem die Rolle des Helden/der Heldin zukommen wird.

3.

Analyse 5,17b–11,19: Heilung Saras und Tobits

Die Geschichte von der Heilung Tobits und Saras bildet einen geschlossenen, kohärenten Handlungszusammenhang, der auch ohne die sie rahmenden Redeund Erzählteile als eine sinnvolle Texteinheit gelesen werden kann. Aus diesem Grund werde ich im Folgenden von diesem Textabschnitt als einer Binnenerzählung sprechen.

106

Analyse der Erzählteile

Unter der Voraussetzung, dass 5,17b den Beginn und 11,19 das Ende der Binnenerzählung markieren137, ergibt sich folgende, konzentrisch angeordnete Gesamtstruktur: 5,17b–6,1: 6,2–9: 6,10–18: 7,1–17: 8,1–9a: 8,9b–9,6: 10,1–7a: 10,7b–11,15: 11,16–19:

Aufbruch des Tobias und seines Begleiters Reise. Beschaffung der Heilmittel für Tobit Gespräch zwischen dem Engel/Asarja und Tobias Freude Raguels und Feier Vertreibung des Dämons Freude Raguels und Feier Gespräch zwischen Hanna und Tobit Heimreise. Anwendung der Heilmittel für Tobit Ankunft Saras in Ninive

A B C D E D′ C′ B′ A′

Das Mittelstück der Binnenerzählung bildet der Bericht über die Hochzeitsnacht des Tobias und der Sara, der von der Vertreibung des Dämons und des Gebets des Hochzeitpaares erzählt. Dieses Ereignis ist eingebettet in die spiegelbildliche Anordnung der Motivbereiche Freude und Feier (D-D′), Gespräche zwischen zwei Akteuren (C–C′), Reise und Heilung (B-B′), und der Aufbruch des Tobias bzw. die Ankunft Saras (A-A′). Das zentrale Ereignis der Erzählung findet in der Hochzeitsnacht statt, während die Heilung Tobits eine Nebenhandlung darstellt. In einem ersten Analyseschritt soll die Erzählung abschnittweise untersucht (3.1–10) und in einem zweiten Schritt die zugrundeliegende Plotstruktur und das Erzählverfahren beschrieben werden (3.11).

3.1

Analyse der einzelnen Erzähleinheiten

Der Textbereich 5,17b–11,19 enthält Passagen erzählter Handlung und ausführliche, direkte Figurenreden, die deutlich überwiegen und damit die Erzählung dominieren. Für die folgende Untersuchung bedeutet diese Beobachtung, dass jeder Erzählabschnitt zunächst in Blick auf die Handlung narratologisch analysiert und dann die Reden unter dem Aspekt ihrers Inhalts und ihrer Funktion betrachtet werden.138

137 Zur Textabgrenzung vgl. die Analyse der Plotstruktur in Kapitel III.3.11 dieser Arbeit. 138 Vgl. R. Alter, Art 79–110; I. Nowell, Book 179–192.

Analyse 5,17b–11,19: Heilung Saras und Tobits

3.2

107

5,17b–6,1: Aufbruch des Tobias und seines Begleiters

In der ersten Szene berichtet der auktoriale Erzähler vom Reiseaufbruch einer Erzählfigur (5,17b) und von der Reaktion weiterer Figuren auf deren Weggang (5,18–22). Es handelt sich um Tobit und seinen Sohn Tobias, den ein ungenannter Mann begleiten wird. Tobit bezeichnet ihn als ἄνθρωπος (GI) bzw. ἀδελφός (GII), und äußert den Wunsch, dass ein Engel (ἄγγελος) die beiden begleiten werde. Für ihn sind der Begleiter und der Engel offensichtlich nicht dieselbe Person. Der Erzähler beschränkt die Beschreibung der Handlung der Erzählpassage auf die Aussagen, dass Tobias (mit dem Engel in Begleitung des Hundes GI 5,17; GII 6,2) hinausgeht und die Reise antritt. GII ergänzt die Darstellung um die Verabschiedung des Tobias von seinen Eltern. Die erzählte Handlung bildet jedoch nicht den Beginn der Binnenerzählung. Ihr geht eine Rede Tobits (5,17b) voraus, die damit den Auftakt der Erzählung darstellt. Der Umfang der Rede nimmt einen erheblich größeren Raum ein als die knappe Handlungsbeschreibung und zieht damit die Aufmerksamkeit der Lesenden auf sich. In dieser Rede (GII) fordert Tobit seinen Sohn auf, Reisevorbereitungen zu treffen und sich mit einem Begleiter (ἀδελφός) auf den Weg zu machen. Er formuliert seine Hoffnung, dass Gott die beiden bewahren und sicher zurückkehren lassen werde. Außerdem geht er davon aus, dass ein Engel die Reisenden beschützen werde. Als Reaktion auf den Wunsch Tobits gibt Tobias keine verbale Antwort, sondern handelt entsprechend der Aufforderung seines Vaters. Eine Äußerung des Begleiters wird nicht erwähnt. GI formuliert die Rede Tobits prägnanter als in GII und unterbricht sie mit der Erwähnung einer Handlung des Tobias. Nach dem Imperativ, die Reise vorzubereiten, folgt ein Wechsel auf die Handlungsebene mit dem Hinweis, dass Tobias die Reisevorbereitungen trifft. Nach dieser Aussage spricht Tobit wieder und fordert Tobias auf, mit einem Begleiter (ἄνθρωπος) zu reisen. Er beendet seine Rede mit der Vertrauensäußerung, dass Gott die Reise gelingen lasse und ein Engel sie begleiten möge. Nach dieser Rede verlassen Tobias und der Engel den Ort und beginnen die Reise in Begleitung des Hundes. In GI und GII hat die Rede Tobits in 5,17b eine handlungsinitiative Funktion. Sie ist der Auslöser für den Gang der Geschehnisse, der nun seinen Lauf nimmt. Die enge Verbindung zwischen der Sprech- und der Handlungsebene demonstriert GI deutlicher als GII: Jeder ausgesprochene Imperativ findet seine direkte Entsprechung in der Handlung der Akteure. Eine Erzählung, die die Rede- und Handlungsanteile in ein solches korrespondierendes Verhältnis setzt, bezeichnet Robert Alter als eine »dialogue-bound narration«.139 Die Rollenverteilung auf einen Sprecher, der nicht handelt, und auf einen Handelnden, der nicht spricht, macht eine bestimmte Beziehungskonstellation deutlich: Tobit stellt Anforde139 Vgl. R. Alter, Art 81.

108

Analyse der Erzählteile

rungen an seinen Sohn, denen dieser widerspruchslos folgt. Der Inhalt seiner Rede charakterisiert Tobit als einen zuversichtlichen Vater, der seinen Sohn im Vertrauen auf die Hilfe Gottes auf eine Reise schickt. Sein sorgender Umgang findet seinen Ausdruck in seiner Entscheidung, seinen Sohn nicht allein reisen zu lassen, und im Segen, den er ihm bei der Verabschiedung zuspricht (5,17 GII). Bevor der Erzähler vom weiteren Verlauf der Reise berichtet, erzählt er von der Reaktion der Eltern auf den Weggang des Sohnes. Die Lesenden erfahren, dass Hanna, die Mutter, weint und ein Gespräch mit Tobit beginnt. Sie stellt seinen Entschluss infrage, den gemeinsamen Sohn Tobias fortzuschicken. In seiner Antwort begründet Tobit seine Entscheidung nicht, sondern er betont seine Zuversicht, dass Tobias wohlbehalten zurückkehren werde. Er setzt sein Vertrauen in einen Engel, der ihn begleiten möge. Damit ist das Gespräch beendet und Hanna hört auf zu weinen. Abgesehen davon, dass es Tobit mit seiner Antwort gelingt, Hanna zu trösten, dient der kurze Wortwechsel als ein »contrastive-dialogue«140 zwischen den Ehepartnern der Charakterisierung ihrer unterschiedlichen Persönlichkeiten. Hanna ist die Sicherheit ihres Sohnes wichtiger als die Aussicht auf ein potentielles Vermögen. Tobit geht auf ihre Einwände nicht ein, sondern wiederholt seinen Optimismus aus 5,17b, dass Tobias dank der Begleitung eines Engels wieder zurückkehren werde. In der Textversion GII geht Tobias nach dem Dialog zwischen seinen Eltern mit seinem Begleiter, den die Erzählerstimme hier zum ersten Mal als Engel bezeichnet, und dem Hund hinaus und macht sich auf den Weg. Diese Handlungsabfolge unterscheidet sich von GI, wo die beiden Reisenden mit dem Hund weggehen, bevor vom Weinen Hannas und ihrem Gespräch mit Tobit berichtet wird. Die Gestaltung der Handlungsabfolge in GII suggeriert, dass Tobias die (indirekte) Zustimmung der Mutter abwartet, bevor er die Reise antritt. Der in GI nachgeschobene bzw. in GII eingeschobene Dialog zwischen Hanna und Tobit kommentiert aus der Sicht Hannas kritisch die zuvor erzählten Ereignisse. Die erzählerische Präsentation des Reiseaufbruchs des Tobias realisiert sich damit nicht in einer detaillierten Beschreibung einzelner Handlungsschritte. Eine sehr zurückhaltende Erzählerstimme macht bezüglich der Handlung nicht mehr Angaben als die, die für das Verständnis des Ablaufs notwendig sind. Der Schwerpunkt der Präsentation liegt auf den Reden einzelner Figuren, die durch ihr Sprechen die Handlung motivieren und kommentieren. Der große Anteil an Figurenrede vermittelt eine Unmittelbarkeit, die die erzählte Zeit und die Erzählzeit in ein nahezu deckungsgleiches Verhältnis bringt. Die Sprecher dieser Reden sind ausschließlich Tobit und Hanna, Tobias und der Engel äußern sich nicht. Während Letztere nur auf der Handlungsebene aktiv sind und Tobit ausschließlich spricht, bildet Hanna eine Ausnahme. Sie ist die einzige Akteurin, 140 Vgl. ebd. 91.

Analyse 5,17b–11,19: Heilung Saras und Tobits

109

von der sowohl ein Handeln als auch eine Rede berichtet werden. Ihre Charakterisierung sowohl auf der Handlungs- als auch auf der Sprechebene verleiht dieser Figur mehr Authentizität als den übrigen Akteuren. Die Erwähnung des Hundes stellt zwar ein unbedeutendes Detail im Erzählverlauf dar, führt den Lesenden jedoch die Szene plastischer vor Augen. Die Dominanz des Wortfeldes Bewegung (ὁδός, πορεύομαι, συμπορεύομαι, ἐξέρχομαι, ἀπέρχομαι, ἐξαποστέλλω, ἔρχομαι, ὑποστρέφω) in diesem Textabschnitt verweist auf die Bedeutung, die dem Topos Reisen beigemessen wird.

3.3

6,2–9: Reise. Beschaffung der Heilmittel für Tobit

Den Beginn der nächsten Erzählsequenz markieren eine Zeitangabe und ein Ortswechsel: Am Abend (GI: ἑσπέρα) bzw. in der Nacht (GII: νύξ) erreichen die Reisenden den Fluss Tigris und übernachten dort. Nach der summarischen Darstellung des bisherigen Reiseverlaufs (Οἱ δὲ πορευόμενοι τὴν ὁδὸν ἦλθον) verlangsamt sich das Erzähltempo und der Erzähler berichtet von einzelnen, aufeinander folgenden Handlungsschritten: Der Junge (die Erzählerstimme von 6,2–14 spricht in GI und GII nur von παιδίον) steigt in den Fluss, ein Fisch springt aus dem Wasser, der Junge schreit (GII), fängt den Fisch und wirft ihn an Land. Nach GII schneidet er das Tier auf, entnimmt ihm die Organe, brät es, verzehrt es und legt den Rest in Salz ein. Nach dem Essen reisen der Engel und der Junge weiter bis nach Medien. GI präsentiert die Ereignisse in einer leicht abgeänderten Weise: Das Ausnehmen des Fisches wird in dem Verb ποιέω zusammengefasst und den Fisch braten und verspeisen der Engel und der Junge gemeinsam.141 GI beendet die Handlungssequenz wie GII mit dem raffenden Bericht über die Weiterreise, deren Ziel in GI eindeutiger mit der Nennung der Stadt Ekbatana lokalisiert wird. In beiden Textversionen spielt der Hund keine Rolle mehr. Der Wechsel von der zeitraffenden Erzählweise über die Reise und der szenischen Darstellung der Ereignisse am Fluss Tigris verdeutlicht den Interessenschwerpunkt des Erzählers. Es geht ihm nicht um eine Reisebeschreibung, sondern um das Agieren des Engels und des Tobias. Innerhalb der Handlungssequenz (6,2–6) ist der Engel der einzige Sprecher und Tobias der ausschließlich Handelnde, während nach dem Aufenthalt am Tigris auf dem Weg Richtung Osten Tobias zum ersten Mal spricht und sich mit einer Frage an den Engel wendet. Die erste Rede des Engels erfolgt nach dem Herausspringen des Fisches aus dem Wasser. Der allwissende Erzähler kennt die Motivation und Intention der 141 GI 12,19: Raphael behauptet, in seiner Rolle als Asarja weder gegessen noch getrunken zu haben.

110

Analyse der Erzählteile

Akteure, deshalb kann er von dem Wunsch des Tobias, sich zu waschen, und der Absicht des Fisches, ihn zu verschlingen, berichten. Der Engel verhindert diesen Angriff, indem er spricht und Tobias befiehlt, den Fisch zu ergreifen (GI: Ἐπιλαβοῦ τοῦ ἰχθύος, GII: Ἐπιλαβοῦ καὶ ἐγκρατὴς τοῦ ἰχθύος γενοῦ). Der Erzählduktus wechselt auf die Handlungsebene und lässt Tobias entsprechend der Anweisung handeln. Dann spricht der Engel ein zweites Mal und gibt eine genaue Anleitung, wie Tobias mit dem Tier weiter verfahren soll. Er fordert ihn auf, den Fisch aufzuschneiden, die Galle, das Herz und Leber herauszunehmen und gut aufzubewahren. GII ergänzt diese Ausführungen noch um den Hinweis, dass es sich bei den Organen um nützliche Arznei handele (6,5). Wieder reagiert Tobias wie es aus 6,4 bekannt ist: Er setzt die Rede des Engel in die Tat um. Das Verhältnis zwischen der Handlung und der Figurenrede lässt sich auch hier im Sinne einer »dialogue-bound narration« als eine Realisierung des Redeinhalts in konkrete Handlung beschreiben. Die Rede des Engels hat neben ihrer handlungsmotivierenden Funktion ebenfalls eine handlungsverhindernde Wirkung. Dessen verbale Intervention rettet Tobias vor dem Angriff des Fisches. In der Textsequenz 6,1–6 spiegelt sich die Figurenkonstellation aus 5,17b: Eine Figur spricht ausschließlich, eine weitere Figur handelt im Sinne des Gesagten, äußert sich selbst aber nicht. Neben dieser Übereinstimmung ist auch eine Szeneneinteilung erkennbar, die der aus 5,17b–22 entspricht. Der erste Teil der beiden Szenen ist nach dem Schema Rede – Handlung gestaltet, der zweite Teil ergänzt den Abschluss der Handlungsfolge um einen Dialog. In 5,18–22 sprechen Hanna und Tobit miteinander, während in 6,7–9 Tobias und der Engel ein kurzes Gespräch führen. Wie Hanna ergreift Tobias die Initiative und fragt nach dem Nutzen der bisherigen Handlung bzw. der Bedeutung der Fischorgane. Dabei spricht er den Engel mit dem Namen Ἄζαρια ἄδελφε an. Tobias scheint nichts von der wahren Identität seines Begleiters zu ahnen. Der Engel klärt diesen falschen Eindruck nicht auf und gibt damit zu verstehen, dass er im weiteren Verlauf der Ereignisse eben nicht als Engel, sondern als menschlicher Begleiter des Tobias wahrgenommen werden möchte. Mit seiner Antwort demonstriert der Engel/Asarja sein Wissen in heilkundlichen Angelegenheiten und erklärt damit seine vorherigen Anweisungen in 6,5. Wie Hanna scheint Tobias mit der Antwort zufrieden zu sein, denn es folgen keine weiteren Fragen. Auch im Abschnitt 6,2–9 ist eine Häufung von Bewegungsverben festzustellen: πορεύομαι, ἔρχομαι, καταβαίνω, ἀναπηδάω, ὁδεύω, ἐγγίζω, GII: ἀναφέρω. Auch wird mit der Erwähnung des Fisches der Motivbereich Tier aus 5,17b–22 wieder aufgegriffen. Das Themenfeld Nahrung klingt in Binnenerzählung hier mit den Verben καταπίνω und ἐσθίω zum ersten Mal an.

Analyse 5,17b–11,19: Heilung Saras und Tobits

3.4

111

6,10–18: Gespräch zwischen dem Engel/Asarja und Tobias

Der nächste Szenenwechsel wird eingeleitet durch die Konjunktion ὡς (GI) bzw. ὅτε (GII) und einer Ortangabe: GI spricht von Ραγη,142 während in GII die Reisenden sich der Stadt Ekabatana nähern. In diesem Textabschnitt überlässt der Erzähler die erzählerische Bühne fast vollständig dem Dialog zwischen dem Engel/Asarja und Tobias. Seine Stimme ist nur im Anfangssatz, der von der Reise berichtet, und im Schlusssatz des Abschnitts zu hören. Hier spricht er nicht über eine Handlung, sondern formuliert den inneren Gefühlszustand einer Erzählfigur. Das Gespräch zwischen dem Engel/Asarja (GII: Raphael) und Tobias bildet den Klärungsprozess in Hinblick auf das eigentliche Reiseziel ab. Die Rede gliedert sich in drei Teile: In 6,11–13 konfrontiert der Engel/Asarja seinen Begleiter mit dem Plan, ihn mit der Tochter desjenigen zu verheiraten, bei dem sie folgende Nacht verbringen werden. Tobias ist damit nicht einverstanden und formuliert ein Gegenargument in 6,14–15. Die Antwort des Engels/Asarjas in 6,16–18e entkräftet den Einwand des Tobias und überzeugt ihn, dem Heiratsplan zuzustimmen. Die folgende Analyse zeichnet den Argumentationsgang der beiden Sprecher nach. In 6,11 teilt der Engel/Asarja dem Tobias seinen Entschluss mit, die Nacht bei Raguel zu verbringen. Er informiert ihn über die bestehenden Verwandtschaftsverhältnisse und darüber, dass Raguels einziges Kind seine Tochter Sara ist. Offensichtlich kennt Tobias seine erweiterte Großfamilie nicht. Unvermittelt konfrontiert der Engel/Asarja die Lesenden und Tobias mit dem Vorhaben, Sara mit Tobias zu verheiraten. Er begründet die Angemessenheit dieses Plans mit dem Anspruch Tobias’ auf das Erbe Saras, da er der einzige Verwandte der jungen Frau sei (GI: σὺ μόνος εἶ ἐκ τοῦ γένους αὐτῆς. GII: σὺ ἔγγιστα αὐτῆς εἶ).143 Darüber hinaus beschreibt der Engel/Asarja Sara als ein schönes, tüchtiges und verständiges Mädchen.144 Diese Einschätzung steht in einem merkwürdigen Gegensatz zu den Äußerungen der Mägde in 3,9. Er appelliert dringend an Tobias, auf ihn zu hören (ἄκουσόν μου) und fordert ihn damit indirekt auf, seinen Plänen und seinen Verhandlungen mit Raguel zu vertrauen. Er entwirft einen Zeitplan, der die Hochzeit nach der Rückkehr aus Rages festsetzt. Weshalb eine weitere Reise nach Rages unternommen werden muss, erschließt sich aus dem Redekontext nicht. Am Ende seines ersten Überzeugungsversuchs betont der Engel/Asarja die Pflicht zur Heirat mit Sara, indem er sich pauschal auf das Gesetz/das Buch des 142 Der Ortsname Rages steht nur hier im Femininum. 143 Der Hintergrund seiner Argumentation bildet ein Endogamie-Konzept, das die Heirat nur mit einem Mitglied aus der eigenen Gemeinschaft erlaubt. Vgl. Th. Hieke, Endogamy 103– 120. 144 Zu den positiven Eigenschaften Saras vgl. G.D. Miller, Marriage 34–91.

112

Analyse der Erzählteile

Moses145 beruft, nach dessen Bestimmungen sich Raguel angeblich des Todes schuldig machen würde, wenn er seine Tochter mit einem anderen Mann verheiraten würde.146 Mit diesem Rekurs auf die Schrift führt er eine Autorität in seine Argumentation ein, die Tobias unter starken Druck setzt. Diese Überzeugungsstrategie, die auf der Attraktivität der Braut und einer behaupteten Schriftkonformität beruht und die ausschließlich im Interesse des Raguel formuliert ist, veranlasst Tobias jedoch nicht zur erwünschten Zustimmung (6,14– 15). Er fürchtet eine existentielle Bedrohung für sich durch die Heirat mit Sara. Anstatt auf den Engel/Asarja zu hören, berichtet er von dem, was ihm vorher zu Ohren gekommen war (6,14: GI: ἀκήκοα ἐγὼ GII: ἤκουσα). Ein Dämon verhinderte siebenmal die Hochzeit Saras, indem er die Männer im Brautgemach tötete. Tobias hat nun die Sorge, dasselbe Schicksal zu erleiden und dass seine Eltern aus Trauer über ihr einziges Kind ebenfalls sterben werden. Er ist nicht bereit, sein und das Leben der Eltern den Interessen des Raguel zu opfern. Der Engel/Asarja reagiert in 6,16–18e auf den Widerstand Tobias’ zunächst mit dem Verweis auf eine weitere Autorität, die eine endogame Eheschließung fordert. Er erinnert an Tobit, der von seinem Sohn erwarte, dass er eine Ehefrau aus seiner Verwandtschaft nehme (6,16: GI: λαβεῖν σε γυναῖκα ἐκ τοῦ γένους σου; GII: λαβεῖν γυναῖκα ἐκ τοῦ οἴκου τοῦ πατρός σου).147 Woher der Engel/Asarja die Erwartungen Tobits an seinen Sohn kennt, erklärt der Text nicht. Dann aber ändert der Engel/Asarja seine Überzeugungstaktik, indem er nun auf die Bedenken des Tobias eingeht und eine Möglichkeit aufzeigt, die Bedrohung durch den Dämon zu bannen. Er erläutert detailliert das Vorgehen, wie Tobias unter der Verwendung der Leber und des Herzens des Fisches den Dämon in der Hochzeitsnacht in die Flucht schlagen kann. Anschließend sollen Sara und Tobias zu Gott beten, damit er sie rette und barmherzig sei (GI: σώσει ὑμᾶς καὶ ἐλεήσει) bzw. ihnen Gnade und Hilfe zukommen lasse (GII: ἔλεος γένηται καὶ σωτηρία ἐφ’ ὑμᾶς). Der Engel/Asarja äußert seine Zuversicht, dass Tobias Sara retten werde (GI: καὶ σὺ αὐτὴν σώσεις. GII: καὶ σὺ αὐτὴν σώσεις). Mit der Aussage, dass Sara von Ewigkeit für Tobias bestimmt sei, offenbart der Begleiter ein Engelwissen, das ihm in der Rolle des Asarja eigentlich nicht zukommt. Diese Besonderheit fällt Tobias nicht auf, auch scheint er nicht den Zusammenhang zwischen dem scheinbar zufälligen Fischfund und der sich nun bietenden Verwendungsmöglichkeit zu reflektieren. Der Text berichtet von keiner Antwort des Tobias. Nur von der Erzählerstimme erfahren die Lesenden, dass Tobias nach diesen Worten des Engel/Asarjas (6,18: 145 Zur Bedeutung der Bezugnahme auf Texte des Pentateuchs im Buch Tobit vgl. J. Gamberoni, Gesetz 239–242. Vgl. auch St. Weeks Heritage, 389–404. 146 Einen solchen Zusammenhang stellt der Pentateuch an keiner Stelle her. Vgl. dazu G.D. Miller, Marriage 74–78. 147 Vgl. 4,12.

Analyse 5,17b–11,19: Heilung Saras und Tobits

113

GI: ὡς ἤκουσεν Τωβιας ταῦτα; GII: ὅτε ἤκουσεν Τωβιας τῶν λόγων) seinen Widerstand aufgibt und sich Sara emotional zuwendet: Er liebt sie (vgl. 4,13) und sein Herz hängt an ihr. Es ist zu vermuten, dass weniger die Autoritätsargumente des Engels/Asarjas Tobias zu diesem Sinneswandel führten, schließlich hätte er das Endogamiegebot seines Vaters (6,16) auch mit einer anderen Frau aus seiner Verwandtschaft erfüllen können. Die Erzählung spricht nicht davon, dass Sara die einzige Frau aus seinem Geschlecht sei. Ausschlaggebend für seinen Entschluss ist die Aussicht, dass er mithilfe der genauen Handlungsanweisung des Engels/Asarjas den Dämonen zu vertreiben und Sara zu retten vermag. Die Unterscheidung der beiden Aspekte macht die parataktische Reihung der Aussagen in GII deutlich: ὅτε ἤκουσεν Τωβιας τῶν λόγων Ραφαηλ (über die Rettung Saras) κα ὅτι ἔστιν αὐτῷ ἀδελφὴ ἐκ τοῦ σπέρματος τοῦ οἴκου τοῦ πατρὸς αὐτοῦ. Er hätte auch eine andere Frau von den Nachkommen seines Vaterhauses heiraten können, aber nur diese eine kann er retten. Dieser Rettungsaspekt bildet den entscheidenden Impuls für die Einwilligung des Tobias in das Heiratsangebot. Dieser Dialog unterscheidet sich in signifikanter Weise von den bisherigen Sprechsituationen. In 5,17 und 6,4–6 geht es um die direkte Umsetzung der in der Rede formulierten Appelle, in 5,18–22 und 6,7–9 wird auf eine Frage eine Antwort gegeben. Die Reden in 6,11b–18e präsentieren hingegen zwei sich zunächst ausschließende Positionen, die dann in einem dritten Schritt miteinander in Beziehung gesetzt werden In diesem »contrastive dialogue« beeindruckt das Selbstbewusstsein des Tobias, mit dem er seine eigenen Interessen vertritt. Im Gegensatz zu dessen Stärke und Eindeutigkeit wirkt das Bemühen des Engels/ Asarjas, Tobias von seinem Plan zu überzeugen, umständlich und angestrengt. Er stützt sich in seiner Argumentation zunächst auf einen vagen, fragwürdigen Schriftbezug, den Tobias ignoriert. Auf die Bedenken des Tobias in Blick auf den Dämon antwortet der Engel/Asarja wenig zielführend mit der Erinnerung an das Endogamiegebot Tobits. Erst in einem dritten Überzeugungsanlauf gibt er Tobias das Wissen weiter, das nötig ist, um eine Ehe mit Sara überhaupt erst zu ermöglichen. Abgesehen davon, dass der Engel/Asarja schon auf dem Weg nach Rages (GII: Ekbatana) Tobias über die Dämonenvertreibung belehrt hat, erinnern die Fischorgane an die Szene am Tigris, in der der Engel/Asarja dem Tobias das Leben rettete. Dieses Vertrauen in die Zuverlässigkeit des Engels/Asarjas vermittelt Tobias die Sicherheit, die Gefahr bannen zu können, und er ist so imstande dem Heiratsplan zuzustimmen. Tobias richtet sich in seiner Entscheidung nicht nach den Autoritäten der Schrift oder der väterlichen Gebote, sondern orientiert sich an der Verlässlichkeit des Engels/Asarjas. Der Dialog spiegelt auch den Prozess der eigenen Autoritätsvergewisserung des Engels/Asarjas wider; nachdem er den Umweg über andere Legitimationsinstanzen genommen hat, dieser aber nicht zu dem gewünschten Erfolg führte, macht er die Erfahrung, dass

114

Analyse der Erzählteile

er in seiner menschlichen Rolle als Lebensretter und Heilkundiger die Autorität vermittelt, die Tobias zum intendierten Handeln motiviert. In der Rede des Engels/Asarjas erfahren Sara und Raguel eine indirekte Charakterisierung: Der Engel/Asarja beschreibt Sara als ein schönes, verständiges und (GII) tüchtiges Mädchen (6,12: GI: τὸ κοράσιον καλὸν καὶ φρόνιμόν ἐστιν GII: τὸ κοράσιον φρόνιμον καὶ ἀνδρεῖον καὶ καλὸν λίαν), ihr Vater wird beschrieben als ein edler Mann (6,12: GII: ὁ πατὴρ αὐτῆς καλός.) Im Textabschnitt 6,10–18 werden die Erzählfiguren durch und in den Reden charakterisiert. Innerhalb der Binnenerzählung haben die Reden eine klärende Funktion sowohl für die Erzählfigur des Tobias als auch für die Lesenden hinsichtlich des Reisezwecks und damit des Handlungsziels. Es geht in der Geschichte um die Vertreibung des Dämons und die Heirat von Tobias und Sara. Im Textabschnitt 6,10–18, der fast ausschließlich aus dem Dialog zwischen dem Engel/Asarja und Tobias besteht, tritt die Bedeutung von physischer Bewegung in den Hintergrund. Es finden sich entsprechend wenige Bewegungsverben, die aber an eine für den Erzählverlauf markante Position gesetzt sind: Die Erzählsequenz beginnt mit einer Angabe zur Bewegung der Akteure: προσεγγίζω, GII: εἰσέρχομαι. Der Eindruck des ständigen Unterwegssein der Protagonisten verstärkt die Aussage des Engels/Asarjas in 6,13, wonach sie nach der Rückkehr aus Rages Hochzeit feiern werden: ὅταν ὑποστρέψωμεν ἐκ Ῥάγων (GI), ἐπιστρέψωμεν ἐκ Ῥάγων (GII). Neben dem Wortfeld Bewegung begegnet auch in 6,10–18 mit der Erwähnung des Fisches der Motivbereich Tier. Als neue Themen werden Aspekte der angemessenen Abstammung (GI: γένος, GII: υἱὸς ἄρσην, ἐκ τοῦ οἴκου τοῦ πατρός σου) und des Befolgens von Gesetzen und Geboten (GI: νόμος Μωυσῆ, ὧν ἐνετείλατό σοι ὁ πατήρ σου GII: βίβλος Μωυσέως, ἐντολὰς τοῦ πατρός σου) genannt.

3.5

7,1–17: Freude Raguels und Feier

Der Beginn der neuen Erzähleinheit 7,1–17 wird durch ein Verb der Bewegung und eine Ortangabe gekennzeichnet (7,1: GI: ἦλθον εἰς Ἐκβάτανα GII εἰσῆλθεν εἰς Ἐκβάτανα). Der Textabschnitt gliedert sich in drei Handlungssequenzen: 7,1–9a: Ankunft des Tobias und des Engels/Asarjas in Ekbatana; 7,9b–14: Eheschließung; 7,15–17: Edna führt Sara in das Brautzimmer. Die ersten beiden Szenen folgen einander in einer linearen Chronologie, während die dritte Szene simultan zur zweiten stattfindet. Da die beiden Textversionen im Erzählverlauf einige markante Unterschiede aufweisen, soll im Folgenden zunächst GI und dann GII untersucht werden.

Analyse 5,17b–11,19: Heilung Saras und Tobits

115

7,1–9a: Ankunft des Tobias und des Engels/Asarjas in Ekbatana Im Gegensatz zu 6,10–18 fällt in diesem Abschnitt das quantitativ ausgewogene Verhältnis zwischen Rede- und Handlungsanteilen auf. Auf der Handlungsebene wird berichtet, dass Tobias und der Engel/Asarja nach Ekbatana gelangen und dort auf das Haus des Raguel zugehen. Auf dem Weg dorthin kommt ihnen Sara entgegen, die sie begrüßt und zum Haus ihres Vaters führt. Nach einem kurzen Seitenkommentar Raguels zu seiner Frau Edna beginnt Raguel ein Gespräch mit Tobias und dem Engel/Asarja, in dessen Verlauf Raguel wechselnde Aktivitäten zeigt: Er springt auf, küsst Tobias, weint und segnet ihn. Die Nachricht über Tobits Erblindung macht ihn traurig und er weint, so auch Edna und Sara. Den Abschluss der Sequenz bildet die Aussage, dass die Familie einen Widder schlachtet und viele Speisen aufträgt. Aus erzähltechnischer Sicht entspricht die Gestaltung des Beginns des Erzählabschnitts dem Anfang in 6,2. Einer summarischen Angabe zur Reise folgt eine detaillierte Darstellung des Handlungsablaufs, die sich durch eine Häufung von Verben in jeweils einem Satz auszeichnet: Sara kommt entgegen (ὑπαντάω), begrüßt (χαιρετίζω) und führt hinein (εἰσάγω), Raguel springt auf (ἀναπηδάω), küsst (καταφιλέω), weint (κλαίω) und segnet (εὐλογέω). Die Aneinanderreihungen von Verben stehen in Bezug zu jeweils einer Person, nämlich Sara und Raguel. Diese »dense concentrations or unbroken chains of verbs«148 lenken den Aufmerksamkeitsfokus auf die beiden Figuren, über die der Engel/Asarja vorher in der Erläuterung seiner Heiratspläne gesprochen hat (6,11) und die hier nun als handelnde Akteure auftreten. Die erste Begegnung zwischen den Reisenden und der gastgebenden Familie wird von Sara initiiert. Sie kommt den Gästen entgegen und übernimmt deren Begrüßung. Der Erzähler inszeniert das Treffen als ein wortloses Geschehen ohne die Erwähnung einer Reaktion des Tobias, der hier zum ersten Mal seiner zukünftigen Braut gegenüber steht. Die Handlungssouveränität liegt in 7,1b ausschließlich bei Sara. In 7,2 wechselt das Erzählerinteresse unvermittelt auf die Figur des Raguel, der nun auf der Ebene der Rede initiativ wird. Seiner kurzen Bemerkung zu Edna, die auf deren Anwesenheit in dieser Szene verweist, folgt eine Befragung der beiden Gäste in Blick auf ihre Herkunft. Raguels positive Reaktion auf deren Aussagen wird auf der Handlungsebene durch die parataktische Aufzählung der Verben (s. o.) illustriert. Nachdem in 6,6 das Weinen (κλαίω) ein Ausdruck der Freude ist, weint Raguel in 6,7 aus Betrübnis (λυπέω) über die Erblindung Tobits. Es wird berichtet, dass auch Edna und Sara weinen, d. h. die beiden sind während des Gespräches zwi148 »Verbs tend to dominate this biblical narrative of the essential, and at intervals we encounter sudden dense concentrations or unbroken chains of verbs, usually attached to a single subject, which indicate some particular intensity, rapidity, or single-minded purposefulness of activity […]«, R. Alter, Art 101.

116

Analyse der Erzählteile

schen Raguel und den Gästen zugegen. Die Verben, die am Ende der Szene über die Aufnahme der Gäste und die Mahlvorbereitung informieren, sind in der dritten Person Plural formuliert, die handelnden Subjekte werden nicht explizit genannt. Diese Satzkonstruktion korrespondiert mit dem Abschnittbeginn in 7,1, wo der Erzähler von Tobias und dem Engel/Asarja ebenfalls in der dritten Person Plural spricht (ἦλθον) ohne ihre Namen zu nennen. Die Redesequenz im Mittelteil der Szene 7,3–7 stellt einen Wortwechsel dar, der aus drei kurzen, prägnanten Fragen von Seiten Raguels und den ebenso knappen Antworten von Tobias und dem Engel/Asarja besteht. Nach der Eingangsfrage nach der Herkunft der Gäste kreist das weitere Interesse des Raguel nicht um das Befinden und/oder das Reiseziel der beiden Besucher, sondern um Tobit und seine Gesundheit. Die Konzentration Raguels auf Tobit erklärt sich aus seiner Bemerkung in 2,2, in der er die Ähnlichkeit zwischen dem jungen Mann vor ihm und seinem Vetter (ἀνεψιός) Tobit feststellt. Der Erzähler berichtet nicht von einer Reaktion des Raguel auf die drei Antworten der Befragten: Erst als Tobias sich als Sohn des Tobit zu erkennen gibt (καὶ εἶπεν Τωβιας Πατήρ μού ἐστιν), antwortet Raguel mit den oben genannten Aktivitäten und dem Ausruf: Ὁ τοῦ καλοῦ καὶ ἀγαθοῦ ἀνθρώπου. Offensichtlich genießt Tobit die hohe Wertschätzung seines Vetters Raguel. Den entscheidenden Impuls für die positive Reaktion des Raguel liefert die Selbstvorstellung des Tobias als der Sohn des Tobit und damit die Offenlegung der Verwandtschaftsverhältnisse. Die Lesenden wissen aus 6,13, dass sich mit dieser Kenntnis die Lösung für ein bedeutendes Problem bietet, nämlich die Verheiratung Saras, der Tochter Raguels. Damit erklärt sich die überschwängliche Freude, die in Raguels Aktionismus ihren Ausdruck findet. Die Information über die Blindheit Tobits erfolgt nicht in direkter Rede, sondern auf einem indirekten Weg, indem der Erzähler Raguel davon hören (ἀκούσας) lässt. Diese Aussage steht in einer gewissen Spannung zu 7,5, wo davon die Rede ist, dass Tobit gesund sei (Καὶ ζῇ καὶ ὑγιαίνει). Abgesehen davon, dass diese Information Raguel und seine Familie betrübt und sie weinen lässt, hat die Blindheit Tobits für den weiteren Verlauf der Ereignisse in Ekbatana keine Bedeutung und findet daher auch keine Erwähnung mehr. Vielmehr scheint die Aussage über den Verlust des Augenlichts an die Lesenden gerichtet zu sein, die an dieser Stelle zum ersten Mal in der Binnenerzählung von der Blindheit Tobits erfahren. Der Terminus ὀφθαλμός erinnert an die Szene am Tigris, wo der Engel/Asarja in 6,9 von der heilenden Wirkung der Fischgalle auf Augenerkrankungen spricht (ἡ δὲ χολή, ἐγχρῖσαι ἄνθρωπον, ὃς ἔχει λευκώματα ἐν τοῖς ὀφθαλμοῖς, καὶ ἰαθήσεται). Die Lesenden bekommen einen Hinweis darauf, dass die Fischorgane nicht nur der anstehenden Dämonenaustreibung dienen, sondern u. U. auch bei einer Blindenheilung ihre Verwendung finden werden. Auf der Handlungsebene wird fast ausschließlich vom Agieren Saras, Raguels und Ednas berichtet. Der Passivität des Tobias und des Engels/Asarjas in Blick

Analyse 5,17b–11,19: Heilung Saras und Tobits

117

auf konkrete Handlungen entspricht ihre Zurückhaltung im Dialog mit Raguel. Raguel eröffnet das Gespräch und stellt Fragen, die die Angesprochenen beantworten. In diesem Prozess treten sie nicht als einzelne Individuen in Erscheinung. Die Verwendung des Verbs λέγω in den Redeeinleitungen (7,3b.4b.5b) in der dritten Person Plural macht es unmöglich, die jeweilige Antwort einem bestimmten Sprecher zuzuordnen. Die explizite Nennung des Namens des Tobias mit der anschließenden Selbstoffenbarung in 7,5c markiert eine Wende in dem Gespräch. Das Frage-Antwort-Schema wird aufgebrochen und die Rede Raguels mündet in den Ausruf der Wertschätzung Tobits. Ob Tobias oder der Engel/ Asarja die Botschaft der Blindheit Tobits überbringen, ist dem Text nicht zu entnehmen. Obwohl die Szene vom Agieren der Figuren Saras, Raguels und Ednas dominiert wird, ist es die knappe Äußerung des Tobias, der dem weiteren Verlauf des Gesprächs und der kommenden Ereignisse die entscheidende Richtung gibt. Bemerkenswert ist nicht nur die kommunikative Zurückhaltung des Tobias und des Engels/Asarjas, die erzählerisch noch durch Verschleierung der Relation Sprecher-Rede verstärkt wird, sondern auch der Inhalt ihrer Antwort auf die Frage nach ihrer Herkunft in 7,3b. Dem allgemeinen Fragepronomen πόθεν in 7,3a folgen eine genealogische, eine geographische und eine zeitliche Auskunft. Zum einen deutet sich in dieser Antwort die gemeinsame Stammeszugehörigkeit an, die Raguel dazu veranlasst, in seiner zweiten Frage von ἀδελφὸν ἡμῶν (7,4a) zu sprechen, und zum anderen erhalten hier die Lesenden den einzigen Hinweis auf das zeitliche Setting der Binnenerzählung. Die Sprechenden spielen in ihrer Antwort auf die Verschleppung der Nordstämme in die assyrische Gefangenschaft im 8. Jh. an. Die geographische Herkunftsangabe »Ninive« wirkt irritierend, weil auf einer Reise von Ninive nach Ekbatana ein Umweg zum Fluss Tigris wenig Sinn macht. GI stellt die Widersinnigkeit der Reiseroute drastischer dar als GII, indem diese Textversion die Reisenden von Ninive über Rages nach Ekbatana wandern lässt. Die erzählerische Gestaltung des Raumes erfährt eine Engführung von den weiten Reiseetappen (Ninive – Tigris, Tigris – Rages (Medien), Rages (Medien) – Ekbatana) zum Haus des Raguel. Genauso wenig wie der Erzähler die durchwanderte Landschaft beschreibt, gibt er eine Auskunft über die baulichen Verhältnisse Ekbatanas oder des Hauses des Raguel. Sein Interesse ist ausschließlich auf das Handeln und Sprechen der Akteure fokussiert und schafft damit eine Unmittelbarkeit, die die Lesenden nahe an das Geschehen heranführt. Die parataktische Abfolge von Verben und der schnelle Wortwechsel mit den kurzen Redeanteilen verleihen dem Erzählabschnitt eine Lebendigkeit und Betriebsamkeit, die ihn stark von der vorhergehenden Sequenz abhebt. Figuren, über die bisher nur gesprochen wurde, stehen nun als Akteure im Vordergrund der erzählerischen Bühne, wobei Raguel eine besondere Rolle spielt. Er ist der einzige,

118

Analyse der Erzählteile

der sowohl spricht als auch agiert, während der Text nur vom Handeln Saras und Ednas erzählt. Die Passivität des Tobias und des Engel/Asarja, der eignes gar nicht genannt wird, lässt die beiden Hauptakteure aus 6,2–18 in den Hintergrund treten und fast als Nebenfiguren erscheinen. Die Ironie dieser Figurenkonstellation besteht nun darin, dass der entscheidende Impuls, der die weitere Handlung bestimmen wird, von eben einer dieser Nebenfigur kommt. Das Verhältnis zwischen Binnenerzählung und Redeanteile ist in 7,1–9a ausgewogen: Einerseits wird die Handlung vorwärts gebracht, andererseits kommentiert das Agieren Raguels, Ednas und Sara die Rede des Tobias und das, was sie hören. Der Dialog zwischen Raguel und seinen Gästen hat eine klärende Funktion, weil hier die Möglichkeitsbedingung für die folgenden Heiratsverhandlungen benannt wird. Im Vergleich der beiden Textversionen präsentiert GII denselben Ablauf wie in GI, weist aber hinsichtlich der Rollenkonstellation und der Handlungsträger große Unterschiede auf. In der Begrüßungsszene, die ausführlicher beschrieben ist als in GI, übernimmt Tobias die Initiative für die Begegnung mit Raguels Familie, während Sara nicht in Erscheinung tritt. Der Erzähler führt Raguel als eine zunächst passive Figur ein, die von Tobias und dem Engel/Asarja an der Hoftür sitzend gefunden wird (εὗρον αὐτὸν καθήμενον παρὰ τὴν θύραν), um dann zuerst (πρῶτοι) von ihnen begrüßt zu werden. Dann geleitet Raguel (nicht Sara) die Gäste in das Haus. Die Darstellung der Reaktion des Raguel auf die Auskunft des Tobias über dessen Vater (7,6) entspricht der in GI, der erzählerische Fokus liegt auch hier auf der Abfolge der Handlungsverben, die sich auf die Aktivitäten des Raguel beziehen. Weiterhin wird ebenfalls vom Weinen Ednas und Saras berichtet, die in GII hier zum ersten Mal erwähnt wird. Die Sequenz endet mit der Aussage, dass »er« (Raguel) einen Widder schlachtet und die Gäste aufnimmt. Eine Übereinstimmung der beiden Textversionen liegt in der syntaktischen Gestaltung des jeweiligen Anfangssatzes und der Schlusssatzes des Textabschnitts vor: Das handelnde Subjekt wird nicht genannt und die Verbformen entsprechen einander in ihrer Singular- bzw. Pluralbildung. Die Beobachtung, dass auf der narrativen Ebene eine andere Rollenkonstellation vorliegt als in GI, gilt auch für die Verteilung der Redeanteile. Während in GI die Begrüßung der Gäste durch Sara ohne wörtliche Rede erzählt wird, wendet sich Tobias in der direkten Rede an den Engel/Asarja und fordert ihn auf, ihn zum Haus des Raguel zu führen. Im Sinne der »dialogue-bound narration« berichtet der Erzähler von der prompten Umsetzung der Bitte des Tobias durch den Engel/ Asarja. In GII wird damit an dieser Stelle zum ersten Mal die Rollenverteilung im Schema Rede – Realisierung umgekehrt. Bisher sprachen Tobit bzw. der Engel/ Asarja und veranlassten Tobias zu einem bestimmten Handeln. Jetzt wendet sich das Verhältnis Sprecher – Handelnder und Tobias ist derjenige, der die Initiative übernimmt. Anders als in GI lässt der Erzähler Raguel den Gruß der Gäste mit

Analyse 5,17b–11,19: Heilung Saras und Tobits

119

einer wörtlichen Rede erwidern, die seine Zufriedenheit über das Wohlbefinden der Ankommenden zum Ausdruck bringt. In Raguels Bemerkung zu Edna über die Familienähnlichkeit korrespondiert GII mit GI, um dann jedoch eine andere Gesprächssituation zu präsentieren. Die Redeinhalte und die Gesprächsgestaltung sind identisch mit GI, aber die Rollenbesetzung der Gesprächsteilnehmer ist eine andere: Hier stellt Edna die Fragen und Raguel schweigt. Seine nächste Äußerung erfolgt erst wieder nach der Selbstoffenbarung des Tobias. Die Anordnung der Redeeinheiten Raguels bildet in 7,2 und 7,6c den Rahmen für das Gespräch zwischen Edna und den Reisenden. Im Unterschied zu GI erfahren die Lesenden aus der Rede des Raguel über die Erblindung Tobits, wobei der Text keinen Hinweis darauf gibt, wie dieser Sachverhalt kommuniziert worden ist bzw. durch wen Raguel davon erfahren hat. Im Ausdruck seiner Wertschätzung seines Vetters Tobit ergänzt er die positiven Attribute καλός und ἀγαθός um die Zuschreibungen δίκαιος und ποιῶν ἐλεημοσύνας. Der Vergleich der beiden Textversionen lässt unterschiedliche erzählerische Akzente erkennen. In GI ist eindeutig eine Fokussierung auf die Figur des Raguel erkennbar, die die anderen Akteure in den Hintergrund treten lässt: Während von Sara und Ednas Handeln berichtet wird, aber nicht von ihren Reden, sind Tobias und der Engel/Asarja nur in ihren verbalen Äußerungen präsent. Letzterer wiederum wird weder eigens genannt noch namentlich erwähnt. Aufgrund dieser Konstellation ist die Zuschreibung von Aktivität und Passivität in Bezug auf die Figuren eindeutig möglich. Diese Eindeutigkeit zeigt GII nicht. Abgesehen davon, dass hier die Konzentration auf eine Figur fehlt, macht der Text Aussagen über das Handeln einer jeden Figur. Alle außer Sara und der Engel/Asarja sind mit eigenen Redeanteilen ausgestattet. Die ungleichmäßige Verteilung von Rede- und Handlungsanteilen hat eine unterschiedliche Charakterisierung der Figuren zur Folge. Die erste handelnde Figur in GI ist Sara, die die Initiative zur Begrüßung übernimmt. GII nennt ihren Namen nur einmalig am Ende der Erzählsequenz und erzählt in diesem Zusammenhang von ihrem Weinen. Ihr wird keine Handlung zugeschrieben, die für die Entwicklung der Handlung von Bedeutung wäre. Ihr Auftritt in der Szene ist blass und verzichtbar. In GI spielt Edna eine ähnliche zurückhaltende Rolle: Auch sie sagt nichts und ihr Handeln leistet keinen Beitrag zum Fortgang der Binnenerzählung. Die Bedeutung ihrer Präsenz erschöpft sich darin, dass ihre Figur als Adressatin für die Bemerkung Raguels (7,2) dient. Ein ganz anderes Bild zeichnet GII von der Ehefrau Raguels, das in gewisser Weise der Charakterisierung Saras in GI entspricht. In der Begrüßungsszene in GI übernimmt Sara die aktive Rolle, während in GII Edna das Vorstellungsgespräch mit den Gästen führt. So wie im Handlungsablauf in GI auf die Figur Sara nicht verzichtet werden kann, bildet die Figur Ednas im Begrüßungsdialog in GII die entscheidende Bezugsgröße.

120

Analyse der Erzählteile

Auch die Figur des Raguel erfährt in den beiden Textversionen eine jeweils andere Charakterisierung. Seine Dominanz in GI wird auf der erzählerischen Ebene durch die Platzierung seines Auftritts im Mittelteil des Textabschnitts konstruiert, der durch Aussagen über Sara und Edna gerahmt wird. Hinzu kommt, dass Raguel über die meisten Redeanteile verfügt, die von einer Häufung von Handlungsverben begleitet werden. Von einer solchen Hervorhebung seiner Figur kann in GII nicht die Rede sein. Hier verhält es sich in Blick auf die Platzierung der Akteure im Erzählablauf umgekehrt: Die Erwähnung Raguels bildet den Rahmen für den Mittelteil, der von Edna dominiert wird. Die Tatsache, dass er nicht in den Dialog zwischen Edna und den Gästen involviert ist, legt eine untergeordnete Position innerhalb des Ensembles der Akteure nahe, obwohl ihm die Begrüßungsszene einen hohen sozialen Status attestiert: Er empfängt seine Gäste in sitzende Haltung und wartet deren Begrüßung ab. Seine geschäftige Reaktion auf die Selbstvorstellung des Tobias entspricht dann der Darstellung in GI. Wie oben schon erläutert, zeichnet sich das Auftreten des Tobias und des Engels/Asarjas durch eine auffällige Unauffälligkeit aus. Die erzählerische Zurückhaltung von GII findet eine Steigerung in GI, wo die beiden bis auf die Ausnahme in 7,5c namentlich nicht erwähnt werden. Beachtenswert ist aber ihr gemeinsames Agieren, das die fast ausschließliche Verwendung der dritten Person Plural der sie betreffenden Verben nahe legt. Die Nennung des Namens des Tobias markiert in diesem Zusammenhang etwas Besonderes und unterstreicht damit die Bedeutung seiner folgenden Rede. Wie oben schon ausgeführt, wird hier die entscheidende Voraussetzung für den weiteren Handlungsablauf genannt, weil Raguel aufgrund der Information über die Verwandtschaftsverhältnisse keinen Grund hat, die Heirat von Tobias und Sara abzulehnen. Trotz der Betriebsamkeit des Raguel, seiner Dominanz (GI) bzw. der Gesprächssouveränität Ednas (GII) ist es Tobias, der mit seiner Äußerung für den Fortgang der Erzählung sorgt. Ein bemerkenswertes Moment liegt in der Beobachtung, dass den beiden Adressaten der Rettungshandlung, Tobias und Sara, an dieser Stelle in der Erzählung so wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Der Verlauf ihrer ersten Begegnung wird nicht näher beschrieben. Stattdessen rückt der Erzähler Figuren in den Vordergrund der Szene, die nur mittelbar an den Geschehnissen beteiligt sind. Der Textabschnitt 7,1–9 bildet in beiden Textversionen die Ausgangssituation, von der aus die Umsetzung des vereinbarten Plans von Tobias und dem Engel/ Asarja ihren Lauf nimmt. Die entscheidenden Akteure sind versammelt, ihre verwandtschaftlichen Verhältnisse sind geklärt. Die Figuren und die Leser verfügen jedoch über unterschiedliche Wissensbestände: Raguel und seine Familie erkennen in Tobias ihren Verwandten, aber sie wissen nichts von seinen Heiratsplänen. Tobias vertraut darauf, mit Hilfe der Fischorgane den Dämon zu

Analyse 5,17b–11,19: Heilung Saras und Tobits

121

vertreiben, ohne zu ahnen, dass das Wissen um die rechte Handhabung der Heilmittel von einem Engel stammt und nicht vom menschlichen Begleiter Asarja. Dessen Handlungsanweisungen muten eher an wie die korrekte Verschreibung von Arzneimitteln denn als eine Anleitung zu einem Heilungswunder. Der Erzähler jedoch gibt keinen Hinweis darauf, ob das Vorhaben der beiden Protagonisten tatsächlich Erfolg haben wird. Im Textabschnitt 7,1–9a ist eine auffallende Häufung von Bewegungsverben festzustellen (GI: ἔρχομαι, παραγίνομαι, ὑπαντάω, εἰσάγω, ἀναπηδάω. GII: εἰσέρχομαι, ἀπάγω, ἄγω, ἀναπηδάω, ἐπιπίπτω). Beide Textversionen lassen den Erzähler einen Widder erwähnen, der aus Anlass der Feier geschlachtet wird. GI betont den Aspekt des Essens, indem erzählt wird, dass die Gastgeber üppige Speisen auftragen (ὄψα πλείονα). Dieses Detail findet sich in GII nicht, nur indirekt ist aus der Schlachtung des Tieres auf ein Festmahl zu schließen. Das Motiv der Trauer (κλαίω, λυπέω) erinnert an das Weinen Hannas in 5,18; 6,1, wobei das Verb κλαίω in 7,6.7 sowohl ein Ausdruck der Betrübnis als auch der Freude sein kann. 7,9b–14: Eheschließung Die Konjunktionen δὲ (GI) bzw. ὅτε (GII) verweisen auf einen erzählerischen Neueinsatz. Der Abschnitt 7,9b–14 gliedert sich in zwei Teile: Den ersten Teil 7,9b–11 dominieren Reden, die aus einer verbalen Aufforderung des Tobias an den Engel/Asarja und einem Dialog zwischen Tobias und Raguel bestehen. Der zweite Teil 7,12–14 erzählt von Handlungen, deren ausschließliches Subjekt Raguel ist, und die sich an Sara, Tobias und Edna richten. Unvermittelt setzt GI mit der Rede des Tobias an seinen Begleiter ein. Da der Text keine Angaben über eine lokale Veränderung macht, haben sich die Lesenden die folgende Szene im Haus des Raguel vorzustellen. Tobias fordert den Engel/Asarja in direkter Rede auf, von dem Gespräch zu berichten, das die beiden auf dem Weg nach Ekbatana führten. Die Erzählerstimme nennt hier zum ersten Mal den Namen Raphael und lässt Tobias in der folgenden direkten Rede den Engel wieder mit Ἄζαρια ἄδελφε ansprechen. Dieses Nebeneinander der beiden Engelnamen führt die Unkenntnis des Tobias über die Identität seines Begleiters noch einmal deutlich vor Augen. Als Antwort auf die Aufforderung berichtet der Erzähler, dass der Engel/Asarja die Mitteilung Raguel überbringt. In dieser Anfangssequenz sind drei Beobachtungen bemerkenswert: Weder Tobias noch der Erzähler machen eine inhaltliche Angabe zum Thema des Gesprächs. Statt konkret die Heiratspläne zu benennen spricht Tobias von τὸ πρᾶγμα, und der Erzähler verwendet den Terminus λόγος. Der Erzähler gibt an dieser Stelle die Rede des Engels/Asarjas an Raguel nicht in wörtlicher Rede wieder, sondern berichtet von dessen Redehandlung. Außerdem erscheint die Gesprächsführung umständlich: Als Alternative zu einer direkten Anrede Raguels durch Tobias lässt

122

Analyse der Erzählteile

der Erzähler Tobias über den Engel/Asarja sein Anliegen übermitteln. Dieser kommunikative Umweg ohne inhaltliche Präzisierung hat weniger die Funktion, den Gesprächsbeginn zwischen Tobias und Raguel zu illustrieren, als vielmehr auf die veränderte Beziehungsstruktur zwischen Tobias und dem Engel/Asarja hinzuweisen. In dem Modell einer »dialogue-bound narration« haben die Rollen gewechselt: Tobias formuliert die Aufforderung, die nun vom Engel/Asarja umgesetzt wird. Nicht mehr der Engel/Asarja, sondern Tobias bestimmt, was zu tun ist. Nach dieser Erwähnung in 7,9b tritt der Engel/Asarja im folgenden Dialog völlig in den Hintergrund, er zeigt weder durch eine berichtete Rede noch durch wörtliche Rede seine Präsenz. In dem Gespräch zwischen Raguel und Tobias überwiegen die Redeanteile der Vaters Saras. Tobias’ Beitrag beschränkt sich auf einen Satz (7,11c), der von den Reden Raguels in 7,10b–7,11b und 7,11d gerahmt wird. Dieser dreiteilige Aufbau der Redesequenz, dessen Mittelteil aus der einen Äußerung des Tobias besteht, entspricht der Struktur des Gespräches zwischen dem Engel/Asarja und Tobias in 6,10–18e. Als Antwort auf die Mitteilung des Engels/Asarjas fordert Raguel Tobias auf zu essen, zu trinken und fröhlich zu sein. Er begründet diesen Appell mit dem Sachverhalt, der sich aus der Selbstvorstellung des Tobias in 7,5c ergibt: Aufgrund der angemessenen Verwandtschaftsverhältnisse hat Tobias das Recht, Sara zu heiraten: σοὶ γὰρ καθήκει τὸ παιδίον μου λαβεῖν (7,10c). Nach dieser positiven Reaktion auf den Heiratsplan des Tobias klärt er ihn über die sieben bisherigen, vergeblichen Versuche der Verheiratung seiner Tochter auf. Raguel scheint davon auszugehen, dass seine Gäste vom Schicksal Saras nichts wissen. Obwohl er in 7,10c ankündigt, die Wahrheit mitzuteilen, erläutert er nicht, warum die zukünftigen Ehemänner in der Hochzeitsnacht starben.149 Den Dämon erwähnt er nicht. Mit diesen Ausführungen präsentiert Raguel ein Argument für und ein Argument gegen eine Hochzeit mit Sara, ohne einen Hinweis darauf zu geben, wie das Dilemma gelöst werden könnte. Angesichts dieser ungeklärten Situation hat die erneute Aufforderung, fröhlich zu sein, einen fast zynischen Beigeschmack. Tobias folgt der Aufforderung nicht, er widersetzt sich ihr explizit mit seiner Weigerung zu kosten. Er setzt Raguel mit der Feststellung unter Druck, dass er nicht eher essen werde, bis er ihm Sara gegeben und die Hochzeit bezeugt haben werde: Οὐ γεύσομαι οὐδὲν ὧδε, ἕως ἂν στήσητε καὶ σταθῆτε πρός με (7,11c).150 Ähnlich wie Raguel dem Tobias sein Wissen um den Dämon vorenthält, erklärt 149 Da Tobias weiß (6,15), dass ein Dämon die Männer tötete, ist davon auszugehen, dass auch Raguel diesen Zusammenhang kennt. 150 Zu den Schwierigkeiten der Übersetzung der Formen von ἵστημι in diesem Satz, vgl. P. Deselaers, Buch 140 Anmerkung 188.

Analyse 5,17b–11,19: Heilung Saras und Tobits

123

Tobias ihm nicht, dass er über die Mittel verfüge, den Dämon zu vertreiben und so die Hochzeitsnacht zu überleben. Mit dieser Information wäre es für Raguel leichter gewesen, der Heirat zuzustimmen, stattdessen beugt er sich dem Druck des Tobias und verweist pauschal auf eine andere Instanz, die κρίσις. Aus der Antwort Raguels geht jedoch nicht hervor, auf welche Bestimmung er sich bezieht. Der folgende Satz 7,11d lässt darauf schließen, dass die erwähnte κρίσις die Rechtslage klärt, nach der die Eheschließung zwischen Tobias und Sara erlaubt sei. Wie auch immer diese Bestimmung lautet, sie schützt Tobias nicht vor der drohenden Gefahr durch den Dämon. Da Raguel die Möglichkeit der Dämonenverbannung nicht kennt, liefert er seiner Meinung nach Tobias dem sicheren Tode aus. Er beendet seine Rede mit dem Wunsch, dass der barmherzige (ἐλεήμων) Gott dem Paar ein Gelingen (κάλλιστα) schenken möge. Mit dem Gelingen dürfte aus der Sicht Raguels das Überleben des Tobias gemeint sein. Der zweite Teil des Abschnitts 7,9b–14 berichtet fast ausschließlich von Handlungen Raguels, er ist der einzige Handlungsträger in dieser Sequenz. Alle Verben (bis auf die beiden letzten in 7,13c und 7,14) sind in der dritten Person Singular formuliert und beziehen sich auf ihn. Diese »dense concentration of verbs« lässt seine Figur und seine Aktivitäten in den Vordergrund rücken, während die Personen, um die es bei der beschriebenen Brautübergabe eigentlich geht, eher als Statisten fungieren. Die knappe, schlichte Aneinanderreihung der Verben durch das Partikel καὶ gibt der Szene einen fast beiläufigen Charakter, der noch dadurch verstärkt wird, dass Edna offensichtlich gar nicht anwesend ist. Erst nachdem der Vater das Brautpaar gesegnet hat, wird sie dazu gerufen, um bei der Vertragsabfassung zugegen zu sein. Auffallend an der Darstellung der Hochzeitsszene ist die Fokussierung der Handlung auf den Brautvater und das erzählerische Desinteresse an den andern Beteiligten. Wichtiger als Aussagen über ihr Verhalten scheint dem Erzähler die Präsentation Raguels als eines Mannes, der mit den rechtlichen Aspekten der Eheschließung vertraut ist. Er lässt Raguel vom Gesetz des Moses (τὸν νόμον Μωυσέως 7,12c) sprechen und er widmet Raguels Beschäftigung mit dem Ehevertrag erheblich mehr Aufmerksamkeit als dem möglichen Handeln der anderen Protagonisten. Der Text erwähnt jedoch in Blick auf den Vertragsabschluss nur die äußeren Aktivitäten: Raguel ruft, nimmt eine Schriftrolle (βιβλίον), schreibt den Vertrag (συγγραφή) und versiegelt ihn. Über in Inhalt des Vertrags erfahren die Lesenden nichts. So sehr das Interesse der Lesenden auf die Figur des Raguel gelenkt wird, so wenig ist zu übersehen, dass Raguel im Sinne des Tobias handelt. Dessen Forderung aus 7,11c setzt Raguels Unentschlossenheit ein Ende und motiviert sein weiteres Handeln. Wie in 6,5c setzt eine Aussage des Tobias die entscheidenden Weichen für die weitere Entfaltung der Handlung. Es bestätigt sich der Eindruck, dass auf der Ebene des Erzählens Figuren in den Vordergrund treten, die hin-

124

Analyse der Erzählteile

sichtlich der Handlung eine Nebenrolle spielen, während die Hauptakteure aus dem Hintergrund heraus agieren, indem sie durch ihre verbalen Äußerung den Gang der Handlung bestimmen. Im Dialog zwischen Raguel und Tobias, der der Interessenklärung der beiden Akteure dient, setzt Tobias sein Anliegen durch. Das Gespräch lässt sich wie der Dialog zwischen dem Engel/Asarja und Tobias in 6,10–18 als ein »contrastive dialogue« bezeichnen, der die unterschiedlichen Charaktere der Sprecher zum Ausdruck bringt. Da die Lesenden um die verschiedenen Wissenshorizonte der beiden wissen, ist für sie das verdeckte Taktieren der jeweiligen Gesprächsteilnehmer nicht zu übersehen. Da Raguel davon ausgeht, dass Tobias nichts von dem Schicksal Saras weiß, kann er ihm trotz seines Versprechens die Wahrheit zu sagen die Information über den Dämon vorenthalten. Tobias wiederum durchschaut dieses Täuschungsmanöver und teilt im Gegenzug Raguel nicht mit, dass er die Lösung des Dilemmas kennt. Er zwingt ihn damit zu einer Entscheidung, die ohne das Wissen um den Ausweg in der Sicht Raguels lebensbedrohliche Konsequenzen nach sich zieht, und die mit dem Wissen um den Ausweg von dieser existentiellen Bedeutungsschwere befreit wäre. In seiner Antwort auf Tobias weicht Raguel einer Stellungnahme dazu aus, indem er auf die Bestimmung verweist, die eine Eheschließung zwischen Tobias und Sara erlaubt. Er nimmt wissentlich in Kauf, dass Tobias die Hochzeitsnacht nicht überleben könnte. Diese Todesbedrohung wird nicht offen kommuniziert, aber das unausgesprochene Wissen aller Beteiligten um die Gefahr lässt den folgenden Vertragsabschluss in einem makaberen Licht erscheinen. Der Erzähler zeichnet damit ein ambivalentes Bild der Figur des Raguel. Auf der einen Seite zeigt er einen sorgenden Mann, der sich vom Schicksal seines Verwandten Tobit berühren lässt und dessen Sohn er freudig empfängt, da er in ihm einen möglichen Ehemann für seine Tochter erkennt. Auf der anderen Seite offenbart Raguel einen unehrlichen Charakterzug, da er nicht offen mit Tobias über das Dilemma spricht, Tobias gemäß seines Anspruchs mit Sara zu verheiraten und ihn damit gleichzeitg dem sicheren Tod auszuliefern. Er ist kein verlässlicher Dialogpartner für Tobias. Jedoch auch die Figur des Tobias gewinnt durch ihren einzigen Satz in 7,11 deutlichere Konturen. Statt Raguel über die den Dämon betreffenden Verhältnisse aufzuklären, lässt er ihn darüber im Ungewissen und bürdet ihm damit die Sorge um einen weiteren toten Ehemann auf. Die unterschiedlichen, von den Akteuren nicht kommunizierten Wissenshorizonte verleihen dem Dialog zwischen Raguel und Tobias und den folgenden Handlungen eine gewisse Doppelbödigkeit: An der Oberfläche erfahren die Lesenden von der Hochzeitsverhandlung, der Brautübergabe, der Vertragsunterzeichnung und dem gemeinsamen Essen. Dieser vermeintlich harmlose Erzählablauf ist unterlegt mit der nicht ausgesprochenen Todesbedrohung durch den

Analyse 5,17b–11,19: Heilung Saras und Tobits

125

Dämon, von der der eine Sprecher meint, dass der Betroffene nichts davon weiß, und der Betroffene aber erkennt, dass der andere seinen Tod zulassen würde. Die Darstellung der Ereignisse in GII deckt sich bis auf kleinere, aber signifikante Abweichungen mit der in GI. An einigen Stellen berichtet GII ausführlicher als GI, andere Passagen wiederum lassen eine gewisse Eindeutigkeit vermissen. Diese Beobachtung bestätigt die Analyse der Anfangssequenz in 7,9b– 10a. Die Szene ist narrativ mehr ausgestaltet als in GI. Es wird erzählt, dass die Gäste baden und sich waschen, bevor sie sich zum Essen niederlassen. Die folgende Interaktion findet am gedeckten Tisch im Haus des Raguel statt. Tobias beginnt wie in GI das Gespräch, indem er den Engel/Asarja bittet, sein Anliegen Raguel mitzuteilen. Im Unterschied zu GI präzisiert er dieses Anliegen inhaltlich mit der Forderung, dass Raguel ihm seinen Schwester Sara geben möge: ὅπως δῷ μοι Σαρραν τὴν ἀδελφήν μου. Die Bezeichnung Σαρραν τὴν ἀδελφήν betont den Anspruch, den Tobias mit seiner Forderung verbindet. Anders als in GI wird eine mögliche Reaktion des Engels/Asarjas erzählerisch übergangen und stattdessen berichtet, dass Raguel die Rede hört. Der Erzählverlauf macht nicht deutlich, welche Rede damit gemeint ist: die Ansprache des Tobias an den Engel/Asarja oder die Mitteilung des Engels/Asarjas an Raguel. Anders als in GI betont GII damit weniger die sich veränderte Beziehungsstruktur zwischen Tobias und dem Engel/Asarja, sondern vielmehr das Selbstbewusstsein, mit dem Tobias sein Anliegen verfolgt. Die Reden des Raguel sind länger als in GI und setzen teilweise andere Akzente. In seiner ersten Antwort ergänzt er seine Zustimmung zur Heirat um den Aspekt, dass er nicht die Macht (ἐξουσία) habe, seine Tochter einem anderen Mann zu geben. Mit dieser Aussage stellt GII einen Bezug zur Rede des Engels/ Asarjas in 6,13 her, nach dessen Ausführungen Raguel mit dem Tode rechnen müsse, sollte er Sara mit einem anderen Mann verheiraten. Von einer solchen Strafandrohung spricht Raguel hier nicht. Wie in GI bleibt der Dämon als Verursacher der Todesfälle in den Hochzeitsnächten unerwähnt. Ein markanter Unterschied zu GI zeigt sich in der Formulierung des Satzes, mit dem Tobias Raguel zu einer Stellungnahme herausfordert (7,11c). Während GI das Objekt der anstehenden Entscheidung eindeutig benennt (die Eheschließung zwischen Tobias und Sara), lässt die Formulierung in GII offen, worum es in der Entscheidungsfindung eigentlich geht. Tobias spricht allgemein von dem, was ihn betrifft: ἕως ἂν διαστήσῃς τὰ πρὸς ἐμέ. Das Pronomen τὰ kann sowohl für die geforderte Heirat stehen, als auch für die (unausgesprochene) Gefahr, die mit diesem Akt verbunden ist. Raguel lässt diese Mehrdeutigkeit zu, indem er schlicht mit »Ποιῶ« antwortet. In seiner Perspektive bilden die Hochzeit und der Tod keine Alternativen, sondern die Heirat zieht das Sterben als Konsequenz nach sich. Diese kurze Dialogsequenz verdeutlicht wesentlich stärker als GI, dass den beiden Sprechern das implizite Thema ihres Gesprächs sehr

126

Analyse der Erzählteile

bewusst ist, obwohl es expressis verbis nicht genannt wird. Ebenfalls deutlicher legitimiert Raguel in GII die Rechtmäßigkeit der Eheschließung, indem er dreimal auf die Schriftgemäßheit der Heirat verweist: κατὰ τὴν κρίσιν τῆς βίβλου Μωυσέως (7,11), κατὰ τὸν νόμον καὶ κατὰ τὴν κρίσιν τὴν γεγραμμένην ἐν τῇ βίβλῳ Μωυσέως (7,12) und κατὰ τὴν κρίσιν τοῦ Μωυσέως νόμου (7,13). Die pauschalen Bezugnahmen auf das Buch/Gesetz des Moses machen es jedoch nicht möglich zu ermitteln, welche konkreten Inhalte Raguel im Blick hat.151 Aufgrund der Länge der Reden Raguels ist das Verhältnis zwischen Rede- und Handlungsanteilen nicht so ausgewogen wie in GI. Der Anteil an erzählter Handlung betrifft nur das Rufen Raguels nach Edna und sein Verfassen des Ehevertrages. Die parataktische Aneinanderreihung von Verben, die in GI den Eindruck der intensiven Geschäftigkeit Raguels vermitteln, fehlt hier. Die Charakterisierung der Figuren erfolgt in diesem Abschnitt in GII fast ausschließlich in den Redeanteilen. Die Rahmung des Textabschnitts durch den Motivbereich Nahrung verweist deutlicher als in GI auf die kohärente Geschlossenheit dieses Erzählabschnitts. In beiden Textversionen hat das Wortfeld Bewegung nur eine untergeordnete Bedeutung, stattdessen dominiert das Thema Nahrung. GII markiert das zeitliche und räumliche Setting der geschilderten Szene in 7,9b–14 mit der Erwähnung, dass die Akteure sich zum Essen setzen (ἀνέπεσαν δειπνῆσαι). Raguels Handlungsappell an Tobias bezieht sich auf die Aufforderung zu essen und zu trinken (Φάγε καὶ πίε) und bezeichnender Weise verleiht Tobias seiner Forderung dadurch Nachdruck, dass er sich genau dieser Aufforderung verweigert (GI: Οὐ γεύσομαι οὐδὲν ὧδε. GII: Οὐ μὴ φάγω ἐντεῦθεν οὐδὲ μὴ πίω). Beide Textversionen beenden den Abschnitt mit dem Hinweis auf das gemeinsame Festmahl (GI: ἤρξαντο ἐσθίειν. GII: ἤρξαντο φαγεῖν καὶ πιεῖν). Während in diesem Textabschnitt keine Tiere genannt werden, wird in den Termini κρίσις, νόμος Μωυσέως, συγγραφή (GI) bzw. κρίσις τῆς βίβλου Μωυσέως, νόμος, κρίσις τὴν γεγραμμένην ἐν τῇ βίβλῳ Μωυσέως (GII) der Themenkomplex Gesetze/Gebote wieder aufgegriffen.

7,15–17: Edna führt Sara in das Brautzimmer Die Erzähleinheit 7,1–17 endet mit der kurzen Episode in 7,15–17, in der Edna ihre Tochter Sara in das Brautzimmer führt. Die Szene ereignet sich während des gemeinsamen Essens nach der Vertragsunterzeichnung (7,14). Diese Simultanität von Geschehensabläufen ist schon aus 5,18–22 bekannt, wo der Erzähler von einem Handlungsprozess berichtet, der mit einem weiteren Erzählstrang parallelisiert wird (Tobias und der Begleiter beginnen die Reise = Gespräch zwischen Hanna und Tobit). Die Sequenz in 7,15–17 unterscheidet sich von der in 5,18–22 151 Vgl. J. Gamberoni, Gesetz 238; P. Deselaers, Buch 141, 143.

Analyse 5,17b–11,19: Heilung Saras und Tobits

127

darin, dass sie nicht fast ausschließlich aus Redeanteilen besteht, sondern dass diese von einer Handlung begleitet werden. Die Handlung in der Darstellung von GI beschränkt sich auf das Rufen Raguels nach Edna, ihre Beauftragung und die Durchführung der Aufgabe durch Edna. Außerdem berichtet der Erzähler, dass sie weint und auch die Tränen ihrer Tochter abwischt. Der Abschnitt endet mit einer Rede Ednas, ihre erste verbale Äußerung in GI, an ihre Tochter. Die einzige Handlungsträgerin ist damit Edna, Sara tritt nur als Objekt der Handlung und als Adressatin der Rede Ednas in Erscheinung. Ihr Name wird nicht genannt, ihre Präsenz erschließt sich aus der Verwendung des Personalpronomens αὐτός und der Verwandtschaftsbezeichnung θύγατερ. Abgesehen davon, dass Edna ihre Tochter in das Brautzimmer führt und damit die Handlung voranbringt, ist die Erwähnung ihres Weinens und der Tränen Saras zu beachten. Abgesondert von der Feiergesellschaft, für sich in der Brautkammer, zeigen die Frauen ihre Trauer und distanzieren sich damit von dem Taktieren, das die Brautübergabe in der Szene vorher begleitet hat. Die Bedrohung durch den Dämon wird zwar auch hier nicht ausdrücklich ausgesprochen, aber die Trauer der beiden Frauen macht ihr Wissen um die mögliche Todesnähe deutlich. Diese Antizipation der Gefahr spiegelt sich in den Worten Ednas, die ihre Tochter trösten sollen. Sie wünscht Sara Freude statt Trauer, χαρὰν ἀντὶ τῆς λύπης σου.152 Das Weinen und die Worte Ednas mindern die Irritation der Lesenden, die die Darstellungsweise der vorherigen Ereignisse in 7,10–14 hervorgerufen hat: Alle Akteure wissen um die Gefährdung des Tobias in der Hochzeitsnacht, aber sie wird nur einmal erwähnt (7,11) und spielt dann keine Rolle mehr. Edna drückt durch ihr Verhalten und ihre Worte das aus, was alle denken und befürchten. Diese Offenheit erinnert an die Szene in 2,14, wo Hanna mit ihrer direkten Frage nach dem Nutzen von Tobits vermeindlichen Taten der Barmherzigkeit dessen Verblendung entlarvt. Die Darstellung in GII unterscheidet sich bis auf drei Ausnahmen davon nicht wesentlich. Nach GII bereitet Edna nicht nur die Kammer, sondern auch das Bett (στρώννυμι). Während in GI zumindest indirekt von einem Weinen Saras berichtet wird, ist in GII davon auszugehen, dass Edna sich die eigenen Tränen abwischt. GII beendet den Erzählabschnitt mit der Aussage, dass Edna hinausgeht. Das zusammengesetzte Verb ἐξέρχομαι schlägt einen Bogen zurück an den Beginn der Texteinheit in 7,1, dessen erstes Verb ebenfalls aus dem Kompositum einer Richtungsangabe mit einer Form von ἔρχομαι besteht (εἰσέρχομαι). Mit diesen korrespondierenden Verben am Anfang und am Ende der Erzählsequenz 7,1–17 markiert GII die Abgrenzung dieses Abschnitts klarer als GI. Die formale Kohärenz der narrativen Einheit 7,1–17 wird in beiden Textversionen auf der Ebene der Figurenkonstellation hergestellt. Nicht Tobias und der Engel/Asarja 152 Vgl. dazu das Amos-Zitat in 2,8.

128

Analyse der Erzählteile

stehen im Vordergrund, sondern das erzählerische Interesse liegt auf den Reden und dem Handeln der Nebenfiguren. Der Fokus des Erzählers ist auf Raguel gerichtet, dessen ausgiebige Reden und Betriebsamkeit die Aufmerksamkeit der Lesenden auf sich ziehen. Die Figuren Edna und Sara erfahren in GI und GII zwar einen unterschiedlichen Grad an Aufmerksamkeit, aber auch sie unterstützen den Fortgang der Handlung. In dem kurzen Abschnitt wird die Handlung durch die Verben εἰσάγω bzw. ἄγω und κλαίω bestimmt. Die beiden Wortfelder der Bewegung und der Trauer, die auch in 7,1–9a entfaltet werden, rahmen damit den gesamten Textabschnitt 7,1–17.

3.6

8,1–9a: Vertreibung des Dämons

Die sich in 7,15–17 anbahnende Verengung der räumlichen Perspektive auf die Kammer der Braut findet ihre Fortsetzung in 8,1–9a, wo der Erzähler zunächst alle Akteure diesen Raum betreten lässt, um anschließend Tobias und Sara dort eingeschlossen allein zu lassen. Die Erweiterung des Figurentableaus durch den Dämon lässt den Abschnitt 8,1–9 als eine eigene Erzähleinheit definieren. GI und GII markieren den erzählerischen Neuansatz mit dem Verb συντελέω in Verbindung mit Verben des Essens (GI: δειπνοῦντες; GII: φαγεῖν καὶ πιεῖν). Mit dieser Aussage stellt der Erzähler einen Bezug her zu dem gemeinsamen Essen in 7,14, nach dessen Beendigung nun etwas Neues beginnt. In beiden Textversionen gliedert sich die Erzähleinheit 8,1–9 in zwei Teile: 8,1–3 berichtet von einer Handlungssequenz ohne begleitende Rede, während der umfangreichere Teil des Abschnitts 8,4–9 fast ausschließlich aus einem Gebet des Tobias besteht. Die Szene 8,1–3 wird vom Handeln des Tobias, des Dämons und des Engels/ Asarjas bestimmt. Die anderen Akteure, bei denen es sich dem Duktus der Erzählung folgend um Raguel, Edna und Sara handelt, treten nur indirekt in dem Verb εἰσήγαγον und dem Personalpronomen αὐτήν in Erscheinung. Auf der Erzählebene findet damit eine wichtige Verschiebung der Figuren statt: Die Nebenfiguren, die in 7,1–17 im Vordergrund des Geschehens stehen, rücken hier in den Hintergrund und geben Raum den Protagonisten, die in 5,17b–6,18 die Hauptrollen spielen. Das Szenensetting weist in Blick auf die bisher erzählten Ereignisse drei Besonderheiten auf: Der Erzähler berichtet von der ersten Handlung des Tobias und des Engels/Asarjas während ihres Aufenthaltes in Ekbatana, die Aktionen des Tobias dominieren die Szene, außerdem tritt in der Gestalt des Dämons ein neuer Akteur auf. Der Erzählabschnitt in 8,1–3 setzt sich zusammen aus drei aufeinander folgenden Handlungssequenzen, die jeweils einem Akteur zugeordnet sind. Tobias’

Analyse 5,17b–11,19: Heilung Saras und Tobits

129

Handeln wird durch eine eine Abfolge von fünf Verben beschrieben, die Aktivitäten des Dämon zeigen sich in zwei Handlungen und die des Engels/Asarjas in einer Aktion. Die Handlungsabfolge des Tobias besteht darin, dass er (in die Kammer) hinein geht, sich an die Worte des Engels/Asarjas erinnert, die Glut des Räucherwerks nimmt, das Herz und die Leber des Fisches darauf legt und die Organe im Rauch aufgehen lässt: ὁ δὲ πορευόμενος ἐμνήσθη τῶν λόγων Ραφαηλ καὶ ἔλαβεν τὴν τέφραν τῶν θυμιαμάτων καὶ ἐπέθηκεν τὴν καρδίαν τοῦ ἰχθύος καὶ τὸ ἧπαρ καὶ ἐκάπνισεν. Dieser Kette von Verrichtungen folgt der Bericht über die Reaktion des Dämons, er nimmt den Geruch wahr und er flieht: ὅτε δὲ ὠσφράνθη τὸ δαιμόνιον τῆς ὀσμῆς, ἔφυγεν εἰς τὰ ἀνώτατα Αἰγύπτου. Anschließend lässt der Erzähler den Engel/Asarja den Dämon fesseln: καὶ ἔδησεν αὐτὸ ὁ ἄγγελος. Offensichtlich ist er ihm gefolgt und sorgt dafür, dass dieser nicht zurückkommen kann. An dieser Präsentation der Ereignisse fällt auf, dass weder von einer Reaktion der Anwesenden auf das Räucherwerk berichtet noch das Erscheinen des Dämons erklärt wird. Statt die Szene narrativ auszugestalten, geht es dem Erzähler vielmehr um die Korrespondenz der erzählten Handlung mit den Anweisungen des Engels/Asarjas in 6,17: καὶ ἐὰν ε σέλθῃς εἰς τὸν νυμφῶνα, λήμψῃ τέφραν θυμιαμάτων καὶ ἐπιθήσεις ἀπὸ τῆς καρδίας καὶ τοῦ ἥπατος τοῦ ἰχθύος καὶ καπνίσεις. Bis auf den Terminus εἰσέρχομαι (vgl. πορεύομαι 8,2) finden sich dieselben Verben in 6,17 und 8,2, sie unterscheiden sich lediglich in der Tempusbildung (6,17: Futur, 8,2: Aorist). Damit spiegelt die narrative Ebene fast wörtlich die Rede des Engels/Asarjas. Tobias setzt die Aufforderungen des Engels/Asarjas in konkrete Taten um, was zur Folge hat, dass sich die Vorhersage des Engels in 6,18: καὶ ὀσφρανθήσεται τὸ δαιμόνιον καὶ φεύξεται καὶ οὐκ ἐπανελεύσεται τὸν αἰῶνα τοῦ αἰῶνος tatsächlich erfüllt. Neben der inhaltlichen ist hier also durch die Verben ὀσφραίνομαι und φεύγω auch eine semantische Übereinstimmung von 6,18 und 8,3 gegeben. Im Unterschied zu 6,18 präzisiert der Erzähler in 8,3 den Fluchtort des Dämons mit der Angabe εἰς τὰ ἀνώτατα Αἰγύπτου und er umschreibt die Unmöglichkeit seiner Rückkehr durch die Aussage, dass der Engel/Asarja den Dämon fessele. Mit dieser Tat wird von der ersten Handlung des Engels/Asarjas in Ekbatana überhaupt, aber auch von seinem ersten »engelhaften« Tun berichtet. Der Engel agiert hier nicht in seiner Rolle als Asarja, sondern als Raphael. Nur einem Engel/Raphael ist es möglich, sich unverzüglich von Ekbatana nach Ägypten zu bewegen und dort einen Dämon zu bändigen. Während sich in 8,2 die erzählte Zeit und die Erzählzeit einander annähern, sind diese beiden Dimensionen in 8,3 kaum miteinander in Beziehung zu setzen. Der Bewegungsradius der beiden »nichtmenschlichen« Akteure ist jeder Raumund Zeitdimension enthoben. Es stellt sich die Frage, ob die so dargestellte Vertreibung des Dämons für die in der Kammer Anwesenden überhaupt wahr-

130

Analyse der Erzählteile

nehmbar ist. Obwohl der Engel/Asarja auf dem Weg nach Ekbatana Tobias über Wirkung der verbrannten Fischorgane aufgeklärt hat (6,10–18), scheint dieser die Vorgänge in der Kammer nicht realisiert zu haben. Sein folgendes Gebet in 8,5, das in keiner Weise auf die erfolgreiche Überwindung der Gefahr anspielt, und die Skepsis des Raguel in Blick auf das Überleben des Tobias in 8,10 lassen die Vermutung zu, dass hier den Lesenden ein Wissen geboten wird, das den Figuren in der erzählten Welt nicht zugänglich ist. GII ist in seiner Darstellung detaillierter und präziser als GI. Die Gestaltung des Szenenanfangs entspricht der in GI, wird aber noch ergänzt um die Aussage, dass sich die ebenfalls nicht mit Namen genannten Teilnehmer des Festmahls nach dem Essen schlafen legen wollen. Diese Angabe lässt auf die Tageszeit der erzählten Ereignisse schließen, es ist inzwischen Abend bzw. Nacht geworden. Die Erwähnung des Schlafwunsches der Akteure in der Erwartung der schicksalsbestimmenden Hochzeitsnacht entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Statt die Sorge um das Leben des Tobias anzudeuten, thematisiert der Erzähler die Schläfrigkeit der Familie. Die Kette der Verben, die das Handeln des Tobias veranschaulichen, erfährt eine Erweiterung durch die Erwähnung des Beutels, den Tobias bei sich trägt: ἐκ τοῦ βαλλαντίου, οὗ εἶχεν. Diese Detailangabe lässt die Szene plastischer erscheinen. Die Fesselung des Dämons durch Raphael wird ebenfalls differenzierter beschrieben als in GI. Raphael geht los, bindet die Füße (συμποδίζω) 153 des Dämons und fesselt ihn. Die Gleichzeitigkeit der einzelnen Handlungen, die durch das Adverb παραχρῆμα betont wird, verstärkt den Eindruck, dass hier Dinge jenseits des menschlichen Erfahrungshorizontes geschehen. Den Inhalt des zweiten Abschnitts 8,4–9 bildet fast ausschließlich das Gebet des Tobias. Diese Rede wird gerahmt von einer Eingangs- und Abschlusshandlung. Bevor Tobias spricht, berichtet der Erzähler, dass die beiden (ἀμφότεροι) eingeschlossen werden und Tobias sich vom Lager (κλίνη) erhebt. Offensichtlich haben die übrigen Anwesenden den Raum verlassen und Tobias mit Sara dort zurückgelassen. Ihr Name wird nicht eigens genannt. Es ist nur dem Zusammenhang zu entnehmen, dass das Adjektiv ἀμφότεροι für Tobias und Sara steht. Nach dem Verrichten des Räucherwerks scheint sich Tobias auf das Lager gelegt zu haben. Dieser Handlungsschritt wird wie das Verlassen des Raumes durch die anderen Akteure erzählerisch übersprungen. Der eher lückenhafte Bericht über den Handlungsablauf lässt auf ein Desinteresse des Erzählers an dem konkreten Tun der Protagonisten (außer der Verrichtung des Räucherwerks) schließen und lenkt die Aufmerksamkeit auf die Rede des Tobias. Nach deren Beendigung wechselt der Text wieder auf die Handlungsebene und berichtet, dass sich die beiden (ἀμφότεροι) schlafen legen. 153 Vgl. die Erwähnung der Füße in 6,3.

Analyse 5,17b–11,19: Heilung Saras und Tobits

131

Die Rede des Tobias in 8,5b–7 ist das erste Gebet, das im Rahmen der Binnenerzählung präsentiert wird. Bevor Tobias zu sprechen beginnt, bittet er Sara in 8,4c, aufzustehen und mit ihm gemeinsam zu beten: Ἀνάστηθι, ἀδελφή, καὶ προσευξώμεθα, ἵνα ἡμᾶς ἐλεήσῃ ὁ κύριος. Mit dieser Aufforderung an Sara spielt Tobias auf die Anweisung des Engels/Asarjas in 6,18b an: ἐγέρθητε ἀμφότεροι καὶ βοήσατε πρὸς τὸν ἐλεήμονα θεόν. In seinem folgenden Gebet realisiert Tobias damit den Auftrag des Engels/Asarjas, an die Barmherzigkeit Gottes zu appellieren und auf seine rettende Tat zu vertrauen. Das Gebet, das durchgängig als eine Rede an Gott konzipiert ist, besteht aus drei Teilen: Es beginnt in 8,5 mit einem Lobpreis Gottes, begründet dann in 8,6 das Verhältnis zwischen Mann und Frau und endet in 8,7 mit einem doppelten Appell. Der Lobpreis gilt Gott als dem »Gott unserer Väter« (ὁ θεὸς τῶν πατέρων ἡμῶν) und seinem Namen (τὸ ὄνομά σου).154 Die universalistische Ausrichtung des Gebets wird an dem kosmisch entgrenzten Adressatenkreis deutlich, an den sich der Lobappell richtet: Die Himmel (οἱ οὐρανοὶ) 155 und die gesamte Schöpfung (πᾶσα ἡ κτίσις σου) sollen Gott preisen. Der Terminus κτίσις bildet den inhaltlichen Übergang zum zweiten Teil des Gebets, in dem Tobias zunächst an die Erschaffung des Adams erinnert: σὺ ἐποίησας τὸν Αδαμ. Tobias versteht die Erschaffung nicht als einen isolierten Akt, sondern in engem Zusammenhang mit der Erschaffung Evas, die dem Adam als Hilfe und Stütze zur Seite gestellt wird: ἔδωκας αὐτῷ βοηθὸν Ευαν στήριγμα τὴν γυναῖκα. Aus dieser Verbindung entstammt das Geschlecht der Menschen ἀνθρώπων σπέρμα. Der Terminus σπέρμα bezeichnet hier nicht eine bestimmte Gemeinschaft, die sich von anderen Gruppierungen unterscheidet,156 sondern steht für die gesamte Menschheit. Anstatt die Differenz zu betonen, umfasst er inkludierend alle Menschen. Tobias sieht seine Auffassung von der unterstützenden Rolle Evas Adam gegenüber und umgekehrt in einer Aussage Gottes bestätigt: σὺ ε πας Οὐ καλὸν εἶναι τὸν ἄνθρωπον μόνον, ποιήσωμεν αὐτῷ βοηθὸν ὅμοιον αὐτῷ. Der Mensch, den Gott geschaffen hat, ist auf die Gemeinschaft mit anderen Menschen ausgerichtet und die Beziehungen innerhalb dieser Gemeinschaft sind geprägt von gegenseitiger Unterstützung und Gleichartigkeit bzw. Ähnlichkeit (ὅμοιον).157 Bezeichnenderweise wird dieses Zitat aus Gen 2,18 nicht als ein Schriftzitat ausgewiesen, sondern als ein gesprochenes Wort Gottes. Dabei handelt es sich bei dieser Bezugnahme um den einzigen identifizierbaren

154 155 156 157

Vgl. 3,11 und 13,11 (GII), wo sich τὸ ὄνομά σου allerdings auf die Stadt Jerusalem bezieht. Zur Pluralbildung von οὐρανός vgl. P. Deselaers, Buch 150. Zum Beispiel 1,1: ἐκ τοῦ σπέρματος Ασιηλ. Tobit 8,6 übersetzt ֽ‫ ְכּנְֶג ֹדּו‬mit ὅμοιον αὐτῷ. Gen 2,18 LXX liest: Οὐ καλὸν εἶναι τὸν ἄνθρωπον μόνον·ποιήσωμεν αὐτῷ βοηθὸν κατ’ αὐτόν. Vgl. J.A. Fitzmyer, Tobit 247.

132

Analyse der Erzählteile

Schriftverweis im Buch Tobit,158 der den ursprünglichen Aussagegehalt korrekt wiedergibt.159 Mit der Wendung καὶ νῦν in 8,7 leitet das Gebet zu der Folgerung über, die Tobias aus der zitierten »Rede« Gottes zieht. Sie hat für ihn einen paradigmatischen Charakter: καὶ νῦν οὐχὶ διὰ πορνείαν ἐγὼ λαμβάνω τὴν ἀδελφήν μου ταύτην, ἀλλ’ ἐπ’ ἀληθείας. Tobias qualifiziert das Beziehungskonzept, das dieses Wort Gottes impliziert, als ἀλήθεια. Im Gegensatz zur πορνεία entspricht eine Beziehungsgestaltung, die auf Solidarität und Gleichwertigkeit beruht, dem wahren (im Sinne Gottes angemessenen) Charakter des Verhältnisses zwischen Mann und Frau. Hier rechtfertigt Tobias vor Gott seine Entscheidung zu heiraten, indem er ihn mit dessen eigenen Worten zitiert und auf die Übereinstimmung zwischen dem Willen Gottes und seiner eigenen Motivation hinweist. Dieses Handeln im Sinne Gottes veranlasst Tobias zu der Bitte, dass Gott befehlen (ἐπιτάσσω) möge, Tobias Gnade und dem Paar ein hohes Alter zukommen zu lassen. Die Bitte um Barmherzigkeit (ἐλεῆσαί με) ist nur für Tobias und nicht auch für Sara formuliert, der Gnadenappell erklärt sich aus einer Bedrohung, die nur Tobias gilt. Hier liegt ein deutlicher Hinweis darauf vor, dass Tobias von der gelungenen Vertreibung des Dämons und damit von der Überwindung der Gefahr nichts weiß. Nach diesem Gebet, das Tobias alleine gesprochen hat, findet auf der narrativen Ebene das gemeinsame Handeln des Tobias und Saras eine besondere Erwähnung. Ohne ihren Namen eigens zu nennen, berichtet der Erzähler, dass Sara gemeinsam mit Tobias das Gebet beschließt und dass sich das Paar (ἀμφότεροι) schlafenlegt. GII entspricht in seiner Gestaltung von 8,4–9 bis auf zwei geringfüge Unterschiede dem Text in GI. Die beiden Unterschiede beziehen sich auf den Handlungsablauf. GII ist in der Präsentation der einzelnen Handlungsschritte stringenter als GI, so erwähnt 8,4 (GII) eigens das Herausgehen der im Raum Anwesenden, während GI diesen Schritt nur voraussetzt. GII berichtete in 8,5 von einem gemeinsamen Gebet des Tobias und der Sara: καὶ ἤρξαντο προσεύχεσθαι καὶ δεηθῆναι. Anders als in GI wird hier das Prinzip der »dialogue-bound narration« konsequent angewendet, denn der Text lässt diese gemeinsame Handlung direkt der Aufforderung des Tobias an Sara, mit ihm zusammen zu beten, folgen. Außerdem entspricht das Beten sowohl des Tobias als auch der Sara vollständig der Anweisung des Engels/Asarjas in 6,18b, die im Plural formuliert und an beide gerichtet ist. Den ausführlichen Gebetsteil 8,5c–6 lässt GII wie GI Tobias alleine sprechen. Die Verwendung des Verbs κοιμάομαι in 8,1 und 8,9 setzt der Erzähleinheit einen deutlicheren Rahmen als in GI. 158 Vgl. die vagen Anspielungen des Engels und Raguels: 6,13; 7,11.12. 159 Vgl. dazu das Amos-Zitat in 2,6.

Analyse 5,17b–11,19: Heilung Saras und Tobits

133

Die Besonderheit des Szenensettings (Tobias, Raphael, Dämon) und die Platzierung dieser Erzählsequenz in der Mitte der konzentrischen Erzählstruktur heben ihre Zentralität im Gesamtverlauf der Binnenerzählung hervor. Die Bedeutung der Szene wird unterstrichen durch die Konzentration der Raumdimension auf die verschlossene Kammer. Der Erzähler präsentiert die Ereignisse der entscheidenden Nacht nicht als dramatische Geschichte einer Dämonenaustreibung, die sich auf die Figur des Dämons konzentriert und ausführlich den Konflikt zwischen Tobias und dem Dämon darstellt. Auch die Beschreibung der folgenden Hochzeitsnacht ist auffallend zurückhaltend und beschränkt sich auf das Gebet der Tobias bzw. des Hochzeitpaares. Wie oben deutlich wurde, geht es dem Erzähler in diesem Abschnitt darum zu zeigen, dass sich Tobias genau an die Anweisungen hält, die ihm der Engel/Asarja auf dem Weg nach Ekbatana gegeben hat (6,17–18). Im Sinne der »dialoguebound narration« setzt Tobias auf der Handlungsebene, allerdings mit zeitlicher Verzögerung, jene Aufforderungen in Tat um, die ihm der Engel/Asarja in seiner Rede übermittelt hat. Diese Korrespondenz spiegelt sich sowohl auf der semantischen Ebene als auch in der Handlungsabfolge. Der kurze Auftritt des Dämons hat lediglich die Funktion zu beweisen, dass auf die Rede des Engels/ Asarjas Verlass ist. Wenn man sich an dessen Worte hält, nehmen die Ereignisse genau den Verlauf, den dieser voraussagt. Das korrekt zubereitete Räucherwerk vertreibt den Dämon und, um die Endgültigkeit der Überwindung der Gefahr sicherzustellen, verfolgt ihn Raphael und fesselt ihn. Mit dieser Machtdemonstration über den Dämon erreicht der Autorisierungsprozess des Engels/Asarjas, der in der Fischszene am Tigris seinen Anfang nimmt und sich in der Anweisung zur Dämonenaustreibung fortsetzt, ihren Höhepunkt. Die Kenntnis über die erfolgreiche Vertreibung und Fesselung des Dämons wird nur den Lesenden vermittelt, sie bleibt den Erzählfiguren vorenthalten. Dieser Wissensvorsprung schärft den Blick für die Reaktion des Tobias auf die Autorität des Engels/Asarjas. Tobias weiß in 8,4f nicht, dass seine Rettung schon stattgefunden hat, aber im Vertrauen auf die Verlässlichkeit des Engels/Asarjas betet er das geforderte Gebet. Mit Hilfe der Termini Autorität und Vertrauen lässt sich damit eine thematische Zweiteilung der Erzähleinheit 8,1–9 vornehmen: 8,1–3 betont den Autoritätserweis des Engels/Asarjas und der Abschnitt 8,4–9 beschreibt die vertrauensvolle Antwort des Tobias auf dessen Anweisungen. In seinem Gebet verweist Tobias auf die Übereinstimmung zwischen dem Willen Gottes und seinen eigenen Beweggründen Sara zu heiraten. Ein ähnliches Bemühen um den Legitimitätserweis der eigenen Handlungsmotivation ist bei dem Engel/Asarja (6,13.16) und Raguel (7,11.12) festzustellen. Ihre Begründungsstrategie zielt auf die Schriftkonformität ihrer Anliegen, beide argumentieren mit dem pauschalen Verweis auf das verschriftlichte Gotteswort, nämlich auf das Gesetz, die Bestimmungen und das Buch des Moses. Der Text gibt jedoch

134

Analyse der Erzählteile

keinen Hinweis darauf, welche Schriftstellen die Akteure genau im Blick haben bzw. ob es einen entsprechenden Schriftbezug überhaupt gibt (6,13). Im Gegensatz dazu verwendet Tobias in seinem Gebet ein eindeutiges Schriftzitat (Gen 2,18), das er allerdings gerade nicht als solches markiert, sondern als ein gesprochenes Wort Gottes vorstellt.

3.7

8,9b–9,6: Freude Raguels und Feier

Der Erzählabschnitt 8,9b–9,6 setzt sich von der vorherigen Einheit 8,1–9a durch die Fokussierung auf eine andere Erzählfigur ab. Nicht mehr Tobias, sondern Raguel ist wieder der entscheidende Handlungsträger. Der Ortswechsel von der Brautkammer in die Bereiche innerhalb und außerhalb des Hauses Raguels markiert eine Erweiterung des räumlichen Aktionsradius. Es lassen sich drei Unterabschnitte mit je eigenen inhaltlichen Schwerpunkten ausmachen: Raguels Verhalten während der Hochzeitsnacht: 8,9b–18; das Hochzeitsfest; 8,19–21; Tobias schickt den Engel/Asarja nach Rages: 9,1–6. Die ersten beiden Abschnitte erzählen von zeitlich chronologischen Ereignissen, während die dritte Szene als eine Parallelhandlung zu 8,19–21 gestaltet ist. 8,9b–18: Raguels Bezeugung der vollbrachten Rettung In 8,9b–18 treten nicht mehr Tobias, der Dämon und der Engel/Asarja als handelnde Subjekte auf, sondern Raguel, die Magd und Edna. Hinzu kommt zum ersten Mal eine unbestimmte Anzahl von Knechten. Die Verse 8,9b–14 erzählen auf der Handlungsebene vom Agieren der Akteure, die weiteren Verse 8,15–18 geben eine Rede des Raguel und eine Anweisung an seine Knechte wieder. Die Begriffspaare ὀρύσσω τάφον in 8,9b und χόω τάφον in 8,18 bilden eine semantische Klammer um diesen Abschnitt. Der Beginn einer neuen Handlungssequenz deutet sich in beiden Textversionen im Subjektwechsel und dem Verb ἀνίστημι an. Raguel steht auf, um weiteren Tätigkeiten nachzugehen. Ob es sich bei dem Verb ἀνίστημι um das Aufstehen nach dem Nachtschlaf und damit um eine implizite Zeitangabe handelt, erschließt sich an dieser Stelle nicht. In der folgenden Darstellung der Ereignisse weichen GI und GII, wenn auch nur geringfügig, voneinander ab, sodass wieder zunächst die Version von GI und dann die von GII vorgestellt werden soll. Die Gestaltung der Handlung besteht in GI aus der Präsentation von zwei viergliedrigen Handlungsketten, die sich auf jeweils zwei Subjekte beziehen. Raguel steht auf, geht hinaus, hebt ein Grab aus und geht hinein (ἀνίστημι, πορεύομαι, ὀρύσσω, ἔρχομαι), die Magd geht hinein, öffnet die Tür, findet die Schlafenden und geht hinaus (εἰσέρχομαι, ἀνοίγω, εὑρίσκω, ἐξέρχομαι). Die

Analyse 5,17b–11,19: Heilung Saras und Tobits

135

beiden Aneinanderreihungen von Verben werden jeweils beendet mit einem Verb des Sprechens (8,12a: εἶπεν, 8,14b: ἀπήγγειλεν), dem in Blick auf Raguel eine direkte und in Blick auf die Magd eine indirekte Rede folgen. Im Unterschied zur Abfolge der Verben, die die Magd betreffen, wird die Reihung von Raguels Tätigkeiten durch das Partizip λέγων unterbrochen, das eine kurze Redesequenz einschiebt. Weder Edna noch die Knechte treten als handelnde oder sprechende Akteure auf, sie finden lediglich als Adressaten der Anweisungen Raguels eine Erwähnung. Die Handlung besteht darin, dass Raguel das Haus verlässt und ein Grab aushebt. Dann kehrt er in sein Haus zurück und beauftragt Edna eine Magd zu schicken um nachzusehen, ob Tobias noch lebe. Entsprechend des Konzepts der »dialogue-bound narration« berichtet der Erzähler von der sofortigen Umsetzung des Auftrags durch die Magd, die ihre positive Entdeckung sowohl Raguel als auch Edna (αὐτοῖς) mitteilt. In dem Abschnitt häufen sich Verben, vorwiegend wiederum Verben der Bewegung. Die Präsenz der Akteure gestaltet sich in gestufter Weise: Raguel handelt und spricht direkt; die Magd agiert ebenfalls, aber von ihrer Rede wird nur indirekt berichtet; Edna und die Knechte als stumme Statisten treten weder verbal noch handelnd in Aktion. Die übrigen Figuren aus dem gesamten Ensemble der Akteure werden gar nicht oder nur in den Reden von Raguel und der Magd erwähnt. Der Engel/Asarja ist völlig abwesend, die Anwesenheit des Tobias und der Sara wird nur durch die Pronomina οὗτος, αὐτός und das Zahlwort δύο angedeutet, ihre Namen werden nicht genannt. Obwohl die Erzählweise Tobias in den Hintergrund rücken lässt, liegt der Fokus der Reden in 8,10.12c.14c ausschließlich auf seiner Figur. Sein Überleben bildet das Hauptthema. In Raguels erstem Redeabschnitt, mit dem dieser das Ausheben des Grabes kommentiert, formuliert er seine Sorge, dass Tobias nicht auch noch sterben möge: Μὴ καὶ οὗτος ἀποθάνῃ. Diese negative Erwartung findet ihre Steigerung in seiner Anweisung an Edna nachprüfen zu lassen, ob dieser noch lebe. Für den Fall seines Todes soll er begraben werden: εἰ ζῇ·εἰ δὲ μή, ἵνα θάψωμεν αὐτὸν. In ihrer Mitteilung an Edna und Raguel berichtet die Magd, dass er lebe: ἀπήγγειλεν αὐτοῖς ὅτι ζῇ. Die Präsentation der Figurenkonstellation in 8,9b–14 erinnert an das Setting in 7,1–9a. Beiden Erzähleinheiten ist gemeinsam, dass jeweils zwei Akteure die ausschließlichen Subjekte einer Aneinanderreihung von einzelnen Handlungsschritten bilden (7,1–9a: Sara und Raguel, 8,9b–14: Raguel und die Magd). Eine dritte Figur, nämlich Edna, tritt zunächst nur als Adressatin der Rede Raguels in Erscheinung. Die Fokussierung auf die Figur des Raguel geschieht in formaler Hinsicht auf analoge Weise. Er ist die einzige Figur, von deren Handeln und direkter Rede berichtet wird. Das zweite Subjekt der Verbketten lässt der Erzähler zwar agieren, aber eine eigene, direkte Rede ist ihr nicht gestattet. Das Verschieben der Positionen der Hauptfiguren in den Hintergrund der erzählerischen Bühne und die der Nebenfiguren in den Vordergrund erfolgt in 8,9b–14 konse-

136

Analyse der Erzählteile

quenter als in 7,1–9a. Während in diesem Abschnitt Tobias und der Engel/Asarja, wenn auch ohne Namensnennung, auf der narrativen Ebene und als Sprechende durchaus Aktivitäten zeigen, wird in 8,9b–14 der Engel/Asarja gar nicht erwähnt und die Präsenz des Tobias erschöpft sich darin, dass über ihn gesprochen wird. Während von Edna in 7,8 erzählt wird, dass sie weint und die Gäste aufnimmt, schreibt ihr der Erzähler hier keine Handlung zu. Über das Verb ζάω wird auch in semantischer Hinsicht ein Bezug zu 7,5 hergestellt. Auf die Mitteilung der Magd antwortet Raguel in 8,15–17 mit einem Gebet. Obwohl die Magd sowohl Raguel als auch Edna anspricht, gibt der Text nur die Rede Raguels wieder. Demnach kann weiterhin von Ednas stummer Präsenz ausgegangen werden. Die Rede Raguels, die als eine direkte Rede an Gott konzipiert ist, gliedert sich in drei Teile: Lobpreis Gottes (8,15), erste Begründung für den Lobpreis (8,16), zweite Begründung für den Lobpreis (8,17). Alle drei Abschnitte werden eingeleitet mit dem allgemeinen Lobappell Εὐλογητὸς εἶ σύ. Für Raguel (8,15) bildet das reine und heilige Preislied (ἐν πάσῃ εὐλογίᾳ καθαρᾷ καὶ ἁγίᾳ) das geeignete Medium, Gott zu ehren. Die Adressaten der Aufforderung zu loben sind Gottes Heilige (οἱ ἅγιοί), seine Geschöpfe (πᾶσαι αἱ κτίσεις), seine Engel (πάντες οἱ ἄγγελοί), und seine Erwählten (οἱ ἐκλεκτοί). Die zweimalige Verwendung des Adjektivs πᾶς gibt dem Kreis der Lobenden eine universalistische Ausrichtung, die durch das Aufzählen der einzelnen Größen besonders betont wird. Die Erwähnung der Engel erinnert mit einer gewissen Ironie an die Unkenntnis Raguels darüber, dass es sich beim Begleiter des Tobias um einen Engel handelt. Der dominierende Schlüsselbegriff im ersten Gebetsteil ist der Terminus εὐλογέω und seine Derivate. Als ersten Anlass für das Preisen Gottes nennt Raguel in 8,16 den Umstand, dass das angesprochene »Du« ihn mit Freude erfülle (ὅτι ηὔφρανάς με) und ihm (der Person Raguel) nicht geschehen sei, wie er vermutet habe (οὐκ ἐγένετό μοι καθὼς ὑπενόουν). Stattdessen habe Gott entsprechend seiner Barmherzigkeit (ἔλεός) an ihnen gehandelt. An diesem ersten Begründungsaspekt fällt auf, dass Raguel zunächst seine Person in Blick nimmt und die positiven Auswirkungen von Gottes Handeln auf sein eigenes Leben thematisiert. Erst dann kommt er auf eine unbestimmte Mehrzahl von Menschen zu sprechen, denen Gott sich barmherzig zeigt (ἔλεός σου ἐποίησας μεθ’ ἡμῶν). Worin allerdings die Freude und Befürchtungen Raguels bestehen und für wen das Personalpronomen ἡμῶν steht, wird inhaltlich nicht konkretisiert. Das Vermeiden von präzisierenden Angaben ist auch im zweiten Begründungsansatz erkennbar. Gott wird gepriesen, weil er zwei Einziggeborenen (μονογενής) Erbarmen zeigte. Obwohl es für die Lesenden evident ist, dass es sich bei den δύο μονογενεῖς um Tobias und Sara handelt, ist das Nichterwähnen ihrer Namen irritierend. Die Rede von der Barmherzigkeit ist auch hier pauschal und nicht bezogen auf das konkrete Schicksal des Brautpaars. Entsprechend allgemein sind Raguels Wünsche for-

Analyse 5,17b–11,19: Heilung Saras und Tobits

137

muliert, die Gott (δέσποτα) Tobias und Sara gewähren möge: ἔλεος, ὑγίεια und εὐφροσύνη. Im zweiten und dritten Gebetsabschnitt dominiert der Terminus ἔλεός in seinen unterschiedlichen Formen. Am Ende des Abschnitts 8,9b–18 wechselt der Text von der direkten zur indirekten Rede Raguels. Er fordert seine Knechte auf das Grab wieder zuzuschütten. Die erstmalige Erwähnung der Knechte wirkt im Erzählverlauf von GI unmotiviert, denn nach 8,9b scheint Raguel das Ausheben allein ohne die Unterstützung der Knechte bewerkstelligt zu haben. Ihren Auftritt verdanken die οἰκέτας u. U. der Präsentation der Ereignisse in GII, wo die Knechte schon in 8,9b erwähnt werden. Wie schon in der Analyse von 7,1–9a gezeigt wurde, gestaltet GII die Zentralität der Figur Raguels in anderer Weise als GI. Das Nebeneinander von zwei Verbketten, die sich auf jeweils eine Bezugsgröße beziehen, findet sich in 8,9b–18 nicht. Raguel und die Magd erfahren eine besondere Hervorhebung dadurch, dass sie die beiden Figuren sind, die als einzelne Größen agieren. Alle weiteren Verben, die sich auf andere Akteure beziehen, sind in der Pluralform gebildet. Weiterhin ist Raguel der einzige, der mit seinem Namen bezeichnet wird und dessen Aktivitäten sowohl auf der narrativen Ebene als auch in der direkten Rede ihren Ausdruck finden. Im Gegensatz zu GI erwähnt GII in der Anfangssequenz die soziale Stellung Raguels, sie präsentiert ihn als den Herrn über eine ungenannte Zahl von Untergebenen (οἰκέτης). Nachdem er aufgestanden ist (ἀνίστημι), ruft er die Knechte und hebt mit ihnen gemeinsam das Grab aus. Dann kehrt er ins Haus zurück und gibt seiner Frau (ihr Name wird nicht genannt) die Anweisung, nach einer Magd zu schicken. Die Umsetzung des Auftrags beschreibt der Erzähler mit Verben in der dritten Person Plural, was inhaltlich inkohärent erscheint, da sich der Auftrag an eine einzelne Person richtet. In formaler Hinsicht lässt sich aber die Regelmäßigkeit beobachten, dass jedem Verb des Sagens, das im Singular formuliert ist, Pluralformen der Verben folgen, die für das Handeln der Angesprochen stehen (8,9b: Ραγουηλ ἐκάλεσεν … ᾤχοντο καὶ ὤρυξαν; 8,11: ἐκάλεσεν τὴν γυναῖκα … ἀπέστειλαν τὴν παιδίσκην καὶ ἧψαν τὸν λύχνον καὶ ἤνοιξαν τὴν θύραν; 8,14.15: παιδίσκη ὑπέδειξεν … εἶπαν). Während in 7,1.9a Edna als Gesprächspartnerin eine zentrale Rolle spielt, tritt sie in 8,9b–18 völlig in den Hintergrund. Im Unterschied zur Darstellung in GI finden sich in GII zwei indirekte Zeitangaben. Die Erwähnung der Lampe in 8,13 impliziert, dass das Ausheben des Grabes im Dunkeln, also während der Nacht stattfindet. Der Hinweis auf den anbrechenden Morgen in 8,18 (πρὸ τοῦ ὄρθρον γενέσθαι) bestätigt diese zeitliche Einordnung. Bis auf drei Details entsprechen sich die Redesequenzen in GI und GII sowohl in formaler als auch inhaltlicher Hinsicht. GII erläutert den Wunsch Raguels, dass Tobias nicht sterben möge, mit der drohenden Schande, falls auch dieser die Hochzeitsnacht nicht überlebe (γενώμεθα κατάγελως καὶ ὀνειδισμός).

138

Analyse der Erzählteile

Die Unstimmigkeit zwischen dem Plural der Gebetseinleitung in 8,15 und der Rede des Betenden in der ersten Person Singular erklärt sich aus den oben genannten Überlegungen. In der Version von GII verzichtet Raguel in seinem Gebet auf das Attribut ἁγίᾳ und die Aufzählung der verschiedenen Lobsubjekte. Sein Loben mündet in den schlichten Appell, dass man Gott preisen möge in alle Ewigkeit (εὐλογείτωσάν σε εἰς πάντας τοὺς αἰῶνας). Die in beiden Textversionen dargestellten Ereignisse bilden innerhalb der Binnenerzählung keinen Handlungsfortschritt. Die Tätigkeit des Aushebens und des anschließenden Zuschüttens desselben Grabes versinnbildlicht deutlich, dass es hier nicht darum geht, eine Dynamik zu entwickeln, die die Handlung vorantreibt. Vielmehr liegt in dieser Passage der Aussageschwerpunkt auf der Bezeugung und Veröffentlichung des Umstands, dass Tobias die Hochzeitsnacht überlebt hat. Anstatt sich nach den Geschehnissen der vergangenen Nacht zu erkundigen, verlässt sich Raguel auf die Auskunft der Magd und deutet die Ereignisse als einen Ausdruck der Barmherzigkeit Gottes. Schließlich erfolgt in 8,9b–18 eine markante Charakterisierung der Figur Raguels. Trotz ihrer unterschiedlichen Konstruktion der Zentralität Raguels zeichnen GI und GII ein überstimmendes Bild dieser Figur. Sowohl seine Handlung (Grabausheben) als auch seine Reden in 8,9b.12b bringen die Skepsis Raguels in Blick auf das Überleben des Tobias deutlich zum Ausdruck. Er wartet die Mitteilung der Magd nicht ab, sondern hebt zuerst das Grab aus und erkundigt sich dann nach dem Befinden des Tobias. Dieses Verhalten bestätigt die in 7,9b–17 wahrzunehmende Unzuverlässligkeit Raguels Tobias gegenüber. Obwohl er offensichtlich fest davon überzeugt ist, dass Tobias die Hochzeitsnacht nicht überleben wird, stimmt er der Heirat und damit dessen scheinbar sicheren Tod zu. Diesen negativen Charakterzug verstärkt GII in der Erläuterung der Befürchtung, Tobias könnte gestorben sein (8,10b). Raguels Sorge gilt nicht dem Leben des Tobias, sondern dem eigenen Ansehen, das möglichst nicht dem Spott anderer ausgesetzt werden soll. Aus diesem Grund plant er, das Begräbnis heimlich (nachts), ohne fremde Zeugen stattfinden zu lassen. Die sich in diesem Verhalten offenbarende Selbstbezogenheit Raguels prägt auch sein Lobgebet am Ende des Abschnitts. Der Dank an Gott gilt zuerst seiner Person und seinem Interesse und dann erst wendet er sich dem positiven Schicksal der beiden Brautleute zu. Wie oben schon angedeutet wurde, sind die Formulierungen des Gebets abstrakt gehalten ohne inhaltliche Konkretion. Diese Allgemeinheit macht das Gebet einerseits übertragbar auf andere Rettungsituationen, andererseits schafft sie eine Distanz zu dem konkreten Erlebnis, das den Anlass zur Dankbekundung bietet. Mithilfe dieser abstrahierenden Sprache gelingt es Raguel seiner Freude über glückliche Wende Ausdruck zu verleihen und gleichzeitig eine kritische Selbstreflexion zu vermeiden. Die Überschwänglichkeit seiner Dankbarkeit entfaltet GI mit der Aufzählung der verschiedenen

Analyse 5,17b–11,19: Heilung Saras und Tobits

139

Adressaten des Lobappells in 8,15 deutlicher als GII. Beide Textversionen geben einen Hinweis auf eine gewisse Eigenwilligkeit Raguels, indem sie ihn Gott mit δέσποτα (8,17) ansprechen lassen. Diese Gottesbezeichnung verwenden im gesamten Buch Tobit nur Raguel und Sara (GII: 3,14). 8,19–21: Hochzeitsfest Die Präsentation des Hochzeitsfestes direkt im Anschluss an die Aufforderung Raguels an die Knechte, das Grab zuzuschütten, bedeutet in der Abfolge der erzählten Ereignisse einen Handlungsfortschritt, der allerdings bestimmte Erzählschritte übergeht, die die gemeinsame Feier voraussetzen. Während zum Beispiel in 8,1–3 das Betreten der Kammer eine besondere Erwähnung findet, wird das Verlassen des Raumes durch die Akteure hier nicht eigens thematisiert und damit darauf verzichtet, die Unversehrtheit des Tobias vor den Augen aller in Szene zu setzen. Stattdessen erzählen beide Textversionen aus der Perspektive des Raguel von der anstehenden Feier. Die Erzähleinheit in GI unterscheidet sich von der in GII sowohl hinsichtlich des Umfangs als auch der formalen Gestaltung. Auf der narrativen Ebene beschränken sich in GI die Aussagen zur Hochzeitsfeier auf die knappe Information, dass Raguel für sie ein Fest veranstalte: Καὶ ἐποίησεν αὐτο ς γάμον ἡμερῶν δέκα τεσσάρων. (8,19). Eine weitere Beschreibung der Feierlichkeiten erfolgt nicht. Bemerkenswerterweise nennt der Erzähler nicht die Namen derer, für die die Feier ausgerichtet werden soll. Er übernimmt den Sprachduktus der Reden Raguels in 8,9b–18, wo dieser zwar über Tobias und Sara spricht, aber eine Namensnennung vermeidet. Weiterhin auffallend ist die Angabe zur Dauer der Hochzeitsfeier, sie soll 14 Tage währen (ἡμερῶν δέκα τεσσάρων). Damit feiert die Familie doppelt so lange als allgemein üblich ist.160 In 8,20 wechselt der Text von Handlungs- auf die Redeebene und gibt die Äußerungen Raguels in der indirekten Rede wieder, die dann in 8,21b in die direkte Rede übergeht. In seiner Rede spiegelt sich die Spannung zwischen den Aspekten des Bleibens und des Weggehens. Raguel beschwört Tobias, dass dieser nicht gehen solle, bis die 14 Tage vorbei seien. Die doppelte Erwähnung der Hochzeitstage in einem Vers (τὰς ἡμέρας τοῦ γάμου; δέκα τέσσαρες ἡμέραι τοῦ γάμου) betonen die Dringlichkeit der Bitte Raguels. Mit dem Verb ἐξέρχομαι deutet sich eine Bewegungsdynamik an, die nicht mehr nach Ekbatana hinein (6,10; 7,1), sondern aus dieser Stadt hinausführt. Diese Tendenz findet ihre Verstärkung in dem Wunsch Raguels, er (Tobias) möge wohlbehalten zu seinem Vater zurückkehren. Diesem Wunsch geht das Versprechen Raguels voraus, dass Tobias nach dem Ablauf der 14 Tage die Hälfte des Besitzes seines Schwiegervaters bekommen werde. Das Adverb τότε kennzeichnet das Abwarten der gesetzten Frist als Voraussetzung für 160 Vgl. Tob 11,19 (GI); Gen 29,27; Ri 14,12.

140

Analyse der Erzählteile

die Übertragung der Besitzverhältnisse. In dem Wechsel von der indirekten zur direkten Rede in 8,21b findet die in 8,9b–18 wahrnehmbare Selbstbezogenheit Raguels einen Nachhall.161 Der Nebensatz ὅταν ἀποθάνω καὶ ἡ γυνή μου lässt Raguel in der ersten Person Singular vom eigenen Sterben und dem seiner Frau sprechen. Während es in der bisherigen Rede ausschließlich um Tobias ging, wendet sich hier Raguel wieder den eigenen Angelegenheiten zu. Auf der Handlungsebene entfaltet GII die Feierszene ausführlicher als GI. Der Terminus γάμος wird zwar nicht verwendet, aber Raguels Anweisungen, Speisen zuzubereiten, deuten auf ein anstehendes Fest hin. In dieser Erzählsequenz wird Raguel nicht mit seinem Namen genannt, stattdessen erschließt sich seine Funktion als einziger Handlungsträger und Sprecher indirekt aus der Verwendung der Verbformen in der dritten Person Singular. Die Handlung besteht darin, dass er (Raguel) seine Frau (γυνή) auffordert, Brote zu backen. Er selbst geht zur Rinderherde, holt sechs Tiere (βόας δύο καὶ κριοὺς τέσσαρας) und ordnet ihr Schlachten an. Eine nicht definierte Anzahl von Personen beginnt daraufhin mit der Zubereitung. In der Rolle des Auftraggebers ist Raguel die dominante Erzählfigur, die ihre Anweisungen an namenlose Adressaten richtet. Daher fällt es umso mehr auf, dass in der Redeeinleitung der folgenden Sprechsequenz das angesprochene Gegenüber mit Namen genannt wird. Er (Raguel) ruft Tobias und wendet sich in einer Ansprache an ihn, die ausschließlich in direkter Rede formuliert ist. Der Inhalt der Rede entspricht weitgehend der in GI, sie vermittelt aber nicht die Dringlichkeit, mit der Raguel in GI Tobias zum Bleiben auffordert. So fehlen in GII die doppelte Erwähnung der 14 Tage und der Schwur Raguels. Stattdessen fordert er zum gemeinsamen Essen und Trinken auf und erinnert an seine Tochter, die es nun zu erfreuen gilt. Raguel beendet seine Rede nicht mit dem Thema Erben, sondern er fügt Trostworte an, in denen er den Familienzusammenhalt zwischen Edna und ihm einerseits und dem neuen Paar andererseits betont: ἐγώ σου ὁ πατὴρ καὶ Εδνα ἡ μήτηρ σου, καὶ παρὰ σοῦ ἐσμεν ἡμεῖς καὶ τῆς ἀδελφῆς σου. Seine den Lesenden vertraute Selbstbezogenheit artikuliert sich auf syntaktischer Ebene in der zweifachen Verwendung des Personalpronomens ἐγώ (ὅταν ἀποθάνω ἐγώ τε καὶ ἡ γυνή μου … ἐγώ σου ὁ πατὴρ). Über das Wortfeld Nahrung und die Erwähnung der Tiere stellt GII einen Bezug zu 7,1–9a her, wo ebenfalls ein Widder geschlachtet wird. Die indirekte Anspielung auf Edna und Sara erinnert an die Figurenkonstellation in diesem Abschnitt. In beiden Textversionen wird die Hochzeitsfeier als konkretes Fest nur am Rande (GII) bzw. gar nicht (GI) thematisiert. Vielmehr scheint die Feier Raguel den Anlass für seine Rede zu bieten, die wiederum der Charakterisierung seiner Figur dient. Außer der Information über die materielle Versorgung des Tobias enthalten seine Äußerungen keine Angaben, die für den weiteren Fortgang der 161 Zum Wechsel von der indirekten zur direkten Rede vgl. R. Alter, Art 84.

Analyse 5,17b–11,19: Heilung Saras und Tobits

141

Handlung entscheidend wären. Raguel als der einzig Handelnde und Sprechende in diesem Erzählabschnitt dominiert die Szene. Er bestimmt die unübliche Dauer des Hochzeitsfestes und versucht über die Pläne des Tobias zu verfügen, indem er ihn bedrängt, dazubleiben (GII: μὴ κινηθῇς ἐντεῦθεν) bzw. unter Eid (GI: ἐνόρκως) sein Weggehen verhindern möchte. Raguels Interesse an der Klärung der Erbangelegenheiten und seine Betonung der neuen familiären Beziehungen sprechen dafür, dass er in seiner Rolle als Schwiegervater des Tobias hineingewachsen ist. Die eigentlichen Protagonisten der Feier, nämlich das Hochzeitspaar, haben in dieser Szene keinen Auftritt.

9,1–6: Tobias schickt den Engel/Asarja nach Rages Den Beginn der Erzähleinheit markieren weder ein Ortswechsel noch ein neuer Zeitabschnitt. Daher ist anzunehmen, dass die folgenden Ereignisse während der Hochzeitsfeier stattfinden, von deren Beginn in 8,19 berichtet wird. Der Wechsel der Figurenkonstellation jedoch rechtfertigt die Abgrenzung zwischen 8,19–21 und 9,1–6. Raguel verlässt die erzählerische Bühne und gibt Raum für Tobias, dem Engel/Asarja und Gabael, der hier zum ersten Mal auftritt. In der Version von GI gliedert sich der Abschnitt in eine Rede des Tobias (9,1–4) und in eine Darstellung von Handlungen, die vom Engel/Asarja und Gabael ausgeführt werden (9,5–6). Die Rede des Tobias ist nicht als direkte Reaktion auf die an ihn gerichtete Ansprache Raguels konzipiert. Statt auf diese zu antworten, wendet sich Tobias an den Engel/Asarja, dessen Anwesenheit seit der Verfolgung des Dämons nach Ägypten hier zum ersten Mal wieder erwähnt wird. Nach der Anrede Ἄζαρια ἄδελφε fordert er ihn auf, mit einem Diener (παῖς) und zwei Kamelen nach Rages zu Gabael zu reisen, das Silber abzuholen und Gabael zu Hochzeit einzuladen. Das Nacheinander von vier Imperativen spricht für die Autorität, mit der Tobias seine Anweisungen vorträgt. Mit ihr korrespondiert die Souveränität, mit der Tobias über den Besitz des Raguel verfügt. Entsprechend der bisherigen Darstellung der Ereignisse ist Tobias nur in Begleitung des Engels/Asarjas und eines Hundes in Ekbatana angekommen, d. h. der Diener und die Tiere sind das Eigentum Raguels. Dass sich in Rages eine unbestimmte Menge an Silber befindet, auf das Tobias einen Anspruch erheben kann, erfahren die Lesenden der Binnenerzählung an dieser Stelle zum ersten Mal. Auch wissen sie nicht, wer Gabael ist. Lediglich die Erwähnung der Stadt Rages in der Rede des Engels/Asarjas in 6,13 gibt einen Hinweis auf ein zweites mögliches Reiseziel neben Ekbatana. Trotz der Unkenntnis über die Hintergründe des Vorhabens wird den Lesenden deutlich, dass Tobias unbeeindruckt vom Drängen Raguels weiter seine eigenen Pläne verfolgt. In 9,3 begründet Tobias den Umstand, warum er sich nicht selbst auf die Reise begibt. Er nehme Rücksicht auf den Eid Raguels und die Sorgen

142

Analyse der Erzählteile

seines Vaters, da sich seine eigene Rückkehr erheblich verzögern würde, wenn er erst nach Ablauf der 14 Tage selbst das Silber aus Rages holen würde. Auf der Handlungsebene agieren zwei Subjekte im Sinn der »dialogue-bound narration«, um den Auftrag des Tobias zu erfüllen. Sie bilden jeweils eine Bezugsgröße von zwei Handlungsketten. Der Engel/Asarja reist, übernachtet und übergibt die Unterschrift. Gabael holt die Beutel mit dem Silber und gibt sie dem Engel/Asarja. Die beiden Verbfolgen werden in der gemeinsamen Rückkehr und dem Besuch der Hochzeitsfeier zusammengeführt. Obwohl es sich um eine mehrtägige Feier handelt, ist es dennoch kaum plausibel, dass die beiden Reisenden die weite Strecke (200 km) durch das Gebirge innerhalb eines Zeitraumes zurücklegen können, der sie rechtzeitig zur Segnung Saras durch Tobias zugegen sein läßt. Die Textversion GII präsentiert die Ereignisse wie gewohnt ausführlicher als GI, jedoch bis auf den Zusatz in 9,6b-c entspricht der Strukturaufbau von GII weitgehend dem der anderen Textversion. In der Rede des Tobias sind zwei Besonderheiten festzustellen: Statt nur einen Knecht (οἰκέτης) gibt er dem Engel/ Asarja vier Begleiter mit auf den Weg. Die Erwähnung des Schwurs (ὀμνύω) in 9,4 steht in einer Spannung zur Rede Raguels in 8,20–21, wo dieser sich auf keinen Eid bezieht. Auf der narrativen Ebene unterscheidet die Darstellung der Handlung darin, dass in 9,5b von einer indirekten Rede des Engels/Asarjas berichtet wird, in der der Engel/Asarja eine förmliche Einladung ausspricht. Der auffallendste Unterschied zu GI besteht in der völlig anderen Gestaltung der Schlusssequenz. Während GI den Abschnitt mit der knappen Aussage über den Segen des Tobias beendet, entfaltet GII die Ankunft des Engels/Asarjas und Gabaels in Ekbatana zu einer eigenen kurzen Erzähleinheit (9,6b–c). Sie gliedert sich ebenfalls in einen Handlungs- und Redeteil. Ohne die handelnden Subjekte bei ihrem Namen zu nennen, wird berichet, dass Gabael und der Engel/Asarja das Haus des Raguel betreten und dort Tobias liegend vorfinden (καὶ εἰσῆλθον εἰς τὰ Ραγουηλ καὶ εὗρον Τωβιαν ἀνακείμενον). Dieser Einleitungssatz korrespondiert inhaltlich mit dem Beginn von 7,1–17, wo ebenfalls von zwei Reisenden erzählt wird, die in das Haus des Raguel gehen und dort auf den sitzenden Hausherrn treffen. Während in 7,6 es Raguel ist, der aufspringt, weint, Tobias segnet und spricht, werden diese Handlungen zwei unterschiedlichen Akteuren zugeschrieben. Tobias springt auf und begrüßt, Gabael weint, segnet und spricht. In Gabaels Segensspruch (9,6c) finden sich einzelne Aspekte aus den Reden Raguels in 7,2.6b. Wie Ragual erwähnt auch er, wenn auch überschwänglicher, die positiven Eigenschaften Tobits: Καλὲ καὶ ἀγαθέ, ἀνδρὸς καλοῦ καὶ ἀγαθοῦ, δικαίου καὶ ἐλεημοποιοῦ. Bemerkenswerterweise wird Raguel in der Reihe derjenigen, denen der Segenswunsch Gabaels gilt, nicht genannt. Dieser erbittet den Segen des Himmels für Tobias, dessen Frau, Vater und die Mutter seiner Frau, aber nicht für Raguel. Der Schlusssatz εἶδον Τωβιν τὸν ἀνεψιόν μου ὅμοιον αὐτῷ ist eine direkte

143

Analyse 5,17b–11,19: Heilung Saras und Tobits

Anspielung auf die Bemerkung Raguels zu Edna in 7,2. Der Hinweis auf die Familienähnlichkeit bezieht sich in 7,2 auf den ἀδελφός Tobit, während Gabael von seinem ἀνεψιός spricht.162 Die knappe Erzählsequenz am Ende des Abschnitts 8,9b–9,6 schlägt einen Bogen zum Beginn der Erzähleinheit 7,1–17, indem sie Raguels Handlungen aus 7,1–9a übernimmt, diese aber mit andern Akteuren in Beziehung setzt. Die Darstellungsweise deutet eine Übertragung der Handlungssouveränität von Raguel auf Tobias und Gabael an. Die beiden agieren an der Stelle Raguels, wobei die Kontur der Figur Gabaels fast fließend in die Raguels überzugehen scheint. In seiner Rede, als deren Sprecher er namentlich nicht genannt wird, imitiert Gabael die Worte Raguels und formuliert den Segensspruch in einer Weise, die von Raguel stammen könnte. Die Erzähleinheiten 7,1–17 und 8,9b–9,6 rahmen die zentrale Episode der Dämonenvertreibung in 8,1–9a. Neben der inhaltlichen und formalen Nachgestaltung von 7,1–9a (GII) durch 9,1–6 (GII) lässt sich in beiden Textversionen eine Analogie in der narrativen Präsentation der Ereignisse feststellen. Sowohl in 7,1– 17 als auch in 8,9b–9,6 gliedert sich der Erzählverlauf in fünf Sequenzen, die parallel zueinander angeordnet sind. Sequenz Setting

7,1–17 7,1–8 Raguel = Handlungsträger Edna, Sara = Nebenfiguren Tobias, Engel/Asarja im Hintergrund

8,9b–9,6 8,9b–14 Raguel = Handlungsträger Magd, Edna, Knechte = Nebenfiguren Tobias im Hintergrund. Keine Präsens des Engels/Asarjas

Reaktion

7,6–7 Raguel reagiert auf eine Information von Tobias mit Aktivität und Sprechen 7,9a Schlachten des Widders, Auftragen von Speisen

8,15–18 Raguel reagiert auf eine Information über Tobias mit einem Gebet

Essen

Rede

7,9b–14 Dialog Raguel – Tobias. Dominanz Raguels Seitenhandlung 7,15–17 Edna führt Sara in das Brautzimmer und tröstet sie

8,19 GII: Backen von Broten, Herrichten von zwei Rindern, vier Widdern GI: Veranstalten des Hochzeitsfests 8,20–21 Ansprache Raguels an Tobias 9,1–6 Tobias schickt den Engel/Asarja nach Rages. Tobias segnet Sara (GI), Gabael segnet Tobias und Sara (GII)

162 Trotz der weiten Entfernung zwischen Ninive und den Wohnorten Raguels und Gabaels scheinen diese Verwandten Tobit persönlich zu kennen.

144

Analyse der Erzählteile

Sowohl die Struktur von 7,1–17 als auch die von 8,9b–9,6 präsentiert zunächst eine Konstellation, in deren Mittelpunkt die Figur Raguel steht. Im Verlauf der Handlung veranlasst die Äußerung einer Nebenfigur (Tobias) Raguel zu einer bestimmten Reaktion, die sich in einer Handlung und einer Rede, bzw. nur einer Rede äußert. Dieser Handlung folgt die Vorbereitung für ein gemeinsames Essen, die von Gesprächen begleitet wird. In GI gibt der Erzähler einen Dialog zwischen Raguel und Tobias wieder, in GII nur die an Tobias gerichtete Rede Raguels, auf die keine Antwort erfolgt. Während in 7,14 ausdrücklich der Beginn des Mahls erzählt, fehlt diese Angabe in GII. Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass die Szenen 7,15–17 und 9,1–9 während der Hochzeitsfeier bzw. des Essens stattfnden. Die Handlungsträger in diesen Seitenszenen sind jeweils ein Figurenpaar, das vorher in Nebenrollen präsent ist. Zwischen den beiden, analog gestalteten Erzählabschnitten 7,1–17 und 8,9b– 9,6 steht der Bericht über die Vertreibung des Dämons 8,1–9a. Die dort beschriebenen Geschehnisse in der Brautkammer setzen eine Dynamik frei, die sich in zwei bedeutenden Veränderungen der weiteren erzählerischen Darstellung niederschlagen. In 7,1–17 führen die Bewegungsverben nach Ebatana, in das Haus Raguels und dort in die Kammer Saras. Der räumliche Radius verengt sich kontinuierlich, um sich dann ab 8,9b wieder zu weiten: Raguel verlässt das Haus, antizipiert die Rückkehr des Tobias nach Ninive und der Engel/Asarja reist nach Rages. Eine ähnliche Öffnung lässt sich auch in Blick auf das Figurentableau beobachten. Während sich die Handlung in 7,1–17 und in 8,1–9a ausschließlich innerhalb der Kleinfamilie Raguels entfaltet, vergrößert sich in 8,9b–9,6 der Kreis derer, die Anteil nehmen am Schicksal der Familie: Es kommen der erweiterte Haushalt (Magd, Knechte) und ein Mitglied der Großfamilie hinzu. Die beiden unterschiedlichen Gestaltungen der Schlusssequenz 8,9b–9,6 stellen eine jeweils eigene Verklammerung mit 7,1–17 her. Wie oben gezeigt, bezieht sich GII auf die Anfangsszene in 7,1–9a und legt den Akzent auf die Übertragung der Handlungssouveränität von Raguel auf Tobias (und Gabael). Auch GI spielt im Abschnitt 9,1–6 auf 7,1–17 an, allerdings nicht auf den Anfang, sondern auf das Ende der Erzähleinheit. Die Entwicklung der Ereignisse illustriert GI nicht am gewandelten Verhältnis zwischen Raguel und Tobias, sondern an der Figur Saras. Während Sara in 7,17 aufgrund des ungewissen Ausgangs der Hochzeitsnacht von Edna getröstet werden muss, kann sie nun von ihrem Ehemann Tobias den Hochzeitssegen empfangen. Die Wortfelder Bewegung und Tiere bilden eine semantische Kontinuität zwischen den beiden Erzählabschnitten. In 8,9b–9,6 erschließen die Termini ὑπαρχόντα und ἀργύριον einen neuen semantischen Bereich zum Thema Besitz und Vermögen.

Analyse 5,17b–11,19: Heilung Saras und Tobits

3.8

145

10, 1–7a: Gespräch zwischen Hanna und Tobit

Im Erzählabschnitt 10,1–7 kommt es zu einem abrupten Ortwechsel und einer unvermittelten Veränderung in der Figurenkonstellation. Die Szene spielt in Ninive und handelt von einer Auseinandersetzung zwischen Tobit und Hanna. In der spiegelbildlichen Anordnung der einzelnen Erzähleinheiten, deren Zentrum der Abschnitt 8,1–9 bildet, folgt der Szene in 8,9b–9,6 eine Gesprächssequenz. Damit entspricht diese Anordnung der umgekehrten Abfolge des Dialogs in 6,10–18 und der narrativ ausgestalteten Szene in 7,1–17. D.h. die Einheiten 6,1–8 und 10,1–7 sind auf analoge Positionen in der Struktur der Binnenerzählung platziert.163 Inhaltlich geht es in beiden Abschnitten um einen verbalen Austausch zwischen zwei Akteuren, die nicht zur Familie des Raguel gehören. Die Darstellung in GI zeigt eine ausgewogene Erzählstruktur: Sie umrahmt den Redeteil 10,2–7aα mit zwei Passagen, die auf der Handlungsebene spielen. Die Redeanteile sind gleichmäßig auf Tobit und Hanna verteilt und das Gespräch folgt einem doppelten Rede–Antwort–Schema. Nach der ersten Äußerung der Figuren gibt die allwissende Erzählerstimme einen Einblick in die emotionale Befindlichkeit der Sprechenden. Die Erzähleinheit beginnt mit der knappen Aussage, dass Tobit die Anzahl der Tage berechnet, die seit der Abreise seines Sohnes vergangen sind. Der Zusatz ὁ πατὴρ αὐτοῦ verweist auf 9,6, wo Tobias zuletzt erwähnt wird. Während in 6,10– 18 zumindest eine vage Lokalisierung der Szene möglich ist (in der Nähe von Rages bzw. Ekbatana), verzichtet der Erzähler auf eine Ortsangabe und eine Beschreibung der räumlichen Gegebenheiten. Er geht davon aus, dass die Lesenden sich an die Aussage des Tobias in 7,3 erinnern, nach der seine Familie in Ninive lebe. Der Anlass für die folgende Auseinandersetzung zwischen Tobit und Hanna besteht darin, dass offensichtlich eine unbestimmte Frist von Tagen verstrichen ist und Tobias und der Engel/Asarja noch nicht zurückgekehrt sind. In der ersten Redesequenz formuliert Tobit seine Sorge in zwei direkten Fragen, wobei zunächst nicht klar ist, wer der Adressat der Rede ist. Tobit spricht den möglichen Tod der beiden Reisenden an. Dann erwägt er die Möglichkeit des Todes Gabaels und die Konsequenz, dass dieser dann das Silber nicht mehr zurückgeben könne. Nach diesen Fragen erfolgt ein Wechsel auf die narrative Ebene mit der Aussage über die Betrübnis (λυπέω) Tobits. Hanna, die statt mit ihrem Namen mit der Bezeichnung ἡ γυνή eingeführt wird, reagiert mit einer Erwiderung. Sie schließt aus dem langen Fortbleiben des Tobias, über den sie mit τὸ παιδίον spricht, auf seinen sicheren Tod. Dieser Feststellung lässt der Erzähler in Entsprechung zur Betrübnis Tobits die Aussage über das Klagen Hannas folgen: ἤρξατο θρηνεῖν. Dieses Klagen gibt der Text in 163 Vgl. die Darstellung der Gesamtstuktur im Kapitel III.3 dieser Arbeit.

146

Analyse der Erzählteile

einer wörtlichen Frage an das Kind (τέκνον) wieder, wobei der Terminus τὸ φῶς τῶν ὀφθαλμῶν μου in ironischer Weise auf die Blindheit Tobits anspielt. Weder Tobit noch Hanna richten ihre Fragen explizit an ihr Gegenüber. Diese Konstellation ändert sich in der zweiten Redesequenz, in der sich die beiden direkt ansprechen, allerdings paradoxerweise mit der gegenseitigen Aufforderung zu schweigen: Σίγα. Tobit beginnt den Dialog mit der Behauptung, dass er (Tobias) wohlbehalten sei, ohne zu beachten, dass diese Feststellung im Widerspruch zu seinen Befürchtungen in 10,2 steht. Auf diese Spannung reagiert Hanna mit dem Imperativ, er soll sie nicht täuschen (μὴ πλάνα με). Sie ist weiterhin vom Tod ihres Kindes überzeugt. Mit der Rede Hannas endet die Auseinandersetzung zwischen den beiden und der Text wechselt auf die Handlungsebene. Der Erzähler berichtet ausschließlich vom Verhalten Hannas, das ihre Sorge um Tobias zum Ausdruck bringt. Hanna geht (πορεύομαι) den Weg, auf dem Tobias das elterliche Haus verlassen hat, sie fastet tagsüber und klagt während der Nächte (7aβ). Die Zeitangabe καθ’ ἡμέραν verweist auf den wiederholenden Aspekt ihres Handelns innerhalb einer bestimmten zeitlichen Frist. Der Zusatz in 7aγ mit der Festlegung der Zeitdauer auf vierzehn Tage der Hochzeitsfeier spiegelt ein Leserwissen, über das Hanna nicht verfügt. Mit dieser Angabe schafft der Erzähler einerseits eine thematische Rahmung (befristete Zeit) des Abschnitts 10,1–7a und andererseits leitet er über zur nächsten Erzähleinheit, die wieder von den Ereignissen in Ekbatana berichtet. Ab 10,7b wechseln die Akteure und Tobias, Raguel und Edna bestimmen die weitere Handlung. Der erzählerische Schwerpunkt der Erzähleinheit 10,1–7a liegt auf den Reden Tobits und Hannas. Wie in 6,10–18 handelt es sich bei deren Gespräch um einen »contrastive dialogue«, der allerdings nicht zu einer Einigung führt. Die teilweise widersprüchlichen Positionen der beiden Sprechenden bleiben ungeklärt nebeneinander stehen. Dafür dient diese Passage einer weiteren Charakterisierung der Erzählfiguren. Tobits Äußerungen ergeben kein klares Profil seiner Persönlichkeit. Den Lesenden wird nicht einsichtig, worin genau seine Sorge gründet: Befürchtet er den Verlust des Sohnes oder den des Silbers? Ebenso auffallend ist Tobits Schwanken in Hinblick auf die Einschätzung der Lebenssituation des Tobias: Ist er gestorben oder geht es ihm gut? Die Ambivalenz Tobits bildet einen Gegensatz zur Klarheit Hannas. Sie bekennt sich konsequent zu ihrer Sorge um das Überleben ihres Sohnes. Es besteht eine Kongruenz zwischen ihren in den Reden artikulierten Ängsten und der konkreten Realisierung ihrer Trauer auf der Handlungsebene. In GII erfahren die beiden Akteure in dieser Textversion eine weniger pointiert gegensätzliche Charakterisierung wie in GI. In der ersten Redesequenz (10,2) gibt Tobit nicht der Befürchtung Ausdruck, dass die Reisenden gestorben sein könnten. Stattdessen überlegt er, ob Tobias vielleicht aufgehalten wurde. In Übereinstimmung mit GI erwägt er den möglichen Tod Gabaels und die daraus

Analyse 5,17b–11,19: Heilung Saras und Tobits

147

resultierende Unmöglichkeit der Übergabe des Silbers. Es ist Hanna, die in ihrer Rede 10,4 explizit ihre Überzeugung kundtut, dass ihr Sohn umgekommen sei. Da Tobit bis jetzt diese Überlegung nicht in Erwägung gezogen hat, bilden seine Trostworte in 10,4 keinen inhaltlichen Widerspruch zu seiner Äußerung in 10,2. Er geht weiterhin davon aus, dass es seinem Sohn gut gehe. Er wiederholt seine Erklärung für die verzögerte Rückkehr und verweist im Unterschied zu GI auf den Reisebegleiter und betont dessen Zuverlässigkeit (ὁ ἄνθρωπος ὁ πορευθεὶς μετ’ αὐτοῦ πιστός ἐστιν). Mit diesen Reden zeichnet der Erzähler ein Bild Tobits, wie es der Beschreibung in 5,21–22 entspricht. Beide Redesequenzen vermitteln Tobits Zuversicht auf einen positiven Ausgang der Ereignisse und sein Vertrauen in die Begleitung des ἄγγελος/ἄνθρωπος. Die Figur Hannas durchläuft jedoch in GI und in GII eine Veränderung ihrer Haltung. Während die Worte Tobits am Anfang der Reise sie noch beruhigen konnten (6,1), hat das lange Warten ihre Geduld erschöpft und sie lässt sich nicht mehr trösten (10,7). Im Verlauf der erzählten Zeit ereignen sich damit nicht nur ein Handlungsfortschritt und eine Entwicklung der Charaktere im Kontext der Ereignisse in Ekbatana, sondern auch eine Veränderung der inneren Einstellung der Akteure in Ninive. In diesem Prozess stehen nach GI sowohl Tobit als auch Hanna, während in GII an der Figur Tobits keine Veränderung wahrzunehmen ist. Die innerhalb der Gesamtstruktur der Binnenerzählung analog platzierten Gesprächseinheiten korrelieren nicht nur in ihrer formalen Eigenschaft als »contrastive dialogue«, der keinen Handlungsfortschritt nach sich zieht. Beide Sequenzen dokumentieren eine Entwicklung der Sprechenden, die sich entweder im Verlauf der Auseinandersetzung (Engel/Asarja in 6,10–18) ereignet oder die sich als Folge der für Tobit und Hanna bis jetzt ereignislos verstrichenen Zeit darstellt. In beiden Textversionen kreisen die Reden um das Wortfeld Tod (ἀποθνῄσκω, ἀπόλλυμι, GI: καταισχύνω). Während GI mit der Erwähnung des Brotes (ἄρτος) semantisch an die Speiseszene in 8,1 erinnert (δειπνέω), knüpft GII das semantische Netz mit Hilfe des Terminus ὕπνος (8,1: κοιμάομαι).

3.9

10,7b–11,15: Heimreise. Anwendung der Heilmittel für Tobit

Die Abgrenzung der folgenden Erzähleinheit in 10,7b–11,15, deren Handlung an zwei verschiedenen Orten in unterschiedlichen Figurenkonstellationen präsentiert wird, rechtfertigt sich durch die Auswahl der Motive, die das Thema des Abschnitts bestimmen. Tobias reist mit dem Engel/Asarja von Ekbatana nach Ninive, um dort das Heilmittel anzuwenden, in dessen Besitz er auf dem Weg nach Medien gelangt ist. Neben den Motivfeldern Reisen und Heilung ist es die Rollenbesetzung der Handlungsträger durch Tobias und dem Engel/Asarja, die den Abschnitt 10,7b–11,15 in der Erzählstruktur der Binnenerzählung mit dem

148

Analyse der Erzählteile

Abschnitt 6,1–9 in ein symmetrisches Verhältnis setzt. Beide Erzähleinheiten berichten von einem Reiseunternehmen des Tobias und des Engels/Asarjas und dem Erwerb bzw. der Anwendung von Heilmitteln. Der Erzählabschnitt 10,7b–11,15 lässt sich in drei Untersequenzen gliedern, die jeweils eine eigene Figurenkonstellation und eine bestimmte Phase des Reiseverlaufs abbilden: 10,7b–13: Tobias – Raguel, Edna: Beginn der Reise in Ekbatana; 11,1–4: Tobias – Engel/Asarja: während der Reise in der Nähe von Ninive; 11,5–15: Hanna, Engel/Asarja, Tobias, Tobit: Ziel der Reise. 10,7b–13: Tobias – Raguel, Edna: Beginn der Reise in Ekbatana Zwischen 10,1–7a und 10,7b–13 vollzieht GI einen Ortswechsel von Ninive nach Ekbatana, der sich in 10,7bγ bereits ankündigt. Wie in 10,1 wird die räumliche Veränderung nicht durch Ortsangaben gekennzeichnet, sondern durch die nun eingeführten Akteure. Als sprechende bzw. handelnde Personen treten Tobias, Raguel und Edna auf, die in dieser Konstellation im bisherigen Verlauf der Binnenerzählung stets im häuslichen Umfeld Raguels agierten. Nur aus diesem Zusammenhang ist für die Lesenden die Lokalisierung der folgenden Ereignisse zu erschließen. Den Abschnitt rahmen Handlungssequenzen, deren Subjekt Tobias ist. In dem Abschnitt dominieren die Reden der drei Figuren. Die Texteinheit beginnt mit einem Wortwechsel zwischen Tobias und Raguel, zu dessen Beginn Tobias seinen Schwiegervater auffordert ihn zurückzuschicken (ἐξαποστέλλω). Offensichtlich sind die vierzehn Tage der Hochzeitsfeier vergangen (vgl. 8,19) und für Tobias besteht kein Anlass mehr, länger in Ekbatana zu bleiben. Seine Sorge gilt seinen Eltern, von denen er an dieser Stelle zum ersten Mal mit ὁ πατήρ μου καὶ ἡ μήτηρ μου spricht. In seiner Antwort bittet Raguel, den der Erzähler als πενθερός einführt, Tobias zu bleiben. Tobias geht auf das Anliegen Raguels nicht ein, sondern besteht auf seiner Forderung, weggehen zu dürfen. Die Reaktion Raguels erfolgt auf der Handlungsebene, er steht auf (ἀνίστημι), vertraut Sara dem Tobias an, übergibt Vermögenswerte, und während er das Paar hinausschickt, spricht er einen Segen. Im wörtlich wiedergegebenen Segensspruch übernimmt Raguel den Wunsch nach Gelingen (Εὐοδώσει ὑμᾶς) aus seiner Rede in 7,12c (εὐοδώσει ὑμῖν). Statt der Gottesbezeichnung δέσποτα (8,9) verwendet er den Titel θεὸς τοῦ οὐρανοῦ. Nach diesen sowohl an Sara als auch an Tobias gerichteten Worten folgen zwei Redesequenzen zweier unterschiedlicher Sprecher, die sich jeweils an einen eigenen Adressaten wenden und deren Rede abschließend in eine Handlung mündet. Raguel ermahnt seine Tochter, ihre Schwiegereltern zu ehren (Τίμα τοὺς πενθερούς σου) und küsst sie (ἐφίλησεν αὐτήν). Dann wendet sich Edna, deren Anwesenheit bis jetzt nicht eigens erwähnt wurde, an Tobias und wünscht, dass der Gott des Himmels (κύριος τοῦ οὐρανοῦ) ihn nach Hause zurückbringe und dem Paar Kinder schenke. Auch sie übergibt

Analyse 5,17b–11,19: Heilung Saras und Tobits

149

explizit Sara an Tobias (παρατίθεμαί σοι τὴν θυγατέρα) und fordert ihn auf, sie nicht zu betrüben (λυπέω). Nach dieser Rede Ednas berichtet der Erzähler knapp von der Abreise des Tobias und dem Segen, den er nun umgekehrt über seine Schwiegereltern spricht. Zwischen diesen beiden Handlungen lässt der Erzähler Tobias Gott für das Gelingen seines Weges preisen (εὐόδωσεν τὴν ὁδὸν αὐτοῦ). Der in der indirekten Rede genannte Anlass für das Preisen erinnert an die Formulierung des Wunsches Tobits in 5,17.22, wo dieser für die beiden Reisenden einen gelingenden Weg erbittet (θεὸς εὐοδώσει τὴν ὁδὸν ὑμῶν). Der Weg, der in 5,17 seinen Anfang genommen hat, findet in 10,13 aus der Sicht des Tobias ein gutes Ende. Die narrative Ausgestaltung der Aufbruchsszene erinnert in Blick auf die Figurenkonstellation an die Darstellung der Ereignisse in 7,1–17. Es sind dieselben Akteure zugegen, deren Präsenz auf eine ähnliche Weise erzählerisch konstruiert wird. Wie in 7,9b ergreift Tobias die Initiative für das Gespräch mit Raguel, in dessen Verlauf er eine Handlung von ihm fordert, der sich dieser zunächst zu entziehen versucht. In einer knappen, klaren Gegenrede Οὐχί, ἀλλὰ ἐξαπόστειλόν με πρὸς τὸν πατέρα μου bekräftigt Tobias seinen Forderung und setzt sich damit durch. Raguel handelt im Sinne des Anliegens des Tobias. Dieser Handlung folgt wie in 7,15–17 der Auftritt Ednas, der sich in 10,12b allerdings nur auf ihre Rolle als Sprechende beschränkt. Mit ihrem Imperativ μὴ λυπήσῃς αὐτήν stellt der Erzähler eine semantische Verbindung zwischen 7,16–17 und 10,12b her (λύπη, δάκρυα, λυπέω). Obwohl Tobias mit den geringsten Redenanteilen ausgestattet ist, ist er der entscheidende Impulsgeber (vgl. 7,5.11b). Seine Intervention motiviert die Handlung Raguels, die der Erzähler in einer Abfolge von Verben darstellt, deren Initialaktion in seinem Aufspringen (ἀναπηδάω 7,6) bzw. Aufstehen (ἀνίστημι 10,10) besteht. Raguel führt hier wie in 7,9b–14 im Sinne der »dialogue-bound narration« lediglich die Anweisungen des Tobias aus und bestätigt damit dessen Handlungshoheit. In der erzählerischen Präsentation jedoch überlässt der Erzähler ihm den größten Raum, indem er ihn mit den meisten Redeanteilen und den Handlungseinheiten ausstattet. Die Figur Ednas erfährt wie in 7,2 keine eigene Einführung, ihre Anwesenheit wird einfach vorausgesetzt. Im Gegensatz zu dem vorhergehenden Erzählabschnitt berichtet der Erzähler nicht von einer weiteren Handlung ihrerseits, sondern übermittelt nur ihre Rede an Tobias. Wie in 7,9b–17 erscheint auch in dieser Szene Sara nicht als eine agierende und/oder sprechende Person. Der Erzähler erwähnt sie nur als ein Objekt von Handlungen oder als Adressatin einer Rede. Überhaupt keine Präsenz zeigt der Engel/Asarja, weder tritt er als handelnde und/oder sprechende Figur auf noch wird über ihn gesprochen. Der Abschnitt 10,7b–13 übernimmt zwar die Gestaltung der Figurenkonstellation aus der Erzähleinheit 7,9b–17, zeigt aber dennoch einige Veränderungen. Auf der Handlungsebene zeigt Tobias mehr Souveränität, er ist nicht auf die

150

Analyse der Erzählteile

Unterstützung des Engels/Asarjas angewiesen, um sein Anliegen vorzubringen. In formaler Hinsicht ist der »contrastive-dialogue« zwischen den beiden Akteuren zugunsten des Tobias strukturiert: Seine doppelte Forderung nach Entlassung rahmt die ausweichende Antwort Raguels. Der inhaltliche Aspekt des Gesprächs zeichnet sich im Gegensatz zu 7,10–11 durch seine Eindeutigkeit aus, ein doppelbödiges Taktieren ist hier nicht wahrnehmbar. Auch in die Zusammenstellung der Gesprächspartner ist Bewegung geraten: Raguel spricht zum ersten Mal mit Sara und Edna wendet sich ebenfalls zum ersten Mal an Tobias. In ihren Reden thematisieren beide die Übergabe Saras an die Familie des Tobias. Raguel ermahnt Sara, dass Tobias’ Eltern nun ihre Eltern seien (αὐτοὶ νῦν γονεῖς σού εἰσιν) und Edna erinnert Tobias an ihr Anvertrauen Saras an ihn (παρατίθεμαί σοι τὴν θυγατέρα μου). Diese Dynamik des Verlassens und Neuankommens spiegelt sich auf der semantischen Ebene in der dreimaligen Verwendung des Verbes ἐξαποστέλλω und dem Wiederaufgreifen des Wortfeldes Reisen (ὁδός, πορεύομαι). Bemerkenswerterweise sind die Verben im Schlusssatz 10,13 in der dritten Person Singular formuliert. Es ist damit nur von der Reise des Tobias die Rede, Sara wird als (wahrscheinliche) Mitreisende nicht genannt. Auf der narrativen Ebene werden die Eheleute nicht als Paar präsentiert. Die Textversion GII strukturiert den Abschnitt 10,7b–13 in derselben Weise wie GI. Dem Wortwechsel zu Beginn der Erzähleinheit zwischen Tobias und Raguel folgt die Sequenz über die Handlung und Rede Raguels, dann spricht Edna und am Ende berichtet der Erzähler von der Abreise des Tobias. Dennoch sind einige Unterschiede in der Textgestaltung und der inhaltlichen Akzentuierung festzustellen. Anders als GI kennzeichnet GII den Szenenwechsel mit einer Zeitangabe. Die Information über den Ablauf der vierzehn Hochzeitstage dient hier als Einleitung in einen neuen Erzählabschnitt, während sie in GI den Abschluss der Handlung im vorgehenden Abschnitt bildet (10,7a). Die Bezugnahme auf 7,1–17 realisiert GII nicht nur auf der Ebene der Figurenkonstellation, sondern zusätzlich durch semantische Verbindungen: Die Gottesanrede ὁ κύριος τοῦ οὐρανοῦ findet sich auch in 7,11.12, die Bezeichnung Saras als ἀδελφή in 7,11 und die gehäufte Verwendung der Derivate des Verbes ὑγιαίνω verweist auf 7,5.12. Die Kohärenz zwischen den beiden Textabschnitten erweist sich auch in der Darstellung der Akteure: Der Reichtum Raguels spiegelt sich in der differenzierten Aufzählung der Hochzeitsgaben, deren Einzelbezeichnungen in GI lediglich unter den jeweiligen Sammelbegriff subsumiert werden. So wie Edna in 7,3–5 eine aktive Rolle spielt, wird ihr auch in 10,12 eine Handlung zugeschrieben. Sie (nicht Raguel) küsst und entsendet Sara und Tobias (κατεφίλησεν ἀμφοτέρους καὶ ἀπέστειλεν ὑγιαίνοντας). Das Adjektiv ἀμφότεροι macht sowohl Sara als auch Tobias zu Objekten von Ednas Zuwendung, d. h. sie erscheinen hier im erzählerischen Aktionsraum, wenn auch indirekt, als ein Paar. Die Paarkonstellation findet in 10,13 keine Beachtung mehr, GII berichtet wie GI nur von

Analyse 5,17b–11,19: Heilung Saras und Tobits

151

der Abreise des Tobias. Die Schlusssequenz 10,13b, die in GI fehlt, ist nicht ganz eindeutig. Beim Sprecher des Segenswunsches, der aufgrund seines Inhaltes an Tobias gerichtet sein dürfte, kann es sich eigentlich nur um Raguel handeln. Dieser Zuordnung widerspricht aber die Aussage in 10,13a, wonach Tobias von Raguel fortgezogen sei. GI löst diese Unstimmigkeit, indem der Erzähler die Segensrichtung umkehrt und Tobias seine Schwiegereltern quasi während der Abreise segnen lässt. In dem Abschnitt 10,7b–13 fällt auf, dass sowohl die Erzählerstimme als auch die Figuren in ihren Reden oft entweder in der direkten Anrede oder im Sprechen über andere Akteure die Namensnennung vermeiden und stattdessen Bezeichnungen der jeweiligen Familienrolle verwenden. 11,1–4: Tobias – Engel/Asarja: während der Reise nach Ninive In 11,1–4 führt der Erzähler die Dynamik der Bewegung fort und berichtet von einer Szene, die sich kurz vor dem Erreichen des Ziels, der Stadt Ninive, ereignet. Zwischen 10,13 und 11,1 ist demnach eine große Wegstrecke innerhalb eines entsprechend langen Zeitraums zurückgelegt worden. Die Überwindung der räumlichen Distanz bildet jedoch nicht das Thema der Erzähleinheit, sie wird lediglich in den Verben πορεύομαι und ἐγγίζω summarisch angedeutet. Bemerkenswerterweise formuliert GI das Verb im ersten Satzteil (11,1a) in der dritten Person Singular, verwendet aber für das handelnde Subjekt in 11,1b die Pluralform (αὐτοὺς). Die Fokussierung auf Tobias aus 10,13 wird so übernommen und die Anwesenheit weiterer Personen beiläufig eingeführt. Der Aussageschwerpunkt liegt auf der Rede einer bis jetzt ungenannten Person, die den Mittelteil des Abschnitts bildet. Die Passage endet mit einem Wechsel auf die Handlungsebene, wo Verben des Gehens (πορεύομαι, συνέρχομαι) den Aspekt der Bewegung aus 11,1 wieder aufgreifen. In der Redeeinleitung nennt der Erzähler unvermittelt den Namen des Sprechers, der Tobias auf seiner Reise offensichtlich begleitet. Es handelt sich um den Engel/Asarja, der sich mit einem Erinnerungsappell an Tobias wendet. Mit seiner einleitenden Frage in 11,2 spielt er auf die Blindheit Tobits an, deren Heilung noch aussteht. Er fordert Tobias auf, die Galle des Fisches in die Hand zu nehmen (11,4). Zwischen dem Verweis auf die Blindheit Tobits in 11,2 und dem Imperativ in 11,4 erläutert der Engel/Asarja seinen Plan, ohne Sara in Ninive anzukommen. Vor ihrer Ankunft soll zunächst das Haus hergerichtet werden. Sein in 11,3 vorgebrachte Vorhaben offenbart zwei Aspekte im erzählerischen Umgang mit der Figur der Sara: Aus der Rede des Engels/ Asarjas geht hervor, dass Sara offensichtlich bis zu diesem Zeitpunkt während der ganzen Reise anwesend ist. Der Erzähler spricht aber in 10,13 und 11,1 nur von der Reise des Tobias, seine Frau Sara bleibt unerwähnt. Selbst in der Rede des Engels/Asarjas in 11,3 tritt sie als eigene Persönlichkeit kaum in Erscheinung. Statt ihren Namen zu nennen spricht er von γυνή σου. Weiterhin scheint der Erzähler Wert auf die verzögerte Ankunft Saras in Ninive zu legen. Sie wird nicht

152

Analyse der Erzählteile

Zeugin der Heilung Tobits werden und damit in ihrer ersten Begegnung mit ihm auf einen geheilten (sehenden) Mann treffen. Auf die Rede des Engels/Asarjas folgt keine verbale Reaktion, aber aus der Aussage über das gemeinsame Weiterreisen kann auf das Einverständnis aller beteiligen Akteure geschlossen werden. Der Erzählabschnitt endet mit dem Hinweis auf den Hund, der die Reisenden begleitet. Er scheint Tobias und den Engel/Asarja seit ihrer Abreise (GI: 5,17; GII: 6,1) nicht verlassen zu haben, jedoch wird seine Gegenwart nur im Kontext des Reisens fort von bzw. nach Ninive erwähnt. Wie oben schon angedeutet, gibt es eine Übereinstimmung mit 6,2–9 in Blick auf die Erzählmotive. Die viermalige Verwendung eines Verbes der Bewegung (ἐπορεύετο, προδράμωμεν, ἐπορεύθησαν, συνῆλθεν) innerhalb der kurzen Textsequenz betont das Motiv des Unterwegseins der Akteure, das wiederum die Handlung in 6,2–6 rahmt (πορευόμενοι, ἦλθον, ὥδευον, ἤγγισαν). Auch die Dialogstruktur stimmt in beiden Textabschnitt überein: Der Engel/Asarja wendet sich mit einem Imperativ an Tobias, dessen Umsetzung in 6,4f erzählerisch entfaltet wird, wobei aus 11,4b nur implizit geschlossen werden kann, dass Tobias der Anweisung des Engels/Asarjas folgt. Die Bezugnahme auf 6,2–9 erfährt dadurch eine besondere Betonung, dass hier zum ersten Mal seit der Ankunft in Ekbatana die Rollenbesetzung in der Struktur der »dialogue-bound narration« aus 6,1–18 wiederaufgegriffen wird: Der Engel/Asarja spricht und Tobias handelt. Die Erwähnung des Hundes erinnert an die Abschiedsszene in Ninive (GI: 5,17; GII: 6,2) und dient damit der Überleitung zur folgenden Szene, die am Ziel der Reise in Ninive spielt. Bis auf zwei spezifizierende Angaben stimmt GII mit GI fast vollständig überein. In 11,1 lokalisiert GII den Ort genauer, an dem das Gespräch stattfindet. In Kaserein164 scheint die Reisegesellschaft ihre Wanderung kurz unterbrochen zu haben. Mit der Einfügung des Adjektivs ἀμφότεροι in 11,4 macht GII deutliche als GI, dass die Akteure im Sinne des Engels/Asarjas handeln und Sara zurücklassen. 11,5–15: Hanna, Engel/Asarja, Tobias, Tobit: Ziel der Reise Der Teilabschnitt 11,5–15 berichtet von der Ankunft der beiden Reisenden in Ninive. Der Name der Stadt wird nicht genannt, vielmehr geben wie in 10,7b–13 die Namen der Akteure den Lesenden den nötigen Hinweis auf das lokale Setting. In Ninive begegnet dieselbe Figurenkonstellation wie in 5,17b–6,1: Der Kreis der Akteure umfasst Tobias, den Engel/Asarja, Hanna und Tobit. Ihre Auftritte in der Szene verteilen sich auf zwei Sequenzen. Im ersten Unterabschnitt 11,5–9 agieren Hanna, der Engel/Asarja und indirekt Tobias, im zweiten 11,10–15 geht es ausschließlich um die Interaktion zwischen Tobias und Tobit. 164 Kaserein ist als Stadt unbekannt, vgl. C.A. Moore, Tobit 261.

Analyse 5,17b–11,19: Heilung Saras und Tobits

153

Im ersten Abschnitt 11,5–11 wird die Handlung von der Figur der Hanna bestimmt. Ihr Agieren und ihr Sprechen rahmen eine Rede des Engels/Asarjas an Tobias, dessen Antwort die Lesenden nicht erfahren. Zu Beginn des Abschnitts führt der Erzähler den Erzählfaden aus 10,7 weiter fort, indem er Hanna am Weg sitzen und nach ihrem Sohn Ausschau halten lässt. Das Verb κάθημαι bringt das Warten der Eltern des Tobias in Erinnerung, für die sich bis jetzt noch nichts verändert hat. Als Hanna die Ankömmlinge bemerkt, geht sie ihnen nicht direkt entgegen, sondern berichtet zunächst ihrem blinden Mann von deren Ankunft. Bemerkenswert ist ihre distanzierte Redeweise; sie nennt keine der Personen mit ihrem Namen, sondern spricht von πατήρ αὐτοῦ, υἱός σου und ἄνθρωπος ὁ πορευθεὶς μετ’ αὐτοῦ. Sie präsentiert die Figuren in ihren familiären Beziehungsrollen bzw. in ihrer Bedeutung für ein Familienmitglied. Hannas Rede an Tobit hat nicht die Funktion einer Gesprächseröffnung, sondern dient lediglich zur Information der Lesenden, dass nun alle Akteure, die nach Ninive gehören, versammelt sind. Überraschenderweise folgt nämlich auf die Rede Hannas keine Antwort Tobits, sondern einen kurze Ansprache des Engels/Asarjas an Tobias. Dieser abrupte Wechsel der Sprechsituation steht für die Simultanität, mit der der Erzähler die zwei Handlungen parallel verlaufen lässt: Das Gespräch zwischen Hanna und Tobit findet zeitgleich mit der Rede des Engels/Asarjas an Tobias statt. Im Gegensatz zu Hanna spricht der Engel/Asarja Tobias direkt mit seinem Namen an. Er gibt ihm eine detailliert Anweisung über die Anwendung der Galle und informiert ihn über ihre Wirkung. Diese Instruktionen beziehen sich auf den zweiten Teil der Antwort des Engels/Asarjas in 6,9, mit der er die Bedeutung der Fischorgane erklärt. Der Engel/Asarja trägt sie mit einer größeren Souveränität vor als die Anweisung in 6,17f, denn in 11,7 betont er sein Wissen um den positiven Ausgang der Behandlung: Ἐπίσταμαι ἐγὼ ὅτι ἀνοίξει τοὺς ὀφθαλμοὺς ὁ πατήρ σου. Statt von einer Reaktion des Tobias zu berichten, greift der Erzähler wieder den ersten Handlungsstrang auf und erzählt von der Begrüßung des Tobias durch Hanna. Deren lebhafte Dynamik schlägt sich in den beiden Verben προστρέχω und ἐπιπίπτω (ἐπὶ τὸν τράχηλον) nieder. In den Begrüßungsworten Hannas spielt der Erzähler auf das Wortfeld »Augen« an, das in Hannas Rede in 10,5 (τὸ φῶς τῶν ὀφθαλμῶν μου) angesprochen und in 11,7 vom Engel/Asarja aufgegriffen wird. In der Schlusssequenz zeigt Tobias in der Aussage vom gemeinsamen Weinen eine indirekte Präsenz. GII deutet die Präsenz des Tobias an einer früheren Stelle in der Passage an. Der Erzähler lässt den Engel/Asarja in dem Moment zu ihm sprechen, in dem sich Tobias seinem Vater nähert: Ραφαηλ εἶπεν Τωβια πρὸ τοῦ ἐγγίσαι αὐτὸν πρὸς τὸν πατέρα. Ein weiterer Unterschied zwischen den Textversionen besteht in der Wirkweise der Galle auf die erkrankten Augen. Sowohl GI als auch GII lassen das Fischorgane zunächst auftragen (GI: ἐγχρίω, GII: ἐμπλάσσω). Dann wird die Galle nach GI in den Augen beißen (δάκνω), Tobit selbst wird sie reiben (διατρίβω) und

154

Analyse der Erzählteile

die weißen Flecken abschütteln (ἀποβάλλω). In GII hingegen bezeichnet der Engel/Asarja die Galle als φάρμακον, die die Flecken zusammenziehen (ἀποστύφω) lässt und sie dann von Tobits Augen abschält (ἀπολεπίζω). Nach der Heilung wird der Blick Tobits nach GI als erstes auf seinen Sohn Tobias fallen, während in GII Tobit zunächst das Licht (φῶς) sehen wird. Der zweite Teilabschnitt 11,10–15 berichtet ausschließlich von der Interaktion zwischen Tobias und Tobit. Die Veränderung im Setting der Akteure weist auf einen Wechsel der Szene hin, deren Beginn und Ende jeweils mit Verben der Bewegung angedeutet werden (11,10: ἐξάρχω, προσκόπτω, προστρέχω. 11,15: εἰσέρχομαι). Die Bewegungsdynamik, die sich in 11,5–9 vom Stillstand (11,5: κάθημαι) zum Laufen (11,9: προστρέχω) entwickelt, bleibt auf diese Weise in der folgenden Passage erhalten. Der Abschnitt lässt sich in zwei Unterteile gliedern, die sich in inhaltlicher und formaler Hinsicht voneinander absetzen. Die Verse 11,10–13 berichten von der Heilung der erblindeten Augen Tobits in einer detaillierten Handlungsabfolge. Die Kommentierung der Wiedererlangung der Sehkraft erfolgt auf der verbalen Ebene: In 11,14–15 zitiert der Erzähler ein Gebet Tobits und berichtet anschließend vom freudigen Verkünden (ἀπαγγέλλω) der erlebten Ereignisse durch Tobias. Im ersten Unterteil dominiert hauptsächlich die Handlung, während die zweite Passage die Aufmerksamkeit auf die Rede bzw. den Bericht einer Rede lenkt. In beiden Teilen steht die Figur des Tobit im Vordergrund, da der überwiegende Anteil der Handlung und die einzige direkte Rede ihm zugeordnet werden. Entsprechend bildet Tobit das Subjekt der Anfangssequenz, die von seinem Hinausgehen aus einer Tür (ἐξάρχω πρὸς τὴν θύραν) erzählt. Ob er einen Raum oder das Haus verlässt, erläutert der Text nicht. Zusätzlich erwähnt der Erzähler das Stolpern Tobits (προσκόπτω). Offensichtlich ist keine andere Person anwesend, die den blinden Mann bei seinem Gang nach draußen unterstützt. Der Inhalt von 11,10a impliziert, dass sich Tobit alleine innerhalb einer Räumlichkeit befindet. Damit steht diese Aussage im Widerspruch zu 11,5.6, wo Hanna zu ihrem Mann spricht, als sie auf dem Weg nach Tobias Ausschau hält. In dieser Szene befindet sich Tobit außerhalb des Hauses in Gesellschaft seiner Ehefrau. Diese Spannung und die Unklarheit, durch welche Tür Tobit hinausgeht, machen eine genaue Lokalisierung der Szene an dieser Stelle unmöglich. Die folgende, ebenfalls zweigliedrige Bewegungskette bildet die Gegenbewegung zu 11,10a. Ihr Subjekt ist Tobias, der zu seinem Vater läuft (προστρέχω) und den Stolpernden auffängt (ἐπιλαμβάνω). Dieser auch auf syntaktischer Ebene gestalteten Begegnung zwischen Vater und Sohn folgt die Handlung des Tobias, mit der er die Anweisung des Engels/Asarjas in 11,8 in die Tat umsetzt. Er streicht Tobit die Galle auf die kranken Augen. Die bisher wortlos verlaufene Handlung wird nun mit dem einzigen gesprochene Satz des Tobias in 11,1–15 ergänzt: Θάρσει, πάτερ. Das Trostwort erinnert an die Rede Ednas an ihre Tochter in 7,17: Θάρσει,

Analyse 5,17b–11,19: Heilung Saras und Tobits

155

θύγατερ, das den Auftakt zur Szene der Dämonenaustreibung bildet. Diese Funktion erfüllt der Zuspruch des Tobias hier auch, denn nun folgt auf der Handlungsebne die Beschreibung der Wirkung der Galle in den Augen. Die Darstellung des Heilungsprozesses, der aus der Perspektive Tobits präsentiert wird, erfolgt in einer Abfolge von vier Handlungsschritten Die Galle verursacht brennende Schmerzen (συνδάκνω), Tobit reibt sich die Augen (διατρίβω), die weißen Flecken werden abgeschält (λεπίζω) und Tobit sieht seinen Sohn (ὁράω). Diese viergliedrige Handlungskette entspricht der Aussage des Engels/Asarjas in 11,8, mit der er die Wirkweise der Gallenbehandlung erläutert. Bis auf die unterschiedliche Verwendung der Verben ἀποβάλλω (aktiv)/ λεπίζω (passiv) korrespondiert die Rede des Engels/Asarjas vollständig mit der erzählten Handlung. Tobit reagiert auf die Wiedererlangung seines Augenlichts, indem er Tobias um den Hals fällt und weint. Damit verleiht er seiner Freude denselben Ausdruck wie Hanna in 11,9. Dieser spontanen Reaktion auf die Heilung folgt ein kurzes Lobgebet Tobits. Er preist Gott (θεός), seinen Namen (ὄνομά) und alle heiligen Engel (πάντες οἱ ἅγιοί ἄγγελοι). Der Anlass für das Loben besteht im züchtigenden (μαστιγόω) und erbarmenden (ἐλεέω) 165 Handeln Gottes an Tobit. Aus welchem Grund Tobit seine Blindheit als Bestrafung versteht, erschließt sich für die Lesenden an dieser Stelle nicht. In seiner Heilung, also in der wiedererlangten Fähigkeit seinen Sohn sehen zu können, erkennt Tobit das Erbarmen Gottes. Nach der Rede Tobits erfolgt ein Wechsel auf die Handlungsebene und Tobias übernimmt die Rolle des Handlungsträgers. Er geht hinein (εἰσέρχομαι) und berichtet seinem Vater von seinen Erlebnissen in Medien. Über den Inhalt seiner Rede erfahren die Lesenden nichts, dafür aber gibt der Erzähler einen Hinweis darauf, wie die erzählten Ereignisse zu deuten sind. Das substantivierte Adjektiv μεγαλεῖος wird in der LXX fast ausschließlich für Gott und sein Handeln verwendet,166 d. h. die Erfahrungen in Ekbatana sind in der Sicht des Erzählers auf Gottes Unterstützung zurückzuführen. Aus dem Schlusssatz 11,15 ist zu entnehmen, dass sich Tobias außerhalb eines Raumes/Hauses befindet und nun hinein zu seinem Vater geht. Diese Bewegung steht in einem Widerspruch zu 11,10, wonach Tobit die Räumlichkeit verlässt. Der Bewegungsablauf in 11,10–15 klärt damit nicht, wo sich die Protagonisten während der Heilung befinden, innerhalb oder außerhalb des Hauses. Auch kann dem Text nicht entnommen werden, ob Hanna und der Engel/Asarja zugegen sind. Ihre Anwesenheit bzw. Abwesenheit wird nicht thematisiert. Während in Hinblick auf den Ort und der möglichen Zeugenschaft Hannas und des Engels/Asarjas die Ausführungen des Erzählers unbestimmt bleiben, können sich die Lesenden sicher sein, dass Sara 165 Vgl. die Verwendung der polaren Verben in 13,2. 166 Vgl. P. Deselaers, Buch 178 Anmerkung 288.

156

Analyse der Erzählteile

bei der Heilung nicht zugegen ist. Aus 11,3 ist zu schließen, dass Tobias und seine Begleiter ohne sie in Ninive angekommen sind. Die Dominanz der Bewegungsverben in 11,10–15 rechtfertigt die Zuordnung des Abschnitts in die übergeordnete Erzähleinheit 10,7b–11,15, in der das Reisen ein Hauptthema bildet. Außerdem stellt die Erwähnung Mediens in 11,15 einen Rückbezug auf den Beginn der Heimreise in Ekbatana (10,16) dar und rahmt auf diese Weise die gesamte Passage. Aufgrund der inkohärenten Bewegungsabfolge und der vagen Beschreibung des Settings hebt sich 11,10–15 von den vorhergehenden Abschnitten ab, die in ihrer eindeutigen Darstellung der Ereignisse keinen logischen Bruch in der Handlungsfolge zeigen. In seiner Präsentation der Heilungsszene scheint der Erzähler weniger Wert auf die Stringenz des Erzählduktus zu legen, vielmehr dienen ihm die vermeintlichen Unklarheiten als Verweis auf die Dämonenaustreibung in 8,1–9,1. Die Bewegungsrichtungen der Akteure in 8,1–9,1 und 11,10–15 stehen in einem komplementären Verhältnis: Zu Beginn der Vertreibungs- bzw. Heilungsszene führt Raguels Familie in 8,1 Tobias hinein (εἰσάγω), in 11,10 geht Tobit hinaus (ἐξάρχω). Nach der entscheidenden Handlung geht (πορεύομαι) Raguel in 9,1 hinaus, um das Grab zu schaufeln, in 11,15 geht Tobias nach der Heilung hinein (εἰσέρχομαι) und berichtet von den Ereignissen. Den Akt der tatsächlichen Vertreibung des Dämon beschreibt der Erzähler jenseits der für die Anwesenden erfahrbaren Zeit- und Raumdimensionen und enthält auf diese Weise den Lesenden das Wissen um die mögliche Kenntnis der Akteure darüber vor. Die Unmöglichkeit dieses Wissens konstruiert der Erzähler in 11,1–15 nicht durch eine der Wahrnehmung entzogenen Handlung, sondern durch die widersprüchlichen Angaben zum Ziel der Bewegung der Figuren. Auf diese Weise ist der Ort der Handlung für die Lesenden nicht identifizierbar und damit auch nicht nachzuvollziehen, welche weiteren Personen während des Heilungsvorgangs anwesend sind. Der Engel/Asarja ist in diesen Prozess nicht involviert, im Gegensatz zu seiner verstärkenden Intervention während der Dämonenvertreibung. Das Verb προσκόπτω verweist zwar auf den möglichen Umstand, dass Tobit sich ohne Begleitung in Bewegung setzt, jedoch ist das wie die fehlende Aktivität des Engels/Asarjas kein sicheres Indiz für die vollständige Abwesenheit anderer Personen. In beiden Episoden lässt der Erzähler damit die Frage offen, inwieweit die Vertreibung bzw. Heilung von nicht beteiligten Anwesenden bezeugt werden können. In formaler Sicht besteht eine weitere Gemeinsamkeit im Strukturaufbau der beiden Erzähleinheiten. Einer wortlos vollzogenen Handlung folgt eine Rede in Form eines Gebets. Derjenige, der entscheidende Handlung durchführt, ist jedes Mal Tobias. Während in 8,2 die detaillierte Darstellung der Aktivität des Tobias in den Vordergrund rückt und die Wirkung seines Handelns eher beiläufig beschrieben wird, verhält es sich in 11,10–15 umgekehrt. Die Präsentation des

Analyse 5,17b–11,19: Heilung Saras und Tobits

157

Handelns des Tobias beschränkt sich auf ein Verb, während der Prozess der Heilung in vier Schritten dargestellt wird. Sowohl in der Vertreibungs- als auch in der Heilungsszene entspricht die erzählte Handlung fast wörtlich den entsprechenden Anweisungen des Engels/Asarjas. Sie fügen sich in das Schema der »dialogue-bound narration«, zeigen aber dennoch einen wichtigen Unterschied. Der Abschnitt 8,1–3 fokussiert exakte Umsetzung der Worte des Engels/Asarjas durch Tobias und betont auf diese Weise das Vertrauen des Tobias in die Autorität seines Begleiters. In der Szene der Blindenheilung hingegen geht es dem Erzähler um die Wirkung der Galle, die genau der Prognose des Engels/Asarjas in 11,8 entspricht. Damit bestätigt der Text hier das Wissen des Engels/Asarjas, auf das sich Tobias verlassen kann.167 Die Textversion GII beschreibt die Ereignisse detaillierter und plastischer als GI und setzt andere inhaltliche Schwerpunkte. Die oben besprochene Unklarheit in Blick auf den Handlungsort der Heilung wird in GII eindeutiger herausgearbeitet. Der Erzähler gestaltet den Beginn der Sequenz mit einer Abfolge von drei Verben (ἀνίστημι, προσκόπτω, ἐξέρχομαι). Die beiden letzten Verben sind jeweils mit einem spezifizierenden Zusatz versehen: Tobit stolpert mit den Füßen (πούς) 168 und er geht zur Tür des Hofes (αὐλή) hinaus. Damit gibt GII unmissverständlich zu verstehen, dass Tobit den häuslichen Bereich verlässt und sich in den öffentlichen Raum begibt. Entsprechend verwirrend ist die Aussage in 11,14, wonach Tobias hineingeht (εἰσέρχομαι) und dort seinem Vater von der erfolgreichen Reise berichtet. Wie in GI ist nicht auszumachen, wo die Heilung stattfindet und ob bzw. wer als Zeuge anwesend ist. Die Endpassage in 11,15c bezieht sich auf 11,3 und stellt explizit sicher, dass Sara nicht zugegen ist. Sie ist noch nicht in der Stadt, sondern nährt sich dem Tor Ninives (πύλη Νινευη). Diese Information fehlt in GI, die Abwesenheit Saras wird nicht eigens erwähnt, sondern erschließt sich nur aus dem Zusammenhang. Während GI die Handlung des Tobias (11,10b) in einer fließenden Abfolge präsentiert (herbeilaufen, auffangen, auftragen der Galle), wirken in GII die einzelnen Handlungsschritte ohne Zusammenhang und wie isoliert nebeneinandergestellt: Tobias geht auf seinen Vater zu (βαδίζω), bläst in seine Augen (ἐμφυσάω) und ergreift (λαμβάνω) ihn. Zwischen der ersten und der zweiten Handlung fügt der Erzähler die Information ein, dass sich die Galle in seiner Hand befinde. Die Motivation des Tobias für das Blasen und Ergreifen erläutert der Text nicht. Erst nachdem Tobias das Trostwort gesprochen hat, legt er Tobit die Galle auf, die der Erzähler als Arznei (φάρμακον) bezeichnet. Die Aussage, dass Tobias seinem Vater die Arznei reicht (ἐπιδίδωμι), nachdem er sie aufge167 Bei diesem Wissen handelt es sich um heilkundliche Kenntnisse. Umso erstaunlicher ist es, dass die Ärzte Tobit nicht helfen können, vgl. Tob 2,10. 168 Erwähnung der Füße in GII vgl. 6,3; 8,3.

158

Analyse der Erzählteile

tragen hat, entbehrt der Erzähllogik. Die umständliche und teilweise widersprüchliche Darstellung der Handlung des Tobias hinterlässt einen verwirrenden Eindruck über den Vorgang der Heilung. Umso eindeutiger beschreibt der Erzähler die Wirkung der Arznei: Tobit selbst schält (ἀπολεπίζω) mit beiden Händen die weißen Flecken von seinen Augenwinkeln. Die Korrespondenz zwischen der Rede des Engels/Asarjas (11,8) und der erzählten Handlung in 11,10b–13 wird jedoch nicht so konsequent hergestellt wie in GI. Aus der Anweisung, die Galle auf die Augen zu reiben (ἐμπλάσσω), entwickelt der Erzähler eine mehrgliedrige Handlungskette mit logischen Brüchen. Während nach den Worten des Engels/Asarjas die Arznei die Flecken abschält, bildet auf der narrativen Ebene Tobit das Subjekt dieser Handlung. Das Gebet Tobits entspricht inhaltlich der Parallelstelle in GI. Es ist ausführlicher gestaltet, da es den Lobpreis des Namens Gottes und den der Engel nacheinander wiederholt. Die polare Formulierung μαστιγόω/ἐλεέω fehlt, das Verb ἐλεέω ersetzt der Beter durch die Aussage, dass Tobit seinen Sohn Tobias sieht. Trotz der unterschiedlichen Akzentuierung in GI und GII ist beiden Textversionen gemeinsam, dass sie in einem bis hierher ohne logische Brüche präsentierten Erzählablauf in der Episode der Heilung unübersehbare Spannungen und Widersprüche in der Handlungsfolge zulassen. Diese Strategie der Uneindeutigkeit trägt kaum zur Klärung der Umstände bei, die zur Heilung führen, sondern hinterlässt bei den Lesenden offene Fragen in Hinblick auf den Ort, die möglichen Anwesenden und den Beitrag des Tobias (GII) im Heilungsprozess. Wie oben erläutert wurde, begegnet der Aspekt der bewusst gestalteten Vagheit schon im Bericht über die Dämonenvertreibung (8,1–3). In beiden Passagen scheint der Erzähler großen Wert darauf zu legen, dass für die Lesenden nicht nachvollziehbar ist, ob außer den betroffenen Personen andere Akteure den Vorgang der Vertreibung bzw. der Heilung bezeugen können. Umso expliziter berichtet der Erzähler von der Kenntnisnahme der Umwelt vom Resultat der rettenden/heilenden Handlung des Tobias: Die Magd findet nach der Hochzeitsnacht Tobias und Sara schlafend vor (7,13) und die Bewohner Ninives wundern sich über Tobits selbstständiges Umhergehen (11,16b). Die mehr (GI) bzw. weniger (GII) deutliche erzählerische Orientierung an dem Modell der »dialogue-bound narration« betont die Bedeutung des Engels/Asarjas in den Ereignissen: Es ist seiner Intervention zu verdanken, dass die Rettungs- und Heilungsprozesse stattfinden und zu einem erfolgreichen Abschluss kommen. Während in der Episode der Dämonenvertreibung das Vertrauen des Tobias in die Autorität des Engels/Asarjas ihn zu seinem Handeln veranlasst, steht in 11,10–15 die Demonstration des Engel-/Asarjawissens im Vordergrund. In beiden Erzählabschnitten geht es um den Aufweis der Verlässlichkeit der Anweisungen des Engels/Asarjas.

Analyse 5,17b–11,19: Heilung Saras und Tobits

159

Den gesamten Abschnitt 10,7b–11,15 dominiert das Wortfeld Bewegung. In 11,1–15 ist eine Häufung des Verbes »sehen« zu beobachten, dieses Wortfeld wird interessanterweise nicht nur mit Tobit, sondern auch mit Hanna ín Verbindung gebracht.

3.10

11,16–19: Saras Ankunft in Ninive

Im Textabschnitt 11,16–19 findet die Binnenerzählung 5,17b–11,19 ihren Abschluss. Er bildet in der spiegelbildlichen Anordnung der Erzähleinheiten das Gegenüber zur Anfangssequenz in 5,17b–22. Beiden Passagen ist gemeinsam, dass die Figur des Tobits die Rolle des Haupthandlungsträgers übernimmt und dass in der Präsentation der Ereignisse die Verben der Bewegung dominieren (ἐξέρχομαι. πορεύομαι, ἐγγίζω, ἄγω, παραγίνομαι). Der Unterschied besteht in der Zusammensetzung des Figurentableaus: In 5,17b–22 lässt der Erzähler außer Tobit noch Hanna, Tobias und den Engel/Asarja auftreten, während in 11,16–19 diese Figuren durch Sara, Achikar und seinen Neffen Nadab ersetzt werden. Zusätzlich erscheinen zwei namentlich nicht genannte Gruppen: Diejenigen, die sich über Tobits wiedererlangte Sehkraft wundern, und die Brüder (ἀδελφός), über deren Freude die Erzählerstimme berichtet. Außerdem gestaltet sich das Verhältnis zwischen Rede- und Handlungsanteile spiegelbildlich: In 11,16–19 steht die Handlung im Vordergrund, die die an Sara gerichtete Rede Tobits rahmt. Die Veränderung im Figurenensemble markiert den Szenenwechsel, der den Erzählfaden aus 10,8–11,15 aufgreift. Der Bewegungslogik aus 11,15 folgend verlässt Tobit in 11,16 das Haus, in dem er sich nach 11,15 befindet. Die beiden Handlungssequenzen in den ersten Verse 11,16.17, lassen einen übereinstimmenden Ablauf erkennen: 11,16: Tobit geht – Tobit spricht – Reaktion der Anwesenden – Tobit spricht; 11,17b: Tobit geht – Tobit spricht – Reaktion der Anwesenden. Der Erzähler präsentiert damit zwei aufeinanderfolgende Handlungsabfolgen, in denen er eine Aktion Tobits (Bewegung und Rede) von unbeteiligten Zuschauern kommentieren lässt. In der ersten Sequenz geht Tobit an das Tor Ninives (πύλῃ Νινευη) und begibt sich damit eindeutig in den öffentlichen Raum der Stadt. Seine Bewegung lässt der Erzähler, auf der sprachlichen Ebene vermittelt durch eine Partizipialkonstruktion, indirekt von einem Preisen Gottes begleiten. Er berichtet von der Verwunderung derer, die die wiedererlangte Sehkraft Tobits zur Kenntnis nehmen (ἐθαύμαζον οἱ θεωροῦντες αὐτὸν πορευόμενον ὅτι ἔβλεψεν). Die Lesenden erfahren nicht, um wen es sich bei dieser Gruppe handelt. Die Funktion ihrer Erwähnung an dieser Stelle besteht ausschließlich in der öffentlichen Bezeugung der erfolgreichen Blindenheilung, die vorher in einem nicht eindeutig identifizierbaren Setting vorbereitet wurde. Im Gegenzug bekennt Tobit vor dieser Öffentlichkeit (ἐξωμολογεῖτο ἐνώπιον αὐτῶν),

160

Analyse der Erzählteile

dass seine Heilung dem Erbarmen Gottes zu verdanken sei.169 Ein ähnlicher Erzählablauf zeigt sich in 11,17b: Tobit geht auf Sara zu, deren Ankunft stillschweigend vorausgesetzt wird, segnet sie und spricht zu ihr. Statt eine Antwort Saras mitzuteilen, wendet sich der Erzähler der Gruppe der Brüder in Ninive zu, die hier zum ersten Mal genannt werden. Sie reagieren mit Freude auf die Begegnung zwischen Tobit und Sara und bezeugen damit indirekt den positiven Ausgang der Dämonenaustreibung, die die nun folgende Aufnahme Saras in die Familie Tobits erst ermöglicht. Im Abschnitt 11,16–17 geht es somit um die Bekanntmachung bzw. Bezeugung der Konsequenzen von Ereignissen, die vorher unter verborgenen bzw. nicht geklärten Bedingungen stattfanden. In der Darstellung der beiden Veröffentlichungen nimmt der Erzähler eine gewisse Differenzierung vor. Die Präsentation des sehenden Tobit bietet weder eine direkte noch eine indirekte Rede und das bezeugende Umfeld wird nicht näher beschrieben. Die Begrüßung Saras hingegen begleitet eine direkte Rede Tobits und die Zeugen der Begegnung werden eigens benannt. Der Erzähler referiert hier nicht die Reaktion eines allgemeinen Publikums, sondern die einer identifizierbaren Untergruppe, die Judäer. Das Zentrum des Abschnitts bildet die Rede Tobits an Sara (11,17c). Die Verben in den Begrüßungsworte Tobits, die der Mitteilung über die Freude der Brüder vorausgehen, betonen den Aspekt des Ankommens Saras in der Familie des Tobias (ἔρχομαι, ἄγω). Tobit spricht sie nicht mit ihrem Namen an, sondern in ihrer Rolle als Tochter. Ebenso erwähnt er ihre Eltern als Vater und Mutter ohne deren Namen zu nennen. Diese Beobachtung ist insofern erwähnenswert, als der Engel/Asarja in 6,16 Tobias an das Gebot Tobits erinnert, eine Frau aus seinem Geschlecht zu heiraten. Die Einhaltung der endogamen Heiratsregeln steht jedoch nicht im Vordergrund seiner Freude, in diesem Fall wäre zu erwarten gewesen, dass er der genauen Namenskenntnis der Braut und ihrer Eltern eine größere Bedeutung beigemessen hätte.170 Tobit preist Gott nicht für die angemessene Abstammung Saras, sondern für ihren Eintritt in die Familie. Die Passage endet mit der Erwähnung Achikars und Nadabs, seines Neffen (Ἄχιαχαρος καὶ Νασβας ὁ ἐξάδελφος αὐτοῦ), die den Lesenden bisher noch nicht begegnet sind. Wie Gabael in 9,6 nehmen sie als Gäste an der Hochzeitsfeier teil, die sieben Tage171 lang gefeiert wird. Mit diesem Bild der gemeinsamen Feier der Heirat zwischen Sara und Tobias endet die Binnenerzählung in 11,19. In gewohnter Weise präsentiert GII die Ereignisse ausführlicher und detailreicher als GI. Inhaltlich stimmen die beiden Textversionen überein, wobei GII bestimmte Angaben spezifiziert bzw. Aussageschwerpunkte verstärkt. Das be169 Vgl. 12,6. 170 Vgl. das Insistieren Tobits auf die Herkunftsverhältnisse des Engels/Asarjas in 5,11f. 171 Vgl. die unterschiedliche Angabe zur Zeitdauer in 8,19.

Analyse 5,17b–11,19: Heilung Saras und Tobits

161

zeugende Umfeld wird genauer mit ἰδόντες αὐτὸν οἱ ἐν Νινευη, also den Einwohnern von Ninive, und mit πᾶσιν τοῖς Ιουδαίοις τοῖς οὖσιν ἐν Νινευη, den Judäern172 in Ninive bezeichnet. Stärker als GI betont GII den Aspekt der Aufnahme Sara in den neuen Familienzusammenhang: Neben dem Wunsch, sie möge wohlbehalten eintreten (εἰσέλθοις), wiederholt Tobit zweimal den Imperativ εἴσελθε und benennt den Ort des Eintretens als ihr Haus (εἰς τὴν οἰκίαν σου). In der Abfolge seiner Segenswünsche für Saras Vater, seinen Sohn Tobias und Sara selbst fehlt die Mutter Saras. Diese Auslassung erinnert an die Segensprüche des Gabael in 9.6, die den Vater Saras nicht berücksichtigen. Anders als GI beschließt GII die Erzählung nicht mit dem Hinweis auf die Hochzeitsfeier, sondern mit der Ankunft der Neffen Achikar und Nadab.173 Die Erzähleinheit 11,16–17 bildet in zweierlei Hinsicht den Höhepunkt der Binnenerzählung 5,17b–11,19. In Tobit und Sara treffen die beiden Figuren der Erzählung aufeinander, die die positive Wendung ihres Schicksals der Intervention des Engels/Asarjas zu verdanken haben. In der Dramaturgie der Szene begegnen sie sich als Geheilte, während die an den Heilungsprozessen Beteiligten nicht auftreten. Gleichzeitig wird hier die Vereinigung der beiden Familie, als deren Repräsentanten Tobit und Sara hier fungieren, zum ersten Mal erzählerisch entfaltet. In seiner wörtlich zitierten Rede fordert Tobit Sara explizit auf, ein Mitglied seiner Familie zu werden. In der Begegnung zwischen diesen beiden Akteuren treffen zwei Familien aufeinander, die im bisherigen Erzählverlauf als zwei jeweils in sich geschlossene Gemeinschaftssphären präsentiert werden. Sie sind durch die räumliche Distanz weit voneinander getrennt und scheinen von ihrem sozialen Umfeld isoliert zu sein. Kammerspielartig beschränkt sich der jeweilige Familienkosmos auf die Kleinfamilie, die ausschließlich im häuslichen Bereich agiert. In beiden Familien jedoch zeigt sich im Verlauf der Erzählung eine analoge Entwicklung: Tobias und der Engel/Asarja kommen aus der Fremde hinzu und aufgrund der Veranlassung des Engels/Asarjas vollbringt Tobias eine rettende bzw. heilende Tat. Diese Taten bewirken eine Dynamik der Öffnung der geschlossenen Kleinfamilie: In Ekbatana vergrößert sich der Kreis der Interaktionspartner um Personen des erweiterten Haushalts (Magd, Knechte) und der Großfamilie (Gabael). In Ninive kommen neben den Verwandten (Achikar, Nadab) die Einwohner Ninives und die Brüder/ Judäer hinzu. Die Einführung der letztgenannten Akteure führt zu einer Entgrenzung der häuslichen Sphäre in den öffentlichen, urbanen Raum hinein. Wie oben ausgeführt wurde, liegt der Aussageschwerpunkt der Erzählung auf der öffentlichen Bezeugung der wiedererlangten Sehkraft Tobits und seiner Be172 Zum Anachronismus der Bezeichnung Ιουδαίοι in diesem Kontext vgl. S.J.D. Cohen, Beginnings 82–106. 173 Zur unterschiedlichen Schreibweise der Namen in GI und GII, vgl. J.A. Fitzmyr, Tobit 283.

162

Analyse der Erzählteile

grüßung Saras. Damit fokussiert die Erzähleinheit ausschließlich die Auswirkungen der Intervention des Engels/Asarjas bzw. des Handelns des Tobias. Das positive Ergebnis wird bezeugt,174 nicht der Prozess der Heilung/Vertreibung, geschweige denn die Rolle der Verantwortlichen. Der Engel/Asarja und Tobias haben hier keinen Auftritt. Die Rolle der Zeugen übernehmen nicht die Figuren aus dem Familienkontext, sondern die bisher nicht erwähnte soziale Umwelt der Akteure. Der Erzähler trifft eine Unterscheidung innerhalb der Gruppe der Zeugen: Über die Sehfähigkeit Tobits wundern sich alle, die ihn sehen, bzw. die Einwohner Ninives. Aus dieser pauschalen Beschreibung ist nicht zu entnehmen, ob es sich bei diesen Personen ausschließlich um Assyrer handelt oder ob auch Glaubensbrüder auf diese Weise reagieren. In Bezug auf die Familienzusammenführung jedoch benennt der Text die Zeugen dezidiert mit einer eigenen Gruppenbezeichnung, die Judäer. Der Prozess der Gemeinschaftsbildung, der in 11,17b seinen Höhepunkt findet, ist für die Gruppe der Judäer von hoher Relevanz. Seine positive Wahrnehmung spiegelt sich gruppenintern in der anschließenden Hochzeitsfeier, abgrenzende und/oder konfrontierende Tendenzen der assyrischen Umwelt gegenüber thematisiert der Text nicht.

3.11

Analyse der Plotstruktur und ihrer erzählerischen Gestaltung

Nach der Textanalyse in 3.1–10 sollen im Folgenden die erarbeiteten Beobachtungen zusammengefasst und in Hinblick auf die Aussageintention der Erzählung ausgewertet werden. Für diesen Zweck werde ich die der Binnenerzählung zugrundeliegende Plotstruktur herausarbeiten, um anschließend ihre Gestaltung durch das Erzählverfahren zu beschreiben, aus der sich dann Hinweise auf die Erzählabsicht der Binnenerzählung ermitteln lassen. 3.11a Analyse der Plotstruktur Unter dem Terminus »Plot« verstehe ich eine Ansammlung von Ereignissen, die nicht nur chronologisch, sondern auch in einem kausalen Verhältnis zueinander stehen. »The term ›story‹, which is a more common term, technically refers to the chronology or temporal relationship between events in a narrative. Another key term, ›plot‹, refers to the events of the narrative with emphasis on how they causally relate to each other.«175 Mit Hilfe der Kenntnis dieses Handlungsschemas, das sich in einem Prozess des Abstrahierens aus der Geschichte ermitteln lässt, können die Besonderheiten der jeweils konkreten erzählerischen Version des Plots erkannt 174 Vgl. 12,7b. 175 S. Zeelander, Closure 22.

Analyse 5,17b–11,19: Heilung Saras und Tobits

163

und analysiert werden. »[…], analysis of the steps in a plot is an abstracting process and once it had been accomplished one can then ›reattach‹ all the forms and ideas and the author’s literary and didactic devices and analyze the full text as written.«176 Zur Ermittlung des Plots von Tob 5,17b–11,19 orientiere ich mich an den Arbeiten von Emma Kafalenos, die in Anlehnung an Vladimir Propp und Tzvetan Todorov ein eigenes Plotmodell entwickelt hat.177 Dieses Modell benennt zehn Funktionen, aus denen sich der Plot einer jeden Erzählung zusammensetzen lässt. Unter »Funktion« versteht Emma Kafalenos ein Glied in einer Kette von kausal miteinander verbundenen Handlungsschritten. »As I define the term, a function names a position in an abstract causal sequence. I identify ten positions (sites, stages) in a causal sequence that begins at the onset of a problem and leads to its resolution.«178 Eine solche Funktion repräsentiert ein Ereignis, dem eine bestimmte Bedeutung im Handlungsablauf zukommt: »In my terms, functions represent events that change a prevailing situation and initiate a new situation. A vocabulary of functions enables identifying, naming, and comparing interpretations of an event’s consequences and causes.«179 Sie beschränkt die Anzahl der Funktionen auf zehn Einheiten, die immer in derselben Reihenfolge, jedoch nicht notwendigerweise vollständig, in einer Erzählung ihre Verwendung finden.180 Von Tzvetan Todorov übernimmt Emma Kafalenos die Idee, dass der Beginn und der Schluss einer jeden Erzählung von einem Zustand des »Equilibriums« gekennzeichnet sind. »Todorv’s discovery that the plot of the stories in the Decameron can be perceived as alternating cyclically from periods of equilibrium to periods of imbalance and back to an equilibrium opens the possibility of looking at all narratives not as an undifferentiated flow of information but as a cyclic path in which periods of equilibrium alternate with periods of imbalance. I am proposing that during the process of moving through any narrative, readers […] interpret […] a given scene as a relatively stable equilibrium (and wonder what will disrupt it), and another scene as a crucial disruption (and wonder how and whether stability can be restored).«181

Die Anwendung des Konzepts von Emma Kafalenos in der vorliegenden Arbeit verspricht zum einen eine nachvollziehbare Abgrenzung der Binnenerzählung von dem sie umgebenden Kontext und zum andern ermöglicht sie die Ermittlung 176 177 178 179 180

Ebd. 23. Vgl. E. Kafalenos, Causalities 1–26. Vgl. ebd. 3. Ebd. 6. Vgl. zur Auflistung der zehn Funktion: »A function is a position in a causal sequence. The ten functions locate postions (sites, stages) along a path that leads from the disruption of an equilibrium to a new equilibrium. A complete sequence – from the onset of imbalance to its resolution – will include all five key functions (A,C,C′,H,I) and may include any or all of the five additional functions (B,D,E,F,G).«, ebd. 7. 181 Ebd. 5.

164

Analyse der Erzählteile

einer logischen Abfolge von Handlungsschritten, die die entscheidenden Veränderungsprozesse abbildet. Die Plotstruktur von Tob 5,17a–11,19 nach dem Konzept von Emma Kafalenos gestaltet sich folgendermaßen: Funktion EQ Equilibrium A C

C1

Erste Handlungskette Zusammenstellen der Reisegesellschaft 5,7b– 6,1

Zweite Handlungskette

Destabilisierendes Fisch greift Tobais an 6,3 Ereignis Entscheidung Engel/Asarja spricht zu des C-Akanten um Tobias 6,4a Auswirkung von A zu mildern Anfangshandlung des C-Aktanten um Auswirkung von A zu mildern C-Aktant wird geprüft

Engel/Asarja fordert Tobias zu einer Handlung auf 6,4b

H

C-Aktant antwortet auf Prüfung Anfangshandlung des C-Aktanten um Auswirkung von A zu mildern

Engel/Asarja gibt zwei Erklärungen 6,8–9 Engel/Asarja fordert Tobi- H-1 as zu einer Handlung auf gemäß der ersten Erklärung 6,17

I-J

Erfolg von H

Vertreibung des Dämons, I-1 Sara und Tobias überleben die Hochzeitsnacht 8,1–9,a H-2 Engel/Asarja fordert Tobias zu einer Handlung auf gemäß der zweiten Erklärung 11,8

D E

Tobias befragt die Anweisung des Engels/Asarjas 6,7

I-2

Tobit wird geheilt 11,12

EQ Neues Equilibrium Erweiterung der zurückgekehrten Reisegesellschaft um Sara 11,16–17

Die Anwendung des Modells von Emma Kafalenos bestätigt die bis jetzt vorausgesetzte These, dass es sich beim Textabschnitt Tob 5,17b–11,19 um einen geschlossenen Handlungszusammenhang mit einem eindeutig definierbaren

Analyse 5,17b–11,19: Heilung Saras und Tobits

165

Beginn und Abschluss handelt.182 Zwischen diesen beiden Polen entfaltet sich eine logische Abfolge von Handlungsschritten, die zu einer entscheidenden Transformation führen. Die Rolle des Hauptaktanten übernimmt in diesem Schema der Engel/Asarja, dessen Eingreifen den Lauf des Geschehens bestimmt. Während Emma Kafalenos die Intervention des C-Aktanten auf der Handlungsebene verortet, ist es hier die Rede des Engel/Asarjas, die die Ereignisabfolge lenkt. Auch die Prüfung des Protagonisten (D) erfolgt verbal in Form einer Frage. Da der Engel/Asarja ausschließlich sprachlich agiert, bedarf es zur Entfaltung der Handlung einer Figur, die seine Worte in konkretes Tun umsetzt. Diese Rolle besetzt der Erzähler mit Tobias, der nicht nur die Anweisungen des Engels/ Asarjas befolgt, sondern in D auch als der Fragende erscheint. Die Plotstruktur stützt sich damit auf zwei Akteure, die sich in ihrer Funktion ergänzen: Der Engel/Asarja motiviert durch seine Worte jene Handlungen, die von Tobias realisiert werden. In der Rollenzuweisung des Hauptakteurs an den Engel/Asarja spiegelt sich die Gewichtung, die der Erzähler zwischen den hier miteinander korrespondierenden Aktionsmodi des Sprechens und des Tuns vornimmt. Den Reden des Engels/Asarjas wird eine größere Bedeutung beigemessen, ohne sie käme die Handlung nicht Gang. Der Verursacher der Krise ist ein Fisch, dessen Angriff auf Tobias eine gewisse Absurdität anhaftet.183 Aus der Antwort des Engels/Asarjas auf die Frage des Tobias (E) entwickeln sich zwei, aufeinanderfolgende Handlungsstränge. In der ersten Handlungssequenz realisiert sich die erfolgreiche Intervention des Engels/Asarjas in der Etablierung einer neuen Gemeinschaft. Die Vertreibung des Dämons, der die eheliche Verbindung zwischen Sara und Tobias verhindern wollte, schafft die Voraussetzung für die folgende Heirat. Die zweite Intervention bewirkt die Heilung des erblindeten Tobit. Das Eingreifen des Engels/Asarjas hat damit Konsequenzen sowohl auf der sozialen als auch der physischen Ebene, die zur entscheidenden Transformation führen. Sie wandelt den blinden, von seinem Sohn verlassenen Tobit in einen sehenden, souveränen Tobit, der seine Schwiegertochter begrüßt und dessen Familie mit dieser Entwicklung eine Erweiterung erfährt. Das bedeutet, die vom Engel/Asarja initiierten und von Tobias ausgeführten Handlungen zielen auf die veränderte, transformierte Lebenssituation Tobits ab, der jedoch als Aktant im Sinne des Modells von Emma Kafalenos keine Bedeutung hat. 182 Die Beschreibung von Tob 5,17b–11,19 als Binnenerzählung erlaubt es, die übrigen erzählenden Passagen der Buches Tobit als eine Vorgeschichte (3,7–15) und als Epilog (14,12–15) zu verstehen. 183 »[…] the spectacle of the great fish hurtling itself out of the river to snatch a part of Tobias’ anatomy, with the young man first leaping out of the way and then wrestling the fish into submission, looks irresistibly like a piece of comic entertainment.«, E.S. Gruen, Diaspora 154. Vgl. dazu die Erblindung Tobits durch Vogelkot, 2,10.

166

Analyse der Erzählteile

3.11b Analyse der narrativen Gestaltung Die Aufdeckung der Plotstruktur ermöglicht nun in einem nächsten Schritt die Analyse der Präsentation der Ereignisse im Erzählverlauf und die Beschreibung der jeweiligen Akzentuierungen in der Darstellung. Gestaltung des Erzählstoffes Das im Plot angelegte Motiv des Weggehens (vgl. Equilibrium) entfaltet der Erzähler zu einer Reisegeschichte, in deren Verlauf der Engel/Asarja und Tobias von Ninive nach Ekbatana und zurück unterwegs sind. Der Erzählverlauf, der die Reiseereignisse chronologisch in einer linearen Abfolge darstellt, zeichnet sich durch die wiederholte Einblendung simultaner Gesprächssequenzen aus, die den Erzählfluss unterbrechen (5,18–22: Hanna und Tobit; 6,10–18: Engel/Asarja und Tobias; 7,15–17: Edna und Sara; 9,1–9: Tobias und der Engel/Asarja; 10,1–7a: Hanna und Tobit). Die bisher geleistete Analyse der einzelnen Erzähleinheiten in Blick auf ihre jeweiligen Abgrenzungen, Motivauswahl, Rollenbesetzungen, Abfolge von erzählten Handlungssequenzen und der Verwendung bestimmter Wortfelder bestätigt die konzentrische Gesamtstruktur, wie sie in Kapitel III vorgestellt wird. Das Zentrum der Erzählung bildet die Sequenz über die Dämonenvertreibung und anschließende Hochzeitsnacht (8,1–9b), um die sich die übrigen, einander korrespondierenden Erzähleinheiten spiegelbildlich anordnen. Mit dieser Platzierung der Vertreibungsszene, die in der Plotstruktur der Funktion I-1 entspricht, markiert der Erzähler den Mittelpunkt der Binnenerzählung und gleichzeitig die Wende im Erzählverlauf, die die Rückkehrphase der Reisenden einleitet. Damit verleiht der Erzähler dieser Szene mehr Gewicht als der Blindheilung, die gemäß dem Plot den zweiten Handlungserfolg I-2 darstellt. Von ihr wird in einem äußeren Ring der konzentrischen Anordnung berichtet. Der Erzähler, der eine allwissende Position einnimmt, ist in seinen Ausführungen sehr zurückhaltend. Er versorgt die Lesenden nur mit dem Minimum an Informationen, die für das Verständnis der Handlung notwendig ist. Abgesehen davon, dass die spezifische Gestaltung des Erzählstoffes nicht von einer Neutralität des Erzählers zu sprechen erlaubt, gibt der Text jedoch nur vereinzelt explizite Hinweise auf seine Einschätzung der Ereignisse (vgl. 11,15b). Stattdessen gewährt der Erzähler den Reden der Figuren einen weiten Raum innerhalb der Binnenerzählung, sie dominieren die Passagen erzählter Handlung. »The biblical writers, in other words, are often less concerned with actions in themselves than with how individual character responds to actions or produces them; and direct speech is made the chief instrument for revealing the varied and at times nuanced relations of personages to the actions in which they are implicated.«184 184 R. Alter, Art 82.

Analyse 5,17b–11,19: Heilung Saras und Tobits

167

Die besondere Bedeutung, die der Erzähler der konkreten Umsetzung der Reden beimisst, spiegelt sich auf der semantischen Ebene in der stellenweise fast wörtlichen Übereinstimmung von einer berichteten Anweisung und der folgenden erzählten Handlung (6,17–18 und 8,2–8; 11,8 und 11,12–13). In dem Schema der »dialogue-bound narration« bildet der Erzähler auf der literarischen Ebene die Beziehungsstruktur zwischen dem Engel/Asarja und Tobias ab, wie sie der Plot vorgibt: Der Engel/Asarja gibt Anweisungen, die von Tobias umgesetzt werden. Die Reden erfüllen eine dreifache Funktion: Zum einen motivieren sie die Handlung und kommentieren diese und zum anderen dienen sie der Charakterisierung der Akteure. Die Erzählerstimme gibt weder Hinweise auf die Persönlichkeit, die äußere Erscheinung bzw. den gesundheitlichen Zustand der Akteure. »The biblical scene, in other words, is conceived almost entirely as verbal intercourse, with the assumption that what is significant about a character, at least for a particular narrative juncture, can be manifested almost entirely in the character’s speech.«185 Die Reden in ihrer charakterisierenden Funktion sind sehr lebendig gestaltet. Außer den Gebeten (8,5–7; 8,15–17, 11,14–15) sind sie kaum formalisiert, vielmehr scheinen sie als Verbatim die Äußerungen der Figuren fast wörtlich wiederzugeben. Die Einbindung von Reden in »contrastivedialogues« (6,11–18; 7,10–11) erlaubt eine pointiertere Darstellung der unterschiedlichen Persönlichkeiten. Charakterisierung der Figuren Aufgrund der herausragenden Bedeutung der Reden für die Charakterisierung der einzelnen Figuren werden im Folgenden zunächst die Ergebnisse der Analyse der entsprechenden Textpassagen zusammengefasst. Weiterhin soll untersucht werden, inwieweit die Verortung und Häufigkeit der einzelnen Reden im Erzählverlauf einen Beitrag zur Profilierung der Figuren und zur Gestaltung des Erzählverlaufs beitragen. Die Wahrnehmung bzw. Einschätzung einer Figur in den Reden anderer Protagonisten findet ebenfalls eine besondere Beachtung. Engel/Asarja Der Erzähler berichtet von fünf direkten und zwei indirekten Reden des Engels/ Asarjas in der gesamten Binnenerzählung. Er platziert dessen Auftreten als Sprechender an den Beginn der Reise (6,4–5.8–9), an das Ende der Reiseetappe nach Ekbatana (6,11–18), in die Begrüßungsszene in dem Haus des Raguel (7,3– 4), während des Festmahls (7,10), während des Besuches bei Gabael in Rages (GII: 9,5), an das Ende der Reisetappe nach Ninive (11,2–3) und nach der Ankunft in Ninive (11,7). Die gesamten direkten Reden des Engels/Asarjas thematisieren die 185 Ebd. Art 88.

168

Analyse der Erzählteile

Fischorgane und ihre Heilwirkung, damit stehen sie in einem direkten Zusammenhang mit der Vertreibung des Dämons und der Heilung des blinden Tobits. Der Erzähler präsentiert sie während des Reiseverlaufs und am Ende der Reise in Ninive, während er in Ekbatana/Rages (GII) die Reden des Engels/Asarjas in den Hintergrund verlagert, da er ihn entweder nur gemeinsam mit Tobias antworten lässt (7,3–4), lediglich auf den Akt seines Sprechens hinweist (7,10) oder in GII (9,5) indirekt seine Worte wiedergibt. Die Pragmatik seiner direkten Reden besteht darin, den Adressaten zu einer bestimmten Handlung zu motivieren. Da die Passage 6,8–9 eine Erklärung für die vorgehenden Imperative in 6,4–5 darstellt, kann sie ebenfalls den handlungsanweisenden Reden hinzugezählt werden. Sie richten sich alle ausschließlich an Tobias, der Engel/Asarja wendet sich keiner anderen Figur in direkter Rede zu. Der Anlass der ersten Rede des Engels/Asarjas besteht in der Konfrontation mit dem lebensbedrohlichen Angriff des Fisches. Seine knappe, verbale Intervention rettet den Jungen, was diesen wiederum dazu veranlasst, die folgenden Anweisungen kommentarlos zu befolgen. Auf die spätere Nachfrage des Tobias nach deren Nützlichkeit, gibt der Engel/Asarja eine kurze, sachliche Erläuterung. Die Inszenierung der ersten Rede des Engels/Asarjas im Kontext der Fischszene betont deren lebensrettende Wirkung. Tobias und den Lesenden wird die Verlässlichkeit der Worte des Engels/Asarjas vor Augen geführt und die auf diese Weise erwiesene Vertrauenswürdigkeit macht plausibel, warum Tobias die zunächst unverständlich anmutenden Imperative (6,5) in die Tat umsetzt. Die Rettung des Tobias und die nüchterne Präsentation des Engel-/Asarjawissens über die Verwendungsweise von Fischorganen lassen ihn als einen souveränen Begleiter erscheinen, dessen Autorität durch seine Worte erwiesen ist. Umso erstaunlicher ist das Bild, das die folgende Rede 6,11–18 vom Engel/ Asarja zeichnet. Abgesehen von ihrer Länge hebt sie sich in Blick auf die Sprechsituation und die sprachliche Gestaltung von den übrigen Reden ab. Während die Reden in 6,4–5.8–9 im Kontext der Errettung aus einer Lebensgefahr stehen, geht es in 6,11–18 um den Versuch, Tobias zu einer Handlung zu motivieren, die diesen zumindest in dessen Wahrnehmung in eine lebensbedrohliche Situation führen würde. An diesem zweifelsohne schwierigen Unterfangen droht der Engel/Asarja fast zu scheitern, schließlich formuliert Tobias in 6,14–15 deutlich seine Ablehnung. Die Unsicherheit des Engels/Asarja hinsichtlich der geeigneten Überzeugungsstrategie spiegelt sich in der unterschiedlichen Diktion der Reden: In 6,5 genügen zwei Imperative, die ohne jede Erklärung an Tobias gerichtet werden. Wie die Analyse von 6,11–18 gezeigt hat, ist diese Rede jedoch als eine sehr wortreiche, umständliche Argumentation konzipiert, die zudem zwei Legitimationsinstanzen (vermeintlicher Verweis auf das Gesetz des Moses, auf die Gebote des Vaters) in Anspruch nimmt, um dennoch ihr Ziel zu verfehlen. Die Strategie des Engels/Asarjas scheitert an seiner

Analyse 5,17b–11,19: Heilung Saras und Tobits

169

Fehleinschätzung des Wissens des Tobias um die Gefahr in der Gestalt des Dämons. Nachdem dieser aber seine Kenntnis des Sachverhalts geoffenbart hat, bleibt dem Engel/Asarja nichts anders übrig, als die Verwendung der Fischorgane ins Spiel zu bringen. Der Hinweis auf den Fisch erinnert an die Episode am Tigris und damit an die Verlässlichkeit des Begleiters. Die Zuverlässigkeit des Engels/ Asarjas ermöglicht es Tobias, Vertrauen in dessen Pläne zu setzen. Die Rede in 6,11–18 zeigt damit einen Engel/Asarja, der sich seiner eigenen Souveränität nicht gewiss zu sein scheint. Er vermeidet die Konfrontation mit einem offensichtlichen Problem und hofft mit Scheinargumenten überzeugen zu können. Dieses Verhalten, hinter dem sich das Bedürfnis nach der Vergewisserung der eigenen Autorität verbirgt, verleiht dem Engel/Asarja ausgesprochen menschliche Züge. Der erfolgreiche Autoritätserweis wirkt sich auf die sprachliche Gestaltung folgenden direkten Reden 11,2.7 aus. Entsprechend dem Stil von 6,4–5.8–9 sind sie sehr kurz gehalten und enthalten Handlungsaufforderungen, die einmal den Engel/Asarja und Tobias gemeinsam betreffen (11,39) und sich zweimal ausschließlich an Tobias wenden. Der Engel/Asarja hat seine ursprüngliche Souveränität wiedererlangt, er geht davon aus, dass seine Anweisungen auch ohne Erklärungsaufwand befolgt werden. Die Gesamtschau der Reden des Engels/Asarja ergibt folgenden Ertrag: Der Erzähler lässt den Engel/Asarja nur in ausgewählten Erzählabschnitten zu Wort kommen, und zwar während der Reise zeitlich jeweils der Rettungs- bzw. Heilungsszene vorgeordnet. Seine Rede richtet sich ausschließlich an Tobias, mit den anderen Akteuren kommuniziert er nur indirekt bzw. gar nicht. In der Darstellung des Erzählers agiert der Engel/Asarja nur auf der verbalen Ebene (außer 8,3 und in Rages186) mit Tobias als dem einzigen Interaktionspartner. Dieser Befund korrespondiert mit der Beobachtung, dass der Engel/Asarja im Wahrnehmungshorizont der übrigen Figuren kaum von Bedeutung zu sein scheint. Tobit spricht über ihn in der Anfangsszene schlicht als ἄνθρωπος (5,17 GI) bzw. ἀδελφός (5,17 GII). In seiner Frage an seine Gäste in 7,3 nimmt Raguel den Engel/ Asarja nicht als einzelne Person wahr, sondern spricht die Ankömmlinge im Plural an. Edna, Sara und Hanna erwähnen den Engel/Asarja überhaupt nicht. Bemerkenswerterweise sieht Hanna bei der Ankunft des Engels/Asarjas und des Tobias in Ninive zunächst nur ihren Sohn, nicht aber auch seinen Begleiter (11,6: προσενόησεν αὐτὸν ἐρχόμενον). Dank der Erzählerstimme wissen die Lesenden, dass es sich bei dem Begleiter des Tobias um einen Engel (GI: 6,4.5.7.10.14.16; 8,3. GII: 6,2.4.5.7.) handelt. Nachdem es diesem in 6,11–18 gelungen ist, Tobias von seinen Plänen zu überzeugen, nennt ihn der Erzähler in GI durchgängig mit 186 Die Episode in Rages ist die einzige Passage, in der der Engel/Asarja handelt und mit einer anderen Person außer Tobias kommuniziert.

170

Analyse der Erzählteile

seinem Namen Raphael (GI: 7,9b; 8,2; 9,1.5; 11,2.7). Eine Ausnahme bildet 8,3c in GI, wo der Erzähler ihn als das Subjekt der nichtmenschlichen Handlung wieder als Engel bezeichnet. GII spricht vom Engel als Raphael schon in den Redeeinleitungen in 6,11.14 (GII: 7,9b; 8,2.3; 9,1.5; 11,2.7). Die Figuren in der erzählten Welt sehen in dem Engel, soweit sie ihm begegnen, nur eine menschliche Gestalt. Tobias spricht ihn durchgehend mit Ἄζαρια ἄδελφε (GI und GII: 6,7.14; 7,9b; 9,2. GII: 7,1) an, er hat keinen Grund, an der menschlichen Natur seines Begleiters zu zweifeln.187 Tobias In der gesamten Binnenerzählung äußert sich Tobias in zwölf Redeteilen. Er spricht während der Reise (6,7.14), in Ekbatana (7,1.3–5c.9b.11c; 8,5–7; 9,1; 10,7b.9) und in Ninive (11,9.15). In der Episode der Rückreise nach Ninive erfahren die Lesenden nichts über eine Rede von ihm. Bis auf das Gebet in 8,5–7 zeichnet sich sein Sprechen durch Kürze und Prägnanz aus. Seine knappen Äußerungen, die sich außer 11,15 direkt an seine Gesprächspartner richten, wirken klärend (6,7) und führen zu entscheidenden Wendungen in den Dialogen (6,14; 7,5c; 11c). Sein Verhältnis zum Engel/Asarja ist nicht einseitig von dessen Autorität bestimmt, sondern Tobias fordert mit seinen Worten auch den Engel/ Asarja zu Handlungen auf (7,9b; 9,1). Dass dieser den Rollentausch akzeptiert, kann als ein Ausdruck der Souveränität des Begleiters verstanden werden. In der Begrüßungsszene in Ekbatana (7,3–5b) bilden die gemeinsamen Antworten des Engels/Asarjas und des Tobias auf die Fragen Raguels einen effektvollen Hintergrund für die explizit nur von Tobias vorgebrachte Äußerung in 7,5c, die die entscheidende Information für den Fortgang der Handlung liefert. Nicht nur die Worte des Engels/Asarjas, sondern auch die des Tobias haben eine handlungsbestimmende Funktion. Seine Dialogpartner sind der Engel/Asarja und Raguel. Wie die obigen Textanalysen zeigen, gelingt es Tobias in beiden Gesprächen durch seinen verbalen Einwand seine Interessen zu formulieren und durchzusetzen. Ein weiterer Adressat der direkten Anrede des Tobias ist Tobit (11,9), dem er ein Trostwort zuspricht. Die Gesprächspartner in den »contrastive-dialogues« (6,10–18; 7,10–11) sind der Engel/Asarja und Raguel. Beide Dialoge sind davon geprägt, dass die eine Seite (Engel/Asarja, Raguel) das eigentliche Verhandlungsproblem (Gefahr durch den Dämon) stillschweigend zu übergehen versucht und auf die Unwissenheit der anderen Seite (Tobias) setzt. Tobias jedoch widersetzt sich dieser Gesprächsstrategie, indem er Gegenargumente formuliert. Es gelingt ihm, die Konflikte zu seinen Gunsten zu klären. Die übrigen verbalen Interaktionen des 187 »The ambiguity of Raphael’s identity contributes to the rich irony of the book of Tobit […]. The audience knows who he is, but the characters do not.« I. Nowell, Work 233.

Analyse 5,17b–11,19: Heilung Saras und Tobits

171

Tobias mit den anderen Akteuren tragen nicht diesen spannungsvollen Charakter. Sie beschränken sich auf jeweils eine direkte Anrede Saras (8,4) und Tobits (11,11), aus denen sich jedoch kein Dialog entwickelt. In GI spricht Tobias Edna gar nicht an, während er in GII gemeinsam mit dem Engel/Asarja ihre Begrüßungsfragen beantwortet (7,3–5). In beiden Textversionen erfolgt kein verbaler Austausch zwischen Tobias und Hanna. Die anfängliche Unterschätzung des Tobias als ernstzunehmenden Gesprächspartner spiegelt sich semantisch in den Äußerungen der Erzählerstimme. In den ersten drei Erzählabschnitten (5,17b–22; 6,1–9; 6,10–18) spricht der Erzähler in Bezug auf Tobias ausschließlich von τὸ παιδίον (GI: 5,17c; 6,3.4.6.7.10.14 außer 5,17a. GII: 6,2.3.4.6.7.10). Nach dem (GI: 6,18) bzw. während (GII: 6,14) des Konfliktgespräch mit dem Engel/Asarja verwendet er den Namen des Tobias, um diesen Duktus bis zum Ende der Binnenerzählung beizubehalten. Der Engel/ Asarja und Raguel sprechen in ihren Reden Tobias nur einmal direkt an, der Engel/Asarja wendet sich mit ἀδελφός (GI:6,10; 11,2) bzw. Τωβια ἀδελφός (GII: 6,10) an Tobias, Raguel verwendet den Ausdruck Ὁ τοῦ καλοῦ καὶ ἀγαθοῦ ἀνθρώπου·(GI: 7,7) und παιδίον, ὁ τοῦ καλοῦ καὶ ἀγαθοῦ πατρός·(GII: 7,6). In seiner Seitenbemerkung zu Edna (7,2) verweist er auf die physische Ähnlichkeit zwischen Tobias und seinem Vetter Tobit. In den Reden Hannas über Tobias findet sich der Terminus παιδίον (5,18.19; 10,4.7) häufiger als die Bezeichnung τέκνον (10,5), während Tobit erst am Ende der Binnenerzählung nach seiner Heilung in der Rede über seinen Sohn anstatt wie bisher in der dritten Person Singular nun dessen Namen verwendet Τωβιαν τὸν υἱόν μου (11,15). Die Anrede Ednas überrascht durch die Emotionalität, die ihr Haltung Tobias gegenüber prägt, sie spricht ihn mit Ἄδελφε ἀγαπητέ (GI: 10,12) bzw. Τέκνον καὶ ἄδελφε ἠγαπημένε (GII: 10,12). Der Text macht keine Aussagen darüber, ob und wie Sara Tobias anspricht geschweige denn wie sie ihn wahrnimmt. In seinen Reden zeigt Tobias seine Präsenz an allen Orten der erzählten Welt. Er spricht auf dem Weg zwischen Ninive und Ekabatna, in Ekabanta und in Ninive. Die markanteste Profilierung erfährt seine Figur in der Auseinandersetzung mit dem Engel/Asarja und Raguel. Hier erweist er sich als selbstbewusster Charakter, der sich von den ausweichenden Argumentationsweisen seiner Opponenten nicht täuschen lässt. In der Auseinandersetzung mit dem Engel/Asarja offenbart er sein Wissen um die Gefahr durch den Dämon und eröffnet damit dem Engel/Asarja die Möglichkeit, die Strategie der Scheinargumente aufzugeben und sich mit dem eigentlichen Problem zu befassen. Raguel hingegen lässt er in dem Glauben, dass er ahnungslos sei, und mutet ihm auf diese Weise die Last zu, eine lebensbedrohliche Entscheidung treffen zu müssen. Dieses Gesprächsverhalten könnte als seine Antwort auf das Taktieren Raguels gedeutet werden. Wie die obige Analyse deutlich macht, ist Tobias nicht nur räumlich an allen wichtigen Orten anwesend, sondern er ist auch in kommuni-

172

Analyse der Erzählteile

kativer Hinsicht mit allen Akteuren des Ensembles verbunden entweder im Dialog oder als Subjekt bzw. Objekt einer Anrede. Zwar berichtet der Erzähler von keinem verbalen Kontakt zwischen Tobias und seiner Mutter, aber da das Wohlergehen ihres Sohnes das ausschließliche Thema ihrer Reden bildet, besteht auch hier eine Verbindung. Raguel Raguels Auftritt beschränkt sich auf die Szenen, die in seinem Haus in Ekbatana spielen. In diesen Erzähleinheiten ist er jedoch derjenige, der über die meisten Redeanteile verfügt. Raguel spricht während der Begrüßung (7,2–7a), des Begrüßungsessens (7,10–15), nach der Hochzeitsnacht (8,11–17), während der Hochzeitsfeier (8,20–21) und in der Abschiedsszene (10,8–12). Der Erzähler präsentiert seine Reden in den zentralen Phasen der Erzählchronologie, in denen durchaus das Vernehmen anderer Figurenstimmen vorstellbar wäre. Da es in der Episode in Ekbatana um die Brautwerbung und Hochzeit mit Sara geht, könnte eine andere mögliche Erzählversion die Äußerungen Saras stärker in die Gestaltung der Begrüßungsszene, der Szene nach der Hochzeitsnacht oder in der Abschiedssequenz integrieren.188 Stattdessen bleibt sie stumm und der Text gibt Raum für das verbale Agieren ihres Vaters. Die obigen Einzelanalysen der Reden Raguels ergeben einen ambivalenten Eindruck dieser Figur: Auf der einen Seite präsentiert sich Raguel als ein engagierter und sorgender Vater, der Interesse an anderen Menschen zeigt und sich über eine mögliche Heirat seiner Tochter freut (7,2–7a). Die folgenden Reden jedoch offenbaren seine Unzuverlässigkeit in Situationen, die ihn vor ein Dilemma stellen und zu überfordern scheinen (7,10– 15). Dass nach der entscheidenden Hochzeitsnacht Raguels Sorge dem Gerede der Nachbarn gilt (8,10.11), wirkt angesichts Dramatik des Geschehens lächerlich und kleingläubig.189 Sein Gebet in 8,15–17 zeigt dann, wie flexibel er auf eine neue Situation zu reagieren vermag. Nachdem sich die Ereignisse in seinem Sinne entwickelt haben, wird Raguel in seinem Sprechen zurückhaltender: In der indirekten Rede erläutert er seine Vorstellung über die Klärung der Besitzverhältnisse (8,20–21) und in der Abschiedsszene (10,8–12) lässt er sich ohne Umstände von Tobias davon überzeugen, diesen gehen zu lassen. Seine letzten Worte in der Binnenerzählung richtet er zum ersten und einzigen Mal an seine Tochter 188 Vgl. die Rolle Rebekkas in Gen 24, 15–61. Zur biblischen Darstellung der Brautwerbung als »Type-Scene«, vgl. R. Alter, Art 75, »[…] we may begin to see that the resurgence of certain pronounced patterns at certain narrative junctions was conventionally anticipated, even counted on, and that against that ground of anticipation the biblical authors set words, motifs, themes, personages, and actions into an elaborate dance of significant innovation.« 189 »In the midst of this culminating event in the Sara-Tobias sage, the frazzled Raguel bustles about to avoid becoming a laughingstock to his neighbors. There can be little doubt that this episode was crafted with a delicious sense of humor.«, E.S. Gruen, Diaspora 155.

Analyse 5,17b–11,19: Heilung Saras und Tobits

173

mit dem Appell, die Schwiegereltern zu ehren. Die formale Präsentation der Reden im Erzählverlauf ergänzt das Bild Raguels um folgende, weitere Aspekte. Die Quantität der Redeanteile vermittelt den Eindruck der Dominaz Raguels, mit seinem Sprechen beherrscht er die Szene und lässt kaum Raum für die Stimmen anderer. Seine Selbstbezogenheit bildet sich ab in den kommunikativen Konstellationen, in denen er eingebunden ist: Tobias ist die einzige Figur, mit der Raguel in eine verbale Beziehung tritt, nur mit ihm entwickelt sich ein Dialog. Edna (7,2.15), Sara (10,12), (GII: Knechte 8,10) spricht Raguel zwar an, jedoch bekommt er von ihnen keine Antwort. Außerdem berichtet der Erzähler von keiner direkten Anrede Raguels durch eine andere Figur. Der Engel/Asarja erscheint in den gemeinsamen Antworten mit Tobias (7,3–5a) nur als ein indirekter Gesprächspartner. Die fehlende Einbindung in ein kommunikatives Netz wird deutlich in der Beobachtung, dass mit Ausnahme des Engels/Asarjas (6,11. GII: 12) niemand über ihn spricht. Edna Der Erzähler gibt Edna, der Ehefrau Raguels, zwei (GI) bzw. drei (GII) Gelegenheiten, das Wort zu ergreifen. Bevor sie jedoch als Sprechende auftritt, erwähnt sie der Erzähler zuerst in der Rolle der Angesprochenen (7,2). Raguel wendet sich an sie mit dem Hinweis auf die Familienähnlichkeit zwischen Tobias und seinem Vetter Tobit, den Edna aber nicht beantwortet. In GII ergreift sie dann die Initiative für das Begrüßungsgespräch mit den Gästen und stellt die Fragen in Blick auf deren Herkunft und den Vetter Tobit (7,3–5). Wie oben schon erläutert wurde, übernimmt diese Aufgabe der Begrüßung in GI nicht Edna, sondern Raguel. Nach dieser Episode entsprechen die beiden Textversionen in der Darstellung Ednas wieder einander und lassen in 7,15 Raguel erneut seine Frau ansprechen. Hier handelt es sich um eine Handlungsaufforderung, die Edna befolgt, um dann ihre Worte nicht an ihn, sondern an ihre Tochter Sara zu richten. In dieser in GI ersten, in GII zweiten direkten Rede tröstet sie Sara angesichts der drohenden Gefahr mit der doppelten Aufforderung θάρσει, die ihre kurze Rede in 7,17 rahmt. Mit demselben Imperativ begrüßt Tobias nach seiner Rückkehr in Ninive seinen Vater Tobit (11,11).190 Ihr nächste und letzte Rede (10,12) richtet sich an Tobias. Die Anrede Ἄδελφε ἀγαπητέ (GI) bzw. Τέκνον καὶ ἄδελφε ἠγαπημένε (GII) verleiht ihren Abschiedsworten eine Emotionalität, die auf eine enge Bindung zu Tobias schließen lässt. Die direkten Reden Ednas sind damit an zentralen Passagen in dem Erzählverlauf, der über den Aufenthalt in Ekbatana berichtet, platziert: während der Begrüßung (GII), vor der Vertreibungsszene und am Ende bei der Verabschiedung. Edna ist eingebunden in das kommunikative Netz aller Anwesenden, 190 Vgl. die Begrüßungsworte des Engels/Asarjas in 5,10 (GII).

174

Analyse der Erzählteile

indem sie zum einen die Adressatin der Rede Raguels ist und zum anderen selbst Tobias (und indirekt den Engel/Asarja in GII) und Sara direkt anspricht. Ihre Worte sind geprägt von Empathie und positiver Zuwendung, die zu einer möglichen Identifikation durch die Lesenden einladen. Sara Obwohl die Heirat von Tobias und Sara als das ausdrückliche Ziel der Reise genannt wird (6,12.13b.16c), zeigt die Figur Saras die geringste Präsenz in der gesamten Binnenerzählung. Entweder lässt der Erzähler sie im Hintergrund agieren (7,1–9a), gibt ihr die Rolle des Objekts einer Handlung (7,12) oder setzt ihre Gegenwart beiläufig voraus (8,4–9; 11,16). Die zweimalige Erwähnung ihres Weinens (7,8; 7,16) gewährt einen Einblick in ihr Gefühlsleben, während dann aber erstaunlicherweise von ihrer emotionalen Reaktion nach der Hochzeitsnacht nichts berichtet wird. Der sich aufdrängende Eindruck der Bedeutungslosigkeit, die der Erzähler dieser Figur offensichtlich beizumessen scheint, spiegelt sich im geringen Anteil ihrer wörtlichen Rede. Er besteht aus einem einzigen Wort, das sie während der Hochzeitsnacht nicht einmal eigenständig, sondern gemeinsam mit Tobias spricht: Ἄμην (8,8). In den Situationen, die für Sara von existentieller Bedeutung sind (Brautübergabe, Gang in die Kammer am Vorabend der Hochzeitsnacht, Reaktion auf überstandene Hochzeitsnacht, Ankunft in Ninive) gewährt ihr der Erzähler keine Gelegenheit, selbst zu Wort zu kommen.191 Dennoch ist Sara eingebunden im verbalen Austausch mit den anderen Akteuren. Tobias ist zwar ihr einziger Gesprächspartner, aber alle übrigen Figuren sprechen sie direkt an (Edna: 7,17; Tobias: 8,4; Raguel: 10,12; indirekt der Engel/ Asarja: GI 7,1). Die Anrede an Sara bzw. die Rede über Sara geschieht in unterschiedlichen Formulierungen. Edna spricht Sara mit τέκνον und θύγατερ (7,17) an, in den Äußerungen über sie verwendet sie den Ausdruck ἐκ Σαρρας τῆς θυγατρός. In der Rede Raguels erscheint Sara als τὸ παιδίον μου (GI:7,10.11), Σαρραν τὴν θυγατέρα (GII 7,10), ἀδελφή (GII: 7,11), τῆς θυγατρός μου (GII 8,20). In seinem Appell an sie in 10,12 erfolgt keine namentliche Anrede. Tobias spricht von Sara als dem κοράσιον (GI: 6,14), Σαρραν τὴν ἀδελφήν μου (GII 7,10), Ἀδελφή (8,4.7). Die Forderung des Tobias in 7,11 ist die einzige Rede über Sara, in der ausschließlich nur ihr Name ohne Rollenbeschreibung verwendet wird. Aus der Rede des Engels/Asarjas erfahren die Lesenden zum ersten Mal vom Namen der Tochter Raguels (6,11). Er spricht von ihr als von dem κοράσιον (6,12) und beschreibt sie als schönes, verständiges und tüchtiges Mädchen. Inwieweit diese positiven Zuschreibungen tatsächlich zutreffen oder eher der Überredung des 191 Das erzählerische Desinteresse an Sara kontrastiert mit der ausführlichen Darstellung ihrer Lebenssituation und der Präsentation ihrer vergleichsweisen langen Rede in 3,7–15.

Analyse 5,17b–11,19: Heilung Saras und Tobits

175

Tobias dienen, kann nicht geklärt werden. Während des Gespräches auf der Reise zurück nach Ninive bezeichnet der Engel/Asarja Sara als τῆς γυναικός σου (11,3). Die fehlende Wahrnehmung Saras als einer eigenständigen Person schlägt sich in den Benennungen nieder, mit denen die anderen zu ihr bzw. über sie sprechen. Nur an einer einzigen Stelle steht ihr Name für sich (7,11), ansonsten erscheint er nur in der Kombination mit einer Rollenzuweisung im Familienzusammenhang oder die Rollenbezeichnung erfolgt ohne ihn. Ihrer Funktion im Familiengefüge wird mehr Bedeutung beigemessen als der Ausgestaltung ihrer Persönlichkeit. Dieser erzählerische Umgang mit ihr macht sie zur blassesten Figur der Binnenerzählung. Tobit Die Lesenden vernehmen die Stimme Tobits in fünf kurzen Redesequenzen, von denen der Erzähler zwei an den Anfang (5,17b; 5,21–22) und eine an das Ende der Binnenerzählung (11,17) platziert. Die ersten drei Reden (5,17b; 5,21–22; 10,2.6) spricht er als blinder Mann, während die beiden letzten (11,14–15; 11,17) Redeeinheiten nach seiner Heilung zitiert werden. Indem Tobit als der erste und der letzte Sprecher auftritt, rahmen seine Reden die Erzählung. Diese Positionierung verleiht ihnen eine besondere Funktion: In 5,17 wirkt die Rede handlungsinitiativ, da sie mit ihrer Aufforderung an Tobias das Reiseunternehmen in Gang setzt, in dessen Verlauf es zu den entscheidenden Ereignissen kommt. Es liegt nahe, die Schlussworte Tobits in 11,17 als ein mögliches Fazit zu verstehen, das aus der Erzählung gezogen werden könnte. Inwieweit ein solches Verständnis sinnvoll erscheint, werden die weiter unten folgenden Überlegungen zur Deutung der Binnenerzählung zeigen. Tobits Gesprächspartner sind Tobias, Hanna und Sara. Er spricht zwar über den Engel/Asarja, dessen wahre Identität er nicht kennt, redet ihn aber nicht direkt an. Eine mögliche verbale Antwort des Tobias und der Sara wird nicht erzählt, d. h. diese Gespräche bleiben einseitig auf die Rede Tobits beschränkt. Seine Dialoge mit Hanna unterscheiden sich von den anderen »contrastivedialogues« zwischen Tobias und dem Engel/Asarja bzw. Raguel darin, dass sie zweimal präsentiert werden und keine handlungsbestimmende Funktion haben. Sie dienen ausschließlich der Charakterisierung der beiden Sprecher.192 Wie die Textanalysen von 5,18–22 und 10,1–7a) deutlich machen, zeichnet der Erzähler ein eher ambivalentes Bild Tobits. Im ersten Gespräch geht er nicht auf die 192 »[…]: neben den Handlungen mit einer Funktion innerhalb der Ereignislogik gibt es auch Erzähleinheiten, deren Funktion es ist, Auskünfte und Hinweise über Personen und Situationen zu geben. So weisen etwa Beschreibungen von Zuständen, Stimmungen oder Verhältnissen zumeist auf den Charakter oder die Gefühlslage von Personen hin. Diese Hinweise nennt Barthes mit einem zeichentheoretischen Begriff Indizien (indices).«, R. Schardt, Verfahren 53.

176

Analyse der Erzählteile

Anfrage und Bedenken seiner Ehefrau ein, sondern weist sie als unbegründet zurück (5,21: Μὴ λόγον ἔχε). Stattdessen setzt er sein Vertrauen in die Begleitung eines guten Engels, der für eine sichere Rückkehr sorgen soll. Die Ironie besteht darin, dass der erwünschte Engel in der Gestalt des Begleiters schon vor Tobit steht, er es aber nicht bemerkt. Die lange Abwesenheit der Reisenden erschöpft Tobits Zuversicht (10,2) und seine Sorge um das Geld offenbart sein weiteres Interesse. Den Ängsten Hannas zum Trotz insistiert er auf das Wohlergehen seines Sohnes (10,6), die unterschiedlichen Formen des Verbs ὑγιαίνω dominieren seine Reden und verleihen ihr einen fast beschwörenden Charakter. Nach seiner Heilung spricht Tobit ein kurzes Gebet (11,14–15), in dem er Gott, dessen Namen und die Engel für Gottes Eingreifen in sein Schicksal preist. Gottes Intervention beschreibt Tobit mit dem Verbpaar μαστιγόω/ἐλεέω,193 wobei sich an dieser Stelle für die Lesenden nicht erschließt, worin der Anlass der Züchtigung Tobits bestehen mag. Die Folge des Erbarmens Gottes realisiert sich in einem Akt der Wahrnehmung: Tobit kann nun seinen Sohn sehen (ἰδοὺ βλέπω Τωβιαν τὸν υἱόν μου). In seinen Begrüßungsworten an Sara verwendet Tobit ebenfalls eine Form des Terminus ὑγιαίνω (Partizip ὑγιαίνουσα). Hier steht das Verb nicht für das Wohlbefinden des Tobias, sondern bezieht sich auf den Prozess des Ankommens (GI: ἔρχομαι, GII: εἰσέρχομαι) Saras in ihrer neuen Umgebung. Ihr Hinzukommen gibt Anlass zum Preisen Gottes (εὐλογητὸς ὁ θεός, ὃς ἤγαγέν σε πρὸς ἡμᾶς). Tobit spricht Sara nicht mit ihrem Namen, sondern in ihrer Rolle als Tochter an. Auch ihre Eltern werden als Vater und Mutter erwähnt und nicht namentlich genannt. Der Grund für die Freude Tobits besteht in der Erweiterung der Kernfamilie zu einer größeren Gemeinschaft, unabhängig von der Identität der neuen Familienmitglieder. Dieser Befund steht in einer Spannung zu der Aussage des Engels/Asarjas in 6,16, wo dieser Tobias an das Endogamie-Gebot seines Vaters erinnert. Entweder täuscht der Engel/Asarja diese angebliche Forderung Tobits aus überzeugungstechnischen Gründen vor oder Tobit misst ihr aufgrund der vorangegangenen Ereignisse keine große Bedeutung mehr bei. Nicht nur der Engel/Asarja, auch Raguel spricht über Tobit, seine Person bildet das Thema des Begrüßungsdialogs in Ekbatana (7,2.3.5.7). Raguel bezeichnet Tobit als seinen Vetter (GI: ἀνεψιός) bzw. seinen Bruder (GII: ἀδελφός) und spielt auf die äußerliche Ähnlichkeit zwischen Tobit und dessen Sohn an. Daraus ist zu entnehmen, dass Raguel seinen Verwandten Tobit persönlich zu kennen scheint. Seine Frage nach dessen Wohlbefinden zeugt von einem vertieften Interesse an ihm. Raguel hat eine hohe Meinung von Tobit, denn er schätzt ihn als einen guten und edlen Menschen (GI: Ὁ τοῦ καλοῦ καὶ ἀγαθοῦ ἀνθρώπου, GII: ὁ τοῦ καλοῦ καὶ ἀγαθοῦ πατρός, ἀνὴρ δίκαιος καὶ ποιῶν ἐλεημοσύνας). Der 193 Vgl. 13,2.6.

Analyse 5,17b–11,19: Heilung Saras und Tobits

177

relativ ausgiebige Austausch über die Person Tobits und seines Wohlbefindens während der Begrüßungsszene verleiht dieser Figur erzähltechnisch eine Präsenz in Ekbatana, obwohl er physisch nicht anwesend ist. Sie steht für eine Beziehung zwischen Tobit und Raguel, die neben der Heirat zwischen Tobias und Sara eine Verbindungsachse zwischen den beiden Familien herstellt. Hanna Hanna spricht ausschließlich im innerfamiliären Kontext, d. h. ihre direkten Gesprächspartner sind nur Tobit (5,18–20; 10,4.5.7; 11,6) und Tobias (11,9). Trotz der beiden Gespräche mit Tobit findet kein wirklicher Austausch zwischen dem Ehepaar statt. Auf ihre Sorge um ihren Sohn und auf ihre unterschwellige Kritik an dem Vorhaben Tobits, wegen des Erwerbes des Silbers Tobias dem Risiko einer weiten Reise auszusetzten, geht Tobit in seiner Antwort nicht ein (5,18–20). Hannas Bedenken, die für die Lesenden nachvollziehbar sind, bilden einen starken Kontrast zu dem Vertrauen, mit dem Tobit seinen Sohn in die Fremde schickt. Diese Spannung zwischen den beiden, die sich in den unterschiedlichen Einschätzungen der Situation spiegelt, setzt sich im folgenden Dialog (10,4.5.7) fort. Während Hanna deutlich ihre Ängste artikuliert, besteht Tobit mit Vehemenz auf die gesunde Rückkehr des Sohnes. Die Emotionalität, die die Reden Hannas prägt, schlägt angesichts der anstehenden Ankunft des Tobias in Ninive in einen förmlichen, distanzierten Sprachstil um (11,6: Ἰδοὺ ὁ υἱός σου ἔρχεται). In der Ankündigung seines Kommens spricht sie von Tobias als ὁ υἱός σου und betont damit die besondere Beziehung zwischen Vater und Sohn. In ihren vorgehenden Äußerungen jedoch bezeichnet sie Tobias entweder als τὸ παιδίον μου oder τὸ παιδίον ἡμῶν. Durch das sprachliche Ausblenden der Mutter-Kind-Relation in der entscheidenden Information an Tobit übernimmt sie seine Perspektive und verweist damit die Bedeutung, die dieses Ereignis für ihn hat. In den ersten Begrüßungsworten, die interessanterweise der Erzähler Hanna und nicht Tobit sprechen lässt, verwendet sie wieder in der vertrauten Redeweise die Anrede παιδίον (11,9). In den Reden Hannas und Tobits wird ihre Figur mit dem Wortfeld »sehen« in Verbindung gebracht (5,22: οἱ ὀφθαλμοί σου ὄψονται, 10,5: τὸ φῶς τῶν ὀφθαλμῶν μου, 11,9: εἶδόν σε). Diese Zuordnung verstärkt auf der semantischen Ebene die Gegensätzlichkeit zwischen der sehenden Hanna und dem blinden Tobit, dessen gestörte Sehkraft außer in 7,7 nirgends thematisiert wird. Die Plausibilität ihrer Sorgen, die Emotionalität ihrer Äußerungen und die Fähigkeit zu einem Perspektivenwechsel verleihen der Figur Hannas eine überzeugende Authentizität, die wie Edna den Lesenden eine Identifikationsmöglichkeit bietet.

178

Analyse der Erzählteile

Gott Gott tritt zwar nicht als Sprecher in der Binnenerzählung auf, wird aber u. a. als Adressat der Gebete des Raguel, Tobias und Tobit direkt angesprochen. Die an ihn gerichteten Reden vermitteln einen Eindruck der Gottesvorstellung der Betenden und dienen damit sowohl der Charakterisierung der jeweiligen Figur als auch der Gottheit selbst. Im Folgenden sollen die Reden an und über Gott der jeweils einzelnen Akteure im Einzelnen analysiert und auf den Aspekt der Charakterisierung ausgewertet werden. Tobit thematisiert Gott in seinen Reden an drei Stellen (5,17; 11,14; 11,17). In der Abschiedsszene zu Beginn der Binnenerzählung artikuliert er sein Vertrauen, dass Gott den Weg seines Sohnes gelingen lassen möge. In seiner Vorstellung wohnt Gott im Himmel (ὁ δὲ ἐν τῷ οὐρανῷ οἰκῶν θεὸς), wo ihm ein Engel zur Verfügung steht (5,17). Nach seiner Heilung preist Tobit Gott (ὁ θεός), dessen Namen und heilige Engel (11,13). Während in 5,17 das Vertrauen in das Wohlwollen Gottes im Vordergrund steht, erscheint in 11,14 der Aspekt des Züchtigens als eine mögliche Handlungsoption Gottes. Diese Strenge findet jedoch nach den Worten Tobits einen Ausgleich im Erbarmen Gottes. Die Begegnung mit Sara bietet einen weiteren Anlass für ein Preisen Gottes, Tobit dankt Gott für die Zusammenführung der beiden Familien (11,17). Insgesamt sind die Äußerungen Tobits über Gott in ihrer Knappheit von einer positiven, vertrauensvollen Haltung geprägt. Seine Gebete haben die Funktion des Preisens, das als Ausdruck des Dankes für eine positive Wendung des Schicksals zu verstehen ist. Interessanterweise wendet sich Tobit in der Krisensituation des Wartens nicht mit einer Bitte an Gott. Hier vetraut er auf das Wohlergehen seines Sohnes (GI: 10,6) bzw. verlässt sich auf die Zuverlässigkeit des Begleiters (GII: 10,6). Eine ähnliche Gebetshaltung lässt sich auch bei Raguel erkennen. Er spricht in drei Erzählepisoden über Gott (7,11.12; 8,16.17; 10,11). Vor der Brautübergabe äußert er den allgemeinen Wunsch, dass der barmherzige Gott (GI: ὁ δὲ ἐλεήμων θεὸς) bzw. der Herr des Himmels dem Paar Gelingen (GII: ὁ κύριος τοῦ οὐρανοῦ) schenke. Die Nachricht der Magd über die schlafenden Brautleute veranlasst Raguel zu einem überschwänglichen Dankgebet, in dem er Gott zweimal für dessen Barmherzigkeit dankt und diese zweimal für Sara und Tobias erbittet. Auffallend ist hier die Gottesanrede (δέσποτα), die nur Raguel an dieser einzigen Stelle verwendet. In seinen Abschiedsworten in 10,17 wünscht Raguel den Reisenden das Gelingen des Gottes des Himmels. Wie Tobit vertraut Raguel auf die positive Wendung der Ereignisse und verzichtet in der Situation der Krise (vor und während der Hochzeitsnacht) auf ein Bittgebet. Während Tobit in seinen Rede Gott keine Eigenschaft zuschreibt, betont Raguel dessen Barmherzigkeit, über die dieser verfügt und die er den Menschen gewähren kann. Edna spricht nur zweimal über Gott (7,17; 10,10) und wendet sich im Gegensatz zu Tobit und Raguel im Moment der Sorge an Gott. Als sie Sara am

Analyse 5,17b–11,19: Heilung Saras und Tobits

179

Vorabend der Hochzeitsnacht in die Kammer führt, wünscht sie ihrer Tochter, dass der Herr des Himmels (ὁ κύριος τοῦ οὐρανοῦ) ihr Freude statt Trauer gebe. Mit dieser Alternative spricht sie die Not ihrer Tochter konkret an. In ihren Abschiedsworten an Tobias appelliert sie indirekt an Herrn des Himmels, dem Paar eine sichere Rückkehr und Kinder zu schenken. Von Tobias wird nur in einer einzigen Situation berichtet, dass er sich an Gott wendet. Während der Hochzeitsnacht, als er sich noch der Bedrohung durch den Dämon ausgesetzt wähnt, spricht er entsprechend der Anweisung des Engels/ Asarjas ein Gebet (8,4–7). Er bittet um die Barmherzigkeit Gottes und preist neben dem Namen Gottes diesen als den Gott der Väter (ὁ θεὸς τῶν πατέρων ἡμῶν). Dieses Gebet dient nicht nur der positiven Beziehungsaufnahme zur Gottheit, sondern der Legitimierung der eigenen Handlung. Diese zusätzliche Funktion macht dieses Gebet zu der persönlichsten Rede an Gott verglichen mit den Gebeten der andern Akteure, die in ihrem Preisen und Danken eher allgemein gehalten sind. Auffallenderweise spricht Tobias nach der erfolgreichen Rettung und der Heilung seines Vaters kein Dankgebet. Der Engel/Asarja betet nicht in der Binnenerzählung, aber auch er äußert sich einmal in seiner Rede an Tobias auf dem Weg nach Ekbatana (6,18) über Gott. In GI beschreibt er Gott als barmherzig (πρὸς τὸν ἐλεήμονα θεόν) und ist zuversichtlich, dass Gott sich Sara und Tobias gegenüber barmherzig erweisen werde. GII lässt den Engel/Asarja vom Herrn des Himmels (τοῦ κυρίου τοῦ οὐρανοῦ) sprechen, der Gnade und Hilfe kommen lassen möge. Außer Hanna und Sara sprechen alle Akteure entweder direkt oder indirekt die Gottheit an. Sie richten sich im gesprochenen Wort an Gott ohne kultische Vermittlung. Der Text macht keine Angaben zu einem Tempel, einer Synagoge oder Priesterschaft. Ihre Reden zeichnen ein positives Gottesbild, bei dem der Aspekt der Barmherzigkeit hervorgehoben ist. Das Handeln Gottes bietet Anlass zum Preisen, wobei nicht nur die Gottheit, sondern auch ihr Name gepriesen wird. In der Vorstellungswelt der Akteure ist die Gegenwart der Gottheit im Himmel zu verorten, wo es auch Engel gibt. Obwohl alle Figuren dem wohlwollenden Handeln Gottes zu vertrauen scheinen, vermittelt ein näherer Blick auf die einzelnen Gebetssituationen einen differenzierten Eindruck. Edna und besonders Tobias wenden sich an Gott in einer Situation von existentieller Bedrohung. Sie ahnen nichts vom positiven Ausgang der Hochzeitsnacht. Anstatt jedoch zu verzweifeln appellieren sie an Gottes Hilfe. Der Unterschied im Gebetsverhalten zwischen Tobias und Edna besteht darin, dass Edna offenbar von sich aus die Trostworte spricht, während Tobias aufgrund der Veranlassung des Engels/Asarjas sich zu dem Gebet entschließt. Tobit und Raguel hingegen sind die beiden einzigen Figuren, deren Dank-, Preisgebete der Erzähler übermittelt. Trotz der pauschal formulierten Appelle, dass Gott Gelingen schenken möge, wird deutlich, dass Tobit und Raguel

180

Analyse der Erzählteile

sich in den Momenten der Unsicherheit und des Zweifels nicht mit einem Bittgebet an Gott wenden. Erst die glückliche Überwindung der Krise deuten sie im Kontext einer möglichen positiven Intervention Gottes. Die Analyse der Verortung der einzelnen Reden im Erzählverlauf, ihrer Häufigkeit und ihrer Länge gibt Aufschluss über die Präsenz, die der Erzähler der jeweiligen Figur auf der erzählerischen Bühne zugesteht. Es wird deutlich, dass die Quantität der jeweiligen Redeanteile in keinem Verhältnis zur Bedeutung der entsprechenden Figur für den Handlungsablauf steht. Der Engel/Asarja und Tobias, die in der Logik der Plotstruktur die Hauptakteure darstellen, treten in der Episode in Ekbatana verbal fast völlig in den Hintergrund. Sara, die als zukünftige Braut eine wichtige Rolle im Plot spielt, spricht fast gar nicht. Stattdessen erhalten die Figuren, die nur in Nebenrollen auftreten, die meisten Sprechgelegenheiten. Die ausgiebigen Reden des Raguel, die Äußerungen Ednas und die Wortwechsel zwischen Hanna und Tobit dienen einerseits der Charakterisierung dieser Figuren, andererseits lenkt ihr Auftreten im Vordergrund der erzählerischen Bühne vom eigentlichen Geschehen ab, das gemäß dem Plot im Befolgen der Anweisungen des Engels/Asarjas durch Tobias besteht, wodurch sich dann die Rettung/Heilung ereignet. Sowohl dieser Zusammenhang als auch die Rettungs- bzw. Heilungshandlungen an sich bilden keinen Gegenstand der Kommunikation der Nebenfiguren, stattdessen thematisieren diese die (möglichen) Folgen der Hochzeitsnacht und Heilung in Äußerungen der Sorge (Raguel, Edna) und des Dankes (Raguel, Tobit). 3.11c Erzählintention Die Analyse der Plotstruktur und ihrer erzählerischen Gestaltung führt zu folgendem Ergebnis: Die Binnenerzählung 5,17b–11,19 bildet einen kohärenten Handlungszusammenhang, der ohne die ihn umgebenden Redeteile und erzählenden Teile als eine selbstständige Texteinheit gelesen werden kann. Gemäß der Plotstruktur übernehmen der Engel/Asarja und Tobias die Rollen der Hauptakteure, während Tobit und Sara als Nebenfiguren auftreten. Die übrigen Akteure Hanna, Raguel und Edna haben für den Plot keine Funktion. Die zentrale Handlung entfaltet der Plot in zwei aufeinanderfolgenden Sequenzen: Entsprechend den Anweisungen des Engels vertreibt Tobias zuerst den Dämon, anschließend heilt er die Blindheit seines Vaters. Der Handlungsbogen spannt sich auf zwischen einem Anfangs- und Endequilibrium, das sich durch die Bildung einer Gemeinschaft auszeichnet. In der Präsentation des Plots auf der narrativen Ebene nimmt der Erzähler eine bestimmte Gewichtung der Ereignisse vor. Indem er die Gesamtstruktur der Binnenerzählung so anlegt, dass die Dämonenvertreibung das Zentrum des konzentrischen Aufbaus bildet und die Blindenheilung im äußeren Rand ver-

Analyse 5,17b–11,19: Heilung Saras und Tobits

181

ortet, macht er sein Verständnis des Plots deutlich: In seiner Erzählversion steht die Bannung der Gefahr durch den Dämon im Mittelpunkt, die die Entstehung einer neuen Gemeinschaft ermöglicht. Die teleskopartige Engführung von Raum und Zeit auf die Szene in 8,1–9a hin und die anschließende Weitung der räumlichen und zeitlichen Dimensionen bestätigen den Befund. Für die konkrete Handlung spielt die Diasporasituation der erzählten Welt nur eine untergordnete Rolle. Die kammerspielmäßige Darstellung der Ereignisse wäre auch vor einem anderen Hintergrund als dem des assyrischen Großreiches des 8. Jh. v. Chr. denkbar. Neben der Erweiterung der Raum- und Zeitperspektive ist auch eine Öffnung des sozialen Kontextes wahrnehmbar. Die soziale Dynamik, die durch die Vertreibung des Dämons ausgelöst wird, realisiert sich in der zunehmenden Durchlässigkeit der engen Familiengrenzen durch das Auftreten weiterer Akteure (Magd, Knechte, Gabael). In seinen Worten 11,16–19 bezieht Tobit öffentlich Stellung zu den positiven Entwicklungen, die sein Schicksal genommen hat. Tobit dankt Gott dafür, dass dieser Sara herbeigeführt hat und damit für eine Erweiterung seiner Familie sorgt. Die Erweiterung des Kreises von Interaktionspartnern findet ihren Höhepunkt in 11,16–19, wo die Einwohner von Ninive und die jüdischen Glaubensbrüder Zeugen der Folgen der Rettungs- und Heilungstaten werden. Die bisherige Perspektive auf die Familien Tobits und Raguels, die die beiden Gruppen isoliert von ihrem konkreten Umfeld agieren lässt, wird hier aufgebrochen durch den Blick auf Tobits Einbettung in das soziale Umfeld der Stadt Ninive und das seiner Glaubensbrüder. Eine Besonderheit der erzählerischen Umsetzung der Plotstruktur besteht in der eigenwilligen Darstellung sowohl der Hauptakteure als auch der entscheidenden Ereignisse im Erzählverlauf. Durch ihre Reden beherrschen der Engel/ Asraja und Tobias die Szenen, in denen sich die beiden auf dem Weg nach Ekbatana bzw. Ninive befinden. In den Erzählpassagen, die in Ekbantana und Ninive spielen, ist ihr Auftreten jedoch von einer großen Zurückhaltung geprägt. Die Darstellung der Dämonenvertreibung und der Blindenheilung macht es ummöglich zu klären, ob außer Tobias und der Engel die anderen Akteure (Raguel, Edna, Sara, Tobit) eine Kenntnis der Vorgänge haben. Wie sein Gebet in 8,7 zeigt, scheint selbst Tobias im entscheidenden Moment den Dämon und dessen Flucht nicht wahrgenommen zu haben. Die nicht stattfindende Kommunikation der Figuren über die Akte der Vertreibung und der Heilung lässt vermuten, dass die Nebenfiguren ahnungslos sind. Auffallender Weise gibt der Erzähler weder Tobias noch den Adressaten der Heilshandlungen (Sara, Tobit) eine Gelegenheit, von dem Prozess der Vertreibung/Heilung zu erzählen. Umso ausführlicher berichtet der Erzähler von der Kenntnisnahme und Veröffentlichung der Wirkung der Heilstaten durch Raguel und Tobit. In den narrativen Episoden jedoch, die die Dämonenvertreibung und die Heilung rahmen, treten

182

Analyse der Erzählteile

der Engel/Asarja und Tobias in den Hintergrund und die Aufmerksamkeit der Lesenden wird auf das Agieren der Nebenfiguren gelenkt, die in dem Plotschema keine Rolle spielen. Die narrative Gestaltung des Plotschemas veranschaulicht in prägnanter Weise einen weiteren Aspekt des Agierens der Hauptakteure: Der Engel/Asarja spricht und Tobias setzt dessen Rede wortwörtlich in die Tat um. Die erfolgreiche Realisierung der Anweisungen des Engels/Asarjas gründet im Vertrauen des Tobias in die erwiesene Verlässlichkeit der Worte des Engels/Asarjas. Die Eindeutigkeit, mit der diese Interaktion zwischen den Hauptakteuren beschrieben wird, kontrastiert mit der Vagheit und den Unstimmigkeiten in der Darstellung der Rettungs- und Heilstaten. Der Aussageschwerpunkt der Erzählung scheint also weniger auf der Handlungsebene in der Präsentation der Dämonenvertreibung und der Blindenheilung zu liegen. Vielmehr zielt die Botschaft der Binnenerzählung auf die Zuverlässigkeit der Reden des Engels/Asarjas, auf die sich die Adressaten seiner Worte verlassen können. Die Bedeutsamkeit der Reden spiegelt sich in ihrer oben nachgewiesenen Dominanz über die narrativen Einheiten, die auf ihrer handlungsmotivierenden, charakterisierenden und bezeugenden Funktion beruht.

4.

Analyse 14,12–15: Ausblick auf das weitere Leben des Tobias

Der Erzählabschnitt 14,12–15 folgt dem Neuen Equilibrium in 11,16–19, das das Ende der Binnenerzählung markiert. Es ist davon auszugehen, dass die hier präsentierten Informationen über das weitere Leben des Tobias nicht als eine verzichtbare Nachgeschichte anzusehen sind, sondern als ein Epilog verstanden werden wollen: »The term epilogue used in narratology suggests that it is integral to a narrative and not an appendix.«194 Der Schlussgestaltung kommt folgende Bedeutung zu: »Epilogues are part of the end-sections of their narratives, and they do not change the new equilibrium that has been established. However, in the epilogue, the narrator often adds important information related to the actions of the narrative, and this ›helps to realize fully the design of the work.‹«195

So wie im Erzählabschnitt 3,16–17 wird hier ausschließlich von Handlungen ohne eine wörtliche Rede der Akteure berichtet. Der Hauptakteur ist Tobias, über dessen weiteren Lebenslauf nach dem Tod Tobits (14,11) erzählt wird. Als weitere Personen nennt der Erzähler außer Tobias namentlich Hanna (GI), Raguel und 194 S. Zeelander, Closure 35. 195 A.a.O., 84. Zitat aus: G. Prince, A Dictionary of Narratology, University of Nebraska, 2003, 27.

Analyse 14,12–15: Ausblick auf das weitere Leben des Tobias

183

Tobit. Sara und Edna werden in ihren Rollen als Ehefrau (14,12) und Schwiegereltern (14,13) erwähnt, die Kinder des jungen Paares kommen nur in GI vor. Neben dieser aus der Binnenerzählung vertrauten Figurenkonstellation begegnen den Lesenden mit Nebukadnezar und Asueros (GI) bzw. Achiachar (GII) 196 Personen aus dem politischen Umfeld der erzählten Welt, das in der Binnenerzählung keine Rolle spielt. Eine Anspielung auf die Einbindung des privaten Schicksals in machtpolitische Zusammenhänge findet sich lediglich in 7,3, wo Tobias seine Herkunft mit der Abstammung von den Söhnen Naphtalis, die in Ninive gefangen sind, erklärt. Mit diesen historischen Hinweisen erinnert der Erzähler an den zeitgeschichtlichen Hintergrund seiner Erzählung, der jedoch in der Geschichte selbst keine Bedeutung hat. Die Handlung besteht aus einer knappen Abfolge von Handlungsschritten, deren einziges Subjekt Tobias ist. Die summarische Skizze über seinen weiteren Lebenslauf setzt ein mit dem Begräbnis seiner Mutter neben dem Grab Tobits, berichtet über den Umzug des Tobias und seiner Familie von Ninive nach Ekbatana, dem Begräbnis seiner Schwiegereltern, dem Erben der Besitztümer Raguels und Tobits und schließt mit der Angabe, dass er im hohen Alter von 127 Jahren (GII: 117 Jahren) verstirbt. Sein Lebensende wird sehr positiv dargestellt: GII spricht von einem ehrenvollen (ἐντίμως) Altern und GII beschreibt seinen Tod als ein ruhmvolles (ἐνδόξως) Sterben. Der Erzählabschnitt endet mit der Information über die Freude des Tobias kurz vor seinem Tod, mit der er auf die Nachricht vom Untergang Ninives reagiert. Dieser insgesamt glücklich verlaufende Lebensweg des Tobias bestätigt im Nachhinein das Vertrauen, mit dem er die Anweisungen des Engels und die Worte Tobits befolgt hat. Die erfolgreiche Dämonenvertreibung ermöglicht die Ehe mit Sara und die Mahnungen Tobits in Blick auf die politischen Entwicklungen schützen ihn vor den Kriegswirren in Ninive. Der Erzähler präsentiert Tobias als einen folgsamen Sohn, der den Forderungen seines Vaters gemäß Hanna neben ihrem Ehemann bestattet (vgl. 4,4) und Ninive mit seiner Familie verlässt (vgl. 14,3). Sein gelungenes Leben verdankt sich damit sowohl den Worten des Engels als auch den Worten Tobits. Dessen Worte werden allerdings nicht im Kontext der Binnenerzählung gesprochen, sondern in den Redeteilen zitiert, die 5,17b–11,19 rahmen. Um den Grund für das glückliche Leben des Tobias verstehen zu können, bedarf es folglich der Kenntnis sowohl der erzählenden Teile als auch der Redeteile. Auf die konzeptionelle Verschränkung der Redeteile mit der Binnenerzählung verweist auch die Erwähnung der Freude, die die Nachricht über die Zerstörung Ninives in Tobias auslöst. Außer der Verwunderung der Einwohner Ninives über Tobits Sehkraft äußert sich die Bin196 Anspielung auf die Eroberung Ninives durch Nebukadnezar und Kyaxares II. von Medien im Jahr 612.

184

Analyse der Erzählteile

nenerzählung an keiner Stelle über das Verhältnis zwischen den jüdischen Glaubensbrüdern und der assyrischen Umwelt. Feinseligkeiten zwischen den Volksgruppen werden nicht thematisiert. Aus diesem Grund erscheint es wenig naheliegend, die Freude des Tobias als eine Genugtuung über die Niederlage der fremden Macht zu deuten. Vor dem Hintergrund der Rede Tobits in 14,4–11, in der er die kriegerischen Konflikte vorhersagt (14,4), lässt sich die Freude des Tobias jedoch damit erklären, dass die aktuellen Ereignisse den Worten seines Vaters Recht geben. Nicht nur die Worte des Engels bieten Verlässlichkeit, sondern auch die Reden des geheilten Tobit. Mit diesem Erweis der Zuverlässigkeit Tobits verleiht der Epilog allen Reden des geheilten Tobit eine nachträgliche Legitimierung. Diese fehlt dem Monolog Tobits in 1,3–3,6, da der Erzähler ihn hier in einer Weise berichten lässt, die ihn als einen unzuverlässigen Sprecher qualifiziert.

5.

Die Erzählteile als Erzählzusammenhang

Wie oben festgestellt wurde, bildet die Binnenerzählung 5,17b–11,19 eine geschlossene Texteinheit, für deren schlüssiges Verständnis weder die Redeteile noch die sie flankierenden Erzählsequenzen 3,7–15; 3,16–17 und 14,12–15 notwendig sind. In welchem Verhältnis stehen die kurzen, erzählenden Episoden zur Binnenerzählung und welche Funktion kommt ihnen im Aufbau des gesamten Buches zu? Die zentralen Akteure der Abschnitte 3,7–15 und 14,12–15 sind Sara und Tobias, denen in 5,17a–11,19 als Adressaten der entscheidenden Rettungstat die Heirat ermöglicht wird. Ihr Auftreten vor bzw. nach der Dämonenvertreibung rahmt die Binnenerzählung. Die Prolepse 3,16–17 nennt mit Tobit eine weitere Figur, die im Verlauf von 5,17a–11,19 Heilung erfahren wird. Die entscheidende Bedeutung der Erweiterung des Erzählbogens um die Abschnitte 3,7–15; 3,16–17 und 14,12–15 liegt auf der Ebene der Leserlenkung. In 3,7–15 wird eine Lesererwartung aufgebaut, der in der Binnenerzählung nicht entsprochen wird: Sara spielt hier keine Hauptrolle, sie ist lediglich eine Nebenfigur. Der Erzähler scheut die Irritation des Publikums nicht, zugleich versorgt er in 3,16–17 die Lesenden mit dem Wissen um das positive Ende der Geschichte. Da somit der Fortgang der Handlung von vornherein bekannt ist, wird die Aufmerksamkeit von der erzählten Handlung in 5,17b–11,19 auf die Reden der einzelnen Figuren gelenkt. Der Epilog bestätigt die Relevanz des gesprochenen Wortes für das gelingende Leben des Tobias. Indem 14,12–15 sich jedoch nicht nur auf die Reden aus der erzählten Welt bezieht, sondern auch auf die Reden des geheilten Tobits aus den Redeteilen, verweist dieser Abschnitt zusätzlich auf das Verhältnis aller Rede- und Erzählteile: Nur die Zusammen-

Die Erzählteile als Erzählzusammenhang

185

schau sowohl der Reden als auch der narrativen Passagen ermöglicht ein vertieftes Verständnis der Botschaft des Buches Tobit. Die Erzähleinheiten 3,7–15 und 3,16–17 stellen wie ein Scharnier eine Verbindung zum Monolog 1,3–3,6 her. Sie lassen die Leidensgeschichten Tobits und Saras als parallele Geschehensabläufe erscheinen, die dann im Bericht über die Intervention des Engels in einen gemeinsamen Handlungsstrang überführt werden.

IV.

Gesamtzusammenhang der Rahmenreden und der Erzählteile

Der literarische Gesamtaufbau des Buches Tobit zeichnet sich durch die Kombination der Abfolge der Rahmenreden und der Binnenerzählung aus, die von den Erzählabschnitten 3,7–15; 3,16–17 und 14,12–15 flankiert wird. Im Folgenden soll die Anordnung der einzelnen Texteinheiten auf der Ebene des Gesamttextes dargestellt und die Funktion ihrer jeweiligen Platzierung erläutert werden.

1.

Anordnung der Rahmenreden und der Erzählteile

Der Gesamttext beginnt mit der Rede Tobits (1,3–3,6), der auf der narrativen Ebene die Geschichte Saras folgt (3,7–15). Beide Abschnitte berichten von der Leidensgeschichte der Erzählfiguren, die jeweils zu dem Entschluss führt, sich im Gebet an Gott zu wenden. Die Zeitangabe in 3,6 vermittelt den Eindruck der Gleichzeitigkeit der gesprochenen Gebete in Ninive und Ekbatana. Die Stimmen Tobits und des Erzählers stellen zwei Akteure vor, deren Lebenssituation hinsichtlich des Geschlechts, Alters und des sozialen Status’ nicht verschiedener sein könnte. Die entscheidende Verbindung zwischen den beiden besteht jedoch in ihrem gemeinsamen Leiden, das sich in sozialer Ausgrenzung äußert. Sara kann keine Ehe eingehen und wird deshalb keine Kinder bekommen. Sie muss sich auf ein Leben ohne eine eigene Familie einstellen. Tobits Blindheit führt ihn in die Isolation und die Abhängigkeit von der Erwerbstätigkeit seiner Ehefrau. Die Gebete Tobits und Saras veranlassen auf der Handlungsebene die Aussendung des Engels Raphaels, der Tobit von seiner Blindheit befreien und Sara mit Tobias verheiraten soll. Die Erzählpassage 3,16–17 klärt die Lesenden über die Rolle Tobits und Saras im weiteren Geschehen auf: Sie sind die Adressaten des Heilshandelns Raphaels. Außerdem macht sie deutlich, dass die folgenden Entwicklungen als Erfüllung des Heilungsauftrags des Engels zu verstehen sind. Im Sinne einer Prolepse nimmt der Abschnitt 3,16–17 die folgenden Ereignisse

188

Gesamtzusammenhang der Rahmenreden und der Erzählteile

vorweg und stattet damit die Lesenden mit einem Wissen aus, das weit über das der Erzählfiguren hinausgeht. Nach dem Bericht über die Erhörung der Gebete folgt Tobits Rede an Tobias (4,3–21). Diese Rede unterscheidet sich formal von dem Monolog 1,3–3,6 darin, dass sie sich explizit an ein konkretes Gegenüber richtet, nämlich an seinen Sohn Tobias (4,3). In inhaltlicher Hinsicht deutet sie einen Wandel in der Gemeinschaftsvorstellung Tobits an: Neben der starren Rigidität der Einhaltung von Gruppengrenzen ist eine zunehmende Öffnung der Gemeinschaft wahrzunehmen. Die Platzierung dieser Redeeinheit direkt nach dem »Programm« in 3,16–17 legt nahe, diese Entwicklung Tobits als eine Folge der Hinwendung Gottes gedeutet werden kann. Im Kontext des gesamten Buches motiviert Tobits Rede mit seiner Aufforderung an Tobias, das in Rages hinterlegte Geld zurückzuholen, die Handlung der Binnenerzählung 5,17,b-11,19. Bevor Tobias sich auf den Weg machen kann, muss noch ein geeigneter Begleiter gefunden werden. So schließt sich der Lehrrede 4,3–21 das Gespräch zwischen Tobit und dem Engel (in seiner menschlichen Rolle) an (5,11–16), das diese Problem lösen soll. Auf der formalen Ebene ist in Blick auf das Redeverhalten Tobits eine weitere Veränderung erkennbar: Es findet ein Dialog statt, den Tobit zwar dominiert, der aber seinem Gegenüber zumindest die Gelegenheit gibt, sich zu äußern. Die Sorge um seinen Sohn lässt Tobit wieder in die den Lesenden vertraute Starrsinnigkeit verfallen und er besteht auf die angemessene Abstammung des Begleiters. Die kritische Anfrage des Engels (5,12) nimmt er nicht zur Kenntnis. Tobit setzt sein Interesse durch und der Engel übernimmt die Rolle des Asarjas, indem er vorgibt, aus demselben Geschlecht zu stammen wie Tobit. In der folgenden Binnenerzählung 5,17b–11,19 liegt, wie oben nachgewiesen werden konnte, der Aussageschwerpunkt auf der Verlässlichkeit des Wortes des Engels/Asarjas. Das Vertrauen in seine Anweisungen ermöglicht es Tobias, den Dämon zu vertreiben und die Blindheit Tobits zu heilen. Seine auf der narrativen Ebene erwiesene Autorität erlaubt es dem Engel/Asarja in seiner Rede 12,6–20 zunächst seine Vorstellung von Gemeinschaftlichkeit zu präsentieren und anschließend seinen Status als Engel Raphael zu offenbaren. Aufgrund der Erfahrungen in der erzählten Welt ist Tobit in seinem Redeverhalten zurückhaltender als in 5,11–16: Er überlässt seinem Gegenüber das Wort und hört ihm ohne Unterbrechung zu. Er antwortet auf die Rede des Engels/Raphaels, indem er dessen Gemeinschaftsentwurf übernimmt und im Bild des zukünftigen Jerusalems weiter entfaltet (13,2–18). In seiner letzten Rede verlässt Tobit die metaphorische Ebene und richtet seinen Blick auf die kommenden Ereignisse. Er antizipiert die Zerstörung Ninives und Jerusalems, deren Wiederaufbau und die anschließende Hinwendung aller Völker zu Gott (14,3–11). Die abschließenden Worte Tobits

Verhältnis zwischen 1,3–3,6 und 5,17b–11,19

189

richten sich an Tobias mit dem dringenden Appell, aufgrund der drohenden Gefahr Ninive sofort zu verlassen. Der Gesamttext endet auf der narrativen Ebene mit dem Bericht über den geglückten Lebensweg des Tobias, der die Zuverlässigkeit der Rede des Engels und des geheilten Tobits bestätigt. Der dargestellte Duktus der Abfolge der Rede- und Erzählteile lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Den Auftakt bildet eine Rede, deren Thema des sozialen Miteinanders den Inhalt der folgenden Reden bestimmt. Diese Reden motivieren die Handlungssequenzen im Sinne einer »dialogue-bound narration«: Tobits und Saras Gebete: 3,2–6; 3,15 → Eingreifen Gottes: 3,16–17 Reiseauftrag in Lehrrede: 4,20 → Reise nach Ekbatana/Rages: 5,17a–11,19 Reiseappell in Abschiedsrede: 14,10 → Tobias’ Wegzug nach Ekbatana: 14,12–15

Die eingeschobenen Erzählpassagen wiederum plausibilisieren den Wandel der Redeinhalte und die Veränderung im Redeverhalten der Sprecher. Tobits Monologisieren in 1,3–3,6; 4,3–21 und 5,11–16 wechselt zu einer dialogfähigen Haltung, die ihn zuhören und antworten lässt. In seiner letzten Rede kreist seine Sorge nicht mehr um sich selbst, sondern um das Überleben seines Sohnes und dessen Familie. Nach seiner erwiesenen Autorität in der erzählten Welt beansprucht der Engel erheblich längere Redeanteile als in 5,11–16 und anstatt von Tobit für einen Dienst beauftragt zu werden, formuliert Raphael nun eine Anweisung an Tobit. Das Verhältnis zwischen Rede- und Erzählteile innerhalb der Binnenerzählung spiegelt deren Zuordnung auf der Ebene des gesamten Buches. Während in 5,17a–11,19 der Engel/Asarja der ausschließliche Impulsgeber ist, sind es im Gesamtkontext des Buches die Worte Tobits (außer Sara: 3,15 und der Engel: 12,10), die die Handlung weiter bringen. Die entscheidende Initiative, die die Rettungs- und Heilshandlungen überhaupt in Gang setzt, kommt aber von Gott (3,16). Der Erzähler berichtet von dessen Hören (ει᾿σακούω) der Gebete Tobits und Saras.

2.

Verhältnis zwischen 1,3–3,6 und 5,17b–11,19

Neben dem oben dargestellten Zusammenspiel von Rede- und Erzähleinheiten im Buch Tobit ist auf der narrativen Ebene eine weitere Besonderheit zu beobachten: Es werden zwei Geschichten erzählt, in deren Mittelpunkt jeweils unterschiedliche Helden stehen. In 1,3–3,6 geht es um Tobit, während in 5,17b–11,19 der Engel/Asarja und Tobias die Rollen der Hauptakteure übernehmen.

190

Gesamtzusammenhang der Rahmenreden und der Erzählteile

Die Präsentation des Monologs Tobits (1,3–2,14) als eine eigene kohärente Erzählung erlaubt einen methodischen Vergleich mit der Binnenerzählung. In Blick auf den erzählerischen Umgang mit Zeit und Raum zeigt die narrative Ausgestaltung des Monologs Entsprechungen zur literarischen Gestaltung der Binnenerzählung. In beiden Textbereichen legen die Protagonisten große Distanzen zurück, um an einem bestimmten, eingegrenzten Ort die entscheidenden Geschehnisse zu erleben: Tobit reist von Jerusalem nach Ninive, um dort im Hof seines Hauses durch herabfallenden Vogelkot zu erblinden. Der Engel und Tobias wandern von Ninive nach Ekbatana, wo in einer Kammer im Hause des Raguel der Dämon vertrieben wird. Diese Episoden bilden zentrale Szenen im jeweiligen Erzählablauf, da in ihnen entweder eine Krise ausgelöst oder überwunden wird. In beiden Fällen spielen Tiere eine wichtige Rolle: Tierische Exkremente verursachen die Blindheit und das Verbrennen tierischer Organe vertreibt den Dämon. Der kontinuierlichen räumlichen und zeitlichen Engführung im Monolog auf das Streitgespräch zwischen Hanna und Tobit (2,11–14) entspricht die Fokussierung von Raum und Zeit auf die zentrale Szene der Dämonenvertreibung (8,1–9a). Eine gegenläufige Tendenz lässt sich in Blick auf die möglichen Interaktionspartner der Akteure beobachten. Der Monolog erzählt von der stetigen Vereinsamung Tobits, während in der Binnenerzählung sich die engen familiären Kontexte öffnen und die einzelnen Figuren mit einer wachsenden Zahl von anderen Personen interagieren. Dem Prozess der Desintegration eines einzelnen im Monolog steht in der Binnenerzählung die Integration neuer Familienmitglieder entgegen. Eine weitere Gemeinsamkeit der beiden Textbereiche besteht in der Gestaltung der Erzählfiguren. Der Erzähler gesteht ihnen ein Entwicklungspotential zu, das im Verlauf der Handlung zu einer veränderten Charakterisierung führt. Tobit erlebt eine negative Entwicklung, die ihn von einer selbstbewussten, dominanten Figur zu einem misstrauischen, vereinsamten Mann macht, während der Engel/ Asarja zunehmend an Souveränität gewinnt. Die Erwähnung der Herrschernamen und der Hinweis auf die Verschleppung der Nordstämme lassen die erzählte Handlung beider Textbereiche vor dem Hintergrund des assyrischen Großreiches spielen. Wie die obigen Analysen deutlich machen, hat dieses historische Setting für beide Erzählstränge jedoch keine besondere Relevanz. Beide Geschichten ereignen sich im Binnenraum der jüdischen Gemeinschaft und thematisieren Fragen nach deren Stabilität.197 Die Wahl einer fremden, feindlichen Umgebung als Hintergrundkulisse verstärkt den Eindruck der Klaustrophilie, der die Figur Tobit im Monolog umgibt. Wie oben herausgearbeitet wurde, erlaubt es die erzählerische Gestaltung des Monologs und der Binnenerzählung die beiden Textbereiche als getrennte, in 197 Vgl. J. Rautenberg, Stadtfrau 51–101; J.J. Collins, Judaism 23–40.

Positionierung von 1,3–3,6 in der Abfolge der Rahmenreden und der Erzähleinheiten

191

sich geschlossene Erzählungen zu lesen. Sie stehen jedoch in einem inhaltlichen Verhältnis zueinander, da die Binnenerzählung als eine Antwort auf den Monolog verstanden und damit die beiden Textbereiche in eine komplementäre Beziehung gesetzt werden können. Die Krisen, die im Monolog ausgelöst werden, erfahren in der Binnenerzählung ihre Überwindung, die Isolation Tobits mündet in dessen Integration in den Kreis seiner Familie.

3.

Positionierung von 1,3–3,6 in der Abfolge der Rahmenreden und der Erzähleinheiten

In Blick auf die Leserlenkung besteht das wirkungsvollste Gestaltungselement des Gesamtbuches darin, die Geschichte Tobits (1,3–3,6) als eine Ich-Rede am Anfang des Buches zu präsentieren. Die Voranstellung des Monologs Tobits – als narrative Einheit gestaltet – vor der erzählten Handlung in 3,7 suggeriert den Eindruck eines durchgängigen Handlungsbogens, der mit dem Rückzug Tobits aus der Gemeinschaft seiner Brüder in Jerusalem einsetzt und mit dem Tod des Tobias in Ekbatana endet. Die Geschichte Tobits und die Erlebnisse Saras präsentiert der Erzähler als synchrone Vorgänge (3,7: Ἐν τῇ ἡμέρᾳ ταύτῃ GII, Ἐν τῇ αὐτῇ ἡμέρᾳ GI) und verknüpft die beiden Handlungsstränge in 3,16–17 zu einem gemeinsamen Erzählverlauf, der sich dann einer linearen Chronologie folgend entfaltet. Ein weiterer Effekt dieser Textanordnung besteht darin, dass auf diese Weise der Entwicklungsprozess der Figur Tobits kontinuierlich nachgezeichnet werden kann. Tobit wandelt sich von dem blinden, um sich selbst kreisenden Mann zu einem sowohl im physischen als auch im übertragenen Sinne Sehenden, dessen Voraussagen in die Zukunft zutreffen und der sein Wissen im Interesse seiner Familie weitergibt. Die Wirkungen des Rettungs- und Heilshandelns des Engels bzw. Tobias präsentiert der Erzähler paradigmatisch an der Figur Tobits, die damit eine Hervorhebung vor den anderen Nebenfiguren erfährt. Die Besonderheit dieser Darstellungsweise besteht jedoch darin, dass die zugrundeliegende Ereignislogik nicht der Logik der erzählten Ereignisse entspricht. Der Monolog, mit dem der Erzähler zu Beginn des Buches die Lesenden ohne Angabe zum Sprecher bzw. zur Sprechsituation konfrontiert, hat seinen ereignislogischen Ort erst in 12,20, wo der Engel Tobit und Tobias auffordert, alle sie betreffenden Geschehnisse aufzuschreiben. Der Monolog Tobits gehört damit nicht an den Anfang, sondern in den letzten Teil des Gesamttextes. Die Verschiebung der Rede Tobits vom Ende an den Beginn des Buches hat einen signifikanten Einfluss auf die Dynamik des Leseprozesses. Sie liefert die Lesenden ohne erklärende Vermittlung eines Erzählers ausschließlich der Per-

192

Gesamtzusammenhang der Rahmenreden und der Erzählteile

spektive Tobits aus und macht damit eine kritische Einschätzung der Figur Tobits zunächst fast unmöglich. Die Ich-Rede Tobits prägt den ersten Leseeindruck und lässt in Tobit den Hauptakteur und in seinem Schicksal das Thema der Geschichte vermuten. Damit baut das Erzählverfahren eine Lesewartung auf, die mit der fortlaufenden Lektüre jedoch eine zunehmende Irritation erfährt. Im Monolog selbst finden sich Hinweise auf die mangelnde Verlässlichkeit des Erzählers Tobit und die Binnenerzählung verweist die Figur Tobits, die bis jetzt im Fokus der Aufmerksamkeit der Lesenden stand, in eine Nebenrolle. Die Positionierung der Ich-Rede Tobits über sein Leben in der Diaspora an den Anfang des Buches folgt damit einer Strategie der Ablenkung: sie weckt Erwartungen, die jedoch nicht erfüllt werden. Erst in der Retrospektive des gesamten Buches wird die Bedeutsamkeit der einzelnen Sprecher bzw. Handlungsträger für die Erzählung deutlich: Nicht Tobit, sondern der Engel und Tobias sind die Helden der Geschichte. Schließlich erlaubt auch erst die Berücksichtigung von 12,20 als dem ereignislogischen Ort des Monologs Rückschlüsse über die Verfasstheit des Sprechers Tobit. Der Bericht über sein Leben erfolgt in der Erinnerung des sehenden, reichen und sozial eingebundenen Tobits.198 In der Bedeutungsdiskrepanz zwischen einer prospektiven und retrospektiven Lektüre spiegelt sich die entscheidende Beobachtung aus der Analyse von 5,17b– 11–19. Die erzählerische Gestaltung des Plots zielt darauf ab, in einem ersten Lesedurchgang die Aufmerksamkeit auf das Agieren der Nebenfiguren (Raguel, Edna) zu lenken, während die Hauptakteure (Engel, Tobias) nur im Hintergrund der Handlung ihre Präsenz zeigen. Erst nach der Beendigung der Lektüre erschließt sich die eigentliche Rollenverteilung: Das vordergründige Handeln der Nebenfiguren leistet keinen Beitrag zum zentralen Rettungs- Heilsgeschehen, das vom Engel verbal initiiert und von Tobias realisiert wird. Die Dämonenvertreibung und die Blindenheilung werden in einer Weise erzählt, die offen lässt, inwieweit die Ereignisse für die Erzählfiguren überhaupt wahrnehmbar sind. Dieser vermeintlich beschränkte Wahrnehmungshorizont der Nebenakteure korrespondiert mit dem zunächst fehlgeleiteten Leseeindruck, den der Erzähler in 1,3–3,6 den Lesenden zumutet. Die Gestaltung des Lebensrückblicks als erzählende Rede ohne erläuternde Redeeinleitung verleitet zu einer Lektüre, die den Bericht Tobits als eine erzählte Handlung deutet und in der Figur Tobits den Helden der Geschichte erkennt. Indem der Erzähler jedoch seine Leserschaft bewusst auf diese falsche Fährte setzt und damit den gesamten Monolog als unzuverlässige Rede charakterisiert, lässt er die Lesenden teilhaben an der Spannung, die auch die Erzählweise in 5,17b–11,19 bestimmt: Das auf den ersten Blick Offensichtliche (Agieren der Nebenfiguren) hat wenig Bedeutung für das 198 Vgl. Analyse von 2,11–14. Die Unterscheidung zwischen dem erzählenden und dem erlebenden »Ich« deutet sich in Tobits Erinnerung an den Konflikt mit Hanna an.

Verschränkungen der Rahmenreden und der Erzählteile

193

zentrale Geschehen, das sich im Hintergrund ereignet (Dämonenvertreibung, Blindenheilung).

4.

Verschränkungen der Rahmenreden und der Erzählteile

Im Folgenden soll die Verschränkung der Rahmenreden und der Erzählteile miteinander untersucht werden. Ich werde der Frage nachgehen, inwieweit Strukturanalogien, die Gestaltung der Figurenkonstellation, die Übernahme von Motiven bzw. Topoi und das Füllen von inhaltlichen Leerstellen die erzählerische Kontinuität des gesamten Buch gewährleisten.

4.1

Strukturelle Analogien zwischen den Rahmenreden und der Binnenerzählung

Sowohl die Abfolge der Rahmenreden 1,3–2,14; 3,1–6; 4,3–21; 5,11–17a; 12,6–20; 13,1b–18; 14,3b–11 als auch der Aufbau der Binnenerzählung weisen eine konzentrische Struktur auf (vgl. obige Analysen). Jeweils ein zentraler Redeabschnitt bzw. ein zentrales Ereignis wird gerahmt von mehreren Textabschnitten, die selbst spiegelbildlich angeordnet sind. Das Mittelstück des Redezusammenhangs bildet das Gespräch zwischen Tobit und dem Engel (5,11–16) über die Suche nach einem verlässlichen Begleiter. Die Geschehnisse in der 5,17b–11,19 kreisen um die Szene der Vertreibung des Dämons (8,1–9a), die die Autorität des Engels unter Beweis stellt. Die Gestaltung sowohl der Anordnung der Reden als auch die der Erzählstruktur der Binnenerzählung verweist damit auf die zentrale, beiden Textbereichen gemeinsame Frage nach Zuverlässigkeit. Tobit geht davon aus, dass er eine solche Erwartung nur an einen Stammesbruder richten könne, während in der Binnenerzählung sich das Wort des Engels als die verlässliche Instanz erweist. Der Engel ist die Erzählfigur, die dem Ideal der ἀλήθεια, als einem der drei Leitbegriffe aus 1,3 entspricht.

4.2

Verschränkung durch Figurenkonstellation

In den erzählenden Teilen begegnen mehrere Figuren, die den Lesenden aus den Rahmenreden (besonders dem Monolog) bekannt sind. Neben den beiden Dialogpartner Tobit und dem Engel erweisen sich Hanna, Tobias, Gabael und Achikar als beständige Größen in der Wahl der Akteure.

194

Gesamtzusammenhang der Rahmenreden und der Erzählteile

Engel Der Engel bildet die bedeutendste Verbindungsfigur zwischen den Rahmenreden und der Binnenerzählung. Er übernimmt sowohl die Rolle des Sprechers im Gespräch mit Tobit als auch die des Hauptakteurs in der Erzählung. Im Gegensatz zu der ausschließlichen Kommunikation zwischen ihm und Tobit in den Redeteilen berichtet der Erzähler in 5,17b–11,19 von keinem direkten Kontakt zwischen den beiden. In Blick auf die Charakterisierung des Engels/Asarjas zeichnet sich eine Entwicklungslinie ab, die ebenfalls eine Verbindung zwischen den Textbereichen herstellt. Durch die Passage 3,7–10 wird das Engelwissen in 6,11– 12 bestätigt und damit die Zuverlässigkeit des Engels/Asarjas. In seinem Gespräch mit Tobit 5,6 (GI) bzw. 5,5–8 (GII) präsentiert ihn der Erzähler in der Rolle eines ungeduldigen, großspurigen jungen Mannes (GII: νεανίσκος), der vorgibt den Weg zum Reiseziel des Tobias zu kennen, obwohl er mit den örtlichen Verhältnissen nicht vertraut zu sein scheint.199 Die Auseinandersetzung mit Tobit (5,10–17a) endet zu seinen Ungunsten, da es ihm nicht gelingt, seinen Plan, als Arbeiter (μίσθιος) Tobias zu unterstützen, zu verfolgen und er stattdessen die von Tobit erwartete Rolle übernimmt. Diese negative Erfahrung macht die Umständlichkeit plausibel, mit der der Engel/Asarja in 6,10–18 versucht, Tobias von seinen Plänen zu überzeugen. Die obige Analyse weist das sich steigernde Selbstbewusstsein des Engels/Asarjas in seinen Reden in der Binnenerzählung nach, das dann in seiner Selbstoffenbarung als Engel in 12,15 gipfelt. Der Prozess von einem anfänglichen Autoritätsverlust über die Autoritätsvergewisserung bis hin zu einer engelhaften Autoritätspräsentation verknüpft die Rede- und Erzählabschnitte miteinander. Tobit Die Dominanz der Figur Tobits im ersten Teil der Redeabfolge äußert sich darin, dass die erste und längste Rede ausschließlich seinem Monolog vorbehalten ist und die Auseinandersetzung mit dem Engel zunächst in seinem Interesse verläuft. Diese Darstellung kontrastiert mit der in 5,17b–11,19, wo Tobit eine Nebenrolle spielt, die nur insofern eine Bedeutung für die Handlung hat, als dass sie in Tobit den Adressaten für das Heilswirken des Engels/Tobias zur Verfügung stellt. Damit einher geht eine zurückhaltende Profilierung seines Charakters, die jedoch vor dem Hintergrund der Lektüreerfahrung der vorgehenden Reden an Schärfe gewinnt. Die in seinem Gebet und in seiner Lehrrede zum Ausdruck kommende Ambivalenz zwischen dem Verharren in alten Mustern und deren Veränderung verhindert eine allzu naive Deutung seiner Figur in der Binnenerzählung. So lässt sich in der Sorglosigkeit, mit der Tobit seinen Sohn auf die 199 Vgl. die nicht korrekten Angaben zur geographischen Lage der Städte Ekbatana und Rages 5,6 (GII).

Verschränkungen der Rahmenreden und der Erzählteile

195

Reise schickt und mit der er auf dessen Rückkehr wartet, auch ein Hinweis auf die Verantwortungslosigkeit entdecken, mit der Tobit den jungen Tobias auf den Marktplatz in Ninive schickt, um nach ermordeten Brüdern Ausschau zu halten. Das Risiko, seinen Sohn einer gefährlichen Situation auszusetzen, zieht Tobit nicht in Erwägung (2,2). Die Unzuverlässigkeit, mit der Tobit seine eigene Geschichte erzählt, scheint auf in seiner Sorge um das deponiert Geld, die ihn unterschwellig neben der offenkundigen Frage nach dem Verbleib seines Sohnes sehr bewegt. Die Ich-Fixierung Tobits, die seinen gesamten Monolog prägt, begegnet in seinem Gesprächsverhalten Hanna gegenüber wieder: Er geht auf ihre Sorgen an keiner Stelle ein und besteht stattdessen auf seine Einschätzung der Situation. Die Charakterisierung der Figur Tobits erfolgt damit in den den Redeund Erzählteilen zwar in einer unterschiedlichen Ausprägung, die Beschreibungen seiner Figur verhalten sich aber kongruent zueinander. Der soziale Abstieg Tobits, den der Monolog dokumentiert, spiegelt sich in der Figurenkonstellation der Binnenerzählung: Tobit steht nicht mehr im Mittelpunkt der Geschehnisse, sondern am Rand der erzählerischen Bühne bleibt ihm nichts anders übrig, als die kommenden Ereignisse abzuwarten. Wie der nach 5,17b–11,19 wiederaufgenommene Dialog mit dem Engel zeigt, hat das Ende seiner physischen und sozialen Isolation Konsequenzen in seinem Verhalten dem Engel gegenüber. Anders als in 5,10–17a akzeptiert er die Autorität des Engels und befolgt dessen Anweisung, indem er sein Gebet spricht, das inhaltlich der Rede des Engels in seiner Selbstoffenbarung entspricht. Damit bildet die Zusammenschau von Redeteilen und der Binnenerzählung einen Entwicklungsprozess sowohl des Engels als auch Tobits ab, der bei einer getrennten Lektüre der beiden Textbereiche nur abschnittweise (Engel) bzw. kaum nachvollziehbar (Tobit) ist.

Hanna Die Präsentation der Figur Hannas in der Binnenerzählung entspricht ihrer Charakterisierung im Monolog. In beiden Textbereichen agiert Hanna im innerfamiliären Kontext und zwar fast ausschließlich mit Tobit. Für die Profilierung ihrer Persönlichkeit nutzt der Erzähler in beiden Kontexten den »contrastive dialogue«, der bestimmte Eigenschaften Hannas deutlich zu Tage treten lässt. Während sich im Monolog ihre Anfragen an Tobits Umsetzung seiner Ideale richten, konzentriert sich ihre Kritik in der Binnenerzählung zunächst auf seine Entscheidung, Tobias wegzuschicken, um dann vollständig um die Sorge um Tobias zu kreisen. Der Konflikt zwischen dem Ehepaar kommt zu keiner Lösung, stattdessen endet der Streit in der gegenseitigen Aufforderung zu schweigen. Erst nach der Ankunft Tobias’ in Ninive berichtet der Erzähler wieder von einer Rede Hannas an ihren Ehemann. Die Nachvollziehbarkeit ihrer Einwände Tobit gegenüber ermöglicht die Identifikation der Lesenden mit Hanna:

196

Gesamtzusammenhang der Rahmenreden und der Erzählteile

Sie spricht das aus, was als naheliegende Reaktion von einem kritischen Leserpublikum erwartet werden kann. Die Verschränkung des Monologs mit der Binnenerzählung gestaltet sich nicht nur in der Übernahme der Figuren Hannas und Tobits, sondern auch darin, dass diesem Paar in 5,17b–11,19 ein weiteres Ehepaar zu Seite gestellt wird, das in der Ausprägung seiner Persönlichkeitsmerkmale Tobit und Hanna ähnelt. Das dominante Auftreten, die Unzuverlässigkeit in der Kommunikation mit anderen, die Sorge um die eigene Scham lassen Raguel an den Tobit des Monologs erinnern. Ednas Äußerungen zeichnen ein authentisches Bild von ihrer Persönlichkeit, das wie Hanna zur Identifikation einlädt. Während jedoch das Verhältnis zwischen Hanna und Tobit von Spannungen geprägt ist, präsentiert der Erzähler einen harmonischen Umgang zwischen Edna und Raguel. Tobias Während die Darstellung der Figur Hannas kaum Veränderungen aufweist, durchläuft Tobias wie Tobit und der Engel/Asarja einen Entwicklungsprozess, der sich über die Redeteile und die Binnenerzählung hinzieht. In den ersten Redesequenzen tritt er auf als Adressat der Anweisungen Tobits (2,2; 4,20) und als dessen Gesprächspartner (5,1–10). Er erweist sich als folgsamer Sohn, der zunächst ohne Widerworte dem Vater gehorcht, um dann hinsichtlich der Reise nach Rages konkrete Fragen zur Umsetzung des Vorhabens zu stellen. In derselben Redekonstellation präsentiert die Binnenerzählung die Interaktion zwischen dem Engel und Tobias: Dem anfänglichen kommentarlosen Befolgen der Anweisung des Engels folgt ein kritisches Nachfragen zu Verwendung der Fischorgane. In der Binnenerzählung findet die beginnende Eigenständigkeit ihre weitere Entfaltung in seiner Widerrede zu den Plänen des Engels. Der Vertrauenserweis des Engels und die Rede des geheilten Tobits veranlassen den erwachsenen Tobias schließlich dazu, ihren Worten Folge zu leisten. Die analoge Kommunikationsstruktur zwischen Vater und Sohn und zwischen dem Engel und Tobias bildet ein verbindendes Element zwischen den Redeteilen und der Binnenerzählung. Die Entwicklung des Tobias vom jungen Knaben zum verantwortungsvollen Familienvater wird erzählerisch im Wechsel von der Nebenrolle im Monolog zur Hauptrolle in der Binnenerzählung umgesetzt. Gabael, Achikar Den Figuren Gabael und Achikar ist gemeinsam, dass sie in der jeweiligen Handlung des Monologs und der Binnenerzählung keine tragende Rolle spielen, dennoch aber in beiden Textbereichen eine Erwähnung finden. Die Information, dass Tobit sein Vermögen bei Gabael deponiert hat und dass der Engel/Asarja das Silber dort abholt, um dann gemeinsam mit Gabael die Hochzeit zu feiern, ist für

Verschränkungen der Rahmenreden und der Erzählteile

197

das Verständnis der jeweiligen einzelnen Handlungsabläufe von untergeordneter Bedeutung. Die Aussagen über Gabael bekommen nur in der Zusammenschau von Monolog und Binnenerzählung eine Relevanz, da das in Rages gelagerte Silber die Motivation für folgende erzählte Handlung bildet, in deren Verlauf das Geld zurück nach Ninive gebracht wird. Eine weitere Funktion der Verklammerung der Textbereiche miteinander übernimmt die Figur Achikars. Während der Erzähler nur knapp am Ende der Binnenerzählung vom Erscheinen Achikars auf der Hochzeitsfeier berichtet, ist das Handeln und das Schicksal Achikars ein bedeutendes Thema in den Reden Tobits. Sein Monolog zeichnet das Bild von Achikar, der das von Tobit beanspruchte Ideal der Barmherzigkeit tatsächlich umsetzt und der damit der Forderung Tobits (4,7.10) und der Anweisung des Engels (12,7b–10) entspricht. In den letzten Worten seines Vermächtnisses an Tobias betont Tobit die Bedeutung barmherzigen Handelns für ein gelingendes Leben. Die Reden Tobits und die des Engels thematisieren die Barmherzigkeit als eine lebensrettende Handlungsoption, die vor destruktiven Einflüssen wie dem Tod schützt. Auch die Binnenerzählung verhandelt die Frage nach der Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen, wobei sie jedoch auf den Aspekt der Zuverlässigkeit eingeht. Die Beiläufigkeit, mit der die Binnenerzählung über Achikar spricht, verweist trotz der Übernahme des Figurenbestands des Monologs auf die deutlich unterschiedlichen thematischen Ausrichtungen der Redeteile und der Binnenerzählung.

4.3

Verschränkung durch Motivzusammenhänge und Stichwortverbindungen

Im Folgenden richtet sich der Fokus auf mögliche Motivzusammenhänge und intratextuelle Bezüge zwischen den Rahmenreden und Erzählteilen. Darüber hinaus soll auch auf die Differenzen zwischen den Textbereichen aufmerksam gemacht werden. Vernetzung der Redeteile mit den erzählenden Teilen In den erzählenden Teilen finden sich bis auf die Erwähnung der Propheten und der Stadt Jerusalem alle relevanten Motivfelder und Stichworte aus dem ersten und dem zweiten Teil der Rahmenredefolge wieder. Wie die Rahmenreden wird auch die Erzählung dominiert durch das Wortfeld Bewegung:200 Es zeigt sich jedoch eine größere Varianz in Blick auf die Auswahl 200 ὁδός: 5,17a; 6,2; 10,7.13; 11,5.15 (GII); πορεύομαι: 5,17a.21; 6,2.6 (GII).18; 9,1.5; 10,1 (GII).7; 10,13; 11,1.4.6.16; συμπορεύομαι: 5,17a.22; ἐξέρχομαι: 5,17a; 6,2; 7,17 (GII). 8,4.14.20; 9,3;

198

Gesamtzusammenhang der Rahmenreden und der Erzählteile

der Bewegungstermini: Im Gegensatz zu den Rahmenreden (22) finden sich in der Binnenerzählung 38 unterschiedliche Verben, die dem Wortfeld zurechnen sind. Eine weite Streuung ist ebenfalls für das Thema Tod/Bestattung201 zu beobachten. Hinsichtlich der Quantität (19-malige Verwendung) der entsprechenden Termini ist dieses Wortfeld weniger dominant als in den Redeteilen (34-malige Verwendung). Die Leitbegriffe ἀλήθεια, δικαιοσύνη und ἐλεημοσύνη finden sich in der Dreierfolge nur einmal in der Textversion GII, wo Gabael seinen Vetter Tobit mit diesen Attributen beschreibt (9,4). In Blick auf die Termini ἀλήθεια (7,10) und ἐλεημοσύνη (ἐλεάω: 6,18; 11,15.17; ἔλεος: 8,4.16.17) ist zu beobachten, dass der Ausdruck ἀλήθεια einmal genannt und der Begriff ἐλεημοσύνη sechsmal in seinen Derivatsformen verwendet wird. Die Vokabel δικαιοσύνη für sich allein findet ohne die anderen Termini keine Erwähnung. Wie in den Rahmenreden ist damit eine Bevorzugung des Terminus ἐλεημοσύνη gegenüber den anderen beiden aus der Dreierfolge zu beobachten. Die Beschreibung der göttlichen Zuwendung im Sinne der Barmherzigkeit (13,2.5.6) im Schlussgebet Tobits korrespondiert mit der Gottesprädikation ἐλεήμων θεὸς (6,18; 7,11) in der Binnenerzählung. Neben dieser Gottesbezeichnung finden sich noch weitere Titel.202 Während in den Reden die Königsbezeichnung vorherrscht, wird in der Binnenerzählung häufiger vom κύριος/θεὸς τοῦ οὐρανοῦ gesprochen. Das in dem zweiten Teil der Rahmenredefolge hervorgehobene Preisen als die angemessene Haltung der Menschen Gott gegenüber findet sich auch in den Gebeten der Akteure in der Binnenerzählung: εὐλογητός: 8,5.15.16.17; 11,14.15 (GII).16,17.

(GII); 11,10.16; συνοδεύω: 5,17a (GII); ἐξαποστέλλω: 5,18; ει᾿σπορεύομαι: 5,18; ἐκπορεύομαι: 5,18; ὑποστρέφω: 5,22; 6,13 (GI); ἔρχομαι: 5,21; 7,1 (GI); 9,6; 10,1; 11,6.17; καταβαίνω: 6,3; ἀναπηδάω: 6,2; 7,6; 9,6 (GII); ὁδεύω: 6,6; ἐγγίζω: 6,6.10 (GII); 11,1.7 (GII).17; προσεγγίζω: 6,10 (GI); προσάγω: 6,15; ει᾿σέρχομαι: 6,17; 7,1 (GII); 8,13; 9,6 (GII); 10,7 (GII); 11,15 (GII). 17 (GII); φεύγω: 6,18; 8,3; ἐπανέρχομαι: 6,18; προσπορεύομαι: 6,18; ἐπιστρέφω: 6,13 (GII); 10,1 (GII); παραγίνομαι: 7,1 (GI); ὑπαντάω: 7,1 (GI); ἄγω: 7,1.16 (GII). 8,19 (GII); πορεία: 7,9b (GI); 10,1; ει᾿σάγω: 7,15.16; 8,1; ἀνίστημι: 8,4.9,b; 10,10; 11,10 (GII); ἀποτρέχω: 8,3 (GII); βαδίζω: 8,3; 11,10 (GII); οἴχομαι: 8,9b; 9,6; 10,7 (GII); ὑπάγω: 8,21 (GII); ἀφίημι; 10,5; ἀπέρχομαι: 10,7; προτρέχω: 11,1; συνέρχομαι: 11,4; προστρέχω: 11,9.10; προσκόπτω: 11,10; ἀνατρέχω: 11,9 (GII); διαβαίνω: 11,16 (GII). 201 κλαίω: 5,18; 6,1; ἀπόλλυμι: 6,14; 10,4.7; ἀποθνῄσκω: 6,15; 7,11; 8,10; 10,2.11.12 (GII); 11,9; θάπτω: 6,15; 8,12; τάφον: 8,9b; καταισχύνω: 10,2 passiv: zugrunde gehen; 7,8.16; δάκρυ: 7,16; λύπη: 7,17. 202 ἐν τῷ οὐρανῷ οι᾿κῶν θεὸς: GI: 5,17a; ὁ θεὸς ὁ ἐν τῷ οὐρανῷ: GII 5,17a; κύριος: 5,19; κύριος τοῦ οὐρανοῦ: 6,18 (GII). 7,11 (GII); 7,17; 10,11 (GII).12.13 (GII); ἐλεήμων θεὸς: 6,18; 7,11; ὁ θεὸς τοῦ οὐρανοῦ: 7,12 (GII);10,11; θεὸς τῶν πατέρων ἡμῶν: 8,5; δεσπότης: 8,17; βασιλεύς τῶν πάντων: 10,13 (GII).

Verschränkungen der Rahmenreden und der Erzählteile

199

Der Topos Gebote, der in allen Reden Tobits vorkommt, wird in der Binnenerzählung nur vom Engel und Raguel angesprochen: νόμος Μωυσῆ: 6,13 (GI).7,12.13 (GII); ἐντέλλομαι: 6,16; βίβλος Μωυσέως: 6,13 (GII). 7,11; ἐντολή τοῦ πατρός: 6,16 (GII); κρίσις: 7,11. Ihre Erwähnung erfolgt ausschließlich im Kontext der endogamen Heirat zwischen Sara und Tobias. Das Thema Endogamie wird ebenfalls nur vom Engel und Raguel aufgegriffen (6,13.16; 7,10). Die Motivbereiche Nahrung, Tiere, Geld, die hauptsächlich im Monolog erscheinen und in den Schlussreden nur schwach nachklingen, werden in der Binnenerzählung ausführlich entfaltet.203 Der Aspekt Lohn bleibt hier jedoch unerwähnt. Eine weitere Verbindung zwischen dem Monolog und der Binnenerzählung wird über die Kollektivbezeichnungen γένος: 6,12 (GI).16; υι῾ῶν Νεφθαλι 7.3 hergestellt. Neben diesen primordialen Beschreibungskategorien am Anfang der Binnenerzählung findet sich an deren Ende die für die erzählte Welt anachronistische Bezeichnung Ἰουδαῖος 11,18 (GII).204 Die Glieder der Stichwortkette, die die Rahmenreden miteinander verbinden, finden sich auch in der Binnenerzählung: Gefangenschaft: υι῾ῶν Νεφθαλι τῶν αι᾿χμαλώτων ἐν Νινευη: 7.3; Scham/Schande: κατάγελως: 8,10 (GII); ὀνειδισμός: 8,10 (GII); καταισχύνω: 10,2; Lieben: ἀγαπάω 6,18 (GII). Eine Anspielung auf die Mauer findet sich in der Erwähnung des Tores der Stadt Ninive: πύλη Νινευη (11,16). Die Binnenerzählung übernimmt nicht nur Motive und Stichworte aus den sie umgebenden Rahmenreden, sondern sie setzt auch eigene Akzente. Es findet sich eine Häufung des Verbes ὑγιαίνω und seiner Derivate (GI: 5x; GII: 10x), das in den Rahmenreden gar nicht vorkommt. Ebenfalls generiert die Binnenerzählung einen eigenen semantischen Bereich der Verben sinnlicher Wahrnehmung, die jeweils bestimmten Figuren der Binnenerzählung zugeordnet werden: ἀκούω: 6,13.16: Engel; ὀσφραίνομαι: 6,18; 8,4; ὀσμή: 8,4: Dämon; ὁράω: 10,7b: Hanna und Tobit; 11,6: Hanna. 13.15.16: Tobit; περιβλέπω: 11,5: Hanna; ὀφθαλμός; 5,21; 6,9; 11.8.12.13; 17 (GII); φῶς τῶν ὀφθαλμῶν: 10,5; 11,14 (GII): Hanna. Im Gegensatz zu den Rahmeneden wird damit neben Tobit auch Hanna mit dem Wortfeld »sehen« in Verbindung gebracht. Die Analyse der relevanten Themenfelder zeigt deutlich die Verschränkung der Rahmenreden mit der Binnenerzählung durch die Übernahme von Motivfeldern. Der Transfer geschieht nicht durch identische Wiederholungen, die Binnenerzählung modifiziert vielmehr die einzelnen Themenbereiche durch eine 203 ἐσθίω: 6,6; 7,9b.14; 8,14 (GII); 10,7; ὄψον: 7,8; πίνω: 7,9b.14 (GII). 8,14 (GII); γεύω: 7,11; ἄρτος: 10,7; δειπνέω: 8,1. κύων: 5,17a (GI); 6,2 (GII); 11,4; ᾿ιχθύς: 6,3.4.5.6.7.17; 8,2; 11,2.3 (GII); κριός: 7,8; 8,19; βοῦς: 8,19; 10,10; κάμηλος: 9,1.5 (GII); 10,10 (GII); κτῆνος: 10,10; ὄνος: 10,10 (GII); ἀργύριον: 5,18; 9,2; 10,2.10; 11,15 (GII), ὑπαρχόντα: 7,21 (GI). 204 Vgl. Est 8,16–17.

200

Gesamtzusammenhang der Rahmenreden und der Erzählteile

veränderte Semantik (Gott, Gebote), eine unterschiedliche Gewichtung (Bewegung, Tod/Bestattung) und die Reduzierung des Kontextbereichs, den ein Motiv umfasst (Gebote – Endogamie). Dieselben Stichworte, die die Reden miteinander verbinden, integrieren die Binnenerzählung in das rahmende semantische Netz der Reden. Gemeinsam ist der Binnenerzählung und den Redeteilen die Dominanz der Verben der Bewegung und die Vorrangstellung des Terminus ἐλεημοσύνη gegenüber den beiden anderen Leitbegriffen ἀλήθεια und δικαιοσύνη. Indem sich in der Binnenerzählung die Motivfelder der ersten und der zweiten Redesequenz überschneiden, bildet sie eine semantische Brücke zwischen den beiden Textteilen.

4.4

Verschränkung durch das Füllen inhaltlicher Leerstellen

Die Zusammenschau der erzählenden Teile und der sie umgebenden Rahmenreden füllt inhaltliche Leerstellen, die bei einer getrennten Lektüre der Textbereiche offen bleiben würden. Der konkrete Anlass für die Reise, die den Auftakt der erzählten Handlung in der Binnenerzählung bildet, wird in der Rede Tobits an Tobias in 4,10 genannt: Es geht um das Zurückholen des in Rages deponierten Geldes. Weiterhin gibt der Monolog Tobits in 2,9–10 Auskunft über die Züchtigung, von der er in 11,15 ohne weitere Erläuterung spricht. Tobit deutet seine Erblindung als eine Züchtigung Gottes, von der er dank des Erbarmen Gottes wieder geheilt wird. Die Kenntnis des Dialogs zwischen dem Engel und Tobit (5,10–17a) macht verständlich, warum der Engel in der Binnenerzählung seine Identität wechselt und sich von Tobias als Asarja ansprechen lässt. In der Retrospektive des gesamten Buches klärt sich die Aussage des Engels in 12,14 (GII), wonach es in seiner Sendung um eine Erprobung (πειράζω) Tobits gegangen sei: Der Aussageschwerpunkt der Binnenerzählung liegt auf der Bedeutung des Vertrauens in das Wort des Engel, das Tobit in seinem ersten Gespräch mit dem Engel jedoch vermissen lässt.205 Ob das Ziel der Aussendung des Engels tatsächlich in der Prüfung Tobits liegt, ist angesichts der Nichterwähnung dieser Absicht in 3,16–17 fraglich. Die Textversion GI thematisiert statt der Erprobung des Tobit die Abstinenz des Engels in Blick auf Nahrungsmittel (12,19). Diese Selbstdarstellung des Engels steht im Widerspruch zur Beschreibung des Erzählers, der in der Anfangsszene am Tigris den Engel gemeinsam mit Tobias den Fisch verspeisen lässt (6,6). Beide Textversionen zeigen eine Tendenz des Engels, 205 G.D. Miller dagegen ist der Ansicht, dass der Engel nicht die Wahrheit spricht: »[…], it becomes evident that Raphael lies repeadly in the story, not only in chap. 5 but at least once in chap. 7.«, ders., Liar 492. Nach Miller ist es das Anliegen des Engels, auf diese Weise das Verantwortungsbewusstsein Tobits zu prüfen.

Verschränkungen der Rahmenreden und der Erzählteile

201

in seiner Rede ein seinem Status angemesseneres Selbstbild zu zeichnen als es der Erzähler intendiert. Anstatt sich an das gemeinsame Mahl mit Tobias zu erinnern, behauptet der Engel sein durchgängiges Fasten (GI) und seinen misslungenen Überzeugungsversuch Tobit gegenüber deutet er um als dessen Erprobung (GII).

V.

Auswertung

Die programmtische Unterscheidung zwischen den Rahmenreden (1,3–2,14; 3,1– 6; 4,3–21; 5,11–17a; 12,6–20; 13,1b–18 und 14,3b–11) und den erzählenden Sequenzen (3,7–15; 3,16–17; 5,17b–11,19;14,12–15) führt zu einer völlig veränderten Deutungsperspektive des gesamten Buches Tobit. Nicht die erzählende Rede Tobits (1,3–2,14) über dessen Leben in der Diaspora bestimmt das Thema der erzählten Handlung, die narrative Einheit 5,17b–11.19 berichtet vielmehr von der Rettung und Heilung als Ereignissen der Integration bzw. Reintegration. Die Rahmenreden und die Erzählpassagen bilden als eigene Textbereiche zwei relativ eigenständige Sinneinheiten, die jedoch aufgrund wechselseitiger formaler und inhaltlicher Bezugnahmen als ein kohärenter Gesamtzusammenhang zu lesen sind.

1.

Gemeinschaftskonzepte in den Rahmenreden

Die Reden 1,3–2,14; 3,1–6; 4,3–21; 5,11–17a; 12,6–20; 13,1b–18 und 14,3b–11 rahmen die Rettungs-/Heilungsgeschichte in 5,17b–11,19. Sie bilden eine spiegelbildlich angeordnete Abfolge von Reden, die der Frage nach den stabilisierenden bzw. destabilisierenden Konstitutionsbedingungen einer Gemeinschaft nachgehen. Den eröffnenden Redeabschnitt 1,3–2,14; 3,2–6; 4,3–21; 5,1–16 dominiert die Perspektive des Sprechers Tobit, während der zweiten Redeteil 12,6– 20; 13,2–18; 14,3–11 vom Engel bestimmt wird. Die in den Rahmenreden artikulierten Vorstellungen von Gemeinschaftlichkeit lassen sich auf dem Hintergrund des Theoriekonzepts von Bernhard Giesen einem primordialen und einem universalistischen Gemeinschaftskonzept zuordnen. Die vom Sprecher Tobit verwendeten Kollektivbezeichnungen, die genealogisch definierten Zugehörigkeitskriterien und die Betonung der endogamen Heiratspraxis verweisen auf ein primordiales Gruppenverständnis, das sich über Abstammungsverhältnisse definiert und die eigenen Gruppengrenzen als undurchlässig konstruiert. Familiäre Strukturen sorgen für die Stabilität der Ge-

204

Auswertung

meinschaft, indem sie die Einheit nach innen stärken und die Grenzen zur Außenwelt betonen. Die erzählende Rede Tobits in 1,3–2,14 veranschaulicht jedoch die Fragilität eines solchen Konstrukts, das ausschließlich auf der vermeintlich »natürlichen« Zugehörigkeit aller Mitglieder beruht und dessen soziale Bindekräfte jenseits der Handlungsebene in der gemeinsamen Abstammung verortet werden. Mit seinem Anspruch, stets im Sinne der ἀλήθεια, δικαιοσύνη und der ἐλεημοσύνη zu handeln, seiner Gemeinschaft oft zu helfen, als einziger gemäß der Satzungen zu leben, andere zu unterstützen (1,3.16.17a) und Tote zu bestatten (1,17b), schafft er einen Dissens zwischen sich und seiner Bezugsgruppe, die aus soziologischer Perspektive zu einer gravierenden Asymmetrie im Beziehungsgefüge der Gruppe führt. Das Wir-Gefühl einer primordial codierten Gemeinschaft beruht auf der grundsätzlichen Gleichheit und Gleichwertigkeit aller Angehörigen, der soziale Binnenraum ist bestimmt von Reziprozität und Symmetrie. Seine von Tobit behauptete Überlegenheit gegenüber seinen Brüdern lässt die vorausgesetzte Egalität nicht mehr gelten und leitet damit einen Prozess der Desintegration ein. Dieser Prozess bezieht sich nur peripher auf einen möglichen Konflikt mit Gruppen außerhalb der eigenen Gemeinschaft, er bedroht hauptsächlich den Binnenraum der Gemeinschaft selbst. Die Ansprüche Einzelner, die die »natürliche« Gleichheit aller in Frage stellen, gefährden die Gruppenkohäsion einer primordial codierten Gemeinschaft. Die Gemeinschaftvorstellung Tobits in 1,3–3,6 beschränkt sich nicht ausschließlich auf die Reinform der primordialen Codierung, es lässt sich vielmehr eine Überblendung der unterschiedlichen Codes feststellen. So sind im Monolog neben den Aspekten der Primordialität auch Hinweise auf traditionale und universalistische Codierungen wahrzunehmen. Die Wallfahrten nach Jerusalem (1,6) und die Totenbestattungen (1,17.18; 2,7) können den Praktiken zugordnet werden, die als gemeinsam vollzogene Routinen eine gemeinschaftsstabilisierende Funktion haben. Indem Tobit in seiner Selbstdarstellung jedoch von diesen Handlungen in einer Weise berichtet, als wäre er der einzige, der nach Jerusalem pilgert und die Toten beerdigt, blendet er deren gemeinschaftsstiftendes Potential völlig aus. Das von Tobit postulierte Handeln im Sinne der ἀλήθεια, δικαιοσύνη und der ἐλεημοσύνη bildet ein entscheidendes Merkmal einer universalistisch codierten Gemeinschaft. Jedoch abgesehen davon, dass Tobit diese ethischen Maximen nicht realisiert, verkehrt er die gemeinschaftsstiftenden Aspekte sowohl der traditional als auch der universalistisch geprägten Praxis in ihr Gegenteil. Seine Behauptung, sich als einziger an diesen Praktiken zu orientieren, macht sie zu einem Medium der Distanzierung von seiner Bezugsgruppe. Hingegen ist die Definition von Gemeinschaftsgrenzen und damit von Zugehörigkeit zur Gemeinschaft, wie sie sich aus der Rede Tobits erschließen lässt, eindeutig dem Konzept der Primordialität zuzuordnen. Es bildet die identitätsrelevante Basis für Tobits Gemeinschaftsvorstellung.

Gemeinschaftskonzepte in den Rahmenreden

205

Die folgenden Reden Tobits, sein Gebet in 3,2–6 und seine Ermahnungen an Tobias in 4,3–21, enthalten erste Hinweise auf einen Wandel in seinem Gruppenverständnis. In seinem Gebet distanziert er sich nicht mehr ausschließlich von seiner Bezugsgruppe, die erstmalige Verwendung der Verbformen in der ersten Person Plural (ἐποιήσαμεν, ἐπορεύθημεν) in 3,5 lässt vielmehr auf seine Verbindung mit seinen Brüdern schließen. Seine Lehrrede betont einerseits die Bedeutsamkeit der Endogamie für den Erhalt der Gemeinschaft (4,12), andererseits nennt der Sprecher hier zum ersten Mal Aspekte positiver Beziehungsgestaltung, die für ein friedliches Zusammenleben unerlässlich sind (4,13). In formaler Hinsicht unterscheiden sich diese Reden von dem Monolog 1,3–2,14 darin, dass sie an einen eindeutigen Adressaten gerichtet sind: in seinem Gebet spricht Tobit zu Gott, und seine Mahnungen gelten seinem Sohn Tobias. Tobits Rede in 5,1–16 ist schließlich in einen Dialog mit dem Engel eingebunden, in dessen Verlauf der Engel Tobits ausschließliches Interesse an dem angemessenen Abstammungsverhältnis kritisch befragt (5,12). Anstatt dem Engel zu antworten, besteht er auf seinen Standpunkt, dass nur von einem Stammesbruder das gewünschte Verhalten, in diesem Fall das zuverlässige Begleiten, erwartet werden kann (5,14). Mit dieser Positionierung Tobits endet der erste Redeteil, den trotz erster Öffnungen ein primordiales Gemeinschaftskonzept dominiert. Nach dem Abschluss der Binnenerzählung in 11,19 beginnt der zweite Redeteil 12,6–20; 13,1b–18; 14,3b–11 mit einer Ansprache des Engels an Tobit und Tobias. Der Engel offenbart ihnen nicht nur seinen Status, sondern er entwirft seine Vorstellung menschlichen Zusammenlebens, die in den Beschreibungskategorien Bernhard Giesen dem universalistischen Modell zugeordnet werden kann. Die Gemeinschaft, von der der Engel spricht, gründet sich in ihrem Bekenntnis zu Gott, der im Sinne des ἀγαθὸν an den Menschen handelt. Dieses ἀγαθὸν prägt den Umgang der Menschen mit Gott und untereinander als ein Beziehungsgeschehen, das sich durch Gebete und gerechtes und barmherziges Handeln auszeichnet. Die Barmherzigkeit erfährt durch den Engel eine besondere Wertschätzung, indem er der ἐλεημοσύνη eine soteriologische Bedeutung zukommen lässt (12,9, vgl. 4,10). Als die angemessene Reaktion auf die Wohltaten Gottes nennt er neben dem Danken und Preisen der Menschen das Verkünden der Werke Gottes vor allen Lebewesen (ἐνώπιον πάντων τῶν ζώντων 12,6). Der Auftrag der Verkündigung richtet sich nicht an eine bestimmte Gemeinschaft, sondern alle Menschen sollen von den Werken Gottes erfahren. Damit begrenzt der Engel den Personenkreis derer nicht, die als Adressaten des solidarischen Handelns in Frage kommen. Dieses inkludierende, theozentrische Konzept des Engels bildet somit ein Gegenmodell zu der Position Tobits im ersten Redeteil, die der Beachtung genealogischer Zusammenhänge das entscheidende gemeinschaftbildende Potential zuschreibt und damit exkludierende Tendenzen auf-

206

Auswertung

weist. Einen weiteren Hinweis auf die universalistische Ausrichtung des Gemeinschaftsentwurfes des Engels im Sinne Bernhard Giesens liegt in der Exklusivität der Offenbarung Engels. Er spricht heimlich (12,6: κρυπτῶς) und ausschließlich zu Tobit und Tobias. Nur ihnen ist der direkte Kontakt zum Offenbarungsträger erlaubt, der sie zu den »identitätsstarken Wissenden«206 macht, die das Geoffenbarte aus dem Zentrum in die Peripherie der Gemeinschaft vermitteln. In der folgenden Rede 13,1b–18 befolgt Tobit die Aufforderung des Engels, das Geschehene aufzuschreiben, indem er einen Lobpreis schreibt (GI: 13,1) bzw. spricht (GII: 13,1). Er zeichnet in seinem προσευχή εἰς ἀγαλλίασιν ein Bild von Gemeinschaft, das inhaltlich den Aussagen der Rede des Engels in 12,6–20 entspricht. Tobit übernimmt die Theozentrik der Darstellung des Engels und thematisiert im ersten Teil seine Rede (13,2–7) Gott und dessen Allmacht. Er betont die Transzendenz und Souveränität Gottes, mit der dieser über das Wohl der Menschen entscheidet. Die Zuwendung Gottes beschreibt Tobit mit den polaren Termini μαστιγοῖ καὶ ἐλεᾷ, wobei der inhaltliche Duktus des Gebets zu der Erkenntnis führt, dass letztlich jedes Handeln Gottes an den Menschen von Erbarmen geprägt ist. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist die Gottesprädikation πατὴρ ἡμῶν und die Kollektivbezeichnung υἱοὶ Ισραηλ für die Gemeinschaft der Preisenden. Beide Benennungen werden im gesamten Buch Tobit zum ersten Mal in 13,1b–18 verwendetet und lassen die Beziehung zwischen Gott und Israel im Sinne eines Vater-Sohn-Verhältnisses verstehen, das sich durch Zuwendung und Erbarmen auszeichnet. Der Terminus υἱοὶ Ισραηλ eröffnet eine Perspektive auf Gesamtisrael, die alle Stämme Israels umfasst und sich nicht auf den Stamm Naphtali beschränkt. Tobit bringt das Handeln Gottes im Sinne der ἐλεημοσύνη in einen Zusammenhang mit dem gemeinschaftsbildenden Akt der Zusammenführung der Betenden aus den Völkern (GI: 13,5: συνάξει ἡμᾶς ἐκ πάντων τῶν ἐθνῶν). Diese neue Gemeinschaft, die sich der Sammelbewegung Gottes verdankt, antwortet auf diese Initiative Gottes mit Danken und Preisen. Den zweiten Teil seines Gebetes (13,9–18) widmet Tobit der Gemeinschaft derer, denen die Aufforderung gilt zu loben. Er spricht sie an mit der Bezeichnung Ιεροσόλυμα πόλις ἁγία (GI: 13,9), wobei er die Stadt nicht nur als topographische, sondern auch als eine weiblich personifizierte Größe wahrnimmt. In ihrer Verantwortung für die Werke ihrer Söhne deutet GI ihre Rolle als Mutter an und komplettiert damit die im ersten Gebetsteil angedeutete Vater-Sohn-Beziehung zu einer vollständigen Familienkonstellation. Jerusalem ist nicht nur Adressatin göttlichen Heilshandelns, sie selbst verfügt ebenfalls über eine heilsrelevante Bedeutung: Ihr Loben wird die Anwesenheit Gottes bewirken. Die zukünftige Gegenwart Gottes deutet Tobit in dem Bild des Wiederaufbaus des 206 Vgl. B. Giesen, Identitäten 57.

Gemeinschaftskonzepte in den Rahmenreden

207

Zeltes in ihr an. Dieser Ort ist konzipiert als ein sozialer Raum, der durch positive Beziehungsverben umschrieben wird. Neben der Wahrnehmung Jerusalems als einer weiblichen, relationalen Größe nennt Tobit städtische Bauelemente, die urbane Eigenschaften Jerusalems hervortreten lassen. Die Bauausstattung des zukünftigen Jerusalems aus wertvollen Edelsteinen und Edelmetallen verweist deutlich darauf, dass es sich bei diesem Entwurf nicht um die konkrete Stadt Jerusalem handelt. Das Oszillieren der weiblichen und urbanen Metaphern zeichnet das Bild einer Stadtfrau, die als Chiffre für ein bestimmtes Konzept von Gemeinschaft steht. Jerusalem als die Gemeinschaft der Preisenden konstituiert sich durch die liebende Zuwendung Gottes zu den Menschen und der Menschen untereinander. Über die Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft entscheiden nicht geographische oder genealogische Kriterien, sondern die preisende Haltung Jerusalems gegenüber. Dieser inkludierende Aspekt öffnet die Gemeinschaft für Außenstehende, die ἔθνη πολλὰ. In der letzten Rede des zweiten Redeabschnitts verlässt der Sprecher Tobit die metaphorische Ebene und wendet sich mit einem prophetischen Blick der konkreten Stadt Jerusalem zu. Den Hintergrund seiner Vorausschau ihrer Zerstörung und ihres Wiederaufbau bildet das aus 13,1b–18 übernommene Handlungsschema Gottes: dieser züchtigt und erbarmt sich der Stadt Jerusalem. Gottes Wirken beschränkt sich nicht nur auf Jerusalem, auch Ninive wird dasselbe Schicksal der Zerstörung erleiden. Damit überschreitet das Handeln Gottes Grenzen, da es sich in seiner Universalität an alle Menschen richtet. Mit dem Ausblick, dass alle Völker (πάντα τὰ ἔθνη 14,6) zu Gott umkehren werden, steigert Tobit seine Aussage in 13,11, wonach viele Völker nach Jerusalem kommen werden. Eine Klärung des Verhältnisses der Völker untereinander und zu der Gemeinschaft der Brüder findet sich in beiden Reden nicht. Entscheidend ist, dass auch den anderen Völkern die Möglichkeit eröffnet wird, im Sinne der ethischen Maximen ἀλήθεια, δικαιοσύνη und ἐλεημοσύνη zu handeln, um sich Gott zuwenden zu können. Entsprechend der Haltung des Engels (12,9) deutet auch Tobit im letzten Teil seiner Rede eine Bevorzugung der ἐλεημοσύνη gegenüber der ἀλήθεια und δικαιοσύνη an (14,10.11). Die beiden in der Abfolge der Rahmenreden präsentierten Gemeinschaftskonzepte stehen nebeneinander, ohne zu begründen, warum Tobit seine bisherige Position aufgibt und sich der des Engels anschließt. Die zwischen die beiden Redebereiche eingeschobene Binnenerzählung übernimmt die erklärende Funktion und plausibilisiert den Gesinnungswandel Tobits. Die erwiesene Zuverlässigkeit des Engels in seiner Rolle als Asarja beweist seine Autorität, die Tobit ohne Einwand in Blick auf dessen Reden akzeptiert. Diese Begründung korrespondiert mit der Erfahrung des Tobias in der erzählten Welt, dass in einer lebensbedrohlichen Situation nur das Wort des Engels zu retten vermag, während der Verweis auf andere schriftliche Legitimationsinstanzen wie Tora in keiner

208

Auswertung

Weise zielführend ist. Die Vertreibung des Dämons zeigt überdeutlich, dass weder der Hinweis auf Autoritäten wie die der Tora bzw. der väterlichen Worte noch das Einhalten des Endogamiegebots vor der tödlichen Gefahr des Dämons schützen können. Das Vertrauen in das gesprochene Wort einer Person aber, deren Zuverlässigkeit die erzählten Ereignisse bestätigen, vermag den Dämon in die Flucht zu schlagen. Die ἀλήθεια der Worte des Engels erweist sich als die Instanz, auf deren Zuverlässigkeit die Adressaten seiner Reden vertrauen können.

2.

Charakterisierung der Sprecher: Tobit und der Engel

Die Rahmenreden Tobits und des Engels, die durch ihre lebendige Gestaltung und der damit einhergehend geringen Formalisierung (bis auf die Gebete und die Lehrrede) fast als ein Verbatim gelesen werden können, erlauben eine pointierte Charaktersierung der beiden Sprecher. Die Analyse der Sprecherpersönlichkeiten dient zu einen der Beschreibung der Entwicklung, die Tobit im Verlauf des Buches zeigt, und zum anderen der Darstellung der unterschiedlichen Rollen, in denen der Engel als Redner auftritt. Die Analyse des Monologs 1,3–2,14 macht deutlich, dass in dieser Rede Tobit als in der Rolle eines unzuverlässigen Sprechers auftritt. Tobit ist sich an keiner Stelle der Diskrepanz zwischen den von ihm in Anspruch genommenen Handlungsmaximen und seines von ihm beschriebenen Verhaltens bewusst. Eine Reflexion des für die Lesenden wahrnehmbaren Prozesses der zunehmenden Isolierung von seiner Bezugsgruppe und seiner Ehefrau findet nicht statt. Seine Selbstbezogenheit macht es ihm unmöglich zu erkennen, dass nicht er das Subjekt barmherzigen Handeln ist, sondern dass er sich im Verlauf der Geschehnisse immer weiter in die Rolle des Empfängers von Hilfsangeboten begibt. Tobit erleidet nicht nur eine physische Erblindung seiner Augen, darüber hinaus attestiert ihm seine eigene Rede eine »soziale« Blindheit207 in Bezug auf die gelebte Solidarität seiner Mitmenschen. Nachdem der ungelöste Konflikt mit Hanna die eheliche Gemeinschaft zu gefährden droht (2,11–14), weiß sich Tobit nicht anders zu helfen, als sich in einem Gebet an Gott zu wenden. Das Gebet (3,1–6), in dem Tobit sein Schicksal beklagt, bildet den entscheidenden Wendepunkt in seiner Entwicklung. Er löst sich erstmals aus seiner Selbstbezogenheit, die Hinwendung zu Gott motiviert eine Dynamik, die seine soziale Wahrneh207 M.D. Kiel spricht von Tobits »theologischer« Blindheit: »[…], I will demonstrate how Tobit’s theological perspective changes with the return of his sight, thereby indicating that the author uses blindness and its alleviation as a way of characterizing a specific theological formulation.«, ders., Blindness 282.

Charakterisierung der Sprecher: Tobit und der Engel

209

mungsfähigkeit fördert. Auf der sprachlichen Ebene zeigt sich die Veränderung in der erstmaligen Verwendung der ersten Person Plural bei einem Verb, das Tobit in eine Beziehung zu seiner Bezugsgruppe setzt (3,5). Seine Rede an Tobias (4,4–21) spiegelt die Ambivalenz zwischen alten, vertrauten Deutungsmustern und neuen Sichtweisen. Besonders deutlich wird diese Spannung in seiner Forderung nach einer endogamen Heirat des Tobias einerseits, und andererseits in der Betonung der Beziehungsqualität der Gemeinschaftsmitglieder untereinander. Ein liebevoller Umgang (ἀγαπάω) und das Vermeiden von Hochmut (ὑπερηφανία) schützt die Gemeinschaft vor dem Verderben (4,13). Ethischen Handlungsanweisungen wird jedoch in Gemeinschaften, die sich über Abstammungsverhältnisse definieren, für den Erhalt der Gruppenkohäsion keine herausragende Bedeutung beigemessen. Tobits Antwort auf die Selbstoffenbarung des Engels ist eine Konsequenz der Veränderungen, die in seinem Leben stattfinden. Er spricht nun als ein sehender, reicher Mann, der aufgrund seiner Heilungserfahrung der Botschaft des Engels vertraut. Die Ansprache des Engels versetzt Tobit zum ersten und einzigen Mal im gesamten Redediskurs in die Position des Zuhörers und veranlasst ihn, das Gemeinschaftskonzept des Engels in seiner Rede (13,2–18) zu übernehmen und weiter zu entfalten. Die Theozentrik des geoffenbarten Gemeinschaftsverständnisses greift Tobit auf, indem er seine Rede als einen Psalm gestaltet, der auf das gemeinschaftsstiftende Handeln Gottes mit Lobpreis antwortet. Diesem Gebet folgt als letzte Rede die Ansprache Tobits an seinen Sohn Tobias, die von Tobits Sorge um dessen Wohlbefinden angesichts der kommenden Kriegsereignisse geprägt ist. Auf dem Hintergrund des Deutungshorizontes des Lobgebets antizipiert Tobit die zukünftige Zerstörung Jerusalems und Ninives, den Wiederaufbau Jerusalems und die Umkehr aller Völker zu Gott als Ausdruck des züchtigenden und erbarmenden Handeln Gottes. Diese Vorausschau dokumentiert den Wandel des von der Blindheit Geheilten in einen Seher, auf dessen Blick in die Zukunft Verlass ist. Der Epilog bestätigt die Zuverlässigkeit seiner Vorhersage, da Tobias tatsächlich von dem Untergang Ninives Nachricht erhält. Eine Entwicklung von einer fragwürdigen Verlässlichkeit zur erwiesenen Zuverlässigkeit nimmt auch die Figur des menschlichen Begleiters, dessen Rolle der Engel übernimmt. Die Lesenden begegnen ihm zum ersten Mal im Gespräch mit Tobias, in dem ihn der Erzähler als einen jungen, ungeduldigen Mann präsentiert, der pauschal die Zugehörigkeit zu den Brüdern des Tobias behauptet (τῶν υἱῶν Ισραηλ τῶν ἀδελφῶν σου) und seine Anwesenheit mit dem Wunsch nach Arbeit begründet (GII 5,5). Den Lesenden erschließt sich, wie der Engel seinen göttlichen Auftrag zu erfüllen plant: er gibt seine wahre Identität nicht preis und übernimmt stattdessen die Rolle eines Arbeiters (μίσθιος). Durch die Angaben zu seiner »menschlichen« Herkunft erwirbt er sich das Vertrauen des Tobias. Die vermeintlichen Kenntnisse über die geographischen Gegebenheiten

210

Auswertung

Mediens lassen bei den Lesenden jedoch erste Zweifel an der Verlässlichkeit des jungen Mannes aufkommen, da seine Ortsbeschreibungen nicht zutreffend sind. Die Zweifel an der erfolgreichen Umsetzung seiner Mission werden genährt in der knappen Auseinandersetzung des μίσθιος mit dem alten, blinden Tobit über die Bedeutung der angemessenen Abstammungsverhältnisse (5,12). In seiner Rolle als μίσθιος gelingt es dem Sprecher nicht, sich als der geeignete Begleiter zu präsentieren. Er scheitert an der Starrsinnigkeit Tobits, der auf die Angaben zur Herkunft seines Gegenübers besteht. Der Engel/μίσθιος fügt sich in seine Niederlage und behauptet nun, Asarja zu sein, der Sohn eines der Brüder Tobits. Obwohl seine Intervention am Fluss Tigris zu Beginn der Reise seine Verlässlichkeit demonstriert, beruft sich der Engel/Asarja in seinem Gespräch mit Tobias über die Heiratspläne (6,10–18) nicht direkt auf seine erwiesene Autorität. Erst die Vertreibung des Dämons vermittelt den Lesenden wieder das Vertrauen in seinen engelhaften Fähigkeiten, das ihn von dieser Szene an souverän weiter agieren lässt. Der Erfolg des von ihm begleiteten Reiseunternehmens bestätigt vollständig die Autorität des Engels/Asarjas, die jedoch nicht gänzlich frei ist von menschlichen Eitelkeiten. Selbst in der Offenbarung seines Engelstatus kann er nicht widerstehen, ein positiveres Bild von sich selbst zu zeichnen als es den Lesenden vom Erzähler vermittelt wird (GI: 12,19. GII: 12,14). Es wird deutlich, dass der Aspekt der Zuverlässigkeit der Sprecher mit bestimmten Abschnitten der Rahmenreden und den darin wahrnehmbaren Gemeinschaftskonzepten in Verbindung zu bringen ist. Das primordiale Konzept im ersten Redebereich wird vertreten von dem isolierten, verarmten, unzuverlässigen Tobit, dessen Blindheit nicht nur seine physische Sehkraft, sondern auch seine soziale Wahrnehmungsfähigkeit einschränkt. Dieses Modell verfügt jedoch über eine solche Überzeugungskraft, dass selbst ein Engel zunächst wenig dagegen auszurichten vermag. Der zweite Redeabschnitt steht für das universalistische Modell, zu dem sich der geheilte, reiche, in seine Gemeinschaft integrierte Tobit bekennt, der nun sogar imstande ist, mit einem zuverlässigen Blick in die Zukunft zu schauen. Durch die unterschiedliche Charakterisierung der Sprecher der »primodialen« Rede und der »universalistischen« Rede nimmt der Erzähler eine eindeutige Bewertung der Konzepte vor. Die Bevorzugung des universalistischen Modells findet ihre Bestätigung in der Rede des Engels, die den Adressaten Tobit und Tobias seine favorisierte Gemeinschaftsvorstellung offenbart. Das Engelswort bildet die Instanz, die das universalistische Gemeinschaftsmodell des zweiten Redebereichs legitimiert und Autorität verleiht.

Dominanz der Figurenrede in den Erzählteilen

3.

211

Dominanz der Figurenrede in den Erzählteilen

Die Binnenerzählung 5,17b–11,19 berichtet von zwei Heilshandlungen, die sich sowohl auf der sozialen als auch auf der der physischen Ebene vollziehen. Der Dämon, der sieben Ehemänner in den vorangegangenen Hochzeitsnächten sterben ließ, wird vertrieben und Sara und Tobias können heiraten. Das Aufstreichen der Salbe aus Fischorganen führt zur Wiedererlangung der Sehkraft Tobits. Den Mittelpunkt der konzentrisch angeordneten Erzähleinheiten bildet die Szene der Dämonenvertreibung (8,1–9b), die auf die wörtliche Umsetzung der Engelworte aus 6,17–18 fokussiert ist. Das »buchstäbliche« Vertrauen des Tobias in die Rede des Engels ermöglicht die Vertreibung des Dämons und somit die Heirat mit Sara. Auf diese Weise stellt der Erzähler die Verlässlichkeit der Worte des Engels in Blick auf gemeinschaftsbildende Prozesse in das Zentrum seiner Geschichte. Die zweite Realisierung der Anweisung des Engels, nämlich die Heilung der Erblindung Tobits, setzt der Erzähler an das Ende der Geschichte (11,10–15). Diese positiven Entwicklungen sind der Initiative eines Engels und der Mitwirkung eines Menschen, Tobias, geschuldet. Der Engel ergreift die Initiative und gibt Tobias in seinen Reden die genauen Anweisungen, wie dieser sich in den entscheidenden Situationen zu verhalten habe. Tobias vertraut den Reden des Engels und setzt dessen Aufforderungen wortwörtlich in die Tat um. Dieses Verhältnis zwischen Rede und erzählter Handlung entspricht dem Konzept Robert Alters von der »dialogue-bound narration«. Die eigentlichen Rettungs- und Heilungseffekte werden durch die korrekte Anwendung der Fischorgane erzielt und haben einen pharmazeutischen bzw. medizinischen Charakter. Das Bedeutsame an der erzählerischen Darstellung der therapeutischen Handlungen liegt jedoch weniger in der exakten Wiedergabe der Handlungsschritte (vgl. GII 11,10–12), sondern in der Weise, wie dieses Tun kommuniziert wird: der Engel spricht die entscheidenden Worte und Tobias hält sich strikt an dessen Anweisungen. Ein weiteres Spezifikum der Darstellung der Heilungsprozesse liegt in deren Verborgenheit. Der Engel agiert in der Rolle des Asarjas, eines Stammesbruder des Tobias, sodass Tobias die wahre Identität seines Begleiters nicht kennt. Mit der geheimen Identität des Engels korrespondiert die Vagheit, die die narrative Präsentation der Rettungs- und Heilungsszenen auszeichnet. Diese Vagheit macht es unmöglich zu ermitteln, inwieweit selbst involvierte Akteure eine Kenntnis über das eigentliche Heilungsgeschehen und die Beteiligung des Engels haben. Auffallender Weise äußern sie kein Interesse an den Abläufen, stattdessen kommentieren sie die Folgen der Ereignisse, d. h. der Heilungen öffentlich, indem sie Gott danken und preisen.

212

Auswertung

Es wird deutlich, dass die Intention des Erzählers nicht darin besteht, die Erzählfiguren über den »engelhaften«, transzendenten Impulsgeber und den genauen Ablauf der Rettungs- und Heilshandlung zu informieren, sondern die Erzählfiguren aufzufordern, den Handlungsfolgen einen bestimmen Deutungskontext zu verleihen: es gilt, die erlebten Ereignisse als Heilshandeln Gottes wahrzunehmen und zu verkünden.208 Die Binnenerzählung 5,17b–11,19 beschreibt am Beispiel der Dämonenvertreibung und der Blindenheilung den Prozess einer theologischen Kontextualisierung von Ereignissen, die durchaus als Folge eines profanen Ursache-Wirkung-Zusammenhangs gedeutet werden könnten. Den Lesenden, die im Gegensatz zu den Erzählfiguren um den göttlichen/engelhaften Einfluss wissen, wird am Beispiel Tobits und Raguels vorgeführt, wie sich das Vertrauen in den Heilswillen Gottes auf die Deutungsweisen der äußeren Erfahrungswelt auswirkt. Die Verortung des Heilsgeschehen jenseits des Wahrnehmungshorizont der Akteure und der Bericht über ihre öffentliche Reaktion auf die erfolgte Rettung/ Heilung machen den Textbereich 5,17b–11,19 zu einer narrativen Ausgestaltung der Botschaft des Engels in 12,7.11: GI: μυστήριον βασιλέως καλὸν κρύψαι, τὰ δὲ ἔργα τοῦ θεοῦ ἀνακαλύπτειν ἐνδόξως . GII: μυστήριον βασιλέως κρύπτειν καλόν, τὰ δὲ ἔργα τοῦ θεοῦ ἀνακαλύπτειν καὶ ἐξομολογεῖσθαι ἐντίμως. Das Verlagern der Rettungs- und Heilshandlung in die Sphäre des Vagen und Ungewissen betont die Bedeutung die Reden in 5,17b–11,19. Indem sie die Handlungen motivieren und deuten, dominieren sie die erzählte Handlung. Diesen Befund bestätigt der Textabschnitt 3,16–17, der proleptisch die kommenden Ereignisse in 5,17b–11,19 zusammenfassend vorwegnimmt. Die Lesenden kennen die Handlung der Binnenerzählung und deren Ausgang und können damit den Reden der Erzählfiguren ihre Aufmerksamkeit widmen. Zusätzlich vermittelt diese Sequenz eine knappe Beschreibung des göttlichen Wirkens. Der Erzähler entwirft das Bild eines Gottes, der im Verborgenen wirkt und dessen Handeln die Heilung der Menschen intendiert. Auf die Vermeidung der direkten Gottesanrede und die passiven Verbformen zu Darstellung der Entzogenheit Gottes in 3,16–17 wurde schon hingewiesen.209 Auffallender Weise ist Gott die einzige »Erzählfigur«, von der keine Rede übermittelt wird. Anstatt von dessen Sprechen berichtet der Erzähler vom Hören Gottes, mit dem er auf die Anliegen der Betenden reagiert. Er greift nicht direkt in das Geschehen ein, sondern bedient sich einer Mittlerfigur in der Gestalt des Engels, der die Heilungsaufträge erfüllt, indem er das Sprechen übernimmt. Die Handlungsweise Gottes korrespondiert mit der des Engels. Auch dieser agiert im Hintergrund und veranlasst 208 Vgl. die theologische Kontextualisierung der Handlungsanweisungen in der Lehrrede Tobits: 4,5a.19. 209 Vgl. die Analyse von 3,16–17.

Die Rahmenreden als Deutungskontext der Binnenerzählung

213

eine andere Person, die entscheidenden Heilstaten zu vollbringen. Das göttliche/ engelhafte Handeln weist eine paradoxe Struktur auf: zum entzieht es sich dem menschlichen Erkennen und zum anderen bedarf es der Unterstützung der Menschen, um wirksam zu werden. Die beiden Erzählpassagen 3,16–17 und 5,17b–11,19 betonen die Dominanz der gesprochenen Worte gegenüber der erzählten Handlung: die Gebete Tobits und Saras motivieren Gottes Intervention und die Worte des Engels veranlassen Tobias, die notwendigen Handlungen zu vollziehen. Die beiden übrigen Erzählsequenzen 3,7–15 und 14,12–15 dienen als Scharnierpassagen, die die Abfolge der Rahmenreden mit der erzählten Handlung in 5,17b–11,19 verbinden: 3,7–15 parallelisiert die Handlungsabläufe aus der Ich-Rede Tobits mit den Ereignissen aus dem Leben Saras und der Bericht über das glückliche Leben des Tobias in 14,12–15 bezieht sich sowohl auf die Rahmenreden als auch auf 5,17b– 11,19. Die Erzählteile thematisieren zwar kein eigenes Gemeinschaftkonzept, dennoch wird auch in diesen Sequenzen auf den Topos Gemeinschaftlichkeit angespielt. Die zentrale Rettungstat des Engels und des Tobias, die Dämonenvertreibung, ermöglicht die Bildung einer neuen Gemeinschaft, nämlich die Ehe zwischen Sara und Tobias. Durch seine in der Binnenerzählung bestätigte Zuverlässigkeit erweist sich der Engel als die Verkörperung der ἀλήθεια, die als die Basis einer jeden Gemeinschaftsbildung unerlässlich ist.

4.

Die Rahmenreden als Deutungskontext der Binnenerzählung

Die Untersuchung der wörtlichen Reden und der narrativen Passagen in der Binnenerzählung hat ergeben, dass die direkte Figurenrede der erzählten Handlung im Sinne der »dialogue-bound narration« übergeordnet ist. Der Ablauf der zentralen Rettung- und Heilstaten entzieht sich der genauen Kenntnis der Akteure. Stattdessen legt der Erzähler Wert auf die verbale Kontextualisierung der Geschehnisse, die sie als Heilstaten Gottes qualifiziert. Die Engelsrede motiviert die Handlungen, die von Tobias umgesetzt und dann von Tobit und Raguel gedeutet werden. Der in 5,17b–11,19 wahrnehmbare Vorrang des motivierenden und deutenden Wortes gegenüber der erzählten Handlung gilt auch für das Verhältnis zwischen den Rahmenreden und der Binnenerzählung: Die erzählten Rettungs- und Heilungstaten in 5,17b–11,19 werden durch die Rahmenreden in einen Deutungskontext gesetzt, der Fragen nach Gemeinschaftlichkeit thematisiert. Der Erzähler verortet damit das Heilshandeln Gottes in einen engen Zusammenhang mit Aspekten von gelingenden bzw. misslingenden sozialen Prozessen. Umgekehrt lässt auf diese Weise der Wandel in Tobits Gemeinschaftverständnis als ein Heilungsprozess verstehen.

214

Fazit

Die Binnenerzählung erfüllt damit für die Rahmeneden eine dreifache Funktion: sie plausibilisiert die Veränderung in Tobits Sprecherverhalten und seine Bereitschaft, die Botschaft des Engels zu akzeptieren; sie qualifiziert die in den Rahmenreden abgebildete Entwicklung Tobits als einen Heilungsweg; und sie legitimiert aufgrund seiner erwiesenen Verlässlichkeit die Autorität des Engels, mit der er sein Gemeinschaftskonzept übermittelt. Die Präferenz der direkten Rede gegenüber der Handlung, die sowohl der verbalen Initiative als auch der Deutung durch Worte bedarf, bestätigt die in der Einleitung dieser Arbeit formulierte These, dass eine mangelnde Beachtung der Redeteile im Buch Tobit zu einer Auslegung führt, die der Erzählintention des Buches nicht gerecht wird. Die Reden im Buch Tobit bestimmen dessen zentrales Thema: es geht um die Frage nach Gemeinschaftlichkeit, deren »heilvolle« Qualität die Einbindung der Rettungs-/Heilungsgeschichte in 5,17b–11,19 deutlich zum Ausdruck bringt. Die Präsentation der erzählten Ereignissen als Ich-Rede (1,3–3,6) am Anfang des Buches baut, wie oben ausgeführt wurde, zunächst eine Lesererwartung auf, die mit fortlaufender Lektüre demontiert wird. Erst am Ende des Buches erschließt sich den Lesenden, dass nicht Tobit der Held der Geschichte ist, sondern der Engel und Tobias diese Rolle innehaben. Auch steht nicht die Diasporaproblematik im Vordergrund des Buches, sondern Modelle von gelingender Gemeinschaft. So wie in der erzählten Welt die Akteure den auf den ersten Blick profanen Handlungen (Räuchern, Auftragen der Salbe) durch ihre Reden eine theologische Tiefendimension verleihen, mutet auch der Erzähler den Lesenden einen Deutungsprozess zu. Der erste Leseeindruck, der auf die Diaspora-Thematik abzielt, erfährt nach der vollständigen Lektüre eine Revidierung, da das Gelesene in einem weiteren Horizont eingeordnet wird. Diesen Horizont bildet die Frage nach gelingender Gemeinschaftlichkeit, die sich sowohl in der Diaspora als auch im Mutterland stellt.

5.

Fazit

Mit Hilfe des Theoriekonzepts Bernhard Giesens lassen sich die erzählten Ereignisse im Monolog Tobits als einen Konflikt beschreiben, der sich im Binnenraum der jüdischen Gemeinschaft ereignet und damit ein gruppeninternes Problem verhandelt. Das Buch Tobit thematisiert nicht die Schwierigkeiten einer jüdischen Minderheit in der Diaspora, sondern die sozialen Bedingungen, die den Zusammenhalt einer Gemeinschaft stabilisieren bzw. destabilisieren, unabhängig von ihrem lokalen Kontext.210 Es macht darauf aufmerksam, dass 210 Die Frage nach den stabilisierenden Gemeinschaftsbedingungen stellt sich sowohl im

Fazit

215

ausschließlich primordial definierte Zugehörigkeitskriterien die Gruppenkohäsion nicht gewährleisten können. Die ὑπερηφανία Tobits, die sich in seiner Selbstbezogenheit und Überheblichkeit äußert, führt zu seiner Ausgrenzung und Isolation. Die Reden des Engels und des geheilten Tobit präsentieren dagegen eine Gemeinschaftsvorstellung, die in der Terminologie Giesens dem universalistischen Konzept entspricht und einen Weg aus dem in dem Monolog beschriebenen Dilemma weist. Nicht genealogische Kriterien entscheiden über die Zugehörigkeit, sondern das gemeinsame Bekenntnis zu einem Gott, dessen Barmherzigkeit sich in dem solidarischen Verhalten der Gemeinschaftsmitglieder spiegelt, bildet die entscheidende gemeinschaftsstiftende Größe. Die antizipierte Gemeinschaft konstituiert sich durch ein Handeln, das sich an den ethischen Maximen ἀλήθεια, δικαιοσύνη und ἐλεημοσύνη orientiert. Damit öffnet sie sich allen, die sich ebenfalls nach diesen Handlungsmaximen richten und sich zu dem Gott bekehren, wie er in 13,2–18 von Tobit beschrieben wird: Das Handeln des verborgenen, unverfügbaren Gottes an den Menschen bewegt sich zwar zwischen den Polen der Züchtigung und des Erbarmens. Letztendlich überwiegt seine Barmherzigkeit, auf die die Menschen mit Preisen und Danken antworten. Das universalistische Gemeinschaftsmodell erfährt seine Legitimierung ausschließlich durch das Wort des Engels, dessen Verlässlichkeit die erzählte Handlung erwiesen hat. Für den Geltungsanspruch dieses Konzepts bedarf es keiner anderen Autoritätsinstanzen wie die zum Beispiel sonst im Buch Tobit genannten Verweise auf Schriften, Gesetze und Gebote.211 Mit seiner Beschreibung des zukünftigen Jerusalems, das für die neue Gemeinschaft steht, bildet der Lobpreis Tobits 13,2–18 den hermeneutischen Schlüssel für das Verständnis des gesamten Buches Tobit. Die Verortung des Schlüsseltextes an das Ende des Buches veranschaulicht die Angemessenheit der These von Emma Kafalenos, dass erst die Kenntnis des Erzählschlusses es den Lesenden ermöglicht, die vorher erzählten Ereignisse in einen schlüssigen Gesamtzusammenhang zu bringen.212 Mutterland als auch in der Diaspora. Auf die untergeordnete Bedeutung der geographischen Verhältnisse verweist der Erzähler mit Ortsangaben, die wenig plausibel sind. Vgl. 6,2: Auf einer Reise von Ninive in den Osten macht das Lagern am Fluss Tigris, der westlich von Ninive fließt, keinen Sinn. 9,5: Eine Reise von Ekbatana nach Rages und zurück mit Gabael, Tieren und Dienerschaft ist selbst für einen Engel innerhalb von 14 Tagen kaum zu bewältigen. 211 γέγραπται: 1,6; νόμος Μωσῆ: 1,8 (GII); ἐντολή: 1,8 (GII), 3,4.5; 4,5; 5,20 (GI); ἐντέλλομαι: 1,8; νόμος: 14,9 (GI); πρόσταγμα: 14,9 (GI). 212 Vgl. E. Kafalenos, Causalities IIX. Jedoch nicht nur der Inhalt des Gebets 13,3–18 erhellt die Botschaft des gesamten Buches, auch seine formale Nähe zu einem Psalm gibt einen Aufschluss über die Gestaltungsintention, mit der der Erzähler die Rahmenreden und die Erzählteile anordnet. Die Bewegung von der klagenden Rede des blinden Tobits, die um seinen Selbstbezogenheit kreist, hin zu dem preisenden Dank des sehenden Tobits, mit dem

216

Fazit

Die Reden im Buch Tobit sind der erzählten Handlung übergeordnet. In ihrer deutenden Funktion verleihen sie den Ereignissen eine Sinndimension, die ohne die begleitenden Worte nicht wahrnehmbar wäre. Die Binnenerzählung 5,17b– 11,19 präsentiert die zentralen Handlungen der Dämonenvertreibung und Blindenheilung in einer für die Erzählfiguren kaum wahrnehmbaren Weise, lässt diese aber die Auswirkungen der Räucherwerk- und Salbenanwendung als Heilstaten Gottes verkünden. Die Rahmenreden wiederum deuten die Erzählung vom göttlichen Heilshandeln im Kontext von Fragen nach gelingender bzw. misslingender Gemeinschaftlichkeit. Das Anliegen des Erzählers, auf Sinnzusammenhänge zu verweisen, die auf den ersten Blick nicht sofort evident sind, findet seinen Ausdruck in bestimmten literarischen Kunstgriffen. In der Präsentation des Engels informiert er zunächst die Lesenden, dass es sich bei dieser Figur um den Engel Raphael handelt. Dann aber lässt er diesen in menschlichen Rollen agieren, die an manchen Stellen kaum den gängigen Vorstellungen über die Zuverlässigkeit selbst eines Engels inkognito entsprechen.213 Auf diese Weise setzt der Erzähler die Lesenden der Spannung zwischen Wissen (Engelstatus) und Wahrnehmung (menschlicher Begleiter) aus, die zu einem Abgleich zwischen der Leserwahrnehmung und dem Leserwissen auffordert. Die dieser Spannung zugrunde liegenden Vorstellung, dass das zunächst Offensichtliche einer Deutung bedarf, ist insbesondere für die Gestaltung des Monologs Tobits als erzählende Handlung am Anfang des Buches von zentraler Bedeutung. Die Erzählung über Tobits Schicksal führt die Lesenden im wahrsten Sinn des Wortes zunächst auf eine falsche Fährte, die in die »thematische« Fremde führt: Die Lesenden gehen davon aus, die Geschichte des frommen Juden Tobits in der assyrischen Gefangenschaft erzählt zu bekommen. Das eigentliche Thema des Buches, die Frage nach gelingender Gemeinschaft, erschließt sich jedoch erst im Verlauf der weiteren Lektüre und besonders am Ende des Buches mit dem Lobgesang Tobits auf das zukünftige Jerusalem als der Chiffre für eine neue Gemeinschaft. Während den Lesenden von Anfang an die wahre Identität des Begleiters Asarja bekannt ist, erschließt sich ihnen erst in 12,20 die Verfasstheit des Sprechers von 1,3–2,14: Tobit erzählt seine Geschichte als geheilter, reicher Mann, allerdings aus der Perspektive des blinden, verarmten Tobits. Schließlich ist die besondere Erzählweise zu nennen, mit der der Erzähler das vermeintliche Leserwissen wiederholt in Frage stellt. Im Verlauf der Geschichte präsentiert er Informationen, die das vorher Gelesene in einem anderen Licht dieser auf die Zuwendung Gottes antwortet, erinnert an den Gebetsweg eines Psalms, der den Beter aus seiner beklagten Not in die Gewissheit des Erbarmens Gottes führt. Diese Beobachtung lässt eine Affinität des Buches Tobit zu den Psalmen und ihrer Theologie erkennen. 213 Vgl. die Analysen zu 5,4–17a und 6,10–18.

Fazit

217

erscheinen lassen: in 1,6 behauptet Tobit als einziger nach Jerusalem gepilgert zu sein, seinem Gegenüber in 5,14 berichtet er jedoch von gemeinsamen Wallfahrten mit Hananias und Jathan (GI). Nach 1,20 wurde Tobit sämtlicher Besitz geraubt, in 2,1 aber kehrt er in sein eigenes Haus zurück. Hannas kritische Anfrage in 2,14 in Bezug auf Tobits Verhaltensideale lässt bei den Lesenden Zweifel an dessen Darstellung aufkommen. Die Beschreibung Saras durch die Mägde in 3,8–9 steht in einem deutlichen Widerspruch zu dem Bild, das der Engel/Asarja von ihr zeichnet. In der Episode am Tigris berichtet 6,6 (GI) von dem gemeinsamen Verspeisen des Fisches, während der Engel in 12,19 von seinem durchgängigen Fasten spricht. Mittels dieser drei narrativen Irritationsstrategien initiiert der Erzähler einen Leseprozess, der auf Relecture angelegt ist und der erst in der Retroperspektive die wesentliche Aussageabsicht erschließt. Die vom Erzähler vorausgesetzte Differenz zwischen Wissen und Wahrnehmung korrespondiert mit seiner im Buch Tobit dargestellten Gottesvorstellung. Gott erscheint als eine Gottheit, die im Verborgenen bleibt, deren barmherziges Handeln jedoch für die Menschen positiv erfahrbar ist. Damit aber die Auswirkungen dieses Handelns als göttliche Heilshandlung wahrgenommen werden können, bedarf es der verlässlichen Deutung durch das gesprochene Wort (12,7). Die Reden der Akteure führen deren Erfahrungen auf das Wirken Gottes zurück, der selbst wiederum durch die Worte der Betenden zum Handeln motiviert wird. Die ironische, teilweise parodistische Darstellung seiner Protagonisten schmälert den Gehalt der theologischen Botschaft des Buches Tobit in keinster Weise, sie lässt vielmehr neben der Barmherzigkeit auch auf die humorvolle Nachsicht Gottes vertrauen.

Literaturverzeichnis

Tobit-Textausgaben Ch.J. Wagner, Polyglotte Tobit-Synopse. Griechisch – Lateinisch – Syrisch – Hebräisch – Aramäisch. Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-Historische Klasse, Dritte Folge, Bd. 258, Göttingen 2003. R. Hanhart, Septuaginta. Vetus Testamentum Graecum, Auctoritate Scientiarum Goettingensis editum. Vol. VIII,5, Göttingen 1983.

Kommentare C.A. Moore, Tobit. A new Translation with Introduction and Commentary, New York 1996. J.A. Fitzmyer, Tobit. Commentaries on Early Jewish Literature, Berlin 2003. H. Schüngel-Straumann, Tobit (Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament), 2Freiburg i.Br. 2005.

Monographien R. Alter, The Art of Biblical Narrative, rev. ed., New York 2011. J.D.S. Cohen, The Beginnings of Jewishness. Boundaries, Varieties, Uncertainties, Berkeley 1999. P. Deselaers, Das Buch Tobit: Studien zu seiner Entstehung, Komposition und Theologie, Göttingen 1982. B. Giesen, Kollektive Identitäten. 1. Aufl. [Ausg.] 2 Die Intellektuellen und die Nation, Frankfurt a.M. 1999. P.J. Griffin, The Theology and Function of Prayer in the Book of Tobit, Washington D.C. 1984. E.S. Gruen, Diaspora. Jews amidst Greeks and Romans, London 2002. R. Hanhart, Text und Textgeschichte des Buches Tobit, Göttingen 1984. E. Kafalenos, Narrative Causalities, Columbus, Ohio State University Press 2006.

220

Literaturverzeichnis

M.D. Kiel, The »Whole Truth«. Rethinking Retribution in the Book of Tobit, New York 2012. S. Lahn/J.Ch. Meister, Einführung in die Erzähltextanalyse, Stuttgart 2008. F.M. Macatangay, The Wisdom Instructions in the Book of Tobit, Berlin 2011. G.D. Miller, Marriage in the Book of Tobit, Berlin 2011. I. Nowell, The Book of Tobit: Narrative Technique and Theology, Washington D.C. 1983. M. Rabenau, Studien zum Buch Tobit, Berlin 1994. B. Schmitz, Gedeutete Geschichte. Die Funktion von Reden und Gebeten im Buch Judith, Freiburg i.Br. 2004. A. Strotmann, »Mein Vater bist du!« (Sir 51,10). Zur Bedeutung der Vaterschaft Gottes in kanonischen und nichtkanonischen frühjüdischen Schriften, Frankfurt a.M. 1991. S. Zeelander, Closure in Biblical Narrative, Leiden 2012.

Beiträge A. Berlejung/A. März. Sozialstatus/Gesellschaft und Institution, in: A. Berlejung/Ch. Frevel (Hrsg.), Handbuch theologischer Handbegriffe zum Alten und Neuen Testament, Darmstadt 2006, 53–60. K. Bieberstein, Grenzen definieren. Israels Ringen um Identität, in: J. Kügler, (Hrsg.), Impuls oder Hindernis? Mit dem Alten Testament in multireligiöser Gesellschaft (bayreuther form TRANSIT. Kulturwissenschaftliche Religionsstudien I) Münster 2004, 59–72. J.J. Collins, The Judaism in the Book of Tobit, in: G.G. Xeravits/J. Zsengellér, (eds.), The Book of Tobit. Text, Tradition, Theology. Papers of the First International Conference on the Deuteronomical Books, Pápa, Hungary, 20–21 May, 2004, Leiden 2005, 23–40. B. Ego, Buch Tobit, in: H. Lichtenberger/G .S.Oegema (Hrsg.), Unterweisung in erzählender Form, Studien zu den Jüdischen Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit, Bd. I, Gütersloh 2002, 875–1007. H. Engel, Das Buch Tobit, in: E. Zenger u. a. (Hrsg.), Einleitung zum Alten Testament, Stuttgart 72008, 278–288. J. Gamberoni, Das »Gesetz des Moses« im Buch Tobit, in: Studien zum Pentateuch. (FS W. Kornfeld), Freiburg i.Br. 1977, 227–242. Th. Hieke, Endogamy in the Book of Tobit, Genesis and Ezra-Nehemia, in: G.G. Xeravits/J. Zsengellér (eds.), The Book of Tobit. Text, Tradition, Theology. Papers of the First International Conference on the Deuteronomical Books, Pápa, Hungary, 20–21 May, 2004, Leiden 2005, 103–120. N.S. Jacobs, »You did not hesitate to get up and leave the dinner.« Food and eating in the narrative of Tobit with some attention to Tobit’s Shavuot meal, in: G.G. Xeravits/J. Zsengellér (eds.), The Book of Tobit. Text, Tradition, Theology. Papers of the First International Conference on the Deuteronomical Books, Pápa, Hungary, 20–21 May, 2004, Leiden 2005, 121–138. C. Krings, Zur Analyse des Erzählanfangs und des Erzählschlusses, in: P. Wenzel, (Hrsg.), Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme, Trier 2004, 163– 179.

Literaturverzeichnis

221

A.-J. Levine, Diaspora as Metaphor: Bodies and Boundaries in the Book of Tobit, in: J.A. Overman/R.S. MacLennan, Diaspora, Jews and Judaism. Essays in Honor of, and in Dialogue with, A. Thomas Kraabel, Atlanta 1992, 105–117. I. Nowell, »The Work of Archangel Raphael,« in: F.V. Reiterer/T. Nicklas/K. Schöpflin (eds.), Angles: The Concept of Celestial Beings. Origins, Development and Reception, Deuterocanonical and Cognate Literature Yearbook, Berlin 2007, 227–238. J. Rautenberg, Die Stadtfrau Jerusalem und ihre Kinder – Zur Bedeutung der Stadt Jerusalem im Gemeinschaftskonzept des Buches Tobit, in: M. Häusl (Hrsg.), Tochter Zion auf dem Weg zum himmlischen Jerusalem. Rezeptionslinien der »Stadtfrau Jerusalem« von den späten alttestamentlichen Texten bis zu den Werken der Kirchenväter, Leipzig 2011, 51–101. R. Schardt, Reinhold, Narrative Verfahren, in: M. Pechlivanos (Hrsg.), Einführung in die Literaturwissenschaft, Stuttgart 1995, 49–65. Ch. Ühlinger, Koexistenz und Abgrenzung in der alttestamentlichen Diasporaliteratur, in: J. Kügler (Hrsg.), Impuls oder Hindernis? Mit dem Alten Testament in multireligiöser Gesellschaft (bayreuther form TRANSIT. Kulturwissenschaftliche Religionsstudien I) Münster 2004, 87–106. St. Weeks, »A Deuteronomic Heritage in Tobit?«, in: H. v. Weissenberg/J. Pakkala/M. Marttila (eds.), Changes in Scripture: Rewriting and Interpreting Authoritative Traditions in the Second Temple Period, Berlin 2011, 389–404. J. Zsengellér, Topography as Theology: Theological premises of the geographical references in the Book of Tobit, in: G.G. Xeravits/J. Zsengellér (eds.), The Book of Tobit. Text, Tradition, Theology. Papers of the First International Conference on the Deuteronomical Books, Pápa, Hungary, 20–21 May, 2004, Leiden 2005, 177–192.

Zeitschriftenbeiträge J.R.C. Cousland, Tobit: A Comedy in Error? in: CBQ 65 (2003) 535–553. M.D. Kiel, Tobit’s Theological Blindness, in: CBQ 73 (2011) 281–298. D.D. McCracken, Narration and Comedy in the Book of Tobit, in: JBL 114 (1995) 401–418. G.D. Miller, Raphael the Liar: Angelic Deceit and Testing in the Book of Tobit, in: CBQ 74 (2012) 492–508. J.E. Miller, The Redaction of Tobit and the Genesis Apocryphon, in: JSP (1991) 53–61. R.A. Spencer, The Book of Tobit in recent research, in: CRBS 7 (1999) 147–180.